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German Pages 1444 [1474] Year 2018
Abel im Dialog Band 1
Abel im Dialog
Perspektiven der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Herausgegeben von Ulrich Dirks und Astrid Wagner Band 1
ISBN 978-3-11-045427-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052228-0 Set-ISBN 978-3-11-052114-6 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort der Herausgeber Siglen
XV
XVII
Teilband 1 Einleitung Ulrich Dirks und Astrid Wagner Perspektiven der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels
Kapitel 1: Interpretation, Subjekt und Selbstbewusstsein Emil Angehrn Interpretation zwischen Konstruktion und Verstehen Hermeneutik und Interpretationsphilosophie 55 Günter Abel Subjektbezug jenseits von Konstruktion Replik zum Beitrag von Emil Angehrn Georg W. Bertram Interpretation und Selbstbewusstsein
71
97
Günter Abel Selbstbewusstsein als zeichen-interpretatives Selbstverhältnis Replik zum Beitrag von Georg W. Bertram 113
Kapitel 2: Sinn und Verstehen Andrzej Przylebski Alliierte im gleichen Projekt? Interpretationismus aus der Sicht der Hermeneutik
143
5
VI
Inhalt
Günter Abel Zeichen und Interpretativität des Verstehens Replik zum Beitrag von Andrzej Przylebski
163
Marco Brusotti „Entschmelzung der Horizonte“ Reflektiertes Gleichgewicht und Verstehensgleichgewicht
187
Günter Abel Verstehensgleichgewichte und Horizont-Entschmelzung 205 Replik zum Beitrag von Marco Brusotti
Kapitel 3: Sprache und Interpretationspraxis Tilman Borsche ‚Alles ist Sprache‘ Zur Unterscheidung von ‚Namen‘ und ‚Sachen‘ im Zeichen der Interpretationsphilosophie 227 Günter Abel Zeichen der Sprache, Sprache der Zeichen Replik zum Beitrag von Tilman Borsche
245
Pirmin Stekeler-Weithofer Vom Signal zur Sprache Kooperationslogische Grundlagen begrifflichen Verstehens
263
Günter Abel Sprachphilosophie als Zweig der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Replik zum Beitrag von Pirmin Stekeler-Weithofer 289 Joseph Margolis Some Worries about Günter Abel’s “Interpretational Praxis” Günter Abel Ziele der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Replik zum Beitrag von Joseph Margolis 317
305
Inhalt
VII
Kapitel 4: Zeichen und Leiblichkeit Josef Simon Mit anderen Worten Zeichen, Interpretation und Fürwahrhalten
341
Günter Abel Interpretationsphilosophie und Philosophie des Zeichens 357 Replik zum Beitrag von Josef Simon Jesús Conill Die Poetisierung der Zeichen aus der Leiblichkeit Günter Abel Genealogien der Leiblichkeit Replik zum Beitrag von Jesús Conill
375
399
Kapitel 5: Neurobiologische Kognition und Zeitlichkeit Hinderk M. Emrich Zur Frage nach dem „Semantom“
415
Günter Abel Schnittstellen von Zeichen- und Interpretationsphilosophie, Psychologie und Psychiatrie 427 Replik zum Beitrag von Hinderk M. Emrich Denis Thouard Tempo rubato
449
Günter Abel Zeitordnung und Erfahrungswirklichkeit Replik zum Beitrag von Denis Thouard
465
Kapitel 6: Wissensformen Catherine Z. Elgin The Epistemic Normativity of Knowing-How
483
VIII
Inhalt
Günter Abel Die praxis-interne Normativität des Sprechens, Denkens und Handelns 499 Replik zum Beitrag von Catherine Z. Elgin Hans J. Schneider Ist das Können eine ‚unergründliche Wissensform‘? Sprachanalyse und Modellbildung in der Philosophie Günter Abel Wissensformen und praktische Fähigkeiten Replik zum Beitrag von Hans Julius Schneider
529
Dagfinn Føllesdal Günter Abel on Knowing How and Knowing That Günter Abel Knowing-How als irreduzible Wissensform Replik zum Beitrag von Dagfinn Føllesdal
513
545
551
Kapitel 7: Epistemische Dinge und technische Artefakte Hans-Jörg Rheinberger Über epistemische Dinge
565
Günter Abel Epistemologie epistemischer Objekte Replik zum Beitrag von Hans-Jörg Rheinberger Hans Poser Ontologie technischer Artefakte
591
Günter Abel Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Technik Replik zum Beitrag von Hans Poser 613
575
Inhalt
IX
Kapitel 8: Wissenschaft und Weltbild Ludger Honnefelder Wissenschaft als Interpretationsprozess Die Verwissenschaftlichung der Theologie und die Transformation des Wissenschaftsbegriffs im 13. Jahrhundert 633 Günter Abel Pluralität der Wissensformen und deren Realitätshaltigkeit Replik zum Beitrag von Ludger Honnefelder 651 Erwin Sedlmayr Welt – Universum – Kosmos Entmythologisierung und Physikalisierung des Weltbilds
663
Günter Abel Zeichen-interpretative Wissenschaftsphilosophie Replik zum Beitrag von Erwin Sedlmayr 687
Teilband 2 Kapitel 9: Recht und Gesetz Hans Jörg Sandkühler Das Recht und die Grenzen der ‚Offenheit der Interpretation‘
703
Günter Abel Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Rechts und der Menschenrechte Replik zum Beitrag von Hans Jörg Sandkühler 725 Walter Grasnick Vom Umgang mit Gesetzen
747
Günter Abel Juristische Argumentation und die Interpretativität des Rechts Replik zum Beitrag von Walter Grasnick 767
X
Inhalt
Kapitel 10: Ethik, Demokratie und Öffentlichkeit Lukas K. Sosoe Erklären oder Begründen? Zum Verhältnis von Interpretationsethik und Demokratie Günter Abel Die Lebenswelt als Fundierungsinstanz Replik zum Beitrag von Lukas K. Sosoe
779
795
Ugo Perone Kraft des Genitivs Über eine mögliche Interpretation des öffentlichen Raumes
811
Günter Abel Ein Plädoyer für ein adualistisches Philosophieren 823 Replik zum Beitrag von Ugo Perone
Kapitel 11: Bilder und Klänge Horst Bredekamp Leibniz’ Lichtbild des Tentamen anagogicum Für eine materiale Philosophie des Bildes
835
Günter Abel Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder Replik zum Beitrag von Horst Bredekamp 853 Riccardo Dottori Wie schaut man ein Kunstwerk an?
867
Günter Abel Ästhetische Zeichen und Interpretationen Replik zum Beitrag von Riccardo Dottori
895
Helga de la Motte Autonome Kunst – Musikalischer Ausdruck – Musikalische Geste
915
Inhalt
Günter Abel Zeichen- und interpretationsphilosophische Musikästhetik 929 Replik zum Beitrag von Helga de la Motte
Kapitel 12: Architektur Fritz Neumeyer Figuren im Grund Architektonische Spurenlese, angeregt von Günter Abels Interpretationswelten 947 Günter Abel Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Architektur Replik zum Beitrag von Fritz Neumeyer 967 Uta Hassler Entwurfslehren und ‚Grammatik architektonischer Form‘ Wissensbestände der Architektur von Vitruv bis zum Handbuch der Architektur 977 Günter Abel Architekturgeschichte als Zeichen- und Interpretationsgeschichte 1003 Replik zum Beitrag von Uta Hassler
Kapitel 13: Orientierung und Perspektivität Werner Stegmaier Orientierungsmittel Wissen nach Nietzsche, Luhmann und Abel
1019
Günter Abel Orientierung als Herausforderung der Philosophie Replik zum Beitrag von Werner Stegmaier 1043 Martina Plümacher Die Perspektivierung der Wirklichkeit
1059
XI
XII
Inhalt
Günter Abel Perspektivismus in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie 1085 Replik zum Beitrag von Martina Plümacher
Kapitel 14: Pluralität und Kreativität Logi Gunnarsson Warum es nur eine Welt gibt
1103
Günter Abel Die Einheit der Welt und die Vielheit der Wirklichkeiten Replik zum Beitrag von Logi Gunnarsson 1115 Chung-ying Cheng Onto-Generative Hermeneutics of Creativity: Interpretation of Indeterminancy 1131 From Creative Experience to Abel to Yijing Günter Abel Zeichen-interpretative Prozessphilosophie Replik zum Beitrag von Chung-ying Cheng
1161
Kapitel 15: Skeptizismus und Naturalismus Tim Koehne Skeptizismus und Interpretationismus Günter Abel Grenzen des Skeptizismus Replik zum Beitrag von Tim Koehne
1183
1207
Rogério Lopes Naturalismus und Interpretationismus Einige Bemerkungen zu Abels Interpretationsphilosophie Günter Abel Skeptizismus im nicht-reduktionistischen Naturalismus Replik zum Beitrag von Rogério Lopes 1231
1219
Inhalt
Kapitel 16: Dialektik und Pragmatismus Elena Ficara Dialektik und Interpretationsphilosophie
1245
Günter Abel Dialektik als Zeichen- und Interpretationsprozess Replik zum Beitrag von Elena Ficara 1263 Robert Schwartz Pragmatism, Inquiry, and Knowledge
1279
Günter Abel Der Pragmatismus in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Replik zum Beitrag von Robert Schwartz 1297
Kapitel 17: Interpretation der Interpretation Hans Lenk Interpretationsphilosophie und Interpretationismus als ‚Erste Philosophie‘? 1313 Günter Abel Das Verhältnis der Zeichen- und Interpretationsphilosophie zum methodologischen Interpretationismus 1323 Replik zum Beitrag von Hans Lenk Luis Eduardo Gama Barbosa The challenge of ontology in interpretationalism
1345
Günter Abel Philosophieren ohne ontologisches Fundament Replik zum Beitrag von Luis Eduardo Gama Barbosa
Ulrich Dirks und Astrid Wagner Verzeichnis der Publikationen Günter Abels (1973 – 2016)
1365
1385
XIII
XIV
Inhalt
Zu den Autorinnen und Autoren Personenregister Sachregister
1425 1435
1413
Vorwort der Herausgeber Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln sind zeichenverfasste und interpretative Vorgänge. Deren Verständnis ist Ziel der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels. Insofern hierbei Zeichen nicht bloß als Stellvertreter-für-etwas und Interpretationen nicht bloß als Deutungen-von-etwas begriffen werden, rücken die Zeichen- und Interpretationsverhältnisse in eine fundamentale Stellung. Mit ‚Zeichen‘ und ‚Interpretation‘ sind Grundwörter zeitgenössischen Philosophierens identifiziert. Erfahrungsorganisierende, wirklichkeits- und sinnformierende Prozesse lassen sich mit ihnen aufschlussreich beschreiben und hinsichtlich ihrer sinnlogischen Voraussetzungen klären. So vermag eine Untersuchung der Zeichen- und Interpretationspraxis unsere alltäglichen wie auch besonderen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse verständlich werden zu lassen. Auf dieser Basis hat Abel in einem breiten Spektrum philosophischer Problemfelder sowie an der Schnittstelle zu Wissenschaften, Künsten, Architektur, Technik, Politik, Recht und Öffentlichkeit originäre Positionen entwickelt, deren Thesen und Argumente sowie deren Klärungskraft in Bezug auf Voraussetzungen, Methoden und Problembestand der genannten Felder prominente Autorinnen und Autoren im vorliegenden Band ausgehend von eigenen Forschungsbeiträgen erörtern. In einem lebendigen Dialog mit Abel kommt es so zu kritischen Herausforderungen und Weiterentwicklungen seines Ansatzes. Beiträge und Repliken messen die Perspektiven der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie sowie deren inter- und transdisziplinäres Potenzial aus. Das Projekt zur Initiierung und Dokumentation dieser Dialoge in Form eines forschungsorientierten Diskussionsbandes war von Beginn an recht groß angelegt und seine Realisierung hat deshalb längere Zeit in Anspruch genommen. Allein aus Gründen des Umfanges des Projekts erscheint der Dialogband in zwei eng zusammengehörigen Teilbänden. Wir sind sehr glücklich, dass wir so viele renommierte, wichtige Vertreterinnen und Vertreter verschiedener philosophischer Denkrichtungen und der oben angeführten disziplinären Felder für das Dialogprojekt gewinnen konnten, und danken an dieser Stelle allen Beteiligten sehr für ihr Engagement und ihre Geduld. Es handelt sich bei den Texten durchweg um Originalbeiträge, die explizit für dieses Forschungsprojekt angefertigt wurden. Unser besonderer Dank geht an Günter Abel für seine uneingeschränkte Einwilligung in dieses Projekt und die so umfangreiche Mitwirkung. Es ist für ihn die Arbeit an den Repliken in den letzten Jahren zur permanenten Herausforderung geworden. Die verschiedenen Beiträge, auf die es zu replizieren galt, stellen eine konstruktive Aufnahme seines Werks und zugleich eine kritische Diskussion https://doi.org/10.1515/9783110522280-001
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Vorwort der Herausgeber
seines Ansatzes aus zahlreichen und sehr unterschiedlichen Perspektiven dar. Wie man an der Originalität der Repliken erkennen kann, hat Abel es in herausragender Weise vermocht, dies als Stimulus für seine Arbeit zu nutzen. Unser Dank geht darüber hinaus an den De Gruyter Verlag, der uns mit seiner Publikationszusage den Rahmen und die Möglichkeit für dieses umfangreiche Projekt gegeben hat. Des Weiteren sei vor allem Hadi Faizi für seine umfangreiche Unterstützung bei der editorischen Arbeit gedankt. In diesem Zusammenhang danken wir auch Can Atli und Adrian Strauch Oleas, letzterem insbesondere für die Arbeit am Personenregister, und Elisabeth Simon, die das Projekt auf unterschiedliche Weise organisatorisch und stets motivierend unterstützt hat. Der Dank der Herausgeber gilt ferner Maike Priesterjahn M.A. für ihre Mitwirkung bei den zahlreichen Recherchearbeiten, insbesondere zum Schriftenverzeichnis und zum Einleitungsteil. Wir möchten der Hoffnung Ausdruck geben, dass sich nicht nur die konstruktive Auseinandersetzung mit Abels allgemeiner Zeichen- und Interpretationsphilosophie in der hier erreichten Intensität fortsetzen möge, sondern dass das vorliegende Dialogprojekt auch grundsätzlich die Diskussion zwischen der Philosophie einerseits und den Wissenschaften und Künsten, der Technik und Architektur, der Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit sowie weiterer Felder gegenwärtigen menschlichen Wirkens andererseits zu vertiefen und beispielgebend zu befördern vermag. Ulrich Dirks und Astrid Wagner
Siglen Die folgenden Abkürzungen zu Werken von Günter Abel wurden in dem vorliegenden Doppelband durchgehend verwendet. Siglen zu Werken weiterer Autorinnen und Autoren werden in den einzelnen Beiträgen im jeweiligen Literaturverzeichnis aufgeführt. Iw
Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M., 1993. N Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 15), Berlin/New York, 1984. SZI Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M., 1999. ZdW Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M., 2004.
https://doi.org/10.1515/9783110522280-002
Teilband 1
Einleitung
Ulrich Dirks und Astrid Wagner
Perspektiven der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels Abstract: In this contribution, Günter Abel’s general theory of signs and interpretation is illustrated in terms of the following aspects: 1. goals; 2. concept of interpretation and model of interpretational relations; 3. concept of sign and model of sign relations; 4. interpretational practice; 5. consolidation and basic aspects of the approach; 6. features of the general theory of signs and interpretation; 7. positions; 8. lines of development.
„Wie im kritischen Philosophieren überhaupt, geht es auch in der Interpretationsphilosophie um ein angemessenes Verständnis des Sachverhalts, dass wir uns immer schon in Welt-, Fremd- und Selbstverhältnissen befinden. Diese können als Interpretationsverhältnisse, als schematisierende, konstruktbildende, formierende, projizierende, perspektivisch-auslegende, subsumierende und darin Erfahrung organisierende Aktivitäten konzipiert werden. In diesem Sinne lässt sich Interpretation als ein Grundwort des Philosophierens entfalten.“ (Abel 1994a: 16) Da sich ferner menschliches Sprechen, Denken und Handeln stets in Zeichen vollziehe (s. ZdW 57)¹, überrascht es nicht, dass Günter Abel beiden Begriffen, ‚Zeichen‘ und ‚Interpretation‘, in seiner philosophischen Position eine zentrale Stellung zuweist. Im Verbund mit anderen auf Zeichen- und Interpretationsthematiken gerichteten Bemühungen der Gegenwartsphilosophie kann dies nicht nur „als Ausdruck eines generellen Reflexionsstandes des zeitgenössischen philosophischen Denkens verstanden“ (ZdW 33) werden. Vielmehr setzt sich die von Abel originär und als einheitlicher, umfassender Ansatz ausgearbeitete, auf großer Breite des philosophischen Themenspektrums vertiefte, auf zahlreichen spezifischen Problemfeldern zur Anwendung gebrachte sowie in diverse interdisziplinäre Diskussionen entsandte allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie hohe und dabei insbesondere die folgenden drei Ziele.
Es werden hier wie im gesamten Band folgende Siglen verwendet: Iw für (Abel 1993a), SZI für (Abel 1999a), ZdW für (Abel 2004a), i. d. R. gefolgt von der betreffenden Seitenzahlangabe. Darüber hinaus wird bei Verweisen auf die weiteren Beiträge des vorliegenden, zweiteiligen Bandes Abel im Dialog. Perspektiven der Zeichen- und Interpretationsphilosophie dieser mit AiD abgekürzt. https://doi.org/10.1515/9783110522280-003
6
Ulrich Dirks und Astrid Wagner
1 Ziele Abels allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie soll erstens ein Philosophieren leisten können, das die „Dichotomie von Absolutheitsanspruch und Relativismus“ als ganze zurücklässt und sich „jenseits ihrer Pole (nicht irgendwo dazwischen)“ entfaltet.² Im Kern geht es dabei um nichts Geringeres als „um die Beschreibung, Klärung und Reflexion des Geflechts der Bedingungen unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns, unseres ‚In-der-Welt-seins‘ (Heidegger) sowie der Orientierung in der Welt, anderen Personen und uns selbst gegenüber“ (Abel 2008a: 36). Greift man diesbezüglich beispielhaft das Triangel von Kommunikation, Weltbezug und Handlungszusammenhang heraus, so lautet Abels charakteristische These, dass sich dieses Triangel „sowohl in seinen einzelnen Komponenten als auch in seinem Zusammenspiel kraft der Zeichen und Interpretationsprozesse, durch die es gekennzeichnet ist,“ (und nicht instrumentell oder vermittels der Zeichen) vollziehe (Abel 2012a: 78). Dass „genau diese basalen und letztlich nicht-hintergehbaren und nicht-suspendierbaren Vollzüge als Zeichen- und Interpretationsvollzüge qualifiziert werden können,“ (80) markiert also nicht nur die Grundauffassung der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie, sondern muss sich auch als Schlüssel für das angestrebte Philosophieren jenseits von Essentialismus und einem Relativismus der Beliebigkeit erweisen. Eine zweite Zielsetzung betrifft das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften. Einerseits vertritt Abel die Auffassung, dass es „genuin philosophische Problemlagen“ gebe (Abel 2008a: 17), dass ein kategorialer „Unterschied zwischen einzelwissenschaftlichen und genuin philosophischen Fragen“ (ZdW 370, s. ferner 54) ebenso bestehe wie in methodischer, erkenntnistheoretischer und „sinn-kritischer bzw. logischer Hinsicht“ (ZdW 275) zwischen dem „besondere[n] Status grundbegrifflicher Analyse und Reflexion“ (ZdW 370) in der Philosophie und empirischen Untersuchungen in den Wissenschaften und dass Philosophie demnach nicht „eine Einzelwissenschaft neben anderen“ sei (ZdW 370; Abel 2008a: 17). Andererseits jedoch seien Philosophie und Wissenschaften „keineswegs durch ihre Entgegensetzung bestimmt“, vielmehr sei „Kooperation erforderlich“ (ibd.). Auf vielen Feldern der Philosophie, wie etwa bei der Philosophie des Geistes, könne „Philosophie nicht einfach unabhängig von den Resultaten der Wissenschaften betrieben werden“, vielmehr seien neben dem Verfolgen eigener innerphilosophischer Fragestellungen auch „Untersuchungsverfahren, Modell (Abel 2008a: 19); vgl. ferner (ZdW 55 f.) und zur Zielsetzung der Überwindung weiterer spezifischer, herrschender Dichotomien im gegenwärtigen Philosophieren (ZdW 60).
Perspektiven der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels
7
vorstellungen und Ergebnisse anderer Disziplinen und Resultate der empirischen Wissenschaften“ zu berücksichtigen und einzubeziehen (ZdW 275). Umgekehrt können philosophisch ‚reflexionswissenschaftliche‘ (s. Abel 2008a: 18) Anstrengungen in Bezug auf Grundbegriffe und Bedingungen von Wissenschaften „bis hinein in die objekt-bezogenen Hypothesen, Theorien und Gesetze der Wissenschaften relevant sein“ (ZdW 372). Hinsichtlich des dadurch erforderlich und vielversprechend erscheinenden „interdisziplinären und grenzüberschreitenden Dialogs“ (ZdW 275) steht die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie neben dem tatsächlichen – zumal im vorliegenden Band stattfindenden – Durchführen eines solchen Dialogs³ damit vor der Aufgabe, begrifflich und systematisch eine einheitliche Basis bereitzustellen, auf der philosophische und einzelwissenschaftliche Forschungsanstrengungen aufeinander bezogen und in einen integrativen Zusammenhang gebracht werden können, und damit gleichzeitig im Rekurs auf die Zeichen- und Interpretationsverhältnisse die Möglichkeit eines solchen Dialogs verständlich zu machen. Drittens schließlich steht, insofern nach Abels Überzeugung Philosophie als solche „überall dort gefragt und gefordert [ist], wo es um rationale Argumentation und grundbegriffliche Klärung von Sachverhalten geht, nicht zuletzt auch solcher Sachverhalte, die im öffentlichen Raum von hoher Relevanz sind,“ (Abel 2008a: 37) notwendig auch die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie vor einer besonderen Aufgabe. Sie soll demnach „im öffentlichen Raum deutlich machen können, dass genuin philosophische Tugenden wie konsistentes Argumentieren, Reflexionsvermögen, Kommunikations- und Diskurskompetenzen nicht nur für alle Wissenschaften, sondern für zukunftsfähige Gesellschaften grundlegend sind“ (38). Neben dem Vorantreiben fachinterner Problemlagen solle sie „die Schnittstellen in den öffentlichen Raum stärken“; sie solle „sich öffentlich einmischen“ und dabei „hohen fachinternen Argumentationsstand verbinden mit der lebensweltlichen Relevanz unserer Themen und Fragestellungen“, insbesondere also auch Fragen behandeln, die „für unser Verständnis der Welt und unser Leben von zentraler Bedeutung sind“.⁴ Die aktuellen Bemühungen Abels, die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie auf dem Felde der Wissensforschung fruchtbar zu machen, dürfen im Kontext der Fragen nach der „Orientierung in der Welt und nach der Zukunft der Informations- und Wissensgesellschaft“ (39) offensichtlich als Beispiel für eine solche Bestrebung angesehen werden.
Zur Bestimmung des grenzüberschreitenden Dialogs auch als transdisziplinär s. (Abel 2009a: 17). (Abel 2008a: 39; s. ferner 2013a). – Zur Frage nach dem öffentlichen Raum s. (AiD Kap. 10).
8
Ulrich Dirks und Astrid Wagner
Das vorliegende Projekt, herausragende Vertreterinnen und Vertreter gegenwärtiger Philosophie und Wissenschaften in einen Dialog mit dem Philosophen Günter Abel entlang wichtiger Themen und Aspekte seiner allgemeinen Zeichenund Interpretationsphilosophie zu bringen, versteht sich als Beitrag in den – sich dabei wechselseitig durchdringenden – Perspektiven der drei genannten Aufgaben: Kritisch konstruktive Auseinandersetzungen um zentrale philosophische Thesen, Argumente und Positionen; lebendig interdisziplinärer Austausch zwischen Philosophie und Wissenschaften (insbesondere dabei bezogen auf Natur, Technik, Kunst, Musik und Architektur); produktiv sich herausfordernde Vorstöße an den Schnittstellen in den öffentlichen Raum hinein (nicht zuletzt auf den Feldern Recht, Gesetz und Demokratie). Um den in den Beiträgen und Repliken dieses Bandes sich vollziehenden Dialog und – so die Hoffnung – sich hieran anschließende mögliche Fortsetzungen auch über einen engeren philosophischen Expertenkreis hinaus zugänglich werden zu lassen, werden im Folgenden einige Ansätze, Grundzüge und Charakteristika der Grundlage, nämlich Abels allgemeiner Zeichen- und Interpretationsphilosophie, einführend dargestellt, bevor sie in den sich anschließenden Beiträgen vertieft, kritisch herausgefordert und weitergedacht werden.⁵
2 Begriff der Interpretation und Modell der Interpretationsverhältnisse Mit Abels These, dass wir uns als endliche Geister immer schon in Welt-, Fremdund Selbstverhältnissen befinden, die als interpretativ zu charakterisieren sind, wird nicht nur deutlich, dass ‚interpretativ‘ als ein Grundbegriff in das Zentrum seines kritischen Philosophierens rückt. Vielmehr verbindet er damit auch eine originäre terminologische Klärung, Ausarbeitung und heuristische Differenzierung dieses Begriffes, der sich von der bedeutungsmäßigen Verpflichtung auf herkömmliche Interpretationsbegriffe ausdrücklich löst. Weder nämlich soll hier ‚Interpretation‘ enggeführt werden und sich erschöpfen in der Bezeichnung für Vorgänge des aneignenden Deutens, Auslegens, Erklärens oder des (bspw. hermeneutisch oder sprachanalytisch herbeigeführten) Verstehens der Äußerungen anderer Personen, von Texten oder anderer Bedeutung tragender Zeichen, die nicht direkt verstanden werden. Noch geht es hier lediglich prädikatenlogisch um die Interpretation einer formalisierten Sprache bzw. modelltheoretisch-seman Teils wird dabei in der Darstellung zurückgegriffen auf (Dirks 2010a; 2009), (Dirks / Wagner 2011) und (Wagner / Dirks 2010).
Perspektiven der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels
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tisch um die Interpretation formaler Systeme. Und auch ist derjenige Sinn von Interpretation nicht leitend, in dem häufig in der Wissenschaftstheorie das Verhältnis thematisiert wird zwischen den beobachtungssprachlichen, sich auf Experimente und Beobachtungen beziehenden Anteilen zu den zunächst nichts über die Wirklichkeit aussagenden theoriesprachlichen Anteilen der Erfahrungswissenschaften. ‚Interpretativ‘ bezeichnet in Abels oben angeführter These demgegenüber in abkürzender Weise den perspektivischen, kreativ-konstruktionalen, schematisierenden, individuierenden, identifizierenden, ein- und auslegenden, konjekturalen, klassifizierenden, formierenden, umgrenzenden, projizierenden Charakter unserer Verhältnisse zu Welt und Wirklichkeit, anderen Personen und uns selbst. In eben diesem Sinne charakterisiert Abel als „kreativ-konstruktionale Interpretationsprozesse“ solche Vorgänge, „in denen wir etwas als ein bestimmtes Etwas phänomenal diskriminieren, Identifikationen und Re-Identifikationen vornehmen, Prädikate und Kennzeichen applizieren, Zuschreibungen durchführen, Zusammenhänge konstruieren, durch Einteilungen klassifizieren und in Bezug auf so formierte Welten dann über Meinungen, Überzeugungen und auch über ein gerechtfertigtes Wissen verfügen“ (Abel 1994a: 16 f.; s. ferner ZdW 28 ff.). Der Ansatz, solch fundamentale Zustände, Prozesse und Phänomene wie Empfinden, Vorstellen, Fühlen, Erinnern, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln als interpretations-verfasst und zeichen-verfasst zu charakterisieren (s. ZdW 28), kann im Zuge reflexiver Rekonstruktion vornehmlich dadurch zu deren Klärung beitragen, dass Abel heuristisch, unter je gegebenen epistemischen Zwecken, Anforderungen und Kontexten stehend, interne Differenzierungen im Interpretationsbegriff vornimmt (s. u. a. SZI Kap. I; ZdW 28 – 32). In den meisten Fällen erweise sich bereits ein dreistufiges Modell der Interpretationsverhältnisse (umfassend die sogenannten Interpretationen1, Interpretationen2 und Interpetationen3) als hinreichend leistungsfähig. ‚Interpretation3‘ meint dabei die bloß aneignend deutenden Interpretationen, also die Ebene des Erklärens, Beschreibens, Theoriebildens etc., mithin auch den Interpretationsbegriff im hermeneutischen, logisch-semantischen und analytisch wissenschaftstheoretischen Sinne. Hiervon grenzt Abel als Interpretation2 die tiefer verankerten, habitualisierten Gewohnheits- und Gleichförmigkeitsmuster der Interpretation ab, bspw. Konventionen, gesellschaftlich und kulturell erworbene Kompetenzen und Praktiken sowie stereotypen Zeichengebrauch. Im erfolgreichen Funktionieren der Interpretation2+3-Ebenen sei gemäß Abel stets bereits die Stufe der basal kategorialisierenden, darin wirklichkeits- und sinnformierenden sowie Erfahrung organisierenden Interpretation1-Prozesse vorausgesetzt und sinnlogisch in Anspruch genommen. Hierzu zählen insbesondere die Vorgänge der raum-zeitlichen Lokalisierung von Gegenständen, der Gebrauch der logischen Grundbegriffe
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Ulrich Dirks und Astrid Wagner
(‚Existenz‘, ‚Objekt‘, ‚Person‘ etc.), die sortale Prädikation, die Individuation von Objekten, die normative und ästhetische Präferenzierung, die in den Formen der Anschauung zur Gestalthaftigkeit der Wirklichkeit führenden Sinnestätigkeiten und die subdoxastischen Zustände wie Emotionen, existentielle Gestimmtheiten und unsere Leiblichkeit. Auf der Ebene der Interpretation1 sei dementsprechend eine Trennung zwischen Faktizität und Interpretativität sinnlogisch nicht explizierbar. Eine weitere Differenzierung in der Rede von Interpretation nimmt Abel durch die Unterscheidung von drei Hinsichten quer durch die Interpretationsstufen hindurch vor (vgl. bereits Abel 1989a: Kap. II). Die im engeren Sinne auf unser grundbegriffliches System bezogenen Komponenten werden dabei als Interpretations-Logik bezeichnet. In die Interpretations-Ästhetik fallen die in das Verwenden und Verstehen symbolisierender Zeichen involvierten Formen der sinnlichen Anschauung sowie das Individuelle an den semantischen Merkmalen eines Zeichens und Urteils. Als Interpretations-Ethik können, so Abel, die normativen Elemente der Interpretations-Praxis sowie des symbolisierenden und situationsgemäßen Zeichengebrauchs gefasst werden.
3 Begriff des Zeichens und Modell der Zeichenverhältnisse Eng verbunden mit dem dargelegten Interpretationsbegriff und -Modell ist auch ein entsprechend differenzierter und erweiterter Zeichenbegriff.⁶ Von bereits vorhandenen oder konstruktional eingeführten Zeichen im engen Sinne, also meist sinnlich wahrnehmbaren Gebilden, die etwas symbolisieren und darin durch ihre semantischen Merkmale charakterisiert sind, werden von Abel Zeichen im weiten Sinne unterschieden. Gemeint mit einem Zeichen im weiten Sinne ist dabei „jedes Gebilde, das explizit als bedeutungstragend empfunden wird, an dem es etwas zu verstehen gibt und nach dessen Bedeutung man fragen kann“ (ZdW 349 f.; s. ferner 20 ff.). Ein solch weiter Sinn treffe demnach nicht nur auf sprachliche Ausdrücke oder Bilder zu, sondern „kann von jedem Objekt realisiert werden. Bedeutungslos herumliegende Steine oder eine farbige Fläche, die man sieht, können in dem Moment zu Zeichen werden, wo sie explizit Aufmerksamkeit erfahren“, also ein Übergang vom bloßen Sinneseindruck zum Zeichen stattfinde. Zeichen werden hier also nicht als vorab fertige Entitäten verstanden, sondern sie entstehen, wie Abel „in der Linie der Philosophie von Charles S. Peirce“ betont, Zu zeichenphilosophischen Fragen s. insb. (AiD Kap. 4).
Perspektiven der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels
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„aus vergleichsweise ungegliederten und kontinuierlichen Verhältnissen heraus“ (ZdW 350). Insofern etwas nicht aus sich heraus, vorab fertig, fest-stehend und exakt umgrenzt ein Zeichen sei, hätten Zeichen stets schon eine Genealogie „aus den vorderhand ungegliederten und kontinuierlichen Geschehens- und Lebenszusammenhängen heraus“ hinter sich, eine Interpretationsgeschichte erst noch vor sich und stünden in ihrer Bezogenheit auf Kontext, Situation, Zeit, Personen und kulturellen Hintergrund in einer unaufhebbaren Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Interpretations-Praxis (ZdW 22 f.). Analog zum mehrstufigen Interpretations-Modell entwirft Abel reflexiv rekonstruierend und dabei ebenfalls in heuristischer Weise ein Zeichen-Modell mit mehreren, zumeist drei Stufen bzw. Ebenen. Der obersten Ebene der denotierenden oder nicht-denotierenden Zeichen (Zeichen3), etwa Wörter und Sätze eines individuellen Sprechers, lägen die eingeübten Praktiken des Zeichengebrauchs, also bspw. im erfolgreichen Verstehen sprachlicher Zeichen eine bestimmte Sprache einschließlich Konventionen und stereotypisiertem Zeichengebrauch voraus (Zeichen2). Auf der untersten Stufe seien dem bereits die basalen Kategorialisierungen, raum-zeitlichen Lokalisierungen, der Gebrauch der logischen Grundbegriffe und die Individuationen von Objekten und Ereignissen vorausgesetzt (Zeichen1). Abel geht hierbei von einer „fundamentale[n] Zeichenverfasstheit und Sprachlichkeit der Prozesse der inter-individuellen Verständigung und des Wirklichkeits-Erschließens, des ursprünglichen Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses selbst“ aus (ZdW 30). Zentral für die Explikation des Zeichenbegriffs ist, dass in jedem Verstehen und Verwenden der Zeichen „eine Praxis der Interpretation der Zeichen“, die in der Regel „fraglos“ funktioniere, vorausgesetzt sei, so Abels Befund. Eben damit werde auch „der innere Zusammenhang sowohl von Zeichen, Interpretation und Regelfolgen als auch das in seinen Komponenten nicht noch einmal begrifflich streng isolierbare Verhältnis von Zeichen, Interpretation und Handlung markiert“ (ZdW 22).
4 Interpretations-Praxis Beim Begriff der Interpretations-Praxis geht Abel offensichtlich über den engeren Sinn von ‚Praxis‘, der an die auf Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen beruhenden, bewussten, intentionalen Handlungen gebunden ist, hinaus. In einem weiten Sinne bestimmt er ‚Interpretations-Praxis‘ als die interpretativ verfasste menschliche Lebenspraxis, die von unserer Lebensform, nicht-sprachlichem Reagieren, Verhaltensformen, Handlungen, Erfahrungen und, anknüpfend an Wittgenstein, der ‚gemeinsamen menschlichen Handlungsweise‘ gebildet
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wird. Als gelebte Praxis sei die lebensweltliche Interpretations-Praxis demnach das Netzwerk der Bedingungen, „aus dem heraus und auf das hin Menschen so leben, wie sie leben“. Als ein solches Hintergrundgeflecht sei sie gerade nicht im Ganzen überschaubar, transparent zu machen, ins vor-stellende Denken zu ziehen, operational herzustellen, formalisierbar oder in ihrer Geltung zu suspendieren.⁷ Die Praxis der Zeichen3 und Interpretation3 sei durch Bewusstheit, Optierbarkeit, Erkennbarkeit, Diskursivität und Argumentation gekennzeichnet. Ihr gingen jedoch, so Abel, v. a. noch voraus: die mit anderen Personen geteilte, externalisierte, öffentliche Praxis bzw. Art und Weise der Umgrenzung und Bestimmung der syntaktischen, semantischen und pragmatischen Merkmale der sprachlichen Zeichen, nicht-sprachlichen Handlungen und Erfahrungen sowie die Praxis in Form der Situiertheit „eines jeden menschlichen Sprechens, Denkens, Könnens und Wissens in dem Bereich nicht-sprachlichen Handelns, Reagierens und Verhaltens“. Beide Komponenten seien in dem „nach unten offenen Kegel von Interpretationsverhältnissen“ ihrerseits verankert in der „zugrunde liegenden, ursprünglichen und nicht noch einmal hintergehbaren“ Interpretation1-Praxis (SZI 34 f.). Mit der Interpretations-Praxis sei ferner eine praktische Gewissheit im Sinne der „mit dem fraglos funktionierenden Eingespieltsein einer Interpretations- resp. Lebenspraxis intern gegebenen Selbstverständlichkeiten“ möglich und überwiegend gegeben (SZI 38).
5 Vertiefungen und Grundzüge des Ansatzes Bei Blick auf die angeführten begrifflichen Fassungen von ‚Zeichen‘ und ‚Interpretation‘ mag man geneigt sein, nach dem ‚Was‘ (s.u. lit (a) u. (b)), dem ‚Wer‘ (c), vielleicht auch nach dem ‚Wann‘ (d) des Interpretierens zu fragen, darüber hinaus gewiss auch nach der ‚Wirklichkeit‘ (e) und dem ‚Weltbezug‘ (f) der Zeichen und Interpretationen. Dies gibt Anlass, einige Vertiefungen des Ansatzes anzuführen und einige Grundzüge zu benennen, die Abels womöglich überraschende Antworten auf Fragen dieser Art, gleichzeitig aber auch eine entlang des Zeichen- und Interpretationsstufenmodells erfolgende differenzierte Sinn(neu)zumessung und Horizontverschiebung bezüglich der Fragen selbst zumindest ansatzweise erkennen lassen dürften. (a) Der Tiefensitz des Zeichen- und Interpretationsbegriffs wird in der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie daran deutlich, dass Interpre-
(SZI 33). – Zu Fragen der Interpretations-Praxis s. (AiD Kap. 3).
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tation im Gegensatz zu einer bloß zusätzlichen Prozedur des Erkennens, einer ars interpretandi, den ursprünglichen Charakter des Funktionierens symbolisierender Zeichen und unseres In-der-Welt-seins ausmache, insofern dieses nicht „nachträglich auch noch interpretiert“ werde, sondern sich „intrinsisch als Interpretationsgeschehen“ vollziehe. Ferner bestehe eine Priorität des ‚Interpretierens-alsetwas‘ vor dem Deuten und Aneignen, dem ‚Interpretieren-von-etwas‘, da Interpretationen als „aktive und kreativ-konstruktbildende Prozesse und nicht als passive Wiedergabe vorfabrizierter Dinge oder fertigen Sinns anzusehen sind“ (Abel 1992a: 170 f). Im Unterschied zu zumindest weiten Teilen der philosophischen Hermeneutik, bspw. zu Gadamer, kann daher auch ein Text weder als feststehend, als der „feste Bezugspunkt“, noch als ausgestattet mit einem Sinn, der „eigentlich dasteht“, begriffen werden (Gadamer 1984: 34; vgl. Iw Kap. 19.4). (b) Zu den philosophischen Prinzipien der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie gehört, dass „jedes raum-zeitlich lokalisierte, individuierte und bestimmte Objekt und Ereignis als Resultat formierender Interpretationsprozesse angesehen werden kann“ (Abel 1996a: 272). Alles, was in unserer menschlichen, d. h. internen und perspektivischen epistemischen Situation überhaupt Gegenstand der Erfahrung für uns sein kann, könne dies bei philosophisch-kritischer Betrachtung stets nur in einem Interpretation1-Horizont und unter den Regeln einer Interpretation1-Praxis, deren Regularitäten es instantiiert, sein. Ferner sei in reflexiver Betrachtung jedes bestimmte Objekt und Ereignis das Interpretationsresultat einer Genealogie aus kategorialisierenden Interpretationsverhältnissen. Zusammen genommen lautet daher Abels Grundsatz der Erfahrung und Erkenntnis – der ‚Satz der Interpretation‘, formuliert als ein Satz der interpretations-transzendentalen Logik – abkürzend: „Alles, was ‚ist‘, ist Interpretation, und Interpretation ist alles, was ‚ist‘.“ (SZI 57) Der ‚Satz der Interpretation‘ besage mithin, dass eine gänzlich zeichenlose und nicht-interpretative Wirklichkeit „eine Wirklichkeit von nichts“ wäre, dass also „ohne Zeichen und Interpretation alles nichts ist“. Gleichzeitig besage er gerade nicht, alles sei Interpretation oder alles sei Zeichen, d. h. die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie versteht sich dezidiert nicht als eine Ontologie der Zeichen und Interpretationen (ZdW 16; vgl. SZI Kap. 2.4). (c) Die Begriffe von Zeichen und Interpretation in ihrem weiten Sinne hängen, so Abel, weder grammatisch noch sinnlogisch von der Voraussetzung eines „vorgängig fest-stehenden Subjekts durchgängig bestimmter Trägerschaft“ ab, das da interpretiere und Zeichen verwende (ZdW 227). Die Rede vom ‚Subjekt des Interpretierens‘ könne nicht als Hinweis auf einen festen, substanzartigen und alleinigen Ausgangspunkt von Zeichen- und Interpretationsprozessen verstanden
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werden.⁸ Vielmehr sei eine solche prozessuale Tätigkeit der Akteure bzw. individuellen Subjekte des Interpretationsgebrauchs auf der Interpretation3-Ebene anzusiedeln; dabei sei sie schon in einen vorgängigen, komplexen Hintergrund, insbesondere in die dem menschlichen Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln voraus und zugrunde liegende Interpretation1+2-Praxis eingebettet. Zwischen ‚Prozess‘ und so verstandenem (weder hypostasierten noch prozessual aufgelösten) ‚Subjekt‘ bestehe in dieser Stufung demnach nicht ein gegensätzliches, wohl aber ein asymmetrisches Verhältnis, denn „jede Subjekttätigkeit beruht bereits auf Prozessen, während durchaus von subjektlosen Prozessen gesprochen werden kann“ (Abel 2001a: 42). Man darf wohl schließen, dass nach Abel der Begriff der Interpretation nicht sinnvoll auf allen Stufen des Zeichen- und Interpretationsmodells unter die Frage, wer da interpretiere, zu bringen ist. Des Näheren zeigt sich in Abels interpretations- und zeichenphilosophisch entwickelter Philosophie des Geistes, dass der Rekurs auf den Prozesscharakter der Zeichen- und Interpretationsvollzüge auch das „mit dem indexikalischen Wort ‚Ich‘ bezeichnete bewußte und selbst-bewußte Subjekt unterläuft und diesem bereits vorausliegt“ (ZdW 226). Insofern Zeichen- und Interpretationsverhältnisse im Auftreten von Bewusstsein stets vorausgesetzt und in Anspruch genommen seien, seien nicht Bewusstsein oder Reflexion Grundvorgang, sondern Zeichenund Interpretationsprozesse (ZdW 270). (d) Bedeutsam für das grundsätzliche Verhältnis zwischen Interpretation und Zeit lautet Abels These: „Ohne Interpretativität1 würde gar nichts für uns geschehen.“ (SZI 56) Auch die zeitliche Geordnetheit unserer menschlichen Erfahrungswelt mit ihren Geschehensverläufen verdanke sich einem formierenden Interpretation1-Horizont und einer Interpretation1-Praxis.⁹ Insbesondere sei Interpretation logisch früher als Kausalität, insofern in dem Konzept von Ursache und Wirkung und bei dessen Rolle in den Fragen von Veränderung und Zeitordnung eine Interpretations-Praxis stets schon vorausgesetzt und in Anspruch genommen sei. Dies zeige sich sowohl an den interpretatorischen Aktivitäten beim Aufstellen von Kausalaussagen und allgemeinen Kausalgesetzen als auch daran, dass das Mannigfaltige der in einem subjektiv-beliebigen Nacheinander erfolgenden Wahrnehmung aus sich heraus keine Zeitordnung in den Gegenständen enthält. Die Positionierung der Gegenstände in der Zeit und ihre als objektiv angesehene Zeitordnung, auf die wir in unseren alltäglichen Erfahrungsaussagen (Interpretationen3) in selbstverständlicher Weise Bezug nehmen, müssen „Resultat kategorialisierender und schematisierender Interpretation1-Gesichtspunkte
Zur Frage des Subjektbezugs von Interpretation s. (AiD Kap. 1). Zum Thema von Zeitlichkeit und Interpretativität s. (AiD Kap. 5).
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sein, die wir immer schon in das, was uns als eine Wirklichkeit gilt, eingearbeitet haben“ (SZI 56). Ferner sei hinsichtlich Dauer und Wechsel auch ‚Beharrlichkeit‘ als Interpretation1-Gesichtspunkt mit kategorialisierender und schematisierender Funktion aufzufassen. Und die im Kantischen Sinne betrachtete Transponierung einer rein im Fluss befindlichen, d. h. rein zeitlich verfassten, dauerhaft-wechselnden, subjektiven Innenwelt auf die Dinge der in diesem Zug formierten objektiven Außenwelt sei ebenfalls als konstruktionaler Interpretation1-Vorgang zu konzipieren (s. SZI 53 f.). (e) Wirklichkeit nach Menschenmaß sei nicht vorab fertig da, so Abel in bekannter metaphysik-kritischer Linie. Auf eine nicht-epistemische Welt an-sichseiender, sich-selbst-identifizierender Objekte und Ereignisse würden wir uns auch nicht verstehen. In Bezug auf den Sinn von ‚Realität‘ hebt Abel andererseits hervor, dass jedes Realismus-Problem sekundär sei und erst auftrete, wenn jemand die semantischen Merkmale der Zeichen nicht mehr direkt versteht (s. SZI Kap. 2.2; ZdW Einl. u. Kap. 6). Wenn es sich jedoch, wie fast immer, um Zeichen handele, die direkt verstanden und verwendet werden (sich also ihre Zeichen- und Interpretationsfunktionen aus einer fraglos eingespielten Interpretations-Praxis heraus vollzögen), benötige man nicht noch einen zweiten Schritt, um zur Realität zu kommen. Es sind „diese Zeichen intern zugleich die wirklichkeits- und realitätshaltigsten Zeichen überhaupt“.¹⁰ Die Verbindung zwischen ‚Welt‘ und ‚Sinn‘ sei bei ihnen in der Tiefe der eingespielten Interpretations-Praxis adualistisch schon vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Die These eines solchen interpretativen Realismus bewegt sich offensichtlich jenseits der Entgegensetzung von klassischem Realismus und Idealismus und führe auch nicht in einen Relativismus der Beliebigkeit, da das Interpretation1-System zwar nicht unveränderlich, aber auch nicht beliebig optierbar sei. Letztlich werde die nicht-positivierbare Grenze von Wirklichkeit, Welt und Sinn von der logisch-ästhetischen Grenze welt- und sinnformierender Funktionen des Interpretations-Horizonts und der Interpretations-Praxis gebildet (s. SZI Kap. 9.2). Das Verhältnis zwischen Zeichen und Interpretation einerseits und Welt und Wirklichkeit andererseits sei also entlang des dreistufigen Modells differenziert anzugeben. Insofern Fakten und Objekte Spätprodukte logisch früherer Interpretationsketten und isolierender Konstruktbildungen innerhalb eines Zeichen- und Interpretationssystems seien, entfalle auf der grundlegenden, kategorialisierenden Interpretation1-Ebene sinnkritisch die Möglichkeit der Auftrennung zwischen Faktizität und Interpretativi (Abel 1996a: 284). Für weitere Ausarbeitungen Abels zur philosophischen Frage nach Wirklichkeit siehe neben ZdW u. a.: (Iw Teil V; SZI Kap. 2 u. 6; Abel 1988a; 1996a; 1997a; 2002a; 2015a). – Zu philosophischen Fragen nach Wirklichkeit, Interpretationswelten und Interpretationskonstrukten s. (AiD Kap. 17).
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tät1. Es sei hier die „Differenz zwischen Interpretation und Welt […] noch nicht gegeben“ (Iw 501; s. SZI 289). Dagegen gebe es Objekte und Ereignisse in der Welt, die von den Ebenen der Interpretation2+3 unabhängig seien und die uns, falls sie nicht zu den Interpretationen2+3 passen, in kritischer Rückbindung an den Erfahrungsbereich nötigten, „unsere Interpretationen2+3, nicht jedoch die Welt zu ändern“ (Iw 474). Bislang nicht wahrgenommene Phänomene führten nicht unmittelbar zu einer Veränderung von tradierten Konventionen und kulturellen Praktiken, von Gewohnheits- und Gleichförmigkeitsmustern, und umgekehrt würde unsere Welt nicht sogleich eine andere, wenn solche Interpretationen2 variieren. Vielmehr fänden in Interpretationen2 „Zuordnungen von Interpretationen und Welten statt“. In auslegend deutenden Interpretationen3 (bspw. Beschreibungen, wissenschaftlichen Hypothesen und Theorien) „sind die Interpretationen von dem abhängig, was sie interpretieren“ (Abel 1989a: 4). (f) Bei der These, dass Interpretation in und an Zeichen geschehe und Zeichen nicht nur nachträglich interpretiert würden, sondern „bereits auch in den Zeichenfunktionen, die sie üben und durch die sie die Zeichen sind, die sie sind, interpretatorisch“ seien (Abel 1992a: 169; s. ZdW Einl.), greift die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie auf alle Arten von Zeichensystemen aus. Im wichtigen, speziellen Fall einer natürlichen Sprache seien Bedeutungs- und Referenzfunktionen als Interpretationsfunktionen zu konzipieren und die Umgrenzung der semantischen Merkmale erfolge durch eine Interpretations-Praxis, wobei die semantischen Merkmale und Funktionen der Zeichen auch von den Annahmen über die zugrunde gelegte Interpretationswelt abhängig seien. Aber auch bei anderen Zeichensystemen bestehe zwischen welterschließenden Zeichenfunktionen und darin erfasster Welt letztlich kein Gegenüberstellungs- oder Abbildungsverhältnis, sondern eine interne Verbindung. Grundsätzlich vollzögen sich Kommunikation, Weltbezug und Handlungszusammenhang nicht vermittels, sondern kraft der dynamischen Zeichen- und Interpretationsfunktionen, d. h. in einer nicht-repräsentationalistischen, direkten und vermittlungsfreien Weise (s. ZdW Kap. 5). Des Näheren seien auf der Basis des weitgefassten Zeichen- und Interpretationsbegriffs auch Philosophie, Wissenschaften und Künste konditional und nicht erst sekundär zeichen-verfasst und interpretativ, so dass in dieser Hinsicht die Allgemeinheit der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Abels darin zu sehen ist, dass sie sich nicht nur auf eine philosophische Teildisziplin, sondern auf alle Felder philosophischen Fragens erstreckt sowie eine einheitliche Basis bereitzustellen intendiert, auf der unterschiedliche philosophische Ansätze aufeinander bezogen werden und philosophische mit wissenschaftlichen Beiträgen in den angestrebten integrativen Zusammenhang gebracht werden können.
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6 Merkmale der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie Über die jeweiligen sachlichen Problemfelder hinweg lässt sich die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie Abels durch eine Reihe von Merkmalen kennzeichnen, darunter die folgenden: (a) Zu den charakteristischen Ausgangspunkten dieses Philosophierens gehört, dass wir uns stets schon in normalerweise und überwiegend gut funktionierenden, eingespielten Welt-, Fremd- und Selbstverhältnissen befänden und uns darüber hinaus in diesen Verhältnissen als endliche, perspektivische und finitisierende Geister vorfänden. Ersteres – das Gelingen und nicht der Fall der Störung dieser Verhältnisse – bildet demnach für Abel die philosophisch primäre, erklärungsbedürftige Tatsache, die am Leitfaden der Interpretativität verständlich gemacht werden soll. Letzteres, unsere unaufhebbare Perspektivität, Begrenztheit und interpretatorischen Finitisierungen, bedeute metaphysik-kritisch, dass wir in unserer menschlichen Lebenspraxis von jeder Totalitätssicht und Gottes-Perspektive, von Unbedingtheits- und Absolutheitsannahmen systematisch abgeschnitten seien.¹¹ Als endliche Geister könnten wir „nicht nicht-interpretativ empfinden, wahrnehmen, sprechen, denken und handeln“ (SZI 16). (b) Bei der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie handele es sich demzufolge ihrer Form nach um internes Philosophieren. Dieses macht als solches die Einsicht leitend, dass wir von einer externen Perspektive und von einem perspektive-transzendenten, von einem gänzlich nicht-epistemischen, mithin nicht-interpretativen Standpunkt systematisch abgeschnitten seien. Als sehr charakteristisch für Abels konkrete philosophische Problembehandlungen, die man durchgängig als ein ‚Philosophieren ohne Drittes‘ bezeichnen kann, ergebe sich hieraus in sinnkritischer Weise insbesondere, dass uns an sich seiende Maßstäblichkeiten und apriorisch fertige Bezugsentitäten (nicht zuletzt beim Erkennen, Verstehen und moralischen Bewerten) systematisch nicht zugänglich seien. So sei beispielsweise die Idee von ‚der einen Wahrheit‘ abzulösen durch das sinnvolle Aufstellen, Reflektieren und Begründen von Wahrheitsansprüchen.
Zu Fragen der Perspektivität und des Perspektivismus s. (AiD Kap. 13). – Zu Abels Thesen, dass es „weder eine Interpretation des Unbedingten noch eine unbedingte Interpretation geben kann“, dass ferner „das Interpretationsgeschehen nicht auf einen unbedingten Grund bzw. nicht auf ein unbedingtes Grundgeschehen zurückzuführen ist“ und dass (insbesondere in moralischer und epistemischer Hinsicht) „oberster Grundsatz der Vernunft nicht mehr sein muß, zum Bedingten das Unbedingte zu finden, und dass eine interpretationsphilosophische Ethik ohne eine solcher Annahme möglich ist“, siehe (Abel 1993b; hier S. 283 f.).
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(c) Der Zeichen- und Interpretationsgedanke besitze eine ontologie-kritische Funktion. Er beinhaltet, dass jedes ontologische Argument ein sprach-, zeichenund interpretationstheoretisches Fundament habe; und Ontologie, d. h. eine Theorie dessen, was es gibt, und der Weise, wie dies ist, sei als eine Angelegenheit des Zeichen- und Interpretationssystems auszuweisen und nicht umgekehrt. Der Ansatz der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie sei damit einerseits hinsichtlich Interpretations-Praxis, -System und -Horizont, in Abhängigkeit von denen Existenz interpretativ sei, ontologisch neutral und stelle andererseits, wie bereits gesehen, auch nicht so etwas wie eine ‚Ontologie der Zeichen und Interpretationen‘ dar.¹² (d) Die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie ist nominalistisch, insofern sie einen über sprachprädikative und urteilsgrammatische Komponenten noch hinausgehenden ‚Zeichen- und Interpretations-Nominalismus‘ vertritt. Dass Gegenstände und Fakten der äußeren wie inneren Erfahrung stets nur im Horizont und in den Regularitäten einer nicht-hintergehbaren Zeichenund Interpretations-Praxis gegeben und auch ontologische Argumente und Festlegungen notwendig in dem zugrunde liegenden Zeichen- und Interpretationssystem fundiert seien, habe eine Reihe anti-platonistischer Konsequenzen (s. ZdW Kap. 8.1). Zunächst sei die Semantik der Zeichen keine Frage des Bezugs zu idealen oder abstrakten Entitäten, sondern als interne Funktion des Zeichenund Interpretations-Systems zu fassen. Ferner hätten wir es mit einer Welt konkreter Endlichkeiten und nicht transzendenter Unendlichkeiten zu tun. Und insbesondere schließlich sei die Welt eine Welt von Individuen und nicht von Universalien. Für die nominalistische Konzeption einer Welt von Individuen, in der keine zwei verschiedenen Gegenstände auftreten können, die in ihrem Gehalt keinerlei Unterschied aufweisen, und damit für die Zeichen- und Interpretationsphilosophie nimmt das principium identitatis indiscernibilium von G. W. Leibniz mithin eine zentrale Stellung ein. (e) Die These, dass jede individuierte und spezifische Wirklichkeit immer schon zeichen-verfasst und interpretations-bedingt, jede gehaltvolle und nichtirrtümliche Erfahrung ‚kraft‘ Zeichen und Interpretation immer schon Erfahrung von Wirklichkeit sei, charakterisiert die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie als einen nicht-dualistischen Ansatz. Zeichen und Wirklichkeit, Interpretation und Erfahrung, Geist und Welt, Sprache und Objekte seien nicht durch eine logische Kluft getrennt, die es durch epistemische Vermittler oder ‚vermittels‘ Zeichen oder dritter Instanzen zu überbrücken gälte. Die bestehenden Unterschiede seien vielmehr interner Natur und im Zeichen- und Interpretati-
S. hierzu insbesondere (SZI Kap. 2.1) und (ZdW Kap. 8.1).
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onsstufenmodell behandelbar. Den grundsätzlich adualistischen Konzeptionen dieser Verhältnisse lägen dann auf der untersten Modellstufe, so Abels Metapher, „drehtürartige Verhältnisse“ zugrunde (ZdW 13; Abel 1995: 266). (f) Ein weiteres Hauptmerkmal der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie ist ein interner, konditionaler Pluralismus. Aufgrund des Gedankens der perspektivischen, finiten und finitisierenden Interpretationsprozesse und Zeichenfunktionen sei die These nicht einlösbar, dass es eine metaphysisch essentialistische und apriorische Ordnung der Dinge sowie ein Vorab-Festgelegtsein der semantischen und pragmatischen Merkmale der Zeichen gebe. Stattdessen resultiere aus der Interpretations-Praxis systematisch die nicht zu eliminierende Möglichkeit des Auch-anders-sein-könnens, also eine nicht-reduzierbare, interne Alterität und Variabilität. Für den zeichen- und interpretationsphilosophischen Ansatz ist daher „der Satz ‚Alles, was so ist, könnte auch anders sein‘ von grundlegender Bedeutung“ (SZI 65). Insofern also mit der sich aus den Zeichen- und Interpretationsfunktionen ergebenden Bestimmtheit von Welt und Wirklichkeit notwendig intern Alterität gesetzt ist, erweise sich damit umgekehrt die Pluralität eben deshalb auch als konditional. „Ohne sie hätte man es gar nicht mit einer bestimmten, nicht mit unserer und ein jeder von uns es nicht mit seiner Welt zu tun“ (SZI 243; s. ferner Abel 1996b). Pluralität, am prominentesten von Abel am Beispiel der Vielheit der Interpretationswelten ausgearbeitet (s. Iw 501– 506), sei mithin auch konditional für die von der kategorialisierenden, formierenden Interpretation1-Stufe her sich ergebende Bestimmtheit, Lokalisiertheit und Individuiertheit eines jeden wirklichen Objektes und Ereignisses (s. SZI Kap. 11). (g) Der Vorgang der Interpretation sei nicht nur perspektivisch, konstruktional sowie bei Übersetzungs- und mithin auch bei Verstehensverhältnissen unbestimmt, sondern auch hinsichtlich der je anschließenden Interpretation offen und angesichts der Bezogenheit auf Situation, Kontext, Zeit und Zwecke theoretisch unabschließbar. Festlegungen, Regeln und Regularitäten der Interpretation erwüchsen auf den verschiedenen Ebenen von der Wahrnehmung bis zum Theoriebilden, von der Emotionalität bis hin zur Moral erst aus einer Interpretations-Praxis heraus. Dem entspricht, dass sich niemand im Besitz der einen, definitiven und allgemein verbindlichen Begründung oder privilegierten Strategie befinden könne. Der kritische Wegfall einer solchen metaphysisch einzig seriösen Instanz, unter die die Interpretations-Horizonte anderer Personen mit Legitimation gezwungen werden könnten, sei nicht nur in epistemisch theoretischer und pluralistischer Hinsicht relevant, sondern sei auch der tiefste Punkt der Interpretationsethik, der „die Wende in eine Normativität, die sich intern, interpretations-analytisch und ohne externe Annahmen aus dem Interpretationsgedanken
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selbst ergibt“, markiere und sich im sinnlogischen Erfordernis des wechselseitigen Anerkennens und Freigebens anderer Personen äußere.¹³ (h) Kennzeichnend für die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie ist deren systematische Berücksichtigung einer durchgängigen Relativität, etwa unseres Sprechens, Denkens und Handelns, auf Interpretations-Systeme, -Horizonte, -Praktiken und -Praxen. Trotz der damit einhergehenden Pluralität, Alterität und Offenheit führe diese Relativität jedoch gemäß Abel keineswegs in einen Relativismus der Beliebigkeit. Strenge Standards und Einschränkungen hinsichtlich der je zu präferierenden Interpretation3 könnten sich zwar grundsätzlich nicht aus externen, kriterialen, theoretisch definitiven Auswahlmaßstäben ergeben, entsprängen jedoch intern, in praktisch und pragmatisch zureichender Weise aus der (weder absoluten noch völlig frei optierbaren) Interpretations-Praxis selbst. In diese öffentliche, mit anderen Personen geteilte Praxis – insbesondere in Form der lebensweltlich verankerten Praxis des Gebrauchs der Zeichen, kraft derer sich Sprechen, Denken und Handeln vollzögen – sei der Sprecher bzw. Handelnde stets schon eingebunden. Wenn er verstanden werden und die Handlungs- und Kommunikationsverhältnisse mit anderen Personen aufrecht halten möchte, sei er daher an der Beliebigkeit seiner Verwendung der Zeichen und seiner Vorstellungen gehindert (s. ZdW 57 f.). Die „interpretations-praxeologische Relativität [steht] unter starken Kohärenz-Restriktionen“ (SZI 44). Es ist ein wichtiges Merkmal des gesamten Ansatzes, dass solche Interpretationsprinzipien, Konsistenz- und Kohärenzanforderungen, Maßstäbe und Standards der Kritik intern und in diesem Sinne analytisch aus der Logik der Interpretationsverhältnisse gewonnen werden sollen und eben auch nur dort zu finden seien – bspw. für die Rationalität der Interpretation bzw. für die Bevorzugung einer spezifischen Interpretation3 im Zuge sinnhafter Verständigungsverhältnisse und, in normativer Hinsicht, für das Bewerten von Handlungen (vgl. SZI Kap. 4.3 u. 14.3). (i) Ein letztes Merkmal in dieser nicht abschließenden Aufzählung betrifft die Form des philosophischen Vorgehens, das für die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie typisch ist. Häufig setzt sie zur philosophischen Untersuchung der fraglos funktionierenden, selbstverständlich scheinenden Verhältnisse methodisch dort an, wo Fragen, Probleme bzw. nicht mehr direkt verstandene und funktionierende Verständigungs- und Handlungszusammenhänge auftreten.¹⁴ Hiervon ausgehend beginnt dann auf der Interpretation3-Ebene eine
(SZI 348). Zu diesem letzt genannten Aspekt s. auch (Abel 2010a) sowie (Wagner 2017). Bei aller offenkundigen Unterschiedlichkeit in den Positionen mag man hier einen Berührungspunkt mit einer wiederkehrenden, methodisch nutzbar gemachten Denkfigur in Heideggers
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Reflexion auf diejenigen sinnlogischen Präsuppositionen, die bei gelingenden, erfolgreichen Vorgängen (s.o. lit. (a)) stets schon als erfüllt und in Anspruch genommen vorauszusetzen sind. Der Rückgang in diese (als Gesamtheit nicht überschaubaren, transparent zu machenden und nicht formalisierbaren) Bedingungen führe im erfolgreichen Falle nicht zu Theorien, sondern – hierin verwandt mit Wittgensteins Auffassung von Philosophie – zum ‚Auflösen des Problems‘. Das Problem als solches be- bzw. entstehe dann hier und jetzt nicht mehr, was sich am flüssigen Fortsetzen in den Handlungs-, Verständigungs- und sonstigen Zeichenverwendungsvorgängen zeige. Trotz der engen Beziehung zur perspektivisch konstruktionalen Philosophie Kants kennzeichnet die Zeichen- und Interpretationsphilosophie Abels ein de-transzendentales Philosophieren, jedenfalls dann, wenn mit ‚transzendentalem‘ Argumentieren ein starker Apriorismus der Bedingungen der Möglichkeit (von Erfahrungserkenntnis) überhaupt, mithin reine apriorische Kategorialität, und die Möglichkeit, sich auf einen höchsten Punkt zu reflektieren, verbunden werden. Stattdessen sei mit der pluralistischen Zeichenund Interpretationsphilosophie eine de-transzendentale Betrachtungsweise gegeben (vgl. Iw Kap. 5.1 u. S. 454 f.), in der die prinzipielle Variabilität des Interpretation1-Systems betont und dessen Zusammenspiel mit historisch bedingten, gewohnheits- und konventionsabhängigen Interpretation2+3-Praktiken je beachtet wird.
7 Positionen Abel hat seinen umfassenden philosophischen Ansatz dazu verwendet, auf zahlreichen philosophischen Themenfeldern originäre Positionen auszuarbeiten. Darüber hinaus hat er auf der Basis der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie Beiträge zu diversen speziellen Problemkreisen entwickelt. Im vorliegenden Projekt wird eine Vielzahl seiner Thesen und Positionen zum Gegenstand des Dialogs gemacht. Im Folgenden werden daher einige wichtige unter ihnen kurz benannt, um eine Art Landkarte zur Verortung der späteren Diskussionen auszubreiten. Zu den vorgelegten und untereinander vielfältig zusammenhängenden Positionen (s.u. lit. (a) – (f)) und Beiträgen auf spezielleren Problemfeldern (g) gehören: Sein und Zeit sehen, wonach es gerade die Fälle der Störung seien, die das Selbstverständliche sich ‚melden’ lassen; kommt es beispielsweise bei dem, was Heidegger Zeug nennt, zu einer „Störung der Verweisung“, werde darin „die Verweisung ausdrücklich“ und komme der Werkzusammenhang „worin sich das Besorgen immer schon aufhält, in die Sicht“ (Heidegger 1927: § 16).
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(a) Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Sprache. – Da Bedeutung und Referenz sprachlicher Zeichen weder a priori bzw. essentialistisch in diese eingebaut seien, noch in relativistisch beliebiger Weise erst in den subjektiven Meinungen einzelner Sprecher und Hörer bestimmt würden, sei es nach Abel eine Grundfrage zeitgenössischer Sprachphilosophie, woher die sprachlichen Zeichen ihre semantischen Merkmale haben. Jenseits der Dichotomie von Internalismus, wonach die Festlegung der semantischen Merkmale ‚in unseren Köpfen‘ geschehe, und Externalismus, wonach dies seitens der Welt bzw. Gesellschaft erfolge, geht die Zeichen- und Interpretationsphilosophie davon aus, dass „in jedem gelingenden Sprechen und Verstehen einer Sprache eine Interpretation dieser Sprache, d. h. die Art und Weise des erfolgreichen Funktionierens ihrer Zeichen, intern bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen“ sei (ZdW 63).¹⁵ Bedeutung und Referenz hingen daher von der eingespielten, öffentlichen und mit anderen geteilten Praxis des Gebrauchs der Zeichen ab, wobei diese Praxis als – im oben erläuterten Sinne – interpretativ zu kennzeichnen sei. Konzipiere man Bedeutung als Zeichen- und darin des Näheren als Interpretationsfunktion – und dabei gerade nicht als eine Stellvertreterfunktion der Zeichen (vgl. ZdW 99 – 101) –, so werde die Bedeutung bspw. eines sprachlichen Ausdrucks dann aufgrund dieses internen interpretativen Fundaments „durch dessen angemessene Interpretation bestimmt“ (SZI 72; s. auch ZdW 177 f.). Dies gälte nicht nur für den Fall der gelingenden Verständigung, in dem die sinnlogische Rückbindung an eine eingespielte Interpretations-Praxis „im Sinne der ursprünglich produktiven Weisen der Bedeutungs- und Referenzgenerierung und -ausrichtung“ gegeben sei, sondern auch im Falle, dass nach der Bedeutung eines nicht mehr fraglos funktionierenden Zeichens gefragt werde, da es hier um die Rückbindung an die Form der Praxis der Zeicheninterpretation „im Sinne nachträglich erklärender und aneignender Deutung“ gehe (Abel 2007a: 112). Entsprechend könne auch die Referenz eines Zeichens „als eine Funktion der durch eine eingespielte Interpretations-Praxis geregelten Zeichenverwendung konzipiert werden“, wobei „die Referenz eines Ausdrucks durch dessen angemessene Interpretation bestimmt
Ausarbeitungen Abels zur Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Sprache und damit unmittelbar zusammenhängender Problemkreise erfolgen breit in den Werken Iw, SZI sowie ZdW und sind ferner spezieller Gegenstand zahlreicher Beiträge, insb. (Abel 1995a; 1997b; 1997c; 1998; 2002b; 2007a; 2012a); ferner mit Schwerpunkt zur Wahrheitsthematik: (Abel 1989b; 1992b; 1992c; SZI Kap. 12; 2002c; 2010b); zur Thematik der Sprachformen, Lebensformen und Denkformen: (2003; ZdW Kap. 4; 2016a); zur philosophischen Frage der Übersetzung sowie damit zusammenhängender Unbestimmtheitsfragen (Abel 1994b; 1995b; SZI Kap. 5; 1999b; 2016b); sowie zu weiteren Aspekten innerhalb der Verstehensthematik (Abel 1990a; Iw Kap. 19; 1997d; 2002d). – Zu sprachphilosophischen Problemen s. insbesondere (AiD Kap. 3).
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wird“ (SZI 73; s. ferner Abel 1997b) und im gelingenden Fall als ein Passungsverhältnis zwischen den verschiedenen beteiligten Ebenen des Stufenmodells der Zeichen und Interpretationen zu charakterisieren sei (s. SZI 76 f.; Abel 1997b: 8 ff.). Hinsichtlich des Verstehens sprachlicher (wie nicht-sprachlicher) Zeichen bestehe das philosophische Problem nicht in der Frage, wie man Nicht-Verstehen beheben könne, sondern darin „zu verstehen, was es heißt, sprachliche (wie nichtsprachliche) Zeichen zu verstehen, mit anderen Worten: das direkte Verstehen zu verstehen“ (ZdW 65). Von entscheidender Bedeutung sei auch hier die Unterscheidung zwischen dem Vollzug eines Zeichens als Zeichen und der Deutung eines Zeichens mit Hilfe anderer Zeichen (s. ZdW Kap. 5.3; SZI Kap. 4). Dabei sei direktes Verwenden und Verstehen der Zeichen eine Sache des Zeichen-Vollzugs, da hier die eingespielte Interpretations-Praxis der Zeichen im Sinne der ursprünglich produktiven Weisen der Bedeutungs- und Referenzgenerierung und -ausrichtung sinnlogisch zugrunde läge. Deutungen seien hier „gerade nicht entscheidend“, denn dann deute und erkläre man das Zeichen nicht, sondern „man versteht es“ (ZdW 66). Ferner seien im erfolgreichen Vollzug der Zeichen „deren Welthaltigkeit und Kommunikabilität stets bereits gegeben“; sofern die Zeichen direkt verstanden werden, „müssen sie nicht erst noch mit der Welt und dem Sinn verbunden werden“, vielmehr seien im erfolgreichen Zeichengebrauch „Welt und Wirklichkeit präsent“ (ZdW 64). Darüber hinaus seien auf dem Hintergrund der insbesondere von Wittgenstein her gewonnenen Unterscheidung zwischen ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ „Phänomen und Logik des Zeigens von grundlegender Bedeutung in jedem erfolgreichen Verwenden und Verstehen sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen“ (SZI Kap. 8, hier S. 169), wobei das Zeigen von Abel in einem internen Zusammenhang gesehen wird mit dem sich realisierenden Vollzug eines Zeichens als Zeichen, in welchem „das Zeichen die Bedingungen seines Gelingens nicht in etwas anderem außerhalb seiner selbst“ habe (SZI 182). Für das gelingende Herstellen von Verständigungsverhältnissen sei ein „zwischen Hörer und Sprecher, zwischen Interpret und Zeichen oszillierender Vorgang eines dynamischen Justierens“, insbesondere durch Abänderung von die Bedeutung der Zeichen bestimmenden Interpretationshypothesen, erforderlich, welcher der Erreichung dessen diene, „was man Verstehensgleichgewicht, Gleichgewicht im Zeichenverstehen, nennen kann“ (SZI 95).¹⁶ Kondition menschlichen Fremd- und Selbstverstehens sei ferner der Grundvorgang der Übersetzung, für den Abel herausstellt, dass er interpretativen Charakter habe, dass die „Verbindung zwi-
Zur Diskussion philosophischer Fragen, die das Verstehen, den Sinn sowie das Verhältnis von Interpretationsphilosophie und Hermeneutik betreffen, s. insbesondere die Beiträge in (AiD Kap. 1 u. 2).
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schen einem Zeichen und seiner übersetzenden Interpretation“ ebenso wie grundsätzlich zwischen Zeichen und gelingend anschließendem Folgezeichen zwar nicht gänzlich ungeregelt, aber nicht notwendiger oder algorithmischer Art sei (ZdW 301) und dass Übersetzung und Interpretation unbestimmt seien. Raum für alternative Übersetzungen und Interpretationen sei auch notwendig für die flüssige Fortsetzbarkeit von Kommunikation, so dass sich die Unbestimmtheit „als konditional für gelingende Verständigungsverhältnisse“ erweise (SZI 109).¹⁷ In Bezug auf das Verhältnis zwischen Denkformen (also den Arten und Weisen, in denen Vorstellen, Bestimmen und Erkennen von Wirklichkeit erfolgen), Sprachformen (also den Formen der öffentlichen, mit anderen geteilten Praxis des Gebrauchs sprachlicher Zeichen) und Lebensformen bzw. Lebenspraxis (also den Formen menschlichen Lebens, menschlicher Praktiken, Sitten, Gebräuche, Handlungsweisen, Gepflogenheiten, Institutionen, Traditionen, Formen sozialer Interaktion, Verhaltensregeln, Zeremonien, Riten etc.) vertritt Abel einerseits, dass „Denken nicht vermittels, sondern kraft der sprachlichen Zeichen erfolgt“ (ZdW 151). Denkprozesse seien „intern und notwendigerweise Sprach-, Zeichen- und Interpretationsprozesse“ (ZdW 160). Andererseits sei es die als Zeichen- und Interpretations-Form bzw. -Praxis zu charakterisierende Lebensform bzw. -praxis, in die das Sprechen als Teil dieser Lebensform (Wittgenstein) eingebettet ist. Sie spiele letztlich die entscheidende Rolle „in der Festlegung der semantischen und pragmatischen Merkmale der Zeichen“ (ZdW 160), wobei umgekehrt auch Lebenspraxis und empirische Lebensformen nicht überzeitlich feststünden, sondern auf Einwirkungen, beispielsweise seitens von den modernen Wissenschaften und Technologien geprägter Denkformen, „mit dynamischen Um- und Neuformungen reagieren“ könnten (ZdW 169). Auswirkungen auf die Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Sprache haben auch Abels Untersuchungen zu dem philosophischen Problem der Wahrheit. ¹⁸ Wahrheit im engen und diskursiven Sinne des Begriffs, also als Eigenschaft eines Satzes bzw. Urteils, betreffe demnach das Verhältnis des Satzes bzw. Urteils – nicht zuletzt als ein Verhältnis des gültigen Passens (s. SZI 287) – zum Netzwerk anderer Urteile auf der Zeichen3- und Interpretation3-Ebene, ferner zu Urteilen, die, „gleichsam verhaltens-sedimentiert, auf der Ebene zwei bereits für wahr gehalten werden“ sowie – „unter Einschluss der Bedingungen empirischer Gültigkeit“ (SZI 20) – zu „den Objekten und Ereignissen, die in den basal diskriminierenden, individuierenden, raumzeitlich lokalisierenden und kategorialisierenden Zeichen1- und Interpretation1-Prozessen“ überhaupt erst ihre Forma-
Zu Fragen der Unbestimmtheit s. auch (AiD Kap. 14). Zum philosophischen Problem der Wahrheit s. (AiD Kap. 4).
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tierung erhalten haben (Abel 2010b: 28 ff.). Interpretationen3 könnten wahr genannt werden, wenn und „weil der aufgestellte diskursive Wahrheitsanspruch mit der Verfasstheit der Interpretation1-Prozesse zusammenstimmt“ (SZI 295). Wahrheit von Zeichen und Interpretationen betreffe mithin nicht eine Korrespondenz oder Adäquation mit irgendeiner zeichen- und interpretationstranszendenten Realität, sondern unter anderem Aspekte wie ihre Projizierbarkeit, wechselseitige Kompatibilität, Verankertheit in einer eingespielten Zeichen- und InterpretationsPraxis mit deren internen (und dabei nicht schon vorab fertig feststehenden) Regeln und Normen oder auch ihre erfahrungs-organisierende Kraft (vgl. Abel 2010b: 34– 38). (b) Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Bewusstseins und des Geistes. – Abzielend auf einen Ansatz jenseits von Materialismus und Mentalismus arbeitet Abel den Zeichen- und Interpretationscharakter der Zustände, Prozesse und Phänomene des Bewusstseins und des Geistes heraus und macht sie für die philosophische Frage nach der Funktionsweise des menschlichen Geistes nutzbar (s. ZdW Kap. 1.4 u. Teil II; Abel 2001b; 2002e; 2004b; 2005). Kennzeichnend ist dabei, dass unser Bewusstsein nicht nur interpretativ verfasst und in seinen Vollzügen interpretativ verfahrend sei, sondern dass es (beschrieben in einem Kontinuumsmodell der Interpretationsverhältnisse) „selbst bereits auf nicht-bewussten Zeichen- und Interpretationsprozessen aufruht“ (ZdW 240), wobei der Zeichen- und Interpretation1-Ebene auch die „emergenten und in Bezug auf Gegenständlichkeit überhaupt präformierend wirkenden Transfigurationen zwischen Leiblichkeit und Bewusstsein“ zuzuordnen seien.¹⁹ Es könnten also (beschrieben in einem zeichen- und interpretationstheoretischen Prozess-Modell) bereits „die Prozesse des Organischen als Zeichen- und Interpretationsprozesse charakterisiert werden“ (ZdW 38). Als leitende Gesichtspunkte für eine umfängliche und integrative Position in der Philosophie des Geistes argumentiert Abel dafür, dass die Aktivitäten des menschlichen Geistes sich kraft der Zeichen und Interpretationen vollzögen, in Handlungszusammenhänge eingebettet und intern auf eine (nicht-algorithmische) Form von Rationalität bezogen seien (s. ZdW 283). Im Speziellen betont er dabei einen Nominalismus auch der inneren Erfahrung und bestimmt näher einen engen Zusammenhang von Bewusstsein und Sprache auf der gemeinsamen Basis von Zeichen und Interpretation.²⁰ Hinsichtlich des philosophischen Problems der Intentionalität hebt Abel hervor, dass dieses sich S. (ZdW 271 f.); s. ferner (Abel 1984a; 1990b). – Zur philosophischen Bedeutung von Leib und Leiblichkeit s. (AiD Kap. 4). Zur Diskussion von Fragen an der Schnittstelle von Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes (wie die nach der Generierung von Bedeutung), dabei auch in Hinsicht auf die Rolle der Wahrnehmung, s. (AiD Kap. 5).
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einerseits notwendig dem reduktiven Programm des Naturalismus entziehe und es andererseits Zeichen- und Interpretationsprozesse seien, „kraft derer intentionaler Gehalt und Gerichtetheit allererst umgrenzt werden und vorliegen“ (ZdW 78).²¹ (c) Zeichen- und Interpretationsethik. – Die „Zeichen- und Interpretationsverfasstheit unseres Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses sowie unserer Interpretationspraxis“ führt in ihren sich intern ergebenden „ethischen Implikationen und Konsequenzen“ (Abel 2010: 91) zu einer von Abel ausgearbeiteten Zeichenund Interpretationsethik (Iw Kap. 24; Abel 1997e; SZI Kap. 14; ZdW Kap. 1.6; 2004c; 2010a). Als deren Ausgangspunkt ergebe sich aus dem Zeichen- und Interpretationscharakter dieser Verhältnisse unmittelbar, dass sich niemand im Besitz von so etwas wie der einen metaphysischen Wahrheit oder Richtigkeit, der einen definitiven und allgemein verbindlichen Begründung oder der einen privilegierten Strategie zu deren Erlangung befinden könne. Dies markiere „die Wende in eine Normativität, die sich intern, zeichen- und interpretations-analytisch, begrifflich und ohne externe Annahmen und ohne Rekurs auf ein Drittes aus der Zeichen- und Interpretationsverfasstheit selbst ergibt“ (Abel 2010a: 91 f.). Zu den normativen Eckpunkten einer sich solchermaßen jenseits der Dichotomie von Letztbegründung und Relativismus bzw. Partikularismus (s. Abel 2010a: 96 ff.; SZI 352 ff.; ZdW 87 ff.) positionierenden Ethik gehöre, dass sich die Interpretierenden in der jeweiligen Eigenart ihrer Zeichen und Interpretationen, letztlich transsubjektiv in ihrer Individualität wechselseitig anerkennen und dass sie sich aufgrund des Wegfalls der metaphysischen Legitimation der Idee der Subsumption anderer Horizonte unter den je eigenen Horizont gegeneinander frei lassen, wobei sie darin und in diesem Sinne gleich seien. Es ergebe sich also eine „Ethik transsubjektiver Anerkennung des Individuellen“ (Abel 2010a: 92), wobei die „mit anderen Akteuren geteilte öffentliche Praxis des Einsatzes von Zeichen und Handlungen“ (106) sowie die normativen Strukturen der Lebenswelt in pragmatischer, nicht aber metaphysischer Hinsicht als Fundierungs- und Begründungsinstanz sowie als Bezugsgröße für ein diskursives Prinzip eines ‚reflektierten Gleichgewichts‘ anzusehen seien (s. Abel 2010a: 92, 110 – 119). Vor dem Hintergrund der Zeichen- und Interpretationsverfasstheit der Welt- und Fremdverhältnisse, des perspektivischen Charakters menschlicher Handlungen, der Alterität und der prinzipiellen Unabschließbarkeit der Zeichen- und Interpretationsprozesse misst Abel dabei in Sachen Begründung von Sittlichkeit komplementär zur Rolle der normativen Strukturen der Lebenswelt als pragmatischer Begründungsinstanz dem Kantischen Kategorischen Imperativ „als ihr diskursives
Zu Fragen des Naturalismus in Hinsicht auf die Interpretationsphilosophie s. (AiD Kap. 15).
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Komplementärstück“, verstanden als „kritischer Prüfstein der je subjektiven Zeichen- und Interpretationsmaximen“ (105), eine zentrale Rolle zu. Sittlich nämlich, so Abel mit Kant, handele ein Individuum deshalb, weil es „allein beim sittlichen Handeln selbstgesetzten Geboten folgt und in diesem Sinne frei ist“ (99). Auf der Ebene des Politischen führe die Zeichen- und Interpretationsethik dazu, „die freiheitliche, pluralistische und rechtsstaatliche Demokratie als die der allgemeinen Interpretationsphilosophie affine und wahlverwandte Form des politischen Systems verantworten zu können“ (SZI 21, s. ferner Kap. 14). Dementsprechend sei auf der Ebene gesellschaftlicher und politischer Organisation der Zeichen- und Interpretationsethik eine „Rechtsordnung affin, die die Freiheit der Interpretationsverhältnisse gegenüber partikular sich aufspreizendem und moralisierendem Sollen sichert“. Was die friedens- und gerechtigkeitsstiftende Rolle des Rechts betrifft, sei aus dem Gesichtspunkt der Freiheit und Gleichheit der Interpretierenden heraus „eine solche Rechtsordnung auch legitimiert, Rechtszwang und autoritatives Gebot zur Aufrechterhaltung der freiheitlichen, gleichen und pluralen Interpretationsverhältnisse auszuüben“ (SZI 367).²² (d) Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder. – Ausgehend von symboltheoretischen Abgrenzungen (N. Goodman) zwischen nicht-sprachlichen, bildhaften Symbolsystemen einerseits und sprachlichen Symbolsystemen andererseits, setzt Abel seine Unterscheidungen zwischen dem engen und dem weiten Sinn von Zeichen und von Interpretation zu Klärungen des Bildbegriffs ein. Ferner argumentiert er entlang der Unterscheidung zwischen einerseits dem ZeichenVollzug, also dem „direkten Verwenden und Verstehen eine Zeichens ohne weitere epistemische oder explanatorische Vermittler“, und andererseits der ZeichenDeutung dafür, dass Bilder kognitive Rollen und Funktionen in den Prozessen des Erkennens und Handelns „einzig im Sinne des Zeichen-Vollzugs übernehmen können“ (ZdW 353). Prozesse der Bildwahrnehmung seien dabei ebenfalls als Zeichen- und Interpretationsprozesse zu charakterisieren. Den häufig in den Debatten um Bild und Bildlichkeit konturierten Gegensatz zwischen einer Zeichen- und einer Phänomen-Perspektive versucht Abel durch eine ‚vereinheitlichte Theorie der zeichen- und phänomen-bezogenen Aspekte‘ zu überwinden. Der systematische Schlüssel hierzu liege in der „Einsicht, dass im Blick auf kommunikativ und kognitiv flüssig funktionierende Zeichen, vor allem Bilder, die ganze Unterscheidung zwischen Zeichen und Phänomen aufzugeben ist“ (ZdW 359), da im funktionierenden Bild eine solche Unterscheidung bzw. Isolation gegeneinander nicht möglich sei.Vor dem Hintergrund der von Abel als intern konzipierten
Zu den Themenfeldern Ethik, Politik, Demokratie s. (AiD Kap. 10), zu Recht und Gesetz s. (AiD Kap. 9).
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Verschränkung von Bildlichkeit und Kognition seien auch die besondere Bedeutung von Bildwissen als nicht-sprachlicher Wissensform hervorzuheben und die anschauliche Organisationskraft sowie die „wissens-, welten- und handlungsformatierende Kraft“ der Bilder (ZdW 368) verständlich zu machen.²³ (e) Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Wissenschaften und der Erfahrungserkenntnis. – Betreffend das Verhältnis von Theorie, Beobachtung und Wirklichkeit entwickelt Abel eine interpretationistische Konzeption der Erfahrungserkenntnis (s. Abel: 1994c; SZI Kap. 6). Zentrales Element ist dabei, dass die in den Erfahrungswissenschaften methodisch gewonnenen Beobachtungsdata bereits in ihrem Zustandekommen Produkt komplexer Interpretations-Genealogien seien. Die Frage nach der Theoriegeladenheit der Beobachtung werde damit in dem umfassenderen Rahmen der „Interpretationsgeladenheit“ (SZI 129) der Erfahrung, der Theorie und der Sprache differenziert behandelbar, wobei die als „eine Version der Interpretativität“ zu fassende Intentionalität in die philosophische Analyse der Beobachtung ebenso einzubeziehen sei wie die Rolle des „Interpretation1-Netzwerks“, das als notwendige Hintergrundbedingung in das Beobachten eingehe (SZI 131), und wie der Umstand, dass Beobachtung „ein Vorgang in Zeichen“ (SZI 140) sei. Des Weiteren versteht Abel zur Behandlung von Fragen nach dem Status und der Rolle von Modellen und Sprachen in den Wissenschaften die Modelle und die Sprachen der Wissenschaften „als Zeichen- und Interpretationskonstrukte zwecks wissenschaftlicher Deskription faktisch kontingenter Verhältnisse“, so dass im Besonderen auch für die Bildung und Applikation von Modellen in den Wissenschaften die Zeichen- und Interpretationsverhältnisse konditional seien – und nicht umgekehrt (ZdW 47, Kap. 12). Auch im Bereich der Wissenschaften bestehe „die Pointe“ darin, dass „die Wirklichkeit im erfolgreichen Verwenden und Verstehen der Zeichen intern immer schon bei diesen ist, nicht aber diese erst noch mit jene[r] in eine externe und weiterer epistemischer Vermittler bedürfende Verbindung gebracht werden müssen“, was sich als Ansatz folgenreich bis hin zum Verständnis von Sprache, Logik und mathematischer Modellierung in der Quantenphysik erweise (ZdW 48, Kap. 12.3). Über diese im engeren Sinne wissenschaftsphilosophischen Fragen hinaus hat Abel im Horizont seines Ansatzes eine Reihe von im weiteren Sinne die Wissenschaften betreffenden Untersuchungen angestellt, insbesondere zu den Verhältnissen von Wissenschaften und Künsten – auch in Verbindung mit dem tiefer liegenden Verhältnis von Logik und Ästhetik – (SZI Teil III, Abel 1986; 1987;
Vgl. (ZdW Kap. 11; Abel 2002 f; 2003b; 2005a; ZdW Kap. 3). – Zur Philosophie der Bilder s. (AiD Kap. 11).
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1991),²⁴ von Wissenschaft und Verantwortung (Abel 1997 f), von Wissenschaft und Weltbild (ZdW 370 ff., Kap. 3; Abel 2002 f), von Wissenschaft und Lebenswelt (Abel 2011), von Wissenschaft und Öffentlichkeit (ZdW Kap. 13) sowie zu epistemischen Objekten als Zeichen- und Interpretationskonstrukten (Abel 2008b; 2009b; 2014a; s. ferner themenübergreifend 2012b).²⁵ Besonders intensiv betrieben (s. nachfolgend lit. (f)) sind Abels Projekt der Lokalisierung der Wissenschaftsphilosophie und klassischen Epistemologie in einer weit gefassten Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Formen, Praktiken und Dynamiken von Wissen sowie die entsprechenden Erweiterungen und Revisionen der Epistemologie. (f) Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Wissens. – Abels philosophische Forschungen zu Formen, Praktiken und Dynamiken von Wissen²⁶ und die damit einhergehenden, klassische Themen, Problemstellungen und Vorgehensweisen verändernden Entwicklungen –‚Extending and Revising Epistemology‘ (s. Abel 2012d) – greifen zunächst auf einer Reihe von Unterscheidungen zurück. Von einem engen, etwa für die Wissenschaften typischen Begriff von Wissen als einer Erkenntnis, die nach methodisch geordneten Verfahren gewonnen wird, an Begründung, Rechtfertigung, Wahrheit und Beweisbarkeit gebunden ist, Gegenstand sprachlicher Aussagen sein können muss und „mitteilbar, tradierbar, intersubjektiv überprüfbar und salva veritate substituierbar“ ist, unterscheidet Abel einen Begriff von Wissen im weiten Sinne. Dieser beziehe sich sowohl auf die Fähigkeiten, angemessen zu erfassen, worum es jeweils geht und wovon etwas (z. B. Gesten, Bilder oder Sätze) handelt, als auch auf den Bereich basalen menschlichen Könnens, menschlicher Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Zur Diskussion ästhetischer Konzeptionen entlang der Begriffe des musikalischen Ausdrucks und der musikalischen Geste, auch in Verbindung mit der Unterscheidung von Sagen und Zeigen, s. (AiD Kap. 11). Zu wissenschaftsphilosophischen Fragen, zu Wissenschaften und Weltbild s. (AiD Kap. 8), zur Frage der epistemischen Dinge und Objekte s. (AiD Kap. 7). Als Beiträge Abels zum weitgefassten Forschungsprojekt der Formen, Praktiken und Dynamiken von Wissen – dabei des Näheren zu Wissensforschung als solcher, zum Wechselspiel von Wissensformen, zu Wissensordnungen, distribuiertem Wissen, Stabilisierung von Wissen, Knowing-How und zu Bildung – liegen insbesondere vor: (ZdW Teil III; Abel 2008c; 2009a; 2009c; 2010c; 2012c; 2012d; 2015b; 2015c; 2016c). – Zur Diskussion von philosophischen Problemen des Wissens (speziell auch zum Knowing How) s. insbesondere (AiD Kap. 6 u. 16), zu Fragen nach dem Wissen im Zusammenhang mit dem Begriff der Orientierung s. (AiD Kap. 13). – Für den vorliegenden Kontext sind ferner die bereits oben bei den Ausführungen zur Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder sowie der Wissenschaften angeführten Beiträge zu Bildwissen sowie zum wissenschaftlichen Wissen im engeren Sinne und zu epistemischen Objekten relevant. Innerhalb seiner philosophischen Beschäftigungen mit Architektur hat Abel ferner Wissensformen der Architektur untersucht: (Abel 2014b; s. auch 2010d). – Zum transdiziplinären Dialog in Bezug auf Architekturthemen s. (AiD Kap. 12).
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Praktiken und Kenntnisse (ZdW 320 f.; ferner u. a. Abel 2012b: 481 f.). Ferner könne heuristisch zwischen Formen von Wissen unterschieden werden, wie beispielsweise zwischen alltäglichem Wissen, theoretischem Wissen, Handlungswissen und Orientierungswissen. Darüber hinaus setzt Abel quer zur enger/weiter-SinnUnterscheidung und durch die Wissensformen hindurch zur weiteren Differenzierung insbesondere folgende Begriffspaare ein: Können bzw. Knowing-How und Wissen bzw. Knowing-That, begriffliches und nicht-begriffliches Wissen, implizites und explizites Wissen, propositionales und nicht-propositionales Wissen. Demgegenüber sei die klassische Epistemologie primär „am Knowing-That, mithin am sprachlich-propositionalen und expliziten Wissen“ orientiert (Abel 2012b: 483). Abels Übergang von der traditionellen „begriffs-logischen zur zeichen- und interpretations-logischen Analyse und Behandlung von Wissen“ (ZdW 45) fasst Wissen dann generell als einen Modus der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse. Auf dieser gemeinsamen Basis von Zeichen- und Interpretationsfunktionen (s. Abel 2010c: 337) seien dann insbesondere die Wechselspiele von Wissensformen konzipierbar und analysierbar, was nicht nur für die Wissensforschung mit ihrem Ziel der Erhellung dieser und weiterer Mechanismen („which support the fluent function of human perception, speech, thought, and action as well as the whole triangulation of subject, other subjects and world“ (Abel 2012d: 8)) fruchtbar sei. Auch Bildung habe im Kern mit den Wechselspielen unterschiedlicher Wissensformen zu tun, die dabei „für uns in identitätsstiftender wie lebensweltlicher Hinsicht offenkundig von kardinaler Relevanz“ seien (Abel 2012c: 249). Ferner sei es „only by recourse to the reciprocal relations and interpenetrations of various forms of knowledge that we can gain insight into the possibility of radically new knowledge“ (Abel 2012d: 11). Wissensformen, also Arten und Weisen des Wissens, seien, so Abels Befund, „primär und notwendigerweise von den (logischen, repräsentationalen) Eigenschaften der verwendeten Zeichen- und Interpretationssysteme / -praktiken abhängig“ (ZdW 335), und die – die dynamische Natur der Prozesse und Gehalte von Wissen betreffende – Wissensdynamik sei „als Zeichen- und Interpretationsdynamik zu entfalten“ (ZdW 334). Eine besondere Stellung weist Abel dem Knowing-How zu. Nicht nur seien wir mit den damit bezeichneten Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kompetenzen und Gewohnheiten „bestens vertraut“ (Abel 2010c: 319). Auch habe es eine besondere Rolle inne beim Regelfolgen (s. Abel 2010c; 2012d: 42) sowie beim Machen und Besitzen von Erfahrungen (Abel 2010c: 322). Darüber hinaus sei es in genealogischer Hinsicht für das Knowing-That, (s. Abel 2010c: 326, 334– 340) und in Hinsicht auf die Frage nach dem Tiefensitz der „Normativität einer Lebenswelt und Lebenspraxis“ (327) bedeutsam. Ausgehend von der Unterscheidung in einen engen und einen weiten Wissensbegriff hat Abel ferner eine ‚Vereinheitlichte Theorie von Wissen und Handeln‘
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jenseits der Dichotomie von Kognitivismus und Praktizismus vorgelegt (SZI Kap. 13; ZdW Kap. 1.5, 10.9). Hierfür unterscheidet er einen engen Sinn von Handlung, nämlich bewusstes willentliches und zielbestimmtes Tun, von einem weiten Sinne, der „das Verhalten und Reagieren in lebenspraktischen Kontexten und Situationen“ meine (ZdW 345). In dieser Theorie werden „unterschiedliche Formen von Wissen und von Handlungen ebenso markiert wie reziproke, symmetrische, asymmetrische und differierende Verhältnisse zwischen Wissen und Handeln“ (ZdW 86), ferner Wissen und Handlungen entlang des Stufenmodells der Zeichen und Interpretationen behandelt, und ausgehend vom interpretativen Charakter sowohl des Wissens als auch der Handlungen wird die Verschränkung von beiden aus einer als Zeichen- und Interpretationswelt zu charakterisierenden Lebenswelt als deren Grundlage aufgezeigt. (g) Auf der Grundlage und in der Perspektive der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie hat Abel ferner zahlreiche Beiträge zu einer Reihe von spezielleren Problemkreisen vorgelegt. Dies betrifft unter anderem die folgenden fünf Themenfelder: (i) Kreativität. – Hinsichtlich Kreativität,²⁷ die nicht zuletzt in epistemischen, kognitiven, semantischen und in Handlungs-Prozessen eine herausragende Rolle spiele, unterscheidet Abel: schwache Kreativität, die sich auf bloße Neuartigkeit, d. h. darauf beziehe, dass „bereits bekannte Elemente nach bekannten Regeln auf eine bislang unbekannte Art kombiniert werden“; moderate (bzw. mittlere oder intuitive) Kreativität, bei der nicht nur gegebene Elemente neu kombiniert werden, sondern dabei auch konstitutiv – etwa bei der Individuation und Repräsentation der Gehalte des Wahrnehmens, Sprechens und Denkens (s. nachfolgend Zff. (ii) zu Einbildungskraft bzw. Imagination) – gegenwärtig nicht aktuale Komponenten „in aktualer Wirksamkeit“ einbezogen würden; und starke (bzw. genuine oder radikale) Kreativität, welche „die Transformation, das Durchbrechen, das Ersetzen alter durch neue Prinzipien, Regularitäten und Gesetzmäßigkeiten“ meine, sich also in diesem Sinne auf das fundamental bzw. radikal Neue beziehe (Abel 2006: 2– 5). Abels Ansatz zu einem vertieften Verständnis von Kreativität auf diesen Ebenen und deren Beziehungen untereinander besteht darin, das Verwenden und Verstehen symbolisierender Zeichen als „das vielleicht grundlegendste Merkmal des menschlichen, insbesondere des kreativen Geistes“ anzusehen und davon auszugehen, dass sich mentale kreative Prozesse als Zeichen- und Interpretations-Prozesse, dabei jedoch nicht bloß extern, operativ und vermittels der Zeichen, sondern intern und kraft der Zeichen vollzögen. Der ra-
Vgl. (Abel 2006; 2009d; 2013b; s. auch 2012d: 48 f.). – Zu philosophischen Fragen der Kreativität s. (AiD Kap. 14).
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dikal kreative Geiste vermöge „diese Fundamentalprozesse in neue Bahnen zu lenken“, wirke darin „regel-setzend und stil-bildend“, verwende gegebene Zeichen auf neue Weise und „erfindet neue Zeichen und Interpretationen und implementiert neue Regeln ihres Funktionierens“ (10). Von hier aus sei verständlich zu machen: dass kreative Regel-Verletzungen keiner Meta-Regel folgten und menschliche Kreativität nicht kalkülmäßig behandelbar sei; dass kreative Prozesse als solche eher durch „creativity assumptions“ (7 f.) in ihrer phänomenalen und strukturellen Art beschreibbar, nicht jedoch durch notwendige und hinreichende Kriterien für das Auftreten von Kreativität bestimmbar seien; dass von grundlegender Bedeutung für den Kreativitäts-Raum nicht vorrangig die Kompositionalität (also die Zusammensetzbarkeit von größeren Zeichenketten, bspw. einem Satz, aus kleineren Zeicheneinheiten) sei, sondern im Falle der starken Kreativität die Arbitrarität eines Zeichens, also der Spielraum aufgrund der möglichen Verschiebbarkeit des Bezugs zwischen Zeichen und Bezeichnetem, wobei das Verhältnis zwischen einem Zeichen und seinem Folgezeichen „kein inferentielles und kein deterministisches, weder ein logisch noch kausal determiniertes, kein apriorisch vorab geordnetes, sondern ein freies Verhältnis ist, in dem ein erfolgreiches Folgezeichen gleichwohl direkt verstanden wird“; und dass bereits beim Regel-Folgen (nicht erst beim Regel-brechenden Setzen neuer Regeln) Kreativität, nämlich intuitive Kreativität, „hier jederzeit schon erfordert“ sei (13 f.). Hinsichtlich des Verhältnisses von Kreativität und Möglichkeit habe es die schwache Kreativität noch mit der Kombinatorik gegebener Possibilitäten, die starke Kreativität jedoch mit „kreativität-disponierenden Potentialitäten“ zu tun (15). In system-wissenschaftlicher Hinsicht bestehe eine große Nähe zur Konzeption von Emergenz-Phänomenen. Für die Modellierung der in Natur und menschlichem Geist phänomenal gegebenen Kreativität plädiert Abel für einen Vorrang des Prozess-Modells vor einem Dingmodell bzw. für die Bevorzugung einer – dabei freilich Zeichen- und Interpretationssystem-abhängigen – Prozessontologie, was in Hinsicht auf die naturphilosophische bzw. naturwissenschaftliche Auffassung der Welt als einer Welt von Prozessen und Prozessgegenständen sowie in Hinsicht auf die logische Form sprachlicher Sätze geboten sei.²⁸ Ausweitungen und Vertiefungen der Behandlung der Kreativitätsfrage nimmt Abel vor, indem er es als Kerncharakteristikum von Kreativität im alltäglichen Leben, in der Philosophie und in den Künsten und Wissenschaften (beispielsweise beim kreativen Übertragen von Mathematik auf das Gebiet der Beschreibung physikalischer Objekte und Ereignisse) qualifiziert, dass dabei
S. (Abel 2006: 18 ff.; ZdW Kap. 7.3; vgl. ferner 1984b). – Zu den genannten ontologischen Fragen siehe neben (AiD Kap. 14) auch (AiD Kap. 7).
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„different forms of knowledge and different modes of their interpenetration“ beteiligt seien (Abel 2012d: 49). (ii) Imagination und Kognition. – Imagination (bzw. Einbildungskraft) als die individuelle Fähigkeit des menschlichen Geistes zum Verknüpfen gegenwärtig aktualer und gegenwärtig nicht aktualer Komponenten wird von Abel als genuiner Interpretationsvorgang konzipiert (Abel 1995c; SZI Kap. 7; ZdW Kap. 9.3). Sie sei „notwendiges Ingredienz der Kognition“ (ZdW 294, SZI 160) und entziehe sich dabei einer algorithmischen und kalkülmäßigen Beschreibbarkeit, wobei ‚Kognition‘ sich nicht nur im engeren Sinne auf ein satz-propositionales Urteil, sondern im weiten Sinne auf bewusste Schema-Applikation beziehe (s. SZI 148). Imagination spiele „hinsichtlich der Form und des Gehaltes von Wahrnehmung, Sprache, Denken und Repräsentation nicht nur eine begleitende, sondern eine grundlegende Rolle“ (SZI 145). Beispielsweise seien bereits auf der Interpretation1Ebene solche interpretatorischen Aktivitäten, die speziell auch imaginatorisch seien, notwendig involviert in Prozesse der Individuation, Identifikation und raum-zeitlichen Lokalisierung von Objekten und Ereignissen, also dann, wenn wir es mit einer geordneten Wahrnehmungserfahrung und nicht einer bloßen Reizmannigfaltigkeit zu tun hätten. In Sachen Bedeutung und Referenz sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen sei Imagination schon in Anspruch genommen, unter anderem insofern bei bedeutungsvollen Zeichen die Verknüpfung des syntaktischen Zeichens mit einem Horizont und einer Praxis der Interpretation bereits hergestellt sei und insofern im erfolgreichen Referieren die Intension des Zeichens mit dem, worauf es sich bezieht, stets schon verknüpft sei. Für die heuristische Unterscheidung und Charakterisierung von Perzeption und Kognition greift Abel auf die von N. Goodman entwickelte Unterscheidung von analogischen und digitalischen Zeichensystemen zurück, sieht Imaginationskraft insbesondere bei Digital-Analog-Umwandlungen (und umgekehrt), etwa beim Übergang von analogisch verfassten Sinnensempfindungen in sprachlich digitalische Urteile, beteiligt, unterscheidet eine eher analogische von einer eher digitalischen Einbildungskraft und vollzieht damit den Schritt „in die zeichen- und interpretationsphilosophische Rekonstruktion der produktiven Einbildungskraft“ (SZI 166). Die nicht unter den Regeln des Verstandes stehende ästhetische Einbildungskraft in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ wird so von Abel als analogische Imagination reformuliert (s. SZI 167). (iii) Gewissheit. – Vielfach setzt Abel den philosophischen Skeptizismus zur methodischen Untersuchung vorgebrachter Positionen, einschließlich der Prüfung ihrer anti-skeptischen Kapazitäten, ein. So hält er etwa der Position des Naturalismus – welcher auf die Frage nach den Gründen, von den eigenen Fürwahrhaltungen zu glauben, dass sie wahr sind, darauf (in diversen Spielarten dieser Position) verweise, dass uns die Natur des Menschen dazu nötige – ent-
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gegen, dass erstens so etwas, wie die ‚Natur des Menschen‘ „nicht als etwas gänzlich vorfabriziert fertig Gegebenes, sondern als etwas angesehen werden kann, das in kategorialisierenden, in gewohnheitsmäßigen und in deutend-aneignenden Interpretationsprozessen“ bestimmt und formiert worden sei. Dass es Fakten und Dispositionen gibt, „kann selbst kein natürliches Faktum, sondern muss Interpretationskonstrukt sein“. Und zweitens unterlaufe der philosophische Skeptizismus den Naturalismus, da nicht gezeigt werden könne, dass „das Haben einer Fürwahrhaltung sowie deren Inhalt intrinsisch deren Wahrheit verbürgen“ (Iw 97). Insofern ein radikaler philosophischer Skeptizismus die Zeichen- und Interpretationsphilosophie gegen die Explizierbarkeit einer Dichotomie von Interpretation und Welt auf der kategorialisierenden Ebene, mithin für ein Aufgeben des „Dualismus von Interpretation1 und Welt“ (Iw 107) argumentieren lasse, werden von Abel auch der metaphysische Skeptizismus, der sinnlogisch auf die Annahme einer an-sich-seienden wahren Welt verpflichtet sei, sowie der reduktive Skeptizismus, der die gegebene Phänomenalität auf basale (häufig physikalistisch konzipierte) Prozesse reduzieren möchte, verabschiedet. In der Perspektive der Zeichen- und Interpretationsphilosophie müsse es sich bei kritisch philosophischem Skeptizismus vielmehr um einen internen Skeptizismus handeln, da sich die Skepsis-Möglichkeit selbst zusammen mit der „Möglichkeit des Auch-anders-sein-könnens“ ergebe, also aus der (oben erläuterten) „internen Alterität und Pluralität der aus der Interpretations-Praxis heraus und auf diese hin erfolgenden welt-formierenden Kategorialisierungen selbst, mithin im Zuge dessen, was es heißt, unter Endlichkeitsbedingungen über ein Welt-, Fremd- und Selbstverständnis zu verfügen“ (SZI 65). Für die Frage, ob die allgemeine Zeichenund Interpretationsphilosophie dem radikalen internen Skeptiker eine zufriedenstellende Antwort, also eine anti-skeptische Gewissheit bereitzustellen vermag, unterscheidet Abel zwischen epistemologischer bzw. erkenntnistheoretischer Gewissheit einerseits und interpretationspraxis-bezogener, praktischer Gewissheit andererseits. Die erste Art Gewissheit sei nicht zu haben und bleibe jederzeit skeptisch angreifbar, die zweite sei über weite Strecken fraglos da (müsse nicht erst erreicht werden) und ihre Möglichkeit könne verständlich gemacht werden. Dabei sei Rekurs zu nehmen auf die „mit dem fraglos funktionierenden Eingespieltsein einer Interpretations- resp. Lebenspraxis intern gegebenen Selbstverständlichkeiten“, also auf „pragmatisch und praktisch erforderte interpretative Präsuppositionen“, nicht aber auf metaphysische Wahrheitsgarantien oder Letztbegründungen. Ganz im Sinne der späteren Philosophie Wittgensteins betont Abel, dass diese Selbstverständlichkeiten im Führwahrhalten bereits vorausgesetzt seien, „wenn überhaupt ein Zweifel geäußert werden kann“ (SZI 38 f.). In Ausarbeitung dieses Punktes verweist Abel insbesondere auch auf die Funktion von Weltbildern „als Basis und Garanten von Gewissheit“ sowie als
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Stabilisatoren von Handlungen (ZdW 123; s. auch Dirks 2011). Dabei versteht er unter ‚Weltbild‘ im Sinne Wittgensteins (‚Über Gewissheit‘) den „überkommene[n] Hintergrund“, den Wittgenstein insbesondere dadurch qualifiziert, dass ich auf ihm „zwischen wahr und falsch unterscheide“ (Wittgenstein 1984, Nr. 94). Innerhalb dieses weiten Sinnes von ‚Weltbild‘ könne ferner gemäß Abel ein engerer Sinn dahingehend gefasst werden, dass in einem solchen engeren Weltbild „sich nämlich für die Menschen einer Kultur und Epoche das Gesamt ihrer mannigfaltigen Lebenserfahrungen zu einer gewissen einheitlichen Sicht der Welt im Bild bzw. im anschaulichen Modell“ zusammenschließe (ZdW 120). Hinsichtlich des (weiten und engen) Weltbildes entwickelt Abel damit in der Linie Wittgensteins die These, dass ein terminaler Skeptizismus zurückzuweisen sei. Zwar könne man einzelne Überzeugungen in Frage stellen, jedoch „nicht alle zugleich bezweifeln, ohne damit die Basis für ein berechtigtes Zweifeln zu zerstören“ (ZdW 128). Zur Untersuchung von Weltbildern (und Welt-Bildern und Bildwelten) bettet Abel die Thematik in eine umfänglichere und basalere Ebene durch Betonung des Umstandes ein, dass Weltbilder und Bildwelten sich „in sprachlichen und / oder nicht-sprachlichen, vor allem bildhaften Zeichen“ vollzögen und als zeichen- und interpretations-verfasste Hintergrundannahmen zu verstehen seien, „die in jedem Sprechen, Denken und Handeln bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen sind“ (ZdW 34). Die semantischen Merkmale von Weltbildzeichen seien nicht magisch und zeitlos in diese eingebaut, aber auch „keineswegs subjektiv beliebig, willkürlich, relativistisch“. Kennzeichnend für Weltbildzeichen sei, dass sie als solche gerade nicht erläuterungsbedürftig seien, sondern ohne epistemische Vermittler direkt und fraglos verstanden würden, was ihre besonders feste Verankerung in einer gut eingespielten und tiefsitzenden Interpretations-Praxis zeige (ZdW 145 ff.).²⁹ (iv) Rationalität. – Der Aspekt der Zeichen- und Interpretationsrationalität tritt gemäß Abel mit der Frage auf, was „in Fällen der fraglich gewordenen semantischen Merkmale eines Zeichens als eine erfolgreiche, angemessene, korrekte, kurz: als eine rationale bzw. vernünftige Interpretation des fraglich gewordenen Zeichens“ gelte (ZdW 312).³⁰ Interpretation ist hier intern mit der
Für Erörterungen zu Fragen der Gewissheit (auch in Verbindung mit Weltbildern und Lebensformen) siehe u. a. (SZI Kap. 1.2; ZdW Kap. 3.3 u. 4; Abel 2002 f; 2003a; 2016a) sowie Iw (durchgängig) zu Skepsisproblematik und Skeptizismus, insb. auch (Iw Kap. 4) zu Skeptizismus und Naturalismus. – Zur Untersuchung von Fragen des Skeptizismus in Hinsicht auf die Interpretationsphilosophie ebenso wie zur Diskussion des Naturalismus s. (AiD Kap. 15); s. ferner (AiD Kap. 8) zu Fragen des Weltbilds. Zu Fragen der Zeichen- und Interpretationsrationalität s. (SZI Kap. 4; ZdW Kap. 4.3, 9.7 u. 10.8; Abel 1990b; 1998; 2012e).
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Rationalitätsfrage verknüpft, da in jedem Verstehen von sprachlichen oder nichtlinguistischen Äußerungen, Texten, Personen und Handlungen eine „Vielzahl kreativer, projizierender, empathischer und konstruktionaler, kurz: eine Vielzahl interpretatorischer Aktivitäten vorausgesetzt und in Anspruch genommen“ sei, zu denen etwa auch gehöre, die propositionalen Einstellungen, die „die Zeichenäußerungen der anderen Person mitregieren und in die Umgrenzung der situativen Bedeutung der verwendeten Zeichen eingehen“, bereits einbezogen zu haben (SZI 93 f.), so dass hier „stets bereits auch unsere Absichten, Werte und Normen eingegangen sind“ (ZdW 312). Abel unterscheidet dabei einen engen Sinn von ‚Rationalität‘, der sich auf Aspekte wie „Konsistenz, Eindeutigkeit, inferentielle Sicherheit, Gültigkeit über wechselnde Kontexte hinweg, Vollständigkeit, Konsensfähigkeit“ beziehe, von einem weiten Sinn von ‚Rationalität‘, der sich auf „Stimmigkeit und ein kohärentes und projektives Passen dessen, was wir meinen, glauben und für-wahr-halten, zu den relevanten Verständigungs- und Handlungssituationen, zum Geflecht unserer empirischen Erfahrungen und zum Netzwerk unserer propositionalen Einstellungen“ beziehe (ZdW 313). Entscheidend sei für die Rationalitätsfrage der weite Sinn von Rationalität, wobei der letzte „uns erreichbare Bestimmungsgrund“ dessen, was als rational – einschließlich der normativen Dimension in der Zuschreibung dieses Prädikates – gilt, die Lebensform sei (ZdW 167). Im Falle, dass Zeichen in ihren semantischen und pragmatischen Merkmalen direkt verstanden werden, manifestiere und zeige sich in und an ihnen die „Form unserer Interpretationspraxis, der Logos der Zeichen“ (SZI 87 f.), d. h. es vollziehe sich das, was für das erfolgreiche Verwenden und Verstehen der Zeichen, den auto-semantischen, ohne Bezug auf äußere Bedingungen sich realisierenden und erfüllenden, aber gleichwohl interpretativen Zeichenvollzug, kennzeichnend sei und was Abel den ‚Logos‘, die ‚große Logik‘ der Zeichen, nennt (SZI 81, Kap. 4.2). Erst und genau in dem Falle, dass Zeichen, bspw. Äußerungen, Texte oder Handlungen anderer Personen, nicht oder nicht mehr direkt verstanden werden, trete die Frage nach dem ‚richtigen‘, ‚angemessenen‘ ‚vernünftigen‘ Zeichengebrauch auf, was nicht nur in theoretischer Hinsicht bedeutsam sei, sondern auch in expliziter Weise die Normativität und Ethik des Zeichengebrauchs betreffe, insofern es der ‚richtige‘ Zeichengebrauch sei, „der eine Orientierung in der Welt und im Verhältnis zu anderen Personen ermöglicht“ (ZdW 181). Die in diesem Falle nun eingesetzten deutenden Interpretationen3 seien akzeptabel, angemessen und korrekt, also rational, genau dann, „wenn sie die der Sprache oder dem nicht-sprachlichen Zeichensystem zugrundeliegende Form der Interpretations-Praxis treffen und zu dieser passen“, was sich nicht kalkülmäßig bestimmen ließe, sondern im Erfolgsfalle am In-Gangbringen, flüssigen Aufrechthalten und Fortsetzenkönnen der Verständigung und Handlung zeige (ZdW 314). Die hierbei für die deutenden Interpretationen3 ge-
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gebenen Kohärenz-Anforderungen bzw. Kohärenzprinzipien der Interpretationen3 seien, so Abels These, als Rationalitätsprinzipien (im weiten Sinne) anzusehen und ergäben sich nicht als externe Regularitäten. Als Kohärenz-Anforderungen bzw. Rationalitätsannahmen kämen „nur solche Aspekte in Frage, die sich intern aus dem ergeben, was es heißt, sich in einer Sprache oder einem nicht-sprachlichen Zeichensystem zu bewegen, sich auf die dieser Sprache und den Zeichen zugrundeliegende Interpretationspraxis zu verstehen und sich in Verhältnissen der Verständigung, des Gegenstandsbezugs und der Welterschließung zu befinden“ (ZdW 314). Die hieraus folgenden Anforderungs- und Regelformulierungen hätten also diejenigen Präsuppositionen zu artikulieren, die wir uns selbst als erfüllt unterstellen, „sofern wir uns als kohärente und sinnvoll zeichen-verwendende, sprechende, denkende und handelnde Personen verstehen“ (ibd.). Das Bestehen solcher regulatorischen Begrenzungen unterlaufe auch die relativistische Beliebigkeit, nach der „jede Interpretation so gut wie jede andere sein müsste“ (Abel 1998: 72). Abel selbst hat diesbezüglich bereits eine nicht-abschließende Liste solcher Standards erarbeitet (s. SZI 96 – 100). Zu ihnen gehört beispielsweise die Anforderung, derjenigen Interpretation3 den Vorzug zu geben, „die, sollte dies gewünscht sein, eine Verständigung in Gang zu setzen, aufrechtzuerhalten und fortzusetzen vermag“, aber beispielsweise auch die Anforderung, eine moderate Version des ‚Prinzips der Nachsichtigkeit‘ (s. Iw Kap. 19) zur Anwendung zu bringen, d. h. diejenige Interpretation3 zu wählen, die den Äußerungen der anderen Person annähernde Übereinstimmung mit meinen eigenen Standards der Logik und der Wahrheit einräumt (SZI 98 f.). (v) Technik. – Ausgehend von einem engen Sinn von ‚Technik‘, der sich auf Kunstfertigkeiten im Zusammenhang mit den Produkten ingenieurmäßiger Konstruktionen beziehe, und einem weiten Sinn, der sich „auf das ganze Feld der Alltagspraktiken und -fertigkeiten, der Beherrschung von Handlungs- und Kognitionsschemata, der Alltags- und Kulturtechniken“ beziehe, entwickelt Abel zur Untersuchung des Verhältnisses von Technik (sowie Wissenschaft) und Lebenswelt ein Vier-Stufen-Modell.³¹ Top-down unterscheidet er dabei: die Ebene von Wissenschaft und Technik als kognitive und materiale Systeme, bspw. die hoch entwickelten Techniksysteme moderner Gesellschaften; ferner die Ebene der Lebenswelt (im Sinne E. Husserls) als die „von Menschen in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen, in vor-theoretischen und vor-wissenschaftlichen Einstellungen und Erfahrungen gestaltete und begegnende praktische Umwelt“, auf die ingenieurmäßig konstruierte Technologien offenkundig nachhaltig zurück-
S. (Abel 1997 f; 2007b; 2008d), hier (2008d: 77 f.). – Zur Diskussion von Fragen der Technikphilosophie s. (AiD Kap. 7).
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wirken können; darunter die Ebene der Lebensformen als, im Wittgensteinschen Sinne, „die interne Verflechtung von Kultur, Weltsicht, Sprache und Handlung“, auf der beispielsweise der Regelcharakter und die Techniken unserer Handlungen und Sprachspiele zu verorten seien; und schließlich als basale Stufe die Ebene der Weltbilder sowie des menschlichen In-der-Welt-seins im Heideggerschen Sinne als Form des menschlichen Daseins, wobei Technologien nicht nur Weltbild-abhängig seien, sondern auch Weltbild-generierend wirken könnten (Abel 2008d: 78 ff.). Die These Abels, dass für Wissenschaften und Technik als Kultursphären auf allen vier Ebenen „je eigenständige symbolisierende Zeichen- und Interpretationsformen grundlegend“ seien und dass mit den involvierten Kulturleistungen und Kulturtechniken „Verkörperungen bzw. Manifestationen unterschiedlicher Formen des Wissens in Lebenswelten“ vorlägen, erlaube es, den „Ansatz der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie fruchtbar zu machen“ zur Beschreibung und Analyse der einzelnen Kultursphären einschließlich deren Schnittstellen, Überlappungen, Unterschiede und Zusammenspiele. Insbesondere geschehe dies dann im Blick auf deren je eigene symbolische ‚Mechanismen‘ sowie hinsichtlich der „reziproken Zusammenhänge von Lebenswelt, Lebensform und Kultursphären“, des Näheren also bezüglich der Kultursphäre der Technik (82 f.). Im Zuge bereits des Auftaktes solcher eingehenden Ausarbeitungen zeigt Abel für das Verhältnis von Technik und Lebenswelt nicht nur in mehreren Hinsichten Grenzen der Technologisierung der Lebenswelt auf; darüber hinaus entwickelt er auch ein ‚Modell komplementärer Ko-Evolution und Ko-Operation‘ zur Modellierung des Verhältnisses von Lebenswelten und Technologien, das in nicht-dichotomischer Weise sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten in diesem Verhältnis jenseits von „Techno-Apokalypsen“ und „Techno-Messianismen“ betone (88 – 96).
8 Entwicklungslinien Als Wurzeln der von Abel seit den 1980er Jahren vorgelegten Interpretationsphilosophie und zur allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie weiterentwickelten Position lassen sich vor allem vier philosophie-historische Linien rekonstruieren: (a) Die von Abel als eine Form von transzendentalem Nominalismus bzw. Perspektivismus verstandene Transzendentalphilosophie Immanuel Kants. – Es kann hier, wenn auch nicht expressis verbis, der Sache nach der Beginn der Entwicklungslinie des erläuterten Interpretationsgedankens gesehen werden, insofern bei Kant in kritischer Betonung der Endlichkeit des Menschen konstruktionale und perspektivische Grundzüge leitend werden. Insbesondere stellt Kant
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kritisch gegen den Gedanken einer vorfabriziert fertig daliegenden Welt den Befund, dass jeder Gegenstand für uns stets Gegenstand in der Erscheinung bzw. Erkenntnis ist; ferner wendet er den konstruktionalen Charakter unserer Erscheinungswelt ein und stellt die Abhängigkeit der Einheit unserer Erfahrung von den grundlegenden Verstandesfunktionen heraus. (Zu Abels gleichwohl de-transzendentaler Form des Philosophierens s.o. Kap. 6 (i).) (b) Die Philosophie Friedrich Nietzsches, insofern in ihr – wie auch Abel selbst eingehend rekonstruiert hat – die Begriffe des Perspektivischen, der Konstruktion, der Projektion sowie ein weit und radikal gedachtes Konzept des Interpretierens eine zentrale, metaphysik-kritische Rolle spielen (s. Abel 1984a). – Nietzsche verbindet zentrale Gedanken seiner Philosophie auch explizit mit den Begriffen ‚Interpretation‘ und ‚Interpretieren‘ (vgl. Abel 1984a, insb. Kap. VI). So sei Interpretativität intrinsisch mit Perspektivität gegeben, da das Perspektivische „die Grundbedingung alles Lebens“ (Nietzsche 1967 ff.: KGW VI 2, 4) und in Bezug auf unseren jeweiligen Standpunkt klar sei, dass man nicht nur „von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ‚unendlich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretation in sich schliesst.“ (KGW V 2, 309) Ferner seien die jede Wirklichkeit ausmachenden Willen-zur-Macht-Prozesse, das basale Konzept Nietzsches von wirkenden Kräfte-Zentrierungen als Grundmuster allen Geschehens, ihrem Charakter nach interpretativ. Zwar nicht als philosophische Position von Abel übernommen, aber offensichtlich als systematischer Anknüpfungspunkt dienend, findet sich bei Nietzsche: „Der Wille zur Macht interpretiert“ (KGW VIII 1, Fragment 2[148], S. 137), d. h. er vollziehe Gestaltungen, Ordnungen, Entwicklungen, perspektivische Fest-Stellungen, Abgrenzungen, Gradbestimmungen etc. Letztlich ist auch die Metaphysik-Kritik Nietzsches, die Zurückweisung eines ontologisch in Anspruch genommenen Seins, eine Formulierung des Umstandes, dass „das Interpretieren selbst […] Dasein“ habe (KGW VIII 1, Fragment 2[151], S. 138), und zwar als Prozess sowie als Muster der Organisation von Welt und Erfahrung; jedes Erkennen, Handeln und Geschehen sei ein Interpretieren.³² (c) Die spätere Philosophie Ludwig Wittgensteins, insofern dessen nachmetaphysische Sprachphilosophie als wegbereitend für die interpretationsphilosophische Behandlung der semantischen Merkmale und der Praxis des Gebrauchs sprachlicher Ausdrücke angesehen werden kann. – Für Fragen der Zeichenfunktionen und der Interpretations-Praxis bei Abel sind ferner Wittgensteins
Zu weiteren Auseinandersetzungen Abels mit der Philosophie Nietzsches siehe neben (Abel 1984a) u. a. (Abel 1982; 1984c; 1985; 1986; 1987; 1990b; 2001b; 2010b; 2012b). – Zum Zusammenhang der Position Abels mit dem Denken Nietzsches s. (AiD Kap. 17 sowie Kap. 4 u. 13).
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Überlegungen zum Unterschied von Sagen und Zeigen, zur Unterscheidung von Regelfolgen und Regeldeuten sowie zum Einfluss von Lebensform und Weltbild relevant. Darüber hinaus ist hier der pragmatische Grundzug (vgl. Iw Kap. 23.1) der Zeichen- und Interpretationsphilosophie vorgezeichnet. Nicht nur betont Abel mit Wittgenstein die Rolle der Praxis für das Verstehen und die Bedeutung sprachlicher Zeichen; gemein ist ihnen in der Sache auch der Gedanke, dass Zeichenund Interpretationsprozesse nicht zu einem ultimativen Ende kommen, sondern stets zu hier und jetzt hinreichenden pragmatischen Abschlüssen. (Vgl. u. a. Iw Kap. 5.1– 5.2; SZI Kap. 8; ZdW Kap. 2, 3.3, 4 u. 5.) (d) Die Allgemeine Symboltheorie Nelson Goodmans, insofern in ihr eine Ausweitung der philosophischen Forschung auf nicht-sprachliche Zeichensysteme vorgenommen, deren konstruktionale Rolle bei der Individuierung von Objekten und der Erzeugung von Welten und Wirklichkeiten analysiert und ein konsequenter Nominalismus vertreten wird (s. auch Abel 1991). – Gemäß Abel „kann jede in sich kohärente Gesamtheit von typ-ähnlichen Sachverhalten unter Zwecken zu einer Zeit als eine Welt angesprochen werden“ (SZI 32; vgl. Dirks 2010b). ‚Kohärent‘ meint hierbei den Einbezug der Bedingungen der empirischen Gültigkeit (SZI 257) sowie formale Konsistenz, was bspw. in den von Goodman bei bestimmten Weltversionen aufgezeigten Fällen von logischem Konflikt und Disparatheit nicht gegeben ist (Goodman 1978: Kap. VI.5 u. VII.1). Aus Abels These vom zeichen- und interpretationsphilosophischen Pluralismus ergibt sich unmittelbar die These von einem Pluralismus der wirklichen Welten (s. Abel 1989a; Iw Kap. 18 u. 23; 1996b; SZI Kap. 11). Verschieben sich im Ausgang von einer bestimmten Welt deren Grenzen durch Übergang zu anderen Interpretation1-Prinzipien der Individuation, Identifikation und raum-zeitlichen Lokalisierung, entstehe eine anders individuierte und in diesem Sinne eine andere Welt. Goodman (1978) folgend sei bei nicht aufeinander oder auf ein gemeinsames Drittes reduzierbaren Interpretation1-Systemen die Idee der ‚Einen feststehenden Welt‘ aufzugeben. Aus der internen und konditionalen Natur des Pluralismus ergebe sich, dass es viele Interpretationswelten geben müsse, wenn es überhaupt eine bestimmte Interpretationswelt geben können soll (s. SZI 258; Iw 477 ff.).³³ Abels These von der konditionalen Pluralität stellt dabei eine Vertiefung bzw. Umakzentuierung der Position Goodmans dar, bei dem sich der Gedanke von der Vielheit der tatsächlichen Welten noch vorrangig aus dem konstruktionalen Erzeugen mehrerer richtiger, symbolbezogener Weltversionen sowie aus dem Nachweis der Nicht-Reduzierbarkeit vorliegender, konfligierender und disparater Versionen aufeinander ergab; „if there is any actual world, there are many“
Zur philosophischen Frage nach der einen Welt oder den vielen Welten s. (AiD Kap. 14).
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(Goodman 1984: 31). Abel greift ferner symboltheoretische Überlegungen Goodmans auf, etwa wenn er mit Hilfe der Unterscheidung analogischer und digitalischer Zeichen den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen verdeutlicht (vgl. SZI Kap. 8.3) sowie im Rahmen seiner Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst (vgl. SZI Kap. 9 – 10).³⁴ Rückschauend lässt sich darüber hinaus eine Reihe von philosophischen Positionen als Anregung oder in der Sache bereits als Vorstufe spezieller zeichenund interpretationsphilosophischer Ausarbeitungen auffassen. In dieser Perspektive sind für die Abelsche Position bspw. Michel de Montaignes Reflexionen der individuellen, menschlich-endlichen Lebensvollzüge (s. Abel 1993c), Georg Wilhelm Friedrich Hegels Phänomenologie des Geistes und seine Logik, Hilary Putnams ‚interner Realismus‘ (vgl. Iw Kap. 22), Willard Van Orman Quines These von der ‚Unbestimmtheit der Übersetzung‘ (vgl. Abel 1994b; 1995b), Ernst Cassirers ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ sowie Elemente aus der Zeichenphilosophie von Charles Sander Peirce und der Tradition des Pragmatismus (vgl. ZdW Kap. 9) zu nennen.³⁵ Hervorzuheben ist ferner eine Reihe von Verbindungen, die zu dem von Hans Lenk entwickelten methodologischen Interpretationskonstruktionismus bzw. Schemainterpretationismus (mit dem Grundsatz der ‚Schemainterpretationsimprägniertheit‘) besteht. Dieser thematisiert methodologische Fragen der Konstruktivität und Schemaanwendung der Interpretation (s. Lenk 1991), wobei Lenk insbesondere zunächst herausarbeitete, dass Handlungen, Motive und Werte als Interpretationskonstrukte aufzufassen seien (s. Lenk 1978; 1987).³⁶ Im weiteren Fortgang ist Lenk mit seiner Konzeption von Bewusstsein als Schemainterpretation um einen integrativen Ansatz bemüht, der den Schemainterpretationismus mit Ergebnissen der Neurowissenschaften teils in engere Verbindung bringt (vgl. Lenk 2004), als dies Abel mit seiner Unterscheidung zwischen philosophischem und einzelwissenschaftlich empirischem Fragen und Vorgehen wohl zuzulassen
Zu philosophischen Fragen nach der Kunst und Kunstwerken s. (AiD Kap. 11). Zum Verhältnis von Interpretationsphilosophie und Dialektik sowie zu Aspekten des Pragmatismus s. (AiD Kap. 16). Zu dem (Berührungspunkte ebenso wie Differenzen aufzeigenden) Diskurs zwischen der Interpretationsphilosophie Abels und Lenks Entwicklung der Methodologie der Interpretationskonstrukte sowie dessen Theorie des Erkennen und Handeln strukturierenden Schemainterpretierens siehe u. a.: (Abel 1988a; 1988b; und Lenk 1988; 1993a; 1995). Für seinen methodologischen Schemainterpretationismus rekonstruiert Lenk insbesondere auch eine Entwicklung konstruktionistischer Interpretationsansätze in den Sozialwissenschaften (u. a. C. Geertz’ Kulturinterpretation, das Handlungsverstehen nach F. Collin sowie eine Reihe kognitionspsychologischer Untersuchungen), s. (Lenk 1993b). – Zur Fragen der Methodologie und der ‚Methodologisierung des Interpretationismus’ s. (AiD Kap. 17).
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bereit wäre. Insbesondere sieht Lenk auf der primären Ebene der ‚produktiven Urinterpretation‘ eine enge Beziehung zu neurophysiologischen Grundmustern (s. Lenk 1994; 2004). Hinsichtlich der Entwicklung von Abels allgemeiner Zeichen- und Interpretationsphilosophie ist ferner der engere Diskussionszusammenhang zum Thema ‚Zeichen und Interpretation‘ (s. Simon (Hg.) 1994; 1995; 1997; Simon / Stegmaier (Hg.) 1998; Stegmaier (Hg.) 1999; 2000) bedeutsam, in dem Josef Simons Zeichenphilosophie (u. a. Simon 1989), die sprach- und zeichenphilosophischen Untersuchungen Tilman Borsches (u. a. Borsche 1981), die Philosophie der Orientierung Werner Stegmaiers (u. a. Stegmaier 2008) sowie Hans Lenks methodologischer Interpretationskonstruktionismus hervorzuheben sind. Vor dem Hintergrund der hier dargelegten Perspektiven der allgemeinen Zeichenund Interpretationsphilosophie sollte einerseits deren Eignung und Potenzial für kritisch konstruktive, innerphilosophische Auseinandersetzungen um Thesen und Argumente jenseits von bekannten, die Debatten häufig bestimmenden Dichotomien und Positionen, für den interdisziplinären Austausch zwischen Philosophie, Wissenschaften und Künsten sowie für wechselseitig sich herausfordernde Vorstöße an den Schnittstellen in den öffentlichen Raum hinein sichtbar geworden sein. Anderseits zeigen gerade die inhaltlichen Argumentationen Abels – man denke etwa an die Thesen zu Perspektivität, Alterität, Pluralität oder Rationalität der Interpretationen und des Zeichengebrauchs –, dass ein so verstandener lebendiger Dialog, das argumentative und seinerseits zeichen- und interpretations-verfasste Gespräch mit Anderen, intern zur Form des mit der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie verbundenen Philosophierens gehört.
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Abel, Günter 2002a: Zeichen der Wirklichkeit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50/4, S. 537 – 548. Abel, Günter 2002b: In Sprache verstrickt. Sprache als Schlüsselthema der Philosophie, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Welten in Zeichen – Sprache, Perspektivität, Interpretation, (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften, Bd. 52), Frankfurt a. M., S. 9 – 29. Abel, Günter 2002c: Verdade e Interpretação, ins Portugiesische übers. v. Ronel Alberti da Rosa, in: Veritas: revista trimestral de filosofia da PUCRS 47/1, n° 185, Porto Alegre, S. 41 – 51. Abel, Günter 2002d: L’indulgence dans la compréhension du langage et des signes, in: Revue de métaphysique et de morale 2001/1 n° 29, S. 85 – 105. Abel, Günter 2002e: Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Geistes, in: Raters, Marie-Luise / Willaschek, Marcus (Hg.): Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, Frankfurt a. M., S. 365 – 382. Abel, Günter 2002 f: Die Macht der Weltbilder und Bildwelten, in: Abel, Günter / Engfer, Hans-Jürgen / Hubig, Christoph (Hg.): Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag, Berlin / New York, S. 23 – 48. Abel, Günter 2003a: Denkformen – Sprachformen – Lebensformen, in: Borsche, Tilmann (Hg.): Denkformen – Lebensformen. Tagung des Engeren Kreises der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, Hildesheim 3. – 6. Oktober 2000, Hildesheim / Zürich / New York, S. 33 – 51. Abel, Günter 2003b: Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 1/1 (Bilder in Prozessen), hg. v. H. Bredekamp u. G. Werner, Berlin, S. 89 – 102. Abel, Günter 2004a: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2004b: Philosophie des Geistes. Einleitung (Kolloquium 9), in: Hogrebe, Wolfgang (Hg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, Bonn, 23. – 27. September 2002, Berlin, S. 385 – 389. Abel, Günter 2004c: Interpretationsethik, in: Schönherr-Mann, Hans-Martin (Hg.): Hermeneutik als Ethik, München, S. 91 – 116. Abel, Günter 2005a: Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder, in: Majetschak, Stefan (Hg.): Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, München, S. 13 – 29. Abel, Günter 2005b: Gehirn – Geist – Computer. Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Geistes, in: Dürr, Renate et al. (Hg.): Pragmatisches Philosophieren. Festschrift für Hans Lenk, (Philosophie: Forschung und Wissenschaft, Bd. 20), Münster, S. 3 – 36. Abel, Günter 2006: Die Kunst des Neuen. Kreativität als Problem der Philosophie, in: Abel, Günter (Hg.): Kreativität. XX. Deutscher Kongreß für Philosophie, 26. – 30. September 2005 an der Technischen Universität Berlin, Hamburg, S. 1 – 21. Abel, Günter 2007a: … kraft der Zeichen. Überlegungen zum Verhältnis von Sprache, Welt und Handlung, in: Abel, Günter / Kroß, Matthias / Nedo, Michael (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Ingenieur – Philosoph – Künstler, (Wittgensteiniana, Bd. 1), Berlin, S. 103 – 119. Abel, Günter 2007b: Technik als Lebensform?, in: Abel, Günter et al. (Hg.): Lebenswelten und Technologien, Berlin, S. 81 – 105. Abel, Günter 2008a: Was ist und was kann Philosophie?, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Philosophie, wozu?, Frankfurt a. M., S. 15 – 39. Abel, Günter 2008b: Epistemische Objekte – was sind sie und was macht sie so wertvoll? Programmatische Thesen im Blick auf eine zeitgemäße Epistemologie, in: Hingst,
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Ulrich Dirks und Astrid Wagner
Kai-Michael / Liatsi, Maria (Hg.): Pragmata. Festschrift für Klaus Oehler zum 80. Geburtstag, Tübingen, S. 285 – 298. Abel, Günter 2008c: Forms of Knowledge: Problems, Projects, Perspectives, in: Meusburger, Peter / Welker, Michael / Wunder, Edgar (Hg.): Clashes of Knowledge. Orthodoxies and Heterodoxies in Science and Religion, (Knowledge and Space, Bd. 1), Dordrecht, S. 11 – 33. Abel, Günter 2008d: Technik und Lebenswelt. Wechselseitige Herausforderung?, in: Poser, Hans (Hg.): Herausforderung Technik. Philosophische und technikgeschichtliche Analysen, (Technik interdisziplinär, Bd. 5), Frankfurt a. M., S. 77 – 96. Abel, Günter 2009a: Die Transformation der Wissensordnungen und die Herausforderungen der Philosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 34/1, S. 5 – 28. Abel, Günter 2009b: Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte, in: Feest, Uljana / Rheinberger, Hans-Jörg / Abel, Günter (Hg.): Epistemic Objects, (Preprints Max-Planck- Institut für Wissenschaftsgeschichte 374), Berlin, S. 35 – 56. Abel, Günter 2009c: Bildung heute: Kompetenz und Orientierung in der Vielfalt der Wissensformen / Education today: competence and orientation among diverse forms of knowledge, in: Jung, Matthias / Meyer, Corina (Hg.): Nach Bologna / Bologna Revisited: Allgemeine Bildung an Europas Universitäten / General Education at Europe’s Universities, Berlin, S. 59 – 73 / 271 – 283. Abel, Günter 2009d: The Riddle of Creativity: Philosophy’s View, in: Meusburger, Peter / Funke, Joachim / Wunder, Edgar (Hg.): Milieus of Creativity. An Interdisciplinary Approach to Spatiality of Creativity, (Knowledge and Space, Bd. 2), Dordrecht, S. 53 – 72. Abel, Günter 2010a: Zeichen- und Interpretationsethik, in: Przyłębski, Andrzej (Hg.): Ethik im Lichte der Hermeneutik, Würzburg, S. 91 – 119. Abel, Günter 2010b: Zeichen der Wahrheit – Wahrheit der Zeichen, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 39, Berlin / New York, S. 17 – 38. Abel, Günter 2010c: Knowing-How. Eine scheinbar unergründliche Wissensform, in: Bromand, Joachim / Kreis, Guido (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin, S. 319 – 340. Abel, Günter 2010d: Das Prinzip Rekonstruktion, in: Hassler, Uta / Nerdinger, Winfried (Hg.): Das Prinzip Rekonstruktion, Zürich, S. 64 – 75. Abel, Günter 2011: Der interne Zusammenhang von Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft, in: Gethmann, Carl Friedrich (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft. XXI. Deutscher Kongreß für Philosophie, 15. – 19. September 2008 an der Universität Duisburg–Essen, (Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2), Hamburg, S. 351 – 371. Abel, Günter 2012a: Sprache, Welt und Handlung. Ein trans-analytischer und trans-hermeneutischer Ansatz, in: Dottori, Riccardo (Hg.): 50 Jahre Wahrheit und Methode. Beiträge im Anschluss an H.-G. Gadamers Hauptwerk, (Das Gespräch. Jahrbuch für philosophische Hermeneutik, Bd. 5), Berlin, S. 77 – 101. Abel, Günter 2012b: Die Aktualität der Wissenschaftsphilosophie Nietzsches, in: Heit, Helmut / Abel, Günter / Brusotti, Marco (Hg.): Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Hintergründe, Wirkungen und Aktualität, (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 59), Berlin / Boston, S. 481 – 530. Abel, Günter 2012c: Die Welt der Wissensformen und die Bildung, in: Honnefelder, Ludger (Hg.): Kants „Streit der Fakultä ten“ oder der Ort der Bildung zwischen Lebenswelt und Wissenschaften, Berlin, S. 235 – 264, 358 – 360.
Perspektiven der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels
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Abel, Günter 2012d: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, ins Englische übers. v. Daniel Smyth, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52. Abel, Günter 2012e: Rethinking Rationality: The Use of Signs and the Rationality of Interpretations, in: Lektorsky, Vladislav / Guseynov, Abdusalam (Hg.): Rationality and Its Limits. Proceedings of the International Scientific Conference „Rationality and Its Limits“ during the International Institute of Philosophy Meeting in Moscow (15 – 18 September 2011), Moskau, S. 54 – 66; [als erweiterte Version auch erschienen in: Wagner, Astrid / Ariso, José Maria (Hg.): Rationality Reconsidered. Ortega y Gasset and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 9), Berlin / Boston, 2016, S. 15 – 29]. Abel, Günter 2013a: Filosofia e sfera pubblica, in: Perone, Ugo (Hg.): La filosofia nello spazio pubblico, Torino, S. 11 – 25. Abel, Günter 2013b: Das ungenutzte Wissen, in: Der Schein des Neuen. Thesen zum Mythos Innovation, hg. v. W.I.R.E. Web for Interdisciplinary Research & Expertise, Zürich, S. 29 – 36. Abel, Günter 2014a: Sammlungen als epistemische Objekte und Manifestationen von Ordnungen des Wissens, in: Hassler, Uta / Meyer, Torsten (Hg.): Kategorien des Wissens. Die Sammlung als epistemisches Objekt, Zürich, S. 109 – 132. Abel, Günter 2014b: Die Wissensformen der Architektur, in: Eckert, Dieter (Hg.): Die Architektur der Theorie. Fünf Positionen zum Bauen und Denken, Berlin, S. 39 – 58. Abel, Günter 2015a: Interpretationswelten. Direkte und abgeleitete Wirklichkeiten, in: Fenomenologia 13, S. 69 – 87. Abel, Günter 2015b: Strategien der Stabilisierung von Wissen – Der Fall der Lehrbücher, in: Hassler, Uta (Hg.): Der Lehrbuchdiskurs über das Bauen, Zürich, S. 10 – 25. Abel, Günter 2015c: Formen des Wissens im Wechselspiel, in: Allgemeine Zeitschrift fü r Philosophie 40/2 – 3, S. 143 – 160. Abel, Günter 2016a: Der innere Zusammenhang von Denkformen, Sprachformen und Lebensformen, in: Quante, Michael (Hg.): Geschichte – Gesellschaft – Geltung (XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie), Hamburg, S. 133 – 157. Abel, Günter 2016b: Das philosophische Problem des Übersetzens, in: Quante, Michael (Hg.): Geschichte – Gesellschaft – Geltung (XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie), Hamburg, S. 277 – 286. Abel, Günter 2016c: Distributed Types of Knowledge, Epistemic Perspectives, and Creativity, in: Abel, Günter / Plümacher, Martina (Hg.): The Power of Distributed Perspectives, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 10), Berlin / Boston, S. 35 – 60.
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Ulrich Dirks und Astrid Wagner
b) zu Abel³⁷ Angehrn, Emil 2003: Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, Weilerswist; [II. Teil ‚Interpretation‘; insb. Kap. 9. ‚Interpretation als Konstruktion‘]. Araldi, Clademir Luís 2002: Os desafios da Filosofia da Interpretação, in: Cadernos Nietzsche 12, S. 7 – 13. Bonk, Thomas 1996: Erfahrung und Skepsis. Zwei Anmerkungen zur Philosophie Günter Abels, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44/5, S. 879 – 887. Demmerling, Christoph 2003: Im Dickicht der Zeichen, in: Philosophische Rundschau 50/2, S. 97 – 123. Dirks, Ulrich 2007: Holismus und Gewißheit, in: Abel, Günter / Kroß, Matthias / Nedo, Michael (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Ingenieur – Philosoph – Künstler, Berlin, S. 179 – 191; [insb. Kap. 3 ‚Holismus im sich erfüllenden Zeichenvollzug‘]. Dirks, Ulrich 2009: quan shi zhe xue: jin lu, fa zhan mai luo he te zheng, in: Journal of East China Normal University 41/3, S. 9 – 19; (aus dem Dt. (Interpretationsphilosophie. Ansatz, Entwicklungslinien, Kennzeichen) übers. v. Yongling Bao). Dirks, Ulrich 2010a: Interpretation / Interpretationsphilosophie, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. v. H. J. Sandkühler, 2. erw. Aufl. Hamburg, Bd. 2, S. 1142 – 1152. Dirks, Ulrich 2010b: Welt / Welten, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. v. H. J. Sandkühler, 2. erw. Aufl. Hamburg, Bd. 3, S. 2953 – 2962; [insb. Kap. 3 ‚Welten in der Diskussion‘]. Dirks, Ulrich 2011: Knowledge and World-Pictures, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston 2011, S. 83 – 131. Dirks, Ulrich / Wagner, Astrid 2011: Filosofia dell’interpretazione. Principi, sviluppi, caratteristiche, in: Giornale di Metafisica 33/3, S. 325 – 350; (aus dem Dt. (Philosophie der Interpretation. Grundsätze, Entwicklungen, Charakteristika) übers. v. E. Ficara). Döring, Eberhard 1996: Zur Tat-Sache der ‹harten Fakten›. Günter Abels „Interpretationswelten“, in: Philosophisches Jahrbuch 103/I, S. 159 – 170. Engelen, Eva-Maria 1999: Das Feststehende bestimmt das Mögliche. Semantische Untersuchungen zu Möglichkeitsurteilen, (problemata, Bd. 140), Stuttgart-Bad Cannstatt; [Kap. 10 ‚Tatsachen und Welterzeuger II‘]. Fellmann, Ferdinand 1990: Interpretationismus und symbolischer Pragmatismus. Zur Diskussion zwischen Günter Abel und Hans Lenk in AZP 13.3 (1988), in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 15/2, S. 51 – 59. Gama Barbosa, Luis Eduardo 2009: Arte y política como interpretación, in: Revista de Estudios Sociales 34, S. 99 – 111. Gama Barbosa, Luis Eduardo 2011: Interpretación y Relativismo. Observaciones sobre la filosofía de Günter Abel, in: Ideas Y Valores LX/146, S. 5 – 41.
Bei der Anführung von Schriften, die ganz oder teilweise einer Erörterung von philosophischen Positionen Günter Abels gewidmet sind, kann es sich nur um eine Auswahl handeln; ergänzend ist hier insbesondere auf entsprechende Einträge in den Literaturverzeichnissen der einzelnen Beiträge des vorliegenden Bandes zu verweisen. Nicht angeführt sind ferner Beiträge, die eng auf Fragen der Nietzsche-Forschung begrenzt sind, sowie kurze rezensionsartige Veröffentlichungen.
Perspektiven der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels
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Gerhardt, Volker 1987: Gipfel der Internität. Zu Günter Abels Rekonstruktion der Wiederkehr, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 16, Berlin / New York, S. 444 – 466. Göller, Thomas 2000: Kulturverstehen. Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kulturalität und kulturellen Erkenntnis, Würzburg; [Kap. II.4 ‚Probleme der Interpretation und sprachlichen Darstellung‘]. Graeser, Andreas 1996: Interpretation, Interpretativität und Interpretationismus, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21/3, S. 253 – 260. Grasnick, Walter 1998: Das Recht der Zeichen – im Zeichen des Rechts, in: Simon, Josef / Stegmaier, Werner (Hg.): Fremde Vernunft. Zeichen und Interpretation IV, Frankfurt a. M., S. 194 – 237. Gunnarsson, Logi 1996: Jenseits von Gegebensein und Machen. Interpretationspluralistischer Monismus als Alternative zu Abels Weltenvielfalt, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44/5, S. 867 – 878. Gunnarsson, Logi 2001: Günter Abels Interpretationismus im Kontext der Gegenwartsphilosophie, in: Information Philosophie 29/4, S. 30 – 35. Hofer, Michael 1998: Nächstenliebe, Freundschaft, Geselligkeit. Verstehen und Anerkennen bei Abel, Gadamer und Schleiermacher, München; [insb. ‚Erster Teil: Nächstenliebe (Abel)‘]. Hofer, Michael 2000: „So interpretiere ich eben.“ Anfragen an die Interpretationsphilosophie aus transzendentalphilosophischer Perspektive, in: Nagl, Ludwig / Langthaler, Rudolf (Hg.): System der Philosophie? Festgabe für Hans-Dieter Klein, Frankfurt a. M., S. 69 – 92. Hofmann, Johann Nepomuk 1994: Wahrheit, Perspektive, Interpretation. Nietzsche und die philosophische Hermeneutik, (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 28), Berlin / New York; [Kap. 2.1.5 ‚Interpretation als Fundamentalvorgang. Nietzsche als Interpretationist (G. Abel)‘; Kap. 2.4.6 ‚Hermeneutik oder Interpretationismus (G. Abel)‘]. Kaegi, Dominic 1995: In Interpretationen verstrickt. Über Interpretationswelten und Interpretationskonstrukte, in: Philosophische Rundschau 42/4, S. 273 – 285. Kaplow, Ian 2005: Kommentar zu: Geist – Gehirn – Computer? Philosophie des Geistes nach Kant, in: ders. (Hg.): Nach Kant: Erbe und Kritik, (Philosophie aktuell. Veröffentlichungen aus der Arbeit des Forschungsinstitutes für Philosophie Hannover, Bd. 1), Münster, S. 57 – 64. Koehne, Tim 2000: Skeptizismus und Epistemologie. Entwicklung und Anwendung der skeptischen Methode in der Philosophie, München; [insb. Kap. 6 ‚Allgemeine Skepsisreaktionen II: Interpretationismus‘]. Krämer, Hans 2007: Kritik der Hermeneutik. Interpretationsphilosophie und Realismus, München; [insb. Kap. B, E u. G]. Kūlis, Rihards: Cilvēks un pasaules aina, in: Günter Abel: Kas cilvēku padara neatkārtojamu? Filosofijas lekcijas Rīgā, Riga, S. 87 – 91. Lenk, Hans 1988: Welterfassung als Interpretationskonstrukt. Bemerkungen zum methodologischen und transzendentalen Interpretationismus. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 13, S. 69 – 78. Lenk, Hans 1993a: Interpretationskonstrukte. Zur Kritik der interpretatorischen Vernunft, Frankfurt a. M.; [insb. Kap. 2 ‚Vom transzendentalen Idealismus und Internen Realismus zum pragmatischen methodologischen und transzendentalen Interpretationismus‘, Kap. 19 ‚Welteinheit als Interpretationskonstrukt. Gründe für ein hypostasiertes Weltmodell im Interpretationismus’ sowie Kap. 1, 16, 21 u. 38].
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Ulrich Dirks und Astrid Wagner
Lenk, Hans 1993b: Philosophie und Interpretation. Vorlesungen zur Entwicklung konstruktionistischer Interpretationsansätze, Frankfurt a. M.; [insb. Kap. 6 ‚Entwurf einer Philosophie der Interpretationskonstrukte‘]. Lenk, Hans 1998: „Wahrheit“ als metatheoretisches Interpretationskonstrukt, in: Angehrn, Emil / Baertschi, Bernard (Red.): Interpretation und Wahrheit / Interprétation et vérité, (studia philosophica, Bd. 57), Bern / Stuttgart / Wien, S. 81 – 107; [s. Kap. III]. Löhrer, Guido 1996: Einige Bemerkungen zur Theorieebene der Interpretationsphilosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21/3, S. 261 – 270. Lueken, Geert-Lueke 1996: „Alles, was so ist, könnte auch anders sein“. Zu Günter Abels Interpretationswelten, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44/5, S. 889 – 901. Müller-Lauter, Wolfgang 1999: Über Freiheit und Chaos. Nietzsche-Interpretationen II, Berlin / New York; [insb. Kap. 22 ‚Nietzsches Wiederkunftsgedanke in Günter Abels Philosophie der Interpretation‘ u. Exkurs 5 ‚Zu Günter Abels Deutung des ‹existenziellen In-der-Welt-seins› des Übermenschen‘]. Navarro-Pérez, Jorge 1999: Das Bewußtsein als Zeichen. Bemerkungen über Fichte und einige Strömungen der Gegenwartsphilosophie (G. Abel und J. Simon), in: Girndt, Helmut / Navarro-Pérez, Jorge (Hg.): Zur Einheit der Lehre Fichtes. Die Zeit der ‹Wissenschaftslehre nova methodo›, (Fichte-Studien. Beiträge zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie, Bd. 16), Amsterdam / Atlanta, S. 391 – 405. Nottbohm, Waltraud 2010: Religiöse Bildwelten. Eine interpretationistische Untersuchung zur Lyrik Ulla Hahns, (Literatur – Medien – Religion, Bd. 20), Berlin / Münster; [insb. Kap. 3 ‚Sprachphilosophische Materialien für eine interpretationsphilosophische Auslegung von Gedichten‘]. Plümacher, Martina 1996: Philosophie nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg; [‚Die Kontroverse um Grundlegungsaufgaben der Philosophie‘ in Kap. III]. Przyłębski, Andrzej 2014: Interpretacjonizm Güntera Abla, in: Abel Günter: Świat jako znak i interpretacja, Warszawa, S. 7 – 22. Quine, Willard Van Orman 1994: Responses, in: Inquiry: An Interdisciplinary Journal of Philosophy 37/4, S. 495 – 505; [‹Response to Abel›, S. 495 f.]. Schneider, Hans Julius 2010: Stellungnahmen, in: Tolksdorf, Stefan / Tetens, Holm (Hg.): In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können, Berlin / New York, S. 493 – 559; [insb. S. 512 – 515]. Schönherr-Mann, Hans-Martin 2004: Ethik des Verstehens. Perspektiven der Interpretation. Ein Überblick, in: Schönherr-Mann, Hans-Martin (Hg.): Hermeneutik als Ethik, München, S. 181 – 205. Simon, Josef 1992: Bemerkungen zu den Beiträgen zur Philosophie des Zeichens, in: Borsche, Tilman / Stegmaier, Werner (Hg.): Zur Philosophie des Zeichens, Berlin / New York, S. 195 – 219; [s. insb. S. 214 f.]. Simon, Josef 1996: Welten und Ebenen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44/5, S. 855 – 866. Spree, Axel 1995: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn; [Kap. 1.2 ‚Interpretation und Interpretationskritik‘]. Stegmaier, Werner 2016: Zur Philosophie der Orientierung. Fragen und Antworten, in: Bertino, Andrea / Poljakova, Ekaterina / Rupschus, Andreas / Alberts, Benjamin (Hg.): Zur Philosophie der Orientierung, Berlin / Boston, S. 375 – 408; [zu Abel: S. 396 – 398].
Perspektiven der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels
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Steltzer, Rainer 2001: Interpretation und Wirklichkeit. Das Realitätsproblem unter den Bedingungen interpretationsphilosophischer Ansätze, Insbruck; [insb. Kap. 8 ‚Interpretationswelt(en) und Interpretationswirklichkeit(en) in Günter Abels allgemeiner Interpretationsphilosophie‘; s. ferner Kap. 0 u. 9]. Tratter, Elmar 2004: Interpretation. Wege zu einer Philosophie der Offenheit, Dissertation an der Universität Innsbruck. Upmeier, Arne 2010: Fakten im Recht. Eine Untersuchung zur Tatsachenfeststellung im Rechtsprozess, (Fundamenta Juridica. Beiträge zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. 60), Baden-Baden 2010; [insb. Kap. IV ‚Die Wahrheitsfrage‘]. Venturelli, Aldo 2010: La filosofia dei segni e dell’interpretazione. Prospettive per una sua ricezione in Italia, in: Abel, Günter: La filosofia dei segni e dell’interpretazione, Neapel, S. 229 – 234. Wagner, Astrid 2008: Kognitive Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Eine Untersuchung im Ausgang von Kants „Kritik der Urteilskraft“, Berlin 2008; [insb. Kap. III.2 ‚Regel, Regularität und Kreativität‘]. Wagner, Astrid 2017: Toleranz und Anerkennung. Ethische und politische Konsequenzen der Zeichen- und Interpretationsphilosophie, in: Wagner, Astrid / Asmuth, Christoph / Róldan, Concha (Hg.): Harmonie, Toleranz, kulturelle Vielfalt, Aufklärerische Impulse von Leibniz bis zur Gegenwart, (Kultur – System – Geschichte, Bd. 10), Würzburg, S. 241 – 254. Wagner, Astrid / Dirks, Ulrich 2010: Non c’è mondo senza segni e senza interpretazione. Introduzione, in: Günter Abel: La filosofia dei segni e dell’interpretazione, Neapel, S. 11 – 23; (aus dem Dt. (Keine Welt ohne Zeichen und Interpretation) übers. v. E. Ficara). Wiesing, Lambert 2004: Zur Kritik am Interpretationismus oder Die Trennung von Wahrheit und Methode, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, Bd. 3, hg. v. G. Figal, Tübingen, S. 137 – 151; [insb. Kap. 2 ‚Von der Methode zur Wahrheit: Transzendentaler Interpretationismus‘]. Zabka, Thomas 2005: Pragmatik der Literaturinterpretation. Theoretische Grundlagen – kritische Analysen, Tübingen; [Kap. 1.4.2 ‚Reformulierung des interpretatorischen Wahrheitsanspruchs‘; s. auch S. 10 ff.].
c) Weitere im Beitrag angeführte Schriften Borsche, Tilmann 1981: Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts, Stuttgart. Gadamer, Hans-Georg 1984: Text und Interpretation, in: Forget, Philippe (Hg.): Text und Interpretation, München, S. 24 – 55. Goodman, Nelson 1978: Ways of Worldmaking, Indianapolis. Goodman, Nelson 1984: Of Mind and Other Matters, Cambridge Mass. / London. Heidegger, Martin 1927: Sein und Zeit, 16. Aufl. Tübingen 1986. Lenk, Hans 1978: Handlung als Interpretationskonstrukt. Entwurf einer konstituenten- und beschreibungstheoretischen Handlungsphilosophie, in ders. (Hg.): Handlungstheorien interdisziplinär, Bd. II.1, München, S. 279 – 350. Lenk, Hans 1987: Zwischen Sozialpsychologie und Sozialphilosophie, Frankfurt a. M. Lenk, Hans 1991: Zu einem methodologischen Interpretationskonstruktionismus, in: Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie 22, S. 293 – 301.
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Ulrich Dirks und Astrid Wagner
Lenk, Hans 1994: Interpretationskonstrukte als Interpretationskonstrukte, in: Simon, Josef (Hg.): Zeichen und Interpretation, Frankfurt a. M., S. 36 – 56. Lenk, Hans 1995: Schemaspiele. Über Interpretationskonstrukte und Schemainterpretationen, Frankfurt a. M. Lenk, Hans 2004, Bewußtsein als Schemainterpretation. Ein methodologischer Integrationsansatz, Paderborn. Nietzsche, Friedrich 1967 ff.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, begründet v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York; [KGW]. Simon, Josef 1989: Philosophie des Zeichens, Berlin / New York. Simon, Josef (Hg.) 1994: Zeichen und Interpretation, Frankfurt a. M. Simon, Josef (Hg.) 1995: Distanz im Verstehen. Zeichen und Interpretation II, Frankfurt a. M. Simon, Josef (Hg.) 1997: Orientierung in Zeichen. Zeichen und Interpretation III, Frankfurt a. M. Simon, Josef / Stegmaier, Werner (Hg.) 1998: Fremde Vernunft. Zeichen und Interpretation IV, Frankfurt a. M. Stegmaier, Werner (Hg.) 1999: Zeichen-Kunst. Zeichen und Interpretation V, Frankfurt a. M. Stegmaier, Werner (Hg.) 2000: Kultur der Zeichen. Zeichen und Interpretation VI, Frankfurt a. M. Stegmaier, Werner 2008: Philosophie der Orientierung, Berlin / New York. Wittgenstein, Ludwig 1984: Über Gewissheit, (Werkausgabe, Bd. 8), Frankfurt a. M.
Kapitel 1: Interpretation, Subjekt und Selbstbewusstsein
Emil Angehrn
Interpretation zwischen Konstruktion und Verstehen Hermeneutik und Interpretationsphilosophie Abstract: This paper deals with the similarity and affinity as well as the difference between Interpretationism and Hermeneutics. Both theories take interpretation as the basis of human life, in all forms of individual and social, theoretical and practical behavior. However, Hermeneutics particularly emphasizes two points: the role of the subject in the formation of sense, and the receptive and responsive attitude in our dealing with sense. In comprehending and interpreting, sense is not only constructed, but given to us by the others and by the world.
1 Fundamentalität und Universalität der Interpretation 1.1 Unhintergehbarkeit der Interpretation Dass Interpretationen das Fundament und Medium des menschlichen Lebens bilden, hat kaum ein Autor so eindringlich und umfassend aufgezeigt wie Günter Abel. Interpretation bestimmt das Ganze meines theoretischen und praktischen Selbst- und Weltverhältnisses. Die Grenzen der Interpretation sind die Grenzen meiner Welt. Die Frage ist, wie ein in solcher Weise universalisierter und fundamentalisierter Interpretationsbegriff zu denken ist. Offenkundig meint er mehr als das ‚bloße‘ Interpretieren, wie es Marx der bisherigen Philosophie vorhält, welche die Welt nur betrachtend interpretiert, statt sie zu verändern. Er meint aber auch nicht die Überwältigung, die Nietzsche im gewaltsamen Zurechtbiegen und „Neu-Interpretieren“ erkennt, welches als Formgebung des Willens zur Macht in allem Geschehen wirksam ist (GM II 12 u. III 24, KSA 5.313 f. u. 5.400) und letztlich auch dem berühmten Grundsatz „Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen“ (Nachlass 1886/87, 7[60], KSA 12.315) zugrunde liegt – auch wenn der ‚Interpretationismus‘ von Günter Abel (und Hans Lenk) nicht selten und nicht grundlos in ein Verhältnis zu Nietzsches Perspektivismus und Machttheorie gesetzt worden ist. Ebenso wenig lässt sich die von Abel ins Auge gefasste Interpretation auf das gängige hermeneutische Konzept zurückführen, das eine Art zweiter Lektüre, die nähere Auslegung eines bereits in https://doi.org/10.1515/9783110522280-004
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bestimmter Weise identifizierten und verstandenen Sinngebildes – eines Textes, eines Kunstwerks, einer kulturellen Praxis – meint. Weder operiert sie mit der Zweistufigkeit, worin die subtilitas explicandi der basaleren Operation der subtilitas intelligendi nachfolgt und auf ihr aufbaut, noch mit der Verschränkung beider Stufen, worin die interpretierende Auslegung als Artikulation des Sinngehalts nur die eigene „Ausbildung“ (Heidegger 1927: 148) bzw. der eigene „Vollzug des Verstehens selbst“ (Gadamer 1960: 401) ist. Interpretieren beinhaltet ein Spektrum ganz unterschiedlicher Vollzüge, von elementaren Strukturbildungen bis zu umfassenden Deutungen, in deren Medium wir uns des Gehalts unserer Selbst- und Welterfahrung versichern. Die These der Fundamentalität der Interpretation meint zuerst deren NichtHintergehbarkeit im Wirklichkeitsverhältnis des Menschen. Es ist eine Absage an den metaphysischen Glauben, dass wir in unmittelbarem Kontakt mit den Dingen selbst stehen und deren Wesen, das Seiende an ihm selbst zu erfassen vermögen. Es ist die Einsicht in die irreduzible Vermitteltheit allen Erkennens und Handelns durch bestimmte Raster der Auswahl und Rezeption, der Vereinheitlichung und Formierung, durch Begriffe und Schemen, Deutungs- und Handlungsformen – sei es, dass diese in der Natur des Menschen vorgegeben sind, dass sie transzendentale Voraussetzungen sozialer Praxis bilden oder dass sie durch Gewohnheit erworbene, historisch sedimentierte Verhaltensmuster sind. Entscheidend ist, dass sie in allem menschlichen Sein und Tun impliziert, je schon am Werk sind. Die abstrakte Frage, wie ein Verständnis der Welt unabhängig von ihnen, vorgängig zu ihnen zustande kommen und aussehen könnte, findet keine Antwort. Wir können in unserem Fragen nicht hinter die Sprache, in der sinnlichen Erfahrung nicht hinter die Formen der Anschauung zurück zu einem ‚reinen‘ Aufnehmen, Hervorbringen oder Mitteilen. Wir haben mit keinem Inhalt unabhängig von der Form seiner Genese, seiner Artikulation und seiner Präsentation zu tun. In alledem bildet Interpretation nicht nur die Basis und erste Voraussetzung, sondern ebenso den Horizont unseres Seinsverhältnisses. Sie ist unhintergehbar und unüberschreitbar zugleich. Interpretation umgrenzt das Ganze unseres Weltbezugs. In gewisser Weise nähert sich eine solche Sichtweise der Grundintuition, die für eine hermeneutische Interpretationstheorie bestimmend ist. Deren Kern bildet die Überzeugung, dass sich Menschen verstehend zu sich, zu anderen Menschen und zur Welt verhalten. Verstehen und Deuten zeichnen die menschliche Lebensform als solche aus. Es ist für den Menschen wesentlich, Bilder von sich und seiner Welt zu entwerfen, ein Verständnis seiner selbst und der ihn umgebenden Wirklichkeit zu gewinnen. Der Mensch ist nicht nur das sprechende, sondern das verstehende und sich über sich selbst verständigende Lebewesen. Solche Verständigung artikuliert sich in Interpretationen, sie vollzieht sich in Selbst- und
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Fremdbeschreibungen. Der Mensch, so Ch. Taylor, ist das sich selbst interpretierende Lebewesen. Zur anthropologischen Grundausstattung gehört ein ursprüngliches Bedürfnis nach Ausdruck, Symbolisierung und Verständnis. Wenn Leben generell durch Selbstbezüglichkeit charakterisiert ist, so liegt diese beim Menschen, jenseits der Selbstreproduktion und Selbstbewegung, in der bewussten Reflexivität der Selbstbestimmung und verstehenden Selbsterkenntnis. Indes kennzeichnet die hermeneutische Fundamentalität der Interpretation nicht nur die menschliche Lebensform, sondern gleichermaßen die menschliche Welt. Geschichtlich-kulturelle Sachverhalte sind nicht unabhängig von der ihnen innewohnenden Selbstbeschreibung das, was sie sind. Interpretativität gehört zu ihrer Seinsform wie zu ihrer Bestimmtheit. Ein Ritual, ein Werkzeug, ein soziales Verhaltensmuster sind nicht von ihren objektiven Eigenschaften und ihrer äußeren Erscheinung her adäquat beschreibbar; ob ein Ausgrabungsobjekt ein Kultgefäß, ein Gebrauchsgegenstand oder ein Abfallprodukt ist, bleibt außerhalb des kulturellen Wahrnehmungs- und Handlungsraums in der Schwebe. Interpretation ist nicht erst eine zusätzliche Auslegung, sondern eine gegenstandskonstituierende Sinnstiftung. Kulturphilosophie reflektiert auf die sinnhafte Verfasstheit der geschichtlichen Welt. Die Unverzichtbarkeit eines ‚verstehenden‘ Zugangs beschränkt sich nicht auf intersubjektive Empathie und den Nachvollzug intentionaler Akte. Sie betrifft ebenso die Entzifferung gegenständlich inkorporierter und geschichtlich sedimentierter Bedeutungen und Interpretationen. An einer Examensfeier teilnehmen, eine Dorfgeschichte erzählen, eine Kulturlandschaft ‚lesen‘ sind verstehende Operationen, in denen eigene Sinnentwürfe und Deutungspotentiale des Gegenstandes sich verschränken. Von beiden Seiten her zeigt sich, inwiefern Interpretationen die Grenzen meiner Welt bestimmen. Nun bleibt zu prüfen, wieweit diese Annäherung zwischen Interpretationsphilosophie und hermeneutischem Denken mehr als eine oberflächliche Motivverwandtschaft beinhaltet. Auch wenn sie nach meiner Überzeugung durchaus für eine bestimmte Gemeinsamkeit im Anliegen steht, ist unstrittig, dass mit der unverkennbaren Distanz des Interpretationismus gegenüber der Hermeneutik sachliche Differenzen einhergehen. Sie sollen im Folgenden genauer ins Auge gefasst werden, um einerseits das genuine Profil des interpretationslogischen Ansatzes hervortreten zu lassen, andererseits den Horizont für eine kritische Auseinandersetzung mit diesem aufzuspannen.
1.2 Formen und Ebenen des Interpretierens Als erstes sind Differenzierungen zu nennen, durch welche Abel Modalitäten und Ebenen der Interpretation spezifiziert und dadurch Mehrdeutigkeiten klärt, die
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der gängigen Verwendung des Interpretationsbegriffs anhaften. Sie betreffen auf der einen Seite die Form der Interpretation, d. h. die begrifflichen Operationen, mittels deren wir Interpretationen vollziehen. Zu diesen gehören vielfältige Vollzüge des Unterscheidens, Identifizierens, Klassifizierens, Zuordnens, Schematisierens und Strukturierens bis hin zur Konstruktion von Wissens- und Bedeutungssystemen. In den Blick kommen alle möglichen Operationen, die es uns ermöglichen, etwas ‚als etwas‘ aufzufassen beziehungsweise verstehen zu lassen. Hier erbringt die Interpretationsphilosophie einen unleugbaren deskriptiven Gewinn gegenüber Konzepten, welche die genaue Natur des Auslegens und Interpretierens im Dunkeln lassen, um nur seine logische und lebensweltliche Funktion herauszustellen. Auf der anderen Seite hält Abel die verschiedenen Ebenen der Strukturbildung auseinander, die im komplexen interpretativen Weltverhältnis zusammenspielen. Dies ist von besonderem Belang angesichts einer Undeutlichkeit, die auch im kulturwissenschaftlichen Diskurs verbreitet ist. Sie betrifft das Verhältnis zweier Ebenen bzw. Grundformen des Deutens, denen distinkte Gegenstände korrespondieren: einerseits als Interpretation von Sinngebilden (wie Texten, Symbolen, Geschichten, Werken), die bereits als solche identifiziert und in gewisser Weise verstanden sind und hinsichtlich deren die Interpretation eine weitergehende, spezifizierende Explikation vollzieht und ein vertieftes oder genaueres Verständnis ermöglicht; andererseits als Interpretation der darin verhandelten Sache selbst bzw. als ursprüngliche Deutung, die einen Gegenstand erst als so und so bestimmten hervorbringt und erfassen lässt. Auf der einen Seite haben wir idealiter etwa mit der Interpretation eines vorgegebenen Textes zu tun, über dessen richtige Auslegung zwischen unterschiedlichen Schulen gestritten wird, auf der anderen Seite mit einem kulturwissenschaftlichen Gegenstand (einer Staatsform, einem künstlerischen Stil), der erst durch die spezifizierende Beschreibung und narrative Synthese als dieser bestimmte Gegenstand konstituiert wird; ähnlich werden ein bestimmtes Gefühl, eine zunächst diffuse Empfindung über ihre Beschreibung als dieser bestimmte Zustand erlebt. Das eine ist die ursprüngliche, sinnkonstituierende Interpretation, die den bestimmten Gegenstand hervorbringt, das andere das interpretierende Zurückkommen auf ein vorgegebenes Sinngebilde. Diese Zweistufigkeit wird in der Analyse von G. Abel durch eine Mehrstufigkeit abgelöst, welche den Gesamtprozess der sinnhaften Weltkonstitution in differenzierter Weise vorstellig macht. Als ihr Grundgerüst unterscheidet Abel drei Stufen (‚Interpretation1‘, ‚Interpretation2‘ und ‚Interpretation3‘), die sich nicht zuletzt darin unterschieden, dass in ihnen das strukturelle Zusammenspiel zwischen Gegenstand und interpretativem Akt, damit auch die potentielle Doppelstufigkeit von Gegenstandskonstitution und Auslegung variiert (Iw 14 f.). Bei höherstufigen interpretativen Vollzügen wächst der Abstand zum Gegenstand und
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die Freiheit des So-oder-anders-Beschreibens, womit sich auch die Frage nach der Angemessenheit und Begründetheit der Interpretation in stringenterer Weise stellt. Während die Varianz basaler Interpretationen im Prinzip mit einer Veränderung des Gegenstandes einhergeht, stehen Interpretationen der dritten Stufe unter einem objektiven Wahrheitsanspruch und können „an der Welt scheitern“ (Iw 15). Im Ganzen führt nicht zuletzt diese Auffächerung etwas von der Polyvalenz des Wahrheitsbegriffs vor Augen, sofern deutlich wird, dass Interpretationen keineswegs, wie eine gewisse postmoderne Adaptation nahelegt, sich im Feld der Beliebigkeit bewegen und allenfalls am Reichtum der Vervielfältigung der Perspektiven ihr Maß haben. Vielmehr stehen Interpretationen in mannigfacher Weise unter einem Geltungsanspruch, den sie teils von sich aus erheben, unter den sie teils durch ihre Pluralität und den Konflikt der Interpretationen im Verhältnis zu anderen geraten. Interpretationen können durch ihre interne, intellektuelle oder ästhetische Prägnanz überzeugen, aber ebenso durch ihre heuristische Stärke, ihre kognitive Erschließungskraft, ihre verifizierbare Angemessenheit, ihre kulturelle Bedeutung oder ihre lebensweltliche Funktion. Über die Geltung einer Interpretation lässt sich offenkundig nicht einfach unter einem der etablierten Wahrheitskriterien – der internen Kohärenz, der Korrespondenz mit der Sache, der pragmatischen Funktion, der Konsensfähigkeit in der Gemeinschaft der Interpreten – entscheiden. Sie partizipieren an mehreren Dimensionen sozialer und intellektueller Gültigkeit und werden nach unterschiedlichen Hinsichten auf die Probe gestellt. Die Differenzierung der Interpretationsebenen erweist sich als sowohl strukturell wie normativ aufschlussreich. Im Normativen verhilft sie zu einer konziseren Verortung der Wahrheitsfrage, deren Marginalisierung durch die postmoderne Verabsolutierung der Interpretationen von Anfang an einen Streitpunkt darstellte und in jüngster Zeit etwa in Italien zu einer lebhaften Debatte über das Postulat eines ‚Neuen Realismus‘ geführt hat.¹ Es steht außer Frage, dass das Problem der Verbindlichkeit bzw. der „Grenzen der Interpretation“ (Eco 1990) einen virulenten Punkt berührt, der gegenüber der theoretischen Konjunktur des Interpretationsgedankens vor dem Hintergrund des Konstruktivismus wie des Nietzscheanismus Irritationen ausgelöst und kritische Auseinandersetzungen auf den Weg gebracht hat. Günter Abel hat sich in seinen Schriften der damit verbundenen Probleme mit besonderer Gründlichkeit angenommen, indem er Fragen der Objektivität, der Wahrheit und der Realität im Horizont neuerer Ansätze So das Postulat von Maurizio Ferraris in einem Artikel („Il ritorno al pensiero forte“) in der Zeitung Repubblica vom 8. August 2011, der sich kritisch mit dem ‚schwachen Denken‘ (Gianni Vattimo) und der Postmoderne auseinandersetzt und an den sich eine breit gestreute intellektuelle Debatte angeschlossen hat.
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der Ontologie, Epistemologie und Sprachphilosophie expliziert und zur Diskussion gestellt hat. Es liegt ihm daran, jenseits eines metaphysischen Realismus ein konsistentes Verständnis von Wahrheit und Rechtfertigung zu explizieren und aufzuzeigen, inwiefern das Festhalten am perspektivisch-interpretativen Charakter unseres Wirklichkeitsverhältnisses nicht einer Absage an Erkenntnis und Geltung gleichkommt. In den folgenden Ausführungen werde ich nicht diesen für die theoretische Philosophie zentralen Aspekt des Interpretationismus in den Vordergrund stellen. Vielmehr interessieren mich bestimmte deskriptive Merkmale dessen, was bei Abel – zum Teil auch bei anderen Autoren – als Interpretation thematisch ist, die ich in ihrem spezifischen Profil beleuchten und im Horizont eines hermeneutischen Verständnisses von Interpretation auf ihre Triftigkeit oder Einseitigkeit hin befragen will. Die kritische Perspektive, innerhalb deren ich den interpretationslogischen Ansatz zur Diskussion stelle, markiert gegen diesen nicht einen ‚realistischen‘, sondern einen hermeneutischen Akzent. Dabei bildet einerseits der Sinn- und Subjektbezug der Interpretation (2.), andererseits die Frage nach dem konstruktiv-produktiven Charakter des Sinns (3.) den Leitfaden der Diskussion.
2 Sinn und Subjektbezug Zu den kontroversen Größen in der Auseinandersetzung um die Hermeneutik gehören der Sinnbegriff und der Subjektbegriff. Mit Bezug auf beide ist der Ansatz der Hermeneutik verschiedentlich in Frage gestellt worden. Auf der einen Seite ist die Fokussierung auf die Sinnproblematik und ineins damit die hermeneutische Denkrichtung als solche von jenen problematisiert worden, die für ein Denken jenseits (bzw. diesseits) der Hermeneutik einstehen (Gumbrecht 2004; Mersch 2010). Auf der anderen Seite ist die Hermeneutik intern im Blick auf ihre Subjektzentriertheit – auf die subjektive Konstitution und Rezeption von Sinn – hin kritisiert worden. In dieser zweifachen Auseinandersetzung hat Hermeneutik sowohl die Unhintergehbarkeit der Sinnperspektive in der Betrachtung der menschlichen Welt wie den konstitutiven Subjektbezug in der Artikulation und Entzifferung von Sinn aufzuweisen (vgl. Angehrn 2001). Beide Aspekte benennen nun ebenso Angelpunkte in der Auseinandersetzung der Hermeneutik mit der Interpretationsphilosophie. Auf der einen Seite steht in Frage, wieweit die Universalität und Fundamentalität der Interpretation in genuiner Weise mit einer Sinnperspektive, mit der Orientierung am Sinnverstehen und an einem sinnhaften Seinsbezug verbunden ist; auf der anderen Seite ist zu klären, inwiefern die Interpretativität des Weltverhältnisses konstitutiv auf das Subjekt als Autor und
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Rezipient von Interpretationen bezogen ist. Wir nähern uns dem Problemkomplex, indem wir bei der zweiten Frage einsetzen.
2.1 Dezentrierung des Subjekts Wenn wir Interpretation im weiten Sinn als Inbegriff der Operationen des Schematisierens, Identifizierens und Auslegens verstehen, die im menschlichen Tun und Erkennen stattfinden, so stellt sich die Frage, wieweit diese Vollzüge durch ein Subjekt veranlasst, wieweit sie intentionale Akte eines Subjekts sind. Gerade die Universalisierung der Interpretation kann eine Sichtweise nahelegen, nach der es hier um Vollzüge geht, die nicht vom Subjekt, seiner Kompetenz und Initiative ausgehen, in die es vielmehr selbst eingefügt ist und mittels deren es ein bestimmtes Verhältnis zu sich und zu den Dingen gewinnt. Unterschiedliche Strömungen des 20. Jahrhunderts haben gegen die Vorstellung eines autarken und schöpferischen Subjekts dessen ‚Dezentrierung‘ beschrieben. Gegen die Rückführung von Sinnstrukturen auf ein sinnstiftendes Ich ist der ‚Tod des Autors‘ (Barthes 1968) proklamiert worden; als Ort der Genese des Sinns hat die Dekonstruktion nicht die Innerlichkeit des Meinens, sondern die Äußerlichkeit der Schrift, nicht das subjektive Sagen, sondern die je vorgängige ‚Urschrift‘ bestimmt. Der Autor tritt zurück vor dem Text, der zu verstehen ist und der uns etwas sagt, ja, vor der Sprache selbst, dem kulturellen System oder der Geschichte als solcher. Heideggers Formel „Die Sprache spricht“ (1959: 12) meint eine Zurücknahme des Subjekts in das Medium des Sinns, das dabei gleichsam seine Medialität abstreift, zum eigentlichen ‚Subjekt‘ wird. In gewisser Weise entsubjektiviert wird der Sinn auch in der systemtheoretischen Generalisierung, in welcher er als ein „unnegierbares Medium“ fungiert, innerhalb dessen sich soziale Systeme und Prozesse je schon bewegen; das Subjekt mutiert zum psychischen System, das wie das soziale System aus der Außenperspektive in seinen Operationen zu analysieren ist. Ähnlich haben Literaturtheorie und Kulturwissenschaft Konzepte entwickelt, die den immanenten Sinnraum in seiner Funktionsweise beschreiben und darin die Verselbständigung des Textes und Eigenständigkeit der Medialität zur Geltung bringen. Es scheint naheliegend, die Interpretativität unseres Weltzugangs in solche Konzepte einzuzeichnen und das Interpretieren als einen Prozess zu lesen, der uns vorausgeht und an dem wir immer schon teilhaben. Auch darin, könnte man sagen, nähert sich die Idee der Interpretativität einer hermeneutischen Sichtweise an, wenn diese etwa die Zugehörigkeit des Subjekts zum historischen, übergreifenden Sinngeschehen betont. Nach Gadamer ist „der Fokus der Subjektivität“ ein „Zerrspiegel“ (1960: 281), der etwas ins Zentrum rückt, das Reflex eines umfassenderen Geschehens ist. Strukturell ist die
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Täuschung jener verwandt, welche das Bewusstsein als steuernde Mitte der Interpretationsbewegungen erscheinen lässt, deren wahrer Motor nach Nietzsche im organisch-kosmischen Mechanismus der Kräfte liegt, über welchen der Wille zur Macht sich durchsetzt. Indessen bleibt in solchen Dezentrierungen des Subjekts im Interpretationsgeschehen eine Ambivalenz. Die Dezentrierung meint je nach Konzept Verschiedenes. Sie kann auf der einen Seite beinhalten, dass dem individuellen, bewussten Deutungsakt ein Prozess der Strukturierung, Prägung und Orientierung vorausgeht, der den subjektiven Akt einrahmt und ihn ermöglicht. Das dekonstruktivistische Theorem der Urschrift verweist in diesem Sinn auf ein Zuvorkommendes, das der subjektiven Konstitution zugrunde liegt. Der Sprecher ist zuerst ein Hörer, der Schreibende ein Leser der Schrift, die einem objektiven Sicheinschreiben, einem Sichgestalten und Sichkonstellieren der Welt entstammt. Dieser objektive Prozess, auch wenn nicht intentional gesteuert, begründet die Genese einer Sinndimension, in welche das Subjekt hineinwächst und aus der heraus es selbst in der Lage ist, sinnhafte Operationen der Gestaltung und Deutung zu vollziehen. Auf der anderen Seite kann die Dezentrierung meinen, dass es sich um einen gänzlich subjektfremden, äußerlichen Prozess handelt, der dem sinnhaften Tun und Erleben als das Andere fremd gegenübersteht. Zu einer Äußerlichkeit dieser Art tendiert die Rückführung auf systemische Kraftverhältnisse oder auf neurologische Zustände und Ereignisse. Hier geht es nicht um die Vermittlung von Innen und Außen, Genesis und Geltung als eigentlicher Dimension von Sinn und Verstehen, sondern um eine reduktionistische Transposition in das Andere des Subjekts und das Sinnfremde. Im einen Fall handelt es sich um eine vorsubjektive Äußerlichkeit, die zugleich Herkunft und Grund subjektiven Auffassens ist, im anderen um eine subjektfremde Äußerlichkeit, die ein Jenseits von Sinn und Verständnis markiert. Wir brauchen an dieser Stelle nicht der diffizilen Frage nachzugehen, in welcher Weise von dieser zweiten, strikten Äußerlichkeit her die Entstehung von Bewusstheit und verstehender Orientierung – etwa als die von Ricœur mit Freud thematisierte Transformation von Kraft in Sinn – zu denken ist. Sie konvergiert mit der generellen Frage einer naturalistischen Erklärung des Mentalen. Befragt werden soll stattdessen der erste Typus der Äußerlichkeit und die damit verbundene Verschränkung von Innen und Außen, Inhalt und Form; zu fragen ist, in welcher Weise das Subjekt im Raume dieser Vermittlung an der Konstitution von Sinn teilhat.
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2.2 Subjektbezug und Sinnhaftigkeit Als erstes ist festzuhalten, dass die verbreitete Kritik am Subjektivismus klassischer Hermeneutik zum Teil eher eine Projektion und ein idealtypisches Konstrukt als die hermeneutische Tradition selber trifft. Der Vorbehalt gegenüber der Hypostasierung des Subjekts wird nicht erst im strukturalistischen oder dekonstruktivistischen Kontext artikuliert, sondern kommt, wie schon angedeutet, in der Hermeneutik selbst zum Tragen. Diese distanziert sich sowohl vom transzendentalen Signifikat wie vom autonomen Subjekt als Quelle des Sinns. Das Subjekt, von welchem her Sinnverhältnisse artikuliert werden, ist das endliche, leiblich verfasste und geschichtlich situierte Subjekt, das sich nicht in Transparenz gegeben ist, sondern erst in der Durchdringung seiner Geschichte und Lebenswelt zu sich kommt. So sind auch die interpretativen Vollzüge in ihrer vielfachen Gestalt, durch welche uns die Welt erkenn- und bewohnbar wird, nicht bewusste Setzungen eines souveränen Ich oder handelnden Kollektivs. Es sind Prozesse, in denen das Leben der Subjekte sich vollzieht, indem es ebenso durch diese Prozesse getragen wird, wie es sie aktiv vollzieht, initiiert und verändert. Dabei zeigt sich – und dies ist als zweites festzuhalten –, dass die Rede von einem Subjektbezug der Interpretation ihrerseits ambivalent ist und in doppelter Weise verstanden werden kann. Das Subjekt steht einerseits als Ursprung der Interpretation und sinnhaften Strukturierung, andererseits als Bezugspunkt der Sinnhaftigkeit der Welt zur Diskussion. Gemeint ist zum einen das Subjekt, durch welches, zum anderen das Subjekt, für welches es Sinn gibt. Zumeist stand in den kritischen Auseinandersetzungen um das Subjekt der erste Aspekt im Vordergrund, sofern die Illusion zu überwinden war, das Subjekt sei autarker Schöpfer von Sinn und Produzent von Interpretationen. Dagegen wurde der soziale, kulturelle und geschichtliche Hintergrund aufgewiesen, der in die von Menschen übernommenen und tradierten Vorstellungen, aber auch in ihre eigenen Entwürfe und Konstruktionen hineinwirkt. Auf der anderen Seite geht es um das von Sinnkonstellationen betroffene und sie erlebende Subjekt, um das Subjekt, mit Bezug auf welches Interpretationen ihre Bedeutung haben. Wenn soziale Institutionen, Kunstwerke und Geschichten als Sinngebilde und darin als Interpretationskonstrukte erfasst werden, so geht es darum, die Bedeutung sichtbar zu machen, welche sie für die Teilnehmer einer Praxis, die Betrachter einer Aufführung oder die Opfer einer Geschichte haben. Beide Subjektfunktionen können sich überschneiden, wenn das Subjekt zugleich Ursprung des Sinns und Referenzpunkt des Verstehens ist, als das Subjekt, welches Sinn stiftet und für welches es Sinn gibt (bzw. mit Bezug auf welches der Sinn seine Bestimmtheit hat). Entscheidend für die hermeneutische Perspektivierung der Interpretation ist die zweite Funktion, welche die Bedeutung hervortreten lässt, die eine bestimmte
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Profilgebung, eine bestimmte Zusammenhangsbildung für ein erlebendes Subjekt hat. Nur insofern sprechen wir von Sinn, als dieser Bezug gegeben ist. Illustrieren lässt sich dieser Konnex anhand eines Gedankens von Heidegger. Er unterscheidet das Vorhandene vom Zuhandenen: das bloße Ding im Raum vom Werkzeug, welches eine bestimmte Funktion hat, wie beispielsweise der Hammer, der zum Einschlagen von Nägeln taugt (und auf diese Funktion hin interpretiert werden muss, um als Hammer zu fungieren – wobei es sich beide Mal um denselben materiellen Gegenstand handeln kann). Das Ganze dieser Funktionsbezüge, die verschachtelt und untereinander vernetzt sein können, bildet den ‚Bewandtniszusammenhang‘ der Welt, der seinerseits auf den Menschen als letztes ‚Worumwillen‘ verweist. Es braucht diesen letzten Bezug, damit dasjenige, ‚wozu‘ etwas gut ist, in seinem Profil, als Wozu, für jemanden (gut zum Hämmern für den Handwerker) fassbar ist. Erst über den Subjektbezug werden aus Funktionsbezügen Sinnverhältnisse. Es gibt Sinn nur für ein Subjekt, im Blick auf seine Erwartungen und Gerichtetheiten, seine Neigungen und Abneigungen, seine Möglichkeiten und seine Mängel. Wenn wir dies auf die These des Interpretationismus zurückbeziehen, so nehmen wir eine bestimmte Konturierung des Interpretationsbegriffs vor. Interpretation steht dann nicht einfach für eine bestimmte Strukturierung und gegenständliche Perspektivierung, sondern für eine sinnhafte Inbezugsetzung, die letztlich zurückbezogen ist auf ein – wirkliches oder virtuelles – sinnhaft erfahrendes oder handelndes Subjekt. Wohl gibt es strukturanaloge Vorgänge des Diszernierens, strukturellen Wahrnehmens und angepassten Reagierens in rein gegenständlichen Konstellationen, von der Wirkungsweise eines Sensors bis zu den komplexen Operationen des Schachcomputers oder automatisierten Transaktionen an der Börse. Indessen scheint es unserer Intuition zu widersprechen, die Interaktion zwischen informationsverarbeitenden Maschinen als ein interpretierendes Verhalten zu beschreiben. Eine solche Beschreibung widerspricht unserem intuitiven Sprachgebrauch, sofern wir Interpretation als ein Weiterführen und Ausführen des Verstehens, als eine Art Verstehen zweiter Ordnung begreifen und Verstehen ein Erfassen von etwas als etwas meint. Das ‚etwas als etwas‘ aber fungiert nicht einfach als Operator in Prozessen der Identifikation und Zuordnung, sondern steht für die Integration in einen Deutungs- und Erfahrungszusammenhang, der in subjektivem Erleben und Tun seinen Referenzpunkt hat und verankert ist. Nur metaphorisch kann ein bestimmter Schachzug zwischen Computern als ‚listig‘ bezeichnet werden. Solche Qualifikationen können nur von sprachfähigen Systemen mittels Sprache und sprachlichen Verstehens realisiert werden (wobei auch hier gilt, dass wir dem Übersetzungscomputer, der gleiche Sätze hervorbringt wie eine Übersetzerin, normalerweise kein ‚Verständnis‘ des Textes zusprechen). Wir sind hier mit einem Hiatus konfrontiert, sofern
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wir den Interpretationsbegriff entweder im Horizont des Sinn- und Subjektbezugs situieren oder ihn gegenstandsindifferent verwenden und zu einer strukturellprozessualen Kategorie neutralisieren.² Wenn wir uns für den engeren, sinnbezogenen Interpretationsbegriff aussprechen, so bedeutet dies nicht eine hermeneutische Überformung jedes einzelnen Akts auf den unterschiedlichen Stufen des Interpretierens, sondern den unhintergehbaren Sinn- und Subjektbezug des Ganzen dieser Vollzüge. Interpretierend ist unser Weltbezug, sofern wir uns verstehend auf die Dinge, auf die anderen und auf uns selbst beziehen. Die Perspektive auf das Subjekt in seinem Verhältnis zur interpretativen Sinnstiftung ist nun auszuweiten. Bisher stand der Status des Subjekts als Ursprung und Referenzpunkt von Sinnbezügen zur Diskussion. Im Folgenden ist genauer zu betrachten, in welcher Weise es in deren Hervorbringung involviert ist. In hermeneutischer Optik interessiert der Gegenakzent zur konstruktivistischen Perspektive, die gemeinhin mit dem Interpretationismus assoziiert wird. Die Interpretationsphilosophie betont die aktive, produktive Rolle des Subjekts³ in der Genese der Sinnhaftigkeit der Welt. Gegen sie setzt die Hermeneutik einen zweifachen Akzent, indem sie einerseits die passiv-rezeptive Seite subjektiver Sinnerfahrung, andererseits die Vorgängigkeit des Anderen im Gegebensein des Sinns unterstreicht.
3 Jenseits der Konstruktion 3.1 Passivität und Rezeptivität der Sinnerfahrung Der konstruktivistische Grundzug der Interpretationsphilosophie hat im Kontext der Postmoderne den Einspruch des ‚Realismus‘ hervorgerufen.Wirklichkeit lasse sich nicht zur Gänze konstruieren, sondern setze der Willkür und Setzungsmacht des Subjekts ihren Widerstand entgegen. Unterbeleuchtet bleibt in diesem Einwand, inwiefern hier nicht nur eine äußere Grenze, sondern ein eigenes Potential subjektiver Sinnerfahrung auf dem Spiel steht. Dieser Perspektive geht Hermeneutik nach, wenn sie den Erfahrungscharakter des Verstehens betont, der wesentlich mit Passivität und Rezeptivität verbunden ist. Prägnant bringt H.-G. Gadamer diesen Gedanken zum Ausdruck: „Nicht, was wir tun, nicht was wir tun In diesem Punkt lässt sich zwischen den Ansätzen von Günter Abel und Hans Lenk eine Divergenz festhalten: Während Abel den interpretationistischen Ansatz gemäß der Triade ‚Sprache, Zeichen, Interpretation‘ an der Verfassung von Sinnwelten ausrichtet, interessiert sich Lenk für die Durchgängigkeit des Interpretierens in der sinnhaften und nicht-sinnhaften Welt. Bezeichnend der Titel einer Schrift von Hans Lenk: (1991).
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sollten, sondern was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns geschieht, steht in Frage“ (1960: 438). Während die Interpretationsphilosophie in gewisser Weise die Überzeugung G. B.Vicos teilt, dass wir vorrangig oder ausschließlich – gemäß dem so genannten Vico-Axiom verum et factum convertuntur – die Welt verstehen, die wir selber hervorbringen, geht Hermeneutik davon aus, dass wir ursprünglich nicht gemachten, sondern empfangenen Sinn verstehen. Erfahrungen machen heißt einer Sache ausgesetzt und in ein Geschehen involviert sein. Dieses Involviertsein des Selbst in den Verstehensprozess unterscheidet genuine Erfahrung von abstrakter Erkenntnis, die sich auf einen äußeren Gegenstand bezieht und durch die analytisch-synthetischen Funktionen des Bewusstseins reguliert ist; Erfahrungen machen heißt selbst erfahren werden, ein Anderer werden. In der Erfahrung hat das Subjekt mit sich selbst wie mit seinem Gegenüber zu tun. Insofern geht die Rezeptivität des Sinnerlebens mit einer bestimmten Reflexivität des Verstehens einher, sofern Weltverstehen vom Sichverstehen – und dieses von jenem – nicht ablösbar ist. Wie ich mich und mein Leben verstehe, ist nicht unabhängig davon, wie ich die Welt sehe; umgekehrt färbt mein Selbstverständnis auf meine Weltwahrnehmung ab. Die Interpretativität unseres Seins bewegt sich in diesem umfassenden Kontakt mit der Welt und mir selbst, in welchem ich ebenso erlebend und empfangend wie formbildend und entwerfend bin. Beides vollzieht sich in Rastern und Artikulationsweisen, die wir als Gerüst eines weit gespannten Interpretierens fassen können. Die Passivität als Disposition des Verstehens enthält einen Zusatzakzent, der im Horizont menschlicher Verständigung von Belang ist. Es ist der Akzent des Negativen, der zum Teil schon im Begriff des Passiven / Pathischen anklingt, sofern pathos neben dem rezeptiven Affiziertwerden das schmerzhafte Erleiden bezeichnet.⁴ Zur Verständigung des Menschen über sich und die Welt gehört die Konfrontation mit dem Fehlenden, mit dem Widerstrebenden und Nichtseinsollenden, gegen das sich die subjektive Aneignung sträubt, das sie als endliche jedoch weder hintergehen noch abschließend überwinden und in ein Positives ‚aufheben‘ kann. Interpretation ist eine Auseinandersetzung mit der eigenen Grenze und ein Sichabarbeiten an dem, was sich der verstehenden Durchdringung und deutenden Integration widersetzt. Die Konfrontation mit Endlichkeit und
Aristoteles unterscheidet im Begriffskatalog der Metaphysik vier Hauptbedeutungen von pathos: 1. die Qualität (Affektion), hinsichtlich derer ein Ding sich ändern kann (im Gegensatz zur unveränderlichen Wesensbestimmung); 2. das Erleiden der Veränderung selber; 3. „im strengeren Sinn nennt man Affektionen die schädlichen Veränderungen und Bewegungen und am meisten die schmerzhaften“; 4. „ferner werden übergroße Unglücksfälle Leiden genannt“ (Aristoteles 1994: Met. V 21, 1022 b 15 – 21). – Karl Marx unterstreicht die passive Erlebensfähigkeit als Vermögen der Sinnlichkeit: „Sinnlich sein ist leidend sein“ (1844: 579).
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Negativität ist nicht nur anthropologisch grundlegend, sie kann auch für die Interpretation zum Boden und Impuls werden. Einerseits sind wir durch die Zugehörigkeit zu einer Geschichte und das Eingebettetsein in Sinnzusammenhänge befähigt, am Prozess der Sinnbildung – rezipierend, tradierend, neuschaffend – teilzunehmen. Andererseits bildet gerade das Erleben des Mangels und des Entzugs ein Motiv zur konstruktiven Schöpfung, ruft es das Verlangen nach sinnhafter Gestaltung hervor. Wenn Sprechen und Deuten ein fundamentales Sinnverlangen zum Ausdruck bringen, ein Bedürfnis, sich verstehend zu orientieren und in der Welt heimisch zu werden, so haben sie eine Prämisse nicht nur im tragenden Grund, sondern ebenso in dem, was fehlt. Die Negativität, auf welche das Verstehenwollen stößt, ist einerseits die Widerständigkeit des Realen, das sich nicht interpretierend auflösen lässt, andererseits das dem Wollen Widerstreitende, welches das Neinsagen des Subjekts provoziert und sein Verstehenwollen, seinen Sinnwillen herausfordert. „Leiden gebiert Sinn“ lautet das Motto (Rüsen 2004: 542). Auch darin ist Interpretation als umfassende Disposition etwas, was nicht nur aus seiner kreativen und konstruktiven Potenz, sondern gleichermaßen von seiner Affizierbarkeit und Empfänglichkeit her zu explizieren ist.
3.2 Die Vorgängigkeit des Anderen und die Gabe des Sinns Schließlich ist auch diese Rezeptivität von ihrer Komplementärseite her zu beleuchten, auf sie hin zu vertiefen. Die Empfänglichkeit fungiert im Sinngeschehen nicht als passives Vermögen für sich allein. Ihr kommt das Sichgeben dessen entgegen, was im Medium der Interpretation sinnhafte Gestalt annimmt. Verstehen und Interpretieren trifft im Gegenstand nicht nur auf das Andere, das sich der Assimilation entzieht, sondern auch auf dasjenige, worin es am Wirklichen teilhat, wodurch es im Seienden verankert ist. Doch geht es nicht einfach um eine Realitätshaftung, eine Erdung der interpretativen Konstruktion. Es geht darum, dass diese etwas aufnimmt, das sich von sich aus zeigt und sich darbietet, uns anspricht und etwas sagt. In vielen Varianten ist in neueren Diskussionen diese Figur nachgezeichnet worden – als entgegenkommender Sinn, als Sprache der Dinge, als Sichoffenbaren des Lebendigen und Sichzeigen der Phänomene (vgl. Angehrn 2012); Heidegger hat sie in emphatischer Weise mit der Anweisung an die phänomenologische Beschreibung verknüpft, „das, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selber her sehen zu lassen“ (1927: 34). MerleauPonty hat das besondere Potential der Bilder und die genuine Macht des Malers evoziert, nicht einfach Sichtbares zu repräsentieren, sondern es erst sichtbar werden, ja, in seinem Sichzeigen sehen zu lassen (1948, 1960, 1964). Exemplarisch
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haben wir hier mit einem Verhältnis zu tun, in welchem dem Bezugnehmen auf den Gegenstand dessen Sichtbarkeit entgegenkommt, sein Sich-Zeigen vorausliegt. Der paradigmatische Status der phänomenologischen Reflexion auf die Malerei liegt im Modellcharakter der Sichtbarkeit für die Verstehbarkeit, des Zeigens für das Sagen: Beide Mal geht es darum, im subjektiven Akt etwas zur Entfaltung zu bringen, was in den Dingen als ihre Wahrheit beschlossen liegt, was von sich aus zum Ausdruck drängt. Ähnlich verbindet Gadamer das Urphänomen des Einsehens mit der von Platon geschilderten Helligkeit, die aus dem Glanz des Schönen kommt (1960: 487). Vielfach ist dieses Zusammenspiel innerhalb des Sprachlichen ausgeführt worden. Dekonstruktion hat das Wechselspiel von Schreiben und Lesen aufgezeigt; Benjamin und Derrida haben das Pathos des Übersetzens als Zur-Sprache-Bringen des im Text Angelegten, doch erst partiell Gesagten entfaltet. In fundamentalphilosophischem Kontext hat Heidegger das in allem wirkende Wahrheitsgeschehen und die Sprache des Seins herausgestellt, die im Sagen des Menschen ihren Ausdruck findet. Diese umfassende Inversion, die das Empfangen wie die Verbindlichkeit gegenüber dem Empfangenen einschließt, wird zur Chiffre des Hermeneutischen. Anschaulich stellt sie das Rilke-Gedicht, welches Wahrheit und Methode vorangestellt ist, vor Augen: Nicht „Selbstgeworfenes“, sondern den Ball zu fangen, „den eine ewige Mitspielerin dir zuwarf“, ist das wahre Vermögen – „nicht deines, einer Welt“ (Gadamer 1960: XII). Generell geht es im Umgang mit Kunstwerken wie in der Teilnahme an kulturellen Überlieferungen um die Fähigkeit, offen zu sein für das, was uns darin begegnet und „uns etwas sagt“ (1960: 492). In vielleicht eindringlichster Weise hat Jean-Luc Marion dieses Entgegenkommen des Anderen unter dem Titel der Gabe ausgeführt. In Erläuterung seiner leitenden These „Ce qui se montre, d’abord se donne“ (1998; vgl. Stoellger 2010: 440 ff.) versucht er zu verdeutlichen, wie das vorgängige Gegebensein nicht in der leeren Positivität des Gegebenen aufgeht, sondern im dynamischen Charakter seines Gegeben-Werdens erfahren wird, das gewissermaßen als eigene Tätigkeit dessen, was sich gibt, präsent ist. Die Betonung des Reflexivpronomens im Sich-Geben und Sich-Zeigen verbindet die Ereignishaftigkeit des Erscheinens mit einer Selbstgebung (autodonation), welche den intentionalen Weltbezug einem Verhältnis zwischen Subjekten annähert. Unser Umgang mit Sinn und Sinngebilden ist in gewisser Weise dialogisch verfasst. Diese dialogische Struktur ist von Seiten des Subjekts unter dem Aspekt der Nachträglichkeit, des Antwortens auf einen Appell und Anspruch, auf eine Vorleistung und Gabe, auf eine Frage oder Herausforderung reflektiert worden. Das Stichwort der Responsivität, das namentlich Bernhard Waldenfels zum Leitfaden phänomenologischer Untersuchungen gemacht hat (1994), benennt eine Figur, die von verschiedenen Autoren in kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen
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herausgearbeitet worden ist. Ihre Konjunktur geht mit einer erhöhten Sensibilität für Verhältnisse der Fremdheit und Andersheit einher, in denen sie in gewisser Hinsicht die gängige Hierarchie zwischen dem Selbst und dem Anderen umkehrt. Wichtig ist in dieser responsiven Struktur für die Begründung des Sinnverhaltens, dass die Initiative des Selbst nicht einfach zu einem Nachträglichen, Zweiten wird, sondern dass sie – im Sinne des genannten Subjektbezugs – in sich durchaus originär und unverzichtbar, aber als solche von einem Anderen her ermöglicht und getragen ist. Die Responsivität überträgt dem Maler oder Dichter, wie jedem Subjekt in seiner Welterkundung und Selbstauslegung, eine Aufgabe und Verbindlichkeit (Responsibilität), der es aber nicht rein aus sich heraus nachkommt und zu genügen vermag. In ihrem eigenen Tun und Hervorbringen kommuniziert Interpretation mit dem, was zu ihr spricht und was sie gleichzeitig zur Sprache bringt. Mit alledem ist ein unverkennbarer Gegenakzent zum Konstruktivismus und Produktivismus des Interpretierens gesetzt. Es ist ein anderer Gegenakzent als derjenige, der auf die Abschwächung und Dezentrierung oder gar auf das Ende des Subjekts⁵ und den Tod des Autors setzt. Eher kommt mit ihm eine gewisse Ermächtigung des Subjekts, eine Bekräftigung seiner Schöpfungskraft zum Tragen, die ihm aber nicht aus der eigenen Mächtigkeit und auch nicht aus einem metaphysischen Grund zuwächst, sondern aus demjenigen, worum es seinem Tun geht: aus der Sache, die in seinem Werk zur Artikulation kommt und sich in ihrer Wahrheit, in ihrem Sinn „geltend macht“.⁶ Von daher wird die eingangs notierte schematische Zweistufigkeit zwischen Deuten und Verstehen unterlaufen und die Interpretation wieder mit der ihr vorausliegenden subtilitas intelligendi zusammengeschlossen. Interpretation ist ein explizierendes Gestalten, das in der Entfaltung kreativer Möglichkeiten zugleich im Dienste der Wirklichkeitserschließung steht und sich als eigene Potenz des vernehmenden Verstehens vollzieht.
Vgl. (Foucault 1966: 398): „L’homme est une invention, dont l’archéologie montre aisément la date récente. Et peut-être la fin prochaine“; (Derrida 1968: 144). Vgl. (Gadamer 1960: 493 f.): „Das Verstehen“ ist „Begegnung mit etwas, das sich als Wahrheit geltend macht“; „wer versteht, ist schon immer einbezogen in ein Geschehen, durch das sich Sinnvolles geltend macht.“
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Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Aristoteles 1994: Metaphysik, übers. v. H. Bonitz, neu hg. v. U. Wolf, Hamburg. Angehrn, Emil 2001: Subjekt und Sinn. Zum Status des Subjekts in der neueren Hermeneutik, in: ders.: Wege des Verstehens. Hermeneutik und Geschichtsdenken, Würzburg, S. 93 – 111. Angehrn, Emil 2012: Der entgegenkommende Sinn. Offenbarung und Wahrheitsgeschehen, in: Landmesser, Christoph / Klein, Andreas (Hg.): Offenbarung – verstehen oder erleben? Hermeneutische Theologie in der Diskussion, Neukirchen-Vluyn, S. 59 – 76. Barthes, Roland 1968: La mort de l’auteur, in: Manteia, S. 12 – 17 (abgedruckt in: ders.: Œuvres complètes, vol. 2: 1966 – 1973, hg. v. É. Marty, Paris 1994, S. 491 – 495). Derrida, Jacques 1968: Les fins de l’homme, in: ders.: Marges de la philosophie, Paris, S. 129 – 164. Eco, Umberto 1990: I limiti dell’ interpretazione, Milano. Foucault, Michel 1966: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris. Gadamer, Hans-Georg 1960: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen. Gumbrecht, Hans Ulrich 2004: Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. Heidegger, Martin 1927: Sein und Zeit, Tübingen 101963. Heidegger, Martin 1959: Unterwegs zur Sprache, Stuttgart. Lenk, Hans 1991: Prometheisches Philosophieren zwischen Praxis und Paradox, Stuttgart. Marion, Jean-Luc 1998: Étant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris. Marx, Karl / Engels, Friedrich 1844: Philosophisch-ökonomische Manuskripte, in: dies.: Werke, Ergänzungsband I, Berlin 1968. Merleau-Ponty, Maurice 1948: Le doute de Cézanne, in: ders.: Sens et Non-Sens, Paris, S. 15 – 44. Merleau-Ponty, Maurice 1960: Le langage indirect et les voix du silence, in: ders.: Signes, Paris, S. 49 – 104. Merleau-Ponty, Maurice 1964: L’Œil et l’Esprit, Paris. Mersch, Dieter 2010: Posthermeneutik, Berlin. Nietzsche, Friedrich: KSA Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde., hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 2. Aufl., Berlin / New York, 1988. GM Zur Genealogie der Moral, in: KSA 5, S. 245 – 412. Rüsen, Jörn 2004: Sinnverlust und Transzendenz – Kultur und Kulturwissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts, in: ders. / Jaeger, Friedrich (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Band 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart / Weimar, S. 533 – 544. Stoellger, Philipp 2010: Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer ‚categoria non grata‘, Tübingen. Waldenfels, Bernhard 1994: Antwortregister, Frankfurt a. M.
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Subjektbezug jenseits von Konstruktion Replik zum Beitrag von Emil Angehrn Meine grundsätzliche Stellung zu der äußerst trefflichen Charakterisierung, Rekonstruktion und Erörterung der Grundfiguren der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] durch Emil Angehrn möchte ich mit Fokus auf vier Gesichtspunkte formulieren, nämlich: 1. Das Verhältnis von Prozess und Subjekt. 2. Das Cartesianische Cogito-Argument. 3. Das Kantische ‚ich denke‘. 4. Subjektbezug jenseits von Konstruktion.
1 Das Verhältnis von Prozess und Subjekt Da die Zeichen- und Interpretationsverhältnisse als Prozesse aufgefasst werden, handelt es sich bei der Frage nach dem Subjekt der Interpretation um die Frage des Verhältnisses von Prozess und Subjekt. Das Interpretationsmodell legt den Akzent zunächst auf die Prozesse und erst in einem zweiten Schritt auf die Subjekte als Akteure. Vorrangig geht es darum, diejenigen Strukturen zu reflektieren, die als vorgängige Praxis unserem menschlichen Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln zugrunde liegen. Dabei wird die Relevanz der Akteure bzw. individuellen Subjekte des Zeichen- und Interpretationsgebrauch jedoch keineswegs bestritten. Allerdings erscheinen sie im Vergleich zu ihrer klassischen Auffassung in einem veränderten Licht. Sie erscheinen nicht mehr als die stabilen, festen, unveränderlichen und substanzartigen Ausgangspunkte des Geschehens, hier der Interpretationsprozesse. Vielmehr werden sie als eingebettet in vorgängige Lebens- und Handlungszusammenhänge verstanden, die, wie betont, ihrerseits als Interpretationsverhältnisse konzipiert werden können. Wenn das Subjekt des Interpretierens im Sinne des individuellen Ich im Interpretieren von etwas als Etwas erfolgreich ist, dann liegt diesem Subjekt stets bereits eine ganze Reihe von Komponenten bedingend im Rücken. Der Sinn der Rede vom ‚Subjekt des Interpretierens‘ setzt einen komplexen Hintergrund voraus. Subjekte der Interpretation werden in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie keineswegs geleugnet. Allerdings wird betont, dass das Subjekt sich über sich selbst täuscht, wenn es sich als den festen, substanzartigen und alleinigen Ausgangspunkt der Interpretationsprozesse, in denen es selbst allererst auftritt, missversteht. Meines Erachtens wäre es eine besonders wichtige Aufgabe, eine zeichen- und interpretationstheoretische Konzeption von Subjektivität so zu https://doi.org/10.1515/9783110522280-005
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formulieren, dass die Rede vom ‚Subjekt‘ weder hypostasiert noch prozessual aufgelöst wird, sondern jenseits dieser Dichotomie einen veränderten Sinn zu entfalten vermag. Zur Lösung dieser Aufgabe scheint mir das Stufenmodell der Interpretationsverhältnisse etwas beitragen zu können. Innerhalb des Modells kann das Agieren des Subjekts der Interpretation auf der dritten Ebene der Interpretation verstanden werden. In der erfolgreichen Subjekttätigkeit ist allerdings eine Reihe von Voraussetzungen stets bereits in Anspruch genommen, die ihren Sitz auf der Interpretation2- und der Interpretation1-Ebene haben. Die Frage des Verhältnisses von Prozess und Subjekt wird also in einer vertikalen Stufung behandelt, was dazu führt, dass wir es nicht mit einem Gegensatz zwischen ‚Prozess‘ und ‚Subjekt‘ zu tun haben. Allerdings besteht zwischen beiden durchaus eine Asymmetrie: jede Subjekttätigkeit beruht bereits auf Prozessen, während durchaus von subjektlosen Prozessen gesprochen werden kann. Letzteres zeigt sich auch im Blick auf die Sprache. Prozess-Sätze sind nicht mehr auf ein grammatisches Subjekt bezogen. Man denke an unpersönliche Wendungen wie ‚x fand statt, ereignete sich, passierte‘ oder auch an Sätze wie ‚es blitzt‘, ‚es knallt‘ oder ‚es ist Tauwetter‘. Darin geht es nicht um ein Etwas, das blitzt, knallt oder taut. Und was oder wo ist das Subjekt z. B. einer Party oder eines Tauwetters? Auf die Frage ‚Wer oder was findet statt?‘ erhält man letztlich nur das Ereignis resp. den Prozess selbst (vgl. Abel 2001a: 40 ff.).
2 Das Cartesianische Cogito-Argument In der Cartesianischen Konzeption des Ich/Ego/Subjekt ist als Grundfigur leitend, dass das Selbstbewusstsein im Sinne der Anstrengung einer fundamentalistischen Selbstvergewisserung und im Zuge eines methodischen Skeptizismus so eingesetzt wird, dass das Ich, als fundamentum inconcussum gewonnen und gefestigt, zum Ausgangspunkt eines jeden Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses und -verhältnisses hochstilisiert werden kann. Die ZuI-Philosophie gehört in den Kreis derjenigen Philosophien, die das Cartesianische Cogito-Argument mit nichtbehebbaren Schwierigkeiten konfrontiert sieht (vgl. Abel 2001b). Insbesondere werden in diesem Argument die folgenden Punkte übersehen: (a) Dass auch das am Ende des von Descartes strikt durchgeführten methodischen Skeptizismus (mithin nach dem Betrüger-Gott-Argument) übrig bleibende und in die Fundamentalstellung rückende Ich/Subjekt/Ego auf einem Geflecht von insgesamt nicht ins vorstellende Denken zu bringenden Bedingungen ruht, die ich abkürzend als interpretativ charakterisiere.
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(b) Dass der Weg bzw. die Schrittfolge zunehmender Radikalität des Cartesianischen methodischen Zweifels bis hin zum Betrüger-Gott für sich genommen natürlich noch kein Argument liefert, welches das Ich/Subjekt/Ego als zeichenund interpretations-freien bzw. zeichen- und interpretations-transzendenten, als bedingungs-freien, kontext-freien, nicht-hintergehbaren und nicht-überschreitbaren Ausgangs- und Fixpunkt ausweisen könnte. (c) Dass das Subjekt/Ich sich selbst keineswegs so transparent und direkt gegeben ist, wie Descartes dies annimmt bzw. voraussetzt. (d) Dass die von Descartes mit einer so fundamentalen Funktion ausgestattete ‚innere Erfahrung‘ keineswegs als vollständig reine innere Erfahrung erfahren und angesehen werden kann (selbst z. B. ein Schmerz, den ich habe, ist keine innere reine Erfahrung, sondern ein komplexer Empfindungszustand, in dessen Verfasstheit eine Fülle unterschiedlicher Ingredienzien eingeht; Schmerz ist stets interpretativer und interpretierter Schmerz). (e) Dass der Cartesianische und das heißt der zu epistemologischen Zwecken eingesetzte methodische Skeptizismus nur ein bestimmter Typus von Skeptizismus, nicht jedoch die einzig legitime Form von Skeptizismus ist. Der methodische Skeptizismus ist nicht wirklich eine radikale Skepsis, für die, wie im Falle vor allem der pyrrhonischen Skepsis, charakteristisch ist, dass sie sich selbst in ihren Zweifel mit einschließt, mithin nicht ihrerseits als ein letztes Wort, als terminale Skepsis angesehen werden kann (siehe hierzu meine Replik auf Tim Koehne).
3 Das Kantische ‚ich denke‘ Das Argument Kants im Hinblick auf das ‚Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können‘ und die korrelierte Auffassung der Einheit des Selbstbewusstseins als Grundlage unseres Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses ist von dem Cartesianischen Argument nicht nur deutlich unterschieden. Es ist vor allem ungleich durchdachter, grundlegender und umfänglicher gedacht. Die Stellung der ZuI-Philosophie dazu ist doppelter Art. (a) In einem ersten Schritt teile ich die Kantische Sicht, mit Akzent auf den beiden Komponenten dieser Sicht, nämlich auf der wichtigen und letztlich unverzichtbaren Rolle eines ‚Ich‘, des ‚essential indexical‘ (J. Perry) wie auf der kardinalen und letztlich unverzichtbaren Rolle der Selbstbezüglichkeit und insbesondere auch des Selbstbewusstseins (vgl. mein Argument zum ‚ich‘ in Abel 2002). (b) In einem zweiten Schritt plädiere ich dafür, dass selbst noch sowohl das Kantische ‚ich denke‘ als auch das Kantische Selbstbewusstsein (im Sinne dessen, was er die transzendentale Einheit der Apperzeption nennt und als Bedingung der Möglichkeit jeder Erfahrung ansetzt) als zeichen-interpretativ zu charakterisieren. Ich tue dies in einem doppelten Sinne.
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Zunächst ist Selbstbewusstsein immer schon in Fremd- und Weltbewusstsein eingebettet, situiert, mit diesen imprägniert, auf diesen aufruhend und in diesem Sinne auch abhängig von Voraussetzungen, Netzwerken, Konditionen, Geflechten, die es selbst nicht erst hervorbringt und verbürgt und die zeichen-interpretativ verfasst sind. Sodann ist das ‚ich denke‘ ebenso wie das Selbstbewusstsein beteiligt und verstrickt in die Funktionen der Meinigkeit meiner Welt, des Diskriminierens, Individuierens, raum-zeitlichen Lokalisierens, sortalen Kategorisierens und Vereinheitlichens, des zur Einheit einer Erfahrung führenden Organisierens, ebenso wie in habituelle Gewohnheiten und gewohnheitsmäßig verankerte Praktiken und explizites Aufstellen von z. B. Theorien über die Welt, über andere Personen und uns selbst. Sowohl ‚ich denke‘ als auch das Selbstbewusstsein sind notwendigerweise von diesen zeichen-interpretativen Prozessen gleichsam infiziert und stets bereits mit abhängig. ‚Reines‘ Ich und ‚reines‘ Selbstbewusstsein, gänzlich nicht-interpretativ und unabhängig von den skizzierten Mechanismen, wären gleichsam bloß ein leeres Selbstexerzitium ohne Bodenhaftung, wären kein lebendiges, sondern totes Ich und totes Selbstbewusstsein. Diese zeichen- und interpretationsphilosophische Analyse gilt insbesondere dann, wenn der Akzent auf die Funktion und den sinn-präsuppositiven Charakter der Rede von Ich und Selbstbewusstsein gelegt wird, in Bezug auf welche die (an Wittgenstein angelehnte) Charakterisierung gilt: Ich und Selbstbewusstsein sind nicht Etwas, aber auch nicht Nichts (ganz im Sinne Kants, der in den Paralogismen dargelegt hat, wie unzutreffend und widersprüchlich es wäre, das Ich als eine Art Ding oder gar als eine Substanz zu konzipieren). Das Ich und das Selbstbewusstsein sind unverzichtbar gerade als sinnlogische Präsuppositionen im Diskriminieren und Individuieren, mithin von eben diesen Prozessen abhängig und ohne sie nichts. Insofern sind auch das Kantische Subjekt wie das Kantische Selbstbewusstsein stets bereits in ihren für das Zustandekommen von Erfahrung unverzichtbaren Funktionen sowohl an Netzwerke der Interpretativität als auch an spezifizierte Mechanismen der Interpretation gebunden. Dieser Punkt lässt sich zeichen- und interpretationsphilosophisch präzisieren. Mein Ziel ist nicht das Kantische Ziel, sich auf den höchsten Punkt im Sinne des ‚ich denke‘ und der Einheit des Selbstbewusstseins hinauf zu reflektieren. Mein Ziel ist vielmehr dreifacher Natur. Zum einen (a) plädiere ich dafür, sich in die zeichen-gebundenen und interpretativen Mittel und Voraussetzungen unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Erlebens und Handelns zurück zu reflektieren und sich eben darin für das im Ganzen nicht überschaubare Netzwerk der Bedingungen (z. B. auch der bisherigen Lebensgeschichte eines menschlichen Ich/Subjekts) und Mechanismen des Funktionierens zu öffnen (sich also keineswegs gigantomanisch als
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leistendes Subjekt hoffnungslos zu überschätzen). Das ist, wenn man so will, der vertikale Teil: nicht hinauf, sondern gleichsam hinab reflektieren. Zum anderen (b) geht es darum, sich – und das ist, wenn man so will, der horizontale Teil – in das Triangel von Ich-Wir-Welt, mithin in die triangulären Relationen zu anderen Personen und zur Welt hinein zu reflektieren, sich in die zeichen-gebundenen und interpretativen Mechanismen der Diskrimination, der Individuation, der raum-zeitlichen Lokalisierung und der sortalen Klassifikation hinein zu reflektieren, von denen her sich auch das, was wir menschliches Subjekt, Subjektivität, Subjektbezug und Selbstbewusstsein nennen, versteht und auf die hin es das Subjekt ist, das es ist. Schließlich (c) ist mit diesen beiden Richtungen des Reflektierens das Bild der ‚Drehtür‘ verbindbar, und zwar einer horizontalen wie einer vertikalen Drehtür: horizontal im Sinne der drehtürartigen Abhängigkeit und des Ineinandergreifens von Subjekt, anderen Subjekten und der Welt; vertikal im Sinne des Situiertseins im Netzwerk der Bedingungen, auf denen (i) das Subjekt bereits aufruht, die es (ii) nicht selbst verursacht hat, die es (iii) nicht, jedenfalls nicht vollständig, ins vorstellende Denken ziehen bzw. repräsentieren kann, die jedoch (iv) uns gerade nicht daran hindern und nicht davon exkulpieren können, dass wir als endliche Personen und Subjekte sprechen, denken, erleben und vor allem handeln und entscheiden müssen. Wir geraten in Situationen, in denen wir Entscheidungen treffen müssen, ohne das Netzwerk der Bedingungen zu überschauen, ohne in einem metaphysischen Call-Center oder bei einem EEG unseres Neurologen nachfragen bzw. nachschauen zu können, mithin unter Risikobedingungen entscheiden und entscheiden müssen (insbesondere dann, wenn viel auf dem Spiel steht, etwa auf der Intensivstation einer Klinik). Hier trifft sich die ZuI-Philosophie mit der tiefen Einsicht Kants in Bezug auf die praktische Vernunft und den Autonomiegedanken: Wir sollen uns, autonom, ein Gesetz geben, obwohl wir das Gesamt des Netzwerks und des Hintergrundes der Bedingungen, aus denen heraus wir so handeln, denken, sprechen, wahrnehmen und erleben, wie wir dies nun einmal tun, nicht überschauen und die letzten Gründe unseres Handelns, Sprechens und Denkens nicht kennen. Auch angesichts dieses Befundes macht es keinen Sinn, von einem nicht-interpretativen Sprechen, Wahrnehmen, Erleben, Denken und Handeln zu sprechen, – selbst bei noch so ‚gutem Willen‘, den Kant bekanntlich so herausgestellt hat.
4 Subjektbezug jenseits von Konstruktion Das Bild, das Angehrn in den beiden Hinsichten in seinen Abschnitten 2 „Subjektbezug“ und 3 „Jenseits der Konstruktion“ in Sachen Hermeneutik zeichnet, ist
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nicht das der klassischen Hermeneutik (die sich auf bereits diskriminierte und individuierte Objekte, z. B. auf Texte, Bilder, Handlungen, Musikstücke etc. bezieht und diese in einem zweiten Schritt zu verstehen und im Interpretation3Sinne zu interpretieren sucht). Angehrn handelt in seinen Ausführungen – und das ist ein prima Punkt! – nicht von der Hermeneutik im Sinne einzelwissenschaftlich-methodologischer Auslegungs- und Interpretationslehren, sondern von dem, was er das ‚Hermeneutische‘ nennt, mithin von einem Sinnverstehen und einem Verstehensgeschehnis umfänglicherer und basalerer Art. Was innerhalb der ZuI-Philosophie die Seite des Verstehens angeht (in Bezug auf die ich hier keineswegs die klassische und im Rahmen einer Methodologie der Geisteswissenschaften so intensiv diskutierte Opposition von Verstehen und Erklären im Blick habe, welche ich keineswegs für fruchtbar, ja nicht einmal für strikt durchführbar halte), so kommt die Angehrnsche Position derjenigen der ZuI-Philosophie in der Tat recht nahe. Ich glaube sogar zu spüren, dass die Positionen, die Angehrn selbst vertritt, am Ende vielleicht sogar ein wenig mit inspiriert sein könnten von der ZuI-Philosophie. Die außerordentlich hohe Vertrautheit Emil Angehrns mit den Anliegen und Positionen der ZuI-Philosophie könnte ebenfalls dafür sprechen. Insofern sind Emil Angehrn und ich durchaus Verbündete in der Sache des Sinns, des Making Sense, der Sources of Significance, der Frage nach der Logik des Sinns. Freilich sind auch Unterschiede nicht zu übersehen. Sie entstehen vor allem daraus, dass ich bei Angehrn noch einen Rest von ‚Gegebenem‘ in Sachen Sinn vermute, einen doch noch irgendwie vorfabriziert daliegenden Sinn angesetzt sehe, der darauf wartet, von uns endlichen Geistern im Subjektbezug erschlossen zu werden und der außerhalb der Interpretativität1-Ebene und so gedacht wird, dass er die I1-Ebene selbst ebenso wie die anderen Ebenen zwar nicht ohne Subjektbezug und nicht ohne intentionale Subjektaktivität, aber letztlich eben doch von Außen affiziert und bestimmt. Demgegenüber möchte ich die ganze Dichotomie von Innen und Außen zurücklassen, mit anderen Worten (und noch innerhalb des älteren Innen-Außen-Schemas) gesagt: Ich möchte die externen Relationen als Konsequenzen der internen Zeichen- und Interpretationsrelationen fassen und dabei das Interne so stark machen, dass das Externe vom Internen abhängt, nicht umgekehrt. Das gilt meines Erachtens nachdrücklich auch für die Frage der Sinns. Ich präzisiere daher meine Formulierung von der ‚Logik des Sinns‘ als interne Logik des Sinns, der nicht-hintergehbar und nicht-überspringbar Interpretations-Sinn ist. Ein nicht-interpretativer Sinn ist uns dieser Auffassung zufolge nicht erreichbar. Das ist letztlich eine Konsequenz der Einsicht, dass, gegeben die epistemische Situation der endlichen Geister, Sinn stets ‚Sinn nach Menschenmaß‘, nicht ‚nach Gottesmaß‘ ist. Selbst wenn jemand, nach Art einer
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göttlichen Offenbarung, Zugang und Einsicht in solcherart göttlichen Sinn hätte, – wir müssten es ihm, gegeben unsere epistemische Situation, nicht glauben. Diese Zusammenhänge möchte ich betonen auch angesichts der offenkundigen Schwierigkeit und der wichtigen Frage, wie und wieweit sich die Bereiche Innen und Außen so voneinander unterscheiden, gar trennen lassen, dass wir nicht auf die Annahme festgelegt sind, es gäbe einen vorgefertigt diskriminierten und individuierten Sinn und eine vorgefertigt diskriminierte und individuierte Welt. Die Schwierigkeit sehe ich in folgendem: Sobald man diese Differenz auch nur ein Jota so öffnet, dass sie nicht nur eine semantische und interpretative, sondern eine ontologische ist, gerät man in das Fahrwasser unsinniger und unkritischer Voraussetzungen. Deshalb lautet mein Vorschlag: Öffnen wir erst gar nicht eine Kluft zwischen Innen und Außen, zwischen Interpretativität und Ontologie, sondern denken wir die interpretativen internen (mithin vor allem auch die semantischen und sinn-bezogenen) Relationen so stark, dass sie die externen Relationen beherrschen. Das scheint mir für das Philosophieren grundsätzlich geboten zu sein. Auf diese Weise haben es wir mit einem guten Externalismus und auch mit einer externalisierten Semantik im Sinne meines Triangels zu tun (d. h. Bedeutung und Sinn sind abhängig vom Bezug zu anderen Personen und zur Welt). Ein solcher Externalismus gerät nicht mehr in die Fallstricke (a) der Annahme eines vorfabriziert fertig daliegenden Sinns und (b) einer Position, die den vermeintlichen Zuwachs an Realismus nur um den hohen und nicht akzeptablen Preis eines Dualismus zu erkaufen vermag. Ich denke nicht von der Ontologie her. Aber ich schließe ontologische Folgelasten bzw. Commitments nicht von vornherein aus. Primär bewegt sich die ZuIPhilosophie auf der Ebene der Zuschreibungen. ZuI-Philosophie ist über weite Strecken eine ascriptional philosophy. Sie hat den nicht gering zu schätzenden Vorteil, dass dieser Ansatz in Gang und in Geltung gesetzt werden kann, ohne sofort ontologische Verpflichtungen zu übernehmen, ohne von der Semantik und dem Sinn sogleich in eine Ontologie übergehen zu müssen, gar eine Ontologie des Sinns propagieren zu müssen, und sei dies auch nur in der schwachen Version. Zwei Hinsichten, in denen ich diese Struktur der ZuI-Philosophie im Rahmen der Frage nach dem ‚Hermeneutischen‘ verdeutlichen kann, sind die beiden Denkfiguren Heideggers: (a) dass „Erst über den Subjektbezug […] aus Funktionsbezügen Sinnverhältnisse [werden]“ (Angehrn-Beitrag Kap. 2.2) und (b) dass der Rede vom ‚In-der-Welt-sein‘ und der ‚Hermeneutik der Faktizität‘ eine besondere Relevanz zukommt. Auf diese beiden Figuren bezogen liegt der Witz der ZuI-Philosophie schlicht darin, das menschliche In-der-Welt-sein (ebenso wie die triangulären und dynamischen Verhältnisse der Ich-Wir-Welt-Konstellation) in seinen nicht-überspringbaren Verfasstheiten, Vollzügen, Strukturen und Mechanismen so als zeichengebunden und interpretativ zu charakterisieren, dass diese
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Interpretativität prägend und formierend bis auf unser Sprechen, Denken und Handeln auf der ZuI3-Ebene durchschlägt. Dies erfolgt freilich nicht einfach derart, dass etwas vorfabriziert fertig Implizites einfach öffentlich und explizit gemacht wird.Vielmehr kommt auf den Ebenen I2 und I3 jeweils etwas genuin Neues hinzu, das so auf der Ebene I1 noch nicht im Spiele war. Beispiel 1: Wir leben in unserer (ZuI1-verfassten) Lebenswelt, wir benutzen eine Sprache, verhalten uns und führen Handlungen aus (I2-Ebene), und die Wörter und Sätze dieser Sprache sowie die korrelierten Handlungen besitzen in unseren Kommunikationen und Kooperationen innerhalb des Triangels Ich-WirWelt semantische Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen) auf der ZuI3-Ebene. Die Ausbildung einer Sprache auf der Ebene 2 ist nicht einfach bloß die isomorphe und lineare Fortschreibung der Verfasstheit und Struktur der Ebene 1. Und das explizite Auftreten semantischer und sinnbezogener Merkmale im Sinne der Sprecher-Bedeutung ist nicht einfach bloß die isomorphe und lineare Fortschreibung der Sprach-Syntax und der Sprach-Bedeutung der Ebene 2. In jedem Explizitmachen kommt genuin Neues entscheidend ins Spiel. Jede dieser Zeichen- und Interpretations-Ebenen konstruiert gleichsam auch die Welt und den Sinn auf eine jeweils neue Weise. Am augenfälligsten wird dies beim Übergang von Ebene 2 auf Ebene 3, etwa von syntaktischen Zeichen zu semantischen bzw. zu bedeutungs- und sinn-verkörpernden Zeichen. Beispiel 2: Wir haben ein Gehirn, ohne dessen neuro-chemische Prozesse wir nicht wahrnehmen, sprechen, denken und handeln könnten. Das neuro-chemische Funktionieren unseres Gehirns kann dann als eine gleichsam syntaktische Maschine mit syntaktischen Informationen und deren Verarbeitung beschrieben werden. Mit der Entwicklung der Sprache kommt es dann auch zur Ausbildung und zum Übergang in eine semantische Ebene und in semantische Informationen. Keine dieser einzelnen Ebenen ist im Sinne von Isomorphieverhältnissen einfach ein Explizitmachen des auf der davor liegenden Ebene bereits fertig gegebenen Impliziten.¹
Die neuro-chemische Funktionsebene des Gehirns kann durchaus auch als interpretativ beschrieben werden. Man denke nur daran, welch hochkomplexe Interpretationsgeschichte abläuft zwischen dem ersten Auftreffen von Reizen auf der Retina, der sich anschließenden Selektion, Präferenzierung und weiteren Verarbeitung im Gehirn bis hin zu einem Sehfeld und zu expliziter und kommunizierbarer, in kooperative Handlungszusammenhänge einbeziehbarer Wahrnehmung eines Objektes. Doch diese Ausweitung des Interpretationsbegriffs in die Prozesse der nichtmenschlichen Natur verfolge ich hier nicht näher.
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4.1 Zwischen Konstruktion und Verstehen? Der Titel des Beitrags von Angehrn lautet: „Interpretation zwischen Konstruktion und Verstehen. Hermeneutik und Interpretationsphilosophie“. In dieser Formulierung artikulieren sich zwei Vorannahmen, die ich nicht teile, da sie ein zentrales Anliegen der ZuI-Philosophie zu unterschlagen drohen: (a) Die Rede vom ‚zwischen‘ Konstruktion und Verstehen steht in der Gefahr, zwei Punkte zu verdecken, die mir in Bezug auf das doppelte Grundanliegen der ZuI-Philosophie wichtig sind, nämlich dass es darum geht, die Wahl zwischen diesen vermeintlichen Polen zu verabschieden und Konstruktion und Verstehen ihrerseits als Versionen einer adualistisch funktionierenden Interpretativität anzusehen. (b) In der ZuI-Philosophie würde man die Angehrnsche Reihenfolge der Wörter des Untertitels umdrehen: von ‚Hermeneutik und Interpretationsphilosophie‘ zu ‚Interpretationsphilosophie und Hermeneutik‘. Interpretation comes first, könnte man sagen. Aus meiner Sicht kann die Hermeneutik als ein Zweig der ZuI-Philosophie angesehen werden, nicht umgekehrt. Diese Reihenfolge bringt den Vorrang der ratio essendi vor der ratio explicandi deutlicher zum Ausdruck. Angehrn sieht sehr richtig: trotz aller Verwandtschaft zwischen hermeneutischem Denken und der Interpretationsphilosophie, „ist unstrittig, dass mit der unverkennbaren Distanz des Interpretationismus gegenüber der Hermeneutik sachliche Differenzen einhergehen“ (Kap. 1.1). Er nimmt diese mit Recht sehr ernst, fasst sie näher ins Auge, um einerseits das „genuine Profil des interpretationslogischen Ansatzes hervortreten zu lassen“ und andererseits den „Horizont für eine kritische Auseinandersetzung mit diesem aufzuspannen“ (ebd.). Mir ist die Abgrenzung der ZuI-Philosophie ein wichtiges Anliegen. Aus diesem Grund habe ich dem Thema in der Replik auf Andrzej Przylebski einen eigenen Abschnitt gewidmet.
4.2 Abgrenzung von Relativismus und Postmoderne Angehrn rekonstruiert mit hoher Sachkenntnis und völlig korrekt die drei Stufen der Interpretation als „eine Mehrstufigkeit […], welche den Gesamtprozess der sinnhaften Weltkonstitution in differenzierter Weise vorstellig macht“ (Kap. 1.2). Und sehr richtig sieht er, dass sich die drei Stufen auch darin unterscheiden, dass „in ihnen das strukturelle Zusammenspiel zwischen Gegenstand und interpretativem Akt, damit auch die potentielle Doppelstufigkeit von Gegenstandskonstitution und Auslegung variiert“ (Iw 14 f.). Sehr richtig sieht er, dass darin die Interpretationen3 „unter einem objektiven Wahrheitsanspruch“ stehen und dass sie „an der Welt scheitern“ können (Iw 15). Dies führt ihn zu der Feststellung: „Im
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Ganzen führt nicht zuletzt diese Auffächerung etwas von der Polyvalenz des Wahrheitsbegriffs vor Augen, sofern deutlich wird, dass Interpretationen keineswegs, wie eine gewisse postmoderne Adaptation nahelegt, sich im Felde der Beliebigkeit bewegen und allenfalls am Reichtum der Vervielfältigung der Perspektiven ihr Maß haben. Vielmehr stehen Interpretationen in mannigfacher Weise unter einem Geltungsanspruch […]“ (Kap. 1.2). Die Abgrenzung der ZuI-Philosophie gegenüber dem abwegigen Verdacht eines Relativismus der Beliebigkeit im Sinne der Postmoderne ist mir überaus wichtig. Umso erfreulicher ist es zu sehen, wie klar Angehrn diesen Punkt hervorhebt. ZuI-Philosophie ist kein Relativismus. Hier kommen die wichtigsten Argumente für diese Positionierung (vgl. dazu auch Abel 2001a): Die Zeichen- und Interpretationsphilosophie ist darauf aus, bestimmte Dichotomien zu unterlaufen, z. B. die zwischen Letztbegründung/Absolutheitsanspruch auf der einen und Relativismus der Beliebigkeit auf der anderen Seite. Meine Vorstellung ist, dass es für ein kritisches und zeitgemäßes Philosophieren nicht so sehr darum gehen sollte, sich innerhalb des Spektrums dieser Dichotomie an einer bestimmten Stelle zu platzieren. Ich gehe vielmehr davon aus, dass die beiden Figuren des Absolutheitsanspruchs und des Relativismus wie siamesische Zwillinge zusammenhängen. Defekte der einen Seite sind zugleich Defekte der anderen. Und die Defekte sind Legion. Daher wäre der Versuch zu machen, diese Dichotomie als ganze zugunsten der Frage zurückzulassen, wie ein Philosophieren jenseits bzw. diesseits dieser Dichotomie aussehen könnte. Die Zeichen- und Interpretationsphilosophie versteht sich als ein Versuch in dieser Richtung. Jedoch ist streng zwischen Relativismus und Relativität zu unterscheiden. Letztere ist nicht eliminierbar, ersterer dagegen nicht wirklich verständlich zu machen. Nur einem oberflächlichen Blick mag es so scheinen, als würden die Interpretationen beliebig, wenn sie keinen Halt an einem metaphysisch-vorgegebenen Gerüst haben. Offenkundig ist es aber doch nicht so, dass jede Interpretation so gut wie jede andere ist. Im Verwenden und Verstehen von Zeichen und im Handeln ist Beliebigkeit der Interpretation nicht gegeben. In diesem Sinne hat unser Wille zur Verständigung und zur Aufrechterhaltung von Handlungszusammenhängen, unser Wille zur Kooperation, den Relativismus der Beliebigkeit stets bereits unterlaufen. Und das lässt sich im Rekurs auf das Stufenmodell der Interpretationsverhältnisse gut erläutern. Der individuelle Sprach- und Zeichengebrauch auf der dritten Ebene ist eben schon deshalb nicht beliebig, weil er unter den Bedingungen der zweiten und ersten Ebene der Interpretation steht. Vor diesem Hintergrund wird auch die Frage beantwortbar, ob in der Interpretationsphilosophie nicht eine Letztinstanz fehle, im Rekurs auf die man zwischen Lebensformen entscheiden könne. Die Antwort ist dreiteilig: eine Letztinstanz ist nicht zu haben; zwischen Lebensformen zu unterscheiden, macht Sinn
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überhaupt nur innerhalb der interpretations-praktischen Relativität; und aus dieser Relativität heraus sind Entscheidungen in einem komparativen Sinne sowie unter Zweckgesichtspunkten möglich und werden offenkundig auch so praktiziert.
4.3 Sinn und Subjektbezug jenseits von Konstruktion Im Hinblick auf die Auseinandersetzung zwischen Hermeneutik und ZuI-Philosophie stellt Angehrn zwei gute Fragen: „Auf der einen Seite steht in Frage, wieweit die Universalität und Fundamentalität der Interpretation in genuiner Weise mit einer Sinnperspektive, mit der Orientierung am Sinnverstehen und an einem sinnhaften Seinsbezug verbunden ist; auf der anderen Seite ist zu klären, inwiefern die Interpretativität des Weltverhältnisses konstitutiv auf das Subjekt als Autor und Rezipient von Interpretationen bezogen ist“ (Kap. 2). Da Angehrn seine Worte genau und präzise wählt, sei erlaubt, auf zwei kleine, aber in der Sache überaus wichtige Punkte in der ersten der beiden Fragen hinzuweisen: (a) Die Formulierung ‚Orientierung am Sinnverstehen‘ würde ich so nicht verwenden, da sie suggeriert, dass wir uns passivisch an einem vorgegebenen Sinn, den wir in der Verstehensoperation zum Vorschein und dann auch zur Applikation bringen, orientieren, diesem gegebenen Sinn folgen. Ich bestreite, dass sich unter kritischem Vorzeichen überhaupt explizieren lässt, was mit einem solcherart vorgegebenen Sinn gemeint sein könnte. Zu unterstellen, dass es einen individuierten, vorgegebenen und nur auf sein Erfasstwerden wartenden Sinn gibt, wäre eine Metaphysik des Sinn-Gegebenen. Das Stufenmodell der Interpretativität schließt nicht aus, sondern ein, dass auf der Ebene 3 ein Sinn als ‚gegeben‘ angenommen und akzeptiert werden kann, der uns gut zur Orientierung in der Welt, anderen Personen und uns selbst gegenüber dient. Aber diese Differenz zwischen I3- und I2-/I1-Ebene darf nicht so verstanden werden, als gehe man auf diese Weise hinter die Interpretativität selbst zurück oder als überschreite man die Grenze der Interpretativität, die die Grenze meiner Welt und meines Sinns ist. Die Situation in Bezug auf Sinn-Annahmen scheint mir im Bereich der Handlungen ähnlich der im Bereich der Sprache zu sein. So wie wir eine subjektive Sprecher-Bedeutung der Ebene 3 von der gewohnheitsmäßig verankerten SprachBedeutung auf der Ebene 2 unterscheiden, so können wir hier den Sinn-Akteur auf der Ebene 3 (dem das Sinnerfassen gleichsam ein Erschließen von ZuI3-externem Sinn ist) von den gewohnheitsmäßigen verankerten Handlungszusammenhängen auf der Ebene 2 unterscheiden (welche die normative Geltung von Sinn auf der Ebene 3 ebenso verbürgt wie die erfolgreiche Suche nach flüssig funktionieren-
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dem Sinn, sobald auf der Ebene 3 ein Störfall aufgetreten ist, den es zu beseitigen gilt). (b) Analoges gilt auch im Blick auf die Formulierung ‚sinnhafter Seinsbezug‘. Die ZuI-Philosophie ist erklärtermaßen keine Seinsphilosophie in dem Sinne, dass die Seinsstruktur die Struktur der Interpretativität umgrenze, festlege, bestimme. Umgekehrt: was in interpretativem Horizont überhaupt individuiert in den Fokus der Aufmerksamkeit des Erkennens und des Tuns – einschließlich der jeweiligen Sinn-Präsupposition – zu gelangen vermag, kann als zeichen-gebunden und interpretations-bestimmt, kann als interpretativ gefasst werden. In der ZuI-Philosophie geht es nicht um einen (gar im Heideggerschen Sinne fundamentalontologisch gedachten) Seinsbezug. Vielmehr wird selbst der Seinsbezug als Zeichen- und Interpretationsverhältnis gefasst. Ich meine damit (um Heideggers Unterscheidung aufzugreifen) nicht nur den Bezug auf bzw. das Verhältnis zu ‚Seiendem‘ (z. B. Tischen, Stühlen, Elementarteilchen, Gefühlen, Emotionen, überhaupt zu ZuI3-gegebenem Sinn). Seiendem liegen ganz selbstverständlich die Prozesse der Diskrimination, Individuation, raum-zeitlichen Lokalisierung, Spezifikation, sortalen Klassifikation, mithin die diesbezüglichen Versionen von Interpretation im Rücken. Ich adressiere mit dem Wort ‚Interpretativität‘ bzw. ‚interpretativ‘ durchaus eben auch – und auch darin manifestiert sich der radikale Charakter der ZuI-Philosophie – die gegenüber dem Seienden noch grundlegendere Ebene des Seinsverständnisses. Das Making Sense bzw. Making Significance, in dem doppelten Sinne von ‚sinnvoll sein‘ und ‚sich einen Reim auf etwas machen‘, charakterisiert alle drei Ebenen unseres Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses.
4.4 Dezentrierung des Subjekts Was die „Dezentrierung des Subjekts“ angeht, so markiert Angehrn die Problematik gut. Wird Interpretation „im weiten Sinn als Inbegriff der Operationen des Schematisierens, Identifizierens und Auslegens“ verstanden, „die im menschlichen Tun und Erkennen stattfinden, so stellt sich die Frage, wieweit diese Vollzüge durch ein Subjekt veranlasst, wieweit sie intentionale Akte eines Subjekts sind“ (Kap. 2.1). Zu dieser Problem-Konstellation habe ich zunächst zwei Kommentare: (a) Im Blick auf die Rede vom Subjekt ist der Unterschied kardinal zwischen dem alten Sinn solcher Rede als das konstitutive, autarke, schöpfende Subjekt, das sich viele der Leistungen im Blick auf das komplexe Zusammenspiel der Interpretationen in einem flüssig funktionierenden Weltverhältnis als seine Leistung zurechnet. Dieser Subjektbegriff ist im 19. und dann im 20. Jahrhundert mit Recht einer Kritik
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unterzogen worden. (b) Dagegen scheint mir in einem neuen Sinn die Rede von Subjektivität unverzichtbar zu sein. Aber dieses Subjekt ist nicht mehr das skizzierte leistende Subjekt, sondern das im Sinne von Person, Individuum, Mensch anzusehende Subjekt. Was ich meine, ist etwa in dem bei einem Autor wie Nietzsche, mithin bei einem der subtilsten Kritiker des traditionellen Subjektbegriffs, zunächst nicht zu erwartenden Ausdruck ‚autonomes Individuum‘ adressiert. Wichtig scheint mir, dass mit der berechtigten Kritik am alten Sinn der Rede von Subjekt nicht einfach das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird und so getan wird, als könne man die Frage der Subjektivität insgesamt in den Mülleimer der Kritik des 19. und 20. Jahrhunderts verschwinden lassen. Eine solche Haltung schießt zu kurz und verkennt die eigentliche Aufgabe, nämlich eine Reformulierung von Subjektivität zu versuchen, die nicht mehr im Würgegriff der älteren Dichotomie von ‚leistendem Subjekt‘ und ‚anonymem Prozess‘ liegt.
4.5 Subjektbezug und Sinnhaftigkeit Ich teile Angehrns Ansicht, dass die „interpretativen Vollzüge“ Prozesse sind, „in denen das Leben der Subjekte sich vollzieht, indem es ebenso durch diese Prozesse getragen wird, wie es sie aktiv vollzieht, initiiert und verändert“ (Kap. 2.2). Angehrn sieht den „Subjektbezug der Interpretation“ als „ambivalent“ an (ebd.). Es gibt für ihn zwei „Subjektfunktionen“, die sich „überschneiden, wenn das Subjekt zugleich Ursprung des Sinns und Referenzobjekt des Verstehens ist, als das Subjekt, welches Sinn stiftet und für welches es Sinn gibt (bzw. mit Bezug auf welches der Sinn seine Bestimmtheit hat)“ (Ebd.). Er betont, dass „für die hermeneutische Perspektivierung der Interpretation […] die zweite Funktion [entscheidend ist], welche die Bedeutung hervortreten lässt, die eine bestimmte Profilgebung, eine bestimmte Zusammenhangsbildung für ein erlebendes Subjekt hat. Nur insofern sprechen wir von Sinn, als dieser Bezug gegeben ist.“ (Ebd.) Zur Illustration führt Angehrn Heideggers Beispiel des Unterschieds zwischen bloßen Dingen und funktionalen Werkzeugen an. Zugespitzt: „Es gibt Sinn nur für ein Subjekt, im Blick auf seine Erwartungen und Gerichtetheiten, seine Neigungen und Abneigungen, seine Möglichkeiten und seine Mängel.“ (Ebd.) Dazu möchte ich wie folgt Stellung nehmen: (a) Außerordentlich wichtig scheint mir hier das Eintreten in das, was ich in Anklang an Hegel das ‚einheimische Reich des Sinns‘ oder einfacher die ‚Logik des Sinns‘ nennen möchte. ZuI-Philosophie ist eine Anstrengung zur Klärung der Logik des Sinns. (b) Ich möchte weg von der von Angehrn beschriebenen dualistischen Gegenüberstellung von ‚Subjekt, welches Sinn stiftet‘ und ‚Subjekt, für welches es
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Sinn gibt‘ und hin zu der Figur der Drehtür (irgendwie scheint Angehrn das auch zu wollen). Dabei denke ich eher an in sich zurücklaufende Schleifenbildungen, etwa nach Art eines Möbius-Bandes oder komplizierter, aber ebenfalls in Anlehnung an die mathematische Topologie, des näheren die Knotentheorie, an Boromäische Knoten in Sachen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnis. (c) In einem epistemologisch präziseren Sinne möchte ich hier von sinnlogischen Präsuppositionen sprechen, die sich in der Reflexion ebenso wie in unseren verschiedenen Praktiken (also nicht nur in theoretischer, sondern auch in praktischer Einstellung) manifestieren, zeigen oder verdeutlicht werden. (d) Statt von einer „hermeneutischen Perspektivierung der Interpretation“ (Kap. 2.2) möchte ich von einer ZuI-philosophischen Perspektivierung der Hermeneutik sprechen. Hermeneutik (aufgefasst zum einen als die klassische Auslegungskunst und zum anderen als die Heideggersche Hermeneutik der Faktizität) erscheint so als ein Zweig der umfänglicheren und basaleren ZuI-Philosophie, nicht umgekehrt. (e) Prozesse der Profil-, der Zusammenhangs- und der Gestaltbildung möchte ich nicht erst auf der Ebene der von Angehrn beschriebenen Funktionsbezüge als Sinnverhältnisse ansetzen, sondern bereits auf der Ebene der Sinnlichkeit, der Organisationsmuster und Gestaltbildungen sensorischer und perzeptiver Art, lange vor den expliziten und semantischen Sinnzusammenhängen. (f) Entsprechend setze ich Zeichen- und Interpretationsverhältnisse nicht erst auf der explizit semantisch-funktionalen, sondern bereits auch auf der subpersonalen und subpersonal-funktionalen Ebene an, d. h. ich möchte in diesem Sinne auch z. B. körperliche Prozesse wie Kreislauf oder Stoffwechsel, die uns nicht immer bzw. nur bei Störfällen ins Bewusstsein treten, als Zeichen- und Interpretationsprozesse fassen. In solchen funktionalen Systemen haben wir es nicht mit explizit semantischen Sinnverhältnissen zu tun (diese kommen freilich ins Spiel, wenn wir das Tun der Mediziner, z. B. des Internisten, näher in Augenschein nehmen), gleichwohl aber wird wohl kaum jemand ernsthaft bestreiten, dass wir es mit Funktionssystemen zu tun haben, sogar mit solchen, in Bezug auf die wir die normative Frage nach dem richtigen Funktionieren stellen können. Woher diese subpersonalen Funktionssysteme stammen, ob z. B. aus der Evolution oder aus dem Erfordernis des Funktionierens der Teile zu einem Ganzen (welche beiden Positionen in der gegenwärtigen Philosophie der Biologie ebenso heftig erörtert werden wie in der Philosophie des Geistes), diese Frage möchte ich hier nicht im Einzelnen verfolgen. Deutlich ist jedoch, dass auch sie ohne Interpretation gar nicht in Gang und schon gar nicht in Geltung kommen kann. (g) Es braucht kaum eigens erwähnt zu werden, dass ich Angehrns Formulierung vom Sinn „für ein erlebendes Subjekt“ (Kap. 2.2) auch nach der Seite des Erlebens akzentuiert so fasse, dass dieses, mithin dieser Qualia-Charakter (der
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einschließt, wie es sich von innen anfühlt, Sinn zu erleben bzw. in einem Sinnbezug zu stehen), als ein Zusammenspiel unterschiedlicher interpretativer Komponenten verstanden wird. Dabei möchte ich den Aspekt des ‚erlebnismäßigen Sinn-Widerfahrnisses‘ nicht nur nicht bestreiten, sondern nachdrücklich hervorheben, es aber seinerseits auch als passivisches Erfahrnis in seiner interpretativen Verfasstheit adressieren, ohne welche es gar kein erlebnismäßig bestimmtes, d. h. diskriminiertes und individuiertes Widerfahrnis geben würde. Ein nicht-interpretatives Widerfahrnis wäre kein bestimmtes, kein lebendiges Widerfahrnis, wäre ein totes Erlebnis. Angehrn spricht sich für den „engeren sinnbezogenen Interpretationsbegriff“ aus, wobei dieser engere Begriff Interpretation „im Horizont des Sinn- und Subjektbezugs situier[t]“, im Unterschied zu dem Interpretationsbegriff, wie wir diesen „gegenstandsindifferent verwenden und zu einer strukturell-prozessualen Kategorie neutralisieren“ (Kap. 2.2). Von grundsätzlicherer Relevanz aber ist, dass er in diesem Kontext Interpretation „als ein Weiterführen und Ausführen des Verstehens, als eine Art Verstehen zweiter Ordnung“ begreift und „Verstehen ein Erfassen von etwas als etwas meint“ (ebd.). Dazu möchte ich wie folgt Stellung nehmen: (a) Innerhalb des Interpretationsbegriffs mit Stufungen im Sinne von Ordnungen zu arbeiten, finde ich hilfreich. Beispiel: Wir diskriminieren, individuieren und identifizieren einen Text (Interpretation erster Stufe), haben mit diesem Text habituellen Umgang, holen ihn z. B. aus dem Regal und legen ihn den Studenten vor (Interpretation zweiter Stufe), und wir können diesen Text dann in einer Textexplikation deuten (Interpretation dritter Stufe). In diesem Zusammenhang möchte ich noch eine Stufung ins Spiel bringen, die auf die normativen Aspekte zielt. Beispiel: Wir deuten einen Text (Objektbezug gemäß Regeln 1. Stufe); auf die Frage nach der Geltung der objektbezogenen Interpretation verweise ich auf die üblichen oder kanonischen Regeln der Interpretation (Regeln 2. Stufe); und auf die Frage nach der Geltung dieser Regeln zweiter Stufe verweise ich auf deren Eingebettetsein in ein interpretatives Weltbild (Regeln 3. Stufe). Wichtig ist zu sehen, dass alle diese Stufungen vom Charakter der Interpretation sind und unterschiedliche Formen der Interpretativität mit unterschiedlichen Mechanismen und Profilen verkörpern. (b) Während Angehrn Interpretation „als eine Art Verstehen zweiter Ordnung“ fasst (Kap. 2.2), worin der Vorgang Verstehen basaler als derjenige der Interpretation gesetzt ist, drehe ich das Bild um: Verstehen ist eine Art Interpretation. Entscheidend ist der damit einhergehende systematische Unterschied, den ich entlang der Frage nach Gattung und Art verdeutlichen kann. Für Angehrn ist Verstehen Gattung und Interpretation Art. Für mich ist Interpretativität Gattung und Verstehen Art, und zwar Verstehen in seinem engen, d. h. hermeneutisch-
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auslegenden und in seinem weiten, d. h. sinnbezogenen Verständnis. Verstehen ist, so möchte ich im Blick auf die Hermeneutik und das Hermeneutische sagen, diejenige Art von Interpretation, ohne die der Mensch kein Seinsverständnis hätte und ohne die er nicht sinnbezogen leben könnte. (c) Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen (i) dem eher passivischen Erfassen bereits diskriminierter und individuierter Dinge und Sinnverhältnisse und (ii) dem expliziten und aktiven Diskriminieren und Individuieren selbst, aufgrund welcher interpretativen Prozesse es überhaupt erst zu jenem Etwas gekommen ist, das dann erfasst, beschrieben, ausgelegt, verstanden werden kann. Edmund Husserl hat für die aktive Komponente innerhalb des passivischen Erfahrens den trefflichen Ausdruck der ‚passiven Synthesis‘ entwickelt. Darin kommen das drehtürartige Ineinandergreifen passivischer und aktivischer Aspekte und damit der adualistische Charakter dieser Interpretations-Prozesse gut zum Ausdruck. (d) Schon sehr früh (in Abel 1989) habe ich den für die ZuI-Philosophie kardinalen Punkt betont: Dass es Fakten gibt, kann selbst kein Faktum, sondern muss Interpretation sein. Das gilt im Alltag wie in den Wissenschaften und Künsten ebenso wie in den Bereichen der Theorie, der Ästhetik, der Praxis und der Moral. (e) Ich bin durchaus bereit, die Rede von Interpretation auch über den engeren Sinn des Sinnbezugs und Sinnverstehens hinaus zu erweitern. Zwar teile ich Angehrns Auffassung, dass wir die Operationen des Schachcomputers oder die Wirkungsweise von Sensoren für gewöhnlich nicht mit dem Ausdruck ‚Interpretation‘ belegen. Aber gleichwohl sprechen wir z. B. in formalen Sprachen und der Logik davon, dass Termini die ihnen zugehörige Interpretation benötigen. Ohne Interpretation hätten auch die logischen und mathematischen Zeichen, wie überhaupt alle Zeichen, keine Extension und im Falle mathematischer Zeichen keinen Anspruch auf mathematische Geltung. Wer in einer formalen Sprache ein Zeichen „μ“ definiert, d. h. ihm semantische Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen) zuordnet, die es im Grenzfall in allen möglichen Welt identisch beibehält, der führt genau diesen unverzichtbaren Akt der bedeutungs- und referenz-festlegenden Interpretation durch, die auch in jedem noch so entlegenen Auftreten und Verwenden des Zeichens „μ“ jeweils (bewusst oder unbewusst) aktualisiert wird. Dieser Punkt lässt sich mit Blick auf Computer auch durch den Hinweis verdeutlichen, dass diese hinsichtlich ihrer Verfahren der effektiven Berechenbarkeit in Bezug auf die Daten und Informationen durch Regeln der schrittweisen Bearbeitung des Inputs gekennzeichnet sind, die als Interpretationsregeln charakterisiert werden können. Selbst also funktionale Maschinen, d. h. nicht-menschliche und nicht-sinnhafte Artefakte, wären ohne implementierte Mechanismen der Interpretation nicht funktional.
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4.6 Jenseits der Konstruktion Neben der Frage nach dem „Status des Subjekts als Ursprung und Referenzpunkt von Sinnbezügen“ setzt Angehrn in seinem dritten Abschnitt die präzisierende Frage, in welcher Weise das Subjekt in die „Hervorbringung“ der Sinnbezüge „involviert“ ist (Kap. 2.2). Hier möchte er einen „Gegenakzent“ zur „konstruktivistischen Perspektive“ setzen, die „gemeinhin mit dem Interpretationismus assoziiert wird“ (ebd.). Gegen die „aktive, produktive Rolle“ des Subjekts – und generell der Interpretation – möchte die Hermeneutik „einen zweifachen Akzent“ setzen. Sie betont einerseits „die passiv-rezeptive Seite subjektiver Sinnerfahrung“ und andererseits „die Vorgängigkeit des Anderen im Gegebensein des Sinns“ (ebd.). Zunächst möchte ich betonen, dass die ZuI-Philosophie zwar die konstruktionalen Aspekte in unserem Welt-, Fremd- und Selbstverständnis und ‐verhältnis betont, dass sie aber nicht als radikaler Konstruktivismus (Förster, v. Glasersfeld, Maturana u. a.) missverstanden werden darf, demzufolge alles, was als Wirklichkeit gilt, letztlich ein Produkt der konstruktionalen Einbildungskraft, in meinem Stufenmodell gesprochen: der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse auf der Ebene 3 ist. Um diesen Unterschied auch terminologisch zu markieren, schlage ich die Unterscheidung vor zwischen ‚radikalem Konstruktivismus‘ (der letztlich nicht explizierbar ist) und ‚sinnkritischem Konstruktionalismus‘ (der im Sinne der ZuI-Komponenten unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses nicht zu eliminieren ist, ohne damit die diskriminierten und individuierten Gehalte solcher Verhältnisse selbst zum Einsturz zu bringen). Die ZuI-Philosophie legt hohe Aufmerksamkeit auf die konstruktionalen Elemente. Sie ist aber kein Konstruktivismus. Zur Illustration möchte ich in diesem Zusammenhang die folgenden Punkte betonen: (a) Ich verteidige die Figur des ‚direkten‘ Verstehens, des Verstehens ohne Interpretation3. Diese Situation ist immer dann gegeben, wenn wir unser Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln flüssig fortsetzen können, was der Normalfall ist. Das heißt jedoch nicht, dass wir es in diesen Situationen mit gänzlich unvermitteltem Verstehen, mit ‚reiner Unmittelbarkeit‘ ohne jegliches Bedingungsgeflecht zu tun hätten. Im direkten Verstehen handelt es sich nicht um ein magisches Verstehen ohne jedwede Vermittlungen, sondern vielmehr um ein derart flüssig zusammenspielendes Geflecht unterschiedlicher ZuI-Funktionen, dass wir gar nicht bemerken, dass es sich überhaupt um ZuI2- und ZuI1-Verhältnisse handelt. Wir bedürfen in diesen Fällen keines expliziten Zeichen- und Interpretationsschlüssels, sondern sind gleichsam als zeichen- und interpretationselegante Tausendfüßler unterwegs.
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(b) Das Zeichenverstehen enthält unterschiedliche konstruktionale Elemente auf den unterschiedlichen ZuI-Ebenen, die man nicht über einen Kamm scheren darf, sondern deutlich auseinanderhalten muss (vgl. Abel 1997). (c) Wenn wir es mit Störfällen im flüssigen Funktionieren des Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Verstehens, Erlebens und Handelns zu tun haben, tritt aus meiner Sicht ein überaus wichtiger Punkt in den Fokus der Aufmerksamkeit, der zugleich eine Grenze der Reichweite rein konstruktivistischer Aktivitäten und auf epistemologischer Ebene eine Grenze des radikalen Konstruktivismus hervortreten lässt. Der Erfolg einer Konstruktion mit dem Ziel der Beseitigung des Störfalls in Kommunikation, Kooperation und Weltbezug beruht nicht einfach auf den konstruktionalen ZuI3-Elementen (wie z. B. einer neuen Hypothese oder eines Beispiels), sondern darauf, dass wir mittels dieser an eine bereits eingespielte Praxis des Zeichen- und Interpretations-Gebrauchs andocken und eine auch im Störfall selbst noch wirksame flüssig funktionierende Praxis erreichen. Denn dass uns der Störfall überhaupt als solcher identifizierbar ist, setzt sinnlogisch bereits eine Hintergrundfolie voraus, gegen die gelesen er überhaupt erst als ein Störfall auffallen kann. Und diese Hintergrundfolie einer Praxis kann ihrerseits dann nicht nur aus Störfällen bestehen. Die konstruktionalen Elemente und Komponenten sind mithin unverzichtbar und nicht-eliminierbar; aber das heißt keineswegs, dass alles bloß Konstruktion ist. (d) Darüber hinaus ist zu betonen, dass Konstruktion ein Modus von Interpretation bzw. von Interpretativität im weiten Sinne ist. Interpretation ist der weiter gefasste und umfänglichere Begriff. Konstruktionale Interpretationen bilden eine spezifische Art von Interpretation, eben die konstruktional verfahrende. Daher auch macht es guten Sinn zu sagen: jede Konstruktion ist interpretativ bzw. eine nicht-interpretative Konstruktion lässt sich nicht angeben; aber nicht jede Interpretation ist konstruktional im Sinne der Ebene 3. In diesem Sinne gibt es nicht-konstruktionale Interpretation, zum Beispiel ästhetisch (etwa durch einen musikalischen Klang oder eine Farbe) affiziert zu werden. Solche Empfindungszustände sind nicht Resultate eines konstruktionalen und inferentiellen Konzeptualismus. In solchen Erfahrungssituationen wird weder im engeren Sinne konstruiert noch geschlossen. Direkte Wahrnehmung wäre ein weiteres Beispiel. Sie ist nicht von den konstruktionalen Elementen des Verstandes, ist nicht von Begriffen und Konzepten abhängig. Doch wohlgemerkt, Erfahrungsphänomene der genannten Art sind, vornehmlich in ihrer Direktheit, stets bereits situiert, eingebettet, verankert in ZuI2+3-Verhältnissen, deren flüssigem Funktionieren sie ihre Direktheit verdanken. (e) Die ZuI-Philosophie hat also durchaus Raum für die passivischen und rezeptiven Aspekte, die mit dem Erfahrungscharakter im Rahmen der äußeren wie der inneren Erfahrung gegeben sind. Ja, die ZuI-Philosophie gehört zu den Posi-
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tionen, die diese Erfahrungen in ihrem genuinen Charakter gegen reduktionistische Versionen der Naturalisierung oder gar der einer rein physikalistischen oder biologistischen Reduktion, etwa neurowissenschaftlicher Art, verteidigen und kritisch einklagen. (f) Es geht mir hier also nicht um die bei Angehrn formulierte These, „dass wir vorrangig oder ausschließlich – gemäß dem so genannten Vico-Axiom verum et factum convertuntur – die Welt verstehen, die wir selber hervorbringen“ (Kap. 3.1). Wir verstehen viele Dinge, die wir nicht selbst als Personen, Individuen, Menschen und Subjekte hervorgebracht haben (z. B. die Handlungen von Cäsar, ein Gemälde von Mondriaan, die täglichen Börsenkurse oder die Paragraphen eines Rechtssystems). Aber wir treten damit nicht aus der zeichen-gebundenen interpretativen Natur unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses als ganzem, nicht aus den Zeichen-und-Interpretationswelten heraus, in denen wir leben. Die ZuI-Philosophie kann bezogen auf diesen Aspekt als subjekt-transzendierend charakterisiert werden, jedoch nicht als zeichen-und-interpretations-transzendent. Auf diese Weise möchte ich Fuß fassen diesseits der von Angehrn betonten Komponente, dass die Hermeneutik davon ausgeht, „dass wir ursprünglich nicht gemachten, sondern empfangenen Sinn verstehen“ (ebd.). Diese Position führt leicht in einen Dualismus, den Angehrn selbst gerade vermeiden möchte. (g) Mit diesen Präzisierungen im Rücken stimme ich Angehrn zu, wenn er schreibt, dass sich die „Interpretativität unseres Seins“ in einem „umfassenden Kontakt mit der Welt und mit mir selbst“ bewegt, in welchem „ich ebenso erlebend und empfangend wie formbildend und entwerfend bin“, und wenn er zusammenfassend in geradezu zeichen- und interpretationsphilosophischer Perspektive betont: „Beides vollzieht sich in Rastern und Artikulationsweisen, die wir als Gerüst eines weit gespannten Interpretierens fassen können.“ (Kap. 3.1) Genau! Allerdings mit dem wichtigen Zusatz, dass es sich nicht bloß um Raster, Artikulationsweisen, Gerüste handelt, innerhalb deren es dann zu einzelnen Interpretationen kommt, sondern dass es sich um Interpretations-Raster und um artikulative Interpretationsweisen handelt, ohne die wir es weder mit individuierten Erlebnissen und Erfahrungen noch mit Formbildung noch mit Welt- und Sinngestaltung zu tun hätten. (h) Im Rahmen der Frage der Widerständigkeit und des Widerstreitenden sieht Angehrn Interpretation als ‚umfassende Disposition‘, als etwas, das nicht nur konstruierend, sondern auch passivisch empfangend ist. Auch dieser Sichtweise stimme ich zu, erneut freilich mit der wichtigen Präzisierung, dass wir sie nicht so lesen, als handele es sich um einen ‚Raum der Disposition‘, innerhalb dessen dann Interpretationen stattfinden können, sondern dass der ‚Interpretativitäts-Raum als Dispositions-Raum‘ gefasst wird. Dispositionen spielen im Raum der Interpretativität eine wichtige Rolle, sind aber nicht die einzigen und nicht die
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letzten Bewohner des Interpretationsraumes, da Interpretativität noch hinter die Disposition zurückgreift und als deren Bedingung der Möglichkeit angesehen werden kann. Dass Dispositionen und Dispositive (Foucault) – z. B. im Blick auf Entscheidungen oder Erfahrungen – möglich sind, ist selbst keine Disposition, sondern verdankt sich bereits vorausliegenden (eröffnenden und/oder begrenzenden) Interpretativitäts-Räumen. (i) Sofern Interpretation stets bestimmte und diskriminierende, individuierende, perspektivierende Interpretation ist, gehört zu ihrer Bestimmtheit, dass sie vieles (wenn nicht das meiste des Pools der Unerschöpflichkeit möglicher Aspekte eines Gegenstandes) notwendigerweise außen vor lässt, mithin stets eingrenzende Interpretation ist, und dies auf allen drei Ebenen. (j) Das schließt ein, dass den jeweiligen Interpretationen und deren aktiver und auch schöpferisch-kreativer Potenz stets und inhärent Grenzen gesetzt sind. Als Beispiel sei die Frage nach der Repräsentationsleistung der Sprache angeführt. Die Grenzen der sprachlichen Repräsentation lassen sich leicht benennen, zum Beispiel die Grenze sprachlicher Prädikate zur Repräsentation phänomenaler bzw. erlebnismäßiger Farb- oder Klangempfindungen oder auch die Grenze der Repräsentation des analogisch verfassten inneren Zustands einer anderen oder der eigenen Person in digitalisierenden Wörtern oder anderen Zeichen3. Solche Widerständigkeit ist noch handfester anzutreffen in Situationen, in denen wir etwas Wollen, aber auf Widerstände der Realisierung, auf Widerstreit treffen. In Fällen des moralischen/ethischen Wollens sind solche Widerständigkeiten und Widerstreite, bis hin zu nicht auflösbaren Gegensätzen, mit Händen zu greifen. Sich in Interpretationswelten zu bewegen und in ihnen zu leben, heißt auch, mit inkompatiblen und widerständigen Interpretationen zu rechnen.
4.7 Die Vorgängigkeit des Anderen und die Gabe des Sinns Angehrn entwickelt eine Sicht von ‚dem, was sich im Sinnverstehen zeigt bzw. manifestiert‘, die sich zwar in einer gewissen Stringenz aus seinem ganzen Ansatz der Hermeneutik des eher passivischen und empfangenden „Sinngeschehens“ (Kap. 3.2) ergibt, die ich aber erklärtermaßen nicht teile. Die Unterschiede kann ich festmachen an der Rede vom „Sich-Zeigen“ und vom „Übersetzen als ZurSprache-Bringen des im Text Angelegten“ (ebd.). Sich-Zeigen. – Angehrn betont, dass die interpretative Konstruktion „etwas aufnimmt, das sich von sich aus zeigt“ und „sich darbietet“, uns von sich aus „anspricht“ und uns von sich aus „etwas sagt“. Er verweist auf gegenwärtige Diskussionen, in denen das „Sichzeigen der Phänomene“, die „Sprache der Dinge“, das „Sichoffenbaren des Lebendigen“ adressiert werden (Kap. 3.2). Mit
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Heidegger wird für die Phänomenologie programmatisch gefordert, „das, was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selber her sehen zu lassen“ (Heidegger 1927: 34). Zugespitzt gehe es darum, „im subjektiven Akt etwas zur Entfaltung zu bringen, was in den Dingen als ihre Wahrheit beschlossen liegt, was von sich aus zum Ausdruck drängt.“ Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf Benjamin und Derrida, die beide von dem „Pathos des Übersetzens als ZurSprache-Bringen des im Text Angelegten“ getragen sind. Angehrn ist der Auffassung, dass diese „umfassende Inversion“ zur „Chiffre des Hermeneutischen“ wird (Kap. 3.2). Es geht um ein Stück sich offenbarenden Sinns, durchaus in einer gewissen Nähe zur theologischen Hermeneutik. So wird konsequenterweise auch die „responsive Struktur“ des „dialogischen“ Verhältnisses zu Sinn und Sinngebilden betont. Interpretation wird vor diesem Hintergrund bei Angehrn als ein „explizierendes Gestalten“ verstanden, das sich als „vernehmendes Verstehen“ vollzieht (ebd.). Meine Kritik in Bezug auf diesen Sinn der Rede vom ‚Sich-Zeigen‘ bezieht sich auf die folgenden Punkte: (a) In den angeführten Formulierungen stecken zwei nicht ausgewiesene und stark metaphysische Annahmen: erstens, dass sich im Zeigen ‚ein Etwas zeigt‘ bzw. ein Ding, Phänomen, Lebendiges oder Sinnhaftes zeigt, und zweitens, dass dieses ‚sich von sich aus zeigt‘. Diese Position lässt sich unter kritischem Vorzeichen für endliche Geister nicht explizieren und verständlich machen. Sie rückt eher in die Nähe einer Offenbarung. Denn sie setzt zum einen einen Dualismus und zum anderen ein vorab strukturiertes Etwas und schließlich ein Interesse dieses vermeintlichen Etwas voraus, sich uns irgendwie zu präsentieren. Die Aufforderung, dasjenige herauszubringen, „was in den Dingen als ihre Wahrheit beschlossen liegt“ und „von sich aus zum Ausdruck drängt“, geht von einem solchen Realismus des Sinngeschehens und von einem externen Ausdrucksdrang, gleichsam von einem metaphysischen Ausdrucks-Conatus des Sinns aus. Dies so deutlich zu sagen, heißt nicht, dass ich die von Angehrn ins Spiel gebrachten Aspekte in Bausch und Bogen ablehne. Aber ich reformuliere die von ihm intendierten Phänomene innerhalb der Zeichen- und Interpretationsphilosophie mit einer grundlegend anderen Akzentsetzung und mit anderer Stoßrichtung. (b) Was Angehrn als die „dialogische Struktur“ (Kap. 3.2) unseres Verhältnisses zum Sinn und zu Sinngebilden anspricht, erscheint mir viel zu stark als isolierte Art von Zweierbeziehung zwischen den beiden Polen, dem Subjekt und dem Sinn, konzipiert. Die dialogische Struktur muss meines Erachtens (i) ganz und gar Zeichen- und Interpretations-intern gedacht und entfaltet werden und sie muss zweitens (ii) in die trialogische Struktur bzw. in das Triangel von Ich-Wir-
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Welt eingebettet und vom Interpretationscharakter der dynamischen Ich-Wir-WeltVerhältnisse her verstanden werden. (c) Innerhalb dieses Bildes kann ich leicht auch für den mir wichtigen Punkt argumentieren, dass in jeder subjektiven Interpretation mehr steckt, als man subjektiv weiß und konstruiert (analog etwa zu dem in der Wahrnehmungspsychologie beliebten Slogan ‚Im Sehen steckt mehr, als man sieht‘). Dieses transzendierende Element ist gleichsam das Gegenstück zu der erwähnten Unerschöpflichkeit möglicher Aspekte eines jeden Gegenstandes. Es steckt darin, wenn man so will, die ganze Interpretativität (z. B. die ganze evolutionäre Vorgeschichte oder, im Falle der Handlung, die ganze Lebensgeschichte der handelnden Person), ohne die das subjektive Interpretieren3 nicht das wäre, das es ist. Auf diese Weise transzendiert sich jede Interpretation3 gleichsam ein Stück in das Netzwerk ihrer Bedingungen hinein, nicht jedoch wird damit aus der Interpretativität als solcher herausgetreten. (d) Zu Angehrns Auffassung der Interpretation als „explizierendes Gestalten“ im Sinne eines „vernehmenden Verstehens“ (Kap. 3.2) möchte ich kritisch wie folgt Stellung nehmen: Ohne Frage ist Interpretieren ein Gestalten, und Explizieren ist eine bestimmte (nicht die einzige) Weise des Interpretierens. Explikation ist ein Modus der Interpretation, nicht umgekehrt. Interpretativität ist Gattung; Explikation ist Art. Im Stufenmodell der ZuI-Philosophie hat das Interpretieren in unterschiedlichen Modi selbst Dasein, und in einer erfolgreichen Interpretation3 (z. B. einer wissenschaftlichen Theorie oder einer moralischen Begründung) expliziert eine Interpretation in ihrem engen Sinne etwas von der Interpretativität im weiten Sinne der Ebenen 2 und 3. In den Prozessen auf der I3-Ebene wird nicht bloß konstruiert, ist nicht bloß rein ‚konstruierende Vernunft‘ am Werke, sondern auch eine gute Portion ‚vernehmender Interpretation‘ und ‚vernehmender Vernunft‘. Dabei ist, wie oben betont, das Explizieren nicht einfach bloß ein ‚making it explicit‘ (Brandom). (e) Ich möchte hervorheben, dass in der ZuI-Philosophie das Phänomen und die Logik des Zeigens von grundlegender Bedeutung in jedem erfolgreichen Verwenden und Verstehen sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen sind (vgl. SZI Kap. 8). Alles kommt freilich darauf an, wie das Zeigen verstanden wird. Den Kernpunkt meiner Sicht im Verhältnis zu der Angehrns habe ich bereits benannt. Erklärtermaßen spreche ich mich gegen eine ‚Magie des Zeigens‘ aus. Im Unterschied dazu verstehe ich das Zeigen als eine mit der diesseitigen Praxis des Zeichen- und Interpretationsgebrauchs intern verbundene transzendierende Dimension, die mit jeder konkreten ZuI-Verwendung intern verknüpft ist. Im Zeigen bringt sich also nicht ein von unserer ZuI-Praxis gänzlich Unabhängiges und Unaussprechliches in die Präsenz des tatsächlichen ZuI-Gebrauchs. (Zum Interpretationscharakter des Zeigens vgl. ausführlich SZI Kap. 8).
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Übersetzung als Interpretation. – Der zweite Schauplatz, an dem ich einen Unterschied zu Angehrns Auffassung verdeutlichen kann, ist mit der Frage des Übersetzens gegeben, von ihm aufgefasst als „als Zur-Sprache-Bringen des im Text Angelegten“ (Kap. 3.2). Zu diesem Themenkomplex möchte ich wie folgt Stellung nehmen: (a) Die Übersetzungsfrage ist nicht bloß ein Problem der Übertragung von Sinn und Bedeutung aus einer Sprache in eine andere.Vielmehr fasse ich auch die menschlichen Verständigungsverhältnisse als Übersetzungsverhältnisse und diese wiederum als Zeichen- und Interpretationsverhältnisse auf (vgl. detailliert SZI Kap. 5). Übersetzung hat, als Interpretation, konditionalen Charakter für jedes menschliche Fremd- und Selbstverständnis, einschließlich des darin involvierten Weltverständnisses und ‐verhältnisses. Übersetzung ist Grundvorgang. (b) Ich spreche erklärtermaßen nicht von ‚Übersetzung und Interpretation‘ (so als übersetzte man zunächst und nehme dann eine Interpretation vor), sondern von ‚Übersetzung als Interpretation‘, lege den Akzent also ganz auf den interpretativen Charakter des Übersetzens selbst. Vor die Aufgabe des Übersetzens gestellt, tritt die konstitutive Rolle, welche die interpretativen (perspektivischen, kreativen und konstruktionalen) Komponenten im Übersetzen spielen, deutlich vor Augen. Jeder Übersetzer weiß davon ein Lied zu singen. Das sticht besonders ins Auge in Situationen ‚radikaler Übersetzung‘ (Quine), in denen es darauf ankommt, Übersetzungshypothesen zu finden und zu bilden, um überhaupt erste Schritte in die Übersetzung einer bislang unbekannten und durch keinerlei Übersetzungshandbücher erschlossenen Sprache zu unternehmen. Und in zwei gegebenen und wechselseitig bekannten Sprachen (z. B. dem Englischen und dem Deutschen) sind letztendlich die gleichen Fähigkeiten gefragt. Nicht-interpretative Übersetzungen kann es nicht geben. Übersetzungen sind in einem geradezu analytischen Sinne interpretativ – bis hinein in das, was Quine ‚homophone Übersetzung‘ genannt hat. (c) In Bezug auf die Auffassung von Übersetzung „als Zur-Sprache-Bringen des im Text Angelegten“ (Kap. 3.2) lässt sich der aus meiner Sicht entscheidende Punkt mithilfe des Stufenmodells der Interpretation deutlich markieren: Übersetzungen sind, sofern es um Sprache und Texte geht, auf der I3-Ebene angesiedelt, sind Interpretationen3, des näheren I3-Deutungen und I3-Transpositionen. Wenn im Zuge der Übersetzung etwas zutage gefördert oder zur-Sprache-gebracht wird, was im Text, den es zu übersetzen gilt, „angelegt“ ist, so kommt die Frage ins Spiel, was das „Zur-Sprache-Bringen des im Text Angelegten“ denn genau heißen soll. Lesart 1: Es kann heißen, dass, überspitzt formuliert, etwas in den Text gänzlich von außerhalb der Sprache und vorab Eingespeistes in der Übersetzung nun explizit gemacht, herausinterpretiert wird. Das wäre eine Lesart, welche die
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semantischen Merkmale der Wörter einer Sprache oder nicht-sprachlicher Zeichen so versteht, dass diese gleichsam von außen nach Art einer Injektion in die Wörter und Zeichen gespritzt wurden und nun in einer gelingenden Übersetzung zur Sprache gebracht werden. Diese Lesart wäre in ihrer starken Variante eine Form von Magie der Wörter und Zeichen. Das ist, so unterstelle ich, nicht die von Angehrn adressierte Lesart. Gleichwohl nehme ich hier diese strikte Unterscheidung zweier möglicher Lesarten vor, um den für die ZuI-Philosophie kennzeichnenden Punkt in Sachen Übersetzung plastisch zu verdeutlichen. Lesart 2: Im Übersetzen, aufgefasst als Interpretation3, wird in der Tat auch etwas zutage gefördert, das im Text bereits angelegt, noch nicht jedoch offenkundig zutage lag. Es sind dies Aspekte der Bedeutung und der Referenz des Wortes oder Zeichens, das zur Übersetzung gebracht wird. Das, was da zutage gefördert wird, hat im Kern mit der auf der Ebene 2 umgrenzten Sprach- und Zeichen-Bedeutung (z. B. eines Wortes oder Ausdrucks des Deutschen, oder z. B. einer Körpergeste im mitteleuropäischen Raum) zu tun und kann darüber hinaus Aspekte der Sprachlichkeit sowie des Zeichencharakters des jeweiligen In-derWelt-seins, mithin Aspekte der I1-Ebene ans Licht bringen. Das Zur-SpracheBringen ist dann ‚diesseitiges und sprach- sowie zeichen-intern‘, ohne metaphysische ‚Hinterwelten‘ (Nietzsche), die auf wundersame Weise den Sprung in die Sprache und Zeichen der Übersetzung geschafft haben. Es ist klar, dass die ZuIPhilosophie ganz auf der Seite dieser zweiten Lesart steht.
Literatur Abel, Günter 1989: Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch 96, S. 1 – 19. Abel, Günter 1997: Zeichenverstehen, in: Knobloch, Eberhard (Hg.): Wissenschaft, Technik, Kunst. Interpretationen, Strukturen, Wechselwirkungen, Wiesbaden, S. 1 – 15. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2001a: Zeichen- und Interpretationsphilosophie. Ein Gespräch mit Günter Abel, (G. Abel im Gespräch mit A. Bertschinger, J. Hasa, T. Sugimoto und M. Wild), in: Information Philosophie 29/4, S. 36 – 44. Abel, Günter 2001b: Bewußtsein – Sprache – Natur. Nietzsches Philosophie des Geistes, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 30, Berlin / New York, S. 1 – 43. Abel, Günter 2002: Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Geistes, in: Raters, Marie-Luise / Willaschek, Marcus (Hg.): Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, Frankfurt a. M., S. 365 – 382. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Føllesdal, Dagfinn 2004: Referential Opacity and Modal Logic (Dissertation von 1961), London / New York. Gadamer, Hans-Georg 1965: Wahrheit und Methode, Tübingen.
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Heidegger, Martin 1927: Sein und Zeit, 10. Aufl., Tübingen 1963. Kant, Immanuel 1787: Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904/11; (Nachdruck: Werke. Akademie Textausgabe, Berlin / New York 1968 ff.), S. 1 – 552.
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Interpretation und Selbstbewusstsein Abstract: The paper seeks to demonstrate that self-consciousness is a constitutive aspect of interpretation and that it is thus key for thinking about what interpretation is. The argument proceeds in three steps. First, a critical discussion of Donald Davidson’s thought experiment of radical interpretation is used to support the claim that interpretation qua translation is always bound up with language games that make differences between languages explicit, thus bringing these differences to the fore. Second, the argument demonstrates that the translational mode of making things explicit does not proceed through representation, but through performative transformation: Thus, it develops and changes the very practices that it makes explicit. Third, the argument expands on this claim by putting forward the thesis that explication understood in this way is essential for the human form of life in general, which is to say that making things explicit is an essential element of the realization of self-consciousness. Thus, interpretation is a constitutive element of the realization of self-consciousness and, in turn, interpretation itself has a constitutively self-conscious dimension.
Die Interpretationsphilosophie hat die moderne Philosophie Kants in einer entscheidenden Wendung fortgeführt: Sie geht davon aus, dass der Beitrag des Subjekts zum Erkenntnisgeschehen nicht in Formen, sondern in Praktiken zustande kommt. Hier genau kommt der Begriff der Interpretation ins Spiel. Interpretationen sind diejenigen Praktiken, mittels deren Subjekte prägend an der erkennenden Auseinandersetzung mit Gegenständen teilhaben. Nietzsche hat, wie gerade Günter Abel deutlich gemacht hat (vgl. N), diesen Gedanken im Anschluss an Kant profiliert. Damit hat Nietzsche die kopernikanische Wende zum Subjekt hin methodisch konsequent fortgeführt: Er wendet Kants Gedanken interpretativ und dies so, dass er ihn in Begriffen der Interpretation zuspitzt. Nun geht auf Kant nicht nur die kopernikanische Wende in der Erkenntnistheorie zurück, sondern auch der Gedanke, dass alle Formen des Subjekts unter der Einheit des Selbstbewusstseins stehen (vgl. Kant 1781/87: B 131 ff.). Nietzsche hat mit seiner Zuspitzung des kantischen Ansatzes den Anspruch verbunden, das Subjekt in seiner Zentralstellung aus den Angeln zu heben. Interpretation ist nach Nietzsche als ein übersubjektives Geschehen zu begreifen. Es scheint mir aber unklar, ob unter Rekurs auf ein solchermaßen übersubjektives Geschehen tatsächlich die Struktur des Selbstbewusstseins in Frage gestellt ist (vgl. hierzu Bertram 2009). Es muss also explizit gefragt werden, ob ein Geschehen der Inhttps://doi.org/10.1515/9783110522280-006
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terpretation mit Selbstbewusstsein verbunden ist. Es ist genau diese Frage, die ich in den folgenden Überlegungen angehen will. Ich frage also danach, ob die Interpretationsphilosophie auch, wie die Kantische Transzendentalphilosophie, auf das Selbstbewusstsein des Subjekts rekurrieren muss. Damit geht es mir nicht um eine mehr oder weniger belanglose Analogie. Ich frage nach der Relevanz des Kerns der kopernikanischen Wende für die Interpretationsphilosophie: danach, ob auch mit der Wende die Einheit des Subjekts ins Spiel kommt.¹ Die Frage, die ich verfolge, lässt sich auch direkt auf Basis des Begriffs der Interpretation motivieren. Wenn man sich an einen Vorbegriff der Interpretation hält, kann man folgendermaßen sagen: Interpretation ist die Überführung eines unverstandenen Verständnisgehalts in einen verstandenen Verständnisgehalt. Interpretationen haben in grundlegenden Fällen die formale Struktur: „Der Verstehensgegenstand V bedeutet B“. Man kann es auch direkt mit dem Begriff der Interpretation sagen: „Der Verstehensgegenstand V ist als B zu interpretieren.“ Dabei ist B für denjenigen, der interpretiert, vertraut. V hingegen ist es nicht. V ist unverstanden, unbekannt – in den extremen Fällen dunkel. Diese einfache Erläuterung bringt eine Unterscheidung ins Spiel, die für den Begriff der Interpretation wichtig ist: die Unterscheidung zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten. Interpretation lässt sich mittels dieser Unterscheidung vom bloßen Verstehen unterscheiden: Wer versteht, ist mit Vertrautem konfrontiert. Interpretieren muss hingegen, wer Unvertrautes vor sich hat.² Diese Unterscheidung leitet bereits die klassische Bestimmung der Hermeneutik. Dieser Bestimmung zufolge gilt es, das Unvertraute mittels des Vertrauten zu erschließen. Aber nicht nur in der klassischen Hermeneutik, sondern auch in der modernen Philosophie der Interpretation ist die Unterscheidung von Vertrautem und Unvertrautem leitend. Das macht nicht zuletzt das Gedankenexperiment von der radikalen Übersetzung beziehungsweise Interpretation deutlich (vgl. Quine 1960: 2. Kap.; Davidson 1973). Es ist in seiner Anlage von dieser Unterscheidung geleitet. Sie ist also für den Begriff der Interpretation einschlägig.
In Bezug auf die Interpretationsphilosophie Günter Abels kann ich diese Frage auch noch einmal folgendermaßen erläutern: Abel spricht immer wieder von dem Welt-, Fremd- und Selbstverständnis des Menschen und davon, dieses sei durch und durch von Interpretation geprägt. Das Selbstverständnis bleibt aber in den Erläuterungen eigentümlich blass (vgl. hierzu z. B. Iw 406). Aus diesem Grund geht es mir darum, darüber nachzudenken, ob das Selbstverhältnis tatsächlich als von Interpretation geprägt oder seinerseits für Interpretation prägend zu begreifen ist (vgl. hierzu auch ZdW 266 f.). Günter Abel erläutert diese Unterscheidung auf Basis von Überlegungen Wittgensteins als Unterscheidung von „Zeichen-Vollzug“ und „Zeichen-Deutung“ (vgl. SZI 179 ff.; vgl. hierzu auch Iw 122 ff.).
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Die Unterscheidung von Vertrautem und Unvertrautem allerdings lässt sich nicht aus der Beobachterperspektive treffen. Sie ist an die Perspektive desjenigen gebunden, der versteht beziehungsweise interpretiert. Diese Bindung hat einen besonderen Charakter: Interpretationen setzen voraus, dass derjenige, der interpretiert, sich auf das Unvertraute als Unvertrautes bezieht.Wer interpretiert, muss das ihm Vertraute vom dem ihm Untervertrauten unterscheiden. Er muss diesen Unterschied zu treffen wissen. Dies aber setzt, und damit bin ich bei meiner Fragestellung, Selbstbewusstsein voraus. Interpretierende müssen ein Selbstverständnis davon haben, was sie verstehen und was sie zu interpretieren haben. Nur aus diesem Selbstverhältnis heraus kann Interpretation zustande kommen. Interpretation impliziert in diesem Sinn Selbstbewusstsein. Nun habe ich diese Erläuterung aber nur auf Basis eines Vorbegriffs der Interpretation gewonnen. Ich begreife dies als einen Hinweis darauf, dass es lohnend ist, grundsätzlicher nach dem Zusammenhang von Interpretation und Selbstbewusstsein zu fragen. Inwiefern impliziert ein interpretatives Geschehen Selbstbewusstsein? Wie ist der Zusammenhang zwischen Interpretation und Selbstbewusstsein zu begreifen? Was ist die Basis dieses Zusammenhangs, also die Basis des Bezugs, den Interpretation zum Selbstbewusstsein aufweist? Diese Fragen gehe ich folgendermaßen an: Ich beginne bei dem Begriff der Übersetzung als einem grundlegenden Paradigma der Interpretation. Ich argumentiere, dass Übersetzungen zwischen Sprachen – unabhängig davon, ob wir sie als Nationalsprachen, Soziolekte, Dialekte, Idiolekte oder wie auch immer verstehen – als spezifische Ausprägungen einer Dimension begriffen werden müssen, die konstitutiv für sprachliches Verstehen ist. Ich bezeichne diese Dimension als die explikative Dimension sprachlichen Verstehens. Erst auf der Basis von Explikationen werden, so meine These, Differenzen des Verstehens und damit Interpretationen begreiflich. Es zeigt sich so, dass Differenzen des Verstehens immer mit Formen sprachlich fundierten Selbstbewusstseins verbunden sind. Wenn man Interpretationen als konstitutiv für das menschliche Welt-, Fremd- und Selbstverständnis versteht, muss man aus diesem Grund davon ausgehen, dass diese Interpretationen konstitutiv mit Selbstbewusstsein verbunden sind. Interpretationen kommen nur aus einer selbstbewussten Perspektive zustande.
1 Das Sprachspiel der Übersetzung Im Zuge vor allem des modernen Nachdenkens über Sprache ist immer wieder das Problem der Übersetzung in den Vordergrund getreten. Mit zunehmender Deutlichkeit wurde gesehen, dass Übersetzung von Grund auf zu sprachlichem Verstehen gehört. Gerade Philosophien und Sprachverständnisse, die in einem for-
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malistischen Sinne strukturalistisch argumentieren, haben die Notwendigkeit und Schwierigkeit von Übersetzungen betont (vgl. hierzu Bertram et al. 2008: bes. 135 ff.). Mit diesen Philosophien und Sprachverständnissen wird der Gedanke, dass sprachliche Elemente im Rahmen einer Ordnung der Dinge bestimmt sind, zugunsten des Gedankens, dass die Bestimmtheit solcher Elemente auf einer Ordnung der Sprache beruht, verabschiedet. Vor dem Hintergrund einer solchen Verabschiedung kann es problematisch scheinen, dass sprachliche Elemente in unterschiedlichen Ordnungen unterschiedlicher Sprachen stehen. Folgt daraus nicht, dass sie jeweils nur relativ zu einer gegebenen sprachlichen Ordnung bestimmt sind und dass es einen Austausch zwischen unterschiedlichen Ordnungen nicht geben kann? Folgt daraus nicht, dass die Welt in unterschiedlichen sprachlichen Schemata interpretiert wird, zwischen denen kein Austausch möglich ist (vgl. Quine 1960: 137 ff.)? Überlegungen wie diese lassen sich als Einsatzpunkt von Davidsons Argumentation gegen die Idee eines Begriffsschemas verstehen. Man kann die Argumentation Davidsons in dem Aufsatz Was ist eigentlich ein Begriffsschema? folgendermaßen pointieren: Die Idee einer sprachlichen Ordnung lässt sich aus dem Grund nicht aufrecht halten, dass sprachliche Ordnungen sich nur in Interpretationsprozessen individuieren lassen. Etwas ist eine sprachliche Ordnung nur dann, wenn es sich interpretieren lässt (vgl. Davidson 1974). Interpretationsprozesse wiederum gelingen Davidson zufolge immer nur in Verbindung mit der Welt – so dass in die Individuation sprachlicher Ordnungen immer schon die Welt eingeht. Trifft dies aber zu, dann lassen sich die Ordnungen nicht mehr als Schemata verstehen, in denen die Welt unterschiedlich interpretiert wird. Alle Ordnungen, die sich überhaupt individuieren lassen, das heißt, die sich als Sprachen verstehen lassen, sind Ordnungen, die ein und dieselbe Welt artikulieren.³ Man kann nun argwöhnen, dass Davidson mit diesen Überlegungen der möglichen Verschiedenheit sprachlicher Praktiken nicht in ausreichendem Maße Rechnung trägt. Gerade vor dem Hintergrund von Wittgensteins Lebensform-Begriff kann man sagen wollen, dass das jeweilige Sprechen grundlegend mit sonstigen Praktiken verknüpft ist, so dass es insgesamt in je spezifischer Weise historisch-kulturell verankert ist. Eine derartige Kritik von Davidsons Argumentation aus der Perspektive einer Zeichen- und Interpretationsphilosophie allerdings setzt an einem Punkt an, den Davidson nicht zu bestreiten braucht. Davidson vertritt ja genau die These, dass wir in der wechselseitigen sprachlichen
Neben Davidson vertreten Gadamer und McDowell diesen Gedanken besonders explizit; vgl. (Gadamer 1960) und (McDowell 1994).
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Interpretation die Welt auf eine selbstverständliche Art und Weise miteinander teilen. Er bietet allerdings, so muss man aus Sicht einer Zeichen- und Interpretationsphilosophie insistieren, keine Erklärung möglicher Differenzen von Sprach- und Lebensformen. Damit fehlt Davidson auch die Möglichkeit, das Nichtbestehen von Differenzen zu konstatieren. Das Konstatieren des Nichtbestehens von Differenzen setzt somit voraus, dass auch Differenzen geklärt werden könnten. Wie allerdings lassen sich Differenzen konstatieren? Das bloße Übersetzen reicht dafür nicht hin. Ein Transfer von einer Sprache zur anderen, von einer Äußerung zur anderen führt nur, so kann man aus Davidsons Erläuterung lernen, zu einem selbstverständlichen Zusammenhang von Sprachen. Dass Davidsons Ansatz letztlich einen solchen Zusammenhang behauptet, lässt sich nun folgendermaßen erklären: Davidson trägt Praktiken der differenzbewussten Interaktion zwischen Sprachen keine Rechnung.⁴ Konkrete sprachliche Praktiken, mittels deren Sprecherinnen und Sprecher in Bezug auf die Differenzen ihrer Sprachen interagieren, kommen bei ihm nicht in den Blick. Nun könnte man denken, dass diese konkreten sprachlichen Praktiken keine Rolle spielen, da sie alle in jenem interpretativen Geschehen fundiert sind, das Davidson rekonstruiert. Dies aber genau führt dazu, dass sprachliche Differenz unbegreiflich wird. Und es führt zugleich dazu, dass Davidson sein eigenes Anliegen nicht zu begründen vermag: Wer behauptet, dass zwischen Sprachen keine wesentlichen Differenzen bestehen, muss in der Lage sein, mögliche Differenzen zu konstatieren. Dies aber setzt sprachliche Praktiken des Typs „Ich sage das, was Du mit dem Ausdruck X sagst, mit dem Ausdruck Y“ voraus. Mittels solcher Praktiken interagieren Sprecherinnen und Sprecher in Bezug auf ihr jeweiliges Sprechen. Sie sind die Basis dafür, dass sprachliche Differenzen begreiflich werden. Weitere Beispiele für solche Praktiken sind: „Das Wort ‚sun‘ im Englischen bedeutet ‚Sonne‘.“ „Wenn die Österreicher davon sprechen, dass jemand ‚pragmatisiert‘ ist, meinen sie, dass jemand eine Lebenszeitstellung innehat.“ Mit Davidsons Beispiel kann man auch folgendermaßen sagen: „Wenn Geoffrey sagt ‚It is raining‘ sagt er, was wir dadurch ausdrücken, dass wir sagen ‚Es regnet‘.“⁵
(Vgl. Davidson 1973). Dies ist aus meiner Sicht die Kehrseite der Medaille, deren andere Seite besagt, dass es zum Verstehen nur zweier Individuen bedarf, die wechselseitig miteinander interagieren. McDowell hat Davidson entsprechend dafür kritisiert, dass er der Traditionsgebundenheit sprachlichen Verstehens nicht in ausreichendem Maße Rechnung trage; (vgl. McDowell 2002). Es zeigt sich so, dass es wichtig ist, solche Äußerungen nicht als Elemente der Theorie zu verstehen, die eine Interpretin in Bezug auf das Sprechen ihres Gegenübers gewinnt, sondern als reale Praktiken. Die von Davidson unter Berufung auf Tarski zur Geltung gebrachten Äquiva-
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Praktiken dieses Typs sind entscheidend dafür, sich zu Differenzen zwischen Sprachen zu verhalten und sie begreiflich zu machen – dies gilt für alltägliche Kommunikationen genauso wie für die Sprachphilosophie. Solche Praktiken sind die Basis dafür, um zwischen Sprachen interagieren zu können. Es zeigt sich damit, dass die Differenzen zwischen Sprachen unter Rekurs auf besondere sprachliche Praktiken gedacht werden müssen. In einem Wittgensteinschen Jargon können wir diese Praktiken insgesamt als Sprachspiele der Übersetzung bezeichnen.⁶ Die Sprachspiele der Übersetzung sind oftmals mit besonderen Vokabularen verbunden. Sprachliche Ausdrücke wie ‚sagen‘, ‚meinen‘, ‚bedeuten‘ und viele andere mehr gehören (im Deutschen) fest zu ihnen. Man könnte in einer Austinschen Manier überlegen, ob es ein bestimmtes Vokabular gibt, das für dieses Sprachspiel konstitutiv ist. Ich gehe aber davon aus, dass sich kein bestimmter Bestand ausmachen lässt. Das Vokabular, mittels dessen Interaktionen zwischen Sprachen reguliert werden, unterscheidet sich von Sprache zu Sprache. Und: Es entwickelt sich mit der Zeit. Man müsste das im Detail verfolgen, was ich allerdings hier nicht vermag. Ich will hingegen meine bisherigen Überlegungen in der These bündeln, dass Interaktionen zwischen Sprachen bestimmter Praktiken bedürfen, die man insgesamt als Sprachspiele der Übersetzung bezeichnen kann.
2 Übersetzungen als Explikationen Sind aber Sprachspiele der Übersetzung wesentlich für Interpretationen? Es ist naheliegend zu denken, dass es sich um eine spezifische Form von Interpretationen handelt – um Interpretationen, die es mit der Differenz von Sprachen zu tun haben. Solche Interpretationen, so wird man sagen wollen, haben eine bestimmte Funktion im Rahmen der Sprache. Eine solche Einschätzung aber ist, wie ich nun argumentieren will, falsch. Sprachspiele der Übersetzung haben einen konstitutiven Charakter für sprachliches Verstehen. Wir stoßen hier also auf eine grundlegende Dimension sprachlichen Verstehens, die ich als explikative Dimension sprachlichen Verstehens bezeichne (vgl. Bertram 2006: 5. Kap.). Sprachliches Verstehen ist für uns insofern konstitutiv mit einer solchen expli-
lenzen müssen als Äußerungen verstanden werden, die in unseren Praktiken immer wieder zum Tragen kommen. Wenn man sie als solche Äußerungen versteht, werden sie als Explikationen von Differenzen begreiflich. Genau dies leistet Davidsons Erläuterung der Äquivalenzen nicht. Mit Wittgenstein kann man auch von Sprachspielen der Deutung sprechen. Er erläutert sie folgendermaßen: „‚Deuten‘ aber sollte man nur nennen: einen Ausdruck der Regel durch einen anderen ersetzen.“ (Wittgenstein 1953: § 201).
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kativen Dimension verbunden, als es für unser sprachliches Verstehen wesentlich ist, dass wir uns in der Sprache auf die Sprache selbst beziehen können – oder pragmatistischer gesagt: dass wir uns in unserem Sprechen auf unser Sprechen und sprachliches Verstehen selbst beziehen können. Dem grundlegenden Charakter dessen, worauf wir mit den Sprachspielen der Übersetzung gestoßen sind, können wir uns dadurch nähern, dass wir nach dem Unterschied zwischen sprachlichem Verstehen und einfacher Zeichenverwendung fragen. Dies ist zum Beispiel möglich, indem wir betrachten, wie sich das Sprachverstehen von denen, die Sprache verstehen, von der Sprachbeherrschung eines Papageis unterscheidet. Zumindest nach gängiger Vorstellung von Sprachphilosophen lässt sich der Papagei darauf trainieren, in bestimmten Situationen zuverlässig sprachliche Äußerungen zu produzieren. Zum Beispiel äußert er „Willkommen zuhause“ immer dann, wenn ein menschliches Wesen den Raum betritt, in dem der Papagei sich befindet. Ein solches zuverlässiges Äußerungsverhalten weicht aber von dem Sprachverstehen, das wir für uns reklamieren, in mindestens zwei Hinsichten ab: Erstens stehen für den Papagei einzelne sprachliche Ausdrücke nicht unter vielen anderen sprachlichen Ausdrücken und erhalten unter anderem durch die Stellung unter diesen anderen Ausdrücken Gehalt. Der Papagei äußert „zuhause“ nicht, indem er es zum Beispiel von „in der Fremde“ differenziert. Er gebraucht „willkommen“ nicht im Unterschied von zum Beispiel „herzlich willkommen“. Kurz gesagt: Für den Papagei ist die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke nicht, wie für uns, struktural beziehungsweise holistisch konstituiert. Der zweite Aspekt, in dem der Papagei sein nicht-holistisches Verstehen zeigt, lässt sich folgendermaßen explizieren: Der Papagei kann nicht thematisieren, in welcher Weise er seine Äußerungen in eine Ordnung sprachlicher Ausdrücke einordnet. Er kann seine Äußerung nicht zurechtrücken. Angenommen, man entgegnet ihm einmal „Hör auf mit Deinen Beschimpfungen!“, dann kann er nicht antworten: „Ich habe Sie doch bloß begrüßt.“ Und er kann auch nicht weiter ausführen: „Eine Begrüßung ist keine Beschimpfung.“ Ich halte es für einen gängigen Fehler, in sprachphilosophischen Abgrenzungen zwischen zum Beispiel Papageien und denen, die Sprache verstehen, die beiden Hinsichten, die ich benannt habe, nicht zu unterscheiden.⁷ Gängigerweise wird die besagte Unterscheidung so interpretiert, dass sie den strukturalen Cha Dieser Fehler ist aus meiner Sicht besonders bei Brandom im Spiel. Brandom vertritt in aller Deutlichkeit die These, dass begrifflicher Gehalt durch seine strukturale Einbettung in ein Netz begrifflicher Gehalte konstituiert ist. Er spricht aber immer wieder so, als sei es allein eine pragmatische Frage, ob eine Sprache auch Ressourcen habe, die strukturale Einbettung zu thematisieren (vgl. z. B. Brandom 1994: 194).
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rakter sprachlichen Verstehens zeigt. Im Gegensatz zu uns, die wir Sprache verstehen, sind sprachliche Ausdrücke für den Papagei demnach nicht struktural eingebettet. Dies ist aber nur ein Aspekt des Unterschieds, der sich hier zeigt. Der andere und mindestens genauso wichtige Aspekt liegt darin, dass der Papagei nicht zu den sprachlichen Ausdrücken, die er gebraucht, Stellung zu nehmen vermag. Der Papagei kann nicht explizit machen, wie er einen sprachlichen Ausdruck gebraucht, versteht etc. Die Möglichkeit, zu den eigenen sprachlichen Ausdrücken Stellung zu nehmen, ist so als ein irreduzibles Moment unseres Sprachverstehens zu begreifen. Das lässt sich unter anderem anhand der Frage verfolgen, wann jemand einen sprachlichen Ausdruck versteht. Nehmen wir zum Beispiel eine klassische Prüfungssituation in einem Unterrichtskontext – sei es in Schule oder Hochschule. Wenn hier ein Prüfling zum Beispiel sagen soll, was Transzendentalphilosophie ist, dann reicht es uns nicht, dass er Dinge sagt wie „Die Transzendentalphilosophie ist die Philosophie Kants“ oder „Die Transzendentalphilosophie unterscheidet sich von naturalistischen Ansätzen“. Mit solchen Aussagen zeigt ein Prüfling nur, dass er den Ausdruck zu gebrauchen vermag. Das reicht uns aber für Verstehen nicht aus. Erst wenn es ihm möglich ist, den Ausdruck zu explizieren, gilt der Ausdruck als verstanden (z. B.: „Die Transzendentalphilosophie behauptet, dass die Erkenntnisse vernünftiger endlicher Wesen von Formen geprägt ist, die unabhängig von der Erfahrung Bestand haben“). Unser Test für Verständnis ist nicht Gebrauch, sondern Explikation. Das lässt sich auch an Sprachlernprozessen beobachten. Dort wird nicht nur – wie wir irreführenderweise manchmal sagen – der Gebrauch sprachlicher Ausdrücke trainiert. Es wird insbesondere auch trainiert, den Gebrauch sprachlicher Ausdrücke zu kommentieren (vgl. Bertram 2011: 10. Kap.). Das zeigen all die Spiele, in denen ein Kind sprachliche Ausdrücke vorsätzlich falsch gebraucht, in denen es andere spielerisch korrigiert oder anderen bestimmte Verwendungsweisen eines Ausdrucks dezidiert zeigt oder beibringt. Das Kind versteht ein Wort erst dann, wenn es sich in explikativer Weise zu ihm zu verhalten vermag. Nun ist es allerdings wichtig, die explikative Dimension sprachlichen Verstehens nicht in einer übertriebenen Weise zu behaupten. In diesem Zusammenhang sind Überlegungen Wittgensteins wichtig. Wittgenstein hat im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Frage des Regelfolgens dafür argumentiert, dass es einen Unterschied zwischen deutenden sprachlichen Praktiken und anderen sprachlichen Praktiken gibt (vgl. hierzu nochmals SZI 179 ff.). Es ist aus seiner Sicht wichtig zu beachten, dass nicht alle sprachlichen Praktiken mit einer Deutung, und das heißt: mit deutenden sprachlichen Praktiken verbunden sind (vgl. Wittgenstein 1953: §§ 198, 201). Auch ich halte es für wichtig, dies zu betonen. Daraus folgt aber nicht, dass einfache sprachliche Praktiken unabhängig von Praktiken der Deutung
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funktionieren. Daraus, dass sie faktisch nicht immer in Verbindung miteinander auftreten, folgt nicht, dass sie nicht konstitutiv miteinander verbunden sind. Auch wenn es bei vielen sprachlichen Praktiken nicht zu Explikationen kommt, ist doch sprachliches Verstehen konstitutiv mit Explikationen verbunden.⁸ Wenn dies so ist, kann man sich allerdings fragen, warum so viele Sprachphilosophien die explikative Dimension sprachlichen Verstehens übergehen. Diese Frage lässt sich folgendermaßen beantworten: Sie wird nicht gänzlich übergangen, sondern wird implizit falsch gedeutet und aus diesem Grund für irrelevant erachtet. Die implizite Fehldeutung kann man folgendermaßen fassen: Sprachliche Explikationen repräsentieren andere sprachliche Praktiken.⁹ Wer sagt, dass eine Begrüßung keine Beschimpfung ist, repräsentiert demnach sprachliche Praktiken der Begrüßung in bestimmter Weise. Es wird damit vorausgesetzt, dass Stellungnahmen zu sprachlichem Verstehen nur zur Darstellung bringen, was in sprachlichem Verstehen implizit bereits gegeben ist. Ein solches Verständnis von Explikation lässt sich im Anschluss an Wittgenstein auf den Begriff einer regelhaften Praxis stützen. In der regelhaften Praxis wird demnach das beherrscht, was Formulierungen von Regeln explizit machen. Die Praxis funktioniert, so betont man in repräsentationalistischer Manier, auch ohne Regelformulierungen. Die Repräsentationen verhalten sich parasitär zu dem, was sie repräsentieren. Ein wesentliches Moment einer solchermaßen repräsentationalistischen Auffassung besteht in dem Gedanken, dass die regelhafte Praxis unabhängig von der Explikation konstituiert ist. Wer etwas in einer repräsentationalistischen Weise begreift, muss voraussetzen, dass der repräsentierte Gegenstand unabhängig von der Repräsentation konstituiert ist. Sonst würde Repräsentation nicht funktionieren. Genau diese Voraussetzung lässt sich aber hier nicht halten. Ihre Unhaltbarkeit habe ich bereits gezeigt, indem ich gezeigt habe, dass die expli-
Mit Günter Abel kann man dies hier auch so erläutern, dass man „ein[en] enge[n] und einen weite[n] Sinn“ (ZdW 22) von Interpretation unterscheidet. Im engen Sinn ist Interpretation Explikation – im weiten Sinn Verstehen. Die Explikation ist aber keine „nachträgliche Prozedur, die erforderlich wird, sobald die Zeichen nicht mehr direkt und störungsfrei verstanden und verwendet werden“ (ibd.). Es handelt sich vielmehr um ein konstitutives Moment auch allen direkten und störungsfreien Verstehens. Explizit ist dieses Deutungsschema bei Brandom geworden. Brandom hat die Explikation des Impliziten programmatisch ins Zentrum seines Ansatzes gestellt. Die Explikation wird dabei, allen pragmatistischen Erläuterungen zum Trotz, im Modell einer Repräsentationsbeziehung gedacht (Brandom ist nicht sonderlich explizit in Bezug auf seinen Begriff der Explikation). Sie besteht demnach in einer Repräsentation dessen, was in sprachlichen Praktiken implizit ist. Mit der Explikation kommt demnach nichts zu sprachlichen Praktiken hinzu, was in ihnen nicht bereits enthalten wäre; (vgl. Brandom 1994: 2. Kap.).
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kative Dimension für sprachliches Verstehen wesentlich ist: Sprache versteht nur, wer sich in seinem Sprechen auf sein Sprechen und sprachliches Verstehen zu beziehen vermag. Es gilt also, Explikationen in einer nicht-repräsentationalistischen Weise zu begreifen. Diesbezüglich ist es hilfreich, sich noch einmal eine Situation vor Augen zu führen, in der eine Sprecherin sich explikativ zu etwas verhält, das sie zuvor gesagt hat. Sie kann zum Beispiel sagen: „Wenn ich Dich begrüßt habe, habe ich Dich doch nicht beschimpft!“ Wenn sie etwas Derartiges sagt, dann vertritt sie ihre Äußerung einem oder mehreren anderen gegenüber. Dies bestimmt ihre Äußerung. Eine solche Bestimmung hat eine praktische Dimension. Mit ihr entwickelt sich eine Äußerung weiter. Die Explikation hat, so kann man entsprechend allgemein sagen, einen performativen Charakter. Explikationen bestimmen andere sprachliche Äußerungen. Sprachweisen werden geklärt, eingeschränkt, erweitert und vieles andere mehr. Wir können unser Sprechen und Verstehen dadurch einschränken, dass wir Sprechweisen normieren, dass wir Wörter ausschließen usf. Entsprechend ist es uns umgekehrt möglich, neue Wörter und Sprechweisen zu prägen, neue Formen sprachlichen Ausdrucks zu begründen etc. Allgemein gesagt: Mit Explikationen entwickeln Sprecherinnen und Sprecher ihr Sprechen und sprachliches Verstehen. Auf dieser Basis kann ich nun zu der Ausgangsfrage meiner Überlegungen zurückkehren. Was ist charakteristisch für Interpretationen? Ich habe diese Frage bislang beantwortet, indem ich Explikationen als konstitutiv für sprachliches Verstehen analysiert habe. Interpretationen im Rahmen der menschlichen Praxis sind, sofern sie mit Sprache verbunden sind, immer auch mit Explikationen verbunden. Explikationen sind eine zentrale Praxis im Rahmen der interpretativen Aktivitäten des Menschen. Mittels solcher Explikationen können Sprecherinnen und Sprecher zu ihren Äußerungen Stellung nehmen. Sie können sich auf andere Sprachen beziehen und damit Differenzen der Sprache und des sprachlichen Verstehens begreiflich machen. Dazu sagen sie Dinge wie: „Das Wort ‚sun‘ im Englischen bedeutet ‚Sonne‘.“ Oder: „Engländer sagen ‚I’ll cross my fingers‘, wenn man im Deutschen sagen würde ‚Ich drück’ Dir die Daumen‘.“ Explikative Äußerungen eröffnen einen Spielraum dafür, Unterschiede des Ausdrucks und der Verständigung zu thematisieren. Sie können auf diese Weise Momente markieren, an denen Übersetzungen problematisch oder in gewisser Hinsicht unmöglich werden. Es ist, so gesehen, charakteristisch für Interpretationen, dass wir entsprechend mit Unterschieden von Verständnissen, Sprech- und Handlungsweisen umzugehen vermögen. Wir können solche Unterschiede überwinden oder sie in ihrer Unüberwindlichkeit verständlich machen. Und nicht zuletzt können wir mittels Explikationen, so lässt sich auf Basis der explikativen Dimension
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sprachlichen Verstehens begreiflich machen, den Begriff der Interpretation philosophisch aufklären.
3 Explikation und Selbstbewusstsein Mit den bisherigen Überlegungen allerdings ist noch nicht in ausreichendem Maße geklärt, wie Explikationen innerhalb der menschlichen Praxis funktionieren. Ich habe bislang erst in abstrakter Weise festgehalten, dass sie nicht als repräsentational, sondern als performativ zu begreifen sind. Es gilt damit noch, den spezifisch praktischen Wert dieser Performativität zu klären. Um dies zu leisten, ist es aus meiner Sicht hilfreich, noch ein weiteres Beispiel der Thematisierung von Differenzen des Verstehens zu betrachten. Es handelt sich um ein Beispiel eines interindividuellen Konflikts, wie er unter anderem im Falle von Streitigkeiten in einer Beziehung zutage tritt. Solche Streitigkeiten können nicht nur davon handeln, wie man sich in der gemeinsamen Küche verhält, sondern beziehen oftmals auch explikative Praktiken ein. Dies ist dann der Fall, wenn der Streit davon handelt, wie etwas angemessen zu sagen ist. Nehmen wir an, dass eine Partnerin zu ihrem Partner sagt, sie finde ihn distanziert. Dann kann es sein, dass er entgegnet: „Du meinst wohl, dass ich zur Zeit nicht so aufmerksam bin.“ Daraufhin insistiert sie: „Nein, ich habe ‚distanziert‘ gesagt und das meine ich auch.“ In dieser Weise beharrt die Partnerin auf ihrem spezifischen Sprachgebrauch und macht in dieser Weise Differenzen zwischen ihren und des Partners Verständnissen deutlich. Sie thematisiert die Differenz ihrer Sprechweisen. Ein solches Beispiel macht deutlich, dass der Zusammenhang von explikativen Äußerungen und Differenzen des Verstehens – um es auf eine quineschdavidsonianische Weise zu sagen – zuhause beginnt. Die explikative Artikulation von Differenzen des Verstehens beginnt dort, wo eine Sprecherin einer anderen Sprecherin gegenüber solche Differenzen geltend macht. Und dies ist in vielen alltäglichen Situationen der sprachlichen Interaktion in einer Sprache der Fall. Der Ausgangspunkt für ein Verständnis der explikativen Dimension sprachlichen Verstehens ist also nicht die Konfrontation unterschiedlicher natürlicher Sprachen oder Soziolekte etc.¹⁰ Den Ausgangspunkt bilden unterschiedliche Interaktionen von Sprecherinnen und Sprechern, wie sie sich paradigmatisch im Falle von Beziehungskonflikten zeigen. An solchen Interaktionen zeigt sich, dass Ex-
Diese Feststellung wirft ein Licht darauf, dass die Kategorie der natürlichen Sprache in sprachphilosophischen Fragen nicht sonderlich tragfähig ist. Vgl. hierzu besonders die Überlegungen von Davidson (1986).
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plikationen von Unterschieden des Verstehens nicht bloß solche Unterschiede artikulieren, sondern dass sie dazu beitragen, dass Sprecherinnen und Sprecher ihre spezifischen Perspektiven etablieren. Wer zu seiner eigenen Sprechweise im Unterschied zu den Sprechweisen anderer Stellung nimmt, der gewinnt an eigener Position. Explikationen tragen dazu bei, dass Positionen von Sprecherinnen und Sprechern behauptet werden. Mit dieser Erläuterung klärt sich das performative Moment von Explikationen weiter auf: Explikationen realisieren ein Selbstverhältnis. Das Etablieren einer Perspektive und die Behauptung einer Position sind genau in diesem Sinn zu verstehen: Es sind bestimmte Arten und Weisen der Realisierung von Selbstverhältnis. Wer seine eigene Form des Sprechens und Verstehens anderen gegenüber in Explikationen zur Geltung bringt, der verhält sich zu sich selbst. Explikationen sind das Medium dieses Selbstverhältnisses. Die Explikationen bestimmen nicht nur das Sprechen oder Verstehen. Sie etablieren damit zugleich die jeweilige Position der Sprecherin oder des Sprechers. In diesem Sinn wird das Sprechen oder Verstehen behauptet. Es wird in den Zusammenhang einer bestimmten Perspektive des Sprechens oder Verstehens gerückt. Das performative Moment von Explikationen liegt, um es mit einem Wort zu sagen, darin, dass diese zu Selbstbewusstsein führen. Mit der Behauptung des Sprechens und Verstehens konstituiert sich Selbstbewusstsein. Dabei gehört es zu einer solchen Behauptung wiederum, dass andere auf sie eingehen.¹¹ Wenn die Partnerin zu ihrem Partner sagt, sie meine tatsächlich ‚distanziert‘ und wolle es genau so sagen, und der Partner dann denkt oder sagt „Ach sag doch, was Du willst“, dann nimmt er ihr dadurch die Möglichkeit, sich selbst zu behaupten. Ihre eigene Perspektive bleibt dann, so kann man mit Axel Honneth sagen, unsichtbar (vgl. Honneth 2003). Sie kann sich auf diese Weise gezwungen sehen, sich dem möglicherweise dominierenden Diskurs ihres Partners unterzuordnen. Wenn solche Prozesse der Dominanz und sozialen Einordnung vorliegen, werden Sprecherinnen und Sprecher möglicherweise beginnen, sich auf ihr Sprechen als ein irgendwie kollektiv genormtes zu beziehen. So können sie ihr Sprechen als eines explizieren, das den Formen folgt, in denen „man“ so spricht (vgl. hierzu Heidegger 1927: 126 ff.). Sie können auch ein dezidiert kollektives Selbstbewusstsein im Sinne eines „Wir“ entwickeln. Jeweils können
Es zeigt sich hier, dass Selbstbewusstsein eine irreduzibel sozialontologische Dimension hat. Diese Dimension lässt sich mit dem Begriff der Anerkennung einholen. Ich werde auf diesen Begriff, der vor allem von Hegel in Anschluss an Fichte profiliert worden ist, hier nicht weiter eingehen, da es mir allein um den Zusammenhang geht, in dem Interpretation zu Selbstbewusstsein steht. Vgl. hierzu u. a. Bertram (2008).
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solche Formen damit verbunden sein, dass es Individuen verwehrt ist, als solche zu Selbstbewusstsein zu kommen. Erst der Zusammenhang von sprachlicher Explikation und Selbstbewusstsein erlaubt es, die performative Eigenart der explikativen Dimension sprachlichen Verstehens zu begreifen. In explikativen Äußerungen entwickeln wir unser sprachliches Verstehen. Mit dieser Entwicklung werden wir in dem Verstehen selbstbewusst. Dabei hat Selbstbewusstsein, wie angedeutet, keine bestimmte vorgezeichnete Form, sondern entwickelt sich in unterschiedlicher Weise – es ist also nicht notwendigerweise mit Subjektivität verbunden. Dies hat niemand so klar gesehen wie Heidegger, der entsprechende Unterschiede etwas stereotyp mit den Begriffen „uneigentlich“ und „eigentlich“ umrissen hat (vgl. nochmals Heidegger 1927: S. 129 u. a.). Es geht mir hier aber nicht um die Frage des Selbstbewusstseins als solche, sondern um die Frage, inwiefern Interpretation wesentlich mit Selbstbewusstsein zusammenhängt. Mit Explikationen werden Praktiken sprachlichen Verstehens selbstbewusst. Da Explikationen für sprachliches Verstehen konstitutiv sind, ist es damit auch für sprachliches Verstehen konstitutiv, mit Selbstbewusstsein verbunden zu sein. Wenn Interpretationen aus ihrem Zusammenhang mit Explikationen heraus zu denken sind, dann folgt daraus, dass Interpretationen konstitutiv mit Selbstbewusstsein verbunden sind. Der Zusammenhang ist damit allerdings erst in einer sehr allgemeinen Art und Weise beleuchtet. Ich will ihn dadurch etwas weiter aufklären, dass ich noch einmal auf die Frage zurückkomme, inwiefern für Interpretationen Differenzen des Verstehens wesentlich sind. Wir können diese Frage mit Goodman zum Beispiel folgendermaßen artikulieren: Inwiefern können wir sagen, dass unsere Interpretationen unterschiedliche „Weisen der Welterzeugung“ (Goodman 1978) realisieren? Um diese Frage zu beantworten, komme ich noch einmal auf sprachliches Verstehen zurück. Wie werden Differenzen sprachlichen Verstehens realisiert? Sprachliche Verständnisse können wir nicht als in einer Weise strukturiert begreifen, dass sie sich als solche von anderen sprachlichen Verständnissen unterscheiden. Sprachliche Verständnisse haben als solche keine Struktur. Was auch immer wir sprachlich verstehen, hören oder lesen wir direkt in einer bestimmten Weise. Von Strukturen sprachlicher Ausdrücke können wir erst aus der Perspektive von Explikationen unserer Verständnisse sprechen, in denen wir die Bestimmtheit durch Angabe von Beziehungen, in denen sprachliche Ausdrücke für uns stehen, klären. Dadurch gewinnen wir die Idee einer bestimmten Struktur, in der sprachliche Ausdrücke stehen. Wir können damit zugleich Unterschiede von Strukturen profilieren, also thematisieren, dass ein Verständnis sich von einem anderen unterscheidet. Mit einer Explikation wie „Junggesellen sind unverheiratete Männer“ gewinnen Verständnisse eine strukturale Bestimmtheit. Eine
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solche strukturale Bestimmtheit lässt sich wiederum explikativ gegenüber anderen strukturalen Bestimmtheiten profilieren. Die strukturale Bestimmtheit sprachlicher Verständnisse, die dabei ins Spiel kommt, muss als etwas begriffen werden, das durch Explikationen entwickelt wird. Auch wenn alle sprachlichen Verständnisse, die wir haben, als solche bestimmt sind, ist diese Bestimmtheit erst dann geklärt, wenn sie explikativ entwickelt ist. Die Bestimmtheit kann also nicht als etwas Gegebenes begriffen werden. Sie hängt von der Entwicklung explikativer Sprechweisen ab. In Bezug auf Differenzen des Verstehens heißt dies: Auch solche Differenzen können nicht als etwas Gegebenes begriffen werden. Wo sie uns begegnen (ob in der interindividuellen Interaktion oder in Bezug auf natürliche Sprachen oder noch einmal anders), müssen wir sie als etwas begreifen, das wir in irgendeiner Weise entwickelt haben. Die Entwicklung von Differenzen des Verstehens geschieht im Medium explikativer Äußerungen. Ich habe oben bereits dargelegt, dass dabei nicht in erster Linie Differenzen unterschiedlicher natürlicher Sprachen ins Gewicht fallen. Dies ist zwar möglich, aber kein notwendiges Moment der Thematisierung von Differenzen des Verstehens. Vielfach geht es in einer entsprechenden Thematisierung um individuelle Unterschiede oder um Unterschiede unterschiedlich bestimmter Kollektive, werden also im Zuge der Thematisierung Instanzen herangezogen, an denen je unterschiedliche Verständnisse festgemacht und dadurch profiliert werden. Im Zuge solcher Profilierungen wiederum kann es dazu kommen, dass Kollektive geformt werden, die als Träger natürlicher Sprachen oder von Sprachfamilien begriffen werden. So können wir anfangen, Verständnisse unterschiedlicher Sprachräume zu unterscheiden. Für alle Profilierungen dieser Art gilt aber, was ich gerade festgehalten habe: Die Bestimmtheiten und Unterschiede der Verständnisse, die ins Spiel kommen, können nicht als etwas Gegebenes begriffen werden. In dem Maße, in dem wir solche Bestimmtheiten und Unterschiede explizieren, entwickeln wir sie zugleich. Entscheidend für diesen Begriff von Differenzen des Verstehens ist es, so gesehen, dass wir die interpretative Dimension sprachlichen Verstehens als eine solche begreifen, die von uns immer auch mit entwickelt worden ist. Bestimmte Interpretationen sind in ihrer Bestimmtheit nicht gegeben, sondern explikativ geformt. Mit einer solchen explikativen Formung ist Interpretation ein konstitutiv selbstbewusstes Geschehen. Es ist eine falsche Objektivierung, Differenzen des Verstehens und der Interpretation als etwas zu begreifen, das gegeben ist. Wenn man von gegebenen Unterschieden des Verstehens ausgeht, unterschlägt man in einer neopositivistischen beziehungsweise neoempiristischen Attitüde das Moment, dass Verstehen und Bedeutung für uns immer damit verbunden ist, dass wir uns zu uns verhalten, dass wir zu unserem Verstehen Stellung nehmen. Selbst-
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bewusstsein entwickelt sich damit in unterschiedlicher Weise im Zusammenhang mit der Entwicklung des Verstehens. Es scheint mir so erforderlich, für ein Verständnis von Interpretation die kopernikanische Wende zurückzugewinnen, wie sie das späte 18. Jahrhundert zutage gefördert hat. Interpretation, so hat sich gezeigt, ist von Explikationen geprägt. Wer interpretiert, kann Verständnisse als solche und in ihren Verhältnissen zu anderen Verständnissen explizieren. Damit aber gewinnt Interpretation eine selbstbewusste Dimension. Die explikativen Praktiken, mittels deren Verstehende ihre Verständnisse thematisieren und dadurch entwickeln, sind damit verbunden, dass Sprecherinnen und Sprecher wechselseitig zueinander Stellung nehmen. Dies lässt sich auch so artikulieren: Verständnisse sind dadurch als bestimmt zu verstehen, dass jemand zu diesen Verständnissen Stellung nimmt. Mit einer solchen Stellungnahme allerdings ist Selbstbewusstsein konstituiert. So zeigt sich, dass für Interpretation Selbstbewusstsein konstitutiv ist. Die kopernikanische Wende, die mit dem Interpretationsbegriff verbunden ist, fällt aber hier anders aus als in der kantischen Transzendentalphilosophie. Das Selbstbewusstsein ist nicht die grundlegende Basis aller Interpretationen. Es ist keine transzendentale Form, die alle Interpretation begleitet. Vielmehr ist das Selbstbewusstsein im Zusammenhang mit Interpretation konstituiert und umgekehrt. Aus diesem Grund lässt sich, wie angedeutet, Selbstbewusstsein hier als ein Sichzusichverhalten begreifen, das in unterschiedlicher Weise auszufallen vermag. Damit wird verständlich, dass eine Interpretationsphilosophie nicht einfach als eine Transzendentalphilosophie mit anderen Mitteln zu begreifen ist. Das Selbstbewusstsein wird durch sie als eine Dimension im Rahmen der Praktiken der Interpretation begreiflich – als eine Dimension allerdings, die nicht einfach durch Interpretationen erschlossen wird, sondern die ihrerseits für Interpretationen genauso konstitutiv ist, wie diese es für sie sind.
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Selbstbewusstsein als zeichen-interpretatives Selbstverhältnis Replik zum Beitrag von Georg W. Bertram
1 Zeichen- und Interpretationsphilosophie in Kantischer Tradition Georg W. Bertram stellt in seinem Beitrag mit Recht heraus, dass die Interpretationsphilosophie in der Linie einer Weiterentwicklung der Kantischen Philosophie gesehen werden kann und sollte. An anderer Stelle habe ich diesen Zusammenhang explizit betont. Und vor allem sieht Bertram den in diesem Zusammenhang überaus wichtigen Punkt einer zeichen- und interpretationsphilosophischen Transformation der Transzendentalphilosophie, die sich unter anderem darin zeigt, dass die Rolle des Subjekts im Sinne der Kantischen ‚Kopernikanischen Wende‘ „in Begriffen der Interpretation“ radikalisiert und darin nicht mehr in einem formalen Sinne bzw. in Formen, sondern „in Praktiken“ zum Zuge kommt (Bertram-Beitrag: vor Kap. 1). In diesem Sinne ist Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] eine pragmatische Philosophie, die, was den Zusammenhang mit der Kantischen Philosophie angeht, an die pragmatischen Elemente in Kants Denken anknüpft. Mit Recht sieht Bertram auch Nietzsches Denken in der Kantischen Tradition. Freilich ist mir in diesem Zusammenhang ein Unterschied zu der von Bertram angesprochenen Verbindung der Interpretationsphilosophie zu Nietzsches entsprechendem Vorgehen wichtig. Anders als Nietzsches subjektivistische Überbietung der Kantischen Kopernikanischen Wende im Hinblick auf die Rolle des Subjekts in der Erkenntnis, verteidigt die ZuI-Philosophie stärker das Bild des Triangels bzw. der gleichursprünglichen triangulären Relation zwischen Ich, Wir und Welt. Die Prozesse dieser triangulären Relationen können als ‚interpretativ‘ bzw. als ‚Interpretation‘ in prädikativer Stellung qualifiziert werden. Es geht mir nicht primär um inner-psychische Mechanismen der personalen Interpretation – was für sich genommen ein überaus wichtiger Bereich ist –, sondern eher um das Verhältnis von ‚internen‘ und ‚externen‘ Relationen, von ‚interner‘ und ‚externer‘ Interpretativität. Und dieses Verhältnis wird dann so konzipiert, dass die internen Relationen so stark gemacht werden, dass sie auch die externen beherrschen, was https://doi.org/10.1515/9783110522280-007
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diesen aber nicht ihren externen Charakter nimmt, sondern diesen überhaupt erst verständlich macht. Mit der Kopernikanischen Wende in der Erkenntnistheorie ist bei Kant zugleich die für die Transzendentalphilosophie insgesamt grundlegende These verbunden, dass alle Aktivitäten und Formen des Subjekts „unter der Einheit des Selbstbewusstseins“ (vor Kap. 1) stehen bzw. Selbstbewusstsein und dessen Einheit stets bereits in Anspruch nehmen müssen, soll es sich überhaupt um innere oder äußere Erfahrung handeln können. Selbstbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein gehen, so könnte man sagen, in der Kantischen Philosophie Hand in Hand und letzteres ist ohne ersteres nicht möglich. Werden nun die ZuI-Prozesse als ein „übersubjektives Geschehen“ (ebd.) begriffen, so gelangt man schnell zu der von Bertram gut markierten und überaus wichtigen Frage, ob solches Interpretationsgeschehen (in dessen Lichte das traditionelle Subjekt als von Interpretationsprozessen stets bereits abhängig gedacht wird) auf die Figur des Selbstbewusstseins und des näheren auf die Einheit des Selbstbewusstseins „rekurrieren“ muss oder nicht (ebd.). Mit Bezug auf die von mir oft verwandte Figur des interpretativ verfassten menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses stellt Bertram die grundlegende Frage, „ob das Selbstverhältnis tatsächlich als von Interpretation geprägt oder seinerseits für Interpretation prägend zu begreifen ist“ (Anm. 1). Bertrams Beitrag stellt im Blick auf eine Beantwortung dieser Frage wichtige Überlegungen an.
2 Sieben Zeichen- und Interpretationsphilosophische Thesen zum Selbstbewusstsein Meine Position in Sachen Selbstbewusstsein möchte ich, bevor es zur Erörterung einzelner Aspekte kommt, in die folgenden sieben Stellungnahmen fassen: (a) Ich konzipiere ‚Interpretation‘ bzw. ‚interpretativ‘ nicht als die interne Überspitzung der Figur des Subjekts im Sinne der Kantischen Kopernikanischen Wende, sondern als die Charakterisierung der triangulären Relationen bzw. des Triangels von Ich,Wir und Welt bzw. der Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse. Ich verwende ‚Interpretation‘ bzw. ‚interpretativ‘ vor allem also in prädikativer Stellung. (b) Da die Pole und Relationen dieses Triangels als gleichursprünglich relevant gedacht und als interpretativ qualifiziert werden, wird die Frage nach dem Selbstbewusstsein zu einer Frage zunächst des Selbstverhältnisses und darin der Selbstinterpretation im Lichte zugleich der Fremd- und Weltinterpretation.
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(c) Diese Wende führt weg von der Vorstellung, es existiere vorab fertig eine rein formale Struktur bzw. eine transzendentale Form des Selbstbewusstseins, welche konditional für ein jedes Gegenstandsbewusstsein gedacht und gleichsam als eine Vorabgröße präsupponiert werden müsse (insbesondere im Blick auf den für Kant so wichtigen Zusammenhang zwischen der ‚Einheit des Bewusstseins‘ und der ‚Einheit der Erfahrung‘). (d) Auf diese Weise erhält der Sinn von Selbstbewusstsein in der ZuI-Philosophie ein neues Profil im Sinne eines interpretativ verfassten Selbstverhältnisses/-bezugs und eines veränderten epistemischen und epistemologischen Status. Ich bestreite also keineswegs die überaus wichtige Rolle der Selbstbezüglichkeit innerhalb des Triangels von Welt-, Fremd- und Selbstverständnis/-verhältnis. Jedoch werden Profil, Verfasstheit, Status und Rolle von Selbstbewusstsein in anderem Lichte gesehen als in der Kantischen Philosophie. (e) Wenn eine historische Reminiszenz erlaubt sei, haben Profil und Status des Selbstbewusstseins in der ZuI-Philosophie weniger mit der Kantischen ‚Einheit der transzendentalen Apperzeption‘, als vielmehr etwas mit Hegels Konzeption des Selbstbewusstseins im Abschnitt IV seiner Phänomenologie zu tun, wo Selbstbewusstsein und Fremdbewusstsein in gleichsam horizontaler Perspektive zwischen jeweils beteiligten Personen nicht nur wechselwirken, sondern beide, Selbst- und Fremdbewusstsein, ebenso wie ihre Interaktionen, als zeichen-vermittelt und als reziprok interpretativ verfasst charakterisiert werden können. (f) Wichtig zu sehen ist auch, dass es in der ZuI-Philosophie nicht darum geht, unterschiedliche Modelle von Selbstbewusstsein sowie die gegen diese vor allem in neuerer Zeit vorgebrachten Einwände (etwa empirischer, gesellschaftstheoretischer, analytischer Provenienz (vgl. dazu Düsing 1997)) zu diskutieren und sie hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeiten zu evaluieren. So geht es zum Beispiel nicht um die Frage, woher das Selbstbewusstsein seine jeweilige Ausprägung, seine Form und seine Gehalte erlangt (ob z. B. aus dem gesellschaftlichen, dem empirisch-psychologischen, dem vorstellungsmäßigen, dem reflexiven, dem intentionalen, dem voluntativen, dem epistemologischen Raum). Kurz, es geht hier nicht um Aspekte einer ‚Theorie des Selbstbewusstseins‘.Vielmehr geht es um die Frage, welche Rollen Selbstverhältnisse und Selbstverständnisse innerhalb des Triangels von Ich-Wir-Welt spielen und welcher epistemische und epistemologische Status diesen Rollen zukommt. Ich bin im Folgenden also weniger an Modellen des Selbstbewusstseins als vielmehr an der tatsächlichen Rolle und dem Status der Selbstverhältnisse, Selbstverständnisse und des Sich-zu-sich-Verhaltens innerhalb des skizzierten Triangels interessiert. (g) In Sachen Selbstbewusstsein ist die Rede von ‚Subjekt‘ vor allem mit der Erkenntnistheorie verknüpft.Wird das Interpretationsgeschehen als umfänglicher angesetzt (was ich tue) und das Subjekt dann als ein Interpretationskonstrukt
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gefasst (was ich ebenfalls tue), dann heißt dies auch, dass andere Kandidaten innerhalb der Triangulation von Ich, Wir und Welt stärker in den Blick treten, vor allem die Rede von ‚Individuum‘, ‚Person‘, ‚Persönlichkeit‘, ‚indexikalisches Ich‘, ‚Ich als Bezeichnung und Standort‘. Es ist meines Erachtens sehr wichtig zu sehen, dass diese letztgenannten Größen (auch angesichts aller Kritik am Konzept eines leistenden Subjekts im Sinne der klassischen Erkenntnistheorie) nicht nur weiter im Spiel bleiben, sondern im Zuge bekannter Kritiken vor allem am Cartesianischen Selbstbewusstseinsmodell an Wichtigkeit gewinnen.¹ Entsprechend wird zum Beispiel die Rede von der ausgeprägten ‚Persönlichkeit‘ oder die vom ‚Individuum‘ in dieser Perspektive nicht als solipsistisches Ego oder als atomistisches Subjekt, sondern stets bereits als eine in ihrem Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis verankerte und ruhende Art Drehscheibe der Interaktionen der Pole und Relationen des Triangels von Ich, Du/Wir und Welt konzipiert. Die entsprechenden Figuren stehen nicht mehr im Würgegriff des älteren Konzepts des leistenden Subjekts. Zugleich kann Subjektivität reformuliert werden, ohne damit in das Bild solipsistischer Egos und des ‚logischer Egoismus‘ (Kant) zu verfallen. Also: ohne Selbstverhältnis kommen wir nicht nur nicht aus, sondern können wir im Sprechen, Denken und Handeln kaum einen Schritt tun; aber daraus folgt keineswegs, dass wir so etwas wie die ‚transzendentale Einheit der Apperzeption‘, mithin Selbstbewusstsein in dem starken Kantischen Sinne vorauszusetzen und in Anspruch zu nehmen hätten.
3 Interpretation: Überführung von unverstandenem in verstandenen Gehalt? Auf dem Boden des Interpretationsbegriffs nimmt Bertrams Leitgedanke die Form an, dass Interpretation die „Überführung eines unverstandenen Verständnisgehalts in einen verstandenen Verständnisgehalt“ darstellt (vor Kap. 1). Bertram sieht Interpretieren immer dann erfordert, wenn wir es mit „Unvertrautem“ zu tun haben, das es „mittels des Vertrauten zu erschließen“ gelte (ebd.). Die Unterscheidung zwischen Vertrautem und Unvertrautem ist ihm wichtig. Entsprechend wird ein Unterschied betont zwischen ‚Verstehen‘ und ‚Interpretieren‘ entlang des Slogans: „Wer versteht, ist mit Vertrautem konfrontiert. Interpretieren muss hingegen, wer Unvertrautes vor sich hat.“ (Ebd.) Diesen Unterschied sieht Bertram als eine Erläuterung meiner Unterscheidung zwischen Zeichen-Vollzug und Zeichen Vgl. den trefflichen Slogan der Nietzsche-Tagung Naumburg 2012 „Die Ohnmacht des Subjekts und die Macht der Persönlichkeit“.
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Deutung an. In Bezug auf diese wichtige Figur möchte ich wie folgt Stellung nehmen: (a) Den Interpretationsbegriff auf die Funktion der genannten Überführung zu begrenzen, läuft im Lichte des umfänglicheren und in prädikativer Stellung verwendeten Interpretationsbegriffs des 3-Stufenmodells der ZuI-Philosophie darauf hinaus, sich auf die Ebene der Interpretationen3 zu beschränken. Denn es ist auf dieser Ebene, dass wir uns fragen, wie wir einen unverstandenen (oder nicht mehr verstandenen) Gehalt in einen dann verstandenen (oder wieder verstandenen) überführen. Eine solche Begrenzung ist natürlich ganz in Ordnung. Sie begrenzt jedoch die Betrachtung von vornherein auf die Reichweite des Interpretation3Begriffs. Das Objekt der Interpretation3 ist in dieser Einstellung stets bereits als etwas fertig Gegebenes (in diesem Falle gegeben, aber unverstanden) vorausgesetzt. Die Mechanismen zum Beispiel des Diskriminierens, des Individuierens, des raum-zeitlichen Lokalisierens und des sortalen Klassifizierens (welche als interpretativ qualifiziert werden können) sind darin bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Der Interpretationsbegriff der ZuI-Philosophie ist jedoch erklärtermaßen nicht auf die aneignende und deutende Interpretation3 begrenzt. Vielmehr rückt sie das ganze Spektrum und die unterschiedlichen Stufen der ZuIVerhältnisse in den Fokus der Aufmerksamkeit und macht dieses Szenario zum Leitfaden der Betrachtung. In der ZuI-Philosophie geht es in diesem weiten Sinne auch um diejenigen Mechanismen, die überhaupt erst dazu führen, einen unverstandenen Gehalt in einen verstandenen Gehalt überführen zu können, – welche Überführung neben den Interpretationen3 stets auch Interpretationen2+1 in Anspruch nehmen muss. (b) Selbst auf der Ebene der Interpretationen3 (d. h. der aneignenden Interpretationen im Sinne nachträglicher Deutungen von vorhandenen Objekten und kulturellen Sinngebilden) handelt es sich um mehr als bloß um eine Überführung in dem von Bertram angeführten Sinne. ‚Überführung‘ klingt ein wenig so, als gehe es dabei um das Überführen von implizit fertig vorhandenem, aber noch nicht verstandenem Verstehensgehalt in dann explizit verstandenen. Bereits jedoch mit dem Akt der deutenden und aneignenden Interpretation3 kommt ein Surplus, ein Mehrwert, ein zusätzliches und neues Element im Blick auf den deutungs- und aneignungsbedürftigen Gegenstand und Sinn ins Spiel. Es wird nicht nur ‚überführt‘, sondern darüber hinaus ergänzt, supplementiert, hinzugefügt, Deutungsdefizite aufgefüllt, arrondiert, vervollständigt, erweitert, reorganisiert, andere Elemente eingefügt und adoptiert, manches getilgt, weggelassen, aussortiert, als peripher eingestuft, als unvertraut beiseite gelassen, suspendiert, kurz: sobald Interpretationen3 ins Spiel kommen (und das müssen sie, sobald Störfälle im flüssigen Funktionieren des Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns eintreten), kommt es nicht einfach lediglich zu Fort-
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schreibungen von bereits Vorhandenem, sondern auch zu einer Re-Organisation des Materials ebenso wie des Sinns. Man denke an den einfachen Umstand, dass es dann, wenn die Sprache und mit dieser die Semantik explizit ins Spiel kommen, nicht einfach nur zu einer Fortschreibung desselben syntaktischen Bestandes mit anderen, eben sprachlich-semantischen Mitteln, sondern dazu kommt, dass das Feld der Phänomene jetzt semantisch und in diesem Sinne neu organisiert wird. Beim Übergang von syntaktischen Informationen zu semantischen und pragmatischen Informationen kommt es zu einer Re-Organisation des Materials, nicht bloß zu dessen Überführung. (c) Bertram begrenzt seine Überlegungen auf den Bereich der Sprache, des näheren auf das sprachliche Verstehen. Auch das ist natürlich völlig legitim. Gleichwohl sei der Hinweis erlaubt, dass die allgemeine ZuI-Philosophie nicht nur das Phänomen und die Prozesse des sprachlichen Verstehens zum Thema hat, sondern, wie betont, das ganze Spektrum von Verständigungs- und Kooperationsverhältnissen, einschließlich nicht zuletzt der nicht-sprachlichen Verständigungsverhältnisse, welche Verhältnisse genealogisch stets bereits auch in die explizit sprachlichen Verständigungsverhältnisse prägend mit eingegangen und in ihnen wirksam sind.
4 Setzt Interpretation Selbstbewusstsein voraus? Bertram sieht richtig, dass die Unterscheidung zwischen Vertrautem und Unvertrautem nicht aus der Beobachterperspektive, mithin nicht von außen, sondern nur von innen erfolgen kann, mithin „an die Perspektive desjenigen gebunden (ist), der versteht bzw. interpretiert“ (vor Kap. 1). Das schließt ein, dass derjenige, der ans Interpretieren-3 geht, zuvor das ihm Vertraute von dem Unvertrauten unterschieden haben muss. Und es ist genau diese Unterscheidung sowie das darin involvierte Selbstverständnis, aufgefasst als Selbstbewusstsein, aus dem heraus, so Bertrams These, Interpretation zustande kommt, Interpretation mithin Selbstbewusstsein voraussetzt (s. ebd.). Diesen Punkt möchte ich wie folgt kommentieren: (a) Die genannte Unterscheidung spielt in der Tat eine überaus wichtige Rolle und im Rekurs auf sie lassen sich eine Reihe von Aspekten der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse gut erläutern. Gleichwohl ist zu betonen, dass Bertrams Betrachtung auf den engen Sinn von deutender und aneignender Interpretation3 begrenzt ist. Die erweiterte Sicht der allgemeinen ZuI-Philosophie lässt sich wie folgt formulieren: Wer Vertrautes versteht, hat längst schon interpretiert1+2, muss schon phänomenal diskriminiert, individuiert, raum-zeitlich lokalisiert, sortal klassifiziert haben, sich in einem gewohnheitsmäßigen und habituellen Setting
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geschichtlicher und kultureller Provenienz bewegen, muss im Falle eines deutend-interpretierenden Wortes sich bereits in einer Sprache (z. B. im Englischen und dessen Regularitäten) bewegen und muss kooperativ und kommunikativ in Situationen und Kontexte eingebettet sein, um überhaupt flüssig bzw. direkt verstehen zu können. Im direkten Verstehen steckt mehr, als man versteht. Vertrautes bzw. direktes Verstehen ist kein unmittelbares Verstehen im Sinne eines magischen Verstehens; vielmehr liegen ihm Mechanismen eines komplexen Zusammenspiels unterschiedlicher Komponenten stets bereits im Rücken. Freilich erscheint vertrautes bzw. direktes Verstehen in der Regel so, als hätten wir es gar nicht mit einem Zusammenspiel vielfältiger ZuI-Funktionen zu tun, als sei ein expliziter Zeichen- und Interpretationsschlüssel nicht nur nicht vonnöten, sondern gar nicht im Spiel. Doch bei näherem Hinsehen erweist sich die Situation eher als eine, die derjenigen der eleganten Bewegungen des Tausendfüßlers ähnelt. Dessen Bewegungen funktionieren solange flüssig, wie es zu keinem Störfall kommt und er auch nicht aufgefordert wird, diese Eleganz zu explizieren und vorzuführen. Träte dieser Störfall ein, so müsste auch der Tausendfüßler nach dem zuvor gleichsam weggeworfenen Zeichen- und Interpretationsschlüssel fahnden und diesen dann, falls er ihn wiederfindet oder falls er einen neuen Schlüssel hervorzubringen in der Lage ist, als so praktikabel erweisen, dass die kommunikativen und kooperativen Zeichen- und Interpretationsverhältnisse wieder flüssig fortgesetzt werden können – bis zum Eintreten eines nächsten Störfalls, der natürlich jederzeit möglich bleibt. (b) Wie bereits betont, korreliere auch ich innerhalb des Triangels von Ich, Du/Wir und Welt mit jedem Wahrnehmen, Denken, Sprechen, Erleben und Handeln auf Seiten der Agenten und Akteure einen Aspekt der Selbstbezüglichkeit bzw. des Selbstverhältnisses und des Selbstverständnisses (welches, sofern es mit expliziter Bewusstheit verbunden ist, „Selbstbewusstsein“ genannt werden kann). Selbstbezüglichkeiten solcher Art sind Bestandteil des flüssigen Funktionierens der skizzierten triangulären Relationen. Es muss einer feinkörnigeren Analyse vorbehalten bleiben, die Zusammenhänge und Differenzen näher zu beschreiben, die zwischen den Aspekten des Selbstgewahrwerdens, der Selbstempfindung, des Selbstverhältnisses, des Selbstverständnisses, des Selbstbezugs, der Selbstpositionierung, der Selbstzuschreibung, der Selbstperspektivierung und der Selbstreflexion bestehen. Das kann hier natürlich nicht geleistet werden. Innerhalb eines graduellen Spektrums zunehmender Bewusstheit ist das Selbstbewusstsein im engeren Sinne eine Form, nicht die überhaupt einzige Form von Selbstbezüglichkeit. Vieles läuft im Leben und in der Praxis, ohne dass es ins Bewusstsein tritt oder treten müsste. Mir hat stets die Kantische Formulierung gut gefallen und eingeleuchtet, derzufolge das ‚Ich denke alle meine Vorstellungen begleiten können muss‘ (vgl. KrV 108, B 131). Diese Formulierung bedeutet gerade
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nicht, dass diese Art von Selbstbewusstsein in jedem Moment gegeben und explizit mit an Deck sein muss, sondern dass wir die bewusste Selbstbezüglichkeit und die Je-Meinigkeit meiner Vorstellung und meiner Erfahrung im Störfall, d. h. falls Erläuterungen erforderlich oder angemahnt werden, ins Spiel bringen können müssen. Selbstbewusstsein ist bei Menschen der uns bislang bekannten Art im Haben von Vorstellungen, Wahrnehmungen, Gedanken, Erlebnissen sowie im Machen von Erfahrungen und beim Eintreten in Handlungen mitgesetzt und muss nur auf Nachfrage bzw. bei Bedarf explizit erläutert und in seiner Rolle verdeutlicht werden können. (c) Die Unterscheidung zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten ist ihrerseits eine vertraute und interpretative Unterscheidung. Wer also diese Unterscheidung trifft und sie versteht, bewegt sich bereits in Vertrautem und interpretiert damit bereits, ist mithin im Vertrauten bereits in Interpretationsverhältnisse verstrickt. Nicht aber ist (wie Bertram nahezulegen scheint) das Bestehen dieser Unterscheidung der voraussetzungslose Ausgangspunkt dafür, überhaupt in ein Interpretieren eintreten zu können. Die Bertramsche Figur macht guten Sinn für den begrenzten Fall der deutenden und aneignenden Interpretation3. Sie deckt damit aber keineswegs das ganze Spektrum und die verschiedenen Stufen der ZuI-Verhältnisse ab, wie sie in der ZuI-Philosophie beschrieben und konzipiert werden. (d) Die Selbstbezüglichkeiten, Selbstverhältnisse, Selbstverständnisse und das Selbstbewusstsein, die in jedem flüssigen Funktionieren des Triangels von Ich-Wir-Welt im Spiele und implizit mitgesetzt sind, werden in der ZuI-Philosophie als Selbst-Interpretationen unterschiedlicher Art verstanden und konzipiert. Ohne Selbstinterpretation keine Fremd- und keine Weltinterpretation bzw. kein Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis/-verständnis. In der ZuI-Philosophie werden diese Selbstinterpretationen und solches Selbstbewusstsein jedoch nicht als Vorab-Tickets zum Eintritt in die triangulären Verhältnisse von Ich-Wir-Welt, sondern als mitkonditionale Komponenten für das flüssige Funktionieren unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Erlebens und Handelns verstanden. Mithin geht es hier nicht nur nicht mehr um das Cartesianische Selbstbewusstsein (im Sinne einer methodologischen Selbstvergewisserung des Ich), auch nicht mehr um das orthodoxe Verständnis des Kantischen Selbstbewusstseins im Sinne der transzendentalen Form bzw. der transzendentalen Einheit der Apperzeption. Allerdings geht es, wie betont, um den nicht-orthodoxen Sinn der Kantischen Überlegung, dass das ‚Ich denke‘ alle meine Vorstellungen, Gedanken, Wörter, Erlebnisse und Handlungen begleiten können muss. (e) Bertram handelt von Verstehen stets nur im Sinne von ‚sprachlichem Verstehen‘. Er thematisiert die Frage des Verhältnisses (i) zwischen Verstehen und Interpretieren und diejenige (ii) zwischen Interpretieren und Selbstbewusstsein in
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einem auf Sprache begrenzten Sinne. Entsprechend erwächst Bertram zufolge das Erfordernis der Interpretation überhaupt erst aus den „Differenzen des Verstehens“, welche, so seine These, „immer mit Formen sprachlich fundierten Selbstbewusstseins verbunden sind“ (vor Kap. 1). Es ist festzuhalten, dass damit die ganze Betrachtung auf das Verstehen sprachlicher Äußerungen und auf das Interpretieren sprachlicher Ausdrücke sowie in beiden Bereichen auf den engen Sinn von Interpretation3 begrenzt ist. Das sind legitime Begrenzungen. Für die allgemeine ZuI-Philosophie ist jedoch ein breiteres Spektrum ebenso wie ein gestuftes Szenario der ZuI-Verhältnisse kennzeichnend.Warum ist es wichtig, diesen Punkt zu betonen? Das ist deshalb wichtig, weil die Mechanismen des flüssigen Funktionierens des Triangels von Ich-Wir-Welt eine Fülle weiterer Komponenten enthalten, die nicht einfach auf Sprache und sprachliches Verstehen, auf sprachliches Interpretieren und auch nicht einfach auf sprachlich fundiertes Selbstbewusstsein reduziert werden können. Für die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie ist die Erweiterung der Betrachtungsweise auch auf nicht-sprachliche Formen, Praktiken und Dynamiken von Zeichen und Interpretationen insofern kardinal, als nur mit Rekurs auf diese Erweiterung eine Chance besteht, das flüssige Funktionieren des Triangels und mithin auch das erfolgreiche Fortsetzen von Kommunikation und Kooperation angemessen beschreiben und dies für einen angemessenen Umgang mit Konflikt- und Störfällen nutzen zu können. Mit der Sprache und deren (ohne Frage faszinierenden und kommunikativen) semantischen Komponenten allein stehen wir in Konflikt- und Störfällen letztlich doch auf vergleichsweise hilflosem Posten. So sind auch viele der oben angeführten Formen von Selbstbezüglichkeit keineswegs auf sprachlich fundiertes Selbstbewusstsein reduzierbar. Vielmehr kann letzteres als die höherstufige und genuin eigenwertige Ausprägung der unterschiedlichen Formen von Selbstbezüglichkeit und Selbstverhältnis angesehen werden. Bei aller hoch einzuschätzenden Rolle der Sprache in den Kommunikations- und Kooperationsverhältnissen innerhalb des Triangels sind die meisten der dort wirksamen Mechanismen doch nicht auf sprachliche Mechanismen reduzierbar. Man denke etwa an die Prozesse des sinnlich-phänomenalen Diskriminierens, Wahrnehmens, Individuierens, Gestaltbildens, Erlebens, praktischen Knowing-Hows und Handelns, welche der Sprache, des näheren den Prozessen der semantischen Reorganisation mittels der Sprache, vorausgehen. Diese Überlegung schließt in umgekehrter Richtung die andere mit ein, dass die Sprache, wenn sie denn mit ihrer semantischen Organisationskraft ihr Werk tut, umgekehrt natürlich auch die Mechanismen des sinnlich-phänomenalen Diskriminierens, Wahrnehmens, Individuierens, Gestaltbildens, Erlebens, praktischen Knowing-Hows und Handelns beeinflussen kann und nachweislich auch beeinflusst. Die allgemeine ZuI-Phi-
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losophie restringiert ihren Blick daher erklärtermaßen nicht auf den engeren Bereich der Sprache, der sprachlichen Zeichen und Interpretationen sowie auf das Sprach-Verstehen. Im Zentrum steht die erweiterte Optik auf die nicht-sprachlichen Zeichen und Interpretationen sowie das Zeichenverstehen im weiten Sinne dieses Ausdrucks, also z. B. Gesten, Diagramme, Graphen, Körperbewegungen, Rhythmen, phänomenale Farben, musikalische Klänge miteinbeziehend (vgl. Abel 1997). Hinter dieser Sicht steht die Annahme, dass das sprachliche Verstehen nicht das grundlegende Paradigma eines jeden Verstehens und Interpretierens sein kann (also zum Beispiel nicht des Verstehens und Interpretierens von Gesten, Musik, Bildern, Personen, Handlungen und Erlebnissen). Gefordert ist nicht eine sprach-reduktionistische, sondern eine integrative Philosophie der ZuI-Verhältnisse, sofern diese für das flüssige Funktionieren des Triangels und für das Fortsetzenkönnen der Kommunikation und Kooperation charakteristisch sind. Dabei ist die Vorstellung nicht, dass Interpretation für das menschliche Welt-, Fremd- und Selbstverständnis/-verhältnis in dem Sinne „konstitutiv“ (vor Kap. 1) ist, dass es diesem vorausliegt. Der Witz ist vielmehr, dass ‚Zeichen‘ bzw. ‚zeichenbezogen‘ und ‚Interpretation‘ bzw. ‚interpretations-bestimmt‘ hier nicht nur in adverbialer, sondern in prädikativer Stellung verwandt werden und die triangulären Vollzüge eines Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses/-verhältnisses selbst als zeichen-interpretativ verfasst angesehen werden. Das ist der grundlegende Punkt, der die ZuI-Philosophie von einer nur auf das sprachliche Verstehen und Interpretieren begrenzten Sichtweise unterscheidet. Und aus diesem Unterschied heraus ergeben sich alle weiteren.
5 Übersetzung als Interpretation Um seine Sicht zu verdeutlichen, möchte Bertram den Begriff der „Übersetzung“ als ein „grundlegendes Paradigma der Interpretation“ vorstellen und darin zugleich die „explikative Dimension sprachlichen Verstehens“ (vor Kap. 1) verständlich machen. Übersetzungen werden als „Explikationen“ angesehen. Erst auf deren Basis, so Bertrams These, können „Differenzen des Verstehens und damit Interpretationen“ auch im Blick auf das „sprachlich fundierte Selbstbewusstsein“ (ebd.) deutlich werden. Dieser Punkt verdient besondere Beachtung, spielt doch die Übersetzungs-Frage in der ZuI-Philosophie eine überaus wichtige Rolle. Allerdings vertrete ich, anders als Bertram, die These, dass eine genauere Betrachtung der Übersetzungs-Frage von der Formulierung „Übersetzung und Interpretation“ zu der Formulierung „Übersetzung als Interpretation“ überzugehen und diese zu verdeutlichen hat.
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Bertrams Begrenzung auf die deutende Interpretation3 sowie auf den engen Sinn sprachlichen Verstehens und Interpretierens machen verständlich, dass er in Sachen Übersetzung an Donald Davidsons bekannte Kritik an der Idee eines Begriffsschemas anknüpft (vgl. Davidson 1974). Mit Recht betont Bertram den für Davidson wichtigen Punkt, dass etwas nur dann als eine Sprache und sprachliche Ordnung angesehen werden kann, „wenn es sich interpretieren lässt“ (Kap. 1). Damit ist ein grundlegender Nexus von Sprache und (sprachlicher) Interpretation angesprochen. Und richtig sieht Bertram auch, dass in dieser Verbindung von Sprache und Interpretation bei Davidson stets bereits eine Verbindung mit der Welt derart mitgesetzt ist, dass alle sprachlichen Ordnungen, die sich individuieren lassen, „ein und dieselbe Welt artikulieren“ (ebd.). Vor dem Hintergrund dieses Befundes markiert Bertram trefflich den Punkt, dass aus der Sicht der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Davidsons Ansatz insofern kritisiert wird, als dieser „keine Erklärung möglicher Differenzen von Sprach- und Lebensformen“ zu liefern vermag und entsprechend dann auch nicht das „Nichtbestehen von Differenzen zu konstatieren“ erlaubt. Diesen Punkt habe ich in meiner Replik auf den Beitrag von Marco Brusotti unter dem Aspekt der Pluralität konkurrierender Interpretationen ebenso wie unter dem Aspekt der ‚Entschmelzung‘ der Verstehens-Horizonte näher behandelt. Diesem Setting kann auch Bertrams Kritik an Davidson eingeordnet werden: „Davidson trägt Praktiken der differenzbewussten Interaktion zwischen Sprachen keine Rechnung.“ (Ebd.) Ich nutze die Gelegenheit, auf drei grundsätzliche Unterschiede zwischen der ZuI-Philosophie und Davidsons Position hinzuweisen: (a) ‚Interpretation‘ ist in Davidsons Denken ‚sprachliche Interpretation‘, mithin primär auf die Interpretation sprachlicher Ausdrücke bezogen, sei dies bei normalsprachlichen oder bei objekt- und metasprachlichen Ausdrücken (wie etwa in dem von Davidson in Sachen Wahrheitstheorie favorisierten ‚inverted Tarski‘-Konstrukt). Demgegenüber verwende ich den Begriff der Interpretation bzw. die Rede von interpretativ nicht nur im Sinne der Operation der sprachlichen Interpretation, sondern, unabhängig von normalsprachlichen ebenso wie von objekt- und metasprachlichen Vorkommnissen, in prädikativer Stellung in einem entschieden weiter gefassten und grundlegenderen Sinne zur Charakterisierung all derjenigen Prozesse, die innerhalb der triangulären Relationen von Ich-WirWelt eine organisierende, konjekturierende, konstruierende, auslegende, aneignende, deutende, projizierende und perspektivierende Rolle spielen. Die Relationen unserer menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse werden als Zeichen- und Interpretationsrelationen angesehen. ZuI-Philosophie ist dabei nicht auf sprachliche Zeichen und sprachliche Interpretation eingegrenzt. Auch ist das sprachliche Interpretieren nicht das Paradigma aller anderen Weisen des Interpretierens. Vielmehr wird das sprachliche Interpretieren als eine spezifische
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Art des weiter und basaler gefassten Sinns der ZuI-Verhältnisse angesehen, nicht umgekehrt. Sprachliches Interpretieren ist nicht Genus eines jeden möglichen Interpretierens, sondern eine Art des Interpretierens unter anderen (neben z. B. bildlichem, musikalischem, gestischem, körperlichem, handlungsmäßigem Interpretieren). (b) Während in Davidsons Sicht die Spielräume möglicher Interpretationen und der Raum der Unbestimmtheiten der Interpretation nach Möglichkeit verringert und im Grenzfall gegen Null laufen sollen, betont die ZuI-Philosophie eine nicht-reduzierbare Pluralität möglicher Welt-, Fremd- und Selbst-Interpretationen ebenso wie den konkurrierenden und differenten Charakter einerseits und den integrierenden und vereinheitlichenden Charakter sprachlicher und lebensweltlicher Zeichen und Interpretationen andererseits. Dabei lassen sich mehrere Arten der Pluralität unterscheiden, so die Pluralität (i) der Welten, (ii) der logischen Form, (iii) der Referenten und der Ontologien, (iv) der Theorien und (v) der Wahrheiten. Im Rahmen der Übersetzungs-Frage ist hier vor allem der Gesichtspunkt der Logischen Form aufschlussreich (vgl. dazu detaillierter SZI 257 ff.). Die These der Unbestimmtheit und der Pluralität der Übersetzung und der Interpretation, die die ZuI-Philosophie mit Quine und mit Davidson teilt, hat zur Folge, dass die logische Form der Sätze unbestimmt und pluralitäts-freigebend sein kann. Innerhalb zweier gleichermaßen zufriedenstellender Theorien können jeweils sehr unterschiedliche Elemente als z. B. singuläre Termini, Quantoren oder Prädikate aufgefasst werden. Die Pluralität kann auch nicht hinsichtlich des Äquivalenzverhältnisses von objektsprachlichem und metasprachlichem Zeichen eliminiert werden, wie dies etwa bei Donald Davidson in einer im Stile Tarskis gefassten Wahrheitstheorie (‚S‘ ist wahr dann und nur dann, wenn S) intendiert ist (vgl. Davidson 1984: 228). Da, so das ZuI-philosophische Argument, das objektsprachliche Zeichen S auf der metasprachlichen Ebene als der Name ‚S‘ des objektsprachlichen Zeichens auftritt und da die Namenfunktion eines Zeichens niemals identisch sein kann mit der objektsprachlichen Zeichenfunktion selbst, bleibt stets Raum für alternative Interpretationen und Interpretationssysteme im Hinblick auf die objektsprachlichen Prädikate. Erstens ist Interpretation erforderlich; zweitens kann der Spielraum der Interpretationen nicht alternativlos Null sein. (c) Die Rede von Triangulation ist durch Davidson prominent geworden. Aber ich verwende die Ausdrücke ‚Triangel‘, ‚trianguläre Relation‘ und ‚Triangulation‘ in der ZuI-Philosophie in einer davon unterschiedenen Bedeutung (vgl. dazu Abel 2012a: 8, Anm. 10). Der Ausdruck ‚Triangulation‘ wurde von Davidson in die Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes eingeführt. Sie richtet sich bei ihm insbesondere auf die Frage, wie die Prozesse des menschlichen Spracherwerbs und die Fähigkeit, einen propositionalen Gedanken haben zu können,
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verständlich gemacht werden können. In Epistemology Externalized führt Davidson trianguläre Relationen mit Hilfe des Beispiels der Relation zwischen einem Schüler, seinem Lehrer und dem Objekt ein: Eine Linie verbindet den Schüler mit dem Objekt, eine andere verbindet den Schüler mit dem Lehrer, und eine dritte Linie verbindet den Lehrer mit dem Objekt (Davidson 2001: 203). Es ist dieser Gebrauch des Ausdrucks ‚Triangulation‘, den auch ich hier aufrufen möchte. Gleichwohl divergiert mein Gebrauch des Ausdrucks von demjenigen Davidsons, insofern als ich den Terminus in einem sehr viel kraftvolleren Sinne verwende und einsetze. In der Sicht der ZuI-Philosophie sind die triangulären Ausdrücke ‚Ich – Wir – Welt‘ und ‚Subjekt/Akteur – andere Subjekte/Akteure – Welt‘ nicht darauf restringiert, lediglich die Reaktion einer zweiten Person in Bezug auf die Bedeutung eines Wortes und den propositionalen Gehalt eines Gedankens zu betreffen. Demgegenüber verwende ich das Ich-Wir-Welt-Triangel in dem stärkeren Sinne, die primordiale Rolle dieser interagierenden Relationen für das menschliche Welt-, Fremd- und Selbstverständnis/-verhältnis in allen seinen möglichen Ausprägungen und Erscheinungsformen zu markieren. Zweitens bin ich bei weitem nicht zufriedengestellt mit Davidsons Charakterisierung der Rolle der Objekte in der Triangulation als ‚causal chain‘. Keineswegs teile ich seine Auffassung, dass „all these relations [zwischen Schüler, Lehrer und Objekt] are causal“ (ebd.). Und ich teile auch nicht seine Position, dass die Gehalte und Zustände des Sprechens und Denkens individuiert werden können einzig und allein auf der Basis des „causal interplay“ zwischen Sprecher/ Denker, anderen Personen und den Objekten der Welt (Davidson 2001: 204).Wenn wir an einer umfassenden Theorie/Philosophie der Individuation interessiert sind – welche aus meiner Sicht ein Desideratum nicht nur der Epistemologie und der Wissensforschung, sondern der Gegenwartsphilosophie allgemein darstellt – so müssen wir anerkennen, dass es eine Fülle anderer Ingredienzien als lediglich die kausalen Relationen gibt, die in den Prozessen der Individuation eine wichtige Rolle spielen. Føllesdal (1999) hat völlig Recht, wenn er auf diesem Punkt insistiert. In der ZuI-Philosophie gehört die Frage der Individuation, wie oft betont, auf die Ebene der ZuI1-Verhältnisse, und eine zufriedenstellende Theorie der Individuationen, aufgefasst als individuierende Interpretationen1, ist ein Desiderat allererster Güte. Die grundlegende Differenz zwischen Davidsons Sicht und meiner Auffassung liegt in der Tatsache, dass ich die triangulären Mechanismen und Interaktionen der Ich-Wir-Welt-Relationen in Übereinstimmung mit den weiter gefassten und grundlegenderen Funktionsstellen der Zeichen und Interpretationen konzipiere, wie sie in der ZuI-Philosophie ins Spiel gebracht werden. Des näheren heißt dies, dass ich die triangulären Relationen als projizierende, konjizierende, konstruierende, perspektivierende, intentionale, kurz: als zeichenverfasste und interpretations-bestimmte Relationen ansehe und modelliere, nicht
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bloß als kausale Relationen im Sinne einer Kausaltheorie des Ich-Wir-Welt-Verhältnisses. In diesem erweiterten und basaleren Sinne erweisen sich die triangulären Relationen als konstitutiv und grundcharakteristisch auf dem ganzen Spektrum von phänomenaler Diskrimination von Sinnesempfindungen, der Individuation von Gegenständen und Objekten des Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns bis hin zu höher-stufigen und meta-stufigen kognitiven Aktivitäten wie dem Regelfolgen, der Regelexplikation, der Errichtung und Rechtfertigung von Standards und Normen, bis hinein in Argumentationen der Ethik in Bezug auf unsere Orientierung innerhalb des Triangels von Ich-Wir-Welt. Bertrams These lautet, dass wir bestimmter sprachlicher Praktiken des Übersetzens bedürfen (die er in Anklang an Wittgensteinschen Jargon als „Sprachspiele der Übersetzung“ bezeichnet), um uns einen Reim auf die „Interaktionen zwischen Sprachen“ machen zu können (Kap. 1). Beispiele solcher sprachlicher Praktiken im Übersetzungsvorgang sind: „Ich sage das, was Du mit dem Ausdruck X sagst, mit dem Ausdruck Y“ oder auch „Wenn Geoffrey sagt ‚It is raining‘ sagt er, was wir dadurch ausdrücken, dass wir sagen ‚Es regnet‘“ (ebd.). In Bezug auf die ZuI-Philosophie lautet die entscheidende Frage dann, ob solche Übersetzungen, die Bertram als Explikationen auffasst, für Interpretationen wesentlich sind und falls ja, ob damit zugleich der Nachweis geführt ist, dass Interpretationen an die damit verbundene Art eines Selbstverhältnisses bzw. Selbstbewusstseins gebunden sind oder nicht. Bertram möchte diese beiden Nachweise führen. Sprachspiele der Übersetzung markieren eine „grundlegende Dimension sprachlichen Verstehens“, welche Bertram als „explikative Dimension“ des sprachlichen Verstehens bezeichnet (Kap. 2). Diese explikative Dimension sei insofern „konstitutiv“ für sprachliches Verstehen, als es sich in diesem um einen Vorgang handelt, in dem „wir uns in der Sprache auf die Sprache selbst beziehen“ (ebd.). Die Sprache ist, so könnte man zugespitzt sagen, zugleich ihre eigene Metasprache. In Bezug auf das Verhältnis von Übersetzung und Interpretation glaubt Bertram, mit Hilfe dieser Figur die naheliegende und in der Tat in der ZuIPhilosophie vertretene Auffassung unterlaufen zu können, Übersetzung sei eine bestimmte Form von Interpretation, nicht umgekehrt (vgl. Abel 1999b). Zu dieser Auffassung möchte ich wie folgt Stellung nehmen: (a) Ich verteidige die These, dass Übersetzung nicht das Paradigma von Interpretation, sondern eine spezifische Art von Interpretation, eben translatorische Interpretation ist. Alles hängt mithin daran, ob wir uns für die Formulierung ‚Übersetzung und Interpretation‘ oder für die Formulierung ‚Übersetzung als Interpretation‘ entscheiden. ‚Übersetzungs-Sprachspiele‘ können als eine spezifische Weise von ‚Zeichen- und Interpretationsspielen‘ angesehen werden. Diese
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Position nehme ich aus den im Folgenden angeführten Gründen ein.² Meine These lautet: Übersetzungsverhältnisse, die in jedem Sprach- und Zeichengebrauch konstitutiv sind, können als Zeichen- und Interpretationsverhältnisse konzipiert werden. Ich führe zwei Felder an, im Blick auf die diese These knapp erläutert sei: (i) die literarische Übersetzung und (ii) Quines berühmte These der Unbestimmtheit der Übersetzung. Zu (i): Quines bekannte Formulierung, dass das Übersetzen nicht erst in der Fremde, sondern bereits ‚zuhause‘ beginnt, lässt sich schon mit Blick auf das Lesen literarischer, dichterischer, philosophischer oder religiöser Texte der eigenen Sprache verdeutlichen. Hans-Georg Gadamer hat diesen Punkt trefflich umschrieben. Bereits das Lesen eines dichterischen Textes der eigenen Sprache „ist wie eine Übersetzung, fast wie eine Übersetzung in eine Fremdsprache, Umsetzung von starren Zeichen in einen strömenden Fluss von Gedanken und Bildern“ (Gadamer 1993: 284). Das Lesen originaler Texte ist wie „Auslegung durch Ton und Tempo, Modulation und Artikulation“ (ebd.). Lesen und Übersetzen sind dabei stets bereits Vorgänge der Auslegung, der Konjekturen, der Projektionen, der Konstruktionen, kurz: der Interpretation. Man könne, schreibt Gadamer, „das Paradox wagen: Jeder Leser ist wie ein halber Übersetzer“ (ebd.). Und schon darin geht es um mehr als bloß um eine Eins-zu-Eins-Explikation. Bei bloßem Lesen schon geht es (um Quines Ausdruck der ‚homophonen Übersetzung‘ interpretativ zu wenden) um homophone Interpretation. Zu (ii): Im Zusammenhang der Fragen der Übersetzung von Ausdrücken einer fremden Sprache in die eigene (oder umgekehrt) ist Quines berühmte These von der Unbestimmtheit der Übersetzung von grundlegender Bedeutung. Die Relevanz dieser These im Rahmen einer umfänglichen ZuI-Philosophie habe ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt (vgl. SZI Kap. 5). Im Folgenden möchte ich lediglich einen Aspekt betonen, der im Blick auf die Erörterung der ÜbersetzungsProblematik bei Bertram relevant ist. Solange wir die fremden und die eigenen Ausdrücke mehr oder weniger fraglos verstehen, bemerken wir nicht die bedeutsame Rolle, die die interpretativen (die perspektivischen, kreativen, konstruktionalen, konjekturalen, projizierenden, ein- und auslegenden) Komponenten in einem jeden Sprachverwenden, Sprachverstehen und Sprachübersetzen spielen. Der genuine und nicht-eliminierbare Interpretationscharakter dieser Verhältnisse tritt explizit erst dann hervor, wenn jemand, wie in der Situation der Übersetzung, nach der Bedeutung eines Ausdrucks fragt oder uns die Bedeutung, wie in Situationen ‚radikaler Übersetzung‘ (Quine) oder ‚radikaler Interpretation‘
Die folgenden Aspekte habe ich ausführlich entwickelt in Übersetzung als Interpretation (SZI Kap. 5); im Folgenden greife ich auf diese Materialien zurück.
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(Davidson), gänzlich unbekannt ist. Erst dann wird nachgeschaut, wie die entsprechenden sprachlichen Zeichen in den Verständigungsverhältnissen funktionieren. Spätestens dann aber wird deutlich, dass jedes Übersetzen als ein Interpretieren, mithin als eine interpretative Aktivität und Leistung angesehen werden kann. Übersetzen ist eine spezifische Variante des Interpretierens, nicht umgekehrt. Dieser Punkt ist mir wichtig. Er markiert auch eine Differenz zur Auffassung von Bertram. (b) In Übersetzungen geht es nicht einfach darum, im Nachhinein Äquivalenzen der angesprochenen Art zu konstatieren (denen man, wenn Übersetzung bereits gegeben und gewährleistet ist, ohne weiteres zustimmen kann) wie z. B. die Äquivalenz von „It is raining“ und „Es regnet“ oder „Ausdruck X ist äquivalent zu Ausdruck Y“. Im Übersetzen geht es grundlegend vielmehr darum, Ausdrücke einer Sprache in ihren semantischen und pragmatischen Merkmalen (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- und Erfüllungsbedingungen), welche von einem umfänglichen und komplexen Setting von z. B. Situations- und Einstellungsaspekten, lebensweltlichen Verankerungen, Kontexten und Zwecken der Übersetzung abhängen, in ein entsprechendes Setting einer anderen Sprache zu über-setzen, zu transferieren und in die in der anderen Sprache vorherrschenden Settings so einzupassen, dass das übersetzte Produkt dort ebenfalls direkt verstanden wird und es nicht zu vieler dazwischen geschalteter Erläuterungen bedarf, um überhaupt Sinn zu machen. Ohne Zweifel enthält dieser Vorgang eine Fülle konjekturierender, projizierender, erratender, divinatorischer, komplettierender, hypothesen-abhängiger, einordnender, konstruierender, diskriminierender, identifizierender, individuierender, inventorischer, präferenzierender, hierarchisierender, abgekürzt: eine Fülle ‚interpretativ‘ zu nennender Komponenten und Konstituenten, ohne die wir gar nicht von Übersetzungen sprechen würden. (c) Dass wir uns im Sprechen zugleich auf unser Sprechen selbst beziehen, heißt, dass im Sprechen eine Selbstbezüglichkeit vorliegt, welche als interpretative Relation qualifiziert werden kann. Wird diese Selbstbezüglichkeit darüber hinaus (was Bertram bewusst nicht tut, von mir hier aber einfach mal so vorgenommen wird) im Vokabular der Bezüglichkeit von objektsprachlichem und metasprachlichem Ausdruck gefasst, greift die oben angeführte Position und Kritik an Davidson: Der metasprachliche Ausdruck ist der ‚Name‘ des objektsprachlichen Ausdrucks, nicht eine bloße (syntaktische und semantische und pragmatische) Wiederholung des Ausdrucks selbst. Um beide Ausdrücke überhaupt in Übersetzungs-Relation zueinander bringen zu können, ist Interpretation erforderlich, stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen. (d) ‚Explikation‘ sowie die ‚explikative Dimension‘ sprachlichen Verstehens werden in der ZuI-Philosophie als spezifische Tätigkeit auf die Ebene der ZuIVerhältnisse3 verortet. Wir benötigen und geben eine Explikation eines sprachli-
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chen Ausdrucks dann, wenn wir den Ausdruck nicht mehr fraglos so verstehen, dass Kommunikation und Kooperation flüssig fortgesetzt werden können. Explikation ist erforderlich, wenn nicht mehr direkt verstanden wird oder wenn wir die Operation ‚Explikation‘ vorführen wollen (z. B. im Unterricht mit Schülern oder in einem Seminar zur Sprachphilosophie). Und dann ebenso wie bei der Beseitigung von Störfällen kann Explikation natürlich durchaus aufschlussreich sein in Bezug auf die semantischen und pragmatischen Merkmale der im jeweiligen Verwenden und Verstehen sprachlicher Zeichen verwendeten Zeichen und Interpretationen. Jedoch ist Explikation, so meine These, nicht konditional für den direkten Zeichen-Vollzug und auch nicht für das direkte Sprach- und Zeichenverstehen selbst. Explikation ist geboten und hilfreich in den Fällen, in denen Deutung erforderlich ist, sofern der sprachliche Ausdruck (und generell das fragliche Zeichen, z. B. ein Verkehrsschild) nicht oder nicht mehr direkt verstanden wird. Explikation gehört in der ZuI-Philosophie auf die Ebene der Sprach- und Zeichen-Deutung. Wie aber funktioniert dann das Geben und Nehmen einer Explikation? Es funktioniert genau in dem Sinne, dass auf Aspekte der ZuI2+1-Ebenen rekurriert und diese aktiviert werden, im Beispiel der Explikation eines sprachlichen Ausdrucks: Der Ausdruck (z. B. das Wort ‚Ameise‘) oder ein nicht-sprachlicher Ausdruck (wie etwa ein Gesichtsausdruck und eine Handgeste) ist auf der ZuI3-Ebene fraglich geworden. Wie beseitigen wir üblicherweise einen solchen Störfall der Kommunikation und Kooperation? In der Regel damit, dass wir auf die tiefer liegende Ebene 2 gehen (im Beispiel auf die Ebene der deutschen Sprache und der Gesten) und nachschauen, wie wir üblicherweise das nicht-sprachliche Zeichen verwenden, um die auf dieser Ebene gewonnene Einsicht auf der Ebene 3 zur Störfall-Beseitigung einzusetzen. Reicht der Rückgang auf Ebene 2 noch nicht aus, gehen wir üblicherweise in die noch tiefer liegende Ebene 1 zurück (in die organisierende und basal-diskriminierende und basal-individuierende Weise, in der in der Sprache, z. B. der deutschen Sprache oder z. B. dem mitteleuropäischen Gesten-Gebrauch, das fragliche Wort und die fragliche Geste für unser Welt-, Fremd- und Selbstverständnis/-verhältnis unverzichtbar sind). Freilich ist in diesen Rekursen stets die Möglichkeit des Scheiterns mitgesetzt. In solchen Fällen haben es mit unterschiedlichen Fremd-, Selbst- und Weltbildern zu tun. Treten auf dieser Ebene Divergenzen auf, die sich nicht beseitigen lassen (was jederzeit möglich bleibt), so befinden wir uns in der Situation, dass wir diese nicht auf ein ihnen gemeinsames Drittes zurückführen können, sondern stehenlassen müssen.
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6 Sprach- und Zeichenverstehen: Sagen und/oder Zeigen Der Punkt, dass wir uns im Sprechen bzw. in der Sprache zugleich auf unser Sprechen bzw. unsere Sprache beziehen, führt vor die Frage, ob diese Selbstbezüglichkeit (die in jedem erfolgreichen sprachlichen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnis mit im Spiele ist) ihrerseits in der Sprache selbst, mithin mit sprachlichen Mitteln dargestellt werden kann oder nicht. Aus meiner Sicht betrifft dies auch die Frage, woran und wie sich der Erfolg des Verwendens und Verstehens sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen manifestiert bzw. zeigt. Damit haben wir (a) die Frage nach dem Unterschied zwischen Sagen und Zeigen auf dem Tisch und (b) die für die ZuI-Philosophie kardinale Frage, ob neben dem sprachlichen Verstehen auch das Zeigen als ein Interpretieren adressiert und konzipiert werden kann. Für eine umfängliche und basale ZuI-Philosophie ist dieser Punkt selbstredend von hoher Relevanz, entscheidet sich letztlich doch vor allem an ihm, ob die ZuI-Verhältnisse basal verstanden werden können oder ob ihnen eine andere Dimension letztlich bereits im Rücken liegt. Die Frage ist, ob das Sich-Zeigen aus der Interpretativität herausfällt oder seinerseits als eine Version der Interpretation angesehen werden kann oder nicht. Zu (a): Wittgenstein hat den wichtigen Punkt markiert, dass man hinsichtlich des Verhältnisses von sprachlichem Satz und Wirklichkeit den Erfolg des abbildenden Satzes, das heißt seine erfolgreiche Repräsentation oder sein erfolgreiches Passen, nicht seinerseits in einem Satz sagen, nicht aussagen kann.³ Ich möchte die Pointe dieses Sachverhalts zeichen- und interpretationsphilosophisch wie folgt ausdrücken: Dass ein Zeichen auf das zutrifft, was es denotiert, bzw. dass das Denotat unter das es denotierende Zeichen fällt, kann nicht seinerseits noch einmal in einem denotierenden Zeichen als dessen Denotat und dann gar durch einen propositionalen Satz gesagt und begrifflich entschieden werden. Dieser Befund gilt für alltägliche Sprache und Zeichen ebenso wie für Sprache und Zeichen in den Wissenschaften und den Künsten. Man denke etwa an die zugespitzte Situation, in der Peter Claudia zum ersten Mal seine Liebe gesteht und dies mit den Worten ‚Ich liebe Dich‘ oder durch eine nicht-sprachliche Geste zum Ausdruck bringt. Wenn der (sprachliche oder nichtsprachliche) Ausdruck sitzt (und das nehmen wir im Blick auf beide hier einmal an), dann würde Peter die
Vgl. dazu ausführlich den Abschnitt ‘Sagen und Zeigen‘ meines Buches Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI Kap. 8); in diesem Text unterscheide ich insgesamt 21 unterschiedliche Phänomene des Sich-Zeigens.
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Situation ebenso zerstören wie Claudia, wenn er oder sie jetzt mit der Frage an Deck käme, ob der gewählte sprachliche Ausdruck wirklich zu dem passe, was hier ausgedrückt werden solle. Ob das Zeichen ‚Ich liebe Dich‘ sitzt oder nicht und ob es verstanden wird oder nicht, zeigt sich nicht an einer solchen Überprüfung des Passens von Äußerung und adressiertem Sachverhalt, sondern etwa an den Folgehandlungen, die sich an die sprachliche Äußerung anschließen. Wer in eine linguistische Analyse der Äußerung eintreten wollte, um zu dokumentieren, dass er verstanden habe, riskierte das Ende der Beziehung. Zu (b): Zeigen ist ein Ereignis in Zeichen. Und da jede Zeichenfunktion stets bereits ein interpretatives Fundament besitzt, ohne die das Zeichen nicht das Zeichen wäre, das es ist, kann das Zeigen als interpretativ gekennzeichnet werden. Auch im gelingenden Vollzug nicht-sprachlicher Zeichen sind intern eine Interpretations-Praxis und ein zugehöriges Interpretationsregelsystem stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Zu beachten ist, dass das Zeigen in der ZuI-Philosophie in einem internen Zusammenhang gesehen wird mit dem Zeichen-Vollzug im Unterschied zur Zeichen-Deutung, und eben erklärtermaßen auch zu der von Bertram in eine so grundlegende Rolle gerückten Zeichen-Explikation. Das Zeigen gehört auf die Seite des Zeichen-Vollzugs. Darin hat das Zeichen die Bedingungen seines Gelingens – die Bedingungen seines direkten Verstehens – nicht in etwas anderem außerhalb seiner selbst. Im Zeigen ist das Zeichen gleichsam ganz bei sich selbst, wie zum Beispiel eine liebevolle Geste oder ein treffliches Wort zur rechten Zeit. Dem entspricht, dass es im gelingenden Verwenden und erfolgreichen Verstehen sprachlicher wie nicht-sprachlicher Zeichen nicht primär um Mitteilung von Bedeutungen und auch nicht um deren Explikationen etwa in einer Übersetzung geht. Explikation kommt, falls überhaupt erforderlich, später und dann in der Zeichen-Deutung und als eine von deren spezifischen Varianten auf der Ebene der ZuI3-Verhältnisse zum Einsatz. Und der Vollzug der Zeichen, einschließlich der sprachlichen Zeichen, ist, wie betont, gerade das, was in einer Sprache nicht noch einmal gegenständlich, nicht als ein gegenständliches Etwas und nicht propositional in einem Satz gesagt werden kann. Mithin geht es im Zeichenverstehen letztlich um das Erfassen dessen, was sich da im Gebrauch und Verstehen der Zeichen zeigt, manifestiert, darstellt, ausdrückt, kurz um das Erfassen des Zeigens. Das scheint mir ein überaus wichtiger Punkt zu sein.Von ihm her wären eine Reihe von grundlegenden Problemen in der Sprach- und Zeichenphilosophie zu reformulieren. Das Gespräch mit Bertrams Konzept der ‚explikativen Dimension des sprachlichen Verstehens‘ wäre Bestandteil eines solchen Vorgehens. In diesem Gespräch würden freilich weitere Unterschiede zu Bertrams Position hervortreten, so etwa der folgende. Ihm zufolge ist der „Test“ für Verständnis „nicht Gebrauch, sondern Explikation“ (Kap. 2). Für mich dagegen liegt der Test in
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der Frage, ob die Person Kommunikation und Kooperation flüssig fortsetzen kann oder nicht. Falls nicht, ist dies eine Art präsuppositionales Zeigen bzw. Zeichen dafür, dass nicht oder noch nicht richtig verstanden wurde. Für diese Position scheint mir auch zu sprechen, dass jede von einem Sprecher gegebene Explikation sich erstens trotz gegenwärtiger Zustimmung später als irreführend erweisen kann und zweitens in Bezug auf die Wörter oder Zeichen, die im Geben einer Explikation (z. B. des Wortes ‚Rotkehlchen‘) verwandt werden, nach der Explikation der in solcher Explikation verwendeten Ausdrücke gefragt werden kann (z. B. nach der Bedeutung des Ausdrucks ‚Singvogel‘ oder ‚rostrot‘ oder ‚Gefieder‘) – und so ad infinitum. Bertrams Explikationsthese kann diesen drohenden Regress jedenfalls nicht ausschließen. Sie verlagert das Problem, ohne es zu lösen. Sich explikativ zu seinem Sprechen beziehen und sich zu den Ausdrücken seiner Sprache verhalten zu können, ist nicht eine Kondition, sondern eine Folge des direkten Zeichenverstehens im Sinne des skizzierten flüssigen Fortsetzenkönnens von Kommunikation und Kooperation. Machten wir die kommentierende Explikation konditional, würden Kommunikation und Kooperation schnell kollabieren. Erst in einer spät, wenn überhaupt auftretenden Haltung explizit nachträglicher Reflexion auf und Kommentierung der Bedeutung von Zeichen wächst Explikation eine Rolle zu. Nicht aber kann ich der Bertramschen These zustimmen, der zufolge ein Kind „ein Wort erst dann [versteht], wenn es sich in explikativer Weise zu ihm zu verhalten vermag“ (Kap. 2). Der in einer solchen Formulierung adressierte Aspekt ist nicht der basale Fall des Zeichen-Vollzugs, sondern auf diejenigen Fälle begrenzt, in denen es um Zeichen-Deutung geht (welche, wie ich jedoch betonen möchte, ebenfalls bereits genuine Fälle von sprachlichem oder nichtsprachlichem Verstehen sind; vgl. meine Brusotti-Replik zum Dreistufenmodell des Verstehensgleichgewichts). Ein weiterer Grund, zurückhaltend gegenüber dem Interpretament der ‚Explikation‘ als der grundlegenden Dimension eines jeden Zeichenverstehens zu sein, ist meines Erachtens folgender. Bertrams diesbezügliche Überlegungen scheinen mir im Falle des sprachlichen Verstehens bzw. des Verstehens sprachlicher Ausdrücke ansatzweise und auf höherstufigem Niveau der Reflexion noch eine gewisse Plausibilität zu besitzen. Aber im Blick auf das Verstehen nichtsprachlicher und sinnlicher Zeichen, wie z. B. Gesten, Gesichtsausdrücke, Körperbewegungen und vieles andere mehr, muss das sprachliche ExplikationsTheorem schnell kapitulieren.Warum? Weil diese Zeichenprozesse, die einen sehr hohen Anteil unseres alltäglichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens ausmachen, sich der Artikulation und Darstellung in sprachlichen Zeichen entziehen, eigentümlich elusiv sind. Neben dem erneuten Hinweis auf die oben erörterten Aspekte des Zeigens sei hier auch auf den ganzen Bereich unserer praktischen Fähigkeiten und Kompetenzen im Sinne des Knowing-How (z. B. des
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Radfahrens, Sprechens einer Sprache, Computernutzens etc.) hingewiesen (vgl. Abel 2012b sowie meine Repliken auf Dagfinn Føllesdal und Catherine Elgin). Für diese Bereiche ist in vielen Fällen charakteristisch, dass die besten Köpfe in diesen Feldern nicht in der Lage sind, sprachliche Explikationen für das erfolgreiche Funktionieren der Prozesse zu liefern, und zwar nicht, weil ihnen die sprachlichen Mittel nicht zur Verfügung ständen, sondern weil die Prozesse sich der sprachlichen Artikulation eigentümlich entziehen. Eine umfängliche Theorie menschlicher Fähigkeiten, Kompetenzen und Fertigkeiten kann diesen Bereich jedoch nicht aus ihrem Gegenstandsbereich ausschließen. Ich darf noch auf den Punkt hinweisen, dass es mir hier darum geht, den Status von Explikation selbst zu problematisieren und dass ich damit nicht an einer Theorie der Explikation interessiert bin, mithin also keine erklärenden Bemerkungen hinsichtlich der Explikationen mache. In Bezug auf diesen Punkt stimme ich durchaus mit Bertrams Kritik an Positionen von Robert Brandom überein (Anm. 9). Bertram sieht richtig, dass Brandom eine repräsentationalistische Sicht der Explikation verteidigt, der zufolge in der Explikation nur dasjenige explizit gemacht werde, was implizit in der jeweiligen sprachlichen Praktik bereits gegeben sei. Nachdrücklich teile ich Bertrams Kritik an Brandom, demzufolge mit der Explikation „nichts zu sprachlichen Praktiken hinzu(kommt), was in ihnen nicht bereits enthalten wäre“ (ebd.). Diese Position Brandoms teile ich keineswegs. Aus meiner Sicht ist vielmehr offenkundig, dass mit einer Explikation stets etwas Neues, Weiteres hinzukommt, das nicht schon implizit bereit lag, und das nicht einfach nur das Implizite zur öffentlichen Mitteilung bringt. In genau diesem Mehrwert liegt meines Erachtens auch der Interpretationscharakter der Explikation beschlossen. Mit dem Explizitmachen ist mit dieser Translation inhärent mehr ins Spiel gebracht, als im Impliziten zuvor vorhanden war. Aber aus dieser richtigen Kritik Bertrams an Brandom folgt nicht, dass die kommentierende Explikation primär und konstitutiv für ein jedes sprachliche Verstehen ist. Entsprechend dem, was ich bislang zum Verhältnis von Explikation und Interpretation gesagt habe, teile ich nicht Bertrams Auffassung, dass wir „mittels Explikationen“ den „Begriff der Interpretation philosophisch aufklären“ können (Kap. 2). Umgekehrt wird ein Schuh draus. Dieser Punkt lässt sich mithilfe der folgenden Asymmetrie einfach formulieren: Jedes Explizieren ist ein Interpretieren, aber nicht jedes Interpretieren ist explikativ bzw. eine Explikation. Nichtinterpretative Explikationen lassen sich nicht denken. Selbst den Grenzfall homophoner Wiedergabe können wir noch als ein Interpretieren ansehen. Und Beispiele für nicht-explikative Interpretationen lassen sich leicht benennen. Man denke etwa an Konjekturen, Projektionen, Konstruktionen, Divinationen, Interpolationen, Komplettierungen, Hierarchisierungen, Tilgungen, Ergänzungen,
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Perspektivierungen und vieles andere mehr. Diese Prozesse können als unterschiedliche Weisen des Interpretierens gefasst werden.
7 Explikation und Selbstbewusstsein Der von Bertram betonte Zusammenhang von „Explikation und Selbstbewusstsein“ (Kap. 3) nimmt seinen Ausgang bei der richtigen Feststellung, dass menschliche Sprecher (im Unterschied, so Bertrams Beispiel, zu einem Papagei) die Möglichkeit haben, „zu den eigenen sprachlichen Ausdrücken Stellung zu nehmen“ (Kap. 2). Die voranstehenden und kritischen Bemerkungen zum Status und zur Leistungsfähigkeit des Begriffs der Explikation gelten unbeschadet der Feststellung, dass Explikationen natürlich eine ganze Reihe wichtiger positiver Rollen spielen können. So können Differenzen zwischen zwei Sprechern mittels der explikativen Dimension sprachlicher Ausdrücke (‚Ich meinte X aber nicht als ein Y, sondern als ein Z‘) zutage gefördert werden. Ebenso können Personen, die auf ihrem gewählten Sprachgebrauch beharren und diesen näher erläutern, damit zugleich die für sie kennzeichnende Perspektive innerhalb einer Sprachgemeinschaft markieren. Im Explizieren meines Sprachgebrauchs markiere ich gleichsam die Perspektive und meinen Standort, von dem her ich spreche und verstanden werden möchte. Auf diese Weise festige ich mein anthropologisches Ich. Und vor allem ist wichtig zu sehen, dass Explikationen, indem sie eine Perspektive, einen Standpunkt und eine Position etablieren, ein Selbstverständnis/-verhältnis der Sprechenden realisieren. Freilich gehe ich im Blick auf die positiven Rollen der Explikation nicht so weit wie Bertram, der behauptet, (a) dass Explikation das Medium desjenigen Selbstverhältnisses sei, das zwischen einem Sprecher zu seinem Sprechen besteht, und (b) dass die performative (und nicht die repräsentationalistische) Natur von Explikationen zu Selbstbewusstsein führt. In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Warnschilder hochziehen: (a) In einer feinkörnigen Analyse wäre genauer zu prüfen, welche Art von Selbstbezüglichkeit mit der „Behauptung des Sprechens und Verstehens“ in den Blick rückt, mit welcher Behauptung sich Bertram zufolge „Selbstbewusstsein konstituiert“ (Kap. 3). Selbstbezüglichkeit kann, wie betont, in sehr unterschiedlichen Formen und Graden auftreten, die von sinnlich-elementaren bis hin zu höherstufigen Ausprägungen reichen. Die wichtigsten unter ihnen sind: Gewahrwerden; Selbstempfindung; Selbstverhältnis; Selbstverständnis; Rückverweisung; Selbstwahrnehmung; Selbstbezug; Standpunktbezogenheit; Selbstbeziehung; Selbstbezeichnung; Selbstzuschreibung; Selbstperspektivierung; Selbstpositionierung; explizites Selbstbewusstsein und Selbstreflexion. Alle diese
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Varianten und Grade von Selbstbezüglichkeit können aus meiner Sicht zugleich als Varianten und Grade von Verhältnissen der Selbstinterpretation innerhalb des Triangels der Relationen von Ich-Wir-Welt angesehen werden. So kann eine Person sich nicht selbst interpretieren (und verstehen), ohne dass sie über die Fähigkeit verfügt, auch andere Personen zu interpretieren (und zu verstehen) sowie die Welt zu interpretieren (und verständlich zu finden). In Bezug auf diese eigentümliche Stellung und Struktur des Selbstbewusstseins könnten wir in Kantischer Einstellung sagen, dass das Selbstbewusstsein nicht einfach mit dem empirischen Bewusstsein bzw. mit den empirischen Vorstellungen eines Subjektes innerhalb des Triangels von Ich-Wir-Welt gleichgesetzt werden kann. Mit dem Bezug auf sich selbst als eines Gegenstandes im Geflecht zugleich des Bezugs zu anderen Personen und zur Welt kommt es überhaupt erst zu derjenigen Selbstbeziehung, die wir, sofern sie mit Bewusstsein gekoppelt ist, Selbstbewusstsein in einem expliziten Sinne nennen. Aber auf diese Weise ist das Selbstbewusstsein, so wie wir es hier in seiner internen Verschränkung mit den drei Polen des Triangels ins Auge fassen, zugleich und anders als in der Kantischen Auffassung auch nicht einfach reine Subjektivität, nicht einfach reines transzendentales Selbstbewusstsein. Das in der ZuI-Philosophie adressierte Selbstbewusstsein, das sich nicht primär in Formen, sondern in Praktiken manifestiert und verkörpert, ist kein Gegenstand, ist kein Etwas (denn die Selbstbezüglichkeit unterscheidet das Selbstbewusstsein deutlich vom Bewusstsein ‚von‘ einem Gegenstand), noch aber ist es darum reine Subjektivität, reines und in der Gefahr eines leeren Exerzitiums der Selbstbezüglichkeit stehendes Selbstbewusstsein. Es repräsentiert nicht irgendeinen Gehalt und ist selbst auch kein Wissen. Es ist jedoch insofern überaus wertvoll, da die Selbstbezüglichkeit für die Einheit meiner Vorstellungen und Erfahrungen unverzichtbar ist. In dieses Setting gehören auch die Betonung des Zuschreibungscharakters von Selbstbewusstsein und die Vernetzung vor allem mit anderen Personen. So betont Peter F. Strawson in Individuals (1959) sehr zu Recht, dass die Fähigkeit, mir selbst Person-Prädikate zuschreiben zu können, an die Fähigkeit gekoppelt ist, diese auch anderen Personen zuschreiben zu können, und vice versa. Und sofern es sich hier um Zuschreibungsverhältnisse handelt, muss natürlich zugleich betont werden, dass diese jederzeit als Zeichen- und Interpretationsverhältnisse und deren Resultate als Interpretationsprodukte angesehen werden können, mithin Selbstbewusstsein in diesem Sinne eine Version von Selbstinterpretation ist. (b) Selbstbewusstsein ist nicht vorab fertig da und es wartet nicht darauf, in einem zweiten Schritt dann auch in konstitutiver Rolle für sprachliches Verstehen zum Einsatz zu kommen. Selbstbewusstsein manifestiert sich, wie betont, nicht in Formen, sondern in Praktiken, des näheren in Praktiken des Sprach- und Zei-
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chengebrauchs. Und sobald das Behaupten einer Perspektive, eines Standpunkts und einer Position im Gebrauch und Verstehen von Wörtern und Zeichen als eine Zeichen- und Interpretationshandlung zu verstehen ist – und das ist es – muss auch die damit korrelierte Selbstbezüglichkeit bis hin zu explizitem Selbstbewusstsein als Resultat von Zeichen- und Interpretationsprozessen, als ZuI-Produkt, als zeichen-gebundene und interpretations-bestimmte Selbstinterpretation in ihrer nicht eliminierbaren Verschränkung mit Fremd- und Weltinterpretationen angesehen werden.
8 Interpretation und Selbstbewusstsein Mit Begrenzung auf das sprachliche Verstehen und die dort anzutreffenden Interpretationen vertritt Bertram die These, dass Interpretation „von Explikation geprägt“ ist (Kap. 3). „Wer interpretiert, kann Verständnisse als solche und in ihren Verhältnissen zu anderen Verständnissen explizieren“ (ebd.). Eine solche Position ist, es sei wiederholt, im Blick auf die ZuI-Philosophie korrekt unter den folgenden Restriktionen: (a) Dass es hier lediglich um den Bereich der Sprach-Interpretationen geht (und es sich nicht um die interpretative Verfasstheit der triangulären Relationen zwischen Ich-Wir-Welt insgesamt handelt, in die eingebettet auch die sprachlichen Zeichen und Interpretationen überhaupt erst ihre Funktion und ihre semantischen und pragmatischen Merkmale erhalten, welche in der ZuI-Philosophie als etwas angesehen werden, das es allererst aufzuklären gilt). (b) Dass es hier lediglich um die deutenden, aneignenden und explizierenden Interpretationen3 geht (und nicht um das Funktionieren der Sprache und der Interpretationen auf den Ebenen der ZuI2+1-Verhältnisse, das in jeder erfolgreichen Interpretation3, mithin auch in jeder explikativen Interpretation3 vorausgesetzt und in Anspruch genommen wird, und das in der ZuI-Philosophie als etwas angesehen wird, das es aufzuklären gilt, will man eine umfängliche Philosophie des sprachlichen und nichtsprachlichen Verstehens erreichen). (c) Dass der Vorgang des Interpretierens auf diejenigen Fälle begrenzt wird, in denen wir es mit einer hochentwickelten Sprachbeherrschung in der avancierten Form zu tun haben, dass Sprecher nicht nur ihr sprachliches Verständnis explizieren, sondern dieses zugleich auch noch in ein Verhältnis zu anderen Verständnissen zu setzen vermögen. Dies setzt voraus, dass die Verständnisse und die Verhältnisse bewusst sein müssen und ihrerseits in sprachlicher Form explizierbar sind. Auch in der letztgenannten Hinsicht muss die Begrenzung auf Interpretation3Verhältnisse betont werden. Denn offenkundig vollzieht sich ein Großteil unseres
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Welt-, Fremd- und Selbst-Interpretierens nicht in explizitem Bewusstsein und auch nicht allein unter den Möglichkeiten sprachlicher Explikation, sondern als nicht explizit bewusstes und als nichtsprachliches Interpretieren (man denke an Phänomene wie etwa unwillkürliche Gesten, Körperbewegungen, mimisches Einverständnis, Empathiezustände, Erröten, Schamempfindungen, Zeichen von Eifersucht, Wegrennen oder Eintritt in eine nicht-reflektierte Handlung und vieles andere mehr, – welche in der umfänglichen ZuI-Philosophie sehr wohl als Interpretanden eines Zeichenverstehens zählen, wie etwa dann, wenn mein Erröten zeigt, dass ich verstanden habe und solches Erröten nichtsprachlich explizierend fungieren kann, ohne dass dies vom Charakter sprachlicher Explikation ist). In diesem Sinne können Personen auch nichtsprachlich wechselseitig zueinander Stellung nehmen. Wenn Personen in explizit sprachlichen Praktiken, mithin in der Sprache und gar in sprachlichen Diskursen zueinander explikativ Stellung nehmen, stellt dies eine höherstufige Form des Fremd- und Selbstverhältnisses dar, welche (i) in dem skizzierten vor- und nicht-sprachlichen, fähigkeiten-, kooperations- und handlungs-bezogenen Setting stets eingebettet und von diesem genealogisch abhängig ist und (ii) ihr jeweils genuin eigenes ZuI3-Profil besitzt, was im Falle sprachlicher Explikation so viel heißt wie: kraft sprachlicher Mittel (z. B. mittels einer Paraphrase, einer Erläuterung, einer Erweiterung, einer Transformation, einer Abgrenzung oder einer Synonymisierung zweier Ausdrücke) zu einer Re- und Neu-Organisation der vor- und nicht-sprachlichen Zeichenund Interpretationsressourcen zu kommen. Bezogen auf die Frage des Verhältnisses von Interpretation und Selbstbewusstsein führen diese Überlegungen zu meinen folgenden Thesen: (a) dass Interpretation mit Selbstbezüglichkeit gekoppelt ist; (b) dass sich Grade der Selbstbezüglichkeit unterscheiden lassen (vom sinnlich-phänomenalen Selbstgewahrwerden über subjektives und erlebnismäßiges Selbstempfinden bis hin zu explizitem Selbstbewusstsein und reflektierter Selbstdistanzierung in Diskursen); (c) dass es vorsprachliche und sinnlich-phänomenale Formen der Selbstbezüglichkeit gibt und dass diese eine überaus wichtige Rolle in unseren Welt-, Fremdund Selbstverhältnissen spielen; und (d) dass die in der ZuI-Philosophie konzipierte Selbstbezüglichkeit nicht primär an Formen, sondern an Praktiken des ZuIGebrauchs gekoppelt ist, nicht also vor dem tatsächlichen Interpretieren als reine transzendentale Selbstbezüglichkeit zu konzipieren ist, sondern stets überhaupt nur im Vollzug und in der Zeichen- und Interpretations-Praxis Dasein hat, mithin in ihrer jeweiligen Ausprägung an den Praktiken der Interpretation hängt. Trefflich sieht Bertram den letztgenannten Punkt, wenn er schreibt: „Das Selbstbewusstsein ist nicht die grundlegende Basis aller Interpretationen. Es ist keine transzendentale Form, die alle Interpretation begleitet. Vielmehr ist das Selbst-
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bewusstsein im Zusammenhang mit Interpretation konstituiert und umgekehrt.“ (Kap. 3) Ich möchte gleichwohl betonen, dass die Figur, der zufolge eine Seite der Medaille darin bestehe, dass ‚das Selbstbewusstsein für das Interpretieren konstitutiv‘ sei, nicht so verstanden werden darf, als gäbe es ein Vorabreich eines rein formalen Selbstbewusstseins, ohne welches das Interpretieren erst gar nicht in Gang käme. Diese Vorstellung ist meines Erachtens nicht zutreffend und setzte sich letztlich auch einer Reihe von bekannten Einwänden gegen eine Bewusstseinsphilosophie klassischer Prägung aus. Vielmehr scheinen mir die Praktiken auch als die ersten Auslöser von Selbstbezüglichkeiten und Selbstbewusstsein beschreibbar. Sobald diese Auslösung aber erfolgt ist, kommt es in der Folge dann zu drehtürartigem und wechselseitigem Ineinandergreifen von Interpretation und Selbstbewusstsein, welches von da an die Prozesse der Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse weiter vorantreibt und sie zugleich auf höherstufige Ebenen (z. B. des sprachlichen Verstehens) bis hin zu Metaebenen der Betrachtung und der Diskurse (etwa in der Logik und in der Ethik) zu transformieren erlaubt. Ich spreche also der in diese Prozesse jeweils involvierten ‚pragmatischen Genealogie‘ eine stärkere Rolle zu, als Bertram dies tut. Ein Beleg dafür scheint mir gerade auch die richtige Überlegung zu sein, dass das Selbstbewusstsein, als „Sichzusichverhalten“ (Kap. 3) verstanden, je nach den involvierten Praktiken des Interpretierens unterschiedlich ausfallen kann – und dies ja belegbar auch der Fall ist. Sehr richtig sieht Bertram vor diesem ganzen Hintergrund, dass die allgemeine ZuI-Philosophie „nicht einfach als eine Transzendentalphilosophie mit anderen Mitteln zu begreifen ist“ (Kap. 3). Und nur unterschreiben kann ich, wenn er die Pointe und Leistung der ZuI-Philosophie in Bezug auf die Frage nach dem Selbstbewusstsein darin sieht, dass durch die ZuI-Philosophie das Selbstbewusstsein „als eine Dimension im Rahmen der Praktiken der Interpretation begreiflich“ wird (ebd.). Im Lichte dieses Befundes ist es eine der Aufgaben der ZuIPhilosophie, diese Zusammenhänge auszubuchstabieren und so zu einer ausgearbeiteten zeichen- und interpretationsphilosophischen Konzeption von Status, Profil und Rolle des Selbstbewusstseins in den triangulären Verhältnissen von Ich-Wir-Welt zu gelangen. Das ist das Forschungsdesiderat an dieser Stelle. Zu diesem Desiderat gehört meines Erachtens auch eine weitere Konsequenz meiner These, das ‚Selbstbewusstsein als Selbstinterpretation‘ anzusehen und zu modellieren. Wenn Selbstbewusstsein als Selbstinterpretation unterschiedlich ausfallen kann, je nach involvierter Praxis des Interpretierens, dann geht es dabei nicht mehr einfach bloß um Selbstbewusstsein/Selbstinterpretation als Quelle der Einheit meiner Vorstellungen und Erfahrungen. Dann können und müssen so wichtige Phänomene wie Brüche, Schwächen, Kollaps, Diskontinuitäten, Unterbrechungen, Stärkung, Zerstörung, Entwicklung des Selbstbewusstseins bzw.
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der Selbstinterpretation einbezogen werden. Auch auf diese Weise wird deutlich, dass die ZuI-Philosophie einen tiefen Sitz im Leben hat und in reflektierter Einstellung daran interessiert ist, einige dieser Mechanismen zu erläutern, zu verdeutlichen, zu eluzidieren.
Literatur Abel, Günter 1997: Zeichenverstehen, in: Knobloch, Eberhard (Hg.): Wissenschaft, Technik, Kunst. Interpretationen, Strukturen, Wechselwirkungen, Wiesbaden, S. 1 – 15. Abel, Günter 1999a: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt am Main; [SZI]. Abel, Günter 1999b: Übersetzung als Interpretation, in: Elberfeld, Rolf / Kreuzer, Johann / Minford, John / Wohlfart, Günter (Hg.): Translation und Interpretation, (Schriften der Académie du Midi, Bd. V), München, S. 9 – 24. Abel, Günter 2012a: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Berlin Studies in Knowledge Research, Rethinking Epistemology, Bd. 1, Berlin / Boston, S. 1 – 52. Abel, Günter 2012b: Knowing-How: Indispensable but Inscrutable, in: Tolksdorf, Stefan (Hg.): Conceptions of Knowledge (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 4), Berlin / Boston, S. 245 – 267. Davidson, Donald 1974: On the Very Idea of a Conceptual Scheme, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 47, S. 5 – 20; wiederabgedruckt in Davidson 1984. Davidson, Donald 1984: Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford. Davidson, Donald 2001: Epistemology Externalized, in: Davidson, Donald: Subjective, Intersubjective, Objective, Oxford, S. 193 – 204. Düsing, Klaus 1997: Selbstbewußtseinsmodelle. Moderne Kritiken und systematische Entwürfe zur konkreten Subjektivität, München. Føllesdal, Dagfinn 1999: Triangulation, in: L. E. Hahn (Hg.), The Philosophy of Donald Davidson (The Library of Living Philosophers, vol. XXVII), Chicago, S. 719 – 728. Gadamer, Hans-Georg 1993: Ästhetik und Poetik (Gesammelte Werke, Bd. 8), Tübingen. Kant, Immanuel 1787: Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904/11; (Nachdruck: Werke. Akademie Textausgabe, Berlin / New York 1968 ff.), S. 1 – 552; [KrV]. Strawson, Peter F. 1959: Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London.
Kapitel 2: Sinn und Verstehen
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Alliierte im gleichen Projekt? Interpretationismus aus der Sicht der Hermeneutik
Abstract: The article consists of two main parts; the third one is a kind of a summary. In the first one I try to determine a systematically done Hermeneutic Philosophy – I have developed since many years. In part two I analyze from this perspective Abel’s philosophy of interpretation, pointing to its strengths and weaknesses. The philosophy of Günter Abel is in its decisive features very close to the Hermeneutic Philosophy based on Heidegger and Gadamer. It offers a finely elaborated form of what within the Hermeneutic Philosophy has still to be worked out. It is therefore a welcome partner in the up-to-date philosophical conversation. I see the greatest merit of this theory in elaborating different levels of understanding produced by human beings and in a careful description of them. This proves the universality of understanding (or of interpretation). The work of Günter Abel, seen from the hermeneutic perspective, shows however some problems which still need to be solved: For instance, the role of natural language in building a concrete cultural-historical world (verification of the linguistic nature of understanding, claimed by Gadamer). Also the justification for the distinction between ‘Interpretation2’ and ‘Interpretation1’ as well as the misleading speech on the multiplicity of the worlds have to be better argued for. One thing seems clear: Abel makes a great contribution to the success of the hermeneutic paradigm of philosophizing and thus to the hermeneutic turn of the contemporary philosophy – a turn, which can also be called interpretationist.
Seit mehreren Jahren bemühe ich mich, in Anlehnung an die Philosophien von Heidegger, Gadamer, Dilthey und Ricœur, eine hermeneutische Philosophie im systematischen Sinne zu entwickeln. Durch eben diesen systematischen Zweck soll sich das, was ich im Folgenden ‚Hermeneutische Philosophie‘ nennen werde, von dem unterscheiden, was man üblicherweise unter ‚Hermeneutik‘, manchmal auch unter der ‚philosophischen Hermeneutik‘, versteht. Meine Unterscheidung knüpft teilweise an den Vorschlag von Gunter Scholtz an. In seinem Aufsatz „Was ist und seit wann gibt es ‚hermeneutische Philosophie‘?“ hat er die methodische Lehre der Interpretations- bzw. Auslegungsregeln als ‚technische Hermeneutik‘ bezeichnet (vgl. Scholtz 1994). Es geht um die Deutungsstrategien, die man bei kulturellen Sinngebilden, z. B. der Bibel und anderen heiligen Texten, Kunstobhttps://doi.org/10.1515/9783110522280-008
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jekten, insbesondere Dichtungen, Bildern und Skulpturen sowie Rechtstexten, anwenden muss, um ihren Sinn bzw. ihre Botschaft zu entziffern. Dies kann man berechtigterweise auf die Techniken der Exegese philosophischer Texte – die ja oft verschlüsselt sind – übertragen und in gleichem Sinne von einer philosophischen Hermeneutik sprechen. Damit distanziere ich mich jedoch vom Vorschlag Gunter Scholtz’, der mit ‚philosophischer Hermeneutik‘ offensichtlich eine philosophische Theorie des Verstehens meint. Er sieht sie z. B. bei Gadamer, dessen Hermeneutik aber noch keine hermeneutische Philosophie darstelle, denn die Bezeichnung ‚Hermeneutische Philosophie‘ reserviert Scholtz für diejenigen Philosophien, die sich ihres interpretativen Charakters bewusst sind. Gegen diese Sprachregelung muss ich mein Veto einlegen. Denn auch wenn die Aussonderung der technischen Hermeneutik berechtigt ist, so ist die Unterscheidung zwischen der philosophischen Hermeneutik und der hermeneutischen Philosophie in der Ausführung von Scholtz jedoch sehr vage und subjektiv angelegt. Die Annahme, dass wir es bei Gadamer nur mit einer philosophischen Hermeneutik zu tun haben, ist schlichtweg falsch. Den Vorschlag wiederum, dass eine jede Philosophie, die sich des konstruktivistischen Charakters ihrer Aussagen bewusst ist, schon deshalb eine „hermeneutische Philosophie“ ist (Scholtz 1994: 50), finde ich riskant und irreführend. Denn wenn wir der 11. These Marx’ über Feuerbach zustimmen – die bekanntlich besagt: „Philosophen haben bisher nur die Welt interpretiert, es geht aber darum, sie zu verändern“ – dann müssten wir alle Philosophen als Welt-Interpretierende, d. h. als Vertreter der hermeneutischen Philosophie betrachten und diese auch so benennen. Daher reserviere ich die Bezeichnung ‚Hermeneutische Philosophie‘ für Konzeptionen, die – wie es Heidegger mustergültig in Sein und Zeit formuliert hatte – vom Verstehen als der ontologisch fundamentalen Seinsweise des Menschen ausgehen und darauf ihre ganze Philosophie aufbauen. Verstehen spielt hier die Rolle der Hauptkategorie (Heideggerianisch gesprochen: eines Existenzials) und ersetzt in dieser Funktion solche Kategorien wie ‚Realität‘, ‚Subjekt‘, ‚Bewusstsein‘ oder ‚Erkenntnis‘. Man muss an dieser Stelle hinzufügen: Eine Hermeneutische Philosophie in diesem Sinne wurde noch nicht aufgebaut; wir sind jedoch im Besitz von Bestandteilen solch einer systematischen Hermeneutischen Philosophie. Eine kurze Skizzierung des Zustandes und der Forschungsaufgaben einer solchen Hermeneutischen Philosophie wird den ersten Teil dieses Textes bilden. Den zweiten wird eine Auseinandersetzung mit dem Interpretationismus¹ von Abel ausma Ich bevorzuge die Bezeichnung ‚Interpretationismus‘ vor der von Abel selbst öfter gebrauchten ‚Interpretationsphilosophie‘, denn letztere scheint mir besser für die Benennung einer Subdisziplin innerhalb der Philosophie geeignet zu sein als für den Namen einer neuen Richtung der Philosophie, die die Konzeption Abels ohne Zweifel ist. Dies tue ich ungeachtet der gegenwärtigen
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chen, deren Zweck es ist, auf die Ähnlichkeiten der beiden Konzepte sowie auf mögliche Schwachstellen des Interpretationismus hinzuweisen und eine mögliche Linie der Zusammenarbeit – im Sinne des Voneinanderlernens – mit der aufzubauenden Hermeneutischen Philosophie vorzuzeichnen. Schon nach erster Lektüre der drei Hauptwerke Günter Abels² ist einem hermeneutisch gesinnten Forscher nämlich klar, dass seine Theorie einer so konzipierten Hermeneutischen Philosophie sehr nahe steht – und zwar nicht nur durch die Fundierung dieser Philosophie auf dem dem Verstehen so nahen Begriff der Interpretation, sondern auch aufgrund einer Vielzahl anderer Ähnlichkeiten, auf die ich in diesem Text nicht im Einzelnen eingehen kann. Aus Platzmangel werde ich nur auf wenige davon zu sprechen kommen können. Wenn man genauer hinschaut, so findet man jedoch auch wichtige Unterschiede. Auf einige möchte ich in diesem Text hinweisen, um ein produktives Gespräch zwischen der Hermeneutischen Philosophie und dem Interpretationismus Abels anzuregen.
1 Um die Hermeneutische Philosophie mit dem Interpretationismus Abels zu konfrontieren, muss man das falsche bzw. verengte Bild der Hermeneutik, das in seinen Schriften durchgehend präsent ist, korrigieren. So schreibt er beispielsweise: „Interpretativität ist Grundcharakter menschlicher Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse. Diese Verhältnisse können als Interpretationsverhältnisse konzipiert werden. Dies geht über den formallogisch-semantischen Sinn von Interpretation im Sinne einer Zuordnung von kunstsprachlichen Ausdrücken einerseits und Elementen, Klassen oder Relationen andererseits hinaus. Es geht auch sowohl über hermeneutische als auch über analytische Interpretation im Sinne der methodisch durchgeführten Auslegung vor allem von Texten und der Festlegung methodologischer Regeln der Hypothesenbildung und deren Überprüfung hinaus.“ (SZI 15 f.; Hervorhebung A. P.) In einem anderen der Hauptwerke finden wir folgende Formulierung: „Bei alledem geht es in dem vorliegenden Buch jedoch weder um Hermeneutik im Sinne des aneignenden Verstehens von Zeichen noch um Semiotik im Sinne einer Zeichentheorie. Auslegende und aneignende Deutung ist eine, nicht jedoch Abneigung gegen jegliche ‚Ismen‘ und auch in vollem Bewusstsein dessen, dass für diese Konzeption neben der Kategorie ‚Interpretation‘ auch die Kategorie ‚Zeichen‘ grundlegend ist. Gemeint sind selbstverständlich: Interpretationswelten (IW), Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI) und Zeichen der Wirklichkeit (ZdW).
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die überhaupt einzige Weise des Umgangs mit Zeichen.“ (ZdW 23; Hervorhebung A. P.) Man sieht, glaube ich, ganz klar, dass Abel Hermeneutik auf die Auslegung der semantisch prägnanten Sinngebilde des Menschen bzw. auf die Suche nach den Regeln einer solchen effektiven Auslegung reduziert. Es ist ebenfalls ganz klar zu sehen, dass diese Schilderung für die Hermeneutik Schleiermachers, eventuell, partiell, noch für die von Dilthey zutrifft. Für die Hermeneutik von Heidegger, Gadamer und Ricœur stimmt diese Beschreibung jedoch gar nicht, auch wenn jeder von ihnen gelegentlich ein kulturelles Artefakt (z. B. ein Gedicht) interpretiert. Die Ansätze, die sie schaffen, reichen indes viel weiter. Dabei ist es durchaus richtig zu sagen, dass Hermeneutische Philosophie aus dem Impuls der philosophischen Beleuchtung der Interpretationspraktiken, Interpretationsmaximen und -regeln entstanden, also eigentlich der philosophischen Bearbeitung der technischen Hermeneutik zu verdanken ist. Maßgeblich waren hier die Arbeiten von Schleiermacher, später auch die erkenntnistheoretischen Schriften Diltheys. Sie ist dennoch weder bloße Methodologie der Geisteswissenschaften noch eine Auslegungstheorie der raffinierten Sinngebilde (Kunst, Religion) geblieben. Grundlegend für die Hermeneutische Philosophie ist Sein und Zeit, das fundamentale Werk Martin Heideggers. Der Freiburger Philosoph berücksichtigt darin zwar die erkenntnistheoretische Anwendung des Begriffs ‚Verstehen‘, d. h. er stimmt mit Dilthey überein, dass man auf diesen Begriff die Unterscheidung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften stützen kann. Er sieht aber ganz klar, dass die Dimensionen – sprich: der Anwendungsbereich – dieses Begriffes viel weiter reichen. Für Heidegger ist Verstehen ursprünglich keine Auslegung der Kunstwerke, der heiligen Schriften oder der Handlungen von historischen Helden, sondern ein ‚Sich-auf-etwas-Verstehen‘: menschliche Orientierung in der Welt, halb- bzw. vordiskursives Vermögen des menschlichen Geistes, mit den lebensrelevanten Faktoren, zum Beispiel mit verschiedenen Geräten, umgehen zu können (vgl. Heidegger 1927: 142 ff.). Damit hat Heidegger die von Dilthey vorgezeichnete Ebene der Methodologie (bzw. der Erkenntnistheorie) verlassen und Verstehen als die grundlegende Operation des menschlichen Geistes, d. h. als ein Existenzial aufgefasst. Und wenn man trotzdem Dilthey zu den Gründern der Hermeneutischen Philosophie zählen darf, dann geschieht das weniger wegen seiner erkenntnistheoretischen Schriften (z. B. Einleitung in die Geisteswissenschaften), in denen das Verstehen, als die Methode bzw. das Ziel der Geisteswissenschaften,³ dem Erklären, als Ziel
Nach sorgfältiger Analyse dieses Werkes (Dilthey 1883) lässt sich die These über Verstehen als ‚Methode‘ nicht aufrechterhalten. Dilthey benennt vielmehr verschiedene Methoden der Geis-
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der Naturwissenschaften, gegenübergestellt wird. Viel wichtiger sind diejenigen seiner Schriften, die man als ‚hermeneutische‘ und als ‚anthropologische‘ bezeichnen darf. In ihnen bringt er die Ergebnisse seiner reifsten Forschung zum Ausdruck, die den Menschen als verstehendes Lebewesen aufzufassen versuchen. Ich meine hier die Auffassung des Menschen als eine lebendige, dynamische Einheit des Erlebens, des Erkennens und des Wollens, die sich in zeitlichen Strukturen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft – Heideggerianisch gesprochen: in seiner ‚Zeitigung‘ – manifestiert und artikuliert. Eben diesen Gedanken hat Heidegger von Dilthey – und, wie ich an einer anderen Stelle gezeigt habe (Przylebski 2002), von einem anderen deutschen Vertreter der Lebensphilosophie, nämlich von Georg Simmel – übernommen sowie fundamental-ontologisch vertieft und verfeinert. Bei ihm hat dies die Gestalt einer Lehre über die menschliche Existenz angenommen, die im vagen Anschluss an die Transzendentalphänomenologie Husserls die Modi und die Struktur des menschlichen In-der-Welt-Seins zu entziffern sucht. Der vielleicht wichtigste Bestandteil dieser Lehre ist die sogenannte Vorstruktur des Verstehens, die wiederum in der existenzialen, strukturellen Einheit des Verstehens, der Befindlichkeit (der situativen Stimmung) und der (mit Sprache verbundenen) Rede verankert wird. Die Vorstruktur des Verstehens ist bekanntlich aus drei Schichten zusammengesetzt. Diese sind die Vorhabe, die Vorsicht und der Vorgriff. Die Vorhabe markiert das Vorwissen, den Vorrat an Kenntnissen, die den Zugang zu einem Wirklichkeits- bzw. Erfahrungsbereich eröffnen, möglich machen (Heidegger 1927: 148 ff.). Die Vorsicht macht deutlich, dass Verstehen immer perspektivisch ist, d. h. letztendlich aus einer Interessenperspektive heraus geschieht. Dass es, um deutlich zu werden, geformt bzw. artikuliert werden muss, wurde von Heidegger terminologisch als ‚Vorgriff‘ zum Ausdruck gebracht. Die Wahl einer Ausdrucksform für das Verstandene bleibt nie ohne Wirkung auf die Gestalt des Verstehens. Die Gestaltung dieser Struktur zeigt deutlich, dass Heidegger das Verstehen einerseits sehr konkret und lebensnah denkt (entscheidend dafür sind ‚Vorgriff‘ und ‚Vorsicht‘), dass er sie aber andererseits in dem verankert, was er das ‚Man‘, d. h. das Miteinandersein mit anderen Menschen in einer Kultur- bzw. Sprachgemeinschaft, nennt und was ein jedes Individuum (‚das Dasein‘) mit dem sich in der ‚Vorhabe‘ manifestierenden Vorwissen ausstattet.⁴ teswissenschaften, die dem Verstehen als Hauptaufgabe dieser Wissenschaftsgruppe dienen können. Selbstverständlich kann sich die Vorhabe eines Menschen infolge seiner Kreativität und der Bearbeitung individueller Erfahrungen verändern.
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Hans-Georg Gadamer hat die Ergebnisse von Sein und Zeit zwar grundsätzlich akzeptiert, versuchte sie aber ein wenig zu ‚ent-existentialisieren‘, indem er beispielsweise die Endlichkeit des Menschen nicht nur in seinem ‚Sein-zum-Tode‘, sondern in der in jeder Hinsicht erfahrenen Limitiertheit gesehen hat. Sechzigjährig fasste er seine Entwürfe,Vorarbeiten und Skizzen zusammen und so entstand sein Hauptwerk Wahrheit und Methode. Dabei war er zu bescheiden, um seine hermeneutische Lehre als Hermeneutische Philosophie zu bezeichnen. Er bevorzugte stattdessen die Bezeichnung ‚philosophische Hermeneutik‘, was auch dadurch berechtigt war, dass er die Resultate von Sein und Zeit zwar zur Kenntnis nahm, seiner genuin philosophischen Suche nach den Möglichkeitsbedingungen des Verstehens aber dennoch keine systematische, alles umgreifende Gestalt verleihen wollte. Dies manifestiert sich bereits in der Rolle, die die hermeneutische Erforschung der Kunst für ihn spielte, verglichen etwa mit den gänzlich fehlenden Analysen des Verstehens und der Verständigung im Alltag. Man kann sagen, dass ihn eben nur die schwierigen Sprachspiele interessierten, in denen er „den Hochflug des menschlichen Geistes“ dokumentiert sah. Damit kehrte seine philosophische Hermeneutik wieder in die Nähe einer – philosophisch vertieften – Lehre von der Interpretation der höheren Kulturgebilde zurück⁵ – also eigentlich, obwohl wahrscheinlich ungewollt, in die Nähe Schleiermachers. Nichtsdestoweniger hat Gadamer wichtige Beiträge zur Hermeneutischen Philosophie geleistet. Sie gelten vor allem dem Verstehen der Sprache, der Kunst und der Geschichte, sind jedoch zu stark unsystematisch und oft zu essayistisch verfasst. Sein Anliegen war es, Impulse zu geben und auf unerkannte Phänomene aufmerksam zu machen, und nicht so sehr, Theorien aufzustellen. In seinen Arbeiten finden wir dennoch Gedanken, die bahnbrechend waren. Zu den wichtigsten gehört die im letzten Kapitel von Wahrheit und Methode gestellte These über die Sprachlichkeit jedes Verstehens. „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ (Gadamer 1986: 478) lautet in seinem Hauptwerk der Gedanke, der Anlass für bis heute andauernde Diskussionen gab. Denn er ist offensichtlich der Meinung, dass all unsere Verstehensakte von der von uns gesprochenen Sprache bedingt werden. Dabei scheint Gadamer mit ‚Sprache‘ vor allem die Muttersprache zu meinen, sprach er doch oft über den Vorrang der Muttersprache bzw. der natürlichen Sprache vor allen künstlichen Sprachen oder anderen, bloß symbolischen Sprachsystemen. So würde unser Weltverstehen von der von uns verwendeten Sprache abhängig sein, wenngleich nicht in dem Sinne, dass Semantik und Syntax dieser Sprache unserem Verstehen eine überwindbare Grenze setzen würden. Sie bestimmen uns zwar, die mit ihnen
Ähnlich sieht dies W. Detel (2011).
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einhergehende Begrenzung kann aber, in einer Art poetischer Wortschöpfung und Sprachbildung für neue Erfahrungen, aufgehoben werden. Man darf dabei nicht vergessen, dass jede Sprache zu einer Sprachgemeinschaft gehört, in der sie gebildet und aufbewahrt wird, und nicht etwa einem sprechenden Individuum, das lediglich einen Anteil an ihr hat. Die Philosophie von Gadamer lehrt uns Bescheidenheit, indem sie – im Anschluss an Heidegger – zum Ausdruck bringt, dass nicht wir die Sprache, sondern die Sprache uns besitzt. Damit wird sehr deutlich eine Depotenzierung des Subjekts artikuliert, die auf übertriebene und dadurch zweifelhafte Entdeckungen eines Foucault nicht warten muss. Paul Ricœur, dem grandiosen, viel zu wenig anerkannten Philosophen aus Frankreich, verdanken wir hingegen die Ausweitung der hermeneutischen Grundlagenforschung auf das Ich, das zur Erzählung wird, und auf die menschlichen Handlungen, die in Analogie zu Texten betrachtet werden. Damit – die Fortsetzung und Verfeinerung dieser hermeneutischen Arbeit einschließend, die wir u. a. in den Werken von Günter Figal und Ferdinand Fellmann vorfinden – etablierte sich eine philosophische Richtung, die – dem Motto Ernst Tugendhats „Anthropologie statt Metaphysik“ getreu – den Menschen als ein seine Welt erst aufbauendes und seine Wirklichkeit verstehendes Wesen auffasst, im Unterschied etwa zu den Tieren, die – wie Max Scheler treffend bemerkte – nicht in der Welt, sondern in einer Umwelt leben.⁶ Diese Richtung weist deutliche Konturen auf, ist aber noch weit von der Annahme einer systematischen Gestalt entfernt, einer Gestalt, die alle Facetten des verstehenden In-der-Welt-Lebens berücksichtigen würde. Ein gutes Beispiel für die Lücken bzw. Mängel ist das Fehlen der Dimension der Leibhaftigkeit, die Heidegger zwar erkannte, die er aber außerstande war, angeblich wegen des großen Schwierigkeitsgrades, philosophisch zu bearbeiten und in sein Werk zu integrieren. Hier schufen Phänomenologen wie Hermann Schmitz und Maurice Merleau-Ponty wichtige Beiträge, die es hermeneutisch zu bewerten gilt. Ähnliches betrifft die ungenügende Ausarbeitung des Verstehens in der alltäglichen Kommunikation. An diesem Punkt muss man, glaube ich, versuchen, die wichtigen Arbeiten der analytischen Philosophie (von Wittgenstein bis Searle, Davidson und Brandom) in eine hermeneutische Theorie zu integrieren. Damit tritt man aber dezidiert gegen das Verdikt des amerikanischen Philosophen Richard Rorty an, der sich in seinem Hauptwerk Philosophy and the Mirror of Nature entschieden gegen eine systematisch betriebene hermeneutische Philosophie aussprach (Rorty 1979: Kap.7). Die einzige Rolle, die er für Hermeneutik vorgesehen
Vgl. (Scheler 1928). Eine Aufnahme dieser Welt-Umwelt-Unterscheidung finden wir interessanterweise in Gadamers Wahrheit und Methode (vgl. Gadamer 1986: Dritter Teil, Kap. 3a).
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hatte, war, die Revolte gegen die herrschenden, oft obsolet gewordenen Theorien zu verstärken. Dies entspricht aber keineswegs der Macht und der Rolle des Verstehens, die einst, eben im Werk Gadamers, zur These von der ‚Universalität der Hermeneutik‘ Anlass gegeben hatten. In der Ausarbeitung muss die Hermeneutische Philosophie also unbedingt an die Errungenschaften der analytischen Philosophie anknüpfen. Dazu gehört auch die Bezugnahme auf den Interpretationismus von Günter Abel, denn seine Interpretationslehre basiert sehr stark auf den Klassikern der analytischen Philosophie (wie Wittgenstein, Goodman, Putnam und anderen), stärker noch als auf der Tradition der ‚kontinental-europäischen‘ Philosophie.
2 Die Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels ist in meinen Augen, wie gerade gesagt, eine Konzeption, die sich zwar oft auf die zwei Klassiker der kontinentalen Philosophie – nämlich auf Nietzsche und Kant – bezieht, die aber dennoch hauptsächlich aus den Diskussionen innerhalb der analytischen Philosophie entsprungen und dieser Denktradition am stärksten verpflichtet ist. Dies erklärt, warum sie auf die Entwicklungen innerhalb der Hermeneutischen Philosophie, der philosophischen Anthropologie und der hermeneutischen Phänomenologie, kaum Rücksicht nimmt. Das Zusammenspiel der beiden Denktraditionen – der Kantianisch-Nietzscheanischen und der analytischen – ist dennoch wichtig, denn so lässt sich erklären, (1) warum die Kategorie der Interpretation die Schlüsselrolle übernahm⁷, und zwar als Interpretation der Zeichen, und warum (2) hier nicht die hervorragenden, sondern vor allem die typischen Formen des Verstehens (der Interpretation) im Vordergrund stehen. Dies ist übrigens ein wichtiges Merkmal, denn damit bezieht sich die Philosophie Abels auf das ganze Spektrum des menschlichen Lebens in der Gesellschaft, was hermeneutisch sehr zu begrüßen ist. Mehr noch: der Ausgangspunkt bei Nietzsche ermöglicht es dem Interpretationismus, wenigstens theoretisch, den Bereich des Menschlichen zu überschreiten, denn, wie es bei Nietzsche heißt, alle Organismen interpretieren die Wirklichkeit ihres Lebens, um überleben zu können. Dies ist insofern relevant, als dass es das Verhältnis des menschlichen Weltverstehens zum tierischen Sich-in-
Kant lässt sich – teilsweise – in die Interpretationsphilosophie durch eine Historisierung des Apriori integrieren. Ich habe dies in Bezug auf die Hermeneutische Philosophie in meinem Aufsatz Kant i hermeneutyka (Przylebski 2005) zu zeigen versucht.
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der-Umwelt-Orientieren philosophisch interessant macht. In der Tradition der analytischen Philosophie entstanden diesbezüglich sehr wichtige Vorarbeiten (Davidson, Norman und Searle wären hier als Beispiele zu erwähnen; vgl. Wild: 2005). Günter Abel nutzt diese Forschungsmöglichkeit meines Wissens noch nicht, sie ist aber in seinem Programm immanent enthalten. Es lässt sich meines Erachtens nachweisen, dass auch Tiere – vor allem die evolutionsmäßig höher gestellten Tiergattungen wie Hunde, Elefanten, Affen – interpretieren, wenn wir – mit Abel – Interpretation als ein ‚Verstehen von etwas als Etwas‘ auffassen. Denn es lässt sich zeigen, dass dieses Etwas auch bei Tieren nicht eindeutig und ausnahmslos durch das Biologische prä-determiniert wird. Das Beispiel einer alleinstehenden Löwin, die eine kleine Gazelle als Kind adoptiert, sie schützt und um sie gegen andere Löwen kämpft, anstatt sie einfach zu fressen, veranschaulicht uns diese Möglichkeit – natürlich in einer recht rudimentären Form – sehr deutlich. Die negative Seite dieser im Unterschied zur hermeneutischen Tradition sehr breiten Interpretationsauffassung ist jedoch eine gewisse Sprachvergessenheit. Man könnte sich zwar wundern, ob ein solcher Vorwurf gegen eine Konzeption vorgebracht werden kann, welche die Sprache so zentral positioniert. Es lässt sich aber nicht übersehen, dass (1) die natürliche Sprache, die Auszeichnung des Menschen schlechthin, hier in etwas Breiteres, nämlich in Zeichensysteme, integriert wird, was unter anderem dazu führt, dass (2) Sprache als solche instrumentalistisch, in der Denklinie der analytischen Philosophie, gedeutet wird. In der hermeneutischen Tradition wird die natürliche Sprache, in der sich Wirklichkeitsauffassung und Welterfahrung einer Sprachgemeinschaft kristallisieren, als eine die Potenz jedes Sprachverwenders überschreitende Ganzheit verstanden, die erst eine Welt öffnet, sozusagen: möglich macht. Metaphern, die dies veranschaulichen, etwa Heideggers ‚Sprache ist das Haus des Seins‘, wären im Interpretationismus Abels wahrscheinlich fehl am Platz. Die Rolle der Sprache wurde bei Abel durch ein ‚System der symbolischen Zeichen‘ ersetzt. Die Grammatik dieses Systems bedingt die Gestalt einer Interpretationswelt. Deshalb spricht Abel so gern über eine Vielheit der Welten. Damit wird aber zum Beispiel das An-sich der Welt der Natur in Frage gestellt: auch die Natur wird in ‚interpretierte Natur‘ überführt.⁸ Hermeneutische Philosophie würde hier, insbesondere in Bezug auf die Existenz der Natur, von Einer Welt sprechen, die durch sogenannte Horizontverschmelzung (Gadamer), d. h. einer Was, nebenbei gesagt, sehr stark an die neukantianische Tradition anknüpft, die die Wirklichkeit immer als ‚erkannte‘ (H. Rickert) oder als ‚erkennbare‘ (E. Lask) dachte. Die Seinsphilosophie Heideggers bricht bewusst mit dieser Denkweise, indem sie jeden Epistemologismus zugunsten der Re-Ontologisierung der Philosophie überwindet.
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immer möglichen Integration der Perspektiven, u. a. die Rede von einer gemeinsamen, überprüfbaren Wahrheit, von der Übereinstimmung im Urteil, aber auch in Werteinstellungen, die in gemeinsame Handlungen übergehen, möglich macht. Um sich von der Hermeneutischen Philosophie deutlicher zu distanzieren, und damit: zu profilieren, muss Abel jedoch eine verengte Auffassung dessen annehmen, womit sich diese Philosophie – im Unterscheid zur technischen Hermeneutik – beschäftigt. Sie ist für ihn – wahrscheinlich im Anschluss an die Habermas’sche Bestimmung der Hermeneutik qua Aufgabe der Geisteswissenschaften, die unsere Integration in eine kommunikative Kulturgemeinschaft und ihre Traditionen möglich machen – die Domäne der ‚aneignenden Deutung‘ bzw. Auslegung der Kulturgebilde, die uns in unserem Kulturlebensraum begegnen. Und diese Art Interpretationsvollzüge bilden für Abel – zu recht – nur einen Teil unserer Interpretationen. Wichtig dabei ist zu vermerken, dass diese Auffassung der Aufgaben der Hermeneutik andererseits breiter konzipiert ist als die Interpretation bei Gadamer oder Dilthey, denn sie schließt auch so etwas wie das Aufstellen von Hypothesen, das Bilden von Urteilen etc. ein – also alles, was mit bewussten Denkoperationen und ihren Resultaten zusammenhängt. Noch wichtiger als das bereits Genannte ist etwas, was ich für den größten Beitrag der Interpretationsphilosophie Abels zu unserem ‚Verstehen des Verstehens‘ halte, nämlich die Einführung einer internen Strukturierung der menschlichen Interpretationsleistungen. Abel spricht von drei Interpretationsstufen und drei Interpretationsaspekten, womit er die Sache, mit der sich auch die Hermeneutische Philosophie genuin auseinandersetzen muss, deutlich präzisiert. Während die Rede von drei Interpretationsaspekten – es sind bekanntlich ein logischer, ein ästhetischer und ein ethischer – sehr eindrucksvoll die ursprüngliche und praxisorientierte Einheit unseres In-der-Welt-Seins betont, die erst nachträglich, infolge einer reflexiven Analyse in einen theoretischen (logischen), einen ästhetischen (die Anschauung betreffenden) und einen ethischen (die Einstellungen und Handlungen betreffenden) Teil zerfällt, verdeutlicht uns die Unterteilung in drei Interpretationsstufen etwas, was in den bisherigen Formen der Hermeneutischen Philosophie kaum gesehen wurde bzw. nivelliert geblieben war. Diese Unterteilung sieht in ihren Grundzügen so aus: „Wichtig ist, daß die Rede von Interpretation nicht auf ihren engen und hermeneutischen Sinn als ‚aneignende Deutung‘ beschränkt wird. Interpretation in diesem Sinne betrifft nur eine von zumindest drei heuristisch zu unterscheidenden Stufen der Interpretationsverhältnisse. […] Was die Stufen angeht, so kann man von den aneignenden Deutungen, kurz ‚Interpretationen3‘ genannt (wie z. B. den Vorgängen des Hypothesen- und Theorienbildens, des Erklärens oder des Begründens), die
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durch Gewohnheit verankerten und habituell gewordenen Gleichförmigkeitsmuster, kurz ‚Interpretationen2‘ genannt, abgrenzen. Zu ihnen gehören Konventionen sowie kulturell und gesellschaftlich erworbene Praktiken und Kompetenzen. Von beiden wiederum lassen sich die in den kategorialisierenden und individuierenden Funktionen unserer Sprach- und Zeichenverwendungen selbst sitzenden Komponenten, kurz ‚Interpretation1‘ genannt, unterscheiden. Zu dieser Ebene zählen z. B. die logischen Begriffe der ‚Existenz‘ und des ‚Objekts‘ sowie die Prinzipien der raum-zeitlichen Lokalisierung und der Individuation. Sie sind in jeder gegebenen Organisation von Erfahrung stets bereits vorausgesetzt und sinnlogisch in Anspruch genommen.“ (SZI 26 f.) Schon diese relativ kurze Formulierung ist sehr prägnant, denn sie erlaubt es, die Einstellung des Verfassers deutlich zu erkennen. Erstens begrenzt er die Dimension der Hermeneutik, indem er sie mit der technischen Hermeneutik gleichsetzt, diese aber – gegen die zumeist angenommenen Auslegungen – auf alle expliziten Sinn produzierenden Praktiken des Menschen ausdehnt. Zum Gebiet der hermeneutischen Aneignung gehören laut Abel nicht nur eminente Texte oder Kunstobjekte, sondern auch das, was z. B. Dilthey mit den Naturwissenschaften assoziierte: das Erklären, das Begründen, die Hypothesen- und Theorienbildung. Kurz gesagt: für Abel ist der Bereich der hermeneutischen Betrachtung mit dem Bereich der expliziten Produkte des menschlichen Verstandes identisch. Von diesem Bereich grenzt er aber ein Gebiet der unbewussten bzw. impliziten Sinnproduktion bzw. Reproduktion ab, das tiefer sitzt als Deutungen, Äußerungen, Theorien usw. In ihm geschieht der Aufbau der menschlichen Welt, und zwar durch ursprüngliche Kategorisierung der Wirklichkeit mit Hilfe solcher Begriffe (bzw. Vorbegriffe) wie ‚Existenz‘, ‚Objekt‘, ‚Individuum‘, ‚Ursache‘. Aus der Perspektive der Hermeneutischen Philosophie ist das mehr als begrüßenswert: es stimmt durchaus mit der Lehre Heideggers oder Gadamers von der ursprünglichen Unverborgenheit des Seins, für die Heidegger die griechische Bezeichnung aletheia gewählt hatte, überein (vgl. Heidegger 1927: 217– 230). Auch für die Hermeneutische Philosophie geschieht explizite Interpretation jeweils in einem Rahmen, der durch geschichtliche, in den Grundstrukturen der Sprache aufbewahrte Verstehensleistungen der Menschheit erschaffen wurde. Die Universalität des Verstehens bzw. der Interpretation – und damit die Universalität sowohl der Interpretationsphilosophie wie auch der Hermeneutischen Philosophie – lässt sich nur damit begründen, dass außer den expliziten Deutungsleistungen auch die Kontexte, in denen sie geschehen, als hermeneutisch bzw. interpretativ aufgefasst werden. Ob dabei der Begriff des Verstehens oder der der Interpretation ‚die erste Geige‘ spielt, scheint mir von sekundärer Bedeutung zu sein, obwohl ich glaube, dass wir das Wort ‚interpretieren‘ eher für die Bezeich-
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nung einer bewussten Bemühung um das Verstehen von etwas, was auf Anhieb schwer- bzw. unverständlich ist und was sich dem spontanen Verstehen widersetzt, gebrauchen. Deshalb ist die Wahl des Begriffs ‚Verstehen‘ in diesem universalistischen Kontext besser, denn er wird auch für die Verständigungsprozesse verwendet, die in der alltäglichen Kommunikation stattfinden. Lassen wir aber diesen Aspekt beiseite. Die Ähnlichkeiten der Hauptgedanken kommen sehr klar bei dem Vergleich der Wahrheitsauffassung in der Hermeneutischen Philosophie und im Interpretationismus zum Vorschein: In beiden wird Wahrheit als ein Verhältnis zwischen der ‚Interpretation3‘ und der ‚Interpretation1‘ aufgefasst. Das heißt, für beide Konzeptionen ist der metaphysische Realismus passé, zugunsten des internen Realismus. Aus der Sicht der Hermeneutischen Philosophie ist trotz der Bewunderung für die Ein- und die Durchführung dieser Aufteilung auch ein Problem zu vermelden, eine Schwachstelle, die es zu eliminieren gilt. Es geht um die Bedeutung und die Rolle der ‚Interpretation2‘. Für die Hermeneutische Philosophie – oder wenigstens deren Ansätze, wie wir sie bei Heidegger und Gadamer vorfinden – scheinen die ‚Interpretation1‘ und ‚Interpretation2‘ eine Einheit zu bilden. Sie stellen zusammen eine kulturelle bzw. historische Welt einer Gemeinschaft dar, die immer eine Sprachgemeinschaft ist. Sprache ist hier nie bloß als Kommunikationsmittel gedacht, sondern immer und vor allem als ein durch die Erfahrung im breitest möglichen Sinne gestalteter Lebensausdruck, der die Urstrukturierung der jeweiligen Welt bestimmt. In diesem Sinne sind in der Sprache bereits die Extensionen der Kategorien, die Abel in der ‚Interpretation1‘ unterbringt, beinhaltet. Aber nicht nur das, denn Sprache ist immer Sprache der Praxis einer Kommunikationsgruppe. Und die ist immer mit Normen ausgestattet, die wiederum so etwas wie Gewohnheiten steuern. Daher sind in ihr auch Bewertungen und Bräuche abgebildet, wenn auch nicht im propositionalen Sinne, sondern nur durch Präsenz gewisser Bezeichnungen für gewisse Elemente einer Lebenspraxis. Daher würde es der Hermeneutischen Philosophie schwer fallen, die ‚Interpretation2‘ von der ‚Interpretation1‘ abzusondern. Es entsteht ferner die Frage, wozu ein solcher Vorgang überhaupt gut sein sollte. Die Intentionen Abels scheinen, obwohl nicht expliziert, klar zu sein: Er glaubt – erstens – an eine anthropologische Tiefenstruktur, die bei allen Menschen gleich wäre. Die Notwendigkeit, Objekte zu individuieren, die Relationen zwischen ihnen in kausalen Ketten aufzufassen etc. gehöre hierzu. Zweitens scheint er überzeugt zu sein, dass man die Welt der ‚Interpretation1‘ als quasi-theoretische Leistung der Subjekte fassen muss, die somit den Vorrang genieße, während die ‚Interpretationen2‘ nur eine kulturelle Färbung dieser Urstruktur wären. Um dies aber zu begründen, müsste man das Allgemein-Anthropologische vom Kulturanthropologischen
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scharf trennen können. Und dies erscheint mir äußerst schwierig. Daher würde ich als Hermeneutiker für das Zweistufensystem plädieren, in dem ‚Interpretation2‘ und ‚Interpretation1‘ in ihrer lebendigen Einheit aufgefasst werden. Auch wenn ein harter Interpretationist diesem Vorschlag nicht folgen will, müsste er die Schilderung der ‚Interpretation2‘ wesentlich ergänzen und erweitern. Wenn wir uns auf die Suche nach Bestimmung und Rolle der Interpretationen2 im Werk Günter Abels begeben, stellen wir eine merkwürdige Lücke bzw. Unterbestimmtheit fest. Die Deskriptionen dieses Interpretationsbereichs sind sehr sparsam. Es werden kaum Beispiele dafür angegeben, geschweige denn die Argumente, dass dieser Bereich eigene Welten ergibt bzw. erschafft. In den Interpretationswelten finden wir die Bemerkung, dass Interpretation1 eine Interpretation ‚zu etwas‘ ist, während die Interpretation3 Interpretation ‚von etwas‘ ist, d. h. in der Interpretation1 werden Objekte und Prozesse als Wirklichkeit quasi statuiert, etwas wird zum Gegenstand oder zur Kausalkette gemacht, worüber dann auf der Interpretation3-Ebene diskutiert wird. Ein Gegenstand wird als etwas, z. B. als Hammer, ein Hammer als Gerät oder als Waffe ausgelegt (vgl. Iw 510 ff.). Eine ähnliche Beschreibung findet sich im Werk Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI 29). Stets fehlt in diesen Annährungen die Interpretation2Ebene, als ob sie evident wäre. Auf einer der letzten Seiten von Sprache, Zeichen, Interpretation schreibt Abel: „In einer feinsinnigeren Betrachtung ist der Unterschied zu beachten zwischen ‚wissen, wie man es macht‘ (z. B. einen Kühlschrank öffnet), das auf der Interpretationen2-Ebene angesiedelt ist, und ‚wissen‘ im Sinne des ‚sich auf etwas verstehen‘ (z. B. auf die raum-zeitliche Lokalisierung von Objekten und Ereignissen). Letzteres Wissen ist auf der Interpretationen1-Ebene zu situieren.“ (SZI 330) Dies würde bedeuten, dass Abel das auftrennt, was bei Heidegger eine Einheit und den Ausgangspunkt bildete: das praktische Wissen darüber, wie man mit seiner biologischen, technischen und sozialen Umwelt umgeht – dazu gehörte eben auch ein ‚sich auf etwas verstehen‘, als Kind, Schreiner, Lehrer, Polizist etc. Man sieht ferner, dass die Schilderung der Interpretation2-Ebene als der Stufe, die auf Gewohnheiten beruht, nicht immer stimmt: Kann das Öffnen eines Kühlschranks als Gewohnheit beschrieben werden? Ist es nicht eher ein ‚know-how‘, dass von einem ‚know-what‘ (Interpretation3-Ebene) unterschieden wird? Es scheint also riskant, die Interpretation1-Ebene und die Interpretation2Ebene ohne ausreichende Ausarbeitung voneinander zu trennen. Abel ist der Meinung, dass sie sich dadurch unterscheiden lassen, dass eine Veränderung der Interpretation2-Ebene auf die Veränderung der Welt (ich würde sagen: des Bildes der Wirklichkeit) wirkungslos bleibt (vgl. SZI 31). Ohne eine detaillierte Analyse können wir dessen aber nicht sicher sein. Sind wir uns sicher, dass im Falle eines Urvolkes eine Veränderung der Interpretation2-Ebene, z. B. infolge der Annahme
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einer neuen Religion, für ihre Welt, d. h. für die Interpretation1-Ebene, wirkungslos wäre? Abel fasst Beobachtung als theorieabhängig auf, was mit der hermeneutischen Wissenschaftsphilosophie völlig übereinstimmt. Er berücksichtigt aber die Geladenheit seitens der Interpretationen2-Ebene kaum, trotz der Angabe, dass die natürlichen Sprachen diese Ebene mitkonstituieren (SZI 86 u. 124). Haben die Muster einer Sprache keinen Einfluss auf die Beobachtung? Bei der Beschreibung dessen, was er unter Interpretationswelten versteht, stellt Abel fest: „[…] in Interpretationen2 finden Zuordnungen von Interpretationen und Welten statt“ (31). Es entsteht aber die berechtige Frage, wie dies – unter der Voraussetzung, dass Welten Interpretationskonstrukte sind und nicht feste, von unseren Interpretationen unabhängige Größen – zu verstehen ist. Solch eine Zuordnungsfunktion verdient ohne Zweifel eine vertiefende Betrachtung. Einen Ansatz dazu finden wir lediglich in einer Anmerkung in Sprache, Zeichen, Interpretation (294 n. 70). Bei der Analyse der Stellen, die den Interpretationen2 gewidmet sind, hat man den Eindruck, dass Interpretation2 auf der Strecke geblieben ist. Abel scheint davon überzeugt zu sein, dass ausschließlich ein rein anthropologischer Faktor, sprich: der menschliche Leib, für die Entstehung und Ausgestaltung der Interpretation1-Ebene zuständig ist. Und dies obwohl er ausdrücklich zugibt, dass jede Interpretationspraxis (und hier spielt die Interpretation2-Ebene ohnehin eine wichtige Rolle) eine Geschichte hinter sich hat, die sie zu dem gemacht hat, was sie nun ist. Im Kontrast hierzu steht die These – die von der Hermeneutischen Philosophie übrigens ebenfalls vertreten wird – von der Normativität der Interpretationspraxis. Und Normativität als solche scheint ohne Beteiligung des Bereichs der Interpretation2 kaum möglich. Fazit: Auch wenn sich Argumente für die Aussonderung des Interpretation2-Bereiches finden lassen, so scheint er im Werk Abels sehr unterbestimmt, d. h. nicht genügend ausgearbeitet zu sein, und bildet somit einen Gegenstand künftiger Forschungsaufgaben. Das zweite Problem, auf das ich hier hinweisen möchte, betrifft die These über die Vielheit der Welten. Leben wir wirklich in vielen oder in einer gemeinsamen Welt? Inwiefern und für welche Situationen ist die Rede über eine Pluralität der Welten berechtigt? Viele dem Interpretationismus nahen Denker – nicht nur H.-G. Gadamer, sondern auch John McDowell⁹ – bleiben bei dem Gedanken, dass wir doch in einer Welt leben. Abel selbst scheint sich in dieser Hinsicht nicht im Klaren zu sein, weil er ab und zu entgegen seiner Hauptthese, die schon im
Diese Behauptung ist im Bezug auf H.-G. Gadamer evident; bezüglich John McDowell berufe ich mich auf den Artikel von L. Gunnarsson (2001: 31).
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Titel seines ersten Hauptwerkes zum Ausdruck kam, auch über eine Welt zu sprechen scheint. In Sprache, Zeichen, Interpretation finden wir beispielsweise folgende Formulierung: „Auch in der Erfahrung treffen wir eine Pluralität symbolischer Welten, z. B. der Wissenschaften, der Künste oder der Religionen an. Das schließt nicht nur nicht aus, sondern erklärtermaßen ein, daß die Rede von der Welt, in der wir leben, in anderer Hinsicht […] durchaus guten Sinn macht. Jedenfalls kennt und betont die Interpretationsphilosophie neben der Pluralität auch den Gesichtspunkt der Einheit der Welt und auch den Aspekt, daß es Sinn macht, von einer Einheit der Welt im Unterschied zur Pluralität der Wirklichkeiten zu sprechen.“ (SZI 252) Es ist also möglich – wofür Gadamer ausdrücklich plädiert – über die Eine Welt zu sprechen, und zwar in dem Sinne, dass Menschen nicht in ihrer Weltanschauung wie in einem Käfig stecken bleiben, sondern sie durch ihre Vernunft transzendieren und sich für andere Weltsichten öffnen können. Damit ist, wenigstens potenziell und bei gutem Willen, die interpersonale und interkulturelle Verständigung möglich. Wenn wir, im Gegenteil hierzu, annehmen, dass ein festes Netz der Kategorien und Begriffe (sozusagen die innere Welt) für die Rede über eine Welt ausreichend ist, dann müssten wir eigentlich jedem Menschen wegen der einmaligen, unwiederholbaren Konstellation, die sein Weltverständnis ist, eine eigene Welt zuschreiben. Die Kommunikation und die Zusammenarbeit zwischen den Individuen wären dann schwer zu erklären. Darüber hinaus scheint Folgendes zu gelten: Wenn die Rede über Welten berechtigt sein sollte, dann nicht so sehr in Bezug auf die Welten, die auf den einzelnen Interpretationsstufen (1 bis 3) entstehen. Denn eine Interpretation1-Welt ohne Interpretationen2 gibt es nicht. Das gleiche gilt für die Interpretation3-Welt ohne die Interpretationen1, was Abel selbst explizit zugibt. Die Bezeichnung einer Welt verdient eine Zusammensetzung aller drei Elemente bzw. Stufen. Und wenn wir in dieser Hinsicht doch über ‚Welten‘ sprechen dürfen, dann eben wegen historisch und d. h. kulturell bedingten Unterschieden in dem, was man etwas altmodisch als ‚Welt-Anschauung‘, das heißt: die Art und Weise der Kategorisierung der Wirklichkeit, und zwar nicht nur der natürlichen, biologischen und physischen, sondern auch der sozialen, bezeichnen kann. Diese Kategorisierung, die Teil dessen ist, was Abel in die Interpretation2 platzierte, bedingt dann die diskursive Praxis einer Kulturgemeinschaft, d. h. den Bereich der Interpretation3. Sowohl die Unterschiede zwischen den so verstandenen Welten wie auch die Zusammengehörigkeit aller drei Stufen innerhalb jeder dieser Welten lassen sich manchmal ganz einfach feststellen, etwa beim Vergleich der modernen europäischen Kultur mit der Kultur der Indianer des Amazonas, z. B. mit der Weltan-
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schauung des Pirahā Stammes.¹⁰ Benjamin Lee Whorf hat es überzeugend für die Hopis gezeigt. Dies lässt sich, obwohl sich die Aufgabe komplizierter darstellt, auf Vergleiche innerhalb der europäischen Kulturen übertragen. Dann sieht man auch deutliche Divergenzen zwischen solchen Nachbarkulturen wie der deutschen und der polnischen. Diese Unterschiede, die selbstverständlich nicht so groß ausfallen wie die zwischen Europa und Pirahā, haben – erstens – ihren Grund im unterschiedlichen Verlauf der Geschichte der Völker und lassen sich – zweitens – am schnellsten anhand der gesprochenen Sprache festhalten. Dies begründet die herausragende Rolle der Sprachforschung in der Hermeneutischen Philosophie. Ein anderer Aspekt kommt hinzu. Wenn „jede bestimmte Welt“ eine „Interpretationswelt“ ist, weil „sowohl die kategorialisierenden Begriffe als auch die Individuationsprinzipien anders hätten ausfallen können“ (SZI 27), dann entsteht die Frage: Wodurch hätten sie anders sein können? Durch Interpretationen1, d. h. die allgemeinanthropologischen, durch den menschlichen Leib bedingten Merkmale (z. B. dass wir Frequenzen hören würden, die höher als 20.000 Herz sind), oder durch die Interpretationen2, d. h. kulturanthropologisch? Beide Möglichkeiten scheinen berechtigt zu sein und dürfen in Erwägung gezogen werden. Und das heißt: der Interpretation2-Ebene muss eine größere Rolle zugeteilt werden, als es im Interpretationismus der Fall ist.
3 Wenn man nun den ersten Versuch wagt, den Interpretationismus Abels mit der Hermeneutischen Philosophie zu vergleichen, dann wird man quasi gezwungen, erstaunlich viele Ähnlichkeiten festzustellen. Wie die Hermeneutische Philosophie verabschiedet auch der Interpretationismus den metaphysischen Realismus zugunsten des internen Realismus, der auch ein empirischer Realismus ist (vgl. Iw 21 u. 474). Die zentrale Rolle der Interpretationspraxis wird hier explizit anerkannt. Gegen die Philosophie der Postmoderne und in Übereinstimmung mit der Hermeneutischen Philosophie verteidigt der Interpretationismus Abels den Sinn der Wahrheitssuche und der Rede von Wahrheit (vgl. SZI 236)¹¹ in einer Fassung, die ihn über die Essentialismus-Relativismus-Alter Eine wunderschöne Beschreibung dieses merkwürdigen Stammes finden wir im Buch Don’t Sleep, There Are Snakes von Daniel Everett (2008). Interessanterweise geschieht diese Verteidigung der Wahrheit explizit gegen Rorty, der sich auf die Verwandtschaft seines Neopragmatismus mit der Hermeneutik Gadamers mehrfach beruft.
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native hinausführt. Dies bedeutet ein Verlassen sowohl der Abbildtheorie der Wahrheit (bzw. der Erkenntnis) als auch des Konstruktivismus, mit seiner Macht der Konventionen (vgl. Bertschinger et al. 2001: 40; Gunnarsson 2001: 30). Ähnlich wie Gadamer erkennt Abel die Rede von einer Wahrheit der Kunst wie auch von einer doppelten Wahrheit, die der Wissenschaft und die der phänomenalen Beobachtung, an.¹² Entgegen Rorty (und Heidegger) stimmen Gadamer und Abel darin überein, dass Philosophie als Forschungsaufgabe nicht beendet ist (Iw 474, 486, 491).¹³ Auch die Depotenzierung – und nicht: eine Eliminierung – des Subjekts, ist in beiden Konzeptionen ähnlich. Abel teilt die Voraussetzung der Gadamerschen Habermas-Kritik: Verstehensleistungen bzw. Interpretationen gehen aller Diskursivität voran. In dem oben erwähnten Interview stellt Abel eindeutig fest: „Habermas zufolge ist die diskursiv-argumentative Komponente, sind Diskurse, wie er einmal sagt, systematisch in unsere Lebenszusammenhänge ‚eingelassen‘. Und die Faktizität dieser Lebenszusammenhänge bestehe darin, diese diskursiven Geltungsansprüche anzuerkennen. Das sehe ich nicht so. In der Interpretationsphilosophie erscheint die menschliche Lebenspraxis primär nicht durch Diskursivität, sondern durch Interpretativität charakterisiert. Die Vollzüge des In-der-Welt-seins und der Lebenswelt werden als interpretativ gekennzeichnet. Das meint eine vorbegriffliche Ebene.“ (Bertschinger et al. 2001: 43) Hiermit ist eine weitere Ähnlichkeit zur Hermeneutischen Philosophie verbunden: der Vorrang des Verstehens vor dem Missverstehen.¹⁴ Die Abelsche Zurückweisung der Letztbegründung harmonisiert sehr gut mit dem Diktum Gadamers, nach dem kein Interpret das letzte Wort hat, weil das Gespräch über einer Sache immer neu aufgenommen werden kann (ibd.). In diesem Sinne trifft die Feststellung Wolfgang Detels zu, der in seinem Buch Geist und Verstehen die Meinung zum Ausdruck brachte, dass der eröffnende Satz der Interpretationswelten Abels „ganz im Sinne Gadamers formuliert“ ist (Detel 2011: 177). Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen: Die Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels steht in den entscheidenden Merkmalen der Hermeneutischen Philosophie sehr nahe. Sie bietet eine fein ausgearbeitete Form dessen, was im Rahmen der Hermeneutischen Philosophie erst noch ausgear-
Die Wahrheit der Kunst bildet den Ansatzpunkt von Wahrheit und Methode. Zur ‚Doppelwahrheit‘ bei Gadamer vgl. (Kobylinska, 1985: 140 ff.). Auf die Aufgaben der Gegenwartsphilosophie weist Abel u. a. in SZI (16 u. ö.) hin. Gadamers Protest gegen Heideggers These, Philosophie sei notwendigerweise Metaphysik und als solche zu Ende, ist bekannt. In SZI (18) schreibt Abel, dass „im Hinblick auf das Zeichenverstehen nicht das Missverstehen, sondern das Verstehen des Verstehens philosophisch grundlegend ist“.
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beitet werden muss. Sie ist also ein willkommener Partner im hermeneutischphilosophischen Gespräch. Den größten Verdienst dieser Theorie sehe ich darin, verschiedene Verstehensleistungen des Menschen stufenweise aufzufassen und sorgfältig (mit Ausnahme der ‚Interpretation2‘, worauf ich hingewiesen habe) zu untersuchen. Dadurch wird die Universalität des Verstehens (bzw. der Interpretation) unter Beweis gestellt. Abel bricht einerseits mit jedem zu undifferenzierten Gebrauch des Terminus ‚Interpretation‘, andererseits vereinfacht er die unnötig verkomplizierte Interpretationsstrukturierung, die wir im Werk seines Vorgängers, Hans Lenk, vorfinden können.¹⁵ Aus der hermeneutischen Perspektive bringt die von Günter Abel aufgestellte Interpretationslehre jedoch Probleme mit sich, die noch zu lösen sind. Es geht vor allem um die Rolle der natürlichen Sprache im Aufbau einer konkreten kultur‐historischen Welt. Die von Gadamer vorgeschlagene These über die Sprachlichkeit des Verstehens muss konkretisiert und danach entweder angenommen werden (was für die Stellung der Zeichen Konsequenzen haben muss) oder zurückgewiesen werden. Zu den Problemen zähle ich auch die Begründung der Unterscheidung zwischen ‚Interpretation2‘ und ‚Interpretation1‘ sowie die irreführende Rede über die Mannigfaltigkeit der Welten in dem Sinne, auf den ich oben hingewiesen habe. Man darf meines Erachtens nur im übertragen Sinne darüber reden, dass z. B. ein deutscher Handwerker und ein deutscher Musiker in verschiedenen Welten leben. Eines scheint klar zu sein: Günter Abel hat mit seiner präzise ausgedrückten und sorgfältig durchdachten Konzeption einen großen Beitrag zum Erfolg des hermeneutischen Paradigmas des Philosophierens geleistet und damit zur hermeneutischen Wende der Gegenwartsphilosophie. Einer Wende, die sich auch als interpretationistische Wende bezeichnen lässt.
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Bertschinger, Antonia et al. 2001: Zeichen- und Interpretationsphilosophie. Ein Gespräch mit Günter Abel, in: Information Philosophie 29/4, S. 36 – 44. Detel, Wolfgang 2011: Geist und Verstehen, Frankfurt a. M.
H. Lenk unterscheidet bekanntlich sechs Stufen bzw. Ebenen der Interpretation (vgl. Dürr 2000: 44 ff.).
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Dilthey, Wilhelm 1883: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. v. B. Groethuysen, 10. Aufl. Göttingen 2008. Dürr, Renate 2000: Hans Lenk. Dargestellt von Renate Dürr, in: Information Philosophie 28/4, S. 44 – 47. Everett, Daniel 2008: Don’t Sleep, There Are Snakes: Life and Language in the Amazonian Jungle, London. Gadamer, Hans-Georg 1986: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, 5. (durchges. u. erw.) Aufl. Tübingen. Gunnarsson, Logi 2001: Günter Abels Interpretationismus im Kontext der Gegenwartsphilosophie, in: Information Philosophie 29/4, S. 30 – 35. Heidegger, Martin 1927: Sein und Zeit, 15. Aufl. Tübingen 1979. Kobylinska, Ewa 1985: Hermeneutyczna wizja kultury, Warszawa-Poznan. Przylebski, Andrzej 2002: Wie ein Fuchs im Schnee. Heidegger, Simmel und die Zeit, in: Nowak-Juchacz, Ewa / Lesniewski, Norbert (Hg.): Die Zeit Heideggers, Frankfurt a. M., S. 121 – 141. Przylebski, Andrzej 2004: Kant i hermeneutyka, in: Przegląd Filozoficzny 52/4, S. 303 – 318. Rorty, Richard 1979: Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton. Scheler, Max 1928: Die Stellung des Menschen im Kosmos, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. v. M. S. Frings, Bern 1976, S. 7 – 71. Scholtz, Gunter 1994: Czym jest i do kiedy istnieje ‚filozofia hermeneutyczna‘?, in: Czerniak, Stanislaw / Rolewski, Jaroslaw (Hg.): Hermeneutyczna tożsamość filozofii, Torun, S. 41 – 67. Wild, Markus (Hg.) 2005: Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, Frankfurt a. M.
Günter Abel
Zeichen und Interpretativität des Verstehens Replik zum Beitrag von Andrzej Przylebski
1 Die Zeichen- und Interpretationsphilosophie und die Fragen des Verstehens Im Anschluss an Heidegger, Gadamer, Dilthey und Ricœur arbeitet Andrzej Przylebski in seinem Beitrag an der Ausarbeitung einer (wie er mit Anknüpfung an einen Sprachgebrauch von Gunter Scholtz sagt) „Hermeneutischen Philosophie“ in „systematischer“ Absicht (Przylebski-Beitrag, vor Kap. 1). Unter diesem Titel soll nicht bloß eine Methodenlehre in puncto Auslegung und Deutung kultureller Sinngebilde (wie z. B. von Texten, Bildern, Musikwerken, Bauwerken), sondern eine umfängliche Theorie des Verstehens verstanden werden. ‚Verstehen‘ wird darin im Sinne Heideggers als die „ontologisch fundamentale Seinsweise des Menschen“ (ebd.) verstanden. Przylebski sieht diesen Sinn der Rede von ‚Verstehen‘ auch bei Gadamer gegeben, zählt Gadamer also nicht bloß zur philosophischen Hermeneutik und zur hermeneutischen Methodenlehre. Die Liste an grundsätzlichen Merkmalen, die Przylebski (Kap. 3) als charakteristisch für die Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuIPhilosophie] zusammengestellt hat und in Bezug auf die er Ähnlichkeit mit Bestimmungen des eigenen Anliegens einer systematischen Hermeneutischen Philosophie sieht, ist trefflich, und ich kann sie nur unterschreiben. Es sind dies vor allem die folgenden Komponenten: (a) Die Zurückweisung des metaphysischen Realismus und das Plädoyer für einen internen, des näheren einen ZuI-philosophischen Realismus, der jederzeit einen empirischen Realismus einschließt. (b) Die zentrale Rolle der Interpretationspraxis. (c) Die Kritik der Postmoderne, insbesondere auch im Blick auf die Wahrheitsfrage. (d) Die Zurückweisung der Abbild- und der Korrespondenztheorie der Repräsentation und der Wahrheit. (e) Die Kritik des radikalen Konstruktivismus. (f) Die Unterscheidung unterschiedlicher, aber gleichermaßen legitimer Wissensformen sowie die Beschreibung von deren Wechselspielen, einschließlich des Verhältnisses von lebensweltlichem, wissenschaftlichem und künstlerischem Wissen. (g) Die Zurückweisung der These vom ‚Ende der Philosophie‘. (h) Die Depotenzierung des klassischen Begriffs des leistenden Subjekts. (i) Die Betonung des Umstandes, https://doi.org/10.1515/9783110522280-009
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dass Interpretativität jeder Art von Diskursivität vorausliegt. (j) Der Vorrang des Verstehens vor dem Missverstehen. (k) Die Zurückweisung der Idee der Letztbegründung. (l) Die These, dass kein Interpret das ‚letzte‘, das in der Sache definitiv abschließende und allgemein verbindliche ultimative Wort haben kann. All diese Punkte sind von Przylebski trefflich markiert, und in der Tat ist im Rahmen der ZuI-Philosophie versucht worden, sie detailliert auszubuchstabieren. Wenn die ZuI-Philosophie mit diesen Punkten ein „willkommener Partner“ (Kap. 3) auch im Gespräch mit einer systematischen hermeneutischen Philosophie sein kann, nun – umso besser. Das Adjektiv ‚systematisch‘ paraphrasiert Przylebski an einer Stelle durch „alles umgreifende Gestalt“ (Kap. 1). Im Unterschied zu dieser Bestimmung verwende ich das Adjektiv ‚systematisch‘ im Rahmen der zweifellos Systematischen Zeichen- und Interpretationsphilosophie nicht so sehr im Sinne eines Allumgreifenden. Im Zentrum der ZuI-Philosophie geht es vielmehr darum, diejenigen Mechanismen und Strukturen zu beschreiben, die charakteristisch sind für das flüssige Funktionieren der Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse, in denen wir unser Leben führen und uns orientieren. Des näheren heißt dies, dass mittels der epistemologischen, phänomenbezogenen und methodologischen Instrumente der ZuI-Philosophie das Zusammenspiel der unterschiedlichen Zeichen- und Interpretations-Formen, -Ebenen und -Hinsichten beschrieben und erfasst werden soll. Im Erkennen wie im Handeln manifestiert sich dieses Zusammenspiel zunächst in den basalen Prozessen des Diskriminierens und Individuierens. Es setzt sich sodann fort unter anderem in unseren eingespielten Praktiken und Gewohnheiten bis hin z. B. zum methodisch geregelten Aufstellen von Hypothesen und Theorien über diese Prozesse. Erklärtermaßen erschöpft sich die ZuI-Philosophie daher nicht im Rückgang in eine und nicht in der Identifikation einer ‚letzten‘ Struktur existenzialer Verstehens-Hermeneutik. Vielmehr möchte sie die Verfasstheit, die Strukturierungen und die Mechanismen bzw. Vollzugsweisen in den skizzierten Feldern und Hinsichten beschreiben und diese auch in ihren normativen Aspekten explizit in den Fokus der philosophischen ebenso wie der lebensweltlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Aufmerksamkeit rücken. Wie im kritischen Philosophieren überhaupt geht es in der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie um ein angemessenes Verständnis der Tatsache, dass wir uns immer schon in Verhältnissen der Welt-, Fremd- und Selbstbezüglichkeit befinden. Diese Verhältnisse können als perspektivische, schematisierende, konstruktionale, projizierende, auslegende und darin Erfahrung organisierende Verhältnisse und Aktivitäten konzipiert werden. Interpretation in diesem Sinne (und gleichsam in prädikativer Stellung) meint nicht eine zusätzliche und hermeneutisch zu nennende Prozedur des Deutens, sondern den
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nicht hintergehbaren Charakter der Vollzüge menschlichen Wahrnehmens, Sprechens, Wissens, Erlebens, Denkens und Handelns selbst. Es geht der allgemeinen ZuI-Philosophie also um die Grundlagen der Verständigung, des Welt-, Fremd- und Selbstbezugs und des Handelns in Lebenswelt, Wissenschaft, Ethik und Kunst. In dieser Beschreibung ist die Annahme vorausgesetzt, dass sich die Prozesse alltäglicher Lebenswelten ebenso wie die der Wissenschaften und der Künste in sprachlichen und in nicht-sprachlichen Zeichen (z. B. in Handlungen, Bildern, Gesten) vollziehen und daher intern immer schon auf Interpretationsprozesse als den grundlegenden Mechanismen des Diskriminierens, Individuierens, raumzeitlichen Lokalisierens und sortalen Kategorisierens bezogen sind. Sie macht deutlich, dass die ZuI-Philosophie (obzwar ihrerseits grundlegend gedacht und in ihrem Status in gewisser Weise sogar als eine Art Neue Erste Philosophie ansprechbar) keine fundamentalontologische Seinsphilosophie im Sinne Heideggers ist. Freilich ändert dies nichts an meiner Auffassung, dass ich einige der Heideggerschen Interpretamente – allen voran die Figur des „In-der-Welt-seins“ – für fruchtbar und gut verbindungsfähig mit dem Anliegen der ZuI-Philosophie halte. Es finden sich gleichsam unter- bzw. außerhalb der Figur der fundamentalontologischen Seinsphilosophie eine Reihe solcher Einzelanalysen bei Heidegger, die er überaus sorgfältig und oftmals in deutlicher Nähe zum Pragmatismus durchführt und die ich für deutlich verbindungsfähig mit der ZuIPhilosophie halte. Nennen möchte ich in diesem Zusammenhang beispielhaft Heideggers Analysen zu Werkzeugen, Handlungen, existenzialen Strukturen, Möglichkeit, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. Mit ihrem Stufenmodell und vor allem mit den durch dieses Modell möglichen Beschreibungen des Zusammenspiels unterschiedlicher Zeichen- und Interpretations-Komponenten in den Vollzügen der ZuI1-Ebene liefert die ZuI-Philosophie einen Beitrag, das „In-der-Welt-sein“ in seiner näheren Strukturiertheit zu sehen und es als eine bestimmte, eben als die auf die existenziale Struktur bezogene Version von Interpretativität auszubuchstabieren. Dieser Versuch geht davon aus, dass ich mich sehr wohl um eine präzisierende Strukturbeschreibung und Charakterisierung des In-der-Welt-sein bemühen kann, ohne damit zugleich auch schon auf die Übernahme einer fundamentalontologischen Sicht und überhaupt initial bereits auf eine Ontologie verpflichtet zu sein. Der skizzierte Grundcharakter der ZuI-Philosophie wird äußerlich etwa auch an der Struktur des Buches Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI) deutlich. In diesem Buch (wie auch in den anderen Büchern und Texten) findet nicht ein Rückgang in das Verstehen im Sinne einer vermeintlichen fundamentalontologischen Seinsweise statt. Vielmehr wird die Leistungsfähigkeit des ZuI-Ansatzes entlang der Frage geprüft, ob sich der Ansatz bewährt, sobald er auf eine Reise
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durch verschiedene konkrete Bereiche geschickt wird, wie unter anderem die Bereiche Sprachphilosophie, Wissenschaftsphilosophie, Wahrheitstheorie, Ästhetik, Ethik und Politik. Wenn man so will, verkörpert die ZuI-Philosophie in diesem Sinne einen höheren Grad an Urbanität als die fundamentalontologische Seinsphilosophie. Zugleich ist die ZuI-Philosophie grundsätzlich nicht mit im Boot, wenn es um eine ontologische bzw. neo-ontologische Wende der Zeichenund Interpretationsprozesse gehen sollte. Grundlegend für die ZuI-Philosophie ist, dass ontologische Argumente gleich welcher Art (egal, ob sie auf die Frage des Realismus in Theorie und/oder Praxis oder auf die Frage des existenzialen Verstehens bezogen sind) stets sprach- und zeichen-gebundene und darin ineins interpretations-abhängige Argumente sind (vgl. Abel 1985). Zugleich möchte ich betonen, dass diese Abgrenzung gegenüber einem fundamentalontologischen Verstehenskonzept keineswegs zur Folge hat, dass zwischen der ZuI-Philosophie und dem Anliegen von Przylebski, hermeneutische Philosophie in systematischer Absicht zu entfalten, nicht eine Reihe enger Verbindungen besteht und ich die von ihm angestrebte Kooperation in der Sache nicht sehr begrüße. Der Beitrag von Przylebski beschreibt in seinem Teil 1 den Zustand und die Aufgaben einer systematischen Hermeneutischen Philosophie. Teil 2 erörtert die Frage, welche Verbindungen und Ähnlichkeiten zwischen der Interpretationsphilosophie und einer existenzialen systematischen Philosophie des Verstehens bestehen. Zusammenfassend werden bei Przylebski die Ähnlichkeiten mit der ZuIPhilosophie aufgelistet und deutlich in den Vordergrund gestellt. Insbesondere betont er, dass die im Stufenmodell vorgelegten feinkörnigen Strukturierungen und Ebenenunterscheidungen den Interpretationscharakter des menschlichen Inder-Welt-seins einer präzisierenden Betrachtung zuführen. Diese Präzisierungen greift er auf und möchte sie sich für sein eigenes Anliegen zunutze machen. Zugleich aber markiert er aus seiner Sicht auch einige Unterschiede, insbesondere in Bezug auf: (a) die Rolle der Sprache, (b) die Unterscheidung zwischen I1-Ebene und I2-Ebene, (c) das nach seiner Sicht näher zu spezifizierende Profil der I2-Ebene und (d) die Frage der Vielheit der Welten. Auf jeden dieser vier Punkte gehe ich unten näher ein.
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2 Unterschiede zwischen der Zeichen- und Interpretationsphilosophie und der klassischen Hermeneutik Przylebski geht davon aus, dass ich in der ZuI-Philosophie ein bestimmtes Verständnis von Hermeneutik vertrete und meinen Ansatz, wie er richtig sieht, von einer klassischen Hermeneutik dezidiert abgrenze. Es ist auch mir wichtig, den Unterschied zwischen der Hermeneutik als existenzialem Verstehen und der Hermeneutik als allgemeiner Auslegungskunst kultureller Sinngebilde (wie z. B. Texte, Bilder, Musikwerke, Bauwerke, Staaten) zu betonen. Von ersterer unterscheidet sich die ZuI-Philosophie in der oben skizzierten Weise, über letztere geht sie deutlich hinaus. Beide Unterscheidungslinien sind mir wichtig. Das zweite dieser beiden Abgrenzungsfelder möchte ich im Folgenden näher präzisieren, in dem klaren Bewusstsein freilich, dass es genau diejenige Sicht von Hermeneutik betrifft, die Przylebski für noch zu eng hält. Darüberhinaus verhilft mir meine Kritik an der klassischen Hermeneutik zu einem doppelten Effekt: Erstens kann ich diese als ein partielles Unternehmen der ZuI3-Ebene verorten und präzisieren, was der klassischen Hermeneutik als Deutungskunst ihren Status einer vermeintlichen Universalität raubt; zweitens aber eröffnet gerade diese Kritik am engen Sinn von Hermeneutik den Horizont für die umfänglichere und tieferliegende Frage nach der Interpretativität bzw. der ZuIVerfasstheit des menschlichen In-der-Welt-seins selbst, und das ist offenkundig ein grundlegender Schritt und Effekt, von dem her die Radikalität der ZuI-Philosophie in diesem Felde sichtbar wird und dann auch die vorgeschlagenen Differenzierungen der Interpretativität vermittels der heuristischen Unterscheidung von Stufen und Hinsichten überhaupt erst ihre mögliche Wucht zu entfalten vermögen. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden die Schlüsselpunkte präzisieren, unter denen die ZuI-Philosophie, bezogen auf die klassische Hermeneutik, nicht als eine hermeneutische Theorie und auch nicht als eine post-hermeneutische Philosophie angesprochen werden kann (vgl. zum Folgenden Abel 2012a): Der zeichen- und interpretations-philosophische Ansatz kann gegenüber der klassischen und heute vor allem Gadamerschen Hermeneutik abgegrenzt und als trans-hermeneutisch charakterisiert werden. Es ist nicht zu leugnen, dass in der ZuI-Philosophie eine Reihe von Aspekten relevant ist, die dieser Ansatz mit der klassischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers teilt. Aber es bestehen auch grundlegende Unterschiede, die zu betonen mir wichtig ist. ZuI-Philosophie ist keine Hermeneutik. Dies möchte ich nachdrücklich hervorheben. Wo aber genau
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liegen die systematischen Unterschiede? Im Folgenden möchte ich vor allem sechs solcher Unterschiede markieren. (a) Die traditionelle Hermeneutik ist primär auf die Deutung von Texten und Äußerungen in Dialogen fokussiert. In dieser Hinsicht hat sie ihre grundlegende Bedeutung und ihre besondere Leistungsfähigkeit eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Jedoch scheint mir die Hermeneutik das trianguläre Verhältnis von Sprache, Welt und Handlung nicht angemessen einzuschließen und mit ihren Mitteln auch nicht angemessen thematisieren zu können. In der Hermeneutik liegt der Fokus auf dem Verhältnis von Ich und Du bzw. Wir im Gespräch, und selbstverständlich ist dieser Fokus von philosophisch kardinaler und nichtüberspringbarer Relevanz. Gleichwohl erscheint mir die trianguläre und interne Verknüpfung von Sprache/Zeichen, Welt und Handlung von primordialer Wichtigkeit zu sein. Die allgemeine ZuI-Philosophie jedenfalls versteht sich in diesem Setting. Sie ist in einem deutlich stärkeren Sinne, als dies der Hermeneutik mit ihren Instrumenten möglich ist, auch externalisiertes, die Welt und unsere weltintervenierenden Handlungen systematisch einschließendes, weltgebundenes und weltorganisierendes Denken. (b) Hermeneutik ist vor allem auf die Kommunikation in Sprache und auf das Gespräch konzentriert. Die allgemeine ZuI-Philosophie möchte diese Fokussierung erweitern in die Bereiche der nicht-sprachlichen Zeichen- und Interpretationsprozesse. Mit dieser Erweiterung verbinde ich zugleich die weitergehende These, dass die semantischen Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen) unserer sprachlichen Wörter und Sätze stets bereits nicht-sprachliche Zeichen- und Interpretationsprozesse voraussetzen und diese in Anspruch nehmen, nicht umgekehrt. In Sachen Bedeutungs- und Referenztheorie natürlicher Sprachen ist seit mehr als vier Jahrzehnten (seit der Neuen Theorie der Referenz von Føllesdal, Putnam, Kripke, Donnellan und anderen in den späten 60er und frühen 70er Jahren des letzten Jahrhunderts)¹ ein gewisser Stillstand zu verzeichnen. Einen möglichen Fortschritt sehe ich nur dann, wenn die Betrachtung in Sachen Bedeutung und Referenz umgestellt wird hin zu einer Einbeziehung nicht-sprachlicher Zeichen- und Interpretationsprozesse, die Handlungen, Bilder, Gesten, Leiblichkeit, Emotionen, Gestimmtheiten und vieles mehr mit einschließen. Bezogen auf die Hermeneutik wie auf die moderne Sprachphilosophie möchte ich zugespitzt sagen: Hermeneutik und Sprachphilosophie müssen die Zeichen wiederentdecken.
Vgl. die grundlegenden Arbeiten der genannten Autoren: (Føllesdal 2004), (Putnam 1975), (Kripke 1972) und (Donnellan 1966).
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(c) In der Hermeneutik setzt, wie Gadamer pointiert hat, das Verstehen von Texten, Äußerungen und Handlungen einen „gemeinsamen Sinn“ (Gadamer 1965: 276) voraus. Ich denke, dass dies eine zu starke Kondition für Verständigungsverhältnisse und für erfolgreiches Verstehen ist. Für erfolgreiches Verstehen benötigen wir glücklicherweise nicht einen vorab und implizit oder explizit schon gemeinsam geteilten Sinn. Wir benötigen lediglich ein Überlappen von Erfahrungen, Perspektiven, Horizonten zwischen einem Sprecher und einem Hörer und vice versa, um das Gespräch in Gang bringen und fortsetzen zu können. Solange ich die starke Voraussetzung eines vorab gemeinsam geteilten Sinns im Kopf oder hinter meinen Wörtern, Gesten und Handlungen konditional fordere, werde ich schwerlich in ein Gespräch zum Beispiel mit einem Sprecher einer mir sehr fremden Sprache und Kultur kommen. Die meines Erachtens bei weitem zu starke Präsupposition bzw. Kondition eines gemeinsam geteilten Sinns erschwert die Verständigung eher, als sie zu ermöglichen. Diese zu starke Kondition erfolgreichen Verstehens kann den Fortgang einer Verständigung blockieren, denn zum Fortgang der Verständigung gehört, dass ich bereit bin, Korrekturen, Modifikationen, gar Revisionen meines eigenen Vorverständnisses, meiner bisherigen Perspektive und meiner Einstellung einem anderen fremden Sprecher gegenüber vorzunehmen. Anzunehmen, dass Sprecher und Hörer, zumal solche unterschiedlicher Kulturen, aus jeweils ihren, mithin aus anderen Horizonten als meinem eigenen heraus sprechen, denken und handeln, scheint mir bei weitem die plausiblere und empirisch stärker belegte Annahme in Bezug auf ein erfolgreiches Verstehen von Wörtern, Sätzen und Handlungen anderer Personen zu sein. (d) Für Gadamer ist die berühmt berüchtigte „Horizontverschmelzung“ (Gadamer 1965: 289 f.) eine Vorbedingung für volles Verstehen. Gegenüber diesem Lehrstück möchte ich zwei Aspekte kritisch hervorheben: (i) Die Figur der Horizontverschmelzung kann schwerlich als eine erfolgreiche Beschreibung dessen angesehen werden, was sich zu Beginn und während eines Verständigungsprozesses ereignet, egal wie schwach man den Wortteil ‚Verschmelzung‘ auch immer deuten mag. (ii) ‚Horizontverschmelzung‘ in einem zu starken, d. h. in einem über die Annahme von Überlappungen von Horizonten hinausgehenden Sinn konditional zu machen, könnte den heute so dringlich gebotenen interkulturellen Dialog verunmöglichen, denn die involvierten Personen und Kulturen sprechen, denken und agieren aus ihren differenten Horizonten und Erfahrungen heraus und auf diese hin. Das Ziel eines interkulturellen Dialogs kann aber sinnvollerweise gerade nicht darin bestehen, dass die differenten Horizonte verschmelzen, ihre Eigenwertigkeit einbüßen, und wir im Grenzfall entweder bei einer Subsumption fremder Horizonte unter den eigenen oder bei der Verabschiedung unseres eigenen landen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Shakespeares
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schöne Formulierung, die für jedes intensivere Gespräch in der eigenen Sprache ebenso wie zwischen Sprechern unterschiedlicher Sprachen und Kulturen überaus wichtig und charakteristisch ist: „I’ll teach you differences!“ (Shakespeare: King Lear, Act 1, Scene 4) Selbstverständlich muss eine Überlappung der Horizonte, nicht jedoch deren Verschmelzung vorliegen, um einander überhaupt kommunikabel und verständlich zu finden. Je intensiver jedoch der Prozess der Verständigung zwischen Sprecher und Hörer voranschreitet, umso deutlicher treten auch Differenzen hervor. Das ist übrigens auch der Grund dafür, dass es bei einem gegebenen Verständnis zwischen Sprecher und Hörer (etwa zwischen Freunden oder Liebenden) nicht immer ratsam ist, weiter und bohrend nachzufragen, ob man denn auch wirklich feinkörnig ‚dasselbe‘ meine. Differenzen treten mit zunehmender Feinkörnigkeit der Verständigung nur umso deutlicher hervor. Das ist ein wichtiger Punkt, nicht nur im Falle eines Rendez-vous, sondern vornehmlich auch im Blick auf den interkulturellen Dialog. Besonders sinnfällig wird diese Struktur an dem unscheinbaren, jedoch gewaltigen Übergang von der Wendung „Ich verstehe Deine Sätze/Handlungen“ zu der Äußerung „Ich verstehe Dich“. Zu sagen „Ich verstehe Dich“ heißt auch zu verstehen geben, dass ich nicht länger versuche, die andere Person in meinem Verstehen unter ein Allgemeines zu subsumieren, sondern dass ich sie in ihrer Individualität stehenlassen kann. Je intensiver, umso individueller das Verstehen und umso stärker wird es frei-lassendes und nicht mehr subsumierendes Verstehen. Sowohl beim Eintritt in ein Verständigungsverhältnis als auch in dessen Vertiefung spielt das Freigeben von Unterschieden eine weitaus wichtigere Rolle als die Verschmelzung von Horizonten. Das Desiderat besteht meines Erachtens darin, eine Hermeneutik des Individuellen zu entwickeln. Die Zeichen- und Interpretationsphilosophie glaubt, Instrumente dazu bereitstellen zu können. (e) Innerhalb der Zeichen- und Interpretationsphilosophie spielen die konstruktionalen Elemente in den Prozessen der Verständigung, der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns eine wichtigere Rolle als in der traditionellen Hermeneutik in Bezug auf Texte, Äußerungen und Handlungen. Die Welt, andere Personen und sich selbst zu verstehen, ist nicht bloß ein passives Widerfahrnis, sondern vor allem auch eine Aktivität, eine Weise, etwas zu bewerkstelligen. Ich möchte zugleich betonen, dass ich nicht der Auffassung bin,Verstehen sei einfach Konstruktion mithilfe einer Reihe von Verstehens-Prädikatoren.Vielmehr gehe ich davon aus, dass es ein direktes Verstehen bzw. ein Verstehen ohne weitere Deutung gibt. So verstehen wir in den meisten Fällen die Wörter, Sätze, Handlungen und Gesten anderer Personen unserer Zeichen- und Interpretations-Gemeinschaft problemlos, ohne dazwischen geschaltete Erklärungen und Deutungen. Aber in diesen Vorgängen handelt es sich nicht um ein gänzlich unvermitteltes, unmittelbares Verstehen, sondern um ein in seinen Mechanismen hochkomplexes di-
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rektes Verstehen, das zu einer gegebenen Zeit und in einer gegebenen Situation keiner Erläuterungen und Erklärungen bedarf. Hinter dem abkürzenden Ausdruck ‚direkt‘ verbergen sich jedoch viele komplexe und feinkörnige Komponenten und Mechanismen. (f) Angesichts der grundlegend starken Rolle des „Überlieferungsgeschehens“, der „Wirkungsgeschichte“ sowie der autoritativen „Tradition“ innerhalb der Gadamerschen Hermeneutik (Gadamer 1965: 275, 284, 264 f.) sehe ich auch Grenzen der klassischen Hermeneutik in Bezug auf das Bereitstellen ethischer Gründe zwecks Orientierung in der wissenschaftlich-technischen Welt. Mit der ZuI-Philosophie dagegen ist explizit auch eine Zeichen- und Interpretationsethik und auch eine Philosophie des Politischen verbunden, die ich an anderer Stelle ansatzweise skizziert habe (vgl. Abel 2010a). Deren normativer Kern besteht vor allem aus zwei Punkten: (i) Ethik ist erforderlich, da wir vom Besitz einer definitiven und allgemein verbindlichen Wahrheit nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch abgeschnitten sind, wir es mithin überall und zu allen Zeiten nur mit Zeichen und Interpretationen zu tun haben. (ii) Diese irreduzibel pluralen Zeichen- und Interpretationsverhältnisse, die nicht auf ein gemeinsames absolutes Drittes bezogen werden können, bilden den in sich normativen Ausgangspunkt einer transsubjektiven Ethik, deren Zentrum darin besteht, die Pluralität unterschiedlicher Horizonte und Perspektiven und eben damit Freiheit aufrechtzuerhalten und diese nicht unter dem Diktat eines partikularen und moralisierenden Sollens monoethisch einkassieren zu lassen. Die Analytische Philosophie und die Klassische Hermeneutik können als zwei der relevantesten Typen der Gegenwartsphilosophie angesehen werden. Darauf bezogen zeigen die skizzierten Abgrenzungen und die Charakterisierung der damit verbundenen Position als trans-analytisch und als trans-hermeneutisch auch, dass und in welchem Sinne sich die ZuI-Philosophie als ein Typus von Philosophie jenseits dieses überlieferten Gegensatzpaares versteht.
3 Stellung der Zeichen- und Interpretationsphilosophie in der Geschichte der Philosophie Przylebski liefert in Teil 1 seines Beitrags auch eine Zuordnung der ZuI-Philosophie zur Geschichte der Hermeneutik. Deutlich wird darin zum einen, in welcher positiven Verbindung die ZuI-Philosophie zu Autoren wie Schleiermacher, Dilthey, Heidegger, Gadamer und Ricœur steht, zum anderen, in welchem Sinne mit der ZuI-Philosophie erweiternd und präzisierend philosophisches Neuland betreten wird und es somit zu einer Neuorientierung im Selbstverständnis der Phi-
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losophie selbst kommt. Diese Zuordnung und Einschätzung finde ich sehr ehrenvoll. Neben dem von Przylebski angeführten und so prominent besetzten Setting möchte ich im Blick auf die Selbstverortung der ZuI-Philosophie in der Geschichte der Philosophie vier Aspekte anfügen. Die ZuI-Philosophie könnte als ein zeitgemäßer Ausdruck der folgenden zugleich historischen wie systematischen Sachzusammenhänge angesehen werden: (a) der historischen Entwicklung der Philosophie seit der Frühen Neuzeit und der in dieser zunehmend stärker gewordenen Karriere der Begriffe ‚Interpretation‘ und ‚Zeichen‘ bzw. der zunehmend stärker gewordenen Einsicht in die interpretative und zeichengebundene Natur eines jeden möglichen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses; (b) eines systematischen Reflexionsstandes der Gegenwartsphilosophie, dem zufolge jede Konzeption der Wirklichkeit von der Grammatik und den Regeln des verwendeten Zeichen- und Interpretationssystems abhängig gedacht werden muss; (c) der Bedingungen des nicht rückgängig zu machenden Verlustes essentialistischer Metaphysik und Ontologie; und (d) der Herausforderung, jenseits bzw. diesseits des Würgegriffs der Dichotomie von Essentialismus und Relativismus, mithin heute erklärtermaßen auch jenseits der ‚schwachen‘ Philosophie der Postmoderne, Fuß fassen zu müssen.
4 Die Quellen der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Welches sind die Quellen der ZuI-Philosophie? Hier sagt Przylebski, wie ich finde unzutreffender Weise, dass ich mich zwar auf „zwei Klassiker der kontinentalen Philosophie“, nämlich Kant und Nietzsche, beziehe. Aber er sieht die ZuI-Philosophie dennoch „hauptsächlich aus den Diskussionen innerhalb der analytischen Philosophie entsprungen“ und „dieser Denktradition am stärksten verpflichtet“, wobei er an Autoren wie Wittgenstein, Goodman und Putnam denkt (Kap. 1 u. 2). Zwar ist mir der Bezug zur Analytischen Philosophie auch in diesem Kontext sehr wichtig. Man sieht dies deutlich an dem Buch Interpretationswelten (Iw), das den interpretationsphilosophischen Ansatz in eine Auseinandersetzung mit den wichtigsten Positionen der Analytischen Philosophie schickte, um dessen Leistungsfähigkeit zu testen. Aber der Ansatz war natürlich vorab und in stark kontinentaler Linie in der Tat von Nietzsche und Kant bereits konturiert. In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Dinge hervorheben: (a) Der Ansatz der ZuI-Philosophie speist sich aus zumindest vier Quellen, nämlich: (i) der Kantischen Tradition (ich war Student in Marburg und habe mit Klaus Reich,
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Reinhard Brandt und Burkhard Tuschling noch die späten Ausläufer des Marburger Kantianismus mitbekommen);² (ii) der Philosophie Nietzsches, in welcher der Interpretationsgedanke eine grundlegende Rolle spielt, die ich in meinem Nietzsche-Buch (N) einer gewissen Systematisierung zuzuführen versucht habe; (iii) der Philosophie und dem Sprachpragmatismus Wittgensteins; und (iv) der allgemeinen Symboltheorie vor allem Nelson Goodmans wie auch, jedoch weit weniger, derjenigen Charles Sander Peirce’s (vgl. Abel 2001). (b) Trotz der Aufnahme einer Reihe von Interpretamenten aus der Analytischen Philosophie unterscheidet sich die ZuI-Philosophie doch charakteristisch von dieser. Dies werde ich in einem eigenen Abschnitt unten in einigen prägnanten Punkten skizzieren. Wenn Przylebski schreibt, dass ich angesichts der Einbettung in die Diskussionen der Analytischen Philosophie „kaum Rücksicht“ (Kap. 2) auf die Entwicklungen innerhalb der Hermeneutischen Philosophie, der Anthropologie und der hermeneutischen Phänomenologie genommen hätte, so bedarf diese Einschätzung einer Korrektur. Der Grund ist vielmehr der, dass ich, leider, in den von Przylebski genannten Bereichen nach Heidegger nur wenig wirklich Neues und Wichtiges gesehen habe. Ich bedauere das und begrüße daher den Vorstoß von Przylebski in diese Richtung umso mehr. Einer der Gründe, warum ich mich in einer bestimmten Phase explizit und stärker der Analytischen Philosophie zugewandt habe, war – neben dem Niveau der dort anzutreffenden Argumentationskultur – die Erfahrung, dass zu einigen der grundlegenden Themen der Philosophie im deutschsprachigen Bereich nach dem 2. Weltkrieg kaum mehr wirklich vorwärtstreibende Überlegungen vorgestellt wurden. Ich denke unter anderem an Themenfelder wie Wahrnehmung, Sprachphilosophie, Symboltheorie, auch Wissenschaftsphilosophie und Logik. Erst in jüngster Zeit beginnt sich diese Situation zu verändern.
5 Trans-analytische Perspektiven Die ZuI-Philosophie kann gegenüber der orthodoxen Analytischen Philosophie abgegrenzt und als trans-analytisch bezeichnet werden. Im Folgenden möchte ich holzschnittartig vier Unterschiede betonen (vgl. Abel 2012a): (a) Orthodoxe Analytische Philosophie ist fokussiert auf die logische Analyse und die logische Form von Wörtern, Begriffen und Sätzen. Die Konzentration auf
Kant könnte vielleicht sogar als der erste Interpretationist angesprochen werden aufgrund seiner Betonung der konstruktionalen Elemente, der epistemischen Situation des Menschen, des Horizontcharakters eines jeden Weltverständnisses und der Grenzen des Sinns.
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diese Dimension unseres Denkens ist außerordentlich bedeutsam im Blick auf das argumentative Niveau der Philosophie. Zugleich liefert die conceptual analysis teils überaus aufschlussreiche Resultate. Doch zeigen sich nach den ersten Schritten solcher Analyse schnell auch die Grenzen dieser philosophischen Methode, denn zunehmend und unvermeidlich werden die Verhältnisse holistisch. Aus diesem Grunde sind in eine umfängliche und zufriedenstellende Beschreibung Komponenten einzubeziehen, die den Rahmen einer rein begrifflichen Analyse überschreiten, vor allem: Situationen, Einstellungen, Perspektiven, Horizonte, Kontexte, Traditionen, Konventionen, mentale Zustände und reziproke Sprecher-Hörer-Relationen. (b) Wird die Aufmerksamkeit auf die Prozesse des Triangels von Kommunikation, Welterschließung und Handlungen sowie auf die Wechselspiele der damit verbundenen Prozesse gelenkt, dann stoßen wir umgehend auf die hohe Relevanz auch von Formen nicht-theoretischen, nicht-szientifischen und nicht-propositionalen Wissens sowie auf einen nicht-formalisierbaren, nicht-propositionalisierbaren und nicht-algorithmisierbaren Typus von Rationalität. Ein Beispiel, das beide Bereiche, nicht-theoretisches Wissen und nicht-algorithmisierbare Rationalität, betrifft, wäre das Knowing-How im Unterschied zum sprachlich-propositionalen Knowing-That. Die Aufmerksamkeit auf die nicht-reduzierbare Eigenlogik des Knowing-How zu lenken, führt meines Erachtens zur Verabschiedung der für die kognitivistisch orientierte Analytische Philosophie kennzeichnenden These, Knowing-How sei bestenfalls eine Version von Knowing-That (was in der orthodoxen Analytischen Philosophie nach wie vor die Mainstream-Auffassung ist und durch Autoren wie Timothy Williamson und Jason Stanley (2001) sowie durch Teile der sich daran anschließenden Debatte erneut Auftrieb erhalten hat).³ (c) Die Faszination der formalen Logik als Lehre des korrekten prämissenfolgernden Schließens und formaler/künstlicher Sprach- und Symbolsysteme besteht zu Recht. Mit Hilfe formal-logischer Verfahren können wir Aspekte eines Problems ans Licht bringen und diese gegebenenfalls einer Lösung zuführen, die wir ohne den Einsatz formaler Verfahren gar nicht zu Gesicht bekommen hätten. Gleichwohl kann die formale Logik nicht das Modell für natürliche Sprachen, Intelligenz, Kommunikation und Handlungen sein. Und entsprechend kann die Mathematik bei aller hervorzuhebenden Faszination, die mit ihr verbunden ist, nicht das Modell der Philosophie sein. Ich möchte diesen Punkt mit Hilfe einer Kantischen Unterscheidung verdeutlichen. In Mathematik, Logik und formalen Sprachen konstruieren wir Begriffe, z. B. den Begriff des Kreises durch die Angabe der Regel zur Konstruktion eines Kreises mithilfe von Zirkelpunkt, Zirkelradius
Grundlegend anders die Auffassung in (Abel 2010b).
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und Zirkelbewegung. Oder wir konstruieren z. B. den Begriff ‚Haselnuss‘ durch die Angabe definierender Prädikatoren, z. B. durch ‚hartschalig‘. In der Philosophie dagegen – und vornehmlich in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie – machen wir gegebene Begriffe deutlich, das heißt wir erläutern, eluzidieren gegebene Begriffe, wie z. B. die Begriffe ‚Zeit‘, ‚Freiheit‘, ‚Leben‘, ‚Gerechtigkeit‘. Anders als in manchen Teilen der Analytischen Philosophie beginnen wir in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie nicht mit Definitionen. Wenn jemand zu Beginn eines Gesprächs z. B. in Sachen Zeit oder Freiheit seinen Gesprächspartner auffordert „Geben Sie doch erst einmal eine Definition von ‚Zeit‘ oder ‚Freiheit‘!“, dann könnten wir leichtfüßig die Rück-Aufforderung stellen „Geben Sie doch erst einmal eine Definition von ‚Geben Sie eine Definition von Zeit oder Freiheit‘“. Man merkt sofort: so kommen wir nicht nur nicht weiter, sondern erst gar nicht ins Thema. Mit Recht hat Kant auf den entscheidenden Punkt aufmerksam gemacht: Definitionen stehen am Ende, nicht am Anfang (KrV A 730 f. / B 758 f.). (e) Eine der größten Herausforderungen der gegenwärtigen Philosophie besteht meines Erachtens darin, die Interpenetrationen von Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes, Handlungsphilosophie und Epistemologie auszubuchstabieren. Diese Herausforderung überschreitet den klassischen Kanon der Ziele und Mittel orthodoxer Analytischer Philosophie. In ihrer orthodoxen Ausprägung ist Analytische Philosophie immer noch vor allem auf zwei Aspekte konzentriert: auf die logische Analyse und auf den wissenschaftlichen Realismus. Doch diese beiden Perspektiven allein sind bei weitem zu wenig für eine integrale Philosophie des tatsächlichen Sprechens, Denkens, Wahrnehmens und Handelns. Zu wenig wäre auch die Konzentration allein auf das Reich der Russellschen Propositionen, der Fregeschen Gedanken und/oder der möglichen Welten. Diese drei Reiche bilden über weite Strecken nach wie vor die hauptsächlichen AttraktionsPunkte der orthodoxen Analytischen Philosophie. In puncto ‚philosophische Methode‘ hat Philosophie meines Erachtens dagegen vor allem im Erläutern, Verdeutlichen und Eluzidieren derjenigen auch intuitiven Aspekte zu bestehen, welche die Verfasstheiten unseres Lebens, Sprechens, Denkens, Wahrnehmens und Handelns kennzeichnen und deren Klärung zugleich Orientierung in der Welt sowie anderen Personen und uns selbst gegenüber ermöglicht.
6 Interpretativität der Tiere Interessant finde ich die Bemerkungen von Przylebski zum Verhältnis von Mensch und Tier in puncto Interpretation (Kap. 2). Die Differenzierung innerhalb des Interpretationsbegriffs sowohl der Ebene als auch der Hinsicht nach stützt die intuitiv einleuchtende Formulierung: Tiere interpretieren. Przylebski hat recht, dass
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ich dieses Feld der Forschung noch nicht betreten habe, es aber wohl in meinem Kopf präsent ist. Analog zum Titel des von Przylebski erwähnten und von Dominik Perler und Markus Wild (2005) herausgegebenen Buches Der Geist der Tiere möchte ich von der Interpretativität der Tiere sprechen. Solche Rede wäre dann zu präzisieren auf dem ganzen Spektrum vom ersten sensorischen Affiziertwerden durch Reize bis hin zur Ausübung kognitiver Fähigkeiten bei Tieren, im weiten Sinne des Ausdrucks ‚kognitiv‘, mit welchem ich die Organisationsleistungen der triangulären Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse adressiere. Ganz offenkundig verfügen Tiere in diesem weiten Sinne über kognitive Fähigkeiten des zeichengebundenen und darin ineins interpretierenden Umgangs mit und der Orientierung in ihrer Umwelt, der natürlichen Welt, in der sie leben. Tiere höherer Ordnung lösen keine Differentialgleichungen und diskutieren nicht in Bezug auf die Gültigkeit ethischer Argumente. Aber offenkundig verfügen sie über eine Fülle kognitiver Fähigkeiten im weiten Sinne und sind uns Menschen in diesen, wie z. B. in Sachen Geruchssinn oder in puncto fixierender Wahrnehmung aus großer Distanz, hochgradig überlegen. An diese Befunde schließt sich die überaus spannende Frage an, ob Tiere auch, und analog zu Menschen, ihre Interpretationen interpretieren und in diesem Sinne nicht bloß über eine Art von sensorischer Reaktion, sondern über Rückkopplungen und Selbstbezüglichkeiten zweiter Ordnung, mithin über Formen von Bewusstheit und rudimentäre Formen von Selbstbewusstsein verfügen. Bis auf weiteres vertrete ich die These, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier, und mithin die Antwort auf die Frage „Was, wenn überhaupt etwas, macht uns als Menschen im Verhältnis zu Tieren einzigartig?“, damit zusammenhängt, dass Menschen in der Lage sind, den zeichen-interpretativen Charakter ihres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses, mithin ihre sich darin manifestierende Interpretativität zu interpretieren und genau diese Struktur in ihrem Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Erleben und Handeln in orientierender Funktion leitend werden zu lassen.
7 Zeichen- und Interpretationsphilosophie und Sprache Przylebski glaubt, in der ZuI-Philosophie eine „gewisse Sprachvergessenheit“ (Kap. 2) ausmachen zu können, obwohl er sieht, dass ich der Sprache eine überaus zentrale Rolle zuspreche. Er glaubt damit, die folgenden Punkte kritisch betonen zu müssen: (a) dass ich Sprache nicht als eine „die Potenz jedes Sprachnutzers überschreitende Ganzheit“ verstehe; (b) dass die Sprache in der
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ZuI-Philosophie „in etwas breiteres integriert wird, nämlich in ein Zeichensystem“; (c) dass ich Sprache als solche „instrumentalistisch“ deute; und (d) dass „Metaphern“, die den ganzheitlichen Charakter der Sprache veranschaulichen (wie z. B. Heideggers Formulierung „Die Sprache ist das Haus des Seins“), in der ZuI-Philosophie „fehl am Platz“ wären (ebd.). Zu diesen Punkten darf ich wie folgt Stellung nehmen: (a) Erwiesenermaßen spielt die Sprache in der ZuI-Philosophie eine herausragende Rolle. Das betrifft sowohl die grundlegende Funktion der Sprache in jeder Kommunikation und Kooperation zwischen Personen und in Bezug auf die Welt, als auch den ganzheitlichen und im Kern allgemeinen Charakter, der mit jedem Ausdruck, mit jedem Wort, mit jeder Wendung und mit der Sprache als solcher nicht-eliminierbar gegeben ist. (b) Die Pointe der Rede von sowie des Buchtitels Sprache, Zeichen, Interpretation ist nicht, dass Sprache in ein Zeichensystem integriert und so gleichsam vereinnahmt und depotenziert wird. Entscheidend ist vielmehr, dass wir im Verwenden einer alphabetischen Sprache stets auch auf deren Grenzen aufmerksam werden, etwa auf die Grenzen der Sprache in Sachen Repräsentation und Artikulation angesichts z. B. von Farbempfindungen, Gefühlen, Emotionen, inneren Empfindungszuständen, existenziellen Gestimmtheiten und damit eben gerade auch dessen, was wir als Verfasstheit und Vollzugsmerkmale des menschlichen In-der-Welt-seins zur Darstellung bringen oder doch wenigstens ein Stück weit in der philosophischen Reflexion in den Fokus des uns Zugänglichen bringen möchten. Von Sprachvergessenheit kann daher in keiner Weise die Rede sein, wohl aber von der Aufmerksamkeit, der Sprache nicht in Form einer Sprachüberschätzung auf den Leim zu gehen. So sehe ich die Gadamersche Betonung der Rolle der Sprache durchaus im Zusammenhang des bekannten linguistic turn als eine von dessen Varianten, eben die hermeneutische Variante. Aber der linguistic turn ist inzwischen seinerseits an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gestoßen. Auch das ist einer der Gründe, die ganze Betrachtung von der alphabetischen und urteilsgrammatischen Sprache hin zur Einbeziehung auch nichtsprachlicher Zeichen (wie etwa von sensorischen Empfindungen, Gesten, Perzeptionen, musikalischen Klängen, Bildern, bildnerischen Expressionen, Zeichnungen, diagrammatischen Darstellungen, Stimmungen, Verhalten) zu erweitern und das Zusammenspiel von sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen für eine dichtere Beschreibung des In-der-Welt-seins und der Lebenswelten fruchtbar zu machen. In dieser Erweiterung und nicht in irgendeiner Integration liegt die Pointe. Sie müsste eigentlich auch dem Anliegen von Przylebski direkt entgegenkommen. Und bei dieser Erweiterung denke ich keineswegs primär an Zeichensysteme. Der Grund ist ein doppelter. Weder ist die Sprache, die im tatsächlichen
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Sprechen und in interindividueller Kommunikation ihre Existenz und Geltung hat, noch sind die nicht-sprachlichen Zeichen der angeführten Art angemessen beschrieben, wenn ihr Funktionieren rein systemisch, das heißt als das Funktionieren eines Systems verstanden wird. Sprache und Zeichen (und entsprechend Sprach- und Zeichenverhältnisse) sind in meiner Sicht keine Systeme, weder im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie noch im Sinne der Kantischen Vereinheitlichung alles unseres Wissens in einem System. Vor dem skizzierten Hintergrund eröffnen sich übrigens auch mehrere interessante Schnittstellen zwischen der ZuI-Philosophie und der Psychologie, der Psychoanalyse Sigmund Freuds, der existenzialen Psychoanalyse sowie der heutigen Existentiellen Psychotherapie, wie sie von Irvin D. Yalom vertreten wird (Yalom 1980). (c) Erklärtermaßen vertrete ich nicht eine instrumentalistische Auffassung der Sprache, und zwar weder auf der Ebene der Alltagsprache noch auf der der Wissenschaften oder der Künste und schon gar nicht auf der ZuI1-Ebene des menschlichen In-der-Welt-seins (vgl. insbesondere SZI Teil II). Ich betone diesen Punkt auch deshalb, weil ich denke, dass er dem Anliegen von Przylebski selbst deutlich entgegenkommt. (d) Seine Bemerkung zur Rolle von Metaphern in der ZuI-Philosophie könnte ein doppeltes Missverständnis auslösen: die Ansicht nämlich, dass ich erstens keinen Platz für Metaphern habe und diesen zweitens nicht viel zutraue. Das Gegenteil ist der Fall. In der ZuI-Philosophie spielen Metaphern eine überaus wichtige Rolle und sie haben erklärtermaßen einen wichtigen kognitiven Status (vgl. z. B. Abel 1997 und neuerlich auch Abel 2016). Zur Illustration der so wichtigen Rolle von Metaphern seien hier lediglich zwei Bereiche erwähnt: (i) das In-der-Welt-sein im Sinne der I1-Ebene und (ii) die Wissenschaften (von der kognitiven Rolle des künstlerischen Wissens bzw. des Wissen in den Künsten erst gar nicht zu sprechen). Je näher und tiefer wir an die Verfasstheit und die Vollzüge des In-der-Weltseins heranreflektieren und je direkter und stärker die Erfahrung und das Erleben dieser Verfasstheit und Vollzüge sind, desto stärker werden wir in das Problem der Darstellung verstrickt. Damit meine ich den herausfordernden Punkt, dass wir die prozessuale Eigenart von lebensweltlichen und nicht-hintergehbaren Vollzügen mit Mitteln darstellen müssen, von denen wir in der Reflexion bereits wissen, dass sie sich von dem noch ungegliederten und prozessualen Vollzugscharakter des in Frage stehenden Bereichs, des In-der-Welt-seins, stets bereits ein Stück weit entfernt haben. Die Crux ist, dass wir nicht umhin zu kommen scheinen, den ZuI1prozessualen und zunächst ungegliederten Charakter unseres In-der-Welt-seins sowie des flüssigen Funktionierens des Triangels Ich–Wir–Welt mit Zeichen3 und Interpretationen3, also mit ZuI3-Instrumenten darstellen zu müssen, zu deren
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Charakter als Darstellungen auf der Ebene 3 von vornherein gehört, dass sie denotierende, gliedernde und den Fluss der Dinge fest-stellende Zeichen und Interpretationen sind. Das ist der Kern des zeichen- und interpretationsphilosophischen Problems der Darstellung. Und das ist meines Erachtens zugleich auch der Punkt, an dem Metaphern eine basale Rolle und keineswegs bloß die eines Lückenbüßers zufällt. Gelingende, aufschließende und Zugang eröffnende Metaphern lassen hier die Lücke erst gar nicht aufkommen, in der jede Beschreibung und Erklärung als defizitäre Verfehlungen verschwinden würden. Und schließlich, auch wenn ich Heideggers Metapher „Die Sprache ist das Haus des Seins“ in der Tat heute nicht mehr für gelungen, ja teils auch für irreführend halte und daher nicht verwenden würde, so formuliere ich doch ganz klar etwa Bilder wie dieses: ‚In der Sprache steckt und manifestiert sich mehr als man spricht‘. Auch finde ich die Wendung des Malers Gerhard Richter trefflich: „Meine Bilder sind klüger als ich“. Den wichtigen Unterschied zu der zitierten Heideggerschen Metapher sehe ich in Folgendem: In den Fällen gelungener Metaphern geht es nicht darum, dass etwas (im Beispiel: das Sein) von einem quasi nicht-epistemischen Ort aus in einen sprachlichen Ausdruck schlüpft und diesen damit zur Metapher macht. Das wäre, wenn man so will, jenseitige Metaphorizität. Vielmehr geht es meines Erachtens um den im Blick auf Metaphern grundlegenden Punkt, dass jede bestimmte, jede buchstäblich denotierende und darin festlegende Sprach-, Zeichenund Interpretationsverwendung aus sich heraus ein sich selbst transzendierendes und gleichsam ins Offene führendes Moment hat. Dieses Moment kann kraft einer gelingenden Metapher zur Darstellung kommen und in den Kommunikationsund Kooperationsverhältnissen eine wichtige Orientierungsfunktion ausüben. Übrigens halte ich dieses diesseitig transzendierende Moment eines jeden festlegenden Sprach-, Zeichen- und Interpretationsgebrauchs für das Komplementärstück zu der faktischen Unerschöpflichkeit der Aspekte eines Gegenstandes, sei dies ein Tisch, ein Gefühl oder eine Zahl.
8 „An-sich der Welt der Natur“? Nicht einverstanden bin ich mit Przylebskis Auffassung, es gäbe so etwas wie ein „An-sich der Welt der Natur“ (Kap. 2). Er bemängelt, dass in meiner Sicht die Natur zur ‚interpretierten Natur‘ werde. Aber Natur bzw. Naturerfahrung ist immer interpretierte, – wie sollte es unter den für uns Menschen nicht-überspringbaren epistemischen Bedingungen je anders sein können?! Ein Blick in die Geschichte des Verständnisses von Natur und des Naturbegriffs belegt dies eindrucksvoll. Und längst schon gehen wir natürlich davon aus, dass auch die Natur eine Ge-
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schichte hat, sprechen von ‚Naturgeschichte‘. Jedenfalls scheint mir der Begriff der Natur ebenso wie der Begriff der Erfahrung heute so ungeklärt wie je zu sein. Übrigens bin ich davon überzeugt, dass die ZuI-Philosophie einen Beitrag nicht nur zu einem angemesseneren, sondern auch zu einem robusteren Verständnis von Natur und Erfahrung leisten kann, als dies einem metaphysischrealistischen Konzept einer Natur-an-sich letztlich möglich sein wird. Die Konzeption einer Natur-an-sich sieht sich in historischer wie systematischer Perspektive unter kritischer Prüfung schlussendlich zu Abschwächungen und Rückzügen in puncto Naturbegriff bis hin zu einer bloß noch hypothetischen Natur gezwungen. Demgegenüber kann die ZuI-Philosophie verblüffender Weise einen deutlich robusteren Sinn von ‚Natur‘ verteidigen. Sie vermag dies, indem sie auf der Ebene des Verwendens und Verstehens von Zeichen und Interpretationen – insbesondere beim tatsächlichen Sprechen und Handeln – auf die sinnlogische Assumption setzt, dass es das, wovon die Zeichen und Interpretationen handeln und worauf sie sich beziehen, auch tatsächlich gibt und in diesem Sinne von der Natur gestützt wird. Um diese stabilisierende Rolle überhaupt spielen zu können, muss Natur stets interpretierte Natur sein, was sie faktisch ja auch ist. Dies zu sagen, schließt die These ein, dass die so wichtigen Konzepte der ‚Objektvität‘ und der ‚Wahrheit‘ in der ZuI-Philosophie nicht nur nicht auf der Strecke bleiben (das wäre intellektueller Selbstmord), sondern in der skizziert starken Version reformuliert werden. Dies ist meines Erachtens die eigentliche Aufgabe, nicht aber das auf verlorenem Posten stehende Einklagen eines metaphysischen An-sich der Natur. Solange wir an letzterer Position unkritisch und dogmatisch festhalten, werden uns, denke ich, die Welt und die Natur um uns herum immer fragwürdiger und fremder. Ein gnostisches Syndrom würde sich breit machen, denn wir könnten dann nie sicher sein, dass die Natur, in der wir leben, auch tatsächlich die an-sich-seiende, die wahre, die wirkliche Natur ist. Bei einem selbst-destruktiv hoch angesetzten Verständnis von Natur wäre eine gnostische Welt- und Naturfremdheit die Folge. Auch hier gilt: weniger wäre mehr! Demgegenüber gibt die Auffassung der Natur als interpretierte Natur (einschließlich der Auffassung, dass wir mit unseren Interpretationen3 offenkundig an der Natur scheitern können und in solchen Fällen selbstverständlich nicht die Natur, sondern unsere Interpretationen3 ändern) die kaum hoch genug zu veranschlagende lebensweltliche Gewissheit, dass wir auf hochgradig vertraute Weise, ohne gnostisches Syndrom, in der Natur leben.
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9 Die unterschiedlichen Profile der ZuI1-Ebene und ZuI2-Ebene Przylebski merkt an (Kap. 2), dass meine beiden Ebenen der Interpretation1 und Interpretation2 von Heidegger und Gadamer wohl zu einer Einheit zusammengezogen würden. Zu diesem Punkt möchte ich wie folgt Stellung nehmen: (a) Solange unsere Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse flüssig funktionieren, haben wir es stets mit einem eingespielten Ineinandergreifen und das heißt mit einer Einheit aller drei Ebenen der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse zu tun. (b) Die Unterscheidung der Ebenen (Deutung, habituelle Gewohnheiten, Kategorialisierungen) und der Hinsichten (logisch, ästhetisch, ethisch), die ich vornehme, sind ihrem Status nach heuristisch, nicht theoretisch (zu einer detaillierten Beschreibung der Ebenen und Hinsichten vgl. Abel 1989). (c) Mit den heuristischen Unterscheidungen sind weder ontologische Setzungen noch ontologische Verpflichtungen verbunden. Das Stufenmodell ist kein ontologisches Schichtenmodell und darf nicht als ein solches missverstanden werden. Vielmehr liegt einer der methodologischen Vorteile des gesamten Ansatzes darin, nicht von Anfang an und nicht zu schnell auf ontologische Annahmen verpflichtet zu sein. Das ZuI-Modell ist ein Reflexions- und ein Zuschreibungs-Modell. (d) Je nach Aufgabe und Zweck können die Unterscheidungen entweder weiter verfeinert oder aber auch vereinfachend zusammengezogen werden. So kann es z. B. für die Zwecke, die Przylebski mit seinem Konzept einer Hermeneutischen Philosophie verfolgt, unter Umständen zweckmäßig sein, die Ebenen 1 und 2 in ihrem einheitlichen Wirken zu sehen. Denn bezogen auf die tatsächlichen Phänomene haben wir es stets mit einem flüssigen und bereits fusionierten Ineinandergreifen der unterschiedlichen Ebenen und Hinsichten zu tun. Die Situation wäre unzutreffend beschrieben, wollten wir behaupten, ein konkretes Phänomen, eine konkrete Erfahrung oder ein konkretes Erlebnis kämen überhaupt erst dadurch zustande, dass zwischen den zunächst separierten unterschiedlichen Ebenen und unterschiedlichen Hinsichten Brückenschläge (die gewissen Brückenprinzipien gehorchten) zustande gebracht werden müssten. Das wäre ein offenkundig irriges Bild. (e) Es handelt sich um Verhältnisse der Einheit und der Differenz gleichermaßen. Wenn auf der ZuI3-Ebene die bislang flüssige Verwendung eines Wortes dadurch ins Stocken gerät, dass nach der Bedeutung des Wortes gefragt wird, mithin ein Störfall im flüssigen Funktionieren der Kommunikation und der korrelierten Kooperation eintritt, dann bemühen wir nicht ein metaphysisches Call-
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Center, um die richtige Bedeutung des fraglichen Wortes von den Göttern zu erfragen, sondern wir fragen bei anderen Sprechern nach, wie sie das Wort üblicherweise verwenden, kurz: wir gehen in die ZuI2-Ebene (in die Ebene z. B. der deutschen oder der englischen Sprache) zurück, um den Störfall auf Ebene 3 beseitigen zu können. Diesen Übergang kann man als Übergang von einer individuellen Sprecher-Bedeutung in die allgemeine Sprach-Bedeutung fassen. Das heißt noch nicht, dass wir zur Beseitigung des ZuI3-Störfalls nicht auch noch in die ZuI1-Ebene zurückgehen müssen, falls nämlich die Auskunft, die wir auf Ebene 2 erhalten, den Störfall auf Ebene 3 noch nicht beseitigt. Auf diese Weise ist zunächst die Relevanz der Unterscheidung zwischen ZuI3- und ZuI2-Ebene belegt. Befriedigt uns der skizzierte Rückgang in die I2-Ebene noch nicht, bleibt mithin der Störfall auch auf dieser Ebene noch erhalten, dann gehen wir üblicherweise von dort in die Ebene 1, des näheren in das dort wirksame Weltbild und die dort wirksamen Mechanismen des sprach-, zeichen- und interpretations-gebundenen Diskriminierens, Individuierens und raum-zeitlichen Lokalisierens (vgl. Abel 1989) zurück. Ziel eines solchen Rekurses ist es dann, mit den so in den Fokus der Aufmerksamkeit geratenen Eigenheiten und Verfasstheiten unseres In-der-Weltseins und unserer Lebenswelt zugleich auch die semantischen Merkmale eines Wortes, Zeichens oder einer Handlung adressieren zu können, nämlich die Bedeutung, die Referenz, die Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen. Der umgangssprachliche Ausdruck für ein solchermaßen nicht-hintergehbares Resultat lautet: „So machen wir das in unserer Welt eben, so sprechen wir eben, so handeln wir eben!“ Pocht mein Gesprächspartner als unerschütterlicher Skeptizist an dieser Stelle immer noch auf die mögliche Falschheit der Bedeutung und Referenz des Störfall-Wortes, dann heißt dies, dass er aus der bis zu diesem Punkt gemeinsam geteilten Lebens-, Bedeutungs- und Sinnwelt auszutreten und sich außerhalb dieser aufzustellen versucht. Ein solcher Versuch jedoch wäre in dem Sinne selbstdestruktiv, als damit der Frage nach der Bedeutungs- und Sinnhaftigkeit des durch den Störfall befallenen Ausdrucks selbst der Boden entzogen würde. Tritt dieser Fall ein, können wir ihn letztlich nur hinnehmen, d. h. wir müssen ihn dann so stehenlassen. In Bezug auf das Problem, das Przylebski artikuliert, nämlich I1Ebene und I2-Ebene zu einer Einheit zusammenzuziehen, wird an dieser Stelle deutlich, dass es sehr wohl Kontexte geben kann, in denen es ausgesprochen sinnvoll ist, beide Ebenen heuristisch und zu einem bestimmten Zweck zu unterscheiden (nicht: voneinander abzutrennen). Hinzu kommt der einfache Punkt, dass es, sobald es um feinkörnigere Beschreibungen geht, offenkundig guten Sinne macht, die beiden Ebenen zu unterscheiden, einfach deshalb, um Dinge, die unterschieden sind, auch zu unterscheiden, wie z. B. grundbegriffliche Individuationen und habituelles Verhalten.
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(f) Natürlich kann der Bereich der Interpretatonen2 materialiter noch weiter unterfüttert werden. Da stimme ich der Einschätzung von Przylebski (Kap. 2) zu. Insbesondere wäre hier eine „kulturanthropologische“ (ebd.) Anreicherung, die ihm wohl am Herzen liegt, sehr begrüßenswert. Sie stellt ein spezifizierendes Desiderat der ZuI-Forschung dar. Darin würde möglicherweise auch ein Beitrag seitens der ZuI-Philosophie für die Kulturanthropologie und für kulturwissenschaftliche Fragen deutlich. Freilich kann es in der ZuI-Philosophie nicht mehr um so etwas wie anthropologische Konstanten gehen. Aber hier liegt ein weiterer Punkt der Kooperation zwischen ZuI-Philosophie und Hermeneutischer Philosophie. In der von Przylebski erwähnten Anmerkung (SZI 294, Anm. 70) habe ich einige der in meinen Interpretations-Welten (Abel 1989) ausführlicher beschriebenen Funktionen der Interpretation2-Ebene abkürzend zusammengefasst. Dabei handelt es sich um die folgenden Funktionen und Rollen der Interpretationen2 im Sinne von Gleichförmigkeitsmustern: (a) der habituellen, (b) der gesellschaftlich und kulturell erworbenen, (c) der konventionellen, (d) der regulatorischen, (e) der stereotypischen und (f) der projizierenden Interpretationen2. Auch möchte ich meine neuerliche Konzentration auf Fragen der Bestimmung, des Status und der Rolle des Knowing-How (vgl. Abel 2012b) für das flüssige Funktionieren unserer Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse als einen Beitrag verstehen, die ZuI2-Ebene näher auszubuchstabieren und in ihrer Funktion für das flüssige Funktionieren der triangulären Verhältnisse von Ich, Wir und Welt näher zu bestimmen.
10 Pluralität der Welten? Ein weiterer Punkt, den Przylebski kritisch anspricht (Kap. 2), ist die Rede von ‚Welten‘ im Plural, wie schon in dem Titel des Buches Interpretationswelten (Iw). Hierzu möchte ich wie folgt Stellung nehmen: (a) Es ist wichtig auszubuchstabieren, inwiefern es sowohl Sinn macht, von der ‚Einen Welt‘ zu sprechen, in der wir leben und auf die wir uns verstehen, als auch von einer ‚Pluralität von Welten‘ zu sprechen (vgl. Abel 1996). Jedenfalls sollten wir keine Opposition, keine dogmatische Dichotomie zwischen Einheit und Vielheit, zwischen der Einen und den Vielen Welten konstruieren. (b) Unsere mit anderen Personen geteilte Lebenswelt und Lebensform, in der, aus der heraus und auf die hin wir so leben, wie wir leben, ist ‚Eine Welt‘, unsere alltägliche Welt, auf die wir uns verstehen und in der wir orientiert sind. In diesem Sinne führen wir kein Quer-Welten-Leben und auch kein Leben synchronisiert in vielen Welten gleichzeitig. (c) Schwieriger wird es da schon, wenn wir mehrere symbolische Welten unter einen Hut bringen sollen, zum Beispiel Alltags-, Wissenschafts-, Kunst-, Ritual-,
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Moral- und Religionswelten. Es ist nicht immer leicht, ja in der Regel ausgesprochen schwierig, diese Pluralität auf eine und nur eine einzige Welt bzw. auf ein allen diesen Welten gemeinsames Drittes und Zugrundeliegendes zurückzuführen und sie als individuierte Welten von dieser Einen Welt dann umgekehrt abzuleiten und verständlich zu machen. Das Argument, das ich – in Anlehnung an Aristoteles‘ Argument des ‚dritten Menschen‘, demzufolge ein einzelner Mensch und die Idee des Menschen doch etwas Gemeinsames haben müssten, um die Beziehung zwischen beiden verständlich machen zu können – das Argument der ‚dritten und gemeinsamen Welt‘ nennen möchte, ist nicht, jedenfalls nicht in allen Fällen, durchzuführen. Es gibt Fälle, in denen die Pluralität der Welten irreduzibel stehen bleiben muss. Treten diese Fälle ein (wie z. B. im Falle des Verhältnisses von wissenschaftlicher, ästhetischer und moralischer Welt), dann scheint es, einer Einsicht Goodmans folgend, sinnvoll, von einer Pluralität solcher Welten auszugehen. Was will man anders denn auch machen, wenn sie sich nicht isomorph aufeinander abbilden oder auf ein allen gemeinsames Drittes zurückführen und aus einem solchen, vermutlich recht ungenießbaren Konstrukt umgekehrt nicht ableiten lassen. Diese Pluralität steht aber nicht in einer sich ausschließenden Konkurrenz zu der unter (b) genannten lebensweltlich Einen Welt. (d) Es hat uns in unserem lebensweltlichen Sprechen und Denken und auch in unserem Handeln noch nie gestört, dass wir es in dem unter Punkt (c) angeführten kritischen Sinne mit einer Pluralität der Welten zu tun haben, die selbstverständlich unter strikten Restriktionen unter anderem der Konsistenz und Kohärenz steht, so dass es keineswegs um einen schlechten Pluralismus beliebiger Welten geht. Die Einsicht in diese Art von Pluralität zerstört also keineswegs unser Agieren, Kommunizieren und Handeln. (e) In vielen Fällen (und vornehmlich im interkulturellen Dialog zwischen sehr unterschiedlichen Gesellschaften) ist es für einen erfolgreichen Dialog oftmals weit förderlicher, initial nicht davon auszugehen, dass wir doch alle in der derselben Welt und gar, wie transzendentalphilosophische Hermeneuten gern sagen, unter dem „Apriori der Kommunikationsgemeinschaft“ (Apel) oder unter einem „gemeinsam geteilten Sinn“ (Gadamer) leben. Weit verständigungs-förderlicher ist es, mit der Möglichkeit unterschiedlicher Perspektiven und Horizonte, unterschiedlicher Welten zu rechnen. Eine Pluralität der Horizonte und der Welten zu unterstellen ist meines Erachtens nicht Hindernis, sondern Kondition für einen erfolgreich in Gang und Geltung kommenden interkulturellen Dialog. Dieser Befund gilt aber nicht nur im Blick auf die Kommunikation und Kooperation mit fremden Kulturen. Er gilt bereits innerhalb der eigenen Kultur, beginnt zuhause, synchron im Verhältnis etwa zu meinem Nachbarn in derselben Kultur sowie diachron im Verhältnis zu Personen und Kulturen in derselben Kultur zu
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einer früheren Zeit (Onkel Paul vor 20 Jahren oder Goethe in seiner Zeit). Übrigens fördern auch jede kulturanthropologische Unterfütterung des Konzepts der ‚Interpretation2‘ und jeder Vergleich unterschiedlicher Kulturen, je feinkörniger er durchgeführt wird, zunehmend Differenzen zwischen unterschiedlichen Kulturwelten und in diesem Sinne eine Pluralität der Welten zutage.
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Günter Abel
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Marco Brusotti
„Entschmelzung der Horizonte“ Reflektiertes Gleichgewicht und Verstehensgleichgewicht
Abstract: The first section of the paper deals with the ontological presuppositions and the limits of the ‘fusion of horizons’, a central concept in Gadamer’s philosophical hermeneutics. Is it possible to substitute for Gadamer’s ‘fusion of horizons’ a form of equilibrium? First, a rational reconstruction shows how the concept of equilibrium is applied in logics and epistemology (Goodman), in ethics (Rawls) and finally in a theory of understanding (Elgin). Then, the paper tries to assess accomplishments and shortcomings of Abel’s ‘equilibrium of understanding’ (Verstehensgleichgewicht), showing that in this concept the metaphor of equilibrium must stand for a new content, since here it cannot stand for coherence and cannot be a criterion of understanding. Hence the equilibrium has another function. It is rather a synonym of understanding. The ‘equilibrium of understanding’ is a model of understanding, but only in the sense that it merely describes a typical case in which disruptions of understanding are resolved.
In der vermeintlichen Unmittelbarkeit und Naivität unseres Verstehens „zeigt sich das Andere so sehr vom Eigenen her, daß es gar nicht mehr als Eigenes und Anderes zur Aussage kommt“.¹ Dass es seinem Hauptwerk wirklich gelungen sei, „im Verstehen die Andersheit des Anderen nicht aufzuheben, sondern zu bewahren“,² scheint Gadamer selbst im Rückblick jedoch fraglich; und seit geraumer Zeit wird vor dieser Gefahr nicht mehr mit, sondern gegen Wahrheit und Methode gewarnt. Mit Grundbegriffen wie „Aneignung“ und „Verschmelzung der Horizonte“ verbindet man inzwischen oft einen gewaltsamen Vorgang, der Fremdheit aufheben und dem Anderen seine Ferne nicht belassen will.³ Man darf weder die klassische Hermeneutik Gadamerscher Prägung naiver erscheinen lassen, als sie ist, noch Kategorien wie das Fremde, das Andere verabsolutieren:
(Gadamer 1986), im Folgenden abgekürzt mit WuM, hier S. 306. (Gadamer 1993), im Folgenden abgekürzt mit WuM II, hier S. 8. Zum Horizont und zur Horizontverschmelzung vgl. das Sachregister in WuM II (517). Zu Problemen des interkulturellen Verstehens vgl. v. a. (Gadamer 1995 u. 1999). Zur kritischen Auseinandersetzung der interkulturellen Philosophie mit der Gadamerschen Hermeneutik vgl. u. a. (Waldenfels 1997); (Mall 1995: 93); (Kimmerle 1997: 107). https://doi.org/10.1515/9783110522280-010
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Beides ist in der ‚interkulturellen Hermeneutik‘ leider nur allzu oft geschehen. Gadamers Hermeneutik hat jedoch prinzipielle Grenzen und die Abwendung von ihr sachliche Gründe.
1 ‚Horizontabhebung‘ und ‚Horizontverschmelzung‘: Die Grenzen von Gadamers Hermeneutik Beim Thema ‚Verstehen‘ kommt man schwer um Metaphern herum, die einander vielfach überlagern, ja durchkreuzen: Sie führen aber deshalb nicht unbedingt irre. Was ist also – abgesehen von dem Bildbruch, zu dem das Gleichnis des Horizontes unweigerlich führt (es lässt sich mit Horizonten schwer hantieren …) – an Gadamers Begriff der ‚Horizontverschmelzung‘ so problematisch? Ein Gadamerscher „Horizont ist der Gesichtskreis, der all das umfaßt und umschließt, was von einem Punkt aus sichtbar ist“ (WuM 307); und der „Horizont einer Gegenwart“ ist das, „über das hinaus man nicht zu sehen vermag“ (WuM 309). Es gibt jedoch „niemals einen wahrhaft geschlossenen Horizont“; der „Horizont der Gegenwart“ ist „in steter Bildung begriffen“ (ibd.). Trotz Gadamers Idee von einer Grundlegung der Sprache im Gespräch ist das ‚Urbild‘ der Horizontverschmelzung doch ein eher monologisches: die Auseinandersetzung mit einem Text aus der Vergangenheit, „der Dialog des verstehenden Lesers mit sich selbst“ (WuM II 7). Das naive Bewusstsein setzt den fremden Horizont einfach dem eigenen gleich, nimmt ihn also nicht einmal als fremden wahr. Das historische Bewusstsein dagegen ‚entwirft‘ einen fremden historischen Horizont, „der sich von dem Gegenwartshorizont unterscheidet“, also von seinem eigenen (WuM 309); in diesem Sinn „hebt“ es „den Horizont der Überlieferung von dem eigenen Horizont ab“, es ist sich ja „seiner eigenen Andersheit bewußt“ (WuM 311). Diese „Horizontbildung“ (WuM II 475) und „Horizontabhebung“ (WuM II 14), die „aus Wesensgründen“ allerdings „nicht voll gelingt“ (ibd.), gehört wesentlich zur „Horizontverschmelzung“. Diese findet in dem lebenden Bewusstsein statt, dessen eigener „Gegenwartshorizont“ mit dem ebenfalls von ihm entworfenen „historischen Horizont“ verschmilzt (WuM 311); denn eigentlich gibt es „diese voneinander abgehobenen Horizonte gar nicht“ (ibd.). „Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.“ (WuM 309) Diese „wirkliche Horizontverschmelzung“ „vollbringt“ „mit dem Entwurf des historischen Horizontes zugleich dessen Aufhebung“ (WuM 310). Das Bewusstsein vermittelt sich mit sich selbst, indem es den anderen Horizont setzt und aufhebt; diese Aufhebung ist nicht einfach Tilgung,
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sondern Synthese; denn der Horizont des Interpreten bleibt nicht unverändert, sondern bewegt, verschiebt sich. Da das historische Bewusstsein selbst „wie eine Überlagerung über einer fortwirkenden Tradition“ ist, „nimmt es das voneinander Abgehobene sogleich wieder zusammen, um in der Einheit des geschichtlichen Horizontes, den es sich so erwirbt, sich mit sich selbst zu vermitteln“ (WuM 311 f.). Die zwei voneinander abgehobenen Horizonte können und müssen ‚wieder zusammengenommen‘ werden, d. h. ‚verschmelzen‘, weil beide zu demselben sämtliche Horizonte umfassenden „großen, von innen her beweglichen Horizont“ gehören, „der über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus die Geschichtstiefe unseres Selbstbewußtseins umfaßt“ (WuM 309). Die Selbstvermittlung des historischen Bewusstseins, die ‚Verschmelzung‘, ist nur deshalb kein Monolog, weil ein ‚Überlieferungsgeschehen‘ sie möglich macht. „Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln.“ (WuM 295) In Heideggers Nachfolge betont Gadamer „die Geschehensstruktur alles Verstehens“ (WuM 490): Verstehen als Horizontverschmelzung ist nur innerhalb einer Tradition möglich, ja der einen Tradition im Singular, die als einheitliches ‚Geschehen‘ gedacht wird. Kulturelle Unterschiede, obwohl nicht schlichtweg geleugnet, gehen in diesen allumfassenden historischen Zusammenhang auf. Dieser Traditionsbegriff ist zu univok, homogen und kontinuitätsbetont, erst recht, wenn es darum geht, dem aktuellen interkulturellen Kontext gerecht zu werden.⁴ Der Begriff der ‚Horizontverschmelzung‘, obwohl er der Endlichkeit der Verstehenden gerecht werden möchte, hat also, wenn nicht unbedingt hegelianische, doch starke ontologische Voraussetzungen. Die Horizontverschmelzung setzt einen geteilten „Sinn“ voraus: Das wirkungsgeschichtliche Bewusstsein denkt „Werk und Wirkung“, den Horizont des ersteren und den eigenen, „als die Einheit eines Sinnes“ (WuM II 475). Gadamers starke These ist nämlich, dass in der Horizontverschmelzung „die Spannung zwischen dem Horizont des Textes und dem Horizont des Lesers aufgelöst wird“: „Die getrennten Horizonte wie die verschiedenen Standpunkte gehen ineinander auf“ (WuM II 351). Warum dieser Einklang? In der „Verschmelzung des Gegenwartshorizontes mit dem Vergangenheitshorizont“ „verschmilzt“ – erklärt eine Vorstufe – die „Rekonstruktion vergangenen Sinnes“ „mit dem, was uns unmittelbar als wahr anspricht“; der Text wird als etwas rekonstruiert, „das wahr sein will“ (WuM II 55). Der Gadamersche Leser kann von diesem Wahrheitsanspruch nicht absehen, er kann den Inhalt des Textes nicht einfach historisch-philologisch rekonstruieren und dessen Horizont
Zu einer ausführlichen Kritik von Gadamers Traditionsbegriff vgl. (Straub / Shimada 1999).
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neben dem eigenen stehen lassen; das Verstehen ist nicht „gegen die ‚Wahrheit‘ seiner Texte gleichgültig“ (WuM 492). Beinhaltet diese Sorge um die Wahrheit einen scharfen kritischen Blick? Wie könnte es anders sein? Aber sie besteht bei Gadamer darin, dass das Verstehen von der ‚Wahrheit‘ der Texte ausgeht – Gadamers „Vorgriff der Vollkommenheit“ – und mit ihnen auch am Ende „in der Sache“ einverstanden sein will: „Ziel aller Verständigung und alles Verstehens ist das Einverständnis in der Sache“ (WuM 297). Dies muss zwar noch nicht heißen, dass nur, wenn dieses „Einverständnis“ erreicht wird, von Verstehen und Verständigung die Rede sein kann. Aber Gadamers Hermeneutik ist gerade auf diesen Fall ausgerichtet: Da dieses Einverständnis oberstes Ziel ist, weist Gadamer der Hermeneutik, nicht nur der eigenen, „die Aufgabe“ zu, „ausbleibendes oder gestörtes Einverständnis herzustellen“ (WuM 297). Diese Aufgabenstellung – lässt sich Gadamer entgegenhalten – ist jedoch alles andere als selbstverständlich: Verständigung muss kein Einverständnis sein, gestörte Verständigung ist nicht unbedingt gestörtes „Einverständnis“, und die ‚Störung‘ muss nicht unbedingt dadurch behoben werden, dass man Einverständnis herstellt. Verständigungsverhältnisse gelingen auch dann, wenn sie einen „Widerstreit“ (im Sinne Lyotards) explizieren oder „komplexe Versöhnungen“ erzielen, d. h. „Arrangements zwischen Gesprächspartnern, die unüberbrückbare Differenzen und Widersprüche anerkennen“.⁵ Es geht also nicht darum, hinter Gadamers Einsichten in die Endlichkeit der Verstehenden zurückzufallen, sondern Alternativen zu einem nicht immer möglichen und/oder wünschbaren Einverständnis zu konzipieren.
2 Gleichgewichte In der philosophischen Hermeneutik werde „die Differenz geringgeschätzt“ (Iw 425). Günter Abel weist die klassische hermeneutische Voraussetzung eines gemeinsamen und einheitlichen Sinnes zurück.⁶ Seine Interpretationsphilosophie will den Begriff der Horizontverschmelzung durch den eines Verstehensgleichgewichts ersetzen.⁷ Abel hat diesen Begriff zuerst „im Bereich der Prozesse des erfolgreichen Verstehens und Verwendens von Zeichen“ (Abel 2011: 357) eingeführt, eben als Alternative zum Ansatz der Gadamerschen Hermeneutik. Seine früheren Überlegungen hat er ohne expliziten Bezug auf die Methode des (Straub / Shimada 1999: 464). Der Begriff „komplexe Versöhnung“ geht auf Stierlin zurück, der „Widerstreit“ auf Lyotard. Vgl. (Abel 1999a). Zum Verstehensgleichgewicht vgl. (Abel 1996: insbes. 58 f.); (Abel 1997); SZI (insbes. 95 f.); (Abel 2008, 2010 und 2011).
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reflexiven Gleichgewichts entwickelt, später jedoch die eigene Auffassung als eine „Variante der Methode des reflektierten Equilibriums“ bezeichnet (ibd.). Über seine spezifische Variante hinaus, die inzwischen zum „Handlungs- und Verstehensgleichgewicht“ (Abel 2010: 112) erweitert wurde, betrachtet Abel neuerdings auch die Originalversion, das reflektierte Gleichgewicht, als „charakteristisch“ für die eigene „Zeichen- und Interpretationsethik“ (Abel 2010: 111). Er hat jetzt die Denkfigur des Gleichgewichts darüber hinaus auch „im Rahmen der Frage der Dynamiken von Formaten des Wissens und der Wissenschaften, des szientifischen wie des nicht-szientifischen Wissens“ (Abel 2011: 357) in Anwendung gebracht. Mein Beitrag wird sich vor allem auf den Bereich konzentrieren, in dem der Begriff zuerst angewandt wurde, also auf das Zeichenverstehen. Bevor das Spezifische von Abels Variante aufgezeigt wird, sollen Leistungen und Grenzen der ursprünglichen Denkfigur – des reflektierten Gleichgewichts – bilanziert werden.
3 Ein ‚virtuous circle‘ Der Zirkel des Verstehens, der bei Gadamer zu einer ‚Verschmelzung der Horizonte‘ führt, ist – so Heidegger (vgl. SuZ § 32) – kein circulus vitiosus. In seinem „new riddle of induction“ beschreibt auch Nelson Goodman einen ‚virtuous circle‘; die Bewegung darin soll – mit dem dann von Rawls eingeführten Ausdruck – zu einem ‚reflektierten Gleichgewicht‘ führen. Es fragt sich allerdings, inwieweit der hermeneutische und der konstruktionistische circulus virtuosus eine mehr als nur oberflächliche, ja scheinbare Analogie aufweisen. Auf der einen Seite steht nämlich eine Hermeneutik, auf der anderen eine Methode der Begründung: Wie kann man also von Goodmans ursprünglicher Methode zu einer Auffassung gelangen, wonach gelingendes Verstehen nicht in einer ‚Horizontverschmelzung‘, sondern in einem ‚Gleichgewicht‘ besteht? In dieser Perspektive zeigt folgende knappe Rekonstruktion die Wandlungen dieser Denkfigur von Goodmans ‚virtuous circle‘ über das ‚Überlegungsgleichgewicht‘ (Rawls, Daniels, Elgin) bis zu Brandoms ‚Interpretationsgleichgewicht‘ und Abels ‚Verstehensgleichgewicht‘. In Nelson Goodmans ‚virtuous circle‘ ist es „eben so, daß sowohl die Regeln als auch die einzelnen Schlüsse gerechtfertigt werden, indem sie miteinander in Übereinstimmung gebracht werden. Eine Regel wird abgeändert, wenn sie zu einem Schluß führt, den wir nicht anzuerkennen bereit sind; ein Schluß wird verworfen, wenn er eine Regel verletzt, die wir nicht abzuändern bereit sind. Der Vorgang der Rechtfertigung besteht in feinen gegenseitigen Abstimmungen zwischen Regeln und anerkannten Schlüssen; die erzielte Übereinstimmung ist die einzige Rechtfertigung, derer die einen wie die anderen bedürfen.“ (Goodman 1988: 87)
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Goodman legt damit eine allgemeine Theorie der justification (Begründung, Rechtfertigung) vor; denn ein „virtuous circle“ kennzeichnet gleichermaßen Deduktion und Induktion.⁸ Letztbegründung wird hier nicht in Anspruch genommen, ja sie wird ausgeschlossen: Begründung ist immanente, interne Begründung. Sie findet im Wesentlichen durch dynamisches Justieren statt, durch wechselseitige Abstimmung von Schlüssen und Schlussregeln, von Praktiken und Standards, bis das System einen hohen Grad an Kohärenz erreicht.⁹ Aus Goodmans Denkfigur wird bei Catherine Z. Elgin eine Theorie des Verstehens; denn um fundamentalistische Restbestände auszuschalten, schlägt sie vor, als Ziel unserer kognitiven Tätigkeiten nicht ‚Erkenntnis‘, sondern ‚Verstehen‘ anzusetzen.¹⁰ Das Verstehen zielt durch dynamisches Justieren à la Goodman auf ein Gleichgewicht wohl überlegter Urteile. Dieser circulus virtuosus weist eine ähnliche ‚Vor-Struktur‘ auf wie der hermeneutische Zirkel bei Heidegger und Gadamer: Die Methode muss bei „initially tenable beliefs“ sowie bei „initially tenable principles, standards, and methods“ ansetzen;¹¹ und Tradition ist eben „a stock of initially tenable commitments“, zu denen ausdrücklich auch Vorurteile zählen.¹² Aus der Berechtigung von Vorannahmen wird jedoch keine Rehabilitierung der Vorurteile; denn den Ausgangspunkt bilden – wie schon bei Rawls – ‚wohlüberlegte Urteile‘.¹³ Von dieser Vor-struktur aus arbeitet sich der circulus virtuosus auf ein System in reflektiertem Gleichgewicht hin; das reflektierte Gleichgewicht ist ein regulatives Ideal, „an acceptable standard of justification“.¹⁴ Ein System in reflektiertem Gleichgewicht ist „a coherent, tethered system“ (Elgin 1996: 143), das eine Anbindung, ein „tie to our initially tenable commitments“ bis zuletzt beibehält, selbst wenn letztere z.T. aufgegeben und revidiert werden,
„Auch ein induktiver Schluß ist gerechtfertigt, wenn er mit allgemeinen Regeln übereinstimmt, und eine allgemeine Regel ist gerechtfertigt, wenn sie mit anerkannten induktiven Schlüssen übereinstimmt.Voraussagen sind gerechtfertigt, wenn sie gültigen Induktionsregeln entsprechen, und diese sind gültig, wenn sie die anerkannte Praxis der Induktion richtig wiedergeben.“ (Goodman 1988: 87) – Zu einer Kritik des reflektierten Gleichgewichts, die Goodmans Analogie zwischen Deduktion und Induktion zurückweist, vgl. (Harman / Kulkarni 2006); sie stellen nicht in Frage, dass das Gleichgewicht ein Modell des Alltagsdenkens ist, sie bezweifeln nur dessen Zuverlässigkeit (reliability). Zu Praktiken und Standards vgl. (Putnam 1988: III). Vgl. (Elgin 1996 u. 2003). Elgins Ausdruck ist ‚Understanding’. Sie verwendet den deutschen Ausdruck ‚Verstehen’ im Sinne einer „empathetic identification with the people we study“ und weist diese Auffassung zurück. Als Beispiel führt sie Max Weber an. Vgl. (Elgin 1996: 204 f.). (Elgin 1996: 104). Zur „initial tenability“ vgl. (102 ff.). Zum „respect for tradition“ vgl. (Elgin 1996: 117). Vgl. (Elgin 1996: 107). Vgl. (Elgin 1996: 118 f., insbes. Anm. 6).
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während die Kohärenz des Systems allmählich zunimmt. Kohärenz ist „justification in the system“, die lebensweltliche Anbindung an die frühen commitments „justification of the system“ (107). Gleichgewicht steht im Wesentlichen für erlangte Kohärenz; aber die ‚Rechtfertigung des Systems‘ unterscheidet die Methode des Gleichgewichts von ‚reinen Prozeduren‘, die nur eine kohärentistische Rechtfertigung im System kennen.¹⁵ Deshalb steht bei Elgin die Methode für einen dritten Weg zwischen Fundationalismus und Relativismus. Wie Elgin, um das reflektierte Gleichgewicht vor relativistischer Beliebigkeit zu retten, es an unser ‚Vorverständnis‘ anbindet, so D. Føllesdal an die Lebenswelt: Für das reflektierte Gleichgewicht, wie er es schon bei Husserl ausmacht, ist diese die letzte Begründungsinstanz (vgl. Føllesdal 2011).
4 ‚Eng‘ und ‚umfassend‘ Das reflektierte Gleichgewicht ist eine fallibilistische Methode der Begründung, die den Schwerpunkt auf Kohärenz legt.¹⁶ Es kann jedoch den Kern einer Theorie des Verstehens bilden (Elgin) oder als praktisches Verfahren zur Lösung von Uneinigkeiten aufgefasst werden. Letzteres ist bei John Rawls der Fall. In seiner Theorie der Gerechtigkeit erklärt dieser, dass Goodmans Zirkel mit dem „process of mutual adjustment of principles and considered judgments“ verwandt ist, der in seiner eigenen Moralphilosophie reflektiertes Gleichgewicht heißt.¹⁷ In einem ‚engen‘ Überlegungsgleichgewicht sollen Moralprinzipien und wohl überlegte Urteile aneinander angepasst werden. In einem ‚umfassenden‘ Überlegungsgleichgewicht kommen relevante Hintergrundtheorien sowie allgemeine ethische Positionen hinzu, wie sie etwa in der philosophischen Diskussion ausgearbeitet und artikuliert wurden: Urteile, Prinzipien und Theorien werden filtriert, revidiert und aufeinander abgestimmt mit einem umfassenden und stabilen Überlegungsgleichgewicht als Ziel. Nach Rawls und Daniels (vgl. Daniels 1996) ist ein ‚enges‘ ‚Überlegungsgleichgewicht‘ lediglich eine ‚anthropologische‘ Beschreibung: Sie artikuliert die ethische Praxis einer Gemeinschaft, gleichsam ihre moralische Grammatik. Kulturspezifische Vorannahmen werden damit nur filtriert und systematisiert, noch nicht kritisiert oder gerechtfertigt. Ist das reflektierte Gleichgewicht, dessen
Vgl. (Elgin 1996: 127 f.). Zu einer analytischen Charakteristik der Methode vgl. (Føllesdal 2011: insbes. 380 ff.). (Rawls 1971: 20, Anm. 7). Zum Überlegungsgleichgewicht vgl. u. a. auch (Rawls 1996).
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Ausgangspunkt unsere wohl überlegten Urteile sind,¹⁸ nur für ethische Selbstverständigung innerhalb einer Gesellschaft geeignet? Kann es sogar diese Selbstverständigung zuletzt lediglich beschreiben? Rawls’ Antwort auf diese Fragen ist bekannt: Den anspruchsvolleren normativen Status einer Kritik oder Rechtfertigung ethischer Praxis kann nur ein ‚umfassendes‘ Überlegungsgleichgewicht beanspruchen. Letzteres ist allerdings eher ein regulatives Ideal als ein tatsächlich erreichtes oder auch nur erreichbares Resultat. Dieses „overall criterion of the reasonable“ ist „a point at infinity we can never reach“ (Rawls 1996: 384 f.), also nur ein idealer Schlusspunkt der Rechtfertigung; weder haben wir ein umfassendes und stabiles Überlegungsgleichgewicht bereits erreicht, noch werden wir so weit gelangen.¹⁹ Ist das reflektierte Gleichgewicht wirklich eine ‚Methode’? Gelangt man dadurch wirklich zu einer Begründung? In beider Hinsicht scheint Rawls schließlich seine Ansprüche gesenkt zu haben: Es handle sich nur um eine praktische Art, in ethischen und politischen Fragen Einigkeit zu erreichen.²⁰ Zumindest in der Ethik ist das reflektierte Gleichgewicht eine in ihrer Eigentümlichkeit erkennbare Verfahrensweise; und Letztbegründung kommt bei dieser Denkfigur sowieso nicht in Frage. Außerhalb der Ethik scheint das Gleichgewicht allerdings zumeist eher eine Auffassung von Begründung, die ziemlich unspezifische Richtlinien an die Hand gibt, als eine ‚vollwertige‘ Methode zu sein.
5 Normativ und/oder deskriptiv Das reflektierte Gleichgewicht kann sowohl normativ als auch deskriptiv aufgefasst werden, wobei das eine das andere keineswegs ausschließt. Es geht jedoch um unterschiedliche, wenn auch miteinander zusammenhängende Fragen. Ist das reflektierte Gleichgewicht eine adäquate Methode und, wenn ja, wozu (– normative Frage)? Ist es ein adäquates Modell? D. h. gibt es, wenn auch in
Wegen dieser Beschränkung auf unsere wohl überlegten Urteile wurde das reflektierte Gleichgewicht öfter kritisiert. Vgl. etwa (Nielsen 1977). Vgl. (Scanlon 2002: 141). Zu diesem unerreichbaren Fluchtpunkt gehört, dass das allgemeine und umfassende reflektierte Gleichgewicht „fully intersubjective“ ist (Rawls 1996: 385, Anm. 16): Es beinhaltet ein „mutual accounting“ (387) aller Bürger. An diese Rawlsche Denkfigur knüpft offensichtlich Robert Brandoms ‚Interpretationsgleichgewicht’ („complete and explicit interpretive equilibrium“) an: eine Form von „‘we’-saying“, die „social self-consciousness“ ist (Brandom 1994: 642). Vgl. (Føllesdal 2011: 380 f.).
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idealisierter Form, die sich wirklich abspielenden Begründungsvorgänge wieder (– deskriptive Frage)? Zumeist kreist die Debatte um die normative Frage. In unserem Kontext ist die Frage nach dem deskriptiven Wert des reflektierten Gleichgewichts jedoch auch deshalb wichtig, weil die interpretationsphilosophische Variante, das „Gleichgewicht im Zeichenverstehen“ (SZI 95), als modellhafte Beschreibung von Verständigungsverhältnissen gemeint ist.²¹ Als deskriptives Modell wird das reflektierte Gleichgewicht kaum kultur- und epochenübergreifende Geltung beanspruchen können. Gerade in puncto ‚Kohärenzbedürfnis‘ und Bereitschaft zur Revision bzw. gefühltes Bedürfnis des Justierens ist die kulturelle Variabilität sehr ausgeprägt (v. a. wenn man auch Oralund nicht nur Schriftkulturen einbezieht). Modelliert also die im reflektierten Gleichgewicht enthaltene ständige, reflektierte Revisionsbereitschaft im Wesentlichen moderne Verhältnisse – fortgeschrittene wissenschaftliche Praxis, ethische Verständigung in demokratischen Gesellschaften – also eine bestimmte, wenn auch im Globalisierungsprozess ständig expandierende kulturgeschichtliche Konstellation? Als deskriptives Modell kann das reflektierte Gleichgewicht nicht so allgemein gefasst werden. Beide Fragen – die normative und die deskriptive – lassen sich jedoch parallel differenzieren. Den Anspruch, eine adäquate Methode zu sein, kann das reflektierte Gleichgewicht ganz allgemein stellen, aber auch nur in einem bestimmten Bereich, z. B. in der Ethik. Die Frage nach der deskriptiven Adäquatheit des Modells lässt sich entsprechend einschränken; man fragt dann nur, ob das reflektierte Gleichgewicht die für den besagten Bereich charakteristische Vorgehensweise beschreibt. Das reflektierte Gleichgewicht und Gadamers Hermeneutik bezwecken beide auf je eigene Weise ein Einverständnis in der Sache; und gegen beide wurden ähnliche Bedenken geäußert (Tendenz zum Konservatismus, Bevorzugung unserer Vorannahmen). Das reflektierte Gleichgewicht scheint gegen diese Einwände jedoch besser gewappnet als die Hermeneutik.
6 Günter Abels Verstehensgleichgewicht Die Grundidee beim reflektierten Equilibrium ist, dass das Gleichgewicht die ganze Begründung ist; darüber hinaus ist keine nötig bzw. möglich, also keine
Abel vertritt außerdem die These, dass „die Wissensdynamik“ im Sinne der „Methode des Gleichgewichts“, d. h. des reflektierten Equilibriums, „modelliert“ (2011: 359) werden kann.
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externe Rechtfertigung bzw. Letztbegründung. Auch beim Verstehensgleichgewicht könnte man die Grundidee eine deflationäre nennen: „Verstehensgleichgewicht ist das, was uns in Sachen Zeichenverstehen bleibt, sofern wir weder von einem ‚hinter‘ dem Zeichengebrauch stehenden fertigen Sinn noch davon ausgehen können, daß jede Interpretation so gut wie jede andere ist.“ (Abel 1996: 58) Ein „Pluralismus der Beliebigkeit“ ist – so Abel – nicht nur faktisch nicht gegeben, er ist ein zuletzt nicht explizierbarer Begriff (ibd.). Da dem Zeichengebrauch kein fertiger Sinn vorausgeht, bleibt nur die wechselseitige Abstimmung der Verstehens-Horizonte. Man versteht die Sprecher nicht, wenn man die Sprache nicht versteht. Insofern sind Verstehen der Sprache und Verstehen der Sprecher intern verbunden. Sie fallen jedoch nicht miteinander zusammen. Ein Verstehensgleichgewicht ist bei Abel auf jeden Fall charakteristisch für beides: für Zeichenverstehen überhaupt und für Verständigungsverhältnisse zwischen Personen. Meine Ausführungen in diesem Abschnitt beschränken sich zuerst auf das „Einbalancieren […] eigener und fremder Horizonte“ (SZI 96), das insbesondere gelingende interpersonale Verständigungsverhältnisse auszeichnet. Die Grundvorstellung ist hier, dass „für Verständigungsverhältnisse ein Verstehensgleichgewicht zwischen den Beteiligten charakteristisch ist“ (SZI 83), „ein Gleichgewicht zwischen dem eigenen, individuellen Horizont und dem Horizont der Zeichenäußerung einer anderen, fremden Person“ (96). An die Stelle von Gadamers „Macht des guten Willens“,²² die eine Horizontverschmelzung vollbringt, tritt in der Interpretationsphilosophie die „Bereitschaft, ein Verstehensgleichgewicht zu erreichen“ (SZI 95). Wie das reflektierte Gleichgewicht wird das Verstehensgleichgewicht durch wiederholte beiderseitige Revisionen oder zumindest Feinabstimmungen erlangt; die Verständigungspartner müssen dazu bereit sein, die eigenen anfänglichen Interpretationshypothesen wechselseitig abzustimmen und je nachdem „zu erweitern, abzuändern, oder gar zu revidieren“ (ibd.). Dabei beachten sie implizit eine Reihe von (bei Abel aufgelisteten) „Kohärenz-Anforderungen“ (SZI 83), die als „Interpretation3-Prinzipien“ zugleich „Rationalitätsprinzipien“ (100) sind. Das Verstehensgleichgewicht steht für das mögliche Resultat dieses „zwischen Hörer und Sprecher […] oszillierende[n] Vorgang[s] eines wechselseitigen dynamischen Justierens“ (1996: 57). In der Interpretationsphilosophie steht die Denkfigur des Gleichgewichts zugleich für das, was in anderem Kontext der ‚pragmatische Abschluss’ des Verstehens heißt (vgl. ibd.), und für die „Haltung“ desjenigen, der „das Fremde an den Zeichenäußerungen einer anderen Person nicht unter seinen eigenen Inter-
Vgl. (Gadamer 1984).
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pretations-Horizont subsumieren kann“ und es auch nicht versuchen will, d. h. für „den freilassenden Pluralismus des Fremd- und Selbstverstehens“ (ibd.). Der ‚pragmatische Abschluss’ eines Verständigungsverhältnisses kann nämlich auch in der Einsicht bestehen, dass die „Zeichenäußerungen“ der anderen Person uns doch fremd bleiben und sich unter unseren eigenen Interpretations-Horizont nicht subsumieren lassen. Die Denkfigur des Verstehensgleichgewichts will nämlich die Tatsache ernstnehmen, dass „andere Personen aus anderen Interpretations-Horizonten heraus sprechen (und agieren) können als man selbst“ (58), ja sogar, dass „die Horizonte anderer Personen irreduzibel verschieden von dem je eigenen sein können“ (1997: 10). Verschiedenheit, auch irreduzible, einräumen ist nicht dasselbe wie missverstehen oder nicht verstehen. Die Anerkennung von Fremdheit kann den Verständigungsprozess abschließen. Zu Recht betont Abels ‚frei-lassende Ethik‘ diese Möglichkeit: Man kann auf vielerlei Weise zu einem Abschluss kommen. Das Zugeben von Verschiedenheit und die in anderen Fällen erreichte Annäherung können beide als gelingende Verständigungsverhältnisse aufgefasst werden. Aber lassen sich beide schon deshalb als Formen von Gleichgewicht bezeichnen? Was bedeutet dann ‚Gleichgewicht‘? Beim reflektierten Gleichgewicht lässt sich die Bedeutung des Ausdrucks leicht angeben: ‚Gleichgewicht‘ steht für ‚Kohärenz‘. Das reflektierte Gleichgewicht ist die durch wechselseitige Anpassungen erzielte Übereinstimmung zwischen wohlüberlegten Urteilen und Regeln, zwischen Praktiken und Standards. Das reflektierte Gleichgewicht ist eine Methode, und die interne Kohärenz fungiert als Kriterium der Rechtfertigung. Anders beim Verstehensgleichgewicht: Selbst wenn man beim reziproken Justieren und beim Rekonstruieren des anderen Horizontes Kohärenz-Anforderungen beachtet und erfüllt, ist die erzielte wechselseitige Abstimmung der Verstehens-Horizonte etwas anderes als die im reflektierten Gleichgewicht erlangte Kohärenz zwischen Urteilen und Regeln; denn aufeinander abzustimmen sind beim Verstehen eben zwei Horizonte, die weder ‚verschmelzen‘ noch ‚übereinstimmen‘ können. Es geht nämlich „nicht um Verhältnisse der Isomorphie, der Adaequatio, oder schwächer: der Übereinstimmung“ (Abel 2011: 358). Im Kontext des Zeichenverstehens – Abel ist sich dessen bewusst – kann ‚Gleichgewicht‘ also nicht einfach ‚Kohärenz‘ heißen: Der Anspruch, die zwei Verstehens-Horizonte in eine kohärente Einheit aufgehen zu lassen, würde noch hinter die Gadamersche ‚Verschmelzung‘ zurückfallen und wäre sicher nicht im Sinne einer „frei-lassende[n] Ethik“ (Abel 2010: 92), die „Zeichen- und Interpretations-Horizonte anderer Personen“ nicht „unter die eigenen zwingen“ will (91) und eben deshalb heterogene erfolgreiche Verständigungsverhältnisse konzipieren muss. Abels Interpretationsphilosophie überträgt also die Figur des Gleichgewichts in einen Bereich, in dem ‚Kohärenz‘ bzw. ‚kohärente Einheit‘ nicht als Kriterium fungieren kann. Man kann natürlich
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die Verständigungsvorgänge ‚Einbalancieren‘ nennen und deren Ergebnis, die Verständigung eben, ‚Gleichgewicht‘. ‚Gleichgewicht‘ ist dann jedoch eher ein Synonym, eine Umschreibung, von ‚gelingender Verständigung‘, als ein Kriterium derselben. Das Problem ist indes nicht, dass es dann an einem Kriterium des Verstehens mangelt. Der Punkt ist eher, dass der ursprüngliche Inhalt der Gleichgewichts-Metaphorik nicht mehr zur Verfügung steht: Der Ausdruck ‚Gleichgewicht‘ muss nun einen neuen erhalten und damit auch eine neue Funktion. Handelt es sich beim Verstehensgleichgewicht also wirklich um eine ‚Variante‘ der Methode des reflektierten Equilibriums? Sie haben nicht denselben Status. Das Verstehensgleichgewicht ist nämlich nicht normativ zu nehmen. Es geht nur um eine modellhafte Beschreibung von Verständigungsverhältnissen, um eine externe, die für deren Gelingen keine Kriterien angibt, auch weil es für Verstehen und gelingende Verständigung keine formalen Kriterien gibt. Abel will die hermeneutische Situation reformulieren: Seine These ist, dass die je eigenen Verstehens-Horizonte der Verständigungspartner „nicht, wie in der philosophischen Hermeneutik angenommen, ‚verschmelzen‘“ (1996: 57 f.). Er plädiert sogar für eine „Entschmelzung der Horizonte“ (SZI 95). Wie eingangs erläutert, ist bei Gadamer, dem Philosophen des Dialogs, das ‚Urbild‘ der Horizontverschmelzung doch ein monologisches: Das privilegierte Beispiel, um das sich seine ganze Betrachtung dreht, ist „der Dialog des verstehenden Lesers mit sich selbst“ (WuM II 7), seine Auseinandersetzung mit einem Text aus der Vergangenheit. Die Horizonte, der eigene Gegenwartshorizont und der fremde historische, vergangene, verschmelzen im Bewusstsein des Lesers; das historische Bewusstsein versucht zwar, von dem eigenen Gegenwartshorizont einen von ihm selbst ebenfalls entworfenen vergangenen, ‚historischen‘ Horizont abzuheben; es wäre jedoch nie in der Lage, sie getrennt zu halten, geschweige denn zu ‚entschmelzen‘; dazu müssten beide – das interpretierende Bewusstsein und der interpretierte ‚Text‘ – frei über der Wirkungsgeschichte schweben. Abel hat – obwohl ebenfalls mit allgemeinem Anspruch – anders als Gadamer die Interaktion zweier lebender Verständigungspartner im Blick, deren Horizonte schon allein deshalb nicht ‚verschmelzen‘ können. Insofern brauchen sie auch nicht erst ‚entschmolzen‘ zu werden. Gemeint ist aber: Verständigung kann zuerst erfordern, dass beide ihre jeweiligen Horizonte voneinander abheben, d. h. den eigenen und den fremden Standpunkt überhaupt auseinanderhalten. Die ‚Horizontabhebung‘, die Gadamers historisches Bewusstsein gleichsam im Selbstgespräch vollzieht, ist bei Abel ein Dialog, in dem alle Verständigungspartner im Austausch und in wechselseitiger Anpassung jeweils etwas wie eine Gadamersche „Revision des Vorentwurfs“ (WuM 271) vollbringen oder eine Goodmansche feine reziproke Abstimmung. Der Ausgang und das Ziel sind dabei
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nicht unbedingt Gadamers ‚Einverständnis in der Sache‘ oder wie bei Rawls’ reflektiertem Gleichgewicht die Lösung von Uneinigkeiten. Nun hat in dieser alternativen Beschreibung der hermeneutischen Situation das ‚Einbalancieren‘ – der Prozess reziproker Verständigung – eine klarere Bedeutung als das ‚Gleichgewicht‘. Diese Bildlichkeit hat nämlich vor allem die negative Bedeutung, dass etwas wie eine ‚Verschmelzung‘ der Verstehens-Horizonte nicht in Frage kommt. Schwerer ist aber, ihr eine positive Bedeutung zu geben. Im reflektierten Gleichgewicht ist das Gleichgewicht ein Fluchtpunkt. Ist dies auch beim Verstehensgleichgewicht der Fall? Bei interpersonalen Verständigungsverhältnissen scheint das Gleichgewicht für den charakteristischen pragmatischen Schlusspunkt zu stehen, wenn sich erst einmal keine weiteren Fragen stellen. Abels modellhafte Beschreibung enthält jedoch (auch) eine andere Antwort: Das „Gleichgewicht im Zeichenverstehen“ (SZI 95) steht für einen Übergangszustand. Dass man versteht, zeigt sich dann an der wiederhergestellten flüssigen Praxis. Diesem alternativen Vorschlag wenden wir uns nun zu, um anschließend nach dem Status des Modells zu fragen.
7 Flüssige lebensweltliche Abläufe „Die Frage der gelingenden Verständigung“ ist im Kern eine „Frage des Eingespieltseins, des mehr oder weniger fraglosen Funktionierens einer Sprach-, Zeichen- und Interpretations-Praxis“, kurzum, der „Lebenswelt“ (Abel 2011: 355). Die interpretationsphilosophische „Variante des Prinzips des ‚reflektierten Equilibriums‘“, das Verstehens- und Handlungsgleichgewicht, ist ein „Verfahren, durch das die Konflikt- und Störfälle in puncto Kommunikabilität und Kooperativität beseitigt werden“ (Abel 2010: 99). Die „Verhältnisse der Verständigung und des kooperativen Handelns“ (2011: 351) funktionieren in der Regel „flüssig“, und dieser reibungslose Ablauf ist das Primäre; dagegen sind die jederzeit auftretenden „Störungen in Verständigungs-, Weltbezugs- und Handlungsverhältnissen“ (370) samt deren eventueller Beseitigung „die erklärungsbedürftigen Fälle“ (352; vgl. 2010: 106) bzw. einfach Ausnahmefälle, denn die Interpretationsphilosophie will sie nicht (kausal) erklären, sondern lediglich beschreiben: Sie will nämlich „mithilfe einer Gleichgewichts-Theorie“ die „Begründungs-bezogene[n] Prozesse“ der Lebenswelt (2011: 356; vgl. 2010: 111) und in diesem Rahmen die „entscheidende“ Rolle des Gleichgewichts beschreiben. Im Zeichenverstehen balanciert man – so die Interpretationsphilosophie – nicht nur eigene und fremde Verstehens-Horizonte ein, sondern auch ‚besondere‘ und ‚allgemeine‘, d. h. den „im Zeichengebrauch hier und jetzt aktualisierten,
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einzelnen Horizont des Zeichenverstehens“ mit dem „allgemeinen, in einer Zeichengemeinschaft sedimentierten Verstehenshorizont“ (SZI 96). Ein wichtiger Punkt ist hier, dass die einzelnen Sprecher weit davon entfernt sind, ihren jeweiligen Idiolekt einfach dem Soziolekt anzugleichen (bzw. die Zeichenverwender ihren individuellen Zeichengebrauch demjenigen der Zeichengemeinschaft). Dafür steht das Bild, dass eigener Idiolekt und allgemeiner Usus der Sprachgemeinschaft lediglich ‚einbalanciert‘ werden. Im Rahmen von Abels Dreistufenmodell der Interpretation steht das Verstehensgleichgewicht für einen „Übergangszustand“ zwischen zwei Formen des Verstehens. „Das Verstehensgleichgewicht kann daher als der Übergangszustand zwischen einem Zeichenverstehen mit Deutung und einem direkten Zeichenverstehen ohne Deutung konzipiert werden. Es läßt sich mithin ein Dreischritt eines von epistemischen Vermittlern zunehmend freieren Zeichenverstehens konzipieren: (a) das Verstehen mit Deutung, (b) das Verstehensgleichgewicht und (c) das direkte Verstehen oder das Verstehen ohne Deutung.“ (SZI 95 f.) Ein nicht ganz vertrautes Zeichen erfordert zuerst noch eine nachträgliche Deutung, eine ‚Deutungsarbeit‘; dann folgt eine Zwischenphase des allmählichen Einspielens, und zuletzt versteht bzw. vollzieht man das Zeichen direkt. Laut diesem Stufenmodell geht es um den Übergang von einer Form des Verstehens zu einer anderen; andererseits aber meint Abel immer wieder Fälle, in denen es sich wohl erst einmal darum handelt, über ein schlichtes Nicht-Verstehen hinauszukommen. Er denkt dann an eine vorübergehende Störung und an deren Beseitigung – jeweils beim Verstehen und Verwenden einer Sprache bzw. eines Zeichensystems, bei interpersonalen Verständigungsverhältnissen und beim gemeinsamen Handeln; ist das Gleichgewicht erreicht bzw. die Störung behoben, folgt ein Zustand flüssigen Funktionierens bzw. er wird wieder hergestellt. Als Übergangszustand betrachtet, hat das Gleichgewicht eine untergeordnete Rolle: Es kommt im Wesentlichen auf den Zustand an, zu dem man anschließend übergeht. Dass man versteht, zeigt sich primär am Vollzug des Zeichens oder darin, dass die Verständigung flüssig abläuft; die lebensweltliche Praxis ist die „pragmatisch letzte Instanz“ (Abel 2011: 356). Dass der ‚Störfall‘ behoben ist, zeigt sich dementsprechend erst nach dem Übergangszustand an der wiederhergestellten flüssigen Praxis. Hier ist das Gleichgewicht also keine formale Eigenschaft wie etwa Kohärenz; es geht vielmehr um die Folgen des Gleichgewichts, um das Resultat dieses Übergangszustands, ²³ nicht um das Gleichgewicht selbst als Ergebnis und Ziel des Verständigungsprozesses.
Würde man die wiederhergestellte flüssige Praxis ‚Gleichgewicht‘ nennen, was Abel aller-
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Abel greift Überlegungen Wittgensteins auf, wonach die Gründe für Züge innerhalb eines Sprachspiels nach wenigen Schritten zu Ende sind. „Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt, zu sagen: ‚So handle ich eben.‘“ (PU 1, § 217; vgl. Abel 2011: 355.) Verstehe ich die Frage „Wie kann ich einer Regel folgen?“ als Frage „nach der Rechtfertigung dafür, daß ich so nach ihr handle“, dann bleibt mir, nachdem ich meinen Grund und dann vielleicht auch für diesen Grund einen weiteren angegeben habe usw., bald nur noch die Antwort „So handle ich eben“ (PU 1, § 217). Die Kette der Gründe hat ein Ende, das Sprachspiel eine Grenze. Philosophen machen jetzt nach Wittgenstein einen typischen Fehler: Sie vermengen die Frage nach einem Grund mit der „Frage nach den Ursachen“ (ibd.); da an der Grenze des Sprachspiels keine Gründe mehr zur Verfügung stehen, um die Warum-Frage zu beantworten, sind Philosophen nun versucht, stattdessen eine Ursache anzugeben, zumeist eine imaginäre ‚pneumatische‘ (einen mentalen Akt, eine ‚Deutung‘). Auf diese Verwechslung macht Wittgenstein hier aufmerksam. Seine Absicht ist eine ‚therapeutische‘. Er will natürlich keine empirische Theorie über Handlungen und Reaktionen als Ursachen unseres Sprachgebrauchs aufstellen. Auch Abels Modell darf man nicht in diesem Sinn missverstehen. Es handelt sich in seinem Selbstverständnis nicht um ein empirisches, etwa psychologisches oder kognitionswissenschaftliches, Modell des Verstehens. Das Verstehensgleichgewicht gehört zu seinem „Stufenmodell“ der Interpretation; dieses ist – so Abel – „kein Schichtenmodell“, sondern lediglich „ein reflexives“, „ein heuristisches, kein theoretisches“ Modell (2010: 116). Das Anliegen ist auch beim Verstehensgleichgewicht eine philosophische Beschreibung dessen, was „für das Funktionieren der Zeichen- und Interpretations-Praxis“ bzw. der „LebensweltPraxis“ „charakteristisch“ ist. Die „Methode des Gleichgewichts“ stellt Abel zufolge selbst eine derartige modellhafte Beschreibung dar (vgl. Abel 2011: 357). Abels Überlegung, man könne das Verstehensgleichgewicht als Übergangszustand ‚konzipieren‘, kann aus einer Reihe von Gründen kaum Allgemeinheit beanspruchen. In gelingenden interpersonalen Verständigungen ist das erreichte ‚Gleichgewicht‘ oft einfach der Schlusspunkt; es muss kein Übergang zu etwas weiterem sein. Abel scheint vor allem an den Prozess der Aneignung von Zeichen zu denken. Der Zustand, in dem die Störung beseitigt ist, stellt aber auch hier nicht unbedingt einen dar, in dem man ohne Deutung versteht; der Übergang zum ersteren ist nicht unbedingt ein Übergang zum letzteren. Das Modell beschreibt
dings nicht tut, dann würde man im Gleichgewicht mehr als nur einen Übergangszustand sehen, es ginge um das ‚Gleichgewicht‘ selbst als Wirkung.
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eigentlich nichts mehr als einen typischen Fall. Es ist also zwar offensichtlich nicht als kausale Hypothese gemeint, die empirisch zu überprüfen und/oder etwa psychologisch zu revidieren oder weiter auszuführen wäre, ist aber auch kein allgemeines begriffliches Modell. Die Überlegung geht nicht über eine ‚therapeutische‘ Bemerkung im Stil Wittgensteins hinaus. Einen ‚therapeutischen‘ Wert hat sie aber auf jeden Fall: Sie markiert mit Wittgenstein den wichtigen philosophischen Punkt, dass die Kette der Gründe ein Ende hat und nicht hinter jeder Deutung noch eine andere liegen kann. Die „Horizontverschmelzung“, das klassische Modell der Gadamerschen Hermeneutik, beinhaltet etwas, was nicht nur im interkulturellen Kontext sicher nicht gegeben ist. Dies ist beim interpretationsphilosophischen Modell nicht der Fall. Die Interpretationsphilosophie gibt uns mit dem Verstehensgleichgewicht weniger eine ‚Methode‘ an die Hand, als dass sie uns erklärt, was wir nicht suchen sollen, weil es nicht zu haben ist.
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Verstehensgleichgewichte und Horizont-Entschmelzung Replik zum Beitrag von Marco Brusotti
1 Gleichgewichte von Horizonten, Standpunkten und Perspektiven Marco Brusotti thematisiert mit der Frage nach dem Verstehensgleichgewicht eine für die Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie], des näheren für das Zeichen-, Personen-, Handlungs- und Kulturverstehen überaus zentrale Denkfigur. Er tut dies in Fokussierung auf meine Formulierung der ‚Entschmelzung der Horizonte’. Die mit diesem Ausdruck adressierte Komponente ist aus meiner Sicht wichtig für ein angemessenes Verständnis sowohl dessen, was tatsächlich in Prozessen des Zeichenverstehens passiert, als auch im Blick auf das Ethos der Kommunikations- und Kooperationsverhältnisse. Neben der Betonung des Umstandes, dass für ein wechselseitiges Verstehen unterschiedlicher Horizonte, Standpunkte und Perspektiven eine gewisse Überlappung der Verstehenshorizonte konditional ist, gilt es auch den komplementären Punkt in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, dass nämlich die Horizonte, Standpunkte und Perspektiven der Teilnehmer in Kommunikations- und Kooperationsverhältnissen derart konfligierend, widerstreitend und unversöhnlich sein können, dass sie, obwohl gleichermaßen legitim, nicht auf ein gemeinsames Drittes reduziert werden können. Neben der Kontinuität und Einheit im Zeichenverstehen gehören gleichermaßen integral auch die Diskontinuität und die Differenz genuin zu dem, was es heißt, sich in Verständigungs- und Handlungszusammenhängen zu befinden. Die Figur der ‚Entschmelzung der Horizonte‘ richtet sich kritisch gegen das bekannte Postulat ‚Horizontverschmelzung‘, welches Gadamer meines Erachtens irrigerweise als das Ziel und gar als die Kondition eines jeden überhaupt möglichen Verstehens ansieht. Anders als Gadamer gehe ich von der Vorstellung aus, dass wir es in Prozessen des Verstehens sprachlicher wie nicht sprachlicher Zeichen (wie z. B. Wörtern, Gesten, musikalischen Klängen) ebenso wie von Personen, Handlungen und kulturellen Gebilden (wie z. B. Texten, Bauwerken, Rechtsund Moralordnungen) mit unterschiedlichen, auch mit konfligierenden, widerstreitenden und unvereinbaren Horizonten, Standpunkten und Perspektiven zu https://doi.org/10.1515/9783110522280-011
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tun haben, die sich einer Verschmelzung oder irgendeiner anderen Version eines Fusionierens oder Aufeinanderabbildens, sei dies reduktionistischer, isomorpher, spiegelnder oder projektiver Art, auf charakteristische Weise entziehen und eigentümlich elusiv sind. Die im Lichte dieses Befundes zwecks Aufrechterhaltung der Kommunikation und Kooperation angemessenen Aktivitäten des Einbalancierens solch unterschiedlicher und widerstreitender Horizonte versuche ich, mit Rekurs auf die Figur eines Verstehensgleichgewichtes in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Brusottis Beitrag widmet sich gezielt dieser Figur innerhalb der ZuI-Philosophie. Die Rede von einem Verstehensgleichgewicht enthält als Terminus einen offenkundigen und bewussten Bezug zur Figur des reflektierten Gleichgewichts, die mit je unterschiedlichen Abzweckungen bei John Rawls, zuvor schon bei Nelson Goodman, und danach bei Catherine Z. Elgin und Dagfinn Føllesdal zu finden ist. Aber meine Rede vom Verstehensgleichgewicht, die sich zunächst und in ihrem Kern auf das Zeichen-, Handlungs- und Kulturverstehen bezieht, kann nicht einfach als eine Übertragung der Goodmanschen und Rawlsschen Figur in den Raum der ZuI-Philosophie verstanden werden. Dem steht schlicht die Einstellung entgegen, dass die Verhältnisse der Horizonte in den drei genannten Feldern (Zeichen-, Handlungs-, Kulturverstehen) nicht so beschrieben werden können und normativ auch nicht darauf ausgerichtet sind, in einem irgendwie terminalen Gleichgewicht der Horizonte ihr metaphysisches und ontologisches Ziel, ihren in der Sache definitiven Abschluss zu erreichen. Und schon gar nicht kann meines Erachtens ein solcher metaphysischer Abschluss zugleich auch als Voraussetzung und Kondition eines jeden überhaupt möglichen Verstehensprozesses angesehen und postuliert werden. In Bezug auf die in der ZuI-Philosophie vertretene Figur des Verstehensgleichgewichts sind daher vor allem drei Komponenten kardinal: (a) die Abgrenzung von der klassischen Hermeneutik Gadamers und deren bekannter Figur der Horizontverschmelzung, (b) die Abgrenzung von der klassischen Version des reflektierten Gleichgewichts und (c) das im Zuge dieser beiden Abgrenzungen deutlicher zutage tretende Profil der ZuI-Philosophie in den genannten Bereichen. Alle drei Komponenten hat Marco Brusotti mit Bravour in seinem Beitrag in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, eindringlich beschrieben und argumentativ sehr gut unterfüttert. Es gelingt ihm eindrucksvoll, das genuine Profil, die genuinen Fragestellungen und die genuine Leistungsfähigkeit der ZuI-Philosophie in Bezug auf das Zeichen-, Handlungs- und Kulturverstehen so zu beschreiben und zu erörtern, dass deutlich wird, wie sehr dieser Ansatz zwei Qualitäten zugleich in sich vereinigt: zum einen Grundlagencharakter zu besitzen und reflektierte Methodologie der Philosophie zu verkörpern; zum anderen eben dies
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in einer Weise zu tun, die direkt auf konkrete Fragestellungen (hier die Frage nach den Mechanismen des Zeichen-, Handlungs- und Kulturverstehens) zur Anwendung gebracht werden kann und dort ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen vermag.
2 Verstehensgleichgewicht in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Wie sehr Brusotti mit den Grundfiguren und den Pointen der allgemeinen ZuIPhilosophie vertraut ist, zeigt sich exemplarisch an seinen abschließenden Bemerkungen zum „therapeutischen Wert“ meiner Einführung und Verwendung der Figur des Verstehensgleichgewichts. Subtil und trefflich heißt es: „Die Interpretationsphilosophie gibt uns mit dem Verstehensgleichgewicht weniger eine ‚Methode‘ an die Hand, als dass sie uns erklärt, was wir nicht suchen sollen, weil es nicht zu haben ist.“ (Brusotti-Beitrag, Kap. 7) Je feinkörniger wir in die Verstehensverhältnisse hineinschauen, umso deutlicher wachsen mit den Übereinstimmungen auch die Differenzen. Bemerkenswerterweise kommt es angesichts dieses Befundes nicht zum Kollaps der Kommunikation, der Kooperation und des Verstehens. Differenz ist entgegen verbreitet alltäglicher ebenso wie metaphysischer Auffassung nicht Hindernis von Kommunikation und Kooperation, sondern deren integraler Bestandteil, in vielen Fällen geradezu deren Kondition. Das ist der Punkt, den es anzuerkennen und zum Leitfaden der Betrachtung der Kommunikations- und Kooperationsverhältnisse auf dem ganzen Spektrum der Verhältnisse zwischen Personen bis hin zum Dialog zwischen unterschiedlichen Kulturen zu machen gilt. Entsprechend einleuchtend ist dann auch, dass sich das Verstehensgleichgewicht in der ZuI-Philosophie von Varianten des Prinzips des reflektierten Gleichgewichts unterscheidet. Die Unterschiede bestehen vor allem darin, dass mit der Figur des Verstehensgleichgewichts in der ZuI-Philosophie weder eine zunehmende Kohärenz innerhalb eines Systems sowie dieses Systems selbst (wie bei Goodman und Elgin) gemeint ist noch ein (im Sinne Rawls’ gedachtes) regulatives Ideal der Vernünftigkeit, in dem mit einem idealen Abschluss gerechnet wird, den wir jedoch faktisch nie (bestenfalls in der Unendlichkeit, gleichsam, um einen Ausdruck von Peirce zu verwenden, ‚in the long run‘) erreichen. Darüber hinaus ist die Figur des Verstehensgleichgewichts, so wie sie im Zeichen-, Handlungs- und Kulturverstehen angesetzt wird, auch weder als eine Methode der Begründung und Rechtfertigung von Urteilen und Prinzipien anzusehen noch als das normative Ziel der Zeichenverwendungen, der Handlungszusammenhänge
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und/oder des Verstehens kultureller Gebilde, und sei es auch nur in der abgeschwächten Version, in der Rawls das Prinzip versteht, wenn er es in Hinsicht auf Konsensfähigkeit in politischen und ethischen Fragen in Anschlag bringt. Entsprechend besteht aus meiner Sicht insbesondere in der Zeichen- und Interpretationsethik das moralische bzw. ethische Sollen nicht darin, die unterschiedlichen Horizonte, Standpunkte und Perspektiven in einen Zustand reflektierten, kohärenten, idealen und harmonischen Gleichgewichts zu bringen. Grundlegend ist vielmehr die Einsicht, dass wir von solchen Zuständen – wie stark auch immer unser diesbezüglich ‚guter Wille‘ sein mag – nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch abgeschnitten sind. Die Frage, wie wir mit den zu den Kommunikations- und Kooperationsverhältnissen selbst gehörenden unterschiedenen, konfligierenden, widerstreitenden und nicht auf ein gemeinsames Drittes reduzierbaren Horizonten, Standpunkten und Perspektiven der Zeichenverwendung, der Handlungszusammenhänge und des Kulturverstehens umzugehen gedenken, bildet den systematischen Ausgangspunkt für die innerhalb der ZuI-Philosophie entwickelte Zeichen- und Interpretationsethik. Im Folgenden werde ich einige wenige und lediglich ergänzende Bemerkungen zu den drei genannten Makropunkten Brusottis machen, nämlich (a) zur Abgrenzung von der klassischen Hermeneutik Gadamers und dessen Figur der Horizontverschmelzung, (b) zur Abgrenzung von der klassischen Version sowie einigen Varianten des Prinzips des reflektierten Gleichgewichts, und in beiden Abgrenzungen (c) zu dem darin deutlicher werdenden Profil der ZuI-Philosophie insgesamt.
2.1 Abgrenzung von der klassischen Hermeneutik. Entschmelzung vs. Verschmelzung der Horizonte In seiner Präzision aufschlussreich ist Brusottis Rekonstruktion der Gadamerschen Konzepte der ‚Horizontabhebung‘ und der ‚Horizontverschmelzung‘. Die hohe Belegdichte, die Brusotti hier liefert, bringt die auch aus meiner Sicht entscheidenden Punkte und kritischen Grenzen des Gadamerschen Konzepts deutlich ans Licht. Unter diesen Aspekten scheinen mir die folgenden besonders aufschlussreich: (a) Das, wie Brusotti in Anführungszeichen schreibt, ‚Urbild‘ der Horizontverschmelzung ist bei Gadamer letztlich doch ein „eher monologisches“ Bild, das Verhältnis nämlich eines gegenwärtigen Lesers zu einem Text der Vergangenheit, in welchem der Leser, mit Gadamers eigenen Worten gesprochen, einen Dialog „mit sich selbst“ führt (Kap. 1).
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Inwiefern bezeichnet dies eine Grenze des Gadamerschen Konzepts? Ich pointiere: Zwar handelt es sich bei Gadamer nicht wirklich, wie Brusotti überspitzt formuliert hat, um einen Monolog, denn der Leser bzw. das historische Bewusstsein befindet sich ja Gadamer zufolge in einer Situation, in der er bzw. es die Vergangenheit mit seiner eigenen Gegenwart zu vermitteln sucht. Jedoch handelt es sich auch nicht wirklich um einen Dialog, an dem mehrere eigenständige und unterschiedlich perspektivierende Horizonte und Standpunkte beteiligt sind, die im Konfliktfall nicht unter einen bzw. nicht unter meinen Horizont als gegenwärtiger Leser gezwungen werden können. Es scheint mir geradezu analytisch in der Rede von Horizont, Standpunkt und Perspektive einbeschlossen, dass es deren jeweils viele und unterschiedliche gibt und sie in Konfliktfällen nicht unter einen einzigen Horizont zu bringen sind. Ein Dialog, der den tatsächlichen Unterschieden und Unvereinbarkeiten Rechnung tragen möchte, kann nicht der von einem rest-monologischen Bild geleitete bzw. uneigentliche Dialog sein. Streng genommen behindert ein solches Bild bzw. Urbild sowohl den Eintritt in als auch die Fortsetzung der Kommunikationsverhältnisse, zumal dann, wenn dieses Bild, wie bei Gadamer, mit der Vorstellung verbunden wird, dass die Horizontverschmelzung einen vorab fertigen und gemeinsam geteilten Sinn stets bereits voraussetzt. Überspitzt formuliert: ein solches Bild blockiert die Verständigung eher, als dass es sie eröffnet und befördert. Träfe Gadamers Behauptung zu, der zufolge Verstehen „immer ein Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte“ (Gadamer 1986: 309) sei, dann würden interpersonales ebenso wie interkulturelles Verstehen und überhaupt das Verstehen anderer Perspektiven, anderer Personen und Kulturen streng genommen gar nicht möglich sein. Offenkundig jedoch können solche Dialoge in Gang kommen und fortgesetzt werden. Alle Verhältnisse interpersonaler Kommunikation und Kooperation zeigen dies ebenso wie die faktisch stattfindenden vielfältigen Dialoge zwischen unterschiedlichen Kulturen. Daher kann die Gadamersche Figur nicht zutreffend und dem Differenzen nicht nur tolerierenden, sondern anerkennenden Dialog letztlich nicht wirklich förderlich sein. (b) Die Relevanz der angeführten Aspekte für die Fragen der interkulturellen Verständigungen, Dialoge und Kooperationen wird von Brusotti klar gesehen. Ich möchte diesen Aspekt eigens hervorheben und meine Position noch näher präzisieren. Ich wende mich in puncto Zeichen-, Handlungs- und Kulturverstehen auf interpersonaler wie auf interkultureller Ebene sowohl gegen einen Absolutismus rationalistischer Methodologien als auch, wie bei Brusotti sehr gut herausgearbeitet, gegen das Konzept der Horizontverschmelzung sowie die Idee eines vorab fertigen und gemeinsam geteilten Sinns als den Bedingungen für die Kommunikation und Kooperation zwischen Personen und zwischen Kulturen. Erfolgreiche
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Kommunikation und Kooperation verlangen eine gewisse Überlappung der Horizonte, vor deren Hintergrund Menschen so wahrnehmen, sprechen, denken, erleben und handeln, wie sie dies in ihren jeweiligen kulturellen und geschichtlichen Lebenswelten tun. Kommunikation und Kooperation werden nicht zuletzt dadurch befördert, dass wir auch bereit sind, unseren eigenen Horizont und unsere eigene Perspektive zu modifizieren und, falls erforderlich, falls es zu Störfällen der Kommunikation kommt, auch zu revidieren. Wir müssen, wie Kant sich ausdrückt, stets mit der Möglichkeit rechnen, dass andere Personen (und ich füge hinzu: andere Kulturen) die Dinge anders sehen können als wir selbst. Und wer würde schon, so Kant in der Jäsche-Logik, so verwegen sein, seinen eigenen Horizont für den überhaupt einzigen zu halten und die anderen Horizonte bzw. die Horizonte der Anderen unter den eigenen subsumieren zu wollen. Kant ging sogar so weit zu sagen, dass der Kategorische Imperativ, entlang dessen wir unsere Maximen des Handelns daraufhin prüfen, ob sie Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden könnten, neben seiner Begründung aus reiner Vernunft eines „unentbehrlichen Ergänzungsstücks“ bedarf, – nämlich genau der genannten Einsicht, dass andere Personen (und ich füge wieder hinzu: andere Kulturen) etwas anderes wollen können als wir selbst (Kant 1968: 188). Die Einstellung und Haltung, diesen zentralen Punkt nicht einfach bloß passivisch zu tolerieren, sondern ihn aktiv anzuerkennen und hochzuschätzen, belegt Kant übrigens mit dem Wort „Liebe“. Dieser Liebe zu folgen ist, so möchte ich sagen, zugleich Ausdruck von Rationalität (vgl. hierzu auch SZI 363 – 366, Abel 2012a, 2016a und 2016b). Die ZuI-Philosophie versteht sich als ein Beitrag, die Rolle der Horizonte, Gesichtspunkte und Perspektiven in einer neu gefassten Epistemologie zu thematisieren und damit zugleich die traditionellen Konzepte von Rationalität neu zu überdenken. (c) Gadamers Horizontverschmelzung ist primär auf das diachrone Verhältnis zwischen dem „Gegenwartshorizont“ und dem „Vergangenheitshorizont“ gerichtet (Gadamer 1993: 55). Dabei denkt das für Gadamer wichtige wirkungsgeschichtliche Bewusstsein den Horizont des in der Vergangenheit gebildeten Horizonts und Standpunktes so, dass der frühere Horizont und Standpunkt mit dem gegenwärtigen zu einer Einheit von Sinn verschmolzen und darin die Spannung – und ich möchte pointieren: der mögliche Konflikt bis hin zur Unvereinbarkeit beider – durch den Leser bzw. durch das gegenwärtige historische Bewusstsein aufgelöst wird, welches historische Bewusstsein sich ganz der „Autorität“ des vergangenen Horizonts und Standpunkts sowie dem „Überlieferungsgeschehen“ von letzterem zu ersterem (Gadamer 1986: 295) hingibt. Ich betone diesen Punkt kritisch vor allem auch deshalb, weil die Gadamersche Sicht letztlich vornehmlich durch diese diachrone bzw. traditions-vertikale Betrachtung gekennzeichnet ist und weil demgegenüber die synchrone bzw. horizontale Sicht der Standpunkte
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hier und jetzt nicht nur bei weitem zu kurz kommt, sondern in ihrem Eigenprofil nicht angemessen zum Zuge kommt. Darin liegt ein enormes Defizit. Denn in dieser Sichtweise kommen auch meine gegenwärtigen Cultural Peers, der Nachbar von neben an, der Diskussionspartner im Institut und die gegenwärtigen Angehörigen anderer Kulturen bei weitem zu kurz und in ihrer genuinen Eigenlogik innerhalb des Zusammenspiels von vertikalen und horizontalen Komponenten eines jeden Zeichen-, Handlungs- und Kulturverstehens nicht angemessen vor. Im Bild gesprochen: Die Horizontale wird zugunsten der Autorität der Vertikalen kleingehalten und nicht angemessen beteiligt. Ich gebe ein Beispiel für dieses Defizit: Die klassische Hermeneutik ist hinsichtlich des horizontalen Verstehens einer anderen Person (z. B. eines Freundes und sagen wir dessen individuellen Zahnschmerzes) nicht in der Lage, so etwas wie eine Hermeneutik des Individuellen zu konzipieren. Diese wäre nicht mehr am Ideal des Subsumierens unter ein Allgemeines (im Beispiel des Subsumierens der individuellen Zahnschmerzempfindung Peters unter ein Allgemeines ‚Zahnschmerz‘) orientiert, sondern würde eben auch die Einstellung und Haltung einnehmen können zu sagen: Du hast Deinen Zahnschmerz, der nicht mein Zahnschmerz ist; ich subsumiere Deinen individuellen Zahnschmerz weder unter einen allgemeinen Begriff, noch subsumiere ich Deine Zahnschmerzerfahrung unter meinen eigenen Horizont dessen, was es für mich heißt, meinen Zahnschmerz zu haben; und mit meiner Äußerung „Ich verstehe Dich“ meine ich genau diese Struktur. Das nenne ich frei-lassendes Verstehen, Verstehen des Individuellen. Den anderen Horizont und Standpunkt gegebenenfalls auch als anderen stehen lassen zu können und (im konfligierenden, im widerstreitenden, unversöhnlichen und kontradiktorischen Falle) auch stehenlassen zu müssen, könnte man als das Komplementärstück ansehen zu jener Position, die Kant bekanntlich als den „logischen Egoismus“ bezeichnet hat. Damit meint Kant die Position, dass „man die Übereinstimmung des eigenen Urtheils mit den Urtheilen Anderer für ein entbehrliches Kriterium der Wahrheit hält“ (Kant 1923: 80). Indem das historische Bewusstsein bei Gadamer sich letztlich nur mit sich selbst vermittelt und versöhnt, könnte man ihm, und zugegebenermaßen zugespitzt formuliert, am Ende auch eine Art von logischem Egoismus, hier in der Gestalt eines, wie ich es nennen möchte, hermeneutischen Egoismus kritisch vorhalten. Ich glaube sogar, einen der möglichen Gründe für eine solche Sicht in Gadamers Konzeption benennen zu können. Dieser Grund hängt direkt mit der Frage nach der Wahrheit zusammen. Die klassische Hermeneutik sieht die Texte der Vergangenheit bzw. die kulturgeschichtlichen Gebilde der Vergangenheit, die es zu verstehen gilt, nicht einfach bloß als philologische oder als historische Vorkommnisse. Sie sieht diese Gebilde intern mit einem Wahrheitsanspruch korre-
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liert, um dessen Verständnis und Übernahme es im Verstehen wesentlich geht, und sie macht dabei die Unterstellung, dass es einen alle einzelnen Horizonte umfassenden „großen, von innen her beweglichen Horizont“ gibt (Gadamer 1986: 309). Entsprechend ist sie auf die Annahme verpflichtet, dass auch von der zugehörigen Einheit der Einen Wahrheit auszugehen sei. Sobald jedoch die Möglichkeit einer irreduziblen und freilich unter strengen Restriktionen stehenden Pluralität von Horizonten, Standpunkten und Perspektiven zugelassen werden muss, droht auch der Wahrheit im Singular, mithin einer weiteren starken metaphysischen und ontologischen Annahme der klassischen Hermeneutik, Gefahr.
2.2 Abgrenzung des Verstehensgleichgewichts von Varianten des Prinzips des reflektierten Gleichgewichts Brusotti konzentriert seine Betrachtung auf den Bereich des Zeichenverstehens. Diese Eingrenzung ist von Vorteil. Die Konzentration auf das Zeichenverstehen bringt den Status und die Rolle des Verstehensgleichgewichts in der ZuI-Philosophie auf exzellente Weise in den Fokus der Aufmerksamkeit. Meine anderweitigen Rückgriffe auf die Figur des reflektierten Gleichgewichts (im Zusammenhang vor allem einer Zeichen- und Interpretationsethik sowie im epistemologischen Zusammenhang der Wissensforschung, mithin der Dynamiken, Praktiken und Formate des Wissens und der Wissenschaften) bringen einige andere Aspekte mit ins Spiel. Sachlich trefflich markiert Brusotti die wichtigsten Unterschiede in der Entwicklung der Figur des Gleichgewichts von Nelson Goodmans „virtuous circle“ im Rahmen der Induktionslogik über das „Überlegungsgleichgewicht / reflektierte Equilibrium“ bei John Rawls, Norman Daniels und Catherine Z. Elgin bis hin zu Dagfinn Føllesdal und zu Robert Brandoms „Interpretationsgleichgewicht“ und eben der Figur des von mir im Rahmen der ZuI-Philosophie und dort insbesondere des Zeichen-, Personen-, Handlungs- und Kulturverstehens vertretenen „Verstehensgleichgewichts“. Brandoms Interpretationsgleichgewicht knüpft, wie Brusotti mit Recht betont, an Rawls’ Auffassung an, dass das ‚umfassende reflektierte Gleichgewicht‘ (also jenes Überlegungsgleichgewicht, das sich nicht nur, wie der enge Sinn dieses Prinzips bei Rawls, auf das Anpassungsverhältnis von Moralprinzipien und wohlüberlegten Urteilen, sondern, umfassender, auf das Anpassungsverhältnis zwischen allgemeinen ethischen Hintergrundtheorien und den Urteilen bezieht) „fully intersubjective“ (Rawls 1996: 385, Anm. 16) und durch „mutual accounting“ (387) aller Bürger gekennzeichnet ist. Brandom versteht „Interpretationsgleichgewicht“ bekanntlich als „complete and explicit interpretive equilibrium“, als
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eine Form des „‚we‘-saying“, die „social self-consciousness“ ist (Brandom 1994: 642). Auch wenn mir Brandoms Ausdruck ‚interpretive equilibrium‘ durchaus gefällt, so unterscheidet sich die Auffassung der ZuI-Philosophie von derjenigen Brandoms grundlegend. Ich möchte die grundlegende Differenz dadurch markieren, dass ich den Unterschied betone zwischen Brandoms ‚interpretive equilibrium‘ und der Figur des Gleichgewichts in ZuI-Verhältnissen. Im ersten Falle wird das Gleichgewicht als ‚interpretativ‘ gekennzeichnet (was ich natürlich jederzeit unterschreibe). Im zweiten Falle dagegen geht es um die ZuI-Verhältnisse und um die Frage, ob in diesen Verhältnissen die Figur des Gleichgewichts deskriptiv und/oder normativ überhaupt eine Rolle spielt, und wenn ja: welche. Meines Erachtens liegt es in der Natur der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse (wie ich diese im Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse heuristisch nach drei Ebenen und drei Hinsichten mit jeweils weiteren Unterteilungen differenziert habe), dass: (a) sie nicht vollständig sein können; (b) sie nicht zu einem in der Sache definitiven und allgemein verbindlichen Abschluss gebracht werden können (– das war der Traum der älteren Metaphysik, aber eben nur ein Traum); (c) sie auch nicht im Sinne einer idealen (gar, wie Karl-Otto Apel propagierte, einer apriorischen) Verständigungsgemeinschaft verstanden werden können; (d) sie mehr als nur die expliziten Verhältnisse rationaler und inferentieller Relationen betreffen; (e) zwischen dem solcherart angesetzten Impliziten und dem Expliziten nicht einfach nur eine lineare Fortschreibung dessen besteht, was im Impliziten bereits fertig individuiert da ist und nur noch auf seine Veröffentlichung nach Art einer Pressemitteilung wartet; (f) in der Sicht der ZuI-Philosophie nicht primär der normative, sondern vor allem der deskriptive Gebrauch der Figur des Gleichgewichts zentral ist, mithin derjenige Gebrauch zentral ist, der eine wichtige Komponente dessen beschreibt, was sich in alltäglichen, wissenschaftlichen, moralischen und anderen Praktiken des Zeichen- und Interpretationengebrauchs tatsächlich abspielt;¹ und vor allem dass (g) das ‚explicit interpretive equilibrium‘
Damit meine ich aber nicht eine allgemeine und z. B. eine lebenswelten-unabhängige und kulturen-übergreifende Grundcharakterisierung von Verständigungs- und Lebensverhältnissen; vielmehr hebe ich darauf ab, dass wir im Fortgang einer Kommunikation und Kooperation (und zwar, wenn überhaupt, dann nach Bereichen unterschiedlich, z. B. in der Ethik in einem anderen Sinne als in den Wissenschaften, und in der Logik und Mathematik wiederum auf andere Weise als im Alltag oder in den Künsten) sowie im Blick auf erfolgreiche Orientierung im Triangel von Ich-Andere-Welt ebenso wie z. B. in interkulturellen Dialogen bereit sind und auch sein müssen, unsere jeweiligen initialen Interpretationshypothesen zu modifizieren, anzupassen, wechselseitig einzubalancieren und zu revidieren, im Grenzfall bis hin zur Preisgabe vormaliger und vormals erfolgreicher Interpretationshypothesen.
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das rational-diskursive Gleichgewicht meint bzw. auf rationale Diskurse und auf den logischen Raum der Gründe sowie die dort anzutreffenden diskursiven Verpflichtungen eingeschränkt ist und alle anderen, mithin die meisten unserer Zeichen- und Interpretationsverhältnisse, in denen wir leben und die unsere Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse bestimmen und in denen wir uns orientieren müssen, nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Der entscheidende Unterschied zur Auffassung Brandoms liegt darin, dass ich den Raum der Interpretationsverhältnisse für bei weitem umfänglicher, für nicht auf den rationaldiskursiv konzipierten logischen Raum der Gründe begrenzt und für vorgängig gegenüber der rationalen Diskursivität halte als das, was Brandom mit seinem Ausdruck ‚interpretive equilibrium‘ adressiert. Teile meiner entsprechenden Kritik an Jürgen Habermas in Zeichen- und Interpretationsethik (2010) gelten daher auch im Blick auf Robert Brandoms ‚interpretive equilibrium‘. Da ich den Status und die Rolle des Verstehensgleichgewichts nicht als eine metaphysische und ontologische Voraussetzung für ein jedes Verstehensverhältnis und dessen Funktionieren ansehe, hat Brusotti durchaus Recht, wenn er die Grundidee des Verstehensgleichgewichts in der ZuI-Philosophie eine „deflationäre“ nennt (Kap. 6). Deflationär bzw. sich aus einem allzu vollblutigen Sinn eines Begriffs (in diesem Falle des Begriffs ‚Gleichgewicht‘) zurückziehend kann man das Verstehensgleichgewicht insofern nennen, als damit nicht eine metaphysische Voraussetzung, sondern eine Konsequenz aus der Einsicht gemeint ist, dass dem Zeichengebrauch kein fertiger Sinn vorausgeht, von dem dieser dann stets bereits konditional und sinn-präsuppositiv abhängig wäre. Dies zu sagen heißt, dass dem Begriff des Verstehensgleichgewichts eine zwar wichtige, aber eben doch keine schlechthin allgemeine, sondern eine je nach Bereich und Zeichenkultur unterschiedlich beschränkte Bedeutung zukommt.² Eine wechselseitige Abstimmung der Horizonte des Verstehens ist gleichsam das, was nach Verlust der vormals starken metaphysischen und ontologischen Voraussetzungen in Sachen Bedeutung und Sinn bleibt – zusammen freilich mit der Einsicht, dass es offenkundig viele widerstreitende Horizonte gibt, die nicht in einer solchen Abstimmung integriert, aufgelöst, vermittelt und versöhnt werden können. Beide Aspekte (kein vorab fertiger Sinn; keine Reduktion widerständiger Horizonte, Standpunkte und Perspektiven auf ein gemeinsames Drittes) sind der ZuI-Philosophie zufolge gleichermaßen für Zeichen- und Interpretationsverhältnisse charakteristisch.
Die Situation ist hier ähnlich wie im Falle der deflationären Wahrheitstheorie, der zufolge dem Begriff der Wahrheit auch nur eine beschränkte Bedeutung zugesprochen wird, was freilich keineswegs bedeutet, dass er irgendwie irrelevant wird, ganz im Gegenteil.
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2.3 Verstehensgleichgewicht erster Ordnung und zweiter Ordnung Um den spezifischen Sinn hervortreten zu lassen, in dem ich das Verstehensgleichgewicht einsetze und verstehe, möchte ich eine Unterscheidung zwischen einem Verstehensgleichgewicht erster Ordnung und einem Verstehensgleichgewicht zweiter Ordnung einführen. (a) Mit der Rede vom Verstehensgleichgewicht erster Ordnung meine ich die Figur des Verstehensgleichgewichts in der Ebene der tatsächlichen Vollzüge und Prozesse des Verstehens von Zeichen, Personen, Handlungen und Kulturprodukten, mithin die deskriptive Seite der Figur des Verstehensgleichgewichts. Ohne Frage spielt das Verstehensgleichgewicht auf dieser Ebene insofern eine wichtige Rolle, als wir in den Prozessen der Kommunikation und Kooperation jeweils an einem flüssig funktionierenden Zusammenspiel derjenigen unterschiedlichen Komponenten interessiert sind, die das flüssige Fortsetzen des Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Erlebens und Handelns gewährleisten. Und zu diesen Aspekten gehören auch das wechselseitige Einbalancieren der unterschiedlichen Horizonte, Standpunkte und Perspektiven der Beteiligten sowie, erweitert, das Zusammenspiel der unterschiedlichen Praktiken, Dynamiken und Formate des Wissens und der Wissensformen, wie z. B. des sprachlich-propositionalen, des bildhaften, des diagrammatischen, des praktischen, des technischen, des ästhetischen und des ethischen Wissens. Die Figur des Verstehensgleichgewichts bringe ich mithin auf dieser Ebene erster Ordnung in einem deskriptiven und explikatorischen Sinne zum Einsatz, ohne dass dies die These zur Folge hätte, Ziel und Ergebnis der Kommunikations- und Kooperations-Aktivitäten müsse es stets sein, in einen systemischen Zustand zunehmender Kohärenz zu gelangen. Die Ebene erster Ordnung schließt vielmehr die Tatsache ein, dass wir uns in vielen Fällen eben nicht in dem normativen Glücksfall befinden, alle jeweils unterschiedlichen Horizonte, Standpunkte und Perspektiven in ein System zunehmender Kohärenz überführen zu können. Für die Prozesse des Zeichen-, Personen-, Handlungs- und Kulturverstehens ist vielmehr auch die Möglichkeit charakteristisch, dass unterschiedliche, konfligierende, widerstreitende und einander ausschließende, obwohl gleichermaßen legitime Horizonte und Perspektiven integral zu dem gehören, was wir Kommunikations- und Kooperationsverhältnisse nennen. Auch diese widerstreitenden und nicht auf ein gemeinsames Drittes reduzierbaren Horizonte als konfligierend stehen lassen zu können, gehört zur Natur der Verständigungs- und Handlungsverhältnisse selbst, ist mithin nichts, was ex-kommuniziert und ex-kooperiert werden müsste, um überhaupt sinnvoll von gelingender und erfolgreicher Kommunikation und Kooperation sprechen zu können.
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Auch die nicht reduzierbaren und gleichsam quasi-archaisch im Raum stehenden Differenzen im Zeichen-, Person-, Handlungs- und Kulturverstehen gehören zum Zeichenspiel des Verstehens. Wird diesem Punkt angemessen Rechnung getragen, tritt deutlich hervor, dass neben der Annäherung der Horizonte, Standpunkte und Perspektiven (mit dem Grenzwert in der Übereinstimmung, die ich freilich nicht als eine Horizontverschmelzung charakterisieren möchte, da Übereinstimmung von einer Verschmelzung stets deutlich unterschieden bleibt) auch deren Entschmelzung (vgl. SZI 95 u. ö.) eine kommunikations- und kooperations-förderliche, ja geradezu konditionale Rolle zukommt. Wird Horizontverschmelzung als initiale Kondition für erfolgreiche Kommunikation angesetzt, würden Kommunikationsverhältnisse erst gar nicht in Gang kommen. Und sind Kommunikation und Kooperation erst einmal in Gang gesetzt, würde das Ziel der Horizontverschmelzung diese schlagartig beenden, gleichsam töten können. Die Kondition ist selbst-destruktiv hoch angesetzt. Sie ist gut gemeint, aber sie vermag das Gegenteil zu bewirken. Denn was sollen wir tun, wenn wir wechselseitig feststellen, dass weder der gemeinsam geteilte Sinn noch die Verschmelzung der Horizonte gegeben sind? Bliebe anderes, als die Kommunikation und Kooperation abzubrechen und zu beenden? Wohlgemerkt, das ist alles noch im Bild der klassischen Hermeneutik selbst gesprochen, welches ich zugunsten des flüssigen Funktionierens und Fortsetzenkönnens der Zeichen- und Handlungsprozesse zurücklassen möchte. Im gelingenden und erfolgreichen Zeichen-, Handlungs-, Personen- und Kulturverstehen handelt es sich weder um Prozesse des Verschmelzens noch um solche des Entschmelzens. Oder noch deutlicher formuliert: wenn Teilnehmer in Zeichen-, Handlungs- und Kulturzusammenhängen einander direkt, ohne dazwischen geschaltete epistemische Vermittler, verstehen, dann wird weder verschmolzen noch entschmolzen. Dieses ganze Bild geht gründlich am Charakter dessen vorbei, was es heißt, dass Teilnehmer an Verständigungs- und Handlungsverhältnissen einander verstehen und darauf hin in weiteren Zeichengebrauch und in weitere Handlungen eintreten. Entsprechend geht es in Kommunikations- und Handlungszusammenhängen auch weder darum, einen vorab gemeinsam geteilten „Sinn“ zu aktivieren und ein „Einverständnis in der Sache“ (Gadamer) zu erreichen, noch geht es im Sinne des Rawlsschen reflektierten Equilibriums um die Herbeiführung von Übereinstimmung zwischen Teilnehmern (Bürgern) öffentlicher Kommunikation und Handlungen, und auch nicht geht es darin um den fairen und so gesehen gerechten Umgang mit und die Auflösung von Uneinigkeiten. Auch diesen Punkt hat Brusotti gut gesehen. Kommt es zu einem Abschluss eines jeweiligen Zeichen-, Personen-, Handlungs- und Kulturverstehens – und wir müssen, mit Wittgenstein gesprochen, mit unserem Deuten und Verstehen jeweils zu einem Ende kommen, um überhaupt in
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Kommunikation und Handlungen eintreten zu können –, so ist dieser Abschluss ein pragmatischer Abschluss, kein metaphysischer, d. h. kein in der Sache definitiver und allgemein verbindlicher ‚letzter‘ Abschluss. Und natürlich sind unterschiedliche Arten solcher Abschlüsse und diese jeweils auf unterschiedliche Weise möglich. In einem Kontext kommt es nach zwei oder drei Schritten zu einem Abschluss, in einem anderen Kontext erst nach zwanzig. In einigen Fällen kommt es zu Annäherungen und Übereinstimmungen, in anderen dagegen nicht, und die Verschiedenheiten bleiben stehen. Und in vielen Fällen wird die Kommunikation abgebrochen. Aber auch dies ist noch ein Zug im Geflecht der Verständigungsverhältnisse im weiten Sinne des Ausdrucks ‚Verständigung‘ – sofern im Falle solcher unüberbrückbarer Differenzen nicht zu mano-oppressiven Mitteln der ‚Überzeugungsarbeit‘, sprich zur Gewaltausübung übergegangen wird. Diese Punkte sind mir überaus wichtig. Als Beispiel denke man etwa an Situationen im Alltag, sagen wir: an eine Situation ethischer Entscheidung (z. B. auf der Intensivstation einer Klinik oder vor Gericht), in der mehrere unterschiedliche Positionen gleichermaßen legitim Anspruch auf Geltung erheben, mithin in Konflikt untereinander stehen und ihrerseits nicht auf ein metaphysisches Drittes zurückgeführt werden können, wir aber gleichwohl eine Entscheidung treffen müssen. (b) Mit der Rede vom Verstehensgleichgewicht zweiter Ordnung adressiere ich nun genau diejenige Ebene, auf der (i) die Geltung der Standards der Ebene erster Ordnung, mithin die Standards der Standards zum Thema der Erörterung werden (einschließlich ganzer Hintergrundtheorien und, noch umfänglicher und basaler gefasst, unserer Weltbilder) und auf der (ii) die Einstellung und Haltung kardinal sind, dass die widerstreitenden und gegeneinander stehenden Horizonte, Standpunkte und Perspektiven als irreduzibel anerkannt werden, es jedoch gleichwohl nicht zum Ausbruch eines Bürgerkriegs der Horizonte, Standpunkte und Perspektiven kommen soll. Die Normativität, die ich mit der Figur des Verstehensgleichgewichts verbinde, ist also nicht die Normativität, die dazu verpflichtet, alle Horizonte, Standpunkte und Perspektiven unter so etwas wie ‚Den Einen Horizont‘ eines zunehmend kohärenteren systemischen Gleichgewichts zu bringen. Die Normativität der Figur des Verstehensgleichgewichts zweiter Ordnung möchte ich vielmehr gerade in der transsubjektiven Einsicht sehen, dass wir von dieser Möglichkeit systematisch abgeschnitten sind und auch nicht einfach unkritisch in das metaphysische Rezidiv einer Letztbegründung zurückspringen können. Das Gleichgewicht ist zugleich eines, in dem die irreduziblen Unterschiede, Konflikte, Widerstreite gerade nicht quasi-entropisch oder quasi-quietistisch eingeebnet, sondern als irreduzibel stehengelassen und explizit in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden können, ohne damit in den angesprochenen Bürgerkrieg der Horizonte oder gar in den Kampf der Kulturen ein-
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treten zu müssen. Dieser Punkt spielt in der ZuI-Philosophie generell und vor allem in der Zeichen- und Interpretationsethik eine grundlegende Rolle (vgl. Abel 2010).
2.4 Regeln und Kriterien In seinem Abschnitt 6 gibt Brusotti eine exzellente Rekonstruktion des genuinen Charakters der Figur des Verstehensgleichgewichts in der ZuI-Philosophie, in Abgrenzung zur klassischen Metaphorik des Gleichgewichts im Sinne der Methode des reflektierten Equilibriums. Insbesondere einen Punkt möchte ich hervorheben. Ich übertrage die Rede vom Verstehensgleichgewicht in einen Bereich (in den der Kommunikations- und Verständigungsverhältnisse bzw. des Zeichen-, Handlungs-, Personenverständnisses), „in dem ‚Kohärenz‘ bzw. ‚kohärente Einheit‘ nicht als Kriterium fungieren kann“ (Kap. 6). Und trefflich ist die Anschlussbemerkung von Brusotti, dass es nicht darum geht zu behaupten, dass uns dann doch ein Kriterium des Verstehens fehle, entlang dessen wir gelingende von nicht-gelingender Verständigung unterscheiden können. Der Witz ist vielmehr, dass gelingende Verständigung ebenso wie gelingende Kooperation gar keine von formalen und externen Kriterien abhängige Operationen, sondern internen Regeln und Regularitäten folgende und eben darin flüssig funktionierende und reibungslos fortsetzbare Aktivitäten sind (vgl. Abel 2012). Die ZuI-Philosophie ist keine kriteriale, keine konditional von formalen Kriterien abhängige Betrachtung der Vollzüge der ZuI-Prozesse. Das heißt natürlich nicht, dass diese Prozesse ungeregelt seien. Aber – und das ist die einfache Pointe – Regeln einer flüssigen Praxis unseres tatsächlichen Verstehens von Sprache, Zeichen, Personen, Handlungen und Kulturgebilden sind keine Kriterien. Wenn ich die Wörter von Peter, seine Gesten oder Handlungen verstehe, dann durchlaufe ich nicht zuvor eine Liste von formalen und externen Kriterien oder Merkmalen und schlussfolgere dann, dass ich ihn verstehe, sondern ich verstehe Peter. Dies zu sagen heißt natürlich keineswegs, dass Kohärenz keine Rolle spiele oder dass es sinnlos wäre, Kohärenzanforderungen hinsichtlich der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse, insbesondere hinsichtlich des Zeichenverstehens anzugeben. Alles kommt jedoch auf den Status solcher Kohärenzanforderungen an. Und dieser ist aus meiner Sicht weder ein metaphysisch-ontologischer noch einer der rationalistisch enggeführten Methodologie. Kohärenzanforderungen haben methodisch und epistemologisch gesehen den Status pragmatischer Annahmen. Mit diesem moderaten, aber lebensweltlich wichtigen Status können Kohärenzanforderungen zugleich als Rationalitätsanforderungen verstanden
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werden. Und in diesem Sinne habe ich einige Kohärenzanforderungen formuliert (vgl. SZI 83 sowie Abel 2016a). Den Ausgangspunkt bildet die Überlegung, dass Kohärenzanforderungen von dem Moment an wichtig werden, wo die Zeichen (seien dies Wörter, Handlungen, Personen oder Kulturprodukte) nicht mehr direkt verstanden werden, mithin ein Störfall eingetreten ist, und wir dann diejenigen Interpretationen der Zeichen auszeichnen möchten, die als die ‚richtigen‘ gelten können, als diejenigen, die ein erneut flüssiges Fortsetzen der Kommunikation und Kooperation gewährleisten können. Solche Kohärenzanforderungen können wir auch als Rationalitätsanforderungen ansehen. Sie werden nicht dadurch gefunden, dass wir in einem metaphysischen Call-Center anrufen, um von den Göttern oder wem auch immer die in der Sache definitiven und allgemein verbindlichen Antworten zu erhalten. Unter kritischem Vorzeichen können die gesuchten Kohärenz- bzw. Rationalitätsannahmen letztlich nur aus dem Geflecht der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse selbst gewonnen werden und unter Maßgabe dessen, was es heißt, dass wir uns selbst als Personen verstehen, die wahrnehmen, sprechen, denken, erleben und handeln. Es kann sich für uns nur um Annahmen nach Menschenmaß, nicht nach Gottesmaß handeln. Kohärenzannahmen haben Konsequenzen für unsere Einstellung und unsere Wahl zwischen mehreren Interpretationen, die von sich gleichsam behaupten, sie könnten die Situation des nicht mehr direkten Zeichenverstehens in den Zustand erneut flüssigen Zeichenverstehens überführen. Hier seien einige solcher Konsequenzen benannt: (i) Vorzug sollte diejenige Interpretation erhalten, die es erlaubt, Kommunikation und Kooperation aufrechtzuerhalten und zu intensivieren. (ii) Vorzug sollte derjenigen Interpretation gegeben werden, die dem Fellow-Sprecher/Akteur eine funktionierende Relation zu den anderen Sprechern/Akteuren und zur Welt unterstellt. (iii) Vermieden werden sollten solche Interpretationen, die inkompatibel mit dem bisherigen eigenen sowie mit dem Gebrauch der Zeichen anderer Personen meiner Kommunikations- und Kooperations-Community sind. (iv) Gemieden werden sollten Interpretationen, die zu Selbstwidersprüchen führen, mithin sich selbst zerstören und daher als unvernünftig gelten. (v) Vorzuziehen sind Interpretationen mit höherer sensorischer und begrifflicher Evidenz. (vi) Vorzuziehen sind diejenigen Interpretationen, die möglichst wenige epistemische Vermittler benötigen und uns in diesem Sinne einem direkten Verstehen von Zeichen ebenso wie den direkten Vollzügen von Handlungen näherbringen.
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2.5 Verstehensgleichgewicht und Dreistufenmodell der Zeichen- und Interpretations-Verhältnisse Sehr trefflich lenkt Brusotti die Aufmerksamkeit auf den wichtigen Punkt, dass die Figur des Verstehensgleichgewichts in engem Zusammenhang mit dem Dreistufenmodell der Interpretation gesehen werden muss. In diesem Modell geht es in einem zweifachen Sinne um unterschiedliche Formen, Praktiken und Dynamiken des Zeichen-, Person-, Handlungs- und Kulturverstehens. Angeregt durch Brusottis Beschreibungen möchte ich in diesem Rahmen zwei unterschiedliche Formen des Verstehensgleichgewichts unterscheiden, nämlich: (a) das Gleichgewicht der Ebenen des Dreistufenmodells und (b) das Gleichgewicht des direkten Zeichenverstehens. (a) ‚Verstehen‘ meint auf den drei Ebenen jeweils Unterschiedliches. Auf der Ebene ZuI3 geht es um das aneignende, das deutende, das beschreibende, das erklärende, das rechtfertigende Zeichenverstehen. Auf der Ebene ZuI2 geht es um Verstehen im Sinne gewohnheitsmäßig verankerter und hochgradig eingespielter Praktiken im Sinne des Sich-auf-etwas-verstehen und etwa des Knowing How, des Verstehens-Wie, der habituellen Konventionen, der kulturellen und überlieferten Verhaltensmuster (sich darauf verstehen, wie man sich in Situationen verhält) und der sozialen Kompetenzen (z. B. wissen, wie man sich Freunden gegenüber verhält). Und auf der Ebene der ZuI1 geht es um Verstehen im Sinne des Sich-Verstehens-auf das phänomenale Diskriminieren, auf die Individuation, auf sortales Kategorialisieren und raum-zeitliches Lokalisieren von Dingen und Ereignissen. Wenn diese drei Ebenen eingespielt bzw. bis auf weiteres flüssig funktionierend im Zustand der Gleichtaktigkeit (nach Art etwa der eleganten Koordination der Füße eines Tausendfüßlers) sind, dann haben wir es mit einem Verstehensgleichgewicht zu tun. Dieses möchte ich das Verstehensgleichgewicht im vertikalen Dreistufenmodell nennen. (b) Von diesem Stufungs-Gleichgewicht habe ich, wie Brusotti sehr richtig sieht, die Figur des Verstehensgleichgewichts unterschieden, wie es als Zwischenund Übergangszustand (SZI 95 f.) zwischen einem Zeichenverstehen mit Deutung und dem direkten Zeichenverstehen ohne Deutung in den Fokus der Aufmerksamkeit zu bringen ist. Dieses spielt eine wichtige Rolle im Übergang zwischen der einen und der anderen Form von Verstehen. Im Blick auf diese Unterscheidung habe ich den folgenden Dreischritt vorgeschlagen, den ich an dieser Stelle noch einmal betonen möchte: (i) Ein Zeichen (z. B. eine Geste, ein Wort oder eine Handlung), mit dessen Bedeutung ich nicht oder noch nicht ganz vertraut bin, erfordert Deutungsarbeit (d. h. eine deutende Antwort auf die Frage, was die Geste, das Wort oder die
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Handlung denn bedeute).³ Hier haben wir es mit Verstehen mit Deutung zu tun. Dieses ist, es sei eigens hervorgehoben, ein vollwertiges Verstehen, was sich daran zeigt, dass die Frage nach der Bedeutung bis auf weiteres zufrieden gestellt worden ist und wir die Kommunikation und Kooperation fortsetzen können. (ii) Eine Zwischen- und Übergangsphase zum Verstehen ohne Deutung kann man dann darin sehen, dass die unterschiedlichen Horizonte, Standpunkte und Perspektiven zwischen Partnern in Kommunikations- und Kooperationsverhältnissen wechselseitig einbalanciert bzw. in gewohnheitsmäßigen Praktiken verankert gleichsam entrenched funktionieren und auch mit ihren möglichen Differenzen bereits flüssig bzw. ohne epistemischer Vermittler zu bedürfen funktionieren. (iii) Die Ebene des direkten Verstehens ohne weitere Deutungsarbeit adressiert das direkte Verstehen von Zeichen bzw. den direkten Vollzug und das direkte Erfassen des Zeichens. Wann immer wir es mit solch direktem Verstehen zu tun haben – welches die gegenüber den erklärungsbedürftigen Fällen eines Missverständnisses oder Nicht-Verstehens basalere Form ist –, müssen natürlich gewisse Voraussetzungen der Übereinstimmung erfüllt sein, wie z. B. eine Übereinstimmung in vor-sprachlichem Verhalten, die Übereinstimmung der Handlungen mit ihren Regeln und die Übereinstimmung in elementaren Erfahrungsurteilen und Definitionen. Hier kommt eine Differenz zum Vorschein, die eigens hervorzuheben ist. Konzentrieren wir uns einen Moment auf das Wort, auf die Präposition ‚ohne‘ in der Rede vom Verstehen ohne Deutung. Ich habe ‚ohne‘ durch ‚direkt‘ paraphrasiert, nicht durch ‚unmittelbar‘ im Sinne von ‚ohne jegliche Vermittlung‘. Letzteres liefe auf Magie der Zeichen und des Verstehens hinaus, für die ich keineswegs plädiere. Klickten wir, neudeutsch gesprochen, das Wort ‚ohne‘ auf unserem epistemischen Sprach- und Zeichen-Bildschirm an, so würden wir einen wahren Ozean an Vermittlungen angezeigt bekommen. Der Witz ist jedoch, dass dieser Ozean an Vermittlungen so eingespielt und so elegant und flüssig funktioniert, dass wir, bis es zu einem Störfall kommt, gar nicht merken, dass es sich überhaupt um Vermittlungskomponenten und ‐vorgänge handelt. Das ‚ohne‘ ist also in der ZuI-Philosophie erklärtermaßen nicht das ‚ohne‘ einer Magie oder Mystik oder einer quasi-religiösen Offenbarung der Zeichen. Der Tausendfüßler weiß zwar auch nicht um die Eleganz seiner Koordinationsbewegungen (und wenn er sie sich selbst oder anderen explizit vorführen möchte, verheddert er sich hoff-
Den Ausdruck ‚Deutungsarbeit‘, der den Punkt sehr gut trifft, übernehme ich von Brusotti (Kap. 7).
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nungslos), aber sie ist doch keineswegs frei von den Mechanismen solch eleganten Zusammenspiels. Beispiele solchen Verstehens ohne weitere epistemische Vermittler bzw. Deutungsarbeit sind leicht anzuführen: die gelungene Metapher, der treffliche Witz, die scharfsinnige Ironie, das Sich-Zeigen, wie dieses etwa in einem Gesichtsausdruck, in einer Geste oder kraft einer Körperbewegung direkt verstanden wird. Das im Vollzug der Zeichen selbst sich manifestierende Gleichgewicht möchte ich das Gleichgewicht des direkten Zeichenverstehens nennen. Mit dieser Formulierung erweitere ich meine bisherige Rede vom Gleichgewicht. Und ich tue dies durchaus auch in Reaktion auf Brusottis Anmerkung 23, wo er nämlich sehr richtig sieht: wenn man die im Zuge der Beseitigung eines Störfalls in den Kommunikations- und Kooperationsverhältnissen „wiederhergestellte flüssige Praxis ‚Gleichgewicht‘ nennen [wollte], was Abel allerdings nicht tut, dann würde man im Gleichgewicht mehr als nur einen Übergangszustand sehen, es ginge um das ‚Gleichgewicht‘ selbst als Wirkung.“ (Kap. 7) Genau diese Erweiterung nehme ich hier und jetzt vor. Allerdings nach wie vor mit der entschiedenen Betonung darauf, dass gleichwohl in solcher Rede nicht das Gleichgewicht selbst das eigentliche Ergebnis sowie das quasi-teleologisch angestrebte Ziel ist. Mit ‚Gleichgewicht‘ wird lediglich ein sich einstellender Nebeneffekt bzw. ein bestimmter Anschein des Zustands des Verstehens bezeichnet. Entscheidend ist in Sachen Verstehensprozesse nach wie vor, wie Brusotti sehr richtig sieht, dass sich das Verstehen primär am Vollzug der Zeichen und daran zeigt, dass Kommunikation und Kooperation flüssig fortgesetzt werden können. Das Gleichgewicht ist Folge dieses Zustandes, nicht dessen Kondition. Das ‚Wesen‘ des Verstehens liegt, so möchte ich in Wittgensteinscher Manier sagen, im direkten Verstehen offen zutage, vor unseren Augen. Stellen wir nun die Frage, wie die beiden Verwendungs- und Einsatzweisen der Figur des Verstehensgleichgewichts (Gleichtaktigkeit im Dreistufenmodell, Übergang zwischen zwei Formen des Verstehens) zusammenhängen, so ist die Antwort einfach: Das Verstehensgleichgewicht im vertikalen Dreistufenmodell ist die Voraussetzung für das Gleichgewicht des direkten Zeichenverstehens. Die reibungslose Gleichtaktigkeit bzw. das flüssige Eingespieltsein der drei ZuI-Ebenen ist die Voraussetzung auch für den Übergang zwischen den zwei Formen des Verstehens, von derjenigen mit zu derjenigen ohne Deutung. Nicht mehr im älteren Schema solcher Formulierungen von ‚mit‘ und ‚ohne‘ Deutungen gefangen, sollten wir das direkte Verstehen im Sinne des direkten Zeichenvollzugs, streng genommen, gar nicht mehr als ein Verstehen ohne Deutung ansprechen, da solche Sprechweise sich noch in dem älteren Schema von Mit-Deutung und Ohne-Deu-
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tung, mithin beide Male noch im Würgegriff der Figur der Deutung bewegt, die es im Blick auf den Vollzugscharakter der Zeichen gerade zurückzulassen gilt.
Literatur Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2010: Zeichen- und Interpretationsethik, in: Przyłębski, Andrzej (Hg.): Ethik im Lichte der Hermeneutik, Würzburg, S. 91 – 119. Abel, Günter 2012a: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, ins Englische übers. v. Daniel Smyth, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52. Abel, Günter 2012b: Knowing-How: Indispensable but Inscrutable, ins Englische übers. v. Hadi Nasir Faizi u. David R. Antal, in: Tolksdorf, Stefan (Hg.): Conceptions of Knowledge, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 4), Berlin / Boston, 2012, S. 245 – 267. Abel, Günter 2016a: Rethinking Rationality: The Use of Signs and the Rationality of Interpretations, in: Wagner, Astrid / Ariso, José Maria (Hg.): Rationality Reconsidered. Ortega y Gasset and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 9), Berlin / Boston, 2016, S. 15 – 29. Abel, Günter 2016b: Distributed Types of Knowledge, Epistemic Perspectives, and Creativity, in: Abel, Günter / Plümacher, Martina (Hg.): The Power of Distributed Perspectives, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 10), Berlin / Boston, S. 35 – 60. Brandom, Robert B. 1994: Making it explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge (Mass.). Gadamer, Hans-Georg 1986: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 5. (durchges. u. erw.) Aufl., in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen. Gadamer, Hans-Georg 1993: Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Register, 2. (durchges.) Aufl., in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 2, Tübingen. Kant, Immanuel 1923: Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, in Kants Auftrag hg. v. Gottlob Benjamin Jaesche, in: Gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften u. a., Berlin 1902 ff., Bd. IX, S. 1 – 150. Kant, Immanuel 1968: Das Ende aller Dinge, in: Werkausgabe, Bd. XI, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt a. M., S. 175 – 190. Rawls, John 1996: Political Liberalism, 2. Aufl. New York.
Kapitel 3: Sprache und Interpretationspraxis
Tilman Borsche
‚Alles ist Sprache‘ Zur Unterscheidung von ‚Namen‘ und ‚Sachen‘ im Zeichen der Interpretationsphilosophie Abstract: Discriminations concerning basic concepts determine our thinking in a much more fundamental way than convictions we advocate because we believe them to be more true or correct than their alternatives. They seem evident, while doubt about them seems absurd and cannot be articulated in a reasonable way. One of these discriminations is the one between words and things, signs and designation, thinking and world. Underlying this discrimination is the question of the relation between names and things that introduced the European tradition of philosophy of language and that, in many ways, moved and dominated this tradition and repeatedly involved it in insoluble aporias. This presentation tries to show an alternative not by asking for the truth, but for the convenience of this discrimination. Following known but never dominant trends of philosophy of language, a reduction or suspension of that discrimination is explicated, which causes the things to represent themselves as verbally reshaped, and hence they can only be determined and made accessible within the framework of the tradition of linguistically articulated thinking. This way, it becomes possible to comprehend that discrimination not as a natural evidence preceding all judging, but as an abstraction that is admittedly highly useful however subsequent and artificial.
1 „Daß es Fakten gibt, kann selbst kein Faktum, sondern muß Ergebnis einer Zeichen- und Interpretationsgenealogie sein.“ (ZdW 16) Mit diesem und zahlreichen verwandten Sätzen aus der Einleitung zu Zeichen der Wirklichkeit markiert Günter Abel das Ende einer über zweitausendjährigen Frage – nicht nur das ihrer vielfältigen Antworten –, einer Frage, mit der die Tradition der europäischen Sprachphilosophie eröffnet wurde. Es geht um die Frage nach der Richtigkeit der Namen. Diese Leitfrage des platonischen Dialogs Kratylos setzt dreierlei voraus und zwar, (1) dass unser Sprechen (légein) wahr oder falsch sein kann, (2) dass der Ort, an dem die Frage entschieden werden kann und muss, ob eine Äußerung tatsächlich wahr oder falsch ist, die Namen sind (‚Namen‘, griech. – onómata –, sind hier verstanden als Elemente alles Sprechens) und (3) dass Namen, um https://doi.org/10.1515/9783110522280-012
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richtig oder falsch sein zu können, sich auf etwas beziehen (sollen), das ihnen unabhängig von aller Benennung vorausliegt. Die Frage nach der Richtigkeit der Namen hat seither viele verschiedene Gestalten angenommen: Aus ‚Namen‘ wurden ‚Wörter‘, ‚Zeichen‘, ‚Vorstellungen‘ und ‚Begriffe‘, diese wurden im Blick auf die Wahrheitsfrage bald ersetzt durch Urteile bzw. Sätze und im Blick auf das hier verhandelte allgemeine Problem der Referenz erweitert zu Totalitäten von Namen bzw. Sätzen wie ‚Sprache‘ und ‚Denken‘, wissenschaftliche Theoriegebäude und philosophische Weltansichten. Auf der anderen Seiten stehen neben ‚Sachen‘ auch ‚Dinge‘, ‚Gegenstände‘, ‚Sachverhalte‘, auch diese wurden erweitert zu Totalitäten von Gegenständen wie ‚Wirklichkeit‘, ‚Welt‘ und anderen Bezeichnungen für die Gesamtheit des aller Benennung oder Bezeichnung Vorausliegenden. In all diesen Metamorphosen aber blieb die schwer überbrückbare, weil immer schon und fraglos vorausgesetzte „Kluft zwischen Zeichen und Wirklichkeit“ (ZdW 14) bestehen; sie war und ist konstitutiv für diese, d. h. für den Mainstream unserer Tradition der Sprachreflexion. Zeichen der Wirklichkeit expliziert demgegenüber die Gegenthese, dass es in den Feldern von Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes und der Formen des Wissens, sogar von Handlungstheorie und Moralphilosophie nicht um die Wirklichkeit (einerseits) und ihre Zeichen (andererseits), sondern nur um unsere Wirklichkeit in Zeichen gehen kann, deren Sinnhaftigkeit es darzustellen gilt. Diese Wende des sprachphilosophischen Denkens, die sich in der neuzeitlichen Philosophie als Kritik der herrschenden Begriffskonstellationen von Sprache, Denken und Wirklichkeit schon lange angebahnt hatte und von Günter Abel in Anknüpfung an diese Kritik auf umfassende Weise, wie er es gerne nennt: ausbuchstabiert wurde, soll in dem nun folgenden Beitrag durch eine prägnante, wiewohl etwas provokante, weil archaisch klingende These etwas anders interpretiert werden. Der Titel nennt die These: ‹Alles ist Sprache›. Es handelt sich bei dieser These um eine Formulierung, die Günter Abel so sicher nicht, jedenfalls nicht unbesehen, unterschreiben würde. Aufgabe dieses Beitrags ist es, ihn davon zu überzeugen, dass, wenn man nur ‚alles ist x‘-Sätze einerseits und andererseits den Begriff der Sprache auf angemessene Weise versteht, dieser Formulierung doch ein guter, philosophisch bedeutsamer Sinn abgewonnen werden kann. – Anknüpfungspunkt des vorliegenden Textes ist ein Beitrag zum XXI. Deutschen Kongress für Philosophie in Essen 2008, der unter dem Titel Entgrenzung des Begriffs der Sprache (Borsche 2011) die philosophiehistorische Genese der Kritik des traditionellen Sprach- und Zeichenbegriffs und deren Konsequenzen darstellt.
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2 Die platonische Unterscheidung von Namen und Sachen und parallel dazu: Wort und Gegenstand, Vorstellung und Begriff, Sprache und Welt, Denken und Sein usw. – diese Unterscheidung ist (mindestens) so alt wie die Philosophie. Wird diese Unterscheidung aufgehoben, dann verlieren Begriffe wie das Zeichen, das Wort, die Sprache, letztlich auch das Denken und die Dinge ihre gewohnte Bestimmtheit. Sie verlieren ihre überlieferte Bedeutung. Haben sie eine andere? Nein, denn sie haben – an sich / per se – gar keine Bedeutung.¹ Deswegen wurden und werden sie weiterhin, auch heute noch, in ihrer alten Bedeutung verwendet und verstanden. Dieses überlieferte Verständnis dominiert unsere Alltagssprache und bestimmt auch noch weitgehend den wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Verallgemeinernd lässt sich feststellen: Philosophische Sprachreflexion, die historisch datierbar einsetzt mit der platonischen Frage nach der Richtigkeit gegebener Namen, verhält sich von Anfang an kritisch gegenüber dem Versprechen, das jene Unterscheidung impliziert, mithin skeptisch gegenüber der Hoffnung, dass die „Kluft zwischen Zeichen und Wirklichkeit“ überwunden werden könne. Sie formiert sich seither, also immer schon, als skeptischer Zweifel an eben dieser Richtigkeit: So verstand und versteht sie sich als Kritik des wahren Denkens, der Wahrheitsfähigkeit des Denkens. Das Ergebnis war zunächst keine konstruktive Gegenthese, sondern lediglich eine destruktive Einsicht: Die Wahrheit der Dinge, die Wahrheit über die Dinge kann durch Namen oder Worte weder definitiv ermittelt noch adäquat dargestellt werden.
3 So als Erkenntniskritik verstanden, geht die philosophische Sprachreflexion von der asymmetrischen Unterscheidung von res und signum aus und stellt diese selbst nicht in Frage. Vielmehr hat diese Unterscheidung mit ihrer impliziten Asymmetrie für alle sprach- und erkenntniskritische Reflexion normative Bedeutung – im Status der Selbstverständlichkeit. Von solcher Art sind bekanntlich
Abel demonstriert die Ambivalenz der Bedeutung dieser Begriffe am Beispiel des Begriffs des ‚Zeichens‘. Einerseits gilt: „Nichts ist aus sich heraus […] Zeichen“, andererseits gilt ebenso: Alles „kann […] zu einem Zeichen werden.“ Doch genau besehen präzisiert er in dem hier vorgeschlagenen Sinn sogleich – ich vervollständige nur die Zitate: Einerseits gilt: „Nichts ist aus sich heraus und vorab Zeichen“, andererseits gilt ebenso: „Im Prinzip kann jedes Objekt und Ereignis für uns zu einem Zeichen werden.“ (ZdW 21 f.; kursiv T. B.)
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die am stärksten wirkenden Normen. Man kann den normativen Charakter der Unterscheidung von Name und Sache oder von res und signum etc. in eine rhetorische Frage übersetzen: Wer wollte, wer könnte diese Unterscheidung bezweifeln? Die primäre Aufgabe von Zeichen – ihr Telos, ihre Bedeutung – besteht doch gerade darin, dass sie Sachen darstellen, und zwar so darstellen, wie sie sind. Auch in der bald und seither herrschenden aristotelischen Tradition werden Worte, später auch Gedanken, in diesem Sinn als Zeichen verstanden. Erfüllen sie ihre Aufgabe nicht, dann ist mit den Zeichen etwas nicht in Ordnung. So viel an normativem Anspruch scheint bereits im Begriff des Zeichens selbst zu liegen: Das Zeichen ist etwas Gegebenes, das auf etwas anderes, sei es gegeben oder nicht, verweist, verweisen soll. Durch Übertragung und Analogie gilt das Entsprechende für den Begriff des Namens, des Wortes bzw. des Gedankens als eines Zeichens. Sprachreflexion als Sprachkritik und damit auch Erkenntniskritik steht fest im Rahmen jener unhinterfragt mächtigen asymmetrischen Unterscheidung von res und signum sowie der Erwartung, der Aufgabe, dem Gebot, dass das Zeichen mit der Sache übereinstimmen solle. Als Kritik beginnt sie sich genau dann zu regen, wenn der Verdacht aufkommt, dass die Erfüllung dieser Aufgabe misslingt, viel zu häufig misslingt, letztlich misslingen muss.
4 Heute stehen wir am Ende dieser Entwicklung. Der Zweifel ist manifest, er ist nicht abzuweisen, alle Versuche einer Rechtfertigung von in platonischem Sinn wahrem Wissen über die Dinge und ihrer adäquaten Darstellung in Zeichen, Worten oder bestimmten Gedanken sind gescheitert. Es bleibt der unerhörte Versuch, jene Unterscheidung selbst in Frage zu stellen. Versuchen wir also, anders zu fragen: Fragen wir nicht nach der Bestimmtheit der Unterscheidung von res und signum: d. h. fragen wir nicht mehr, was res bzw. signum wirklich bedeuten. Denn wir haben erfahren, (a) dass uns diese Unterscheidung so, wie wir sie immer schon verstehen, mit einer unlösbaren Aufgabe konfrontiert, und (b) dass wir die Namen / Worte, die wir tatsächlich verwenden, trotzdem erfolgreich verwenden: Wir unterscheiden die Dinge und können uns untereinander verständigen, ganz so, wie es die berühmte Werkzeugdefinition des Namens aus dem Kratylos verlangt. Mit anderen Worten: Die Aufgabe ist hinreichend erfüllt, aber wir verstehen nicht, wie das möglich ist. Wir haben, solange wir an jener Unterscheidung so, wie wir sie zu verstehen gelernt haben, festhalten, offenbar kein angemessenes Bild von dem, was geschieht, wenn wir Dinge mit Worten benennen bzw. unterscheiden und miteinander über Dinge sprechen. Fragen wir also nicht nach der wahren Bedeutung der Unterscheidung von res und signum, bzw. der Unterschiedenen,
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sondern nach uns, die wir diese Unterscheidung als so bestimmt erkennen und anerkennen, wie wir es tun. Fragen wir nach unseren Absichten, nach den offenen oder auch verborgenen Zwecken, die bewirken, dass wir – fraglos – jene Unterscheidung zwischen Sachen und Zeichen treffen, offenbar immer schon getroffen haben. Fragen wir nach Sinn und Zweck, nach Nutzen und Vorteil dieser Unterscheidung für uns, um zu erfahren was sie – für uns – bedeutet.
5 Unterscheiden wir so, wie wir es tun, weil der Unterschied von Sein (Dingen, Gegenständen, Welt) einerseits und andererseits Denken bzw. Sprechen an sich und für Gott (d. h. im Blick from ‚nowhere‘) feststeht? Keineswegs, denn das ist es gerade, was wir nicht wissen und nicht wissen können. Es gibt diesen Unterschied nicht an sich und für Gott. Er ist uns gegeben – ‚now here‘ –, und zwar unmittelbar, nicht analysiert und nicht analysierbar, als eine notwendige Unterscheidung von als einfach erscheinenden Gegenständen des Denkens. Das Problem in traditionellerer Terminologie gesprochen: Jene Unterscheidung mag wohl evident sein, aber sie ist auch nur evident, und deswegen noch längst nicht wahr. Was bedeutet dann aber eine solche grundbegriffliche Evidenz, ein solches ‚per se notum‘? Allgemein gefragt: Was lässt sich über die Wahrheit einer Evidenz sagen? ‚Objektiv‘ (nach dem gängigen Verständnis dieses Begriffs, d. h. losgelöst von unserer Aufmerksamkeit auf den bzw. Zuwendung zu dem Gegenstand) – ‚objektiv‘ lässt sich gar nichts sagen. Doch wir können etwas Interessantes beobachten. Wir können beobachten, was geschieht, wenn wir diese Unterscheidung für evident halten: Theoretisch treffen und behaupten, praktisch befolgen wir diese Unterscheidung, und zwar fraglos und zweifelsfrei. Und warum? Hier bleiben uns nur Vermutungen. Genealogische Vermutungen haben hier ihren logischen Ort: Sie beantworten Fragen nach den offenen oder verborgenen Intentionen der Diskursteilnehmer (Sprecher und Hörer). Welche Absichten verfolgen sie / wir, welchen Zwecken dienen wir / sie mit der Anerkennung der in Frage stehenden Unterscheidung zwischen res und signum? Vielleicht treffen, respektieren und praktizieren wir jene Unterscheidung, weil sie für bestimmte Zwecke, die wir bewusst oder unbewusst verfolgen, außerordentlich hilfreich und nützlich ist. Die Frage nach der – jeweils anerkannten – Bedeutung unserer Grundbegriffe rehabilitiert die Suche nach möglichen ‚Zweckursachen‘, allerdings nicht mehr nach ewig-göttlichen, sondern nach menschlich-kontingenten ‚Motivationen‘.
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6 Eine genealogische Mutmaßung dieser Art, welche auch immer, wäre keine skeptische Gegenthese gegen die dogmatische Behauptung, dass Denken und Sein, Zeichen und Sachen, Sprache und Welt, verschieden sind. Sie verstünde sich nicht als Gegenthese, sondern als Vorschlag für eine mögliche Depotenzierung der dogmatischen These, die sie aufgreift und in Zweifel zieht. Allein darin liegen, generell gesagt, der Geist und der Sinn skeptischer Argumente: sie behaupten weniger. Ihre Kritik gilt nicht unbedingt, sondern immer nur bedingt. Sie sind Ausdruck bestimmter Zweifel. Sie beanspruchen Geltung nur in gewissen, durch diese Zweifel bestimmten Grenzen. Jedenfalls gelten sie nur, insofern und solange man sie nicht ihrerseits verabsolutiert. Erkenntnistheoretisch betrachtet, verstehen sie sich ausdrücklich als Konjekturen. Diese Charakterisierung aber gilt für jede Bedeutungsaussage, wenn man den ebenfalls skeptischen Zweifel teilt und anzuerkennen bereit ist, dass kein Wort, kein Zeichen, an sich – „aus sich heraus und vorab“ (ZdW 21) – eine bestimmte Bedeutung hat. Danach wäre jede nichtdefinitorische, also nicht aus schon bekannten und anerkannten Definitionen abgeleitete, sondern ursprünglich und ungeschützt im Modus der Behauptung geäußerte Bedeutungsaussage ‚Konjektur‘; will sagen: sie ist nur, sie ist nicht mehr als Konjektur. Sie ist jedenfalls nicht Behauptung. Das klingt seinerseits apodiktisch, ist es aber nicht. Konjekturen verstehen sich als bedingt durch kontingente, aber historisch anerkannte, eben ‚gegebene‘ Bedeutungsbestimmungen. Besser wäre es wohl zu sagen: Jede Bedeutungsaussage bleibt Konjektur. Sie kommt über den Status einer Konjektur nicht hinaus. Sie hat Aufforderungscharakter und empfiehlt sich als bewährtes oder zu bewährendes Bedeutungspostulat.
7 Positiv und affirmativ auf das vorliegende Bedeutungspostulat angewendet, lässt sich Folgendes feststellen: Begriffshistorisch betrachtet kann man die asymmetrische und normativ bestimmte Unterscheidung zwischen signum und res als eine Epoche machende Konjektur verstehen, die es möglich machte und immer noch macht, unser Denken zur Wissenschaft zu erheben, d. h. in die Differenz von wahren und falschen Aussagen zu stellen; was ja keineswegs in allen Sprachen, noch weniger zu allen Zeiten üblich war, sondern von Platon erst entdeckt werden musste. Unter diesem Bedeutungspostulat nehmen wir an: Die Dinge (res) sind, was sie sind, vor allem Denken über sie, vor allem Sprechen von ihnen. Unsere Zeichen für die Dinge (Gedanken, Namen, Worte, Graphen etc.) können wahr oder
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falsch sein, im Prinzip wenigstens. Wissenschaften suchen die richtige Darstellung der Dinge, das ist ihre Aufgabe. Wir glauben, dass sie auf dem richtigen Wege sind, und wir arbeiten daran, dass sie ihrem Ziel immer näher kommen. Bekanntlich sind aber die Grenzen auch dieser Konjektur inzwischen deutlicher geworden. Die Notwendigkeit, andere Wege des Denkens offen zu halten bzw. neu zu bahnen, ist daher nicht mehr zu leugnen, sie drängt sich vielfältig auf.
8 Wenn wir Zeichen so verstehen, wie eben erläutert: als asymmetrische Relation von Zeichen und Bezeichnetem – und ich denke, wir tun das in der Regel immer noch –, dann stellt sich erneut die Frage, ob es angemessen ist, Wörter als (eine Art von) Zeichen zu verstehen. Ich möchte daher im Folgenden die Grundzüge eines auf bestimmte Weise modifizierten und dann aus noch anzugebenden Gründen entgrenzten Begriffs von Sprache vorstellen. Dieser neue Begriff kommt einem intuitiv überzeugenden Verständnis unserer Praxis von Sprechen und Denken sehr viel näher als die, wie sich im Lauf der Geschichte gezeigt hat, zu mancherlei absurden Konsequenzen führende zeichentheoretische Konstruktion von Denken und Sprache in der aristotelischen Tradition. Zugleich kann er überzeugende Aspekte und Einsichten des herrschenden Sprachbegriffs integrieren, z. B. die Möglichkeit eines Zeichengebrauchs von Sprache. Denn niemand wird bestreiten, dass wir Wörter als Zeichen verwenden können. Doch es hat sich als notwendig herausgestellt, auf die Frage, welches Bild wir uns von dem Wort bzw. den Wörtern, von der Sprache bzw. den Sprachen machen, anders gesagt: welche Bedeutung wir diesen Termini geben können und wollen, mehr und anderes zu antworten, als dass sprachliche Einheiten eine besondere Art von Zeichen seien. Unter einem entgrenzten Begriff von Sprache, wie er hier vorgestellt werden soll, wären alle unsere Versuche einer Artikulation von Welt und Dingen notwendig sprachlicher Natur. Was und wie etwas ist, wäre nicht losgelöst von sprachlich artikuliertem Denken zu bestimmen. ‚Alles ist Sprache‘, oder genauer: ‚Alles, was wir verstehen, alles, was für uns etwas bedeutet, ist Sprache‘. So etwa wäre dieser Gedanke in ein geläufiges Idiom gegenwärtiger Philosophie zu übersetzen.² Es handelt sich bei diesem neuen Begriff von Sprache wie bei allen bedeutungskonstituierenden bzw. -modifizierenden Behauptungen um eine
Der Ansatz eines post-metaphysischen Philosophierens im Übergang zwischen Zeichen, der hier im Namen der Sprache präsentiert wird, wird im Namen des Zeichens ausführlich entwickelt von Josef Simon (1989; vgl. hier bes. Vorwort, S. 4 f.).
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‚metaphysische Konjektur‘ (‚metaphysisch‘ im Sinn der Kantischen Rede von einer metaphysischen Erörterung gegebener Begriffe; ‚Konjektur‘ im Sinn der Cusanischen Theorie menschlicher Erkenntnis). Die neue Konjektur zur Explikation des gegebenen Begriffs der Sprache in der Gestalt, in der sie hier vorgestellt wird, geht nicht nur von der Sprachlichkeit des Denkens überhaupt aus, sondern betont auch dessen Vielsprachigkeit. Sie ist erfahrungsgesättigt in einer bis dato in der Philosophie noch nie dagewesenen Tiefe durch umfassende empirische Sprachstudien gerade auch auf dem Feld bislang unerforschter sehr ferner und fremder Sprachen; Leibniz und Humboldt haben hier Pionierarbeit geleistet. Erste Entdeckungen sowohl der Sprachlichkeit wie auch der Vielsprachigkeit des Denkens gehen auf die Renaissance zurück (questione della lingua). Im 20. Jahrhundert wurden erstere von der Sprachphilosophie, letztere von der Linguistik einerseits aufgegriffen und vertieft, andererseits aber auch verdrängt und geleugnet. (Wie) lässt sich dieser neue Begriff knapp und doch verständlich explizieren? Denn, wie gesagt, zunächst und zumeist werden die Begriffe ‚Sprache‘, ‚Wort‘, ‚Zeichen‘ etc. weiterhin in ihrer überlieferten Bedeutung verwendet und verstanden. Doch werden dieselben Begriffe durchaus auch in ihrer modifizierten neuen Bedeutung verwendet. Das ist möglich, legitim und auch sinnvoll, wenn und solange die neue Bedeutung problemlos verstanden wird. Eine neue Bedeutung wird verstanden, wenn es gelingt, sie mit dem alten Namen so zu verbinden, dass sie als Lösung eines Problems erscheint, das sich unter Voraussetzung der alten Bedeutung mit der Zeit unabweislich gestellt hat.
9 Hauptkennzeichen des neuen modifizierten und dann entgrenzten Sprachbegriffs ist die Umkehr des Verhältnisses von Wörtern und Zeichen, wie es in der aristotelischen Tradition überliefert ist. Danach gelten Wörter, genauer ‚Namen‘ (im Frege’schen Sinn dieses Wortes) als eine besondere Art von Zeichen. Dieses Verhältnis wird nun, wie gesagt, umgekehrt. Zeichen werden als eine besondere Art von Wörtern verstanden. Genauer: Wir verstehen Wörter (und andere Dinge) genau dann als Zeichen, wenn wir sie in einer bestimmten Weise, nämlich als Zeichen, gebrauchen. Entscheidend ist dabei die Einsicht, dass wir Wörter auch noch auf viele andere Weisen, d. h. nicht als Zeichen, gebrauchen. Wörter als solche sind nicht als eine Art von Zeichen und damit von dem her zu verstehen, was wir über Zeichen immer schon zu wissen meinen, genauer: wie wir das Wort ‚Zeichen‘ zu verwenden gelernt haben. Vielmehr wird der neue Sprachbegriff, etwa bei Humboldt, gerade durch die Abkehr von dieser alten aristotelischen Vorstellung
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der Wörter als Zeichen gewonnen. Dabei wird die traditionelle nominelle Bestimmung des ‚Zeichens‘ – das Stehen von etwas für etwas anderes – nicht in Frage gestellt. Doch in Humboldts Sprachauffassung markiert das Zeichen eine besondere, eine abgeleitete Art, wie Sprachlaute, Schriftzeichen und andere Dinge zu bestimmten Zwecken zu gebrauchen sind: eben zur Bezeichnung von Gegenständen, die wir bereits kennen, die gegeben oder doch im Voraus als bestimmt angesehen sind. Wörter aber, obwohl sie als Zeichen gebraucht werden können und häufig auch als solche gebraucht werden, sind mehr und anderes als Zeichen. Vor allem sind Wörter dem, was sie bedeuten, niemals äußerlich, wie das bei den Zeichen in Relation zum jeweils Bezeichneten, wie wir zu sagen pflegen, ‚der Fall ist‘, weil der Begriff des Zeichens uns das so anzusehen nötigt.Wörter aber, anders als Zeichen, schließen die Gegenstände, auf die sie referieren, ein; der referierte Gegenstand gehört zum Wort selbst. Genauer gesagt: Wörter formieren ihren Gegenstand für uns. Worte (Äußerungen, Reden, Texte) sind es, die die Welt in unserer Vorstellung und für unser Denken artikulieren, durch welche sich uns Welt erschließt, und zwar so, wie sie für uns jeweils von Bedeutung ist, Bedeutung gewinnt und sich ständig fortbildet, umformt, immer weiter differenziert: diese Bewegung zielt nicht auf eine statische oder irgendwann vollendete Welt von Begriffen, keinen mundus intelligibilis, keinen Ideenhimmel, aber auch nicht auf ‚reine‘ Sinnesdaten, sondern sie verarbeitet unsere immer schon durch Sprache sowie durch Tradition und Usus (Herder) überformten Wahr-Nehmungen.
10 Für den zweiten Teil meines Beitrags lege ich den soeben grob skizzierten und im Anschluss an Wilhelm von Humboldt formulierten neuen Sprachbegriff zugrunde, um im Folgenden die darin enthaltenen Implikationen noch ein Stück weit zu explizieren. Zu diesem Zweck werde ich die den traditionellen Begriff der Sprache entgrenzende Titelthese „Für uns ist alles Sprache“ in zwei Versionen oder von ihren zwei Seiten her – „Sprache“ bzw. „Wir und Welt“ – reformulieren, um sie dann in sieben Anmerkungen kritisch zu kommentieren. Die zwei Seiten der These lauten: (a) Wir und unsere Welt sind, was wir sagen, denken, verstehen. (b) Sprache ist das, was uns zu dem macht, was wir sind, als was wir uns bestimmen können und was uns zugleich Welt erschließt (‚Welt‘ als einen dynamischen Entwicklungsstrom von individuell perspektivischen ‚Weltansichten‘).
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Humboldt spricht in diesem Zusammenhang noch unbefangen vom „Menschen“. „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache.“³ Dabei setzt er den „GattungsCharakter“ des Menschen ausdrücklich undefiniert „als bekannt voraus“, um alsdann „nur seine individuellen Verschiedenheiten“ aufzusuchen.⁴ Doch der Begriff ‚Mensch‘ ist ein Prädikat (logisch: ein genereller Terminus), mit dem wir nicht nur etwas überhaupt, sondern uns selbst als etwas, nämlich als Menschen, als zur Gattung der Menschen gehörig, zu verstehen versuchen, indem wir die Frage, was wir sind, mit diesem Begriff – vorläufig, aber unter uns unstrittig – beantworten. Mehr Erkenntnis über den Menschen steckt nicht in diesem Satz. Er enthält einen normativen Appell an unser gemeinsames Vorwissen, an das, was wir glauben, über den Menschen „als bekannt“ voraussetzen zu können, zu sollen bzw. zu müssen. Jedenfalls dürfte das Prädikat ‚Mensch‘ eines sein, das unserem kulturellen Gedächtnis so tief eingeschrieben ist, dass es uns schwer fallen würde, in unserem Selbstverständnis, in unserer Selbstauslegung und Selbstdarstellung ohne es auszukommen. – Heidegger, der diese Schwierigkeit sieht, die – notwendig und legitim – zu einer Wissenschaftsdisziplin namens ‚Anthropologie‘ führt, spricht daher lieber von „Dasein“. Denn dieses Wort lädt dazu ein, die Perspektive der ersten Person mitzudenken: ‚Dasein‘ meint Sein für mich, es ist von mir aus gesagt, hier und jetzt, eben von ‚da‘, wo ‚ich bin‘. – Der Plural der ersten Person (das ‚wir‘ in den oben gegebenen Formulierungen) ist, ebenso wie das Heidegger‘sche Dasein, keine prädikative Erkenntnis. (Das Pronomen ‚wir‘ ist kein genereller Terminus.) Sein Verständnis aber ist konstitutiv für Sprechen und Denken überhaupt. Während sein Inhalt unbestimmt ist (bzw. als hinreichend bestimmt oder als bekannt vorausgesetzt wird), wird hier, anders als auch noch im Wort ‚Dasein‘, der Plural unmissverständlich ausgedrückt. Damit aber wird die Verschiedenheit der Sprecher, der Hörer und des jeweiligen mehr oder weniger geteilten Verständnisses der mehr oder weniger vergleichbaren, abgestimmten, nur, aber immerhin einander ‚ent-sprechenden‘ Weltansichten als wesentlich bestimmt – ausdrücklich. Humboldt, der Kantleser und Fichtehörer, der die Philosophen nicht gerne kritisiert, wechselt hier dezidiert vom Fichteschen Ich (und Nicht-Ich) oder von der Subjekt-Objekt-Relation der neuzeitlichen Erkenntnistheorie zur trinitarischen Relationalität der drei grammatischen Personen: Dem Ich tritt in der Artikulation der Worte in Rede und Gegenrede ein Du gegenüber, ohne welches ‚ich‘ nicht ‚ich‘ wäre und sein könnte. In der Antwort entsteht als ein Drittes zwischen den beiden eine durch Worte bestimmte und ständig sich fort-bestimmende geistige Welt, die Welt des Geistes. Das ist unsere
Vgl. dazu (Borsche 2009). Wilhelm von Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie, (GS I, 377).
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Welt, die mehr oder weniger (mit)geteilte Welt, in der ‚wir‘ leben. In ihr, d. h. für ‚uns‘ ist „Alles – Sprache“.
11 Diese These von unserer Selbstbestimmung und Selbstverortung als Hörer und Sprecher unter anderen Hörern und Sprechern in gemeinsamen Welten, die sich durch Sprache bilden und vermitteln, möchte ich abschließend in sieben kommentierenden Bemerkungen ein Stück weit explizieren. In dem neuen begrifflichen Kontext haben ‚Wörter‘ eine gegenüber ihrem immer auch möglichen Zeichengebrauch um eine Dimension erweiterte Funktion. Sie explizieren nicht nur die Relation von Zeichen und Bezeichnetem (Wort und Gegenstand, …), sondern beziehen immer auch und gleich ursprünglich den / die Sprecher und Hörer (d. h. ‚uns‘) in das Explanandum mit ein. Es geht um die Sprecher / Hörer sowie die Worte, die gesprochen werden, und die Gegenstände, über die gesprochen wird, zugleich. Grundsätzlich gilt, dass beide Seiten sich wechselseitig bestimmen, wie sehr auch immer im alltäglichen Sprachgebrauch und allgemeinen Weltverständnis die eine oder die andere oder beide Seiten zweifelsfrei festzustehen scheinen. Ich muss mich hier allerdings mit Andeutungen begnügen. Jede der folgenden Bemerkungen enthält ungeschützte Thesen, die ausführlicher Explikation, Diskussion und Verteidigung bedürften und hier nur angeführt werden, um die möglicherweise sehr weit reichenden Konsequenzen des skizzierten Vorschlags für eine Entgrenzung des traditionellen Begriffs der Sprache zu illustrieren.
12 (1) Ein entgrenzter Begriff ist ein Widerspruch in sich. Lateinisch wäre das ein terminus intermin(at)us. Die Entgrenzung hebt die Bestimmtheit, d. h. das Begriffsein des Begriffs auf. Der entgrenzte Begriff gibt vor, nichts mehr zu unterscheiden. Die bekannte Formel eines solchen ‚Begriffs‘ lautet „Alles ist x“. Nun gab es im Lauf der Geschichte bekanntlich unterschiedliche Interpretationen der Variable x in dieser Formel. Der Unterschied dieser Interpretationen besteht in ihrer unterschiedlichen Herkunft. Diese Herkunft ist jeweils bekannt, so bekannt nämlich wie der Begriff selbst, der durch die Formel jeweils entgrenzt werden soll; auf diese Weise bleibt der entgrenzte Begriff bedeutsam und folglich wirksam.Von ihrer Herkunft her sind solche Sätze zu explizieren.
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Was bedeutet es nun, wenn gesagt wird: ‚Alles ist Sprache‘? Offensichtlich kann weder dieser noch irgendein anderer Satz dieser Art als eine ontologische Aussage verstanden werden. (Von wem auch? Wer ihn spricht, müsste ja außerhalb von allem stehen und auf ‚Alles‘ blicken können. Ein solcher Satz wäre aus dem Nichts gesprochen.) Aber – er kann verstanden werden: Wir können annehmen, dass alles durch Sprache vermittelt ist und dass folglich gilt: Für uns ist die Sprache bei, vor und in allem. Alles, was für uns etwas ist – d. h. unsere Welt, nicht als ‚Ganze‘, sondern in ‚ihren‘ Teilen, Aspekten und Momenten – wird durch ‚Sprechen‘ (in einem weiten Sinn des Wortes verstanden; was Denken, Schreiben, Rechnen sowie zum Denken Anlass gebendes Gestalten einschließt) formiert und transformiert. Aus der Perspektive der dritten Person gesagt: Für ein einmal und konkret, hier und jetzt sprachlich sozialisiertes Wesen ist nichts ohne Sprache denkbar, sagbar, verständlich und in diesem spezifisch menschlichen Sinne ‚da‘ oder ‚seiend‘. Alle vorsprachliche Orientierung in unserer ‚Umwelt‘ (durch Sinne und Instinkte, Anlage und Umgebung) ist für uns, indem und nachdem wir sprechen gelernt haben, sprachlich überformt. (Für Taubstumme gilt Entsprechendes: …, indem und nachdem sie, ggf. mit anderen sinnlichen Hilfsmitteln als Ohr und Stimme, artikuliert denken gelernt haben.) Die vorsprachliche Orientierung, allgemeiner gesagt, die leibliche Organisation des Menschen bleibt natürlich die natürliche Grundlage von allem weiteren Denken und Sprechen, auch die des Diskurses bzw. der Wissenschaften, die diese sog. vorsprachlichen Sphären eigens thematisieren.
13 (2) Die Sachen (res) erscheinen für uns nicht mehr als etwas vor oder neben der Sprache, den Wörtern, den Zeichen bzw. Begriffen, welche sie (die Sachen) nachträglich benennen und beschreiben, sondern diese (oder die Gegenstände) erscheinen als das Andere der Sprache selbst. – Entgrenzende Sätze wie der hier verhandelte Satz „Alles ist Sprache“ haben zwar die grammatische Form von Definitionen. Sie können und wollen aber nicht nur keine Definitionen sein, sondern sie sind nicht einmal Aussagen im gewöhnlichen aristotelischen Sinn dieses Wortes; obwohl in ihnen selbstverständlich etwas (aus)gesagt wird. Die metaphysische Konjektur, anders gesagt: die semantische Gesetzgebungsinitiative, die dem Leser ansinnt, den Begriff der Sprache zu entgrenzen, d. h. diesen ‚immer schon‘ bekannten Begriff in einem entgrenzten Sinn zu gebrauchen, macht nur Sinn, wenn man weiß und akzeptiert, wie diese Konjektur zu verstehen ist; nämlich kurz gesagt so: Prädikate wie ‚Sprache‘, ‚Wort‘ oder ‚Satz‘ schließen ihr Anderes, das sie aufgehoben enthalten und zu entfalten aufgerufen sind, ein.
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Damit aber verschiebt sich die Frage nach der Bedeutung von ‚Sprache‘, ‚Wort‘, ‚Sprachzeichen‘ …: Man fragt nicht mehr, wie das bei Naturgegenständen üblich ist, was die Sache selbst unabhängig von den Namen sei. Man fragt vielmehr, als was ‚ihr‘ Anderes verstanden werden soll, das sie aufgehoben enthalten und zu entfalten aufgerufen sind. Allgemein gesprochen: Das Andere der Sprache, ohne das Sprache (sei es als Wort, Satz, Sprachzeichen oder anders) nicht gedacht werden kann, ist (lat.:) res: d. h. Dinge, Ereignisse, Strukturen in der Außenwelt der Sprecher; Vorstellungen, Wahrnehmungen, Begriffe, Ideen in der Innenwelt der Hörer; so sind wir gewohnt einzuteilen. Auf diese Weise wird die res als Moment des Wortes, durch das sie bestimmt ist, verstanden: Nur wer sprachlich sozialisiert ist (auch als Taubstummer), hat es in diesem Sinn überhaupt mit Sachen zu tun. Ein Wort (Sprachzeichen) wäre nicht Wort, wenn es sich nicht in sich von der Sache unterschiede, die es bestimmt. Diese Unterscheidung(sfähigkeit) aber liegt als Akt / enérgeia oder Wirklichkeit im Wort selbst, nicht in der Sache, die immer das zweite Moment bleibt, das sich vor- und außersprachlich auf vielfältige Weise für uns konturieren mag, aber als etwas Bestimmtes (als Sache) immer erst dem Wort gegenüber, zusammen mit dem Wort konstituiert, fixiert, eben: ‚bestimmt‘ wird. Die Vielfalt der möglichen, wiewohl sehr unterschiedlichen Termini, die als Relata dieser Relation in Gebrauch genommen wurden (oben wurden genannt: Name und Sache, Zeichen und Bezeichnetes, Wort und Gegenstand, Vorstellung und Begriff, Sprache und Welt) zeigt die Bedingtheit und Vielfalt des Sprachzeichens selbst sowie seines Anderen. Doch ist auch diese Vielfalt ihrerseits alles andere als unbestimmt, sie bildet eine Familie. Hier kommt die Tradition der Sprachreflexion (Sprachtheorie, Sprachwissenschaft) ins Spiel: Nur in einer aristotelischen Tradition der Sprachreflexion, in der jener natürlich erscheinende Sprachbegriff (Wörter sind Zeichen für unabhängig von ihnen abgegrenzte Dinge oder Begriffe / Vorstellungen / Ideen) in Aporien geraten ist, kann diese bestimmte Entgrenzung sinnvoll erscheinen, Anerkennung finden, überhaupt verstanden werden: nämlich als die Lösung der mit der Zeit aufgetretenen Aporien eben dieses Sprachbegriffs. Die historische Einsicht, die zu einer sprachlichen Wende in der Philosophie geführt hat, lange bevor die Bezeichnung linguistic turn aufkam, zeigt an, dass es an der Zeit war und immer noch ist, den Begriff der Sprache in entgrenzendem Sinn zu verwenden, mithin Sprachphilosophie als eine zeitgemäße Form der Ersten Philosophie zu verstehen. Ich sehe nicht, dass irgendeiner der seither für neue turns in Anspruch genommenen Begriffe diese Funktion erfolgreich wahrzunehmen in der Lage wäre, obwohl sie alle am Prestige dieser zweiten neuzeitlichen Wende der Denkens partizipieren wollen.
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14 (3) Die Sprache ist das Ganze. – Das Leben des Geistes ist ein Leben in Relationen. Geistige Relationen sind vielleicht nicht immer im engeren Sinn sprachlicher Natur, letztlich aber immer sprachlich vermittelte Relationen. Positiv ist das leicht zu zeigen. Wenn wir Fragen stellen, sind wir immer schon in der Sprache. Die Sprache ist wie der Igel im Märchen. So sehr wir uns auch bemühen mögen, schneller als die Sprache oder vor den Worten bei den Dingen zu sein – sobald wir ankommen, stellen wir fest, dass die Sprache immer schon da gewesen ist. Alle Sprachkritik seit Platon hat darauf aufmerksam gemacht, dass wir durch Wörter nicht zu den Sachen kommen können, wenn wir nicht schon vorher bei ihnen gewesen sind. Da wir aber sowohl die anderen als auch uns selbst und vor allem auch die Dinge zwischen uns verstehen und erfolgreich über sie wie auch miteinander kommunizieren, können wir getrost schließen, dass wir wirklich bei den Dingen sind. Nur sind wir bei ihnen als solchen, als von uns unterschiedenen Gegenständen, in – bereits verstandenen – Worten oder doch stets durch solche Worte vermittelt. Denn nur in Worten werden die Unterscheidungen, die für uns relevant sind, notiert, generalisiert und tradiert. Durch Worte, wenn auch nicht durch Worte allein, werden diese Unterscheidungen aber auch erst als solche gebildet; durch Worte, die wir bereits verstehen. Worte sind damit nicht nur Mittel der Kommunikation fertiger Gedanken und Vorstellungen, sondern auch Mittel der Bildung und Weiterbildung des Denkens. Wir haben gar keine deutlichen Vorstellungen ohne sprachliche Unterscheidungen, die freilich nicht allein durch Laute, Schriftzeichen oder Gesten vernehmbar und mitteilbar sind, sondern zur Notation und Kommunikation auch andere jeweils geeignete Medien in Anspruch nehmen können und in der Tat genommen haben.
15 (4) Zentral für die Sprache als das so beschriebene „bildende Organ des Gedanken [bzw. des Denkens]“⁵ ist das Prinzip der doppelten Artikulation. Die Artikulation unserer Welt, nicht der Welt an sich, sondern unserer mit anderen geteilten Weltansicht, entspricht der Artikulation unserer Sprache und umgekehrt. Beide konstituieren sich wechselseitig. Beide gehen aus von der Fülle des den ‚Sinnen‘, d. h. vor sprachlicher Artikulation, Gegebenen. (Das wurde vielfach und ausführlich untersucht, beschrieben, diskutiert. Schon Herder spricht hier von einer Wilhelm von Humboldt (GS VI, 151, vgl. 179; u. GS VII, 53).
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„Sprache der Empfindung“ als einer „Sprache der Natur“, die wie eine „Völkersprache für jede Gattung“ von allen verwandten Lebewesen verstanden wird. Auf dieses weite Diskussionsfeld möchte ich hier nicht näher eingehen.⁶) Die sog. gesprochene Lautsprache dürfte der natürliche Ursprung alles deutlichen (unterscheidenden, bestimmenden) Denkens und Sprechens unter Menschen gewesen sein. Später, aus diesen Anfängen heraus werden sich die ebenfalls aus der Frühzeit bekannten lautsprachenfernen Sonderformen der Kommunikation, sei es als Darstellung und / oder Mitteilung etc., entwickelt haben. Doch ist das letztlich eine empirische Frage, die gegenwärtig wieder einmal die Forschung in Atem hält. Das Sprachprinzip der doppelten Artikulation bleibt davon unberührt, und das Ergebnis ist bekannt: Irgendwie haben wir gelernt, ‚Ähnliches‘ unter je einen Begriff zu fassen, der seinerseits dem durch ihn Erfassten nicht ähnlich ist, und das in diesem Sinn als ähnlich Gesetzte an wechselnden Orten in Raum und Zeit unter ihrerseits ‚arbiträr‘ gebildeten Namen als ‚gleich‘ zu identifizieren. Das gilt wesentlich auch für die Namen selbst (token / type), die nur insofern (mit sich) identisch sind, als ‚ihre‘ verschiedenen Artikulationen als unterschiedliche Realisierungen ‚desselben‘ Namens anerkannt werden.
16 (5) Vor- und außersprachliche Grundlagen des Sprechens und Denkens. – Nur bei sprachlich sozialisierten Wesen werden Lebensfunktionen, Verhalten und Praxis nicht mehr ausschließlich durch das gesteuert, was wir als Instinkt zu beschreiben und verstehen gelernt haben, sondern auch und ggf. anders durch Begriffe oder Ideen, seien es eigene oder fremde. Beispielweise kann nur ein sprachlich sozialisiertes Wesen so sehr gegen die Instinkte der eigenen Natur agieren, dass es bewusst den Schmerz wählt und sogar den Tod. Gleichwohl bleiben das Leben und seine spezifischen Funktionen in allem Denken und Sprechen stets vorausgesetzt. Das gilt seit Aristoteles als eine der Grundbestimmungen der Wissenschaften vom Menschen. In diesem Zusammenhang ist es selbstverständlich, dass die Bildung von deutlichen Vorstellungen und Begriffen, folglich jede Art von Sprachentstehung, Sprachbildung und Sprachpraxis ihrerseits Wahrnehmungen, genauer gesagt: eine kollektive Wahrnehmungspraxis voraussetzen. Auch das gilt seit Aristoteles kanonisch und wird immer so beschrieben. Wahrnehmungen beruhen auf Reizen unserer Sinnesorgane, die sich ihrerseits erst durch spezifische Artikulations-
Vgl. (Herder 1772: 1. Teil, 1. Abschnitt; 698 f.).
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weisen des Denkens zu bestimmten, d. h. deutlichen Wahrnehmungen fortbilden. (Diese Einsicht kommt auch in der einschlägigen Wortbildung europäischer Sprachen zum Ausdruck: vgl. ‚Wahr-Nehmung‘, ‚per-ceptio(n)‘, ‚con-ceptio(n)‘.) Differenzierte und artikulierte Empfindungen sind selbstverständlich auch ohne sprachliche Sozialisation möglich, sie werden auch von nicht i. e. S. sprechenden Sinnenwesen erlernt und eingeübt. Dennoch bleibt hier wohl ein entscheidender Unterschied zu ‚uns‘. Bei sprachlich sozialisierten Wesen sind die Sinneseindrücke im Moment der Perzeption bereits transformiert, zu etwas anderem geworden: Aus Empfindungen sind Wahrnehmungen geworden; und zwar dadurch, dass sie durch die sprachliche Artikulation der Welt, der sie angehören, überformt worden sind und immer von neuem überformt werden. Im Licht dieser erworbenen Artikulation nehmen wir jederzeit nur noch quasi-unmittelbar wahr. Als sprachlich sozialisierte Wesen können wir hinter diese sprachliche Überformung unserer Sinneseindrücke durch Wahr-Nehmung, wenn sie einmal geschehen ist, d. h. gelernt wurde, nicht wieder zurückgehen; wir können sie nicht mehr abschütteln. Künstler versuchen es bisweilen, sie berichten in bewegenden Worten über ihr Scheitern.
17 (6) Ohr und Stimme. – Unsere Sprache entwickelt sich im Zusammenspiel von Ohr und Stimme in einer Gemeinschaft Hörender und Sprechender. Herder hat dieses Zusammenspiel als erster zu beschreiben und unser Denken als die Bildung deutlicher Begriffe aus diesem Zusammenspiel heraus zu verstehen versucht (vgl. Borsche 2006). Auch wenn aus heutiger Sicht viele Details korrigiert und vor allem manche Fragen anders gestellt und bearbeitet werden müssen, so macht doch Herders Beschreibung schon plausibel, dass sich die menschliche Sprache (erst) später, nachträglich, dann aber durchaus mit Erfolg von ihren ursprünglichen Trägern Ohr und Stimme lösen konnte: Alle Sinne und zahllose Medien eignen sich – allerdings mehr oder weniger gut – für Sprachbildung und sprachliche Kommunikation.
18 (7) Kunst und Wissenschaft. – Die Künste sind menschliche Artikulationsformen, deren Aufgaben sich wohl mehrfach verschoben haben und vermutlich immer wieder verschieben werden. In einer sprachdominierten Welt mögen sie auch dazu dienen, die Deutlichkeit der Rede als die Deutlichkeit eines jeweils herr-
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schenden Diskurses zu verwirren und damit unsere sprachlich strukturierten, bestimmten, in ihren Bestimmungen vielleicht erstarrten Weltansichten zu verfremden, zurückzubilden, aufzulösen. Doch solange Äußerungen der Künste, und sei es auf unerhörte und noch nie vernommene Weise, verständlich bleiben wollen, können sie sich doch nicht gänzlich von den gängigen Weltansichten ablösen. In einer sprachlich strukturierten Welt tendieren sie zum Bildlichen. Sie zeigen, was sich noch nicht sagen lässt, aber Verständnis antizipiert. Die Wissenschaften sind menschliche Artikulationsformen, die die Deutlichkeit der Rede, umgekehrt, auf die Spitze treiben, indem sie künstliche Inseln der Eindeutigkeit konstruieren. Sie verwenden wohl definierte Worte und andere Darstellungsmittel als Zeichen zur genauen Bestimmung und Fixierung abgegrenzter und wiederholbarer Sachverhalte. Auch sie können nur verständlich bleiben, wenn sie ihre Wurzeln in gesprochener Lautsprache, allgemeiner gesagt: in der menschlichen Lebenspraxis nicht verlieren. In einer sprachlich strukturierten Welt tendieren sie zur Zahl. Sie berechnen, was gezählt und gemessen werden kann. Künste und Wissenschaften erscheinen in dieser ungebührlich knappen Skizze eines anderen Bildes von Sprechen und Denken als Sprösslinge unserer menschlich-lebensweltlich bestimmten Sprachpraxis, die älter ist als das Denken und seine Welten. An dieser Stelle könnte eine völlig neue Diskussion mit Günter Abel beginnen.
Literatur Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Borsche, Tilman 2006: Das Ohr als bildendes Organ des Gedankens und seine philosophische Vorgeschichte, in: ‚Lend me your ear‘, hg. v. Kunstverein Bad Salzdetfurth, Bad Salzdetfurth, S. 44 – 54. Borsche, Tilman 2009: Die Sprache als Medium der Medien (des menschlichen In-der-Welt-seins), in: Messling, Markus / Tintemann, Ute (Hg.): „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“. Zur Sprachlichkeit des Menschen, München, S. 69 – 77. Borsche, Tilman 2011: Entgrenzung des Begriffs der Sprache, in: Gethmann, Carl Friedrich (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft. XXI. Deutscher Kongreß für Philosophie, 15. – 19. September 2008 an der Universität Duisburg–Essen. Kolloquienbeiträge, (Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2), Hamburg, S. 767 – 783. Herder, Johann Gottfried 1772: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 1, hg. v. U. Gaier, Frankfurt a. M. 1985, S. 695 – 810. Humboldt, Wilhelm von 1903 – 36: Gesammelte Schriften, im Auftrag der (Königlich) Preußischen Akademie der Wissenschaften hg. v. A. Leitzmann et al., 17 Bde.; [GS]. Simon, Josef 1989: Philosophie des Zeichens, Berlin / New York.
Günter Abel
Zeichen der Sprache, Sprache der Zeichen Replik zum Beitrag von Tilman Borsche
1 Zeichen- und Interpretationsphilosophie und Sprachphilosophie Tilman Borsche erörtert auf aufschlussreiche Weise meine für die Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] grundlegende These: „Daß es Fakten gibt, kann selbst kein Faktum, sondern muß Ergebnis einer Zeichen- und Interpretationsgenealogie sein.“ (ZdW 16) Er sieht richtig, dass sich diese These nicht nur auf die Sprachphilosophie, sondern auch auf die Philosophie des Geistes, auf die Epistemologie (mithin auf die unterschiedlichen Formen des Wissens), die Handlungstheorie und die Moralphilosophie erstreckt. Borsche konzentriert seinen Beitrag auf den Bereich der Sprachphilosophie. Er sieht meine These mit Recht als eine Gegenthese gegenüber der langen europäischen Tradition und deren im platonischen Dialog Kratylos formulierten Leitfrage nach dem Verhältnis von signum et res, des näheren nach der „Richtigkeit der Namen“ (griech.: onómata) (Borsche-Beitrag, Kap. 1). Eine der Voraussetzungen der platonischen These bestand in der Annahme, dass Namen (um richtig oder falsch sein zu können) „sich auf etwas beziehen (sollen), das ihnen unabhängig von aller Bedeutung vorausliegt“ (Kap. 1). Vorausgesetzt wird mithin ein Verhältnis von Wirklichkeit und Zeichen. In der ZuIPhilosophie dagegen geht es um „Wirklichkeit in Zeichen“ (ebd.). Borsche selbst möchte diesen Zusammenhang anders als in der ZuI-Philosophie verstehen. Die bereits im Titel seines Beitrag genannte These lautet: „Alles ist Sprache“. In ihrem Kern besteht diese These in einer „Entgrenzung“ des Begriffs der Sprache. Und Borsche vermutet richtig, wenn er sogleich betont, dass ich diese Formulierung wohl nicht unterschreiben würde. Überaus dankbar bin ich ihm für die Gelegenheit, in kritischer Auseinandersetzung mit seiner Position das Verhältnis der Sprachphilosophie auf der einen und der Zeichen- und Interpretationsphilosophie auf der anderen Seite verdeutlichen zu können. Solcher Verdeutlichung dient zunächst die Betonung der folgenden drei Aspekte: (a) Der Titel meines Buches Zeichen der Wirklichkeit (ZdW) (auf das Borsche sich vor allem stützt) signaliert bereits, dass es mir nicht mehr um das Verhältnis von Zeichen und Wirklichkeit geht. Der Titel spielt mit dem Doppelsinn des Gehttps://doi.org/10.1515/9783110522280-013
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nitivs in der Formulierung ‚Zeichen der Wirklichkeit‘. Die Konjunktion ‚und‘ wird hier erklärtermaßen durch den Genitiv ‚der‘ ersetzt. Damit ist nicht nur die Substitution der syntaktischen Verknüpfung gemeint. Es ist vor allem auch die Substitution der sinnlogischen Annahme indiziert, wir müssten in den Fällen des flüssigen und anschlussfähigen Funktionierens unserer Zeichen- und Interpretationspraxis „eine Gesamtheit des aller Benennung oder Bezeichnung Vorausliegenden“ voraussetzen, um uns das Funktionieren dieser Praxis überhaupt verständlich machen zu können (Kap. 1). Unter kritischem Vorzeichen scheint mir jedoch nicht explizierbar, was denn dieses Vorausliegende gänzlich unabhängig von individuierenden Zeichen- und Interpretationspraktiken überhaupt sein sollte.Vor allem aber scheint mir dieser platonische Rekurs wenig hilfreich für die Beantwortung der Frage, was es heißt, Zeichen und Interpretationen (zum Beispiel sprachlicher, bildlicher, handlungsbezogener, diagrammatischer, gestischer, musikalischer, leiblicher, emotionaler und anderer subdoxastischer Art) in Kommunikation und Kooperation flüssig und im Verhältnis zu anderen Personen anschlussfähig verwenden und verstehen zu können. (b) Angesichts der epistemischen Situation endlicher Menschen kann im Zentrum der ZuI-Philosophie nicht die Vorstellung einer Gesamtheit des Vorausliegenden stehen. Es geht um Philosophie nach Menschenmaß, nicht nach Gottesmaß. Im Zentrum steht daher die Frage nach denjenigen Mechanismen, die unseren spezifischen Welt-, Fremd- und Selbstverständnissen/-verhältnissen zugrunde liegen. Des näheren geht es unter anderem um die basalen Mechanismen der Individuation, der raum-zeitlichen Lokalisierung, der Kategorialisierung, der Klassifikation, der Identifikation und der Re-Identifikation. Die ZuI-Philosophie ist also an denjenigen Mechanismen interessiert, die unsere Welten zu den uns vertrauten Welten machen, auf deren trianguläre Verhältnisse von Ich-Wir-Welt wir uns in der Regel flüssig und anschlussfähig verstehen. Insofern die ZuI-Philosophie in besonderer Weise auf die Fragen der Individuation sowie in diesem Sinne auf Welten von Einzeldingen (individuals) konzentriert ist, versteht sie sich eher in einer aristotelischen als in einer platonischen Linie in puncto Zeichen der Wirklichkeit. Borsches Überlegungen dagegen stehen ganz in der platonischen Tradition. (c) Borsche behauptet eine Vorrangstellung der Sprache gegenüber den anderen und überwiegend nicht-sprachlichen Zeichen- und Interpretationsverhältnissen (zum Beispiel gegenüber Bildern, Wahrnehmungen, Handlungen, Emotionen, Klängen, Gesten). Eine solche Verabsolutierung der Sprache wird aus der Sicht der ZuI-Philosophie jedoch bereits dadurch unterminiert, dass jeder Sprachausdruck – jedes Wort, jeder Satz, jeder Diskurs – stets bereits eine Interpretation dieser Ausdrücke, mithin eine Zeichen- und Interpretations-Praxis voraussetzt und in Anspruch nimmt, um die semantischen und pragmatischen
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und bereits auch die syntaktischen Eigenschaften zu besitzen, die er besitzt. In dieser ZuI-Praxis – an deren Funktionieren offenkundig eine Reihe anderer als bloß sprachlicher Konstituenten maßgeblich beteiligt ist – wird die Umgrenzung dieser Merkmale der Sprachzeichen bewerkstelligt. Damit aber macht es Sinn, die ZuI-Philosophie, die auf das gesamte Spektrum menschlicher Zeichen und Interpretationen bezogen ist, gegenüber der Sprachphilosophie als den umfänglicheren und grundlegenderen Ansatz anzusehen. Sprachphilosophie kann als ein Zweig der ZuI-Philosophie angesehen werden, nicht umgekehrt.
2 ‚Entgrenzung‘ des Sprachbegriffs? Mit dem Slogan „Alles ist Sprache“ plädiert Borsche für eine „Entgrenzung“ des Sprachbegriffs. Einem entgrenzten Sprachbegriff zufolge wären „alle unsere Versuche einer Artikulation von Welt und Dingen notwendig sprachlicher Natur. Was und wie etwas ist, wäre nicht losgelöst von sprachlich artikuliertem Denken zu bestimmen.“ (Kap. 8) Meine Kritik an dieser Konzeption besteht aus den folgenden Punkten: (a) In dieser Auffassung manifestiert sich eine nicht plausibel zu machende Reduzierung der vielfältigen und unterschiedlichen Weisen der Artikulation von Welt und Dingen, des näheren der triangulären Verhältnisse von Ich-Wir-Welt auf Sprache. Sprache ist jedoch keineswegs das einzige Medium von Welt-, Fremdund Selbstartikulation. Der Ausschluss der vielen anderen und nicht-sprachlichen ZuI-Systeme wie etwa der Wahrnehmungen, Handlungen, Emotionen, Bilder, Musik ist in phänomenologischer, in begrifflicher und in empirischer Hinsicht nicht zu legitimieren. Ohne Frage kommt der Sprache eine besondere Stellung zu, sobald wir über diese Weisen unseres menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses sprechen, berichten, nachdenken und Urteile formulieren. Sprache ist aber damit genealogisch auch bereits in dem Setting der anderen Weisen des Welt-, Fremdund Selbstverständnisses situiert und in diesem Sinne von ihm abhängig, trotz der so zentralen Rolle, die ihr zukommt, sobald wir auf die sprachlich-semantische Ebene der Betrachtung gehen. Doch das heißt eben keineswegs, dass die Sprache das einzig sinnvolle, gar das metaphysisch einzig seriöse Medium und die einzig relevante Ebene der Betrachtung darstellt. (b) In der angeführten Formulierung Borsches ist der Sinn der Rede von ‚Denken‘ auf den engen Sinn des sprachlichen (und mithin wohl diskursiven, zugespitzt des sprachlich-propositionalen) Denkens eingegrenzt. In diesem engen Sinn des Wortes ist Denken in der Tat an Sprache, Begriffe und Urteile gebunden. Aber offenkundig können wir von diesem engen Sinne einen weiten Sinn von
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Denken unterscheiden, der zum Beispiel in einem anschaulichen Denken in Bildern, in musikalischen oder in malerischen, überhaupt in sinnlich-ästhetischen Formen gegeben ist. Dieser weite Sinn ist für das Erschließen sowie die Organisation der triangulären Verhältnisse von Ich-Wir-Welt von herausragender und nicht auf Sprache reduzierbarer Relevanz. Die Betonung der „Sprachlichkeit des Denkens“ (Kap. 8) ist also für den engen Begriff des Denkens ganz in Ordnung. Für den skizziert weiten Begriff dagegen ist sie es ganz und gar nicht. Und schlimmer noch: ich vertrete die weitergehende These, dass das Funktionieren des engen Sinns von Denken das Funktionieren eines Denkens im weiten Sinn zur Voraussetzung hat und darin stets bereits in Anspruch genommen ist – nicht umgekehrt. Als ein Beispiel dafür, wie sehr unser Denken selbst im engen Sinne, z. B. im mathematisch-logischen Denken, von nicht-sprachlichen Zeichen abhängig ist, sei die symbolische Logik angeführt. Im Unterschied zur älteren syllogistischen und prämissenfolgernden inferentiellen Logik sieht man (Einübung vorausgesetzt!) an den sinnlichen Zeichen der Notation selbst, wie es weiter geht bzw. wie man fortzusetzen hat. In der modernen Logik wird nicht mehr inferentiell von einem auf etwas anderes geschlossen. (c) Zugleich möchte ich in diesem Zusammenhang nicht nur (wie Borsche dies tut und ich ihm explizit zustimme) für die „Vielsprachigkeit“ (Kap. 8) des Denkens plädieren. Die unterschiedlichen Sprachen (etwa die indogermanischen und die nicht-indogermanischen Sprachen) setzen mit ihren verschiedenen Grammatiken und Funktionsweisen auch unterschiedliche Themen und Weisen der Begründung auf die Agenda der Philosophie. Die Struktur der jeweiligen Sprache ist nicht unbeteiligt an der Festlegung dessen, was als eine zufriedenstellende Rechtfertigung gilt und was nicht. Über diesen wichtigen Gesichtspunkt hinaus möchte ich jedoch die Vielfalt der unterschiedlichen ZuI-Systeme, mithin die Pluralität nicht nur unterschiedlicher Sprachen, sondern unterschiedlicher ZuI-Systeme des Denkens im erläutert weiten Sinne hervorheben. Das ist eine Erweiterung, die für die ZuI-Philosophie charakteristisch ist. Die unter Punkt (b) erwähnte mathematisch-symbolische Logik ist nur eines der Beispiele für diese Erweiterung (aber eines, dessen Erwähnung seinen besonderen Reiz daraus zieht, dass es innerhalb des Rahmens formaler Sprachen selbst anzutreffen ist). (d) Das Programm der Entgrenzung der Sprache führt Borsche komplementär zu einer illegitimen Eingrenzung des Zeichenbegriffs auf dessen engen Sinn. Borsches Strategie ist klar: Er möchte den Sprachbegriff so weit fassen, dass der Zeichenbegriff als eine spezifische Art von Sprachbegriff erscheint, nicht umgekehrt. Damit glaubt er zugleich, sich von der aristotelischen Tradition in Bezug auf das Verhältnis von Wörtern und Zeichen abzuheben und das aristotelische Verhältnis (demzufolge Wörter eine bestimme Art von Zeichen sind) umzukehren. Ich habe mich in dieser Frage bereits als Aristoteliker geoutet. Aber die ZuI-Philoso-
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phie versteht sich nicht einfach nur als die aristotelische Gegenthese oder als ein umgedrehter Platonismus. Vielmehr möchte ich die ganze Dichotomie von Zeichen und Wörtern, von der Borsche noch ausgeht, zurücklassen. Borsche ist mit seiner Betonung der Umkehrung des Verhältnisses von ‚Zeichen und Wörter‘ zu ‚Wörter und Zeichen‘ noch ganz in diesem älteren Schema gefangen. Die ZuIPhilosophie betont die Defizite dieses Schemas (nämlich bloß auf den engen Sinn der Rede von Zeichen als repräsentationale Stellvertreter von Sachen festgelegt zu sein) und möchte es als Ganzes zurücklassen. Der Übergang in die Pluralität unterschiedlicher ZuI-Formen und ZuI-Praxen (und diesen korreliert die Pluralität unterschiedlicher Wissensformen) kann meines Erachtens nicht mehr im Rahmen der älteren Alternativstellung zwischen der platonischen und der aristotelischen Auffassung angemessen erörtert werden. Vielmehr wird mit diesem Übergang grundsätzlich anderer und neuer Boden betreten, der Boden nämlich der umfänglichen und basalen Zeichen- und Interpretationsverhältnisse, wie sie für die Organisation der Weisen unserer menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse, kurz: für das Triangel Ich-Wir-Welt grundlegend sind. (e) Die Entgrenzung des Sprachbegriffs droht diesem nicht nur seine diskriminatorische Kraft im Unterschied vornehmlich zu den anderen und nichtsprachlichen ZuI-Prozessen zu rauben. Sie droht, (was ich Borsche selbst keineswegs unterstelle) irgendwie dann doch eine Rehabilitierung der alten platonischen Figur des logos apophanticos und in diesem Sinne letztlich eine Version des abendländischen Sprach-Logozentrismus heraufzubeschwören. Dies erst gar nicht zu riskieren, ist demgegenüber eines der erklärten Ziele der ZuI-Philosophie. Die ZuI-Philosophie möchte sich in die Vielfalt der unterschiedlichen Zeichenund Interpretationsweisen hineinreflektieren und diese von innen her, in prädikativer Stellung sowie in den nicht-reduzierbaren Eigenwertigkeiten der zugleich interagierenden ZuI-Formen und Wissensformen ausbuchstabieren. (f) Die unterschiedlichen zeichen-interpretativen Erfahrungen, wie z. B. Wahrnehmen, Handeln, Leiberfahrung, Bilderfahrung, Emotionserfahrung, lassen sich weder aufeinander noch auf ein gemeinsames Drittes und schon gar nicht alle auf Sprache in einem wie auch immer erweiterten Sinne reduzieren. Und bereits innerhalb der Sprache lässt sich der Unterschied zwischen natürlichen und formalen Sprachen nicht einfach eliminieren. (g) Die genannten ZuI-Formen sind nicht ineinander übersetzbar. Es ist kein Zufall, dass bislang niemand Regeln hat angeben können, unter deren Anwendung wir die unterschiedlichen ZuI-Formen, gar ohne Unbestimmtheiten ineinander übersetzen könnten. Platon, der Filou, hat sicherlich gewusst, dass dies aus systematischen Gründen nicht möglich ist. Statt jedoch, wie die ZuI-Philosophie, den Schritt in eine irreduzible Pluralität der ZuI-Formen (und korreliert: der Wissensformen) zu gehen, wartete er bekanntlich mit der Forderung auf, dass
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andere als die sprachlichen Formen des Wissens solange keinen Anspruch auf Wahrheit erheben könnten, wie sie nicht demonstrierten, dass und wie genau sie in den logos apophanticos, in die urteilsgrammatische Sprache übersetzt werden und von dort aus dann und nur im sprachlichen Gewande Wahrheitsansprüche verkörpern können. (h) Die unterschiedlichen ZuI-Formen und die diesen korrelierten Wissensformen verkörpern in sich genuin unterschiedliche Formen und Weisen der Konstitution von Objekten der Erfahrung. So können zum Beispiel die Objekte der Wahrnehmung keineswegs mit den Objekten der Sprache oder denen der Handlungen gleichgesetzt werden. Diese Unterschiede in der Objektkonstituierung drohen am Leitfaden einer Entgrenzung des Sprachbegriffs aus dem Fokus der Aufmerksamkeit zu verschwinden. Mit den unterschiedlichen ZuI-Formen sind auch unterschiedliche und nicht einfach aufeinander reduzierbare Formen der Individuation derjenigen Objekte, Prozesse, Phänomene und Zustände verbunden, auf die sich im Anschluss an die Individuation und Objektivierung dann unsere epistemische Begierde richtet, in Bezug auf die wir Erkenntnis und Wissen hervorbringen möchten. So ist die Individuation in sinnlichen Empfindungen und Wahrnehmungen zum Beispiel in Form von Gestaltwahrnehmung anders gebaut als diejenigen Individuationsprinzipien, die in die Strukturen unserer Sprache und der dieser eigenen Prädikationen eingebaut sind. Individuation lässt sich meines Erachtens nicht auf sprachliche Individuation, ebenso wenig wie auf bloß kausale Individuation, reduzieren. In der Individuation steckt weit mehr als Sprache und Kausalität, so zum Beispiel Intentionalität und eben Sinnlichkeit im Sinne nicht-sprachlicher ZuI-Systeme. Sinnlich in die Aufmerksamkeit fallende Hell-Dunkel-Grenzen oder feinkörnigste Farb- und Klangunterschiede empfinden und individuieren zu können, ist etwas anderes, als die in die Sprache eingebauten Individuationsprinzipien mittels z. B. von Farb- oder Klangprädikaten zur Anwendung zu bringen. (i) Wahrnehmungen besitzen im Sinne der Gestalttheorie ihnen sinnlich einwohnende Muster der Individuation und sind in diesem Sinne zutiefst kognitiver Natur bzw. von kognitiv zu nennender Organisationskraft im Triangel IchWir-Welt. Sie sind nicht einfach bloß vor-sprachlicher Natur, sie liefern nicht einfach nur vor-sprachliches Material, das dann in der Sprache und unter Einsatz von Begriffen und Urteilen allererst zu kognitiv relevanten organisierenden und orientierenden Mustern und Szenarien gebracht wird. So wichtig die Überformung von Sinnlichkeit durch Sprache und Begriffe auch ist. Es bleibt der Punkt, dass die genuine Sinnlichkeit dadurch keineswegs außer Kraft gesetzt wird. So bin ich fest davon überzeugt, dass eine Person, die eine sinnlich-musikalische Erfahrung im Zeichen eines musikalischen Klanges gemacht hat, die in
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ihr z. B. Traurigkeit ausgelöst hat, auch trotz ihrer anschließenden Ausbildung als Musikwissenschaftler mit diskursiver und überformender Sprache gleichwohl nicht die musikalische Erfahrung sinnlicher Art vergessen oder ad acta wird legen können. Selbst der intellektualisierte und diskursivierte Musikwissenschaftler macht beim tatsächlichen Hören eines intonierten Klangs eine nicht-sprachliche subjektive und qualitative Erfahrung. (j) Gegenüber dem Programm der Entgrenzung der Sprache sind die Grenzen der Sprache zu betonen. Visual Thinking in der Mathematik (Giaquinto) und in den Künsten (Arnheim) sind starke Beispiele für die Grenzen der Sprache in diesen Bereichen, des näheren für Grenzen der Versprachlichung und der sinnvollen sprachlichen Überformung im Blick auf das, was wir eine ästhetische, im Beispiel eine musikalische Erfahrung nennen. Aus der Perspektive der umfänglicheren ZuI-Philosophie heißt dies vor allem: die Grenzen der Sprache sind vergleichsweise eng gezogen. Der Raum der Zeichen und Interpretationen ist umfänglicher als der Raum der Sprache. Daher auch ist er zugleich relevanter im Blick auf die Organisation der triangulären Verhältnisse von Ich-Wir-Welt. Zum Beispiel sind Ohr, Auge, Stimme sowie deren wechselwirkende Mechanismen nicht einfach bloß als vor-sprachliche Grundlagen des menschlichen Sprechens und Denkens anzusehen. Man denke an die musikalischen Kompositionen von Mozart, Haydn, Schönberg und Anton Webern. Für letzteren etwa gilt, dass er nicht nur nicht entlang irgendeiner Sprachlogik, sondern entlang der Analogie zwischen der Logik des Auges in Bezug auf die Farben (des näheren der Komplementaritätsverhältnisse der Goetheschen Farbenlehre) und der Logik des Ohres in Bezug auf die musikalischen Klänge (hinsichtlich z. B. der Hervorhebung der mitklingenden Obertöne) komponierte (vgl. A. Abel 1982). Niemand käme ernsthaft auf den Gedanken, musikalische Kompositionen als bloß vor-sprachliche Gebilde des menschlichen Geistes anzusehen, der seine volle Entfaltung erst in der Sprache bzw. im sprachlichen Denken erhalte. Was für eine abwegige Vorstellung, zumal im Falle der Musik! Komplementär ist musikalisches Verstehen ein anderes Geschäft als sprachliches Verstehen. Die zehn angeführten Aspekte nehmen der Sprache nichts von ihrer besonderen Stellung im Geflecht der ZuI-Formen. Diese tritt vor allem dann eindrücklich hervor, wenn wir über die Dinge sprechen, sie mittels sprachlicher Artikulation klassifizieren und in Sprache repräsentieren und vor allem: sie einer semantischen Neuorganisation zuführen. Die ZuI-Philosophie vertritt erklärtermaßen die Position, dass wir in dem Moment, wo wir explizit die Ebene der Sprache betreten, nicht einfach bloß eine eins-zu-eins-Wiedergabe der Strukturen sinnlichen Empfindens und Wahrnehmens vornehmen, sondern dass mit diesem Schritt etwas Neues hinzutritt. Ich bin also keineswegs Anhänger des durch Robert Brandom berühmt gewordenen Slogans ‚making it explicit‘, welche Formu-
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lierung unterstellt, dass das in der Sprache explizit Gemachte bloß eine Art Presseerklärung des Sinnlichen und Impliziten sei. Aber die Betonung genau dieses Umstandes hat eben zwei Seiten: die eine ist, dass nicht einfach alles Sprache ist, und die andere ist, dass der Übergang in eine Sprache ein Übergang in eine spezifische und für uns Menschen überaus wertvolle und kennzeichnende Perspektive ist, keineswegs jedoch ein Übergang in den überhaupt einzigen Modus des Selbst-, Fremd- und Welthabens im Triangel von Ich-Wir-Welt verkörpert.
3 Stufenmodell der Zeichen- und Interpretations-Verhältnisse vs. zweistellige Relation von Zeichen und Sachen In Bezug auf die von Borsche vorgenommene Rehabilitierung der platonischen Unterscheidung von Namen und Sachen möchte ich die folgenden Einwände formulieren: (a) Mit der Kritik an der bipolaren Formulierung ‚Namen und Sachen / signum et res‘ (die im Kern darin besteht, dass ich weder die Disjunktion noch die Konjunktion der beiden Bestandteile solcher Rede für explizierbar halte) möchte ich nicht der Rede von ‚Sachen‘ den Status der Wirklichkeit entziehen oder ihr diesen etwa im Rekurs auf skeptische Argumente verweigern. Vielmehr geht es vor allem darum, der Rede von ‚Zeichen‘ im weiten Sinne dieses Ausdrucks und im Sinne des tatsächlichen Verwendens der Zeichen und Interpretationen Wirklichkeit zukommen zu lassen. Meine Gegenthese zu Borsches Auffassung lautet daher: Gerade dann, wenn wir die platonische Unterscheidung von Namen und Sachen in ihrem starken Sinne aufrechterhalten,verlieren die Zeichen ihre Bestimmtheit – nicht umgekehrt. Die platonische Unterscheidung hat, so könnte man sagen, ihre Zeit gehabt und uns etwa in den Wissenschaften überaus gute Dienste geleistet. Nun aber ist eingesehen, dass wir das in dieser Unterscheidung leitende Bild nicht einfach fortschreiben können. (b) Dass philosophische Sprachreflexion sich kritisch gegenüber dem platonischen Versprechen der ‚Richtigkeit der Namen‘ verhält und in diesem Sinne Sprachskepsis von Anfang an zur Sprachphilosophie gehörte, ist ein wichtiger Punkt. Aber in der Betonung dieses Punktes scheint mir der entscheidende Schritt noch auszustehen, nämlich: das darin immer noch unangetastete ältere Schema zu verlassen und in ein neueres Schema der Betrachtung einzutreten. In der ZuIPhilosophie wird dieser Übergang als Übergang von der Formulierung ‚Zeichen und Wirklichkeit‘ in die Formulierung ‚Zeichen der Wirklichkeit‘ markiert.
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Vielleicht ist die ganze Unterscheidung zwischen Zeichen und Sachen überhaupt erst in einem abgeleiteten Sinne ins Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln gekommen – vielleicht erst durch diejenigen Philosophen, die zum Beispiel auch den Begriff der absoluten Wirklichkeit für sinnvoll hielten und sich dann in solch frustrierenden Fragen verfingen wie z. B.: „Gibt es diese Wirklichkeit/Sache?“, „Kann ich sie erkennen?“, „Träume ich?“, „Was mache ich, sollte ich auf Dauer von dieser Wirklichkeit abgeschnitten sein?“, „Kann ich meinen Wörtern und Handlungen überhaupt noch über den Weg trauen?“¹ Kinder zum Beispiel ebenso wie ganz bei sich seiende bzw. in sich ruhende Erwachsene in ihrer lebensweltlichen Praxis haben diese Art von Problemen erst gar nicht. Der von Kant als ‚Skandal der Philosophie‘ gebrandmarkte Punkt, ernsthaft darüber nachdenken zu wollen, ob die Außenwelt wirklich existiert oder nicht, dieser Skandal tritt nur bei Philosophen auf, die sich auf irgendeine Weise entweder einem Dualismus von Zeichen und Wirklichkeit oder dem Konzept einer absoluten Wirklichkeit verschrieben haben. Es kommt darauf an, dass wir uns aus dem Würgegriff der platonischen Unterscheidung von res und signum befreien. Die Frage ist dann, wie ein Philosophieren aussehen könnte, das jenseits dieses Dualismus bzw. jenseits dieser „asymmetrischen Unterscheidung“ (Kap. 3) Fuß zu fassen versucht. Die ZuI-Philosophie versteht sich als ein Angebot in dieser Richtung. Zugespitzt möchte ich sagen: Ich weigere mich, mich weiterhin auf das ältere Schema einzulassen und die allein durch dieses Schema überhaupt erst nahegelegten Beweislasten zu übernehmen, mithin in die Beantwortung von Fragen der oben angeführten Art einzutreten. Es kommt vielmehr darauf an, in ein Schema einzutreten, innerhalb dessen Fragen der angeführten Art erst gar nicht mehr auftreten und das flüssige und anschlussfähige Verwenden und Verstehen unserer Zeichen und Interpretationen im Triangel von Ich-Wir-Welt als der Ausgangspunkt des Philosophierens und nicht mehr als ein Mirakel erscheint. Der Wechsel des Schemas stellt hier zugleich die Lösung des Problems dar. (c) Solange wir im Bild der Horizontalen von dem Verhältnis von Namen und Sachen, von signum und res, sprechen, sind wir auf die zweistellige Relation festgelegt. Weder jedoch die horizontale Sicht noch die Zweistelligkeit sind in der Lage, das zu beschreiben und zu erfassen, was im tatsächlichen Zeichenverwenden und Zeichenverstehen, in der tatsächlichen ZuI-Praxis geschieht. Angesichts dieser Schwierigkeit ist in der ZuI-Philosophie neben der horizontalen Auffächerung der ZuI-Verhältnisse (nach ZuI-Logik, ZuI-Ästhetik und ZuI-Ethik) ein heuristisch zu verstehendes vertikales und zugleich topologisches 3-Stufen-
Zu solchen Szenarien vgl. auch die pfiffigen Bemerkungen von R. Smullyan (Smullyan 1983).
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modell der ZuI-Verhältnisse vorgeschlagen worden (vgl. dazu ausführlich Abel 1989 und ZdW 28 – 32). Die drei Ebenen, die ich vorgeschlagen habe, lassen sich nicht zuletzt auch anhand sprachlicher Ausdrücke bzw. anhand der Sprache erläutern. Auf diese Weise wird zugleich deutlich, dass und in welchem Sinne die Sprache innerhalb dieses umfänglicheren und basaleren Rahmens der ZuI-Verhältnisse verstanden werden kann. Die Wörter und Sätze eines individuellen Sprechers und Hörers (z. B. das Wort ‚Kastanie‘) handeln von etwas, beziehen sich auf etwas, haben ein interpretatives Fundament und bedürfen der Deutung für den Fall, dass sie nicht mehr direkt verstanden werden. Auf dieser Ebene haben wir es mit denotierenden Zeichen sowie mit auslegender Deutung zu tun. Diese Ebene habe ich ZuI3-Ebene genannt. Auf dieser Ebene 3 können Störfälle syntaktischer, semantischer oder pragmatischer Art eintreten, die auf dieser Ebene selbst nicht beseitigt werden können. Ist dies der Fall, dann gehen wir auf eine darunterliegende Ebene zurück, im Falle sprachlicher Ausdrücke z. B. auf die Ebene der deutschen oder der chinesischen Sprache. Wir schauen dann nach, wie man ein auf der Ebene 3 fraglich gewordenes Wort in der deutschen oder der chinesischen Sprache normalerweise verwendet. Diese Ebene habe ich die ZuI2-Ebene genannt. Die auf ihr gefundene Antwort bringen wir dann auf der Ebene 3 zur Behebung des Störfalls in der Sprecher-Hörer-Bedeutung zur Geltung und hoffen, den Störfall damit beseitigt zu haben: „So verwenden wir eben in der deutschen Sprache das Wort ‚Kastanie‘“. Zu dieser Ebene gehört z. B. auch zu wissen, welches der Kernbereich des Wortes ‚Kastanie‘ ist und wie man das Wort üblicherweise in kommunikativen („Sprich mir von der Kastanie“) und kooperativen Handlungen („Gib mir eine Kastanie“) einsetzt. Dies ist die Ebene der eingeübten Praktiken und Kompetenzen des Zeichengebrauchs und der habitualisierten Gewohnheits- und Gleichförmigkeitsmuster der Interpretation. Auf dieser Ebene sind die sprachlichen Zeichen kontextualisiert, eingebettet und situiert in ein umfängliches Netzwerk nicht-sprachlicher Komponenten, ohne deren flüssiges Funktionieren auch die Sprache nicht funktionieren würde und auch der Störfall auf Ebene 3 nicht beseitigt werden könnte. Offenkundig sind die sprachlichen Ausdrücke auf dieser Ebene von einer Fülle nicht-sprachlicher Zeichen und Interpretationen sowie der diesen zugehörigen Praxen abhängig (vgl. ZdW 29). Im erfolgreichen Funktionieren der beiden ZuI2+3-Ebenen ist stets bereits die Ebene der basalen Prozesse der Individuation, der Kategorialisierung, der raumzeitlichen Lokalisierung und der Klassifikation von Objekten, Ereignissen, Phänomenen und Zuständen vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Diese Ebene habe ich ZuI1-Ebene genannt. Auf dieser sind Komponenten aktiv, auf die hinzuweisen erneut und grundlegend die Monopolstellung des Sprachbegriffs un-
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terminiert (vgl. Abel 1989). Zu nennen sind hier vor allem: die Sinnestätigkeiten, die in den Formen der Anschauung zu jener Gestalthaftigkeit führen, in der die Wirklichkeit der Welt für uns besteht, und die subdoxastischen Zustände wie Emotionen, Gefühle, Gedächtnis, existentielle Gestimmtheiten, die Leiblichkeit (vgl. ZdW 30). Das 3-Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse erlaubt auch im Blick auf die platonische Unterscheidung von signum et res eine feinkörnigere Betrachtung, erlaubt die Benennung sowohl der zutreffenden als auch der kritischen Punkte. So sind auf der dritten Ebene die Zeichen und Interpretationen von dem abhängig, wovon sie handeln und was sie deuten. Eine wissenschaftliche Theorie zum Beispiel wird, wenn sie nicht erfolgreich ist, modifiziert oder verworfen, nicht jedoch ändern wir in dieser Situation die Wirklichkeit. Es ist diese Ebene 3, auf der viele der von Borsche positiv gesehenen Aspekte der Unterscheidung von res und signum angesiedelt werden können und Sinn machen. Auf der zweiten Ebene finden equilibrierte Zuordnungen von Zeichen/Interpretationen und Wirklichkeit statt. Das ist etwa der Fall, wenn sich tradierte Konventionen oder kulturelle Praktiken ändern oder bislang nicht bzw. noch nicht bekannte Phänomene (in einem naturwissenschaftlichen Labor oder in einer lebensweltlichen Gesellschaft) auftreten. Dies muss nicht direkt und nicht sofort auch zur Veränderung der Traditionen führen. Auf dieser Ebene lässt sich die platonische Unterscheidung von signum et res schon nicht mehr strikt anwenden und durchführen, denn die darin unterstellte Asymmetrie hat nicht ohne weiteres auch die normative Kraft der faktischen Veränderung der Verhältnisse. Auf der ersten Ebene ist jede individuierte, so-und-so-beschaffene und spezifizierte Wirklichkeit in ihrem Sosein von den kategorialisierenden und individuierenden Zeichen1- und Interpretation1-Prozessen abhängig. Die Kategorialisierungen und Individuationen legen überhaupt erst Schnitte und Grenzen in unsere zunächst ungegliederten Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse. Kommt es auf dieser Ebene zu Verschiebungen in den Prozessen der Kategorialisierung, der Individuation und der Raum-Zeit-Lokalisierung, dann haben wir es mit einer veränderten So-und-so-Wirklichkeit, mit anderen Wirklichkeiten zu tun. Auf dieser Ebene wird, so möchte ich zugespitzt sagen, die Unterscheidung von Zeichen und Sachen überhaupt erst geboren (vgl. ZdW 30).
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4 ‚Satz der Interpretation‘ statt ‚Satz der Sprache‘ Sätze der Form ‚Alles ist X‘ stehen in der doppelten Gefahr, (a) dass sie keine diskriminierende Kraft mehr entwickeln können in Bezug auf die offenkundig in Individualien verfassten Welten und (b) dass sie nach Art eines Staubsaugereffekts alle unterschiedlich individuierten Welten in sich aufsaugen. Borsches Satz der Sprache ist von dieser Art: ‚Alles ist Sprache‘. Nun gibt es aber in der ZuIPhilosophie auch den Satz der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse. Die Frage ist, warum der Satz der Sprache zu kritisieren, der Satz der Interpretation dagegen zu verteidigen ist. Borsche möchte im Satz der Sprache den Ausdruck ‚Sprache‘ in einem erweiterten Sinne verstanden wissen, der „Denken, Schreiben, Rechnen sowie zum Denken Anlass gebendes Gestalten einschließt“ (Kap. 12). Meine beiden Kerneinwände gegen den Satz der Sprache habe ich bereits formuliert und begründet. Sie bestehen darin, dass (a) eine Entgrenzung des Sprachbegriffs eine illegitime Überdehnung des Ausdrucks ‚Sprache‘ bedeutet und dass (b) selbst mit einem derart erweiterten Sprachbegriff gerade nicht das ganze Spektrum der ZuI-Verhältnisse erfasst wird, welches in der Organisation unserer Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse eine grundlegende Rolle spielt. Zu diesem Spektrum gehören zum Beispiel: empfinden, wahrnehmen, handeln, in nicht-sprachlichen Medien kommunizieren, handlungsbezogen kooperieren. Zu diesem Spektrum gehört auch die irreduzible Pluralität unterschiedlicher ZuI-Formen wie z. B. bildhafte, gestische, emotionale, klangliche, audio-visuelle, diagrammatische, empathische, andere subdoxastische und überhaupt sinnliche und nicht-sprachliche sowie nicht-diskursive Zeichen und Interpretationen. Sie alle treten erst gar nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit und der intellektuellen Neugier, wenn wir nur auf eines der Medien, nur auf die Sprache konzentriert sind. Der ‚Satz der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse‘ sei wie folgt formuliert: ‚Jedes menschliche individuierte Welt-, Fremd- und Selbstverhältnis/-verständnis ist zeichen-verfassten und interpretativen Charakters‘. Entscheidend ist dabei, die Ausdrücke ‚zeichen-verfasst‘ und ‚interpretativ‘ oder zusammengezogen ‚zeichen-interpretativ‘ in ihrem weiten Sinne und vor allem in ihrer prädikativen, adjektivischen und adverbialen Stellung zu verstehen. Diese Sicht und Formulierung hat meines Erachtens eine Reihe von Vorteilen gegenüber dem Satz der Sprache: ‚Alles ist Sprache‘. Die wichtigsten Vorteile sind die folgenden: (a) Der Ausdruck ‚zeichen-interpretativ‘ stellt eine Grund- und QuerschnittsCharakterisierung dar, die sich durch alle Medien (wie z. B. Sprachen, Bilder, Handlungen, Wahrnehmungen, Gesten, Emotionen, Diagramme) zieht. Diese
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Charakterisierung tut dies zugleich, ohne die je spezifischen Kategorialisierungsund Individuations-Leistungen der unterschiedlichen ZuI-Systeme einzuebnen. Im ZuI-Satz geht es daher nicht um nur ein einziges unter vielen gleichermaßen legitimen ZuI-Systemen und Medien, wie im Falle der Konzentration allein auf Sprache. (b) Im Satz der ZuI-Verhältnisse liegt der Akzent deutlich auf der komplexen ZuI-Genealogie einer jeden zeichen-interpretativ verfassten und individuierten Welt und Erfahrung sowie deren als zeichen-interpretativ charakterisierbaren Prozessen. Es handelt sich mithin nicht allein um diejenigen Vorgänge, die statthaben, wenn wir aus der Ebene der Sinnlichkeit in die Ebene der Sprache und die dort erfolgenden semantischen Neuorganisationen übergehen. Auf der Sprach-Ebene werden (i) die Objekte, Phänomene und Zustände semantisch neu organisiert, und es wird (ii) über die Objekte, Phänomene und Zustände gesprochen, kommuniziert, berichtet und geurteilt und darüber hinaus werden auch Meinungen, Überzeugungen und Wissensansprüche in Bezug auf sie formuliert. Ich halte es jedoch für eine Hypostasierung des Übergangs auf die Ebene der Sprache, wenn diese dann, im engen wie in einem entgrenzten Sinne, nach Art eines All-Quantors in Bezug auf die Komplexität und das Ganze unserer ZuIWelten und ZuI-Erfahrungen angesetzt wird. Im Satz der Sprache liegt mithin (so möchte ich in Übernahme einer Formulierung aus der gegenwärtigen Debatte um das Verhältnis von Philosophie und Neurowissenschaften sagen) ein mereologischer Fehlschluss vor. Ein überaus wichtiges Element, die Sprache nämlich, wird für das komplexe Ganze unserer ZuI-Welten und ZuI-Erfahrungen genommen. Die entgrenzte Sprache wird irrigerweise und monopolisierend für das Ganze gehalten, was sie offenkundig nicht ist. (c) Aufgrund unserer epistemischen Situation als die endlichen Geister, die wir nun einmal sind, kommt letztlich alles darauf an, dass unsere individuierten Welten und Erfahrungen unsere Welten und Erfahrungen sind, auf die wir uns direkt verstehen und in denen wir uns orientieren können. Letzteres wäre uns in einer Welt von Dingen-an-sich nicht möglich. Im Gefolge der Logik des Satzes der Sprache entstehen leicht die überaus misslichen Fragen (die vermutlich bloß dazu taugen, intellektuell diskutiert zu werden), ob die Welt wirklich so ist, wie sie uns in der Sprache artikuliert erscheint und ob ich die absolute Wirklichkeit jemals werde erkennen können. Gegenüber dieser auf Sprache enggeführten Sicht haben die anderen und nicht-sprachlichen ZuI-Welten einen tieferen und darin zugleich auch Realität unterstellenden Sitz im Leben. Diese ZuI-Welten und ZuIErfahrungen sind mithin auch eher in der Lage, sowohl das gnostische Syndrom der Weltfremdheit als auch das skeptische Syndrom der Weltverunsicherung zu unterlaufen. Auf diese Weise ist ein philosophisch grundlegender Unterschied zwischen unseren Sprachwelten und unseren ZuI-Welten bezeichnet. In Bezug auf
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die Sprache macht es Sinn, die beiden oben angeführten Fragen zu stellen. In Bezug auf die vielen anderen und nicht-sprachlichen ZuI-Prozesse (wie zum Beispiel das Fühlen, Empfinden, Wahrnehmen, Erleben und Handeln) machen die genannten Fragen streng genommen keinen Sinn, da die in ihnen vorausgesetzte Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem nicht gegeben ist. Als erfahrene Prozesse, Phänomene und Zustände sind das Empfinden, Fühlen, Wahrnehmen, Erleben und Handeln aus sich heraus und, wenn man so will, direkt und einstellig jeweils ihre ganze Natur selbst. (d) Interessanterweise lässt die für die ZuI-Philosophie charakteristische strikte Konzentration auf die je individuierten Welten und Erfahrungen die Frage offen, ob es außerhalb der für unsere epistemische Situation als Menschen kennzeichnenden Welten und Erfahrungen möglicherweise noch anderes geben könnte oder nicht. Wer wollte schon – trotz aller Betonung der sinnkritischen Begrenzung des Philosophierens auf die epistemische Situation nach Menschenund nicht nach Gottesmaß – die Beweislast für Nichtexistenz übernehmen wollen? Offenkundig habe wir manchmal solche Intuitionen (nicht zuletzt vielleicht auch im Gegenzug zu der strikten Betonung der für uns endliche Geister spezifisch individuierten Welten und Erfahrungen). Eine solche Intuition nicht einfach ausschließen zu wollen, kann jedoch (unter kritischem Vorzeichen, mithin in einem Kantischen Sinne) nicht mehr als eine Leerstelle bezeichnen. Denn im Kern unserer menschlichen Bemühungen gilt es, die Einsicht festzuhalten, dass wir nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch von der Möglichkeit abgeschnitten sind, eine solche Intuition materialiter sowie formaliter auszubuchstabieren. Das ist der für eine Philosophie nach Menschenmaß entscheidende Punkt. Falls jemand an dieser Stelle eine philosophiehistorische Verortung der ZuI-Philosophie haben möchte, so bin ich ganz auf Seiten der Kantischen, nicht auf Seiten der Hegelschen Philosophie. Aus guten Gründen schließt Kant die angedeutete Intuition und Offenheit nicht aus (– wie auch wollte und sollte man Intuitionen ausschließen). Hegel, so scheint es zumindest manchmal, möchte gleichsam alles ins Denken selbst einholen.
5 Zeichen und Bezeichnetes Borsche zufolge haben wir Zeichen auch heute noch im Sinne der platonischen Unterscheidung einer „asymmetrische[n] Relation von Zeichen und Bezeichnetem“ (Kap. 8) zu verstehen. Wie steht die ZuI-Philosophie zu dieser Relation? Vor allem die folgenden Punkte sind mir wichtig. (a) Die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem macht guten Sinn, sofern sie dazu dient, einen semiotischen Fehlschluss zu vermeiden. In der ZuI-
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Philosophie kommt jedoch auch in dieser Frage alles darauf an, auf welcher der drei ZuI-Ebenen wir uns bewegen. Auf den Ebenen 3 und 2 der ZuI-Verhältnisse ist die Unterscheidung unentbehrlich. Wenn zum Beispiel ein Wort (wie ‚Tisch‘) oder eine wissenschaftliche Theorie (wie die Urknall-Theorie), die beide ihren Sitz auf der ZuI3-Ebene der auslegenden Deutung haben, nicht zu ihren Referenzobjekten passen, dann ändern wir nicht die Welt, sondern das Wort und die Theorie. Das Wort ‚Tisch‘ handelt von Tischen und bezieht sich auf Tische. Aber das Wort ist nicht der Tisch. Das wäre ein semiotischer Fehlschluss. Ich kann mich zum Beispiel nicht auf das Wort setzen. Ähnliches gilt für die Ebene 2. Wenn sich zum Beispiel allgemeine Praktiken lebensweltlicher Konventionen (z. B. Rechtsvorschriften) zu weit von den gesellschaftlichen Gegebenheiten entfernen, ändern wir zumeist eher (Dogmatismen beiseite gelassen) die Konventionen als die Gegebenheiten. Anders jedoch ist die Situation auf der Ebene der ZuI1-Prozesse. Auf dieser Ebene ist die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem noch nicht gegeben. Sie wird auf ihr vielmehr erst hervorgebracht. Die Natur dieses Übergangs wird verständlich, sobald wir den auf der Ebene 1 erfolgenden Übergang von den zunächst ungegliederten und fraglos kontinuierlichen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnissen in gegliederte und spezifizierend-organisierte Verhältnisse in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Der Übergang erfolgt kraft und nicht bloß instrumentell mittels der Prozesse der Kategorialisierung, der Individuation, der raum-zeitlichen Lokalisierung, der Bereitstellung von Raum-Zeit-Stellen und der Klassifikation. Im Zuge dieser ursprünglich-produktiven Aktivitäten kommt es überhaupt erst zu der Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem (aber auch von seiend und nicht-seiend sowie von Gattung und Art, welche Unterscheidungen dann für den weiteren und spezifizierenden Ausbau der triangulären Verhältnisse von Ich-Wir-Welt so wichtig werden). (b) Die Unterscheidung von Zeichen und Bezeichnetem ist nicht zuletzt vornehmlich für Sprachen und sprachliche Zeichen (Wörter, Sätze, Diskurse) kennzeichnend. Borsche sieht dies anders, wenn es bei ihm heißt, Wörter „schließen die Gegenstände, auf die sie referieren, ein; der referierte Gegenstand gehört zum Wort selbst“ (Kap. 9). Diese Sicht der Dinge scheint mir jedoch unplausibel. Zudem entspricht sie weder den phänomenalen noch den grundbegrifflichen und auch nicht den empirischen Befunden in Sachen Sprache. Vornehmlich für Wörter ist die Differenz zwischen Wort und Bezeichnetem kennzeichnend. So kommt die Frage nach der Bedeutung eines Wortes als die Frage daher, wovon das Wort (z. B. das Wort ‚Engel‘) handelt. Im Falle des gegebenen deutschen Wortes ‚Engel‘ lautet die Antwort: von Engeln natürlich, wovon sonst. Und die Frage nach der Referenz eines Wortes kommt als die Frage daher, worauf sich ein Wort (z. B. das Wort
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‚Hase‘) bezieht. Im Falle des gegebenen deutschen Wortes ‚Hase‘ lautet die Antwort: auf Hasen natürlich, worauf sonst. In beiden semantischen Merkmalen (Bedeutung und Referenz) ist eine Differenz zwischen dem sprachlichen Zeichen und dem Bezeichneten mitgesetzt. In den Wissenschaften, speziell in Fällen der in der Sprache der Wissenschaften artikulierten Theorie, ist die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem noch deutlicher. Selbstverständlich könnte – die entsprechenden Sprachkonventionen vorausgesetzt – das Wort ‚Hase‘ im Prinzip auch von Primzahlen handeln. Die Arbitrarität der Wörter ist Anzeichen dafür, dass vornehmlich die Wörter der Sprache in der Differenz von Zeichen und Bezeichnetem stehen. Dieser Befund lässt sich meines Erachtens selbst noch innerhalb der in Platons Kratylos favorisierten Auffassung verdeutlichen, der zufolge es zwar keine bloß konventionelle, sondern eine natürliche Relation zwischen der Lautgestalt eines Wortes, seiner Bedeutung und dem Wesen der bezeichneten Sache gibt. (c) In Bezug auf die nicht-sprachlichen und vor-sprachlichen Zeichen ist es in vielen Fällen schwieriger als im Falle von Wörtern einer Sprache, zwischen Zeichen und Bezeichnetem zu unterscheiden. Man denke etwa an den offenkundigen Unterschied zwischen musikalischen Zeichen und sprachlichen Zeichen. Abgekürzt formuliert: im Falle der musikalischer Zeichen (z. B. eines expressiven musikalischen Klangs) haben wir es gerade nicht, wie im Falle sprachlicher Zeichen (z. B. einer sprachlichen Artikulation von Welt), mit der Differenz von Zeichen und Bezeichnetem zu tun. Für das musikalische Zeichen ist vielmehr kennzeichnend, dass diese Differenz nicht gegeben ist. Der musikalische Klang ist ohne die Differenz von musikalischem Zeichen und musikalisch Bezeichnetem ganz bei sich, ist seine ganze Natur selbst. Und mehr noch: weil es im musikalischen Zeichen die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem nicht gibt, sind musikalische Zeichen unüberbietbar ästhetisch (mithin sinnlich und individuell) prägnant. Die Wörter einer Sprache bleiben im Grad ihrer Prägnanz stets hinter der ästhetischen oder, wie ich mit einer Formulierung von Ernst Cassirer auch sagen könnte, ‚symbolischen Prägnanz‘ zurück. Musikalische Zeichen können als Zeichen im weiten Sinne, sprachliche Zeichen dagegen als Zeichen im engen Sinne verstanden werden. Deswegen auch können wir sagen, dass Wörter für etwas anderes stehen können (das Wort ‚Tisch‘ für Tische). Von musikalischen Zeichen dagegen gilt, dass sie (abgesehen von dem kleinen Bereich expliziter Programm-Musik) nicht für etwas anderes stehen. Und auf genau diesem Umstand beruht auch die durchschlagende Kraft musikalischer Zeichen auf Personen, die von Klängen affiziert und bewegt werden. Eine musikalische Erfahrung zum Beispiel der Expressivität eines Klangs entzieht sich der Zergliederung nach Zeichen und Bezeichnetem. Der Klang ist seine Expressivität selbst, ganz und gar. Kant hat eindringlich beschrieben, wie sehr uns als Personen eine ästhetische Erfahrung in
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unserem Person-Zustand insgesamt und nicht bloß in einigen Teilen unseres Inneren erfassen kann (KU § 9). In diesem Sinne ist die Kraft der Musik größer als die der Sprache. (d) Wenn Borsche Humboldts Formulierung zitiert: „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache“ (Kap. 10), dann möchte ich angesichts der soeben skizzierten Besonderheit musikalischer Zeichen zurückfragen: Und wie steht es mit dem Menschen als Musiker, als Handelndem, als Wahrnehmendem, als Fühlendem? Sind diese Menschen gleichsam erst bloß vor-sprachliche und eben dadurch noch nicht recht eigentliche Menschen? Eine solche Sicht wäre offenkundig nicht nur eine gänzlich inakzeptable, da eindimensionale Verengung. Sie drohte zudem an eine Verabsolutierung der Sprache gekoppelt zu sein, einen Sprach-Intellektualismus und am Ende gar einen Sprach-Perfektionismus in puncto Menschenbild nach sich zu ziehen. Das wäre, offen gesprochen, eine ‚verkehrte Welt‘ (Hegel) hinsichtlich des Verhältnisses von musikalischer und sprachlicher Erfahrung. Das wäre natürlich nicht die Welt, die Tilman Borsche vor Augen hat. Aber unwillentlich könnte sie aus der Tendenz zur Verabsolutierung der Sprache am Ende durchaus drohen. (e) Oftmals wird der Ausdruck ‚Sprache‘ auch als Metapher, das heißt in metaphorischer Verwendung gebraucht. Bekannte Beispiele sind etwa Nelson Goodmans trefflicher Buchtitel Sprachen der Kunst (Goodman 1976) oder die Rede von der ‚Sprache der Empfindung‘, der ‚Sprache der Natur‘ (Herder) oder der ‚Sprache der Gefühle‘. Diesen metaphorischen Gebrauch finde ich nicht nur in Ordnung. Der metaphorische Transfer des Wortes ‚Sprache‘ in nicht-sprachlich verfasste Bereiche kann dort durchaus aufschlussreiche Perspektiven eröffnen. Aber streng genommen funktioniert Musik nicht nach Art der Sprache, sind Musik und Malerei keine Sprachen im buchstäblichen Sinne. Beide sind zum Beispiel nicht durch die für Sprachen kennzeichnenden Alphabete und zum Beispiel auch nicht durch das für Sprachen ebenfalls kennzeichnende sukzessive Nacheinander ihrer Elemente charakterisiert. Ein Gemälde etwa bringt alles auf einmal und simultan zur sinnlichen Präsenz. Ein musikalischer Klang ist nicht erst noch auf der Suche nach seinem Objekt, wie dies etwa ein sprachlicher Ausdruck in einer wissenschaftlichen Theorie ist, z. B. der Ausdruck ‚Atom‘. Auf nicht-sprachliche und nicht-diskursive Weise haben musikalische Klänge ihre Objekte stets bereits ganz in ihnen selbst. Die metaphorische Verwendung des Ausdrucks ‚Sprache‘ möchte ich deutlich von der entgrenzten Verwendung des Ausdrucks ‚Sprache‘, von der Entgrenzung des Sprachbegriffs unterscheiden. Erstere Verwendung kann aufschlussreich sein hinsichtlich der sprach- und zeichen-interpretativen Organisation desjenigen Bereiches, in dem die Metapher zur Anwendung kommt. Letztere dagegen droht in Diffusion zu enden.
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(f) Leicht lassen sich weitere Beispiel-Felder für Zeichen- und InterpretationsErfahrungen benennen, in denen die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem (einschließlich der mit dieser Differenz korrelierten Stellvertreter-Rolle der Zeichen) ebenfalls nicht primordial und evident ist. Man denke zum Beispiel an Erfahrungen wie: leibliche Erfahrungen (die nicht mit körperlichen Symptomen verwechselt werden dürfen); praktische Erfahrungen (auf die etwa der Hirnchirurg zurückgreift, wenn er eine Operation am offenen Gehirn durchführt, oder die zum Zuge kommen, wenn wir z. B. Zeichen der Liebkosung vollziehen wie etwa das Streicheln oder Küssen); Handlungserfahrungen (vom einfachen Fensteröffnen bis hin zum Umgang mit meinen Freunden); Wahrnehmungserfahrungen (in Bezug auf deren Vollzüge selbst es keinen Sinn macht zu sagen ‚Meine Wahrnehmung bezeichnet / steht für / bezieht sich auf X‘); oder emotionale Erfahrungen (in Bezug auf die es keinen Sinn macht zu sagen, dass ich mich im Zustand einer Emotion-X befinde, und dann zusätzlich noch hinzuzufügen, dass ich mich damit auf das Emotions-Bezeichnete-Y beziehe; streng genommen macht es nicht einmal Sinn zu sagen, eine Emotion befinde sich in mir, vielmehr gilt: ich bin in dem Gefühlszustand, zum Beispiel der Heiterkeit, der Traurigkeit, der Eifersucht).
Literatur Abel, Angelika 1982: Die Zwölftontechnik Weberns und Goethes Methodik der Farbenlehre. Zur Kompositionstheorie und Ästhetik der neuen Wiener Schule, (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. XIX), Wiesbaden. Abel, Günter 1989: Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch 96/1, im Auftrag der Görres-Gesellschaft hg. v. H. Krings et al., Freiburg / München, S. 1 – 19. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Goodman, Nelson 1976: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis; [dt.: Sprachen der Kunst, Frankfurt a. M. 1995]. Kant, Immanuel 1790: Kritik der Urtheilskraft, in: Gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften u. a., Berlin 1902 ff., Bd. V, S. 165 – 485; [KU]. Smullyan, Raymond 1983: 5000 B.C. and Other Philosophical Fantasies, New York.
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Vom Signal zur Sprache Kooperationslogische Grundlagen begrifflichen Verstehens Abstract: The article shows why we better distinguish between ‘animal languages’ as systems of signals used in some forms of coordination of animal behaviour on one side, real language with conceptual norms of proper differentiations and differentially conditioned inference rules as they are necessary for thinking and for symbolic actions embedded in human cooperative practices. As persons, we always (may, can or must) take part in such joint practices. Symbolic languages presuppose semantical rules that are not only formal, analytic, but express generic material knowledge, which we can label ‘synthetic a priori’. Rush Rhees criticism of the § 2 in Wittgenstein’s PU amounts to saying that the ‘language of the builders’ cannot be a ‘complete language’ since it is only a system of signals. Without human language as codification of generic knowledge, there is no access to non-trivial non-present possibilities. Moreover, when we refer in apperception, i. e. observation statements, to present experience, we always already evaluate possibilities and expectations; we do not just refer a posteriori to a set of given sensations or react on them automatically, as the ideology of empiricism holds.
Einleitung Günter Abel fragt wie kein Zweiter die richtigen Fragen. Er fragt, wie sich Sprache auf Welt bezieht, was ein Zeichen ist, was Wirklichkeit ist und was ein Zeichen der Wirklichkeit ist. Er sieht, dass Sprache und Zeichen keine einfachen Mittler zwischen Subjekt und Welt sind, aber auch nicht einfach Mittel zur Übertragung von Inhalten zwischen Subjekten.¹ Zeichen sind zumindest weit mehr als derartige Mittel und Vermittlungen. Abel sieht auch, warum alle Ismen in der Sprachphilosophie und Zeichentheorie in die Irre führen, wie z. B. der Internalismus, dem zufolge die Bedeutungen angeblich im Kopf der Subjekte sitzen, oder der Externalismus, dem zufolge die Bedeutungen unmittelbar in der Welt zu finden sein sollen. Aber auch alle andere Ismen, die sich wie Weltanschauungen meistens dualistisch in Abgrenzung von allen anderen definieren, lehnt Abel mit
(ZdW 14 f., 39). Vgl. dazu auch Iw und SZI. https://doi.org/10.1515/9783110522280-014
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Recht ab, wie zum Beispiel alle naturalistischen Reduktionismen des Geistes oder alle Mentalismen und Platonismen. Und er verlangt, dass wir uns dem endlichen Können und Wissen in unserer menschlichen Welt zuwenden und jede luftige Gottesperspektive einer Betrachtung der Welt sub specie aeternitatis erst einmal hinter uns lassen. Stattdessen plädiert er für eine in jedem Sinn des Wortes humane, das heißt menschenzentrierte und zugleich innerweltliche Betrachtung besonders von Sprache und Zeichen, Interpretation und Verstehen. Dabei hält er sich an die Grund- und Leitfrage jeder echten Sprach-, Zeichen- und Interpretationsphilosophie, die Frage nämlich, wie es zu verstehen und zu erklären ist, dass Zeichen, ob lautsprachliche oder bildliche, diagrammatische, ikonische oder sonstige, einen verstehbaren Sinn und eine weltbezogene Bedeutung haben bzw. erhalten können. Abel grenzt außerdem auf höchst vernünftige Weise die Fragen und Antworten einer Sprach- oder Zeichenphilosophie ab von Sprach- und Zeichentheorien, in denen, um es grob zu sagen, bloß ‚technische‘ Unterscheidungen und Strukturen, Taxonomien und Regeln thematisiert werden, wie etwa in einer Theorie der Syntax und formalen logischen Semantik oder in Klassifikationen verschiedenster Zeichensysteme. Seine durchaus als hermeneutische aufzufassende Interpretations- oder Verstehensphilosophie ist daher weit entfernt von jeder Informationstheorie, etwa gar einer solchen, welche aus der ‚Unwahrscheinlichkeit‘ des Vorkommens eines Items ein Maß seines Informationsgehalts macht. Das Modell von Shannon und Weaver² ist sicher für technische Zwecke höchst wichtig, wie überhaupt die Theorien der Syntaktik nach Chomsky und schematischen logischen Semantik etwa der formalen Aussagen- und Quantorenlogik, der Kennzeichnungsterme und der verallgemeinerten Quantoren nach Montague für allerlei technische Zwecke höchst bedeutsam sind. Trotz all dieser Leistungen der Philosophie Günter Abels macht es Sinn, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, worum es in einer Sprach- und Zeichenphilosophie geht oder zumindest unter anderem auch gehen sollte, was die Grundprobleme und die Grundaussagen sind und wie wir dabei einem Verstehen des Verstehens etwas näher kommen können. Im Kern der folgenden Überlegungen steht daher die Frage, wovon wir jeweils sprechen, wenn wir von Sprache und Zeichen, Welt und Wirklichkeit sprechen, und was es heißt zu sagen, dass es für uns Menschen nicht bloß einen Wirklichkeitsbezug mittels Sprache und Zeichen gibt, sondern dass es Wirklichkeit selbst bloß kraft Sprache und Zeichengebrauch gibt.
(Shannon / Weaver 1949). Zusammenfassend: (Krallmann / Ziemann 2001).
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Thema der Sprachphilosophie kann oder sollte dabei immer auch die Klärung der Differenzen zwischen bloßen Signalsprachen, Zeichensystemen und vollen symbolischen Handlungen sein. Eine Signalisierung ist ein Prozess. Sie ist im Gelingensfall ein koordinatives Verhalten. Es spaltet sich in das individuelle Benehmen des Signalgebers und das Benehmen der Signaladressaten auf. Eine gelungene Signalisierung ist also eine Verhaltenskoordination der Wesen, die an dem Prozess teilnehmen. Zeichensysteme, wie ich sie hier verstehen will, sind syntaktisch und formalsemantisch komplexe Zusammenlegungen von Items, den jeweiligen Grundzeichen des Systems. Kernbeispiele sind gerade die ‚Formalsprachen‘ oder ‚Begriffsschriften‘ der Mathematik und Informatik, bis herunter zum Binärcode der Maschinensprachen. Im Blick auf den Gebrauch von Zeichensystemen wird die zumeist vernachlässigte Differenz wichtig zwischen einer bloß prozessualen Verfahrenssemantik und einer echten Gebrauchssemantik. Denn ein Gebrauch von Zeichen ist nicht bloß ein Prozess, sondern eine kooperative Handlung. Das ist der Gebrauch auch dort, wo in reinem verbal planning bloß erst Selbstgespräche und andere derartige Selbstvergewisserungen stattfinden. Zu den Formen einer so begriffenen gebrauchstheoretischen Semantik gehört gerade auch die Semantik von Wahrheitsbedingungen. Denn Geltung ist nie losgelöst von den vorausgesetzten Geltungsbedingungen. Diese Einsicht Kants wird dann noch einmal prominent in Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus und dem zentralen Merksatz „Die Logik ist transzendental“ (TLP 6.13). Während dabei aber Kants transzendentale Logik oder Analytik die Formen der Konstitution des Gegenstandbezugs auf die Dinge der Welt mitanalysiert und daher die praktischen Formen der präsentischen Anschauung mit thematisieren muss, lässt Wittgensteins viel abstraktere Reflexion auf irgendwelche kategoriale Formen des Abbildens den Begriff des Gegenstandes und sogar der Elementaraussage unanalysiert. Er analysiert auf dieser ungeklärten Grundlage die Wahrheits- bzw. Geltungsbedingungen bloß der formallogisch komplexen Sätze und Kennzeichnungen. Immerhin wird dabei klar, dass auch diese Bedingungen schon von uns bestimmt sein müssen, bevor man sinnvoll danach fragen kann, ob eine Aussage gilt oder worauf sich eine Kennzeichnung bezieht. Es muss also schon klar sein, ob der geäußerte und hoffentlich syntaktisch wohlgeformte Satz semantisch wohlgeformt ist. Nur dann artikuliert er eine sinnvolle Aussage. Entsprechendes gilt für Kennzeichnungen. Sie müssen ebenfalls syntaktisch und semantisch wohlgeformt sein, bevor wir sie als sinnvolle Benennungen verwenden können. Das allerdings scheinen schon Parmenides und die Eleaten, die Logiker aus Megara und
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Platon gewusst zu haben, auch wenn die tiefe sinnkritische Bedeutung dieser Einsichten immer wieder vergessen wird.³ Die Hauptfrage der Philosophie sowohl als Sinnkritik als auch als differenzielle Anthropologie ist dabei, wie wir durch die Sprache, genauer, durch das symbolische Handeln, einen besonderen Zugang zu Welt und Wirklichkeit erhalten, und zwar anders als Tiere. Denn wir haben Zugang zu einer Wirklichkeit, welche zunächst eine Möglichkeit ist. Das Wirkliche ist also nicht einfach das reale, präsentische, Dasein oder bloße Gegenwart. Tiere leben in der Gegenwart. Menschen leben in einem Möglichkeitsraum. Das Wirkliche wird dabei auf eine gewisse Weise aus diesem Raum ausgewählt.Wirklichkeit ist eine Möglichkeit, die wir als bestehend bewerten. Daher ist menschliches Wahr-Nehmen im vollen Sinn des Wortes, nämlich als apperzeptive Anschauung, nicht einfach enaktive animalische Perzeption, wie sie bei Alva Noë (2004) beschrieben ist und wie sie Empiristen und Humeaner als Basis allen Wissens ansehen. Apperzeption ist ursprünglich als begrifflich informierte Perzeption zu verstehen. Ihr Inhalt soll grundsätzlich sprachlich artikulierbar sein. Das volle Wahr-Nehmen von präsentischer Wirklichkeit ist am Ende also eher eine Bewertung einer symbolisch vorentworfenen Möglichkeit als bestehend. Dies geschieht auf der Basis eines beobachtenden Bewusstseins, in einer sinnlichen Kontrolle eben des Bestehens des Vorentwurfs einer Möglichkeit. Der Wahrnehmungsprozess lässt sich daher so ‚vorstellen‘: Auf der Grundlage perzeptivischen Gewahrnehmens mögen uns mögliche Urteile spontan einfallen. In einer Art Wahrnehmungs-Kontrolle prüfen wir, nach Art von Fällen eines zweiten genaueren Hinsehens, ob die im möglichen Urteil artikulierte Sachlage in Wirklichkeit besteht, das Urteil also wahr ist. Daher und nur daher sind der Inhalt einer (apperzeptiven) Wahr-Nehmung und der begrifflich, d. h. verbal oder sonstwie repräsentationssemantisch bestimmte Gehalt des zugehörigen Wahr-NehmungsUrteils, also der betreffenden Aussage oder des relevanten Bildes oder Ikons oder Diagrammes, am Ende ein und dasselbe. Tiere haben keinen Zugang zu nicht gegenwärtigen Möglichkeiten. So gute Augen und Ohren hat niemand, dass er bloße Möglichkeiten rein perzeptiv wahrnehmen könnte. Möglichkeiten sind uns immer nur durch symbolische Repräsentationen zugänglich. Dabei dürfen wir nicht zu schnell von mentalen Repräsentationen oder Vorstellungen sprechen. Das heißt, wir dürfen nicht einfach unterstellen, es sei schon klar, was solche Vorstellungen überhaupt sind.Vielmehr sind alle diese Vorstellungen durch Zeichen des Möglichen vermittelt. Nur Zeichen des Möglichen sind Zeichen des Wirklichen. Und nur durch die von uns selbst
Vgl. dazu (Stekeler-Weithofer 2006: Kap. 6).
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spontan und damit handelnd produzierten Zeichen des Möglichen haben wir Zugang sowohl zu Möglichkeiten als auch zur Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, in der wir leben und auf die wir uns beziehen, ist dann nicht, wie in der leicht irreführenden Rede von einer Pluralität von Welten oder von Interpretationswelten, bloß als Dasein oder Realität dessen aufzufassen, was je präsent ist,⁴ sondern sozusagen als die markierte Möglichkeit, mit der wir zu rechnen haben, sofern wir vernünftig sind. Dabei müssen wir allerdings auch mit ‚Möglichkeiten‘ rechnen. Diese heißen im Jargon der Philosophie des 20. Jahrhunderts (leider) ‚mögliche Welten‘. Wir sollten aber vom Gebrauch des Plurals der Wörter ‚Welt‘ und ‚Wirklichkeit‘ absehen. Denn der begriffliche Satz, dass es nur eine Welt und nur eine Wirklichkeit gibt, sorgt dafür, dass jede Rede von alternativen Welten und pluralen Wirklichkeiten figurativ ist, also eine katachrestische Metapher mit frei schwimmendem Sinn. Das, was figurativ und damit in leicht irreführender Weise als mögliche Welten angesprochen wird, schwankt entsprechend zwischen der Vorstellung von einer maximal konsistenten Satzmenge, einem System maximal kohärenter Aussagen und der vagen Rede von Möglichkeiten, welche als ‚Alternativen‘ zu den kontingenten Realitäten dessen aufzufassen sind, was in den aktualen Lebenssituationen so alles der Fall ist. Dabei wäre zumindest erst einmal zu klären, was logische Konsistenz bzw. Kohärenz außerhalb mathematisch-formallogischer Satzmengen bedeuten kann. Dazu bedarf es schon eines vollen Begriffs des begrifflichen, nicht bloß formallogischen, Schließens. Wenn wir das genauer bedenken, gelangen wir zu der absolut fundamentalen Einsicht, dass außerhalb der mathematischen Metaphern in einer formalistischen modelltheoretischen Semantik nicht bestimmt ist, was eine mögliche Welt sein könnte. Ohne eine Klärung des begrifflichen Schließens sind Möglichkeiten nicht sinnvoll bestimmbar. Wenn wir uns auf eine Möglichkeit konkret beziehen wollen, setzen wir die begriffliche Bestimmung der Möglichkeit voraus. Immerhin führt die Rede von möglichen Welten jeden, der ein wenig nachdenkt, schon über das Problem der Deutung der metaphorischen Modelle der mengentheoretischen Semantiken zur wichtigen Einsicht, dass Möglichkeiten immer nur durch symbolische, vorzugsweise sprachliche, Vermittlung zugänglich sind. Und sie sind anders zu behandeln als die eine Welt und Wirklichkeit, in der wir leben. Es ist daher zwar richtig, von Möglichkeiten im Plural zu sprechen, auch von möglichen Situationen und möglichen Umständen, möglichen Zu-
Man könnte die uns gemeinsam zugängliche, also nicht bloß empfindungsartig-private, präsentische Umgebung als Realität im Sinne einer realitas phaenomenon auffassen und so der Wirklichkeit als bewerteter Möglichkeit gegenübersetzen.
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künften und möglichen Vergangenheiten. Aber es bleibt immer irreführend, von ‚ganzen‘ möglichen Welten oder Wirklichkeiten zu sprechen oder sie wie Gegenstände in sortalen Gegenstandsbereichen aufzufassen, über die wir quantifizieren können, so wie über Zahlen oder Mengen. Was es heißt, von ‚allen‘ Möglichkeiten zu sprechen, ist dagegen alles andere als klar. So lieb uns alle Pluralitäten sein sollten, wir leben eben alle in einer einzigen Welt und Wirklichkeit. Daran sollten wir festhalten. Es ist aber durchaus sinnvoll nachzufragen, was es genau heißt, dass es nur eine Welt und eine Wirklichkeit gibt. Gerade im Blick auf den Zugang zu Möglichkeiten wird die klassische Bestimmung des Menschen wichtig: Der Mensch ist das zoon logon echon, das animalische Wesen, das Sprache besitzt, produziert, versteht und in eigenständiger Fortführung von freien Kommunikationsangeboten etwa in figurativen Redeformen – von der Metapher bis zur Ironie – frei interpretieren kann. In diesem Können steckt der gesamte Umfang dessen, was menschlichen Verstand und Vernunft ausmacht. Das ist keine These, sondern eine ganz allgemeine, begriffliche, Feststellung. Für jede kritische Philosophie des genuinen Weltbezugs der Menschen, damit auch der Sprache und des Geistes, ergibt sich, dass wir weder einfach empiristisch bei Empfindungen und Perzeptionen, noch cartesisch beim Denken und unseren Vorstellungen oder Repräsentationen beginnen können, als wäre die Wirklichkeit eine Konstruktion durch uns. Wir dürfen uns insbesondere nicht durch einen methodologischen Skeptizismus verwirren lassen, dem zufolge erst die Instrumente des Weltbezugs zu untersuchen seien, das Denken und die sinnlichen Perzeptionen. Wir sollten vielmehr begreifen, dass nicht eigentlich der rein präsentische Bezug auf die gegenwärtige Welt der uns je hier und jetzt umgebenden Dinge und Sachen das Problem ist. Das Problem sind die überpräsentischen Möglichkeiten. Die Gegenwart der laufenden Prozesse wird in einen größeren Raum und eine weitere Zeit eingebettet. Die Zukunft ist ein Raum des Möglichen. Das Problem ist die Bestimmung der Möglichkeiten und dann auch der ‚Zugang‘ zu ihnen. Die Antwort auf das Problem lautet: Bereiche des Möglichen sind Bereiche des begrifflich sinnvoll Repräsentierbaren. Die These dieser Überlegung ist nun, dass die Kooperationslogik des gemeinsamen Umgangs mit präsentischen Dingen und Prozessen in der gemeinsamen Anschauung die Grundlage für alles gemeinsame Verstehen ist, gerade auch der von uns selbst produzierten Zeichen. Die Grundlage der Festsetzung des Begrifflichen, der Semantik der Sprache, auch jeder Sprache der Gebärden, bis hin zur Musik, oder dann auch der Bilder und Diagramme, liegt also im jeweiligen gemeinsamen Gegenwartsbezug.
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1 Sprache ‚Sprache‘ ist ein höchst allgemeines Wort. Die Sprache ist Thema der Sprachphilosophie. Aber in welchem Sinne ist sie das? Und wie unterscheidet sich eine allgemeine Sprachwissenschaft und besondere Sprachtheorie etwa der Theoretischen Linguistik von Sprachphilosophie? Wir werden diesen Fragen noch etwas genauer nachgehen müssen. Sprache ist nicht erst spät, etwa in Herders Spekulationen zum Ursprung der Sprache oder in Freges Erfindung einer formallogischen ‚Begriffsschrift‘, zu einem besonderen Gegenstand philosophischer (und bei Ferdinand de Saussure dann auch wissenschaftlicher) Reflexion geworden.⁵ Sprache steht schon als logos seit dem Beginn der Philosophie bei Heraklit, Platon und Aristoteles, wie man an dessen Formel zoon logon echon sieht, sowohl methodisch, also in Bezug auf das argumentative Vorgehen kritischer Reflexion selbst, als auch thematisch, also in Bezug auf eine ‚Erklärung‘ von sprachlichem Verstehen und sprachlich verfasstem Wissen, im Zentrum philosophischen Nachdenkens. Eine Interpretationsphilosophie ist eine Philosophie des Verstehens. Als solche ist sie ein zentraler Bestandteil einer Philosophie des Geistes. Was Verstehen ist, ist zunächst keineswegs klar, noch nicht einmal, was der ‚erste Gegenstand‘ des Verstehens ist. Ist es die andere Person, der andere Mensch? Sind es seine Intentionen? Ist es die Welt? Sind es Zeichen? Und wenn es Zeichen sind, sind es natürliche Zeichen oder Zeichenvorkommnisse in symbolischen Handlungen? Wir verstehen Personen oder Menschen wohl nur, wenn wir verstehen, was sie tun und sagen. Das wiederum setzt ein Verstehen von Sprache voraus. Wir verstehen etwas in der Welt auch erst, wenn wir etwas über die Welt sagen können. Ein Tier kann auf seine Umwelt überlebenstüchtig reagieren. Wir sagen daher auch, ein Tier verstehe die natürlichen Zeichen seiner Umgebung. Das aber heißt nur, dass sich ein Tier im Gegenwartsraum der laufenden Prozesse selbst aktiv bewegen und sich an seinen Perzeptionen orientieren kann. Natürliche Zeichen sind daher typische Anzeichen für gegenwärtig zu erwartende Fortsetzungen laufender Prozesse, zu denen wir perzeptiven Zugang haben. Natürliche Zeichen sind also nicht einfach Dinge, eher Anfänge von sich reproduzierenden Prozessen. Wir merken, etwas wird sehr heiß, und erwarten: es wird gleich brennen. Schon epistemisch vermittelt ist der zweite Beispielsfall: Wir sehen Rauch aufsteigen: es brennt dann wohl schon.
Vgl. (Bertram 2011: 11).
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Was es über diese Beispiele der präsentischen Orientierung im räumlich und zeitlich ausgedehnten Gegenwartsraum hinaus heißen könnte, von einem Tier zu sagen, es verstehe seine Umwelt, ist unklar. Wir können jedenfalls nicht davon ausgehen, dass diese Rede nicht bloß erst ein metaphorischer Anthropomorphismus ist, also von einer ähnlichen Form, wie wenn wir von einem Baum sagen, er höre den Wind oder er wolle wachsen. Es ist vielmehr erst noch zu klären, was man damit sagen will. Das anzuerkennen aber heißt schon zuzugeben, dass es sich um eine Rede im Modus des Figurativen, der Metapher, der freien Ausweitung begrifflicher Standardnormen und Standarderwartungen handelt. Für eine sinnkritische Sprach- und Wissenschaftsphilosophie ist nichts so wichtig wie diese Unterscheidung zwischen Normalfallsemantik mit seinen Normalfalldifferenzen und begrifflichen Normalfallinferenzen auf der einen Seite, den freien Ausweitungen in figurativen und metaphorischen Redeformen auf der anderen Seite. In diesen sind nämlich immer auch viele Inferenzen des Normalfalls einzuklammern, auszuschließen. Daher darf man in metaphorischen Sprachgebräuchen nicht einfach schematisch schließen – oder man argumentiert wie ein (formalistischer) Sophist, also falsch und unwissenschaftlich. Ohne dass wir schon verstehen, was begriffliches Sprachverstehen ist und welche Rolle dabei die Beherrschung von materialen Normalfalldifferenzen und Normafallinferenzen spielen, begreifen wir die Rede von einem Verstehen und Interpretieren noch nicht. Das gilt auch für den Umgang mit konventionalisierten Gebärden, Diagrammen und die ikonischen Halbsprachen der Comics und anderer Bilder. In allen diesen Fällen wird der Rollenwechsel zwischen Sprechern und Hörern wichtig. Das gilt gerade auch für ein Verständnis, dass wir es zunächst mit Versicherungen oder Einzelaussagen eines Sprechers zu tun haben. Diese mögen die über empirisch Einzelnes hier und jetzt oder dort und da informieren wollen. Dabei kann eine Begründung auf Nachfrage nötig werden, welche sich dann auch schon auf allgemeine Aussagen und Inferenzen beziehen kann. Hinzu kommt, dass die Normen der Begründungsverpflichtung im rechten Gebrauch generischer Inferenzen und Aussagen auf Seiten des Sprechers in ein harmonisches Verhältnis zu einem angemessenen Verständnis auf Seiten des Hörers zu bringen sind, um Fehlverwendungen und Fehlverständnisse auszuschließen. Das harmonische Verhältnis besagt, dass die verwendeten ‚Kriterien‘, nach denen wir etwas als ein P beurteilen, zu den mit P (gerade auch als Ausdruck) verbundenen begrifflichen Inferenzen qua notwendigen Folgen oder generischen Normfallerwartungen passen. Ein Beispiel mangelnder Harmonie liefert z. B. das Schimpfwort ‚boche‘ für die Deutschen, weil seine Inferenzen besagen, dass ein boche grausam und bar-
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barisch ist.⁶ Allein schon die Verwendung von ‚boche‘ präsupponiert daher, dass die Deutschen Unmenschen sind. Im Zentrum der Frage nach dem Menschen und seinem Selbstbewusstsein einer allumfassenden philosophischen Anthropologie stehen dann das genuin menschliche Verstehen und Wissen und ihr Zusammenhang. Sprachverstehen setzt nämlich allgemeines Wissen voraus. Und die Entwicklung allgemeinen Wissens ist die Entwicklung der Begriffe, damit der Sprache. Diese Aussage ist zwar allgemein wahr, aber leider noch nicht so selbstverständlich und bekannt, wie sie es verdiente. Unsere besonderen Formen institutionell gestalteter Entwicklung von Wissenschaft sind also als Arbeit am Begriff und damit an der Sprache zu begreifen. Sprache, Wissen und Wissenschaft wiederum sind im Gesamtrahmen der einheitlichen Existenzweise ‚des Geistigen‘ in ihrem Wechselbezug zu verstehen. Die aristotelische Formel zoon logon echon interpretiert ‚den Menschen‘ in generischer Weise, also in seiner Artform, als dasjenige animalische Wesen, welches (nur) aufgrund von Sprache und einer genuinen Form der ‚politischen‘ Kooperation Geist, also Wissen, Verstand und Vernunft besitzt. Echte Philosophie des Geistes reflektiert daher immer schon auf die Rolle der Sprache für die besondere Form eines ‚(selbst)bewussten‘, also um seine Lage in der Welt wissenden, menschlichen Lebens, und zwar gerade in fundamentalem Kontrast zu einer animalischen Kognition und einem auch noch bei ‚sozialen‘ Tieren der Form nach ‚solipsistischen‘ Verhalten. Gegen dieses Programm einer differenziellen philosophischen Anthropologie gibt es Proteste, neuerdings etwa von Wolfgang Welsch (2012: 23 ff.). Dieser nivelliert in seiner Überbetonung der Ähnlichkeiten von Tier und Mensch die wesentlichen Unterschiede. Es ist dabei, wie eingangs schon erwähnt, insbesondere zwischen Signalverhalten, den Verfahren des technischen Umgangs mit Zeichenketten und einem vollen symbolischen Handeln zu unterscheiden. Das Wort ‚Symbol‘ bzw. der Ausdruck ‚symbolisches Handeln‘ signalisiert ab jetzt sozusagen volles Sprachverstehen. Ebenso ist zu unterscheiden zwischen einer bloß animalischen Kognition, natürlichen oder dann auch automatischen Datenverarbeitungen und einem vollen Wissen, das als generisches Wissen das richtige oder erlaubte Unterscheiden und Folgern im Defaultfall definiert und insofern zu den semantischen Normen des rechten Verstehens gehört. Individuelles Wissen ist dabei immer als möglicher Beitrag zu einem kooperativen Wissen zu begreifen, und das auch im Fall von Einzelinformation über einzelne Situationen, also über kontingente
Das Beispiel wird diskutiert bei Michael Dummett, Robert B. Brandom und jetzt wieder bei Hong Zhou (2011) in dessen schöner Inauguraldissertation an der Universität Frankfurt a. M.
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Einzelsachverhalte im Unterschied zu einem situations- und zeitallgemeinen Wissen. Als Beispiele für notwendiges allgemeines Wissen denke man an die Sterblichkeit von Lebewesen oder dass man nicht in die Vergangenheit reisen kann. Als Beispiel für Einzelkenntnisse denke man an Fälle, in den einer mit Recht sagen kann, was er dort drüben sehe, sei ein Foxterrier. Wir wissen dann, dass es ein Hund ist und was er so alles normalerweise tun kann. Es ist dann zwar auch richtig, dass sowohl die Unterscheidung von Sprache als langage im generischen Sinn des Wortes und im Kontrast zu den Einzelsprachen, den langues, als auch die Frage nach der Sprachkompetenz und ihrem Erwerb im 20. Jahrhundert eine besondere Stelle einnehmen. Dennoch ist die Geschichte der Philosophie selbst immer schon zugleich eine Geschichte der Sprachphilosophie, zumal es nicht erst seit Hobbes, Kant oder Hamann sondern schon seit Platon ein philosophischer Gemeinplatz ist, dass Denken im Wesentlichen ein stilles Sprechen mit sich selbst, samt einem inneren Hören ist. Platon, Kant oder Hegel interessieren sich allerdings, indem sie sich für Begriffe und nicht für Wörter interessieren, am Ende immer nur für das, was sich übersetzen lässt, also nicht für die besonderen Ausdrucksformen in Einzelsprachen. Nur in diesem Sinn haben sie als Philosophen im Unterschied zu Herder und Humboldt gerade nicht die Einzelsprachen (langues) in ihren ‚nationalen‘ Besonderheiten zum Thema gemacht.
2 Welt Auch ‚Welt‘ ist ein höchst allgemeines Wort. Die Welt ist aber kein Thema einer Weltphilosophie. Eher noch ist sie Thema der Ontologie im Sinne einer Seinsphilosophie. Und in der Tat, Philosophie als Metaphysik (oder eben Ontologie) ist in eben diesem Sinn Weltweisheit, wie Christian Wolff so schön sagt. Welt ist nur ein anderer Name für das Sein überhaupt; und das Sein überhaupt ist nur ein anderer Ausdruck für die Welt. Die Welt ist das Ganze. Als solche ist sie zunächst keinesfalls bloß meine Welt. Wittgensteins berühmt-berüchtigte Aussagen „Ich bin meine Welt“ (TLP 5.63) und dass „die Welt meine Welt ist“ (TLP 5.62) sind zwar keineswegs einfachhin falsch, aber ebensowenig unmittelbar wahr. Spinoza deutet ‚Welt‘ als ein Titelwort für alles, was es gibt. Hegel sieht, wie später auch Heidegger, dass man alles, was im Vollzug existiert, hinnehmen muss. Die Welt ist einfach das Ganze, also alles – was aber weit mehr ist, als der logische Allquantor je umfassen kann. Alle Bestimmungen sind Unterscheidungen in der Welt.Vom Ganzen her gesehen, also von der Welt her gesehen, sind alle Dinge und Geschehnisse, alle Lebewesen und auch alles, was wir als zu uns gehörig be-
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werten, am Ende selbst Unterscheidungen in der Welt. Das beginnt schon mit meinem Leib. Die Unterscheidungen aber werden immer auch von uns gemacht. Dabei ‚gibt‘ es nicht nur Dinge oder bestehende Sachverhalte, Tatsachen. Es ‚gibt‘ auch Prozesse, Ereignisse, ein Entstehen und Vergehen. Es ‚gibt‘ die Zeitlichkeit der Dinge und der Ereignisse. Und es ‚gibt‘ ihre Räumlichkeit. Daneben sind wir als Lebewesen ein Lebensverlauf mit Lebensprozessen und einer Lebenspraxis. Wir leben so neben anderen Lebewesen. Aus diesem Dasein heraus unterscheiden wir Aspekte oder Momente dieses Daseins im Dasein – wozu die räumlichen Unterscheidungen des Hier- und nicht Dortseins ebenso gehören wie die zeitlichen Unterscheidungen, nach denen etwas jetzt so ist, jetzt aber schon anders, oder ich jetzt so bin, jetzt aber schon anders bin. Wenn wir sagen, es gäbe Raum und Zeit, heißt das nicht, dass es Raum und Zeit so gibt, wie es endliche Dinge gibt. Alle endlichen Dinge entstehen und vergehen in der Zeit. Und sie nehmen einen endlichen Raum ein. Das heißt, sie sind relativ zu anderen Dingen und zu uns im Raum platziert. Woher wissen wir das? Wir wissen es, weil wir sonst nicht wüssten, wie die Dinge zu individuieren sind. Dinge gibt es nur in den Epochen, in denen es sie gibt. Das ist durchaus so, wie es Lebewesen als solche nur gibt in der Zeit, in der sie leben. Tote Lebewesen sind keine Lebewesen mehr. Und noch nicht gezeugte Lebewesen existieren noch überhaupt nicht. Unterschiede sind das, was unsere gemeinsamen Unterscheidungen festhalten können. Wir sagen in einer höheren Reflexionssprache dann auch, Unterschiede seien das, was gemeinsame Unterscheidungen möglich macht. Soweit es uns um den Weltbezug geht, sollten wir aber mit den erfolgreichen gemeinsamen Unterscheidungen und nicht mit den abstrakten, sich in unseren Unterscheidungen zeigenden, Unterschieden beginnen. Bestimmungen sind Unterscheidungen in der Welt. Das gilt für alle Bestimmungen. Und es gilt dann auch für alle Bestimmtheiten von Dingen, auch von Prozessen und Ereignissen, Sachverhalten und Tatsachen. Bestimmungen verhalten sich zu Bestimmtheiten wie Unterschiede zu Unterscheidungen. Man kann zwar mit Wittgenstein Tatsachen als das auffassen, was unsere sprachlichen Aussagen wahr macht. Aber dann beginnt man schon mit einem sehr hochstufigen Begriff der begrifflich artikulierten und satzartig ausgesprochenen Tatsache. Dem Tatsachenbegriff Wittgensteins zufolge ist die Welt und das sinnvoll Sagbare schon isomorph. Das ist am Ende nicht falsch. Aber es ist zumindest als Anfang eher irreführend. Denn wir unterscheiden und bestimmen Sachen und Dinge nicht bloß sprachlich. Nicht alles, was wir empraktisch, im Tun, unterscheiden, unterscheiden wir schon verbal, begrifflich. Es werden bei Weitem nicht alle praktischen Un-
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terscheidungen, die wir treffen, symbolisiert. Was wir verbal unterscheiden, müssen wir, wie Wittgenstein und John McDowell mit Recht sagen, schon begrifflich unterscheiden. Und das heißt, dass es in der Symbolpraxis so etwas wie gemeinsame Normen des rechten Unterscheidens und schließenden weiteren Handelns gibt, das nicht immer bloß ein Sprechhandeln des verbalen Folgerns ist oder sein kann. Soweit es nur um die Kritik falscher Aussagen geht, ist es allerdings in Ordnung, sich nur um begrifflich bestimmte und damit verbal bestimmbare Unterscheidungen zu kümmern. Aber Philosophie, auch Sprachphilosophie, ist nicht bloß Sprachkritik. Wir wollen auch die Differenz des Weltbezugs von Tier und Mensch verstehen und begreifen. Wir verstehen sie erst, wenn wir sie artikulieren können. Wir begreifen sie nur, wenn wir die Artikulationen erklären, explizit machen können. Das wiederum ist etwas ganz Anderes als die Erklärung oder Explanation einer Genese. Eine Genese zu erklären, ist normalerweise keine Explikation, sondern möchte in der Regel kausale Explanation sein. Das aber ist sie nur als Historie, als Geschichte. Denn eine Genese ist ein schon abgeschlossenes Faktum. Wir können viele Übergänge an ihr effizienzkausal erklären. Aber zumeist gibt es keine volle Explanation für das ganze Geschehen, ohne dass wir einfach sagen müssen: es ist eben so geschehen, wie es geschehen ist. Daneben gibt es eine Geschichte der Begriffe. Diese gehört zur Logik des Begriffs. Für unsere weiteren Überlegungen sind, wie gesagt, nur die Unterscheidungen von Mensch und Tier in der Welt wichtig und die Differenz zwischen den Unterscheidungen von Menschen und von Tieren. Denn auch Tiere machen Unterschiede: Sie reagieren differenziell auf die sie umgebende Welt. Die appellartige Erinnerung an diese Tatsache dient hier nur dazu, sich den Zusammenhang von Unterscheidungen im Wahrnehmen, tätigen Reagieren und Erwarten in gegenwärtigen ablaufenden Prozessen zu vergegenwärtigen. Erwartungen wiederum hängen eng zusammen mit Begehrungen. Intentionen sind nämlich schon höhere, begrifflich gefasste, Begehrungen. Und begriffliche Inferenzen sind höherstufige Erwartungen, die schon vermittelt sind durch verbale oder bildliche Repräsentationen.
3 Signalsprachen, Zeichensysteme und symbolisches Handeln Ein Zeichen zeigt etwas. Ich kann es verstehen. Man kann es deuten. Man kann es interpretieren. Man kann damit umgehen. Es gibt Erwartungen, die mit dem
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Zeichen verbunden sind. Es gibt eine Koordination von Verhalten im Ausgang von Perzeptionen. Soziale Tiere verwenden Signalsysteme. Ameisen verwenden chemische Botenstoffe. Bienen praktizieren Bienentänze zur Orientierung auf der Suche nach Futter, wie man hört. In der Koordination des jagenden Rudels der Wildhunde oder Wölfe spielt der soziale Rang oder Status des einzelnen Tieres im Pack eine gewisse Rolle. Wenn wir genau sprechen wollen, dann können wir sagen, dass Tiere allerlei Signale gebrauchen oder dass die Sprachen der Tiere Signal‘sprachen’ sind, wenn man ihnen unbedingt das Wort ‚Sprache‘ zugestehen und nicht ganz allgemein vorenthalten will. Aber trotz aller Versuche der Angleichung des sozialen Verhaltens von Ameisen an das der Menschen, wie sie zum Beispiel beim vorzüglichen Ameisenforscher E. O. Wilson zu beobachten ist, ist das Signalverhalten von Tieren kategorial verschieden vom symbolischen Sprechhandeln der Menschen. Es wird weiter unten skizzenartig der Unterschied eines bloß koordinativen Verhaltens von Lebewesen unter Gebrauch von Signalsystemen von einem symbolischen Handeln in gemeinsamen Kooperationen erläutert werden. Zunächst aber wenden wir uns dem Begriff der Zeichen in ihrem Rahmen, den zumeist komplexen Zeichensystemen, zu. Denn es ist eine extrem wichtige Einsicht, dass die syntaktischen ‚Oberflächen-‘ und auch ‚Tiefenstrukturen‘ für das Sinnverstehen von Sprache eine große sprachtechnische Bedeutung haben. Wittgenstein und Chomsky haben diese Einsicht je auf ihre Weise entwickelt und ausgedeutet. Dabei haben sie systematische Vorläufer, besonders in der griechischen Dialektik von Parmenides und Platon bis zur Logik des Aristoteles und zur griechischen Grammatikschreibung. Der tiefen Einsicht in die große Bedeutung des Formalen, der Syntax komplexer Ausdrücke oder, im Zweidimensionalen, von Diagrammen und Bildern, für die sprachliche und ikonische Repräsentation möglicher Situationstypen oder generischer Möglichkeiten steht aber leider auch eine gewisse Überschätzung des Formalen bzw. des rein Syntaktischen gegenüber. Das gilt besonders, wenn man das inferenzielle Schließen auf bloß schematische Umformungen von Sätzen reduziert. Das Ableiten gemäß rein konfigurativ-formalen Deduktionsregeln von Satzformen (Formeln) aus Satzformen, den Formelprämissen, ist nur ein Teilbereich des Schließens. Ein Paradigma dieses formalistischen Beweisens finden wir in den axiomatisch-deduktiven formalen Theorien der formalen Mathematik und formalen Logik und Mengenlehre. Diese Systeme des reinen Rechnens haben zunächst noch keinen Weltbezug. Es sind also die formalen Sprachtechniken und Schrifttechniken sowohl der von uns Menschen selbst gebrauchten, als auch von uns in Rechner implementierten Zeichensysteme ernst zu nehmen, aber nicht zu überschätzen.
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Es kommen nämlich in Sprechhandlungen mit Weltbezug selbst immer schon syntaktisch und semantisch (‚logisch‘) zusammengesetzte, in diesem Sinne komplexe Ausdrücke, Sätze und ganze Texte (logoi) vor, auch wenn wir zu ihnen immer erst durch einen Prozess der Formen-Abstraktion aus den Handlungsvollzügen gelangen. Die Ausdrücke setzen sich auf der Basis von Elementen zusammen; die Wörter aus (phonematischen) Lauten und Buchstaben, die Sätze aus (morphematischen) Grundworten und die Texte aus Sätzen. Sie lassen sich in ihrer Zusammensetzung ‚analysieren‘ und damit besser in ihrer Gebrauchsform verstehbar machen. Das passt zum griechischen Wort ‚legein‘, das sowohl ‚legen‘ als auch ‚lesen‘ bedeutet, also sowohl ein ‚Darlegen‘ und ‚Auseinanderlegen‘ als auch interpretierendes ‚Zusammenlesen‘ bzw. kommentierendes ‚Auslegen‘ erlaubt. Am Ende ist jedes ‚Vorstellen‘ dem leisen verbal planning und das Verstehen von Zeichen und Bildern dem Lesen völlig analog. Der ‚Fortschritt‘ im so genannten linguistic turn schaut daher ebenso wie der nachfolgende semiotic oder iconic turn viel größer aus, als er in Wirklichkeit ist, obgleich alle diese Wendungen als besondere Betonungen gewisser Aspekte oder Momente anzuerkennen sind. Es sind dann aber auch die Gefahren einer Überschätzung gerade der Leistungen der neuen Theorienansätze, etwa der ‚Syntaktisierung inferenzieller Bedeutung‘ in einer axiomatischen Deduktionslogik wie bei David Hilbert, Rudolf Carnap, W. V. Quine oder dann auch Noam Chomsky, nicht zu unterschätzen. Man meint allzu schnell, es ließe sich das Sprachverstehen auf das schematische Rechnen mit Ausdrücken, also auf Verfahren des schematischen Zeichengebrauchs, reduzieren. Wenn etwa Richard Montague mit anderen Protagonisten einer nicht bloß technischen ‚Künstlichen Intelligenz‘ leugnet, dass es prinzipielle Differenzen gibt zwischen den ‚Rechenfähigkeiten‘ eines Computers und der Kompetenz des Verstehens von (sprachlich artikulierbaren) Inhalten, dann hat das gravierende Folgen für die gegenwärtig in den Kognitionswissenschaften und einer vermeintlich aufgeklärten wissenschaftlichen Öffentlichkeit herrschenden Vorbeurteilungen dazu, was es überhaupt heißt, ‚vernünftig‘ oder ‚logisch‘ zu denken. In einer bloß prozessualen Verfahrenssemantik geht es bloß um das Herleiten von Formeln oder Sätzen gemäß schematischen Regeln des Deduzierens. Standardbeispiele sind die axiomatische Peano-Arithmetik oder eine axiomatische Mengentheorie wie die nach Zermelo und Fraenkel. Andere Beispiele sind Vollaxiomatisierungen in der formalen Logik oder Algebra. In einer echten Wahrheitssemantik geht es um die Geltung von Aussagen in formal wohldefinierten sortalen Gegenstandsbereichen mit ihren Standardnamen, Prädikaten, Objektvariablen und ggf. auch schon logisch komplexen Kennzeichnungen. Standardbeispiel ist das Standardmodell der natürlichen Zahlen – samt aller wahren oder falschen Aussagen über diese Zahlen. Die große und bis heute kaum erkannte
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Bedeutung dieses Standardmodells besteht darin, dass es eine universale Metazeichensprache für alle formalaxiomatischen Systeme darstellt, wie man die zentralen Ergebnisse Kurt Gödels deuten kann und muss. Nur formalaxiomatische Systeme sind rein automatisch verarbeitbar. Eine volle Semantik schon der Aussagen über die natürlichen Zahlen entzieht sich dem Zugriff des bloß schematisch Berechenbaren. Diese Tatsache wird ungern anerkannt. Man entzieht sich ihr mit dem luftigen Vorwurf, es sei reiner ‚Platonismus‘, nicht bloß in berechenbaren Zeichensystemen zu ‚rechnen‘, sondern auch im Rahmen eines vollen semantischen Gegenstandsbereichs oder Modells beweisend zu argumentieren. Dabei übersieht man, dass es eine reine petitio principii ist zu behaupten, der Mensch könne, weil sein Gehirn eine Rechenmaschine sei, nur mit berechenbaren Systemen rechnen. Von den begriffsschriftlichen Zeichensprachen oder reinen ‚Notationssystemen‘, wie Hans Julius Schneider dazu sagt, zu unterscheiden sind volle ‚Symbolsprachen‘ dadurch, dass es nur in ihrem Gebrauch, nicht im bloßen Gebrauch von reinen Zeichen- oder Formalsprachen, ein symbolisches Handeln in einem gemeinsamen Weltbezug gibt. Für die Klärung der Differenz zwischen Signalsprachen und Symbolsprachen bzw. einem kollektiven Signalbenehmen, wie es viele Tiere in unterschiedlichem Ausmaß beherrschen, und einem kooperativen symbolischen Handeln, wie es nur Menschen beherrschen, wird insbesondere eine genauere Diskussion von ‚Wittgensteins Bauleuten‘ aus dem § 2 der Philosophischen Untersuchungen wichtig werden, worauf auch Geert-Lueke Lueken immer aufmerksam macht. Denn es ist die Frage, ob die Beispiele, die Wittgenstein zu Beginn seiner Philosophischen Untersuchungen (I) in den §§ 1 und 2 vorträgt, überhaupt schon eine ‚Symbolsprache‘ in unserem Sinn sind oder nur erst eine Signalsprache. Und es fragt sich, wie komplex das zeichensprachliche Moment einer Symbolsprache sein muss, damit die Sprache eben nicht bloße Signalsprache ist. Wittgenstein schreibt bekanntlich: „1. […] Denke nun an diese Verwendung der Sprache: Ich schicke jemand einkaufen. Ich gebe ihm einen Zettel, auf diesem stehen die Zeichen: »fünf rote Äpfel«. Er trägt den Zettel zum Kaufmann; der öffnet die Lade, auf welcher das Zeichen »Äpfel« steht; dann sucht er in einer Tabelle das Wort »rot« auf und findet ihm gegenüber ein Farbmuster; nun sagt er die Reihe der Grundzahlwörter – ich nehme an, er weiß sie auswendig – bis zum Worte »fünf« und bei jedem Zahlwort nimmt er einen Apfel aus der Lade, der die Farbe des Musters hat. – So, und ähnlich, operiert man mit Worten. – »Wie weiß er aber, wo und wie er das Wort ›rot‹ nachschlagen soll und was er mit dem Wort ›fünf‹ anzufangen hat?« – Nun, ich nehme an, er handelt, wie ich es beschrieben habe.“
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Hier schiebe ich folgende Zwischenfrage ein: Warum sollte sein Benehmen ein Handeln sein und nicht bloß ein eingeübtes Verhalten? Wittgenstein selbst fährt so fort: „Die Erklärungen haben irgendwo ein Ende. – Was ist aber die Bedeutung des Wortes »fünf«? – Von einer solchen war hier gar nicht die Rede; nur davon, wie das Wort »fünf« gebraucht wird.“ (PU § 1) „2. Jener philosophische Begriff der Bedeutung ist in einer primitiven Vorstellung von der Art und Weise, wie die Sprache funktioniert, zu Hause. Man kann aber auch sagen, es sei die Vorstellung einer primitiveren Sprache als der unsern.“
Die Sprache, in der von der Bedeutung des Wortes ‚fünf‘ die Rede ist, ist weit komplizierter als die Sprache, in der das Wort ‚fünf‘ nur zum Zählen von konkreten Dingen, also als Numerale in Kontexten der Form ‚fünf Bleistifte‘ gebraucht wird. Wittgenstein fährt jetzt so fort: „Denken wir uns eine Sprache, für die die Beschreibung, wie Augustinus sie gegeben hat, stimmt: Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: »Würfel«, »Säule«, »Platte«, »Balken«. A ruft sie aus; – B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. – Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf.“ (PU § 2)
Schon Rush Rhees weiß nicht, wie das gehen soll⁷: das als vollständige Sprache auffassen. Denn es ist, wenn die Sprechpraxis der Mitspieler nichts weiter enthält, keine volle Sprache in unserem Sinn, sondern nur ein Signalsystem. Als solches verstanden, funktioniert es so ähnlich wie die Warnrufe von Vögeln oder Präriehunden oder auch die chemischen Signalsprachen der Ameisen und die Bienentänze. Damit wird aber auch klar, dass die Frage, was eine volle Sprache ist, für Wittgensteins Überlegungen zum Sprachgebrauch höchst relevant wird und dass seine Überlegungen hier trotz ihrer grundsätzlichen Bedeutsamkeit und Berühmtheit keineswegs klar und deutlich sind. Wie verwandeln wir oder verwandelt sich ein Signalverhalten in ein symbolisches Handeln? Wo endet das bloße Signalsystem und wird zu einer Symbolsprache? Wie wird es in eine solche integriert? Das sind Fragen nach einer differenziellen Anthropologie, der es um die Differenz der Form menschlicher Sprache und animalischer Kommunikationssysteme geht. Allerdings signalisiert Wittgenstein selbst, freilich auf diffuse (Rhees 1996), darin besonders „Wittgenstein’s Builders“ (71– 84); dazu auch (Malcolm 1992), Norman (Malcolm 1989) und (Gaita 1991).
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Weise, dass sowohl sein Sprachmodell als auch das hier noch nicht vorgestellte des Augustinus keine volle Sprache sind. „3. Augustinus beschreibt, könnten wir sagen, ein System der Verständigung; nur ist nicht alles, was wir Sprache nennen, dieses System. Und das muß man in so manchen Fällen sagen, wo sich die Frage erhebt: »Ist diese Darstellung brauchbar, oder unbrauchbar?« Die Antwort ist dann: »Ja, brauchbar; aber nur für dieses eng umschriebene Gebiet, nicht für das Ganze, das du darzustellen vorgabst.«“ (PU § 3)
Das Ganze einer Sprache ist offenbar weder bei Augustinus – dessen Bild wir hier übergehen – noch im Sprachspiel der Bauleute dargestellt. Wie aber wäre ein Ganzes der menschlichen Sprache überhaupt darzustellen? – Wittgenstein verfolgt allerdings (zumindest auch) wesentlich andere Interessen. Er spricht zum Beispiel von einer „Philosophischen Grammatik“ und benutzt den Ausdruck sogar als Titel für einen bestimmten Ansatz zur Sprachanalyse. Der Grundgedanke scheint dabei der folgende zu sein: Durch das Schaffen einer kritischen Distanz zum geschriebenen wie gesprochenen Wort kann und soll eine Philosophische Grammatik zum bewussteren, kontrollierteren, Gebrauch von Sprache anleiten. Es sollen dazu die Gefahren einer ungenügend hinterfragten Verwendung von Sprache an paradigmatischen Beispielen klar sichtbar gemacht und in einem möglichst deutlichen Kontrast zu einem gut funktionierenden und deswegen gerade nicht skeptisch zu befragenden oder zu verdächtigenden Sprachgebrauch unterschieden werden.
4 Kooperatives Unterscheiden in präsentischer Anschauung Der Gebrauch von signalartigen Zeichen zur Koordinierung des Verhaltens von verschiedenen Wesen in der Gegenwart unter gemeinsamer Bezugnahme (trotz aller Verschiedenheit der subjektiven Stellungen der Einzelwesen) auf ‚zuhandene‘ Dinge und laufende präsentische Prozesse ist von anderem Typ als die Repräsentation von nicht vorhandenen Möglichkeiten. Aber schon der kooperative gemeinsame Bezug auf ein vorhandenes Ding oder einen präsentischen Prozess in der Gegenwart ist anders geartet als eine bloße Koordination von Verhaltungen, die etwa dem Ziel des gemeinsamen Jagens dient wie bei Rudeltieren oder der gemeinsamen ‚Sorge‘ um den Bienen- oder Ameisenstaat. (Die Anspielungen auf Heidegger sind ersichtlich gewollt). Die Differenz der Form oder Struktur von Verhaltenskoordination und kooperativem Gemeinschaftshandeln ist nicht einfach zu erläutern. Das wird noch
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schwieriger, wo es um die methodischen Stufungen beim Spracherwerb des Menschen geht. Denn einerseits ist das menschliche Handeln überhaupt von der Fähigkeit zum Sprechhandeln abhängig. Andererseits ist das Sprechhandeln ein Handeln. Daraus folgt, dass die Erklärungslinie zirkulär zu werden droht, wenn wir nicht einfach einem behavioralen Ansatz folgen. W. V. Quine schlägt einen solchen vor, und scheinbar auch Wittgenstein, sofern man dessen Überlegungen auch behavioral lesen kann. Ein solcher Ansatz beginnt mit einem bloßen Signalverhalten und betont vielleicht die Rolle der Abrichtung des Koordinationsverhaltens. Ein kooperatives Handeln scheint dagegen schon längst ein individuelles Handeln-Können vorauszusetzen. Denn das kooperative Handeln einer WirGruppe wird üblicherweise so beschrieben, dass die Mitglieder der Gruppe (und zwar alle oder hinreichend viele) die gemeinsame Handlung ausführen möchten (ggf. mit einem gewissen Ziel). Dazu muss jeder wissen, dass die anderen dies auch intendieren. Darüber hinaus möchte jeder, dass die anderen ihre Teilaufgaben auch wirklich ausführen. Und er sieht sich selbst und die anderen als verpflichtet an, seine eigene Teilaufgabe der gemeinsamen Handlung auszuführen. Zustande kommt die gemeinsame kooperative Handlung freilich erst, wenn alle für sie nötigen Teilaufgaben handelnd erfüllt sind. Eine derartige kooperative Gemeinschaftshandlung setzt also, so scheint es, schon das intentionale Denken und Handeln der Einzelpersonen voraus. Außerdem setzt sie die Normativitäten der freien Bindung der Einzelpersonen an das jeweilige Wir des jeweiligen Gemeinschaftshandelns voraus. Diese Bindung besteht aus dem ‚Commitment‘ der Einzelperson, der Selbstverpflichtung, entsprechend mitzutun, wie sie sich häufig aus freien Versprechen ergibt. Eine bloße Verhaltens- oder dann auch Handlungskoordination dagegen kommt (weitgehend) ohne eine derartige freie Bindung und die zugehörigen ‚moralischen‘ Verpflichtungen aus. Der paradigmatische Beispielfall des koordinativen Handelns ist der Fall einer Verhaltenskonvention wie des Rechtsfahrens und Rechtsgehens: Jeder will dabei Zusammenstöße verhindern und muss nur wissen, dass die Konvention in der Region in Kraft ist; dass sie seiner Intention dienlich ist, versteht sich fast von selbst. Solche konventionellen Koordinationen funktionieren auch in einer Gruppe rationaler Egoisten. Daher ist es häufig ratsam, freie Kooperationsprobleme dadurch zu ‚lösen‘, dass wir sie in konventionelle Koordinationen verwandeln. Die Probleme des freien Kooperierens entstehen daraus, dass die einzelnen Personen zwar wissen, was die anderen tun sollten, um die gemeinsame Handlung erfolgreich auszuführen, aber nicht wissen, ob sie es auch tun werden. Denn das Tun erzeugt dabei auch Kosten und Risiken. So kann die aufgewendete Mühe umsonst sein, wenn die anderen nicht mittun. Im Koordinationsfall tun sie mit, weil es ihnen nützt. Daher kann eine Verschiebung der
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Auszahlungsmatrix durch Sanktionsdrohungen und Sanktionen ein sicheres gemeinsames Leben befördern, wie gerade das Problem der Vermeidung von Raub und Mord zeigt. Bei Hobbes führt diese Einsicht zu einer ganz richtigen Rechtfertigung der staatlichen Sanktionsmacht. Für diese braucht man übrigens keineswegs eine weitere Prämisse über eine angeblich bloß egoistische Natur des Menschen oder aller Lebewesen. Eine kooperationstheoretische Fundierung des gemeinsamen praktischen Weltbezugs und der sprachlichen Bezugnahme auf präsentische Sachen und Dinge der Gegenwart erscheint jetzt als hoffnungslos. Denn jede Gemeinsamkeit scheint das begriffliche Denken vorauszusetzen. So argumentieren gerade auch die Kritiker an den Überlegungen von Michael Tomasello zu den evolutiven und kooperationspraktischen Voraussetzungen des Spracherwerbs. Dennoch behält Tomasello im Ansatz Recht.⁸ Nur über die Gemeinsamkeit des präsentischen Weltbezugs erhalten die leicht reproduzierbaren Zeichenketten im symbolischen Handeln einen Weltbezug. Und nur über die Trennung der Produktion möglicher Repräsentationen von einem realen Gebrauch wird es möglich, sich auf nicht präsentische Möglichkeiten zu beziehen. Das Schwierige einer kooperationslogischen ‚Fundierung‘ des Sprachverstehens besteht in dem reißverschlussartigen Ineinandergreifen von schematischen Verhaltensformen, Kontrollformen und Handlungsformen. Wir lernen die Aktualisierung von Vollzugsformen, die Teil einer schon etablierten Kooperationsform sind, einfach durch Mitmachen. Das Mittun ist dabei keine Abrichtung, auch wenn es durch Lob und Tadel begleitet sein kann. Wir lernen mit dem Mittun immer auch gleich das Kontrollieren und Lehren des Tuns, wie Kinder in ihrem Verhalten und ihrer Kontrolle normativer Richtigkeiten klarerweise zeigen. Die logische Form von so einfachen Kooperationsformen wie die präsentische Deixis, das Zeigen von Richtungen und Dingen hier und jetzt, ist schon so, dass nicht bloß das Richtige zu tun ist – in die gezeigte Richtung zu sehen oder zu gehen z. B. – sondern auch noch die Zustimmung des Zeigenden zu kontrollieren ist. Schon daher ist Zeigen kein bloßes Signalverhalten, sondern schon ein symbolisches Handeln. Es bildet zusammen mit dem Nennen – von Dingen, Prozessen, Tätigkeiten – die Grundlage sprachlichen Weltbezugs. Denn mit den gemeinsamen Zuordnungen von spontan produzierten Symbolformen und sich wiederholenden Bezugsformen (Prozessen, Ereignistypen oder dann auch wesentlich substantiellen Dingen) beginnt allererst die Möglichkeit einer ‚Abbildung‘ von Welt durch Sprache, samt der kooperativen Koordination von gemeinsamen Handlungen durch Aufforderungen und der Kontrolle ihrer rechten
(Tomasello 1999), dazu auch (Tomasello 2008).
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Erfüllung. Analoges gilt für die – übrigens schon weit komplexere – gemeinsame Orientierung mit Hilfe von Diagrammen und Bildern. Dass der zentrale Schritt der Übergang von bloßen Nennungen präsentischer Unterschiede zur Benennung von möglichen Gegenständen ist, zusammen mit einer prädikativen Unterscheidung von Gegenstandsarten und Eigenschaften, ist eine uralte Einsicht von Philosophie und Sprachkunde. Das ermöglicht allererst die zweigliedrige bzw. dreigliedrige Form des Satzes in Nominalphrase, Verbalphrase und Kopula, also die Form ‚N ist / war P‘ oder ‚N hat / hatte die Eigenschaft P‘.⁹ Mit dieser Analyse der Gliederung des Satzes beginnt die Syntaktik der Satzformen, die Reflexion auf das Zeichenspiel der Ersetzung von Namen in Aussageformen. Dieses ‚Spiel‘ ermöglicht es allererst, Relationen zwischen Dingen und Ereignissen und mögliche Konstellationen symbolisch darzustellen. Die spontane Produktion von Sätzen ist es also, welche uns nicht präsentisch zuhandene bzw. vorhandene Möglichkeiten gegenwärtig machen, repräsentieren, lässt. In stiller Produktion von Sätzen oder in stiller Produktion von entsprechend substitutionell abgewandelten Bildern können wir uns ab jetzt Möglichkeiten ‚vorstellen‘, gerade indem wir sie darstellen können. Und wir können perzeptiv kontrollieren, ob eine solche Vorstellung ‚wirklich wahr‘ ist, die ‚Wirklichkeit‘ richtig abbildet, wie wir jetzt sagen. Die Kontrolle der Richtigkeit ist fundiert im Rückgriff auf präsentische Anschauung, wie gerade auch Kant in der Kritik der reinen Vernunft betont und erkennt. In der Anschauung oder eben der Gegenwart machen wir Unterscheidungen, artikulieren wir die Unterschiede in Urteilen und bewerten die Wahrheit der Urteile. Daher ist ein reines Denken des bloß Möglichen ohne Bewertung des Wirklichen in der Anschauung leer. Allerdings hätten bloße syntaktische Variationen der Sätze noch keinen ‚Inhalt‘, wenn sie nur mögliche Unterschiede von Konstellationen darstellen würden. Inhalt bekommen sie erst durch ein System begrifflichen Schließens, also durch eine gemeinsame Festsetzung dazu, was alles über die bloße Konstellation der Unterscheidung hinaus immer oder normalerweise gilt oder zu erwarten ist. Dazu verbinden wir situations- oder zeitallgemeine sprachliche oder ikonische Unterscheidungen mit Normalfallinferenzen. Erst dadurch ‚wissen‘ wir, was in einer ‚möglichen Situation‘, die sich durch gewisse Variationen von der gegenwärtigen unterscheidet, typischerweise auch noch gelten wird oder als bestehend zu erwarten ist. Dabei ist der inferenzielle Apparat keineswegs bloß auf eine formale Strukturlogik der logischen Junktoren und Quantoren zu reduzieren, also auf ‚nicht‘, ‚und‘ und ‚für alle‘, wie Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus unterstellt. Trotz Wittgensteins massiven späteren Bedenken gegen diese Vor-
Vgl. dazu auch (Rödl 2005).
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stellungen des eigenen Tractatus zum inferenziellen Gehalt und der formalen Wahrheitsbedingungensemantik als Basis allen gültigen Schließens meinen das auch noch W. V. Quine oder Donald Davidson, ja mit leichten Modifikationen (etwa bei Intuitionisten wie Paul Lorenzen oder Michael Dummett) praktisch die gesamte Sprachphilosophie. Erst die Überlegungen von Wilfrid Sellars zu den ‚materialen Inferenzen‘ und deren Auslegungen durch Robert Brandom öffnen hier neue Perspektiven. Dabei bleibt bei Sellars und Brandom aber noch unklar, was materiale Inferenzen eigentlich sind oder sein sollen. Es ist nämlich unklar, ob sie bloß kontingente Übergänge sind bzw. welche Art der Notwendigkeit, Allgemeinheit oder normativen Richtigkeit sie im Schließen, Urteilen, Erwarten und Sich-Orientieren unterstützen. Erst wenn wir empirisch-kontingente und als solche rein materiale von materialbegrifflichen ¹⁰ Inferenzen unterscheiden, kommen wir hier weiter. Und wir bemerken, dass die materialbegrifflichen Inferenzen auf der Ebene der Ausdrücke, im Symbolraum, festgesetzt, gelehrt und gelernt werden. Das führt zur nächsten Einsicht, nämlich dass diese Festsetzungen und dieses (verbale) Lernen (samt der gesamten mathesis) im Rahmen unseres gemeinsamen Wissens-, Wissenschaftsund durchaus auch pädagogischen Bildungssystems geschehen. Dieses System ist ein System der Tradition und Entwicklung generischen Wissens. Ein solches Wissen ist situationsallgemein und subjektfrei in der logischen Form des ‚man weiß‘ zu formulieren. Daher steht es in einem gewissen Kontrast zu subjektiven Wahrnehmungserkenntnissen und personalen Versicherungen der Form ‚ich weiß, dass p‘, gerade auch in informativen Sprechhandlungen über bloß empirisch-einzelne und in diesem Sinn möglicherweise rein kontingente Sachverhalte, die, wenn sie als bestehend kontrolliert sind, Tatsachen heißen. Der Grundirrtum des Empirismus in Sachen Theorienbegründung und Theorienwiderlegung besteht in der Meinung, Theorien führten unmittelbar zu Allsätzen über kontingente Sachlagen und könnten deswegen durch einzelne
Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen sprechen in Logische Propädeutik (1967: 213, 218 u. 234) gerade auch im Blick auf geometrisch wahre Sätze von materialanalytischen Aussagen. Das Wort ‚materialbegrifflich‘ soll demgegenüber die größere Flexibilität des Begrifflichen zum Ausdruck zu bringen. Wenn man zum Beispiel sagt, dass man, um von Leipzig nach Berlin zu reisen, die dazwischen liegende Elbe überqueren müsse, nimmt man schon stillschweigend an, dass der Weg über das Meer oder über Böhmens Gebirge ausgeschlossen ist. Robert Brandom nennt die zugehörige Schlussform (oder Wahrheit) ‚material‘, weil sie keine bloß formalanalytische Folge irgendwelcher rein verbalen Konventionen (wie z. B. expliziter ‚axiomatischer‘ Definitionen) ist. Sie gilt aber auch nicht bloß empirisch, aus zufälligen Gründen. In gewissem Sinn gehören die materialbegrifflichen Aussagen in eine Art Restklasse der synthetischen (nicht rein formal-analytischen) und apriorischen (nicht rein empirischen) Urteile. Zu den materialen Inferenzen vgl. (Brandom 1994: 97 ff. et passim).
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Gegenbeispiele widerlegt werden. Stattdessen definieren Theorien differenzielle und inferenzielle Symbolsysteme und werden als solche konstruiert bzw. als semantischer Sprachrahmen ‚gesetzt‘. Man muss sie dann aber immer noch angemessen, d. h. unter Gebrauch eines Filters vernünftigen und freien Urteilens auf die Einzelfälle anwenden. In eben diesem Sinn ist alle theoretische Wahrheit bloß generisch, häufig ‚ideal‘, und verlangt in der Anwendung auf die empirische Welt einen Prozess der ‚Entidealisierung‘ und ‚Entschematisierung‘ durch gute, praktisch erfahrene, Urteilskraft. Nur mit ihrer Hilfe können wir mit formalen oder generischen Theoriegebäuden als Systeme der differenziellen und inferenziellen Inhaltsbestimmung für Wörter und Sätze, auch für Diagramme und Bilder, in kooperativen Informations- und Kommunikationskontexten allgemein und gemeinsam gute Erfahrungen machen. Eine Theorie ist dabei nichts anderes als ein ausgefeiltes System von Inferenzformen, das an gewisse Differenzformen und deren sprachliche Artikulation angepasst ist. Dabei sind mathematische Theorien besonders schön insofern, als wir in ihnen eine prästabilierte Harmonie zwischen Unterscheidungskriterien bzw. dem formalen Wert des Wahren für die Sätze und zulässigen Schlussregeln herstellen (können). In genau diesem Sinn können wir in der Mathematik formal denken und schließen. Weil es zum Beispiel in der elementaren Arithmetik wahr ist, dass es zu jeder Primzahl eine größere gibt, kann man die entsprechende Aussage auch schon unabhängig von jedem konkreten Beweis als eine Art Regel verwenden: Man weiß dann schon, dass man in einer schrittweisen Suche nach der je nächsten größeren Primzahl nach endlich vielen Schritten auf eine solche stoßen wird. Weltbezogene Theorien sind nie so schön. Sie verlangen in ihren Anwendungen immer auch schon eine umfängliche Allgemeinerfahrung und Urteilskraft. Das liegt an den ceteris-paribus-Bedingungen weltbezogenen Wissens. So sind z. B. Reibungskräfte zu berücksichtigen oder viele andere ‚Ausnahmen‘ von den Idealgesetzen, die daher zu lügen scheinen, wie Nancy Cartwright (1983) so schön sagt. Noch weniger allgemein gelten die ethologischen Aussagen über das Normalverhalten und das ‚gute Leben‘ von Tierarten oder auch von Menschen. Wissenschaft erweist sich jetzt als Entwicklung des materialbegrifflichen Wissens und damit als Erweiterung unseres Zugangs zu Möglichkeiten, also auch von Freiheit. Denn die Erweiterung des Wissens über Möglichkeiten erweitert häufig auch die Möglichkeit des freien Handelns.
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5 Offene Möglichkeiten und geschlossene Wirklichkeit Möglichkeiten sind nie als vollständige Welten individuierbar. Es gibt sie immer nur als generische Möglichkeiten, also etwa so, wie man sich vorstellt, es hätte sein können, dass Cäsar nicht die römische Republik angegriffen hätte. Was dann alles anders gekommen wäre, ist damit nicht schon gesagt und keineswegs klar. Analoges gilt für zukünftige Möglichkeiten. Was alles anders sein wird oder geschehen könnte, wenn Griechenland die Drachme (oder Deutschland die D-Mark) wieder einführen und aus dem Euro aussteigen würde, ist keineswegs in allen Details vorher bestimmbar oder vorherbestimmt. Manches kann man, manches könnte man prognostizieren oder mit guten Gründen erwarten. Vieles aber kann man oder könnte man nicht prognostizieren oder wohlbegründet erwarten. Die Möglichkeiten sind offen, nicht nur dadurch, dass man sie als bloß partiell bestimmt immer weiter sprachlich ausmalen kann, sondern auch dadurch, dass sie nicht, wie die Wirklichkeit der Gegenwart als Folge der Vergangenheit, ‚eindeutig‘ bestimmt sind, unabhängig davon, was wir alles über diese Wirklichkeit und ihre Vergangenheit wissen. In genau diesem Sinn sind Wirklichkeit und Vergangenheit gemeinsam ‚Wahrmacher‘ für Kenntnisansprüche über schon bestehende oder vergangene Zustände, Ereignisse, Geschehnisse oder Prozesse, also für die entsprechenden Aussagen, sofern diese als Konstatierungen semantisch schon auf ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ bestimmt sind. Es ist dann aber nur eine modellierungstechnische und damit rein metaphorische façon de parler, wenn man ‚mögliche Welten‘ als Wahrmacher für Möglichkeitsaussagen ansieht: Näher bestimmbar sind diese ‚Welten‘ nämlich nicht anders als durch die Sätze, welche die intendierten Möglichkeiten grob umreißen. Das Wahre im Sinn der wahren Aussagen über das Wirkliche oder die Wirklichkeit ist in gewissem Sinn zeitlos, besser zeitallgemein.Wenn also eine Aussage p sagt, was wirklich wahr ist, dann ist der zugehörige Gedanke ‚immer‘ wahr.¹¹ Das gilt in modifizierter Form durchaus auch für die ohnehin zeitallgemein gemeinten generischen Aussagen. Diese sind ja als Artikulationen allgemeiner Inhaltsbestimmungen in der Form materialbegrifflicher Inferenzen oder Normalfallerwartungen zu begreifen. Deren Wahrheit aber hat dann doch auch eine
Hier komme ich den Thesen von S. Rödl sehr nah, der in seinem Buch Selbstbewusstsein sagt, es gäbe „keine Zeit, zu der es richtig wäre zu glauben, dass dies und das der Fall ist; es gibt keine Zeit, zu der etwas wahr ist“ (2011: 11); ich würde aber gerne ergänzen: sofern die betreffende Aussage im Sinne eines Gedankens über die bestehende Wirklichkeit schon als wahr gelten kann.
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Geschichte, die Geschichte der Entwicklung der Begriffe durch die Wissenschaften. Es ist daher gerade das allgemeine, generische, Wissen der Wissenschaften in einem gewissen Sinn nur theorie-intern wahr, vermöge der Setzung (oder besser Gesetztheit) der Inhalte durch den anerkannten Begriffsrahmen. Wir machen insgesamt gute Erfahrungen mit diesen Setzungen. Ihre Entwicklung besteht in der fortschreitenden Anpassung von Normalfallinferenzen an begriffliche Unterscheidungen bzw. der Unterscheidungen an die inferenziellen Begriffskomponenten. Insbesondere am Beispiel von Dispositionsbegriffen erkennen wir die Rolle von Inferenzen. So ist z. B. Salz wasserlöslich, löst sich aber nur, wenn die Lösung nicht schon gesättigt ist. Die üblichen Zugänge zur Erklärung des Verhältnisses von Sprache und Welt sind, wie wir sehen, schon deswegen zu einfach, weil sie die Probleme der Anpassung der (dispositionellen) Inferenzkomponenten eines Begriffs an die Differenzierungskriterien (und umgekehrt) unterschätzen. Obgleich Wittgenstein schon im Tractatus sieht, dass das Schließen wichtig ist, ist auch noch sein Bild von einer Übereinstimmung von Satz und Welt bloß in Bezug auf eine Abbildung des Vergangenen und Präsentischen anwendbar. Der Bereich der sprachlichen Darstellung von Möglichkeiten aber bleibt unklar, solange man nicht auch auf das materialbegriffliche Schließen achtet. Dazu ist der besondere Status der entsprechenden materialen aber doch auch inhaltsbestimmenden Defaultformen des erlaubten Normalfallschließens oder der Normalfallerwartungen auf der Seite des Hörers einer Sprechhandlung und der spiegelbildlichen Verantwortung des Sprechers in Bezug auf die Erlaubtheit der Anwendbarkeit dieser Inferenzen zu begreifen. Möglichkeiten werden praktisch nur so artikulierbar bzw. repräsentierbar.
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Bertram, Georg 2011: Sprachphilosophie zur Einführung, Hamburg. Brandom, Robert 1994: Making it Explicit, Cambridge, Mass.; (dt. als: Expressive Vernunft, Frankfurt a. M. 2000). Cartwright, Nancy 1983: How the Laws of Physics Lie, Oxford. Gaita, Raimond 1991: Language and Conversation: Wittgenstein’s Builders, in: Griffiths, A. Phillips (Hg.): Wittgenstein’s Centenary Essays, Cambridge, S. 101 – 115.
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Kamlah, Wilhelm / Lorenzen, Paul 1967: Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Mannheim. Krallmann, Dieter / Ziemann, Andreas 2001: Die Informationstheorie von Claude E. Shannon, in: dies.: Grundkurs Kommunikationswissenschaft, München, S. 21 – 34. Malcom, Norman 1989: Language game (2), in: Phillips, Dewi Z. / Winch, Peter (Hg.): Wittgenstein: Attention to Particulars, London, S. 35 – 44. Malcom, Norman 1992: Language without Conversation, in: Philosophical Investigations 15/3, S. 207 – 214. Noë, Alva 2004: Action in Perception, Cambridge, Mass. Rhees, Rush 1996: Discussions of Wittgenstein, Bristol. Rödl, Sebastian 2005: Kategorien des Zeitlichen, Frankfurt a. M. Rödl, Sebastian 2011: Selbstbewusstsein, Frankfurt a. M. Shannon, Claude E. / Weaver, Warren 1949: The mathematical theory of communication, Urbana, Illinois. Stekeler-Weithofer, Pirmin 2006: Grundthemen Philosophie: Philosophiegeschichte, Berlin. Tomasello, Michael 1999: The cultural origins of human cognition, Cambridge, Mass. Tomasello, Michael 2008: Origins of human communication, Cambridge, Mass. Welsch, Wolfgang 2012: Mensch und Welt. Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie, München. Wittgenstein, Ludwig 1984a: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., S. 225 – 580; [PU]. Wittgenstein, Ludwig 1984b: Tractatus logico-philosophicus, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., S. 7 – 85; [TLP]. Zhou, Hong 2011: Laws and Skills. An Inferential Diagnosis and Defense, unv. Dissertation, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Günter Abel
Sprachphilosophie als Zweig der Zeichenund Interpretationsphilosophie Replik zum Beitrag von Pirmin Stekeler-Weithofer Der Beitrag von Pirmin Stekeler-Weithofer macht sich, wie er darlegt, die Leitfragen der allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] zu eigen. Er liefert eine ausgezeichnete Charakterisierung des Programms der ZuI-Philosophie. Einige von deren wichtigsten strategischen Punkten werden von Stekeler überaus trefflich markiert und pointiert zusammengefasst. Seinen Beitrag verstehe ich als eine Vergegenwärtigung, Erläuterung und Präzisierung zentraler Perspektiven und Aspekte der ZuI-Philosophie vor allem im Teilbereich Sprachphilosophie. Der Wert von Stekelers Abhandlung liegt (a) in dieser spezifischen Konzentration auf den Teilbereich Sprachphilosophie, (b) in der Betonung der ‚kooperationslogischen Grundlagen‘ der Verständigungsprozesse und (c) in der Betonung der Rolle der Möglichkeiten, mithin der modalen Dimension des Verwendens und Verstehens sprachlicher Ausdrücke, in der Kommunikation von Menschen (im Unterschied zu Signalsystemen der Tiere). Was die in der ZuI-Philosophie leitenden Begriffe des ‚Zeichens‘ und der ‚Interpretation‘ angeht, so begrenzen sich die Überlegungen Stekelers bewusst auf den Bereich des jeweils engen Verständnisses von Zeichen und Interpretation, des näheren von systemischen Zeichen und auslegendem Verstehen. In Stekelers Beitrag geht es daher nicht um die beiden in der ZuI-Philosophie insgesamt fundamentaleren Gesichtspunkte, nämlich (a) nicht um die prädikative Stellung der Rede von Zeichen und Interpretation sowie von zeichen-interpretativ im Sinne der basalen Charakterisierung eines jeden menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses/-verhältnisses und (b) nicht um den weiten und in jedem menschlichen Empfinden, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln bereits vorausgesetzten und in Anspruch genommenen Sinn der Rede von Zeichen und Interpretation (unter Einschluss der zentralen Rolle der jeweiligen ZuI-Praxis mit stets bereits intern verschränkter Zusammengehörigkeit von Zeichen und Interpretation). In der ZuI-Philosophie wird die Sprachphilosophie als ein Zweig der Zeichenund Interpretationsphilosophie angesehen, nicht umgekehrt. In dem spezifischen Teilbereich Sprachphilosophie jedoch liefert Stekeler ganz im Sinne der ZuI-Philosophie nicht nur wichtige Erläuterungen in Sachfragen, sondern auch eigenständige Erweiterungen, wie insbesondere in puncto Modalität/Möglichkeiten und kooperative Grundlagen menschlicher Kommunikation. Innerhalb des skizhttps://doi.org/10.1515/9783110522280-015
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ziert gemeinsamen Rahmens sehe ich dann aber an einer Reihe von Stellen auch Anlass zu produktiver Fortführung der Diskussion.
1 Zeichen-Systeme und Zeichen- und Interpretations-Verhältnisse Thema der Sprachphilosophie hat Stekeler zufolge die „Klärung der Differenzen“ zu sein zwischen „Signalsprachen“, „Zeichensystemen“ und „vollen symbolischen Handlungen“ (Stekeler-Weithofer-Beitrag, Einleitung). Diese Unterscheidung halte auch ich in der Tat für sehr wichtig. Dabei stimmen Stekeler und ich in puncto Signalisierung und symbolische Handlung weitgehend überein. In Sachen ‚Zeichensysteme‘ muss allerdings die für die ZuI-Philosophie wichtige Erweiterung solcher Rede hervorgehoben werden: ich meine den Übergang in der Rede von Zeichensystemen (im engen Sinne von Notationssystemen) zu Zeichen- und Interpretations-Verhältnissen im weiten Sinne. Unter ‚Signalisierung‘ versteht Stekeler den Austausch von Signalen, mittels derer das Verhalten zwischen Signalgeber und Signalnehmer koordiniert wird. Tiere sind für ihn auf diesen Typus von Zeichen begrenzt. Stekelers Verständnis von Zeichensystemen ist deutlich enger gefasst als in der allgemeinen ZuI-Philosophie. Stekeler hat formale Sprachen vor Augen, des näheren die „Formalsprachen“ oder die „Begriffssprachen“ der Mathematik und Informatik bis hin zu den „Maschinensprachen“ der Informatik. In diesen Sprachen geht es um „syntaktisch und formalsemantisch komplexe Zusammenlegungen von Items, den jeweiligen Grundzeichen des Systems“ (Einleitung). Zu dieser Akzentuierung der Rede von Zeichensystemen möchte ich die folgenden Aspekte anmerken: (a) Ohne Frage sind formale Sprachen Gegenstand auch der ZuI-Philosophie. Deren Hauptaugenmerk ist jedoch auf natürliche/normale Sprachen gerichtet – mit der Zusatzannahme freilich, dass erstere genealogisch aus letzteren abgeleitet werden können, nicht umgekehrt. Formale Zeichensysteme/Sprachen (im Sinne von Notationssystemen) sind durch definierte Regeln der Konstruktionen und Zusammenschlüsse von Items gekennzeichnet. So wird in der Mathematik zum Beispiel der Begriff des Kreises als die Menge aller Punkte einer Ebene definiert, die einen konstanten Abstand (Radius) zu einem gegebenen Mittelpunkt haben. In natürlichen Sprachen dagegen werden die Begriffe und Bedeutungen nicht definitorisch konstruiert.Vielmehr werden – mit der schönen Formulierung Kants gesprochen – ‚gegebene Begriffe deutlich gemacht‘. In der ZuI-Philosophie sind die konstruktionale ebenso wie die natürliche Bedeutung gegebener Zeichen
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zentrales Thema. Stekelers Überlegungen beziehen sich vornehmlich auf den formalen und engen Sinn solcher Rede. (b) Angemerkt sei, dass der genannten Engführung der Problematik in Stekelers Perspektive komplementär seine Engführung im Verständnis der Rede von Interpretationsphilosophie entspricht, die er als „eine Philosophie des Verstehens“ ansieht und sie als solche als „zentrale[n] Bestandteil einer Philosophie des Geistes“ einordnet (Kap. 1). Demgegenüber ist für die ZuI-Philosophie natürlich gerade charakteristisch, dass in ihr eine Fokussierung auf die produktive und keineswegs nur rezeptive ZuI-Natur eines jeden Sprechens, Denkens, Wahrnehmens und Handelns vorgenommen wird, die natürlich dazu führt, dass die ZuIPhilosophie nicht ein Zweig der Philosophie des Geistes oder der Sprache wird, sondern umgekehrt Philosophie des Geistes, der Sprache, der Wahrnehmung und des Handelns als Zweige der ZuI-Philosophie zu entfalten sind. Mit dieser Änderung der Gesamtperspektive ist dann auch das Desiderat verbunden, die genannten Teilbereiche nicht mehr gegeneinander isoliert, sondern in ihrer internen Verschränkung zu thematisieren. (c) Nachdrücklich unterstreichen möchte ich Stekelers wichtigen Punkt, dass bereits auf der Ebene des genannt engen Sinns von Zeichensystemen der Unterschied zwischen einer „bloß prozessualen Verfahrenssemantik“ und einer „echten Gebrauchssemantik“ in der Regel vernachlässigt wird (Einleitung). Stekeler markiert diesen Punkt mittels des trefflichen Hinweises, dass ein „Gebrauch“ von Zeichen im Sinne einer Verfahrenssemantik nicht einfach bloß ein Prozess, sondern stets bereits eine „kooperative Handlung“ ist (ebd.). Hinzu kommt der kardinale Punkt, dass Systeme bloß formalsprachlicher bzw. rein syntaktischer Zeichen sowie der syntaktischen Umformungen von Sätzen natürlich noch keinen „Weltbezug“ (Kap. 3) verkörpern. Die formale Verfahrenslogik/-semantik im Sinne der Manipulation und Umformung von Zeichenketten sagt buchstäblich nichts. Sie ist die Lehre vom formal korrekten prämissenfolgernden Schließen. Sie will daher auch gar nichts sagen über z. B. die Welt und unsere Erfahrungen. Diese Punkte sind auch in der ZuI-Philosophie von grundlegender Relevanz. Daher stimme ich ausdrücklich den Ausführungen Stekelers zu in puncto „Gefahren einer Überschätzung“ der „Syntaktisierung inferenzieller Bedeutung“ in einer „axiomatischen Deduktionslogik“ wie Stekeler sie bei David Hilbert, Rudolf Carnap, W. V. Quine, Richard Montague und vielen anderen sieht (Kap. 3). Stekeler trifft eine Grundauffassung der ZuI-Philosophie, wenn er betont, dass sich das Sprach- und Zeichenverstehen nicht auf formale und computational schematisierende Verfahren des Zeichengebrauchs reduzieren lässt. In der ZuIPhilosophie wird immer wieder betont, dass sowohl das ZuI-Verstehen als auch bereits das ZuI-Verwenden kein axiomatisierbarer, kein kalkülisierbarer und kein algorithmisierbarer Vorgang ist. Dieser Punkt ist von zentraler Relevanz, nicht
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zuletzt auch deshalb, weil von ihm abhängt, was wir überhaupt bereit sind, als vernünftiges und rationales Denken anzusehen.¹ Zugespitzt formuliert gilt: Denken ist nicht einfach Rechnen. Ich möchte die über Stekelers wichtigen Punkt noch hinausgehende These vertreten, dass letztlich die Gebrauchssemantik der Sprache und Zeichen (in deren weitem und in der ZuI-Philosophie basal angesetzten Sinne) die genealogische Grundlage auch einer erfolgreichen formal schematischen Verfahrenssemantik ist, nicht umgekehrt. Und ich möchte hier noch an eine weitere These erinnern, die für die ZuI-Philosophie kennzeichnend ist: Es reicht für eine zufriedenstellende Beschreibung des Zeichengebrauchs, aufgefasst als Zeichenhandlung, nicht aus, eine bloß syntaktische und formalsemantische Betrachtung durchzuführen, um von dieser her dann zu den Ebenen der Semantik und der Pragmatik zu gelangen. Bereits der erste Schritt einer solchen rein syntaktischen Betrachtung, mithin bereits die erste syntaktische Unterscheidung selbst wird in der ZuI-Philosophie als eine zeichen-interpretative Unterscheidung, als das Legen eines ZuI-Schnittes in zunächst ungegliedert und kontinuierlich verfasste Verhältnisse, als ein ZuIAkt, als eine Handlung zeichen-interpretativen Charakters, als eine ZuI-Handlung verstanden. Das schließt die These ein, dass jeder syntax-bezogene Ansatz einer Zeichentheorie stets bereits zeichen-interpretative (und quasi Dedekindsche) Schnitte, mithin ZuI-Verhältnisse voraussetzt und in Anspruch nimmt. Und ganz offen liegen diese ZuI-Verhältnisse natürlich von dem Moment an zutage, wo es innerhalb der triangulären Verhältnisse von Ich-Wir-Welt um die semantische und pragmatische Dimension, mithin um die mit symbolisierender Kraft versehenen Zeichen sprachlicher wie nicht-sprachlicher Art und darin ineins um den in dieser symbolisierenden Kraft intern vorausgesetzten und mit anderen Personen geteilten Weltbezug und das in den damit gegebenen Kontexten und triangulären Umgebungen erfolgende Handeln geht, das bei Stekeler mit Hilfe des Ausdrucks „symbolische[s] Handeln in gemeinsamen Kooperationen“ (Kap. 3) adressiert und hervorgehoben wird. (d) Im Zuge des skizzierten Unterschieds zwischen formalem und natürlichem ZuI-Gebrauch möchte ich eine Unterscheidung einführen zwischen der Rede von ‚Zeichensystemen‘ und ‚ZuI-Verhältnissen/Handlungen‘. Wittgenstein folgend möchte ich betonen, dass die Praxis des Gebrauchs von natürlichen/normalen Wörtern, Zeichen und Interpretationen nicht als ein kalkülmäßiger und nicht als ein algorithmisierbarer Prozess mit dem idealisierten Grenzfall einer Axiomatisierung verstanden und behandelt werden kann. In dieser Praxis geht es nicht einfach bloß um den ‚Gebrauch‘ (der immer noch verfahrenstechnisch verstanden
So trefflich gesehen von Stekeler-Weithofer (Kap. 3); vgl. dazu ausführlich (Abel 1997 u. 2016).
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werden könnte). Es geht um die ‚Praxis des Gebrauchs‘, mithin, so akzentuiert die ZuI-Philosophie, um die ZuI-Funktionen in der ZuI-Praxis, und zwar beides (Funktion und Praxis) hinsichtlich der triangulären Verhältnisse der menschlichen Ich-Wir-Welt-Verhältnisse. Der flüssige und im Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln anschlussfähige Gebrauch von Zeichen und Interpretationen kann nicht als die Applikation eines ‚Systems‘ grundlegender und dann zu kombinierender Items dieses Systems beschrieben und verstanden werden. In diesem Sinne gilt: Streng genommen können weder Sprache noch Zeichen und Interpretationen als ein System, sondern müssen als eine Praxis des Gebrauchs der Zeichen und Interpretationen verstanden und rekonstruiert werden. Der weite Sinn der Rede von Sprache, Zeichen und Interpretation schließt jedoch nicht aus, sondern ein, dass in einer erfolgreichen Praxis des Gebrauchs auch systemische Komponenten eine Rolle spielen. Aber sie sind nicht die einzigen und vor allem nicht die grundlegenden Komponenten. Systemische Komponenten sind abgeleiteter bzw. sekundärer, nicht direkter bzw. primärer Natur. Das manifestiert sich teils in den formalen Zeichensystemen der Mathematik und Logik selbst. Wer in die Praxis des Gebrauchs eines formalen Zeichensystems eingeübt ist, vollzieht die entsprechenden operativen Zusammenlegungen von Items und die Übergänge von Zeichen zu Zeichen direkt, d. h. ohne dazu eines epistemischen Vermittlers bzw. eines Zwischenschrittes zunächst in die (axiomatisierte) Systemstruktur und von dort aus dann inferentiell in den Folgezustand zu bedürfen. (e) Am Rande sei angemerkt, dass der Unterschied zwischen Zeichensystemen und ZuI-Verhältnissen und des näheren ZuI-Handlungen auch einen Unterschied zwischen der ZuI-Philosophie und der allgemeinen Symboltheorie Nelson Goodmans markiert. Goodman – dem ich in Sachen ZuI-Philosophie so viel verdanke und dem ich auch persönlich so eng verbunden sein durfte – hat primär Zeichensysteme vor Augen. Demgegenüber möchte ich den Akzent stärker auf die tatsächlichen lebendigen Vollzüge von ZuI-Prozessen durch lebendige und handelnde Personen und in lebendigen Zeichen- und Interpretations-Gemeinschaften in den Vordergrund der Betrachtung rücken. Zeichensysteme allein und nur für sich handeln nicht. Die Zeichen und Interpretationen leben allein in der Praxis ihres Gebrauchs und ihrer Umgebungen. Sind diese nicht gegeben und am Werke, handelt es sich um gleichsam ‚tote‘ Zeichen. Hinzu kommt in diesem Zusammenhang der weitere Befund, dass die unterschiedlichen ZuI-Weisen und ZuI-Arten (wie zum Beispiel Wörter, Bilder, Klänge, Diagramme, Gesten) in unseren tatsächlichen Erfahrungen nicht trennscharf gegeneinander isoliert vorkommen. Sie sind in den situations- und umgebungs-gebundenen Phänomenen, Prozessen und Zuständen in immer schon amalgamierter Form wirksam.
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2 Wirklichkeiten und Möglichkeiten Stekelers Betonung des für Menschen charakteristischen Vorgriffs auf Möglichkeiten ist in zwei unterschiedlichen Kontexten zu sehen. Zum einen im Kontext der These, dass Menschen durch die Sprache einen „besonderen Zugang zu Welt und Wirklichkeit erhalten“ (Einleitung). Sie steht zum anderen aber und zugleich im Rahmen der ihn besonders interessierenden Unterscheidung von Mensch und Tier. Tiere, so seine These, leben „in der Gegenwart“ und haben, „keinen Zugang zu nicht gegenwärtigen Möglichkeiten“ (ebd.). Menschen dagegen, und das ist der für Stekeler zentrale Punkt, „leben in einem Möglichkeitsraum“ (ebd.). Ich erwähne diesen Bezug auf das Mensch-Tier-Verhältnis hier deshalb, weil durch diesen Rahmen, so scheint es mir jedenfalls, die Behandlung des Themas ‚Möglichkeit‘ und damit auch die in der ZuI-Philosophie ebenfalls zentrale Frage des Verhältnisses von Wirklichkeit und Möglichkeit auf eine bestimmte Weise formatiert und teilsweise auch eingegrenzt wird. In Bezug auf dieses Verhältnis möchte ich die Akzente in den folgenden Hinsichten anders setzen als Stekeler: (a) Zunächst ist zu betonen, dass die ZuI-Philosophie hinsichtlich des Verhältnisses von Wirklichkeit und Möglichkeit stärker auf die Seite der Wirklichkeit fokussiert ist.² Dabei wird zunächst betont, dass Wirklichkeit stets Wirklichkeitnach-Menschenmaß, mithin Wirklichkeit der finiten und finitisierenden Geister ist. Sodann möchte ich ‚Wirklichkeit‘ vor allem im Sinne von Erfahrung verstehen. Wir können die beiden Wörter zusammenziehen und auf diese Weise eine Pointe der ZuI-philosophischen Rede von Wirklichkeit gut markieren und von Erfahrungswirklichkeit sprechen. Erfahrungswirklichkeit meint weder die psychologischen Innenzustände (Psyche) eines Subjekts noch die (von der Physik beschriebene) physikalische Außenrealität der Umwelt und des Universums. Erfahrungswirklichkeit bezeichnet die Wirklichkeit, in der wir als Menschen leben, auf die wir uns verstehen und in der wir uns orientieren können bzw. stets bereits schon orientiert sind. Die auf diese Weise gegebene Bindung der Wirklichkeit an die epistemische Situation der Menschen schließt die Einsicht ein, dass gänzlich zeichen- und interpretations-unabhängige Wirklichkeit unter kritischem Vorzeichen nicht konzipierbar ist. (b) Wird ‚Wirklichkeit‘ im Sinne einer Modalität verstanden (was ich für einen überaus wichtigen Gesichtspunkt halte), dann betrifft sie in der ZuI-Philosophie die Aktualität im Sinne des Wirksamseins bzw. des Wirksamgewordenseins im Unterschied zu (i) bloß logischen Possibilitäten im Sinne von logischen Alternativen und zu (ii) bloßen Potentialitäten im Sinne des Nicht- oder Noch-nicht Vgl. dazu und zum Folgenden (ZdW 25 – 27).
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Wirklichem. Entsprechend geht es in Sachen Wirklichkeit auf der Ebene der expliziten sprachlichen Urteile und der urteilsgrammatischen Berichte vor allem um die assertorischen Urteile, in denen etwas als wirklich behauptet wird (nicht jedoch um die problematischen Urteile, in denen etwas nur als möglich angesehen wird, und auch nicht um die apodiktischen Urteile, in denen Sachverhalte als notwendig dargestellt werden). (c) Insofern im Denken Wirklichkeit vorgestellt, bestimmt, erkannt wird, geht es im Denken im Kern um das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit. Denken im engeren urteilsgrammatischen Sinne bewegt sich in Begriffen. Fasst man nun aber, was ich explizit tue, Begriffe als Zeichen auf, die in einer bestimmten Weise verwendet werden, fasst man Denken mithin als einen Vorgang in Zeichen und Interpretationen auf, dann wird nicht nur die zentrale Stellung der Wirklichkeit – und damit auch ein noch zu explizierender Vorrang des Wirklichen vor dem Möglichen – für jedes auf das Triangel von Ich-Wir-Welt bezogene Denken deutlich. Deutlich werden auch der innere Zusammenhang zwischen dem ‚Denken der Wirklichkeit‘ und den ‚Zeichen der Wirklichkeit‘ ebenso wie die Einsicht, dass die ZuI-Philosophie als eine zu den Strukturen unserer Erfahrungswirklichkeit affine bzw. wahlverwandte Form des Philosophierens angesehen werden kann. (d) Aus Sicht der ZuI-Philosophie ist das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit dadurch gekennzeichnet, dass Möglichkeiten in einem gewissen Sinne als synkategorematisch zu Wirklichkeiten verstanden werden können, nicht umgekehrt.³ An diesem Punkt besteht ein deutlicher Unterschied zur Auffassung Stekelers, der hervorhebt, dass Menschen „in einem Möglichkeitsraum [leben]“, und dann fortfährt: „Das Wirkliche wird dabei auf eine gewisse Weise aus diesem Raum gewählt.Wirklichkeit ist eine Möglichkeit, die wir als bestehend bewerten.“ (Einleitung) Mit der These, dass der Möglichkeitsraum eine überaus wichtige Rolle spielt, stimme ich überein. Nicht einverstanden bin ich dagegen mit dem Hintergrundbild, dass es gleichsam ein Vorab-Reich fertiger und auf ihre Realisierung wartender, sozusagen vorab gegebener ready-made Möglichkeiten gibt, aus welchem Reich dann einige der Möglichkeiten ausgewählt und verwirklicht werden. Zwar möchte Stekeler selbst durchaus nicht von „möglichen Welten“ (ebd.) sprechen. Aber mit solcher Abwehr möchte er letztlich bloß die Rede von einer Pluralität von Welten abwehren, gegen die er sich ausspricht. Es bleibt der Punkt, dass in seiner Sicht das Reich der Möglichkeiten konstitutiven Vorrang vor der Wirklichkeit hat. Wirklichkeiten werden aus dem Reich der Mit der Einschränkung ‚in einem gewissen Sinne‘ möchte ich zum Ausdruck bringen, dass ich den Ausdruck ‚synkategorematisch‘ hier nicht in seinem engen Sinne verstehe, dem zufolge Ausdrücke wie ‚und‘, ‚alle‘ oder ‚einige‘ für sich allein keine Bedeutung haben, sondern diese immer erst als Bestandteile komplexer Ausdrücke erhalten.
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Möglichkeiten her gedacht, nicht umgekehrt. Die ZuI-Philosophie reformuliert die hohe Bedeutung der Möglichkeiten auf andere Weise. In der ZuI-Philosophie geht es nicht um die Auswahl aus einem Reich der Möglichkeiten, aus der dann eine Wirklichkeit zustande gebracht wird. Vielmehr geht es darum, dass im Zuge der für die epistemische Situation endlicher Menschen charakteristischen und basal kategorialisierenden, individuierenden und raum-zeitlich lokalisierenden ZuIPraktiken intern zugleich Möglichkeitsräume eröffnet werden. Der Vektor ist also bei mir anders als bei Stekeler: nicht von Möglichkeiten auf Wirklichkeiten, sondern von Wirklichkeiten auf Möglichkeiten. Möglichkeiten sind nicht einfach ready-made vorab fertig da.Vielmehr werden sie, so die These, im Verwenden und Verstehen der Zeichen und Interpretationen erst eröffnet und in diesem drehtürartigen Sinne erst ‚geschaffen‘. Anderenfalls wären sie leblose, gleichsam tote Möglichkeiten, mithin für uns endliche Geister keine wirklichen Möglichkeiten. Mit diesen Formulierungen möchte ich das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit aus dem Würgegriff der Dichtomie von Konstruieren und Aufdecken herausholen. Möglichkeiten werden weder einfach aufgedeckt noch bloß konstruiert. Sie sind vielmehr auf der Innenseite unserer ZuI-Praxis und sinnkritischer Weise stets mit im Spiel. Gerade der finitisierende Gebrauch der Zeichen und Interpretationen enthält ineins ein transzendierendes Element und führt vor Augen, dass andere Möglichkeiten bestehen und dass wir unsere Wirklichkeiten mit anderen Möglichkeiten verbinden und umstellen können, was dazu führen würde, dass sie sich anders ausnehmen. Ich vermute, dass Stekeler einer solchen Sichtweise durchaus zustimmen könnte. Diese Vermutung stützt sich auf die beiden von ihm betonten Gesichtspunkte, dass (i) die Rede von „möglichen Welten“ und korreliert von „possible world semantics“ nicht zufriedenstellend sei und dass (ii) Möglichkeiten „immer nur durch symbolische, vorzugsweise sprachliche, Vermittlung zugänglich sind“ (Einleitung). An erster Rede stört Stekeler jedoch vor allem die Pluralität (die ich meinerseits ganz in Ordnung finde), und in Bezug auf die zweite Rede möchte ich das Reich der Möglichkeiten nicht nur durch sprachliche Vermittlung für zugänglich, sondern die Möglichkeiten in dem skizzierten Sinne von den Wirklichkeiten auch als synkategorematisch ansehen. Am Rande sei erwähnt, dass ich die Möglichkeit, sinnvoll von einer Pluralität der ZuI-Welten zu sprechen, nicht zuletzt im Zuge der oben skizzierten Überlegung gewinne: Jede spezifisch kategorialisierende, individuierende, raum-zeitlich lokalisierende und klassifizierende Zeichen- und Interpretations-Verwendung eröffnet die Möglichkeit, dass genau diese finitisierenden Leistungen der ZuI-Praxis jederzeit kontingent bleiben und im Prinzip auch anders ausfallen könnten. Mein Plurale-Welten-Argument (vgl. meine Repliken zu Andrzej Przylebski und Logi Gunnarsson) stützt sich also nicht primär auf die Argumentation von Nelson
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Goodman. Goodman zufolge ist es vernünftig, von zwei (und mehreren) unterschiedlichen Welten auszugehen, sobald wir es mit zwei (oder mehreren) unvereinbaren und kontradiktorischen ‚Welt-Versionen‘ zu tun haben. Mein Argument zieht seine Kraft vielmehr aus der Natur der für Menschen charakteristischen und finitisierenden ZuI-Verwendung selbst. (e) Unter dem Titel Zeichen der Wirklichkeit (und erklärtermaßen nicht ‚Zeichen der Möglichkeit‘ und auch nicht ‚Sprache und Wirklichkeit‘) wird in der ZuIPhilosophie eine Erweiterung der Betrachtungsweise über die urteilsgrammatische Sprache und überhaupt über sprachliche Zeichen hinaus in den Bereich der nicht-sprachlichen Zeichen vorgenommen. Dies schließt die These ein (die vermutlich auch Stekeler unterschreiben könnte), dass auch andere als die sprachlichen Zeichenformen, etwa bildliche, musikalische, audio-visuelle oder piktoriale Zeichen, nicht nur einen genuinen Bezug zur Wirklichkeit haben, sondern konstitutiv mit in das involviert sind, was ich Erfahrungswirklichkeit genannt habe. Mitunter kann den nicht-sprachlichen Zeichen sogar ein Vorrang vor sprachlichen und urteilsgrammatisch gedanklichen Zeichen zukommen. Entscheidend ist hier, dass keine Argumente in Sicht sind, die Frage des Wirklichkeitsbezugs und der Erfahrungswirklichkeit auf die sprachlichen Zeichen und auf sprachliche Repräsentation zu begrenzen. Die Erweiterung der Betrachtung in den Bereich der nicht-sprachlichen Zeichen und Interpretationen stellt daher einen wichtigen Schritt in puncto Wirklichkeitsverständnis dar. Die allgemeine ZuIPhilosophie nimmt ihren Ausgang von dieser Erweiterung. (f) In Bezug auf die nicht-sprachliche Wahrnehmung (die im Rahmen unserer Erfahrungswirklichkeit eine zentrale Rolle spielt) ist mir die Unterscheidung wichtig zwischen sinnlichen Aktivitäten wie etwa dem (noch nicht epistemischen) Sehen und der (ausdrücklichen) Wahrnehmung im Sinne einer bereits auch begrifflich imprägnierten Aktivität. Das Sehen ist noch relativ unschuldigerer Natur als die Wahrnehmung. So verwundert auch nicht, dass es in Bezug auf die Wahrnehmung weitaus heftigere Streitigkeiten als hinsichtlich des Sehens gibt. Aussagen wie ‚Ich sehe einen Stuhl‘ werden direkt verstanden, während die Aussage ‚Ich nehme einen Stuhl wahr‘ zwischen zum Beispiel einem Phänomenalisten, einem Idealisten und einem materialistischen Realisten sofort großen Streit auslösen kann. Für den Phänomenalisten ist Wahrnehmung direkter Bestandteil der Erfahrung, für den Materialisten dagegen ein spezifischer Zustand des Gehirns (Smullyan 1983). Ich betone diese Dimension der Thematik hier aus zwei Gründen. Erstens, weil im Blick auf die nicht-sprachlichen und nicht-begrifflichen Zeichen- und Interpretationsformen von Sprach- und Begriffs-Propositionalisten (wie John McDowell und anderen) oftmals behauptet wird, dass auch die nicht-sprachlichen Zeichen- und Interpretationsvollzüge stets bereits begrifflich bestimmt seien.
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Zweitens aber betone ich diese Dimension im Zusammenhang der Diskussion mit Pirmin Stekeler deshalb, weil er jemand ist, der die eigentümliche Zwischenstellung der Wahrnehmung (zwischen Empfindung und Verstand) deutlich sieht, sofern er das menschliche Wahrnehmen als „apperzeptive Anschauung“, als Apperzeption, des näheren als „begrifflich informierte Perzeption“ versteht (Einleitung). Diese Akzentuierung kann ich jedoch nur unter der Voraussetzung teilen, dass apperzeptive Wahrnehmung nicht als das Kernbeispiel für Sinnlichkeit angesehen wird. Mein Vorschlag lautet, die apperzeptive Wahrnehmung als eine (zugegebenermaßen überaus wichtige, z. B. in Form von Beobachtungen in den Wissenschaften sehr wichtige) Teilmenge der Phänomene sinnlichen Wahrnehmens zu verstehen, zu denen ich im erweiterten Sinne dieses Ausdruck auch schon die sinnlichen Empfindungen und das direkte Sehen mit seinen genuin sinnlichen Organisationsmustern nicht-sprachlicher Art zählen möchte. Ich teile also nicht die von Stekeler und den meisten Konzeptualisten vertretene Ansicht, dass der Inhalt einer „Wahr-Nehmung“ und der Gehalt des „zugehörigen WahrNehmungs-Urteils“ am Ende „ein und dasselbe“ sind (ebd.). (g) Wie stark und mit welcher Reichweite Stekeler das Begriffliche ansetzt, tritt auch in einer Formulierung zutage, die sich auf das Reich der Möglichkeiten bezieht: „Bereiche des Möglichen sind Bereiche des begrifflich sinnvoll Repräsentierbaren.“ (Einleitung) Diese Sicht scheint mir jedoch eine Engführung zu sein, die letztlich nur darauf zurückzuführen ist, dass die Rede vom Begrifflichen illegitimer Weise (da gegen den Sinn der Rede vom Begrifflichen selbst verstoßend, welche intern und konstitutiv mit dessen Grenzen verbunden ist) in die nicht-begrifflichen Bereiche diffundiert. Mit einer solchen Engführung sind zum Beispiel das musikalisch oder piktorial Mögliche ausgeschlossen, sind Gemälde etwa von Magritte oder Zeichnungen von Escher als unmöglich ausgeschlossen. Wer aber wollte so verwegen sein, deren Wirklichkeiten aus dem Bereich des Möglichen auszuschließen?! Der Fehler in beiden Hinsichten (Gleichsetzung des Inhalts einer Wahrnehmung mit dem Gehalt des zugehörigen Urteils; Begrenzung des Bereichs des Möglichen auf das in Begriffen Repräsentierbare) besteht darin, dass, um eine Nietzscheanische Denkfigur zu verwenden, die mit den beiden Hinsichten verbundenen Annahmen zuvor bereits und irreführender Weise hineingesteckt wurden, um sie dann, was nicht erstaunt, wieder herausinterpretieren zu können. Daher liegt der Fehler nicht so sehr im Herausinterpretieren, obgleich die strikte Konzentration auf die Phänomenalität des Wahrnehmens auch hier auf eine intellektuelle Weise übersprungen wird. Der Fehler liegt vielmehr bereits im Hineinstecken (sofern wir die Seite der nicht-sprachlichen Sinnlichkeit auch im Wahrnehmen in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken). So ist es etwa eine ausgesprochene Kunst und wird an Kunsthochschulen im ersten Semester gezielt
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gelehrt, ‚Sehen zu lernen‘, d. h. nicht gleich verstandes-lastig zu konzeptualisieren. (h) Darüberhinaus vertrete ich die These, die ich hier nicht im einzelnen entfalten und rechtfertigen möchte, dass es nicht nur urteilsgrammatische Wahrnehmungs-Urteile, sondern tieferliegend ‚anschauliche Urteile‘, ‚visual judgements‘ genuin eigenwertiger Art gibt. Das mag in den Ohren von Konzeptualisten wie ein hölzernes Eisen klingen. Doch ändert es nichts an der phänomenalen Trefflichkeit dieser Figur, die ich im Einzelnen an anderer Stelle auszuarbeiten hoffe. Und ich verteidige die (im Augenblick ebenfalls nicht näher zu explizierende) weitere These, dass wir letztlich die Formen abgeleiteter und sekundärer sprachlicher Urteile in Sachen Wahrnehmung nur deshalb verständlich finden, weil wir sie und ihre Bestandteile auf direkt sinnlich-anschauliche Zusammenhänge zurückführen können. Doch wohlgemerkt: mit direktem Sehen meine ich nicht ein gänzlich zeichen- und interpretationsfreies und in diesem Sinne unmittelbares Geschehen. Aber die im direkten Sehen wirksamen und somit wirklichen Mechanismen können nicht einfach auf sprachlich-begriffliche Elemente zurückgeführt und nicht allein aus deren Perspektive erfasst werden.
3 Zeitordnung / Zeitlichkeit und Interpretation Es ist ein Grundsatz der allgemeinen ZuI-Philosophie, dass alle spezifizierenden Bestimmungen und Unterscheidungen in Bezug auf Dinge, Sachverhalte, Tatsachen, Prozesse und Ereignisse nicht vorfabriziert fertig gegeben sind, sondern Produkte von ZuI-Mechanismen und in diesem Sinne nicht einfach bloß passivisch entdeckt, sondern auch aktivisch produziert sind. Stekeler teilt diese Sichtweise explizit, wenn er betont, dass solche Unterscheidungen „immer auch von uns gemacht“ werden. Ohne dies näher auszuführen, fügt er folgenden Satz hinzu: „Es ‚gibt‘ die Zeitlichkeit der Dinge und der Ereignisse. Und es ‚gibt‘ ihre Räumlichkeit.“ (Kap. 2) Damit ist die Frage nach dem Dasein der Dinge und Ereignisse in der Zeit angesprochen. Ich möchte diesen Punkt nutzen, um den ‚letzten‘ Tiefensitz der ZuI-Prozesse zu verdeutlichen, die Rolle nämlich, die die ZuI-Verhältnisse hinsichtlich unserer raum-zeitlich geordneten Welt spielen. Ich beschränke mich hier auf die Frage der Zeitordnung bzw. Zeitlichkeit. Die Frage der Raumordnung bzw. Räumlichkeit wäre in einer gewissen Analogie dazu darzustellen, was hier jedoch unterbleibt. Der wichtigste Gesichtspunkt scheint mir der folgende zu sein: Unsere Erfahrungswelt ist eine zeitlich geordnete Welt, mit Zeitverhältnissen der Dauer, des Wechsels, des Nacheinanders und der Gleichzeitigkeit. Was aber, so ist zu fragen, muss bereits in das sinnliche Material eingearbeitet sein, wenn
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und damit es zu Objekten der Welt und zu einem zeitlichen Geordnetsein, zur Zeitordnung unserer Erfahrungswelt kommt? Die ZuI-philosophische und durchaus im Anschluss an entsprechende Überlegungen Kants formulierte These lautet:⁴ Der Weg von der subjektiven Sukzession des Wahrgenommenen zur Geordnetheit der Erfahrungswelt kann als eine Genealogie von ZuI-Konstrukten rekonstruiert werden. Wie aber soll man sich das vorstellen? Zur Illustration der These möchte ich hinsichtlich der Frage nach der Zeitordnung und Zeitlichkeit unserer Erfahrungswelt lediglich auf einen Gesichtspunkt hinweisen, auf die Rolle des zeichen-interpretativen Grundsatzes der Kausalität. Die einfachste Form von Kausalvorhersagen ist: ‚A verursacht/bewirkt B‘. Man denke an ein einfaches Beispiel: Die heiße Herdplatte ist die Ursache dafür, dass das Wasser kocht. In dieser Figur sind ZuI-Verhältnisse zunächst in dem Sinne im Spiel, dass Kausalaussagen davon abhängen, was als der wirkliche, als der normale Zustand der Welt gilt, mithin davon, was als die zugrunde gelegte ZuI-Welt angesetzt wird. Weiterhin sind ZuI-Bildungen insofern bereits vorausgesetzt, als das Ereignis A und das Ereignis B und die Prozessrelation C identifiziert, reidentifiziert und in eine bestimmte, eben in eine kausale Relation gesetzt sind. All dies sind zeichen-interpretatorische Aktivitäten, nicht passive Wiedergaben und nicht Angleichungen an eine, wie es irreführender Weise manchmal heißt, in der Welt selbst liegende Kausalstruktur. Das zeichen-interpretatorische Element setzt sich dann fort in der expliziten Formulierung von allgemeinen Kausalgesetzen, von denen man dann sagen kann, dass die einzelnen kausalen Vorkommnisse diese Gesetze instanziieren. Zugleich ist in Kausalaussagen bereits eine Trennungslinie gezogen und vorausgesetzt, durch die aus der Vielzahl von Hintergrundbedingungen, die alle für das Eintreten des Ereignisses B bedeutsam sind, diejenigen herausgegriffen werden, die als die im engeren Sinne kausal relevanten gelten. Ohne solche Interpretations-Schnitte kämen Kausalaussagen, wie wir sie zu gebrauchen gewohnt sind, gar nicht zustande. Dass für uns die Gegenstände der Erfahrung eine bestimmte Position in der Zeit und im Raum einnehmen und dass wir von dieser Raum-Zeit-Ordnung sagen, sie sei nicht bloß eine subjektiv-beliebige, sondern eine objektive, eine, die ein objektives Früher und Später von etwas beinhaltet, muss in dem skizzierten Sinne Resultat kategorialisierender, individuierender und vor allem raum-zeitlich lokalisierender Gesichtspunkte sein, die wir als endliche Geister immer schon in das, was uns als eine Wirklichkeit gilt, eingearbeitet haben. Der Begriff einer Veränderung und über ihn der einer objektiven Folge in der Zeit setzen mithin den
Vgl. zum Folgenden ausführlicher (Abel 1994: Abschnitt IV); im Folgenden übernehme ich teils wörtlich Formulierungen dieses Textes.
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ZuI1-Horizont und die ZuI1-Praxis des Welterschließens stets bereits voraus, aus denen heraus sich diese objektive Ordnung in der Zeit allererst ergibt. Das soeben gezeichnete Bild schließt die für die ZuI-Philosophie charakteristische Einstellung ein, dass es nicht darum geht, objektive Relationen zu leugnen und die Weltverhältnisse in bloß noch subjektiv-beliebige Relationen aufzulösen. Keineswegs. Aber es geht darum, den skizziert neuen Sinn der Rede von ‚objektiv‘ und ‚Objektivität‘ nicht mehr innerhalb des älteren Würgegriffs einer Dichotomie von Objektivität und Subjektivität und nicht mehr in den älteren Bahnen ontologischer und aprioristischer Vorannahmen (im Falle der Kausalität etwa der Annahmen: ‚es gibt Kausalität‘ und ‚Kausalität ist apriorisch‘) zu reformulieren. Das ist das Desiderat.
4 Logik der Kooperation und Logik des begrifflichen Verstehens Stekeler möchte mit seinem Beitrag die These verteidigen, der ich mich seitens der ZuI-Philosophie anschließen kann, dass die „Kooperationslogik des gemeinsamen Umgangs mit präsentischen Dingen und Prozessen in der gemeinsamen Anschauung die Grundlage für alles gemeinsame Verstehen ist, gerade auch der von uns selbst produzierten Zeichen.“ (Einleitung) Stekeler betont Aristoteles‘ berühmte Charakterisierung des Menschen als „zoon logon echon“ (Kap. 1) und sieht in dieser Formel mit Recht zwei Komponenten am Werke: (i) in Sachen Sprache ein „harmonisches Verhältnis“ zwischen Sprecher und Hörer und (ii) eine „genuine Form der ‚politischen‘ Kooperation“ (ebd.) (verbunden mit der Annahme, dass Sprachverstehen ein „allgemeines Wissen“ voraussetzt). Erst mit dem Zusammenspiel dieser beiden Komponenten besitze der Mensch Geist, Wissen, Verstand und Vernunft. Im Unterschied zu Tieren, die Stekeler zufolge über ein „bloß koordinatives Verhalten“ unter Gebrauch von Signalsprachen verfügen, treffen wir bei Menschen, so Stekeler, ein „symbolisches Handeln in gemeinsamen Kooperationen“ an (Kap. 3). Stekelers Ausführungen zur „kooperationslogischen ‚Fundierung‘ des [begrifflichen; Zusatz G. A.] Verstehens“, einschließlich des „gemeinsamen praktischen Weltbezugs und der sprachlichen Bezugnahme auf präsentische Sachen“ (Kap. 4) lese ich so, dass sie einen Teil dessen näher ausbuchstabieren, was auch in der ZuI-Philosophie und dort vor allem unter dem Titel der triangulären IchWir-Welt-Verhältnisse adressiert wird. Bezogen auf das 3-Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse gehört die Anstrengung Stekelers einer kooperationslogischen Fundierung vor allem auf die Ebene 2 der
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ZuI-Verhältnisse. Seine Ausführungen weisen eine Nähe zu Michael Tomasellos Auffassungen auf (vgl. Tomasello 2010). Vorausgesetzt ist in diesem Ansatz, dass die Position mancher Kritiker Tomasellos nicht zutrifft, dass im praktischen und sprachlichen Weltbezug stets bereits das begriffliche Denken vorausgesetzt sei. Im Horizont der ZuI-Philosophie möchte ich vor allem zwei Punkte herausstellen, die zeigen, dass und warum ich in dieser Sache auf der Seite Tomasellos und Stekelers Position ergreife. Erstens (a) ist der ZuI-Philosophie zufolge das begriffliche und sprachlichpropositionale Denken in die Dimensionen der nicht-sprachlichen und nichtbegrifflichen Bereiche bzw. in nicht-sprachliche ZuI-Verhältnisse zu erweitern, vor allem in die Bereiche der sinnlichen Anschauung bzw. der Sinnlichkeit, der cognitio sensitiva (Baumgarten), des Empfindens, des Wahrnehmens und des Handelns. Zweitens (b) ist das in der ZuI-Philosophie propagierte und trianguläre IchWir-Welt-Modell nicht so zu verstehen, als müsste, gleichsam aufbau- und kombinationstheoretisch, das Ich zunächst zum Wir und dann beide gemeinsam zur Welt kommen. Der Witz ist vielmehr, dass wir es faktisch mit immer schon fusionierten Verhältnissen zu tun haben, in denen es, glücklicherweise, nicht erst noch gezielter Brückenschläge von einem zum anderen und gemeinsam ins Triangel bedarf. Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen. Wir haben es nicht mit einer Einbahnstraße vom Ich zum Wir zu tun, und es ist meines Erachtens nicht so, dass ich mit meinem Ich zu den anderen Ichen und von dort zur Welt komme. Vielmehr scheint mir die Genealogie innerhalb des triangulären Netzwerks von Ich-Wir-Welt anders zu verlaufen, stärker nämlich vom Wir der anderen Personen und von der Welt auf mich und mein Ich. Niemand kommt mit einem fertigen Ich auf die Welt. Und wie oft ist es so, dass wir uns selbst erst entdecken und in unserem Ich auch erst fixieren (und dann etwa sagen: ‚Ich sehe das so-und-so‘ oder ‚Ich entscheide mich so-und-so‘), indem wir gleichsam aus den Perspektiven anderer Personen und Erfahrungen auf uns selbst kommen bzw. unseren deiktischen Ort (um eine Formulierung Bühlers zu verwenden) im Netzwerk mit anderen Personen und der Welt markieren. Diese triangulären Verhältnisse sind konditional. Sie sind keine abgeleiteten bzw. sekundären Relationen. Und in der ZuI-Philosophie spielen diese Relationen eine grundlegende Rolle. ZuI-Verhältnisse können, wie betont, als Verhältnisse des Triangels Ich-Wir-Welt angesehen werden und darin werden eben diese Verhältnisse als zeichen-interpretativ charakterisiert, auf dem ganzen Spektrum vom Empfinden über das Wahrnehmen zum Sprechen, Bilden von Meinungen und Überzeugungen, bis hin zum höherstufigen Wissen, Denken und Handeln. In den Mechanismen dieses Triangels spielt die sinnliche Anschauung eine wie betont grundlegende Rolle. Diese Rolle kann nicht einseitig von einem reinen
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Denken abhängig gemacht werden. Vielmehr gilt der berühmte Satz Kants: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV: B 75) Kardinal ist hier zunächst einzusehen, dass Inhalt in der gegebenen Formulierung nicht ausschließlich ‚begrifflicher Inhalt‘ sein muss, sondern auch ‚anschaulicher Inhalt‘ sein kann. In einer gegenwärtigen Anschauung (‚Anschauung‘ in der Linie Kants und Husserls aufgefasst als der Akt, kraft dessen ein einzelner Sachverhalt direkt und als ganzer kraft der Sinnlichkeit erfasst wird) machen wir diejenigen Unterscheidungen, die auch dafür sorgen, dass unser Denken nicht leer ist. Die berühmte Formel Kants wird in der Regel so gedeutet, als habe man es hier mit einer bipolaren Relation zweier zwar interagierender, aber doch getrennter obzwar symmetrischer Komponenten von Erfahrung, nämlich von Gedanken und Anschauungen, von Aktivität und Rezeptivität zu tun. Demgegenüber möchte ich die Aufmerksamkeit auf die in dieser Formel steckende Asymmetrie lenken, wie diese sich in der Formulierung ausdrücken lässt: Wenn Gedanken ohne Inhalt leer und Anschauungen ohne Begriffe blind sind, dann heißt dies, dass jeder nicht-leere Gedanke ein anschauliches Fundament besitzt. Und eben damit wird auch betont, dass, es sei wiederholt, es nicht nur begriffliche Gehalte, sondern eben auch genuin sinnlich-anschauliche Gehalte gibt. Und dieses Verhältnis ist wichtig und aufschlussreich bis hin zur Rolle der Urteilskraft für die Gestalten unserer Erfahrungswirklichkeit und Erfahrungserkenntnis. Man denke hier an Goethes schöne Formulierung von der ‚anschaulichen Urteilskraft‘. Der Unterschied zu Stekelers Sicht liegt hier darin, dass ich ihm zwar zustimme, wenn er betont, dass „bloß syntaktische Variationen“ von Sätzen noch keinen „Inhalt“ hätten, ich aber nicht zustimmen kann, wenn er betont, dass unsere Sätze „erst durch ein System begrifflichen Schließens“ und durch den zugehörigen „inferenziellen Apparat“ Inhalt bekommen (wobei Stekeler allerdings erklärtermaßen nicht an eine formale Strukturlogik, sondern an die von Wilfrid Sellars und Robert Brandom betonten „materialen Inferenzen“ denkt); (Kap. 4). Mit den oben angeführten Formulierungen räume ich der sinnlichen Anschauung eine stärkere Stellung ein als Stekeler, dessen Betonung der „präsentischen Anschauung“ (Kap. 4) mir bereits sehr gefällt. Stekeler sieht Anschauung als unser Instrument zur perzeptiven „Kontrolle der Richtigkeit“ unserer Vorstellungen (ebd.). Demgegenüber markiert meine Formulierung vom ‚anschaulichen Fundament‘ eine ungleich stärkere und grundlegendere Funktion der sinnlichen Anschauung. Sinnliche Anschauung ist darin nicht bloß eine Art präsentische Kontrollveranstaltung. Sie ist vielmehr Grundoperation. Deshalb auch rangiert sie innerhalb des 3-Stufenmodell der ZuI-Philosophie auf der grundlegenden Stufe 1 der ZuI-Verhältnisse, das heißt auf der Ebene der Kategorialisierungen, der raum-zeitlichen Lokalisierung, der Individuation und Klassifikation.
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Günter Abel
Literatur Abel, Günter 1994: Was ist Interpretationsphilosophie?, in: Simon, Josef (Hg.): Zeichen und Interpretation, Frankfurt a. M., S. 16 – 35. Abel, Günter 1997: Zeichenverstehen, in: Knobloch, Eberhard (Hg.): Wissenschaft, Technik, Kunst. Interpretationen, Strukturen, Wechselwirkungen, Wiesbaden, S. 1 – 15. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2016: Rethinking Rationality: The Use of Signs and the Rationality of Interpretations, in: Wagner, Astrid / Ariso, José Maria (Hg.): Rationality Reconsidered. Ortega y Gasset and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 9), Berlin / Boston, S. 15 – 29. Kant, Immanuel 1787: Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904/11; (Nachdruck: Werke. Akademie Textausgabe, Berlin / New York 1968 ff.), S. 1 – 552; [KrV]. Smullyan, Raymond 1983: 5000 B.C. and Other Philosophical Fantasies, New York. Tomasello, Michael 2010: Warum wir kooperieren, Frankfurt a. M.
Joseph Margolis
Some Worries about Günter Abel’s “Interpretational Praxis” Abstract: I distinguish, rather loosely, between ‘constitutive’ and ‘ampliative’ conceptions of interpretation, guided by the idea that there are no discernibly adequate, determinately objective or realist rules of interpretation by which to proceed; and I question Günter Abel’s notion of ‘interpretational praxis’ in the spirit of this alternative approach. I argue, more generally, that the realism question (in all its forms: in the sciences as well as interpretation) is not, intrinsically or primarily, an epistemological question but, rather, an existential question drawn in terms of post-Darwinian considerations, the resolution of which provides a basis for the validation of interpretive (and other cognitive) concerns. But that’s to say, objectivity or realism is itself prefashioned by the conditions of diverse forms of Bildung. I take such a doctrine to conform with Wittgenstein’s notion of Lebensform. Otherwise, the theory of interpretation tends to generate the familiar paradoxes of cognition itself.
In responding to Günter Abel’s sweeping synthesis, Sprache, Zeichen, Interpretation [SZI; to be translated as: Language, Signs, Interpretation]¹, I think I’d better say straight out that I was unfamiliar with Abel’s published work until I received the invitation, from the organizers of the Festschrift in his honor, to contribute to “a constructive critical dialogue” on the theory of interpretation. It is true, as the organizers were kind enough to note, that I myself have emphasized two very different senses of ‘interpretation’ which, not unreasonably, suggest some convergence and some divergence between my account and Abel’s much more systematically ramified analysis. In fact, reading Abel, I find myself obliged to think more carefully about my own distinctions. In particular, I see that I must try to explain the pertinent force of distinguishing between what I’ve called ‘constitutive’ and ‘ampliative’ interpretation in the context of this first reading of Abel’s ingenious account. It should, in any case, forestall misunderstanding. I add at once that, from my vantage, the principal focus of the theory of interpretation lies with the decisive differences between and ultimate unity of
In the following, this work will be cited by using a pre-version of Daniel Smith’s translation, stating the page number of the German original followed by a chapter number in order to be able to find it in the forthcoming English publication. https://doi.org/10.1515/9783110522280-016
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physical nature and human cultures in explicating what we intend by the use of terms like ‘real’, ‘actual’ and ‘exists’ and how we mean to process competing claims about what is real. It also requires an adequate account of what it is to be a self or person or agent or subject, as distinct from being a sublinguistic animal or a mere member of Homo sapiens. I begin with an apology, however, because I’m not entirely clear about the full scope and force of Abel’s reflections on matters like those just mentioned. It’s quite possible that the considerations that strike me as important here have already been shown (somewhere, by Abel) to generate unwanted difficulties that can only be eluded by adopting one or another of the ‘theorems’ he sprinkles throughout the sketched arguments of the SZI manuscript. I appreciate the economy and skill with which Abel builds his picture of the executive role of interpretation within his inclusive model of intelligent human life. I find myself inclined to construe his running account of philosophy as a kind of Wittgensteinian reading of a Kantian-inspired (but not apriorist) ‘transcendental semiotics’ systematically articulated through his notion of the holist primacy of what he calls an ‘interpretational praxis’. A semiotized companion to Wittgenstein’s Lebensform, so to say, more assured than Wittgenstein’s holism about explicating an entire series of nested and layered rules of interpretation ranging over the principal functions of rational discourse. I see the skill, but I don’t see the force of the argument. I admit the marvelous (and puzzling) fluency of spontaneous human speech; I agree that there’s no point to any theory of language – with accompanying nonverbal signs, which I call ‘lingual’, to distinguish such (linguistically infected nonverbal) signs from those that nonlinguistic animals may master – that fails to square itself, plausibly, with any such fluency. Thus Abel discards supervenience and causal theories of meaning (as a sort of “semiotic, linguistic magic”, SZI 69, ch. 3.1). But I find Abel’s own corrective deeply problematic in its own turn – more or less on Wittgensteinian grounds. I share his verdict, but I see no plausible basis for claiming to discover strict rules of judgment embedded in our ‘interpretational praxis’. Certainly not beyond the most banal, least informative regularities of language. I am myself drawn to Wittgenstein’s general argument in favor of our having been reared (in effect, gebildet) among the formative processes of our form of life. Nevertheless, Wittgenstein himself draws attention to its stalemate as a source of determinate (positive) explanations of linguistic fluency: reference to the human Lebensform serves best, it seems, in negative criticism, in exposing false theories. In agreement with Abel’s own practice, Wittgenstein, of course, does not oppose speaking of our ‘following the rules’ of our language, in responding (say) to a request to continue adding “+2” to the extension of a
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given arithmetic series. But he shows how this may baffle ordinary expectations; how seeming departures from what we think would conform with the rules may actually prove impossible to reject outright, and impossible to demonstrate always comply with explicit and putatively adequate rules: “This was our paradox: no course of action could be determined by a rule, because every course of action can be made out to accord with the rule.” (Wittgenstein 1953, § 201) “No; my description only made sense if it was to be understood symbolically. – I should have said: This is how it strikes me. / When I obey a rule, I do not choose. / I obey the rule blindly.” (Wittgenstein 1953, § 219)
Abel’s formulation (if I read it correctly) is subtly out of sorts with Wittgenstein’s treatment of language games and Lebensform: “[…] in every felicitous act of speaking or understanding a language, [Abel holds,] an interpretation of that language is already presupposed, and with it, the characteristic manner in which its signs function is already relied upon. The meaning of signs therefore depends upon our praxis of interpreting signs […]. Our thesis can thus run: the meaning of an expression is determined by its adequate interpretation.” (SZI 72, ch. 3.2) This is a very strong statement – obviously false, on Wittgenstein’s view of language; indemonstrable, on Kant’s view of rules. It goes contrary to Wittgenstein’s understanding of our understanding the rules of linguistic praxis. To say that we “follow the rules” may indeed characterize the ineluctability of our “always already understanding our language”; the formula is vague enough for that. But it does not and could not entail that there are determinate rules of any kind (that we could supply) adequate for capturing “the meaning of [our use of any] expression” – a fortiori, of any more complex ‘speech act’ or ‘interpretive’ action. If Abel’s notion of an ‘interpretational praxis’ is effectively not the mate of Wittgenstein’s Lebensform, then it must be some transcendentally privileged source of ‘rules’ of a kind Wittgenstein makes it clear we cannot claim the right to draw on. There’s a gap in Abel’s argument, if we abandon every form of privilege or apriorism, without abandoning fluency and competence. I am not claiming that Abel is bound by Wittgenstein’s remarks. But if he’s not, then his own articulation may be no more than an obiter dictum: he may have overlooked the deliberate lacuna in Wittgenstein’s account, where he takes the “thesis” (stated just above) to be ineluctably adequate. He goes on, in the same context, to suggest a distinct convergence between Wittgenstein and Heidegger – by advancing a sort of transcendental rendering of linguistic fluency that issues in a validating praxis that has some sort of criterial force: “The original and absolutely ineluctable character of Being-in-the-World and the functioning of symbolizing signs can both be characterized, in their performances, as interpretive. Human Being-in-the-world is not retrospectively interpret-
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ed on demand; rather its very performance is internally an interpretive occurrence. And signs function in their semiotic functions interpretively. It is in this sense that interpretational relations can be understood to be original and ineluctable.” (SZI 73, ch. 3.2) If the challenge (pursued through Wittgenstein) holds, then I daresay Abel will have lost a decisive part of the would-be benefit of his interpretational theory, without losing the plausibility of Wittgenstein’s account of general linguistic fluency. I think Wittgenstein’s concession on ‘rules’ cannot be more than figurative anyway: I don’t believe that there are any determinate rules of language use that are more than suggestively, diversely, changeably, contingently idealized ‘guides’ for what, more often than not, is improvisationally qualified. If ‘interpretation’ (on Abel’s theory) cannot admit such ‘indeterminacy’ (a term I myself regard as inaccurate here), then I wonder whether Abel’s theory can possibly survive; and if it can tolerate the adjustment, then I wonder whether Abel’s explanation of what to understand by ‘interpretation’ – its holist primacy, its seeming transcendental function, its role in validating determinate usage and the like – can be both adequate and decisive. To my ear, it cannot function that way if what I’ve cited from Wittgenstein is conceded. I myself favor a large concession to consensual tolerance in contexts of actual use: I see no possibility, for instance, of bringing more than a very small part of poetry (say) under an ‘interpretational praxis’ of any marked determinacy. On the strength of Wittgenstein’s examples, I am prepared to extend the charge to the entire range of naturallanguage discourse. An even more penetrating argument may be mounted from other quarters. For one thing, I see no prospect of defending any apriorist or transcendentalist reading of Abel’s thesis: I’m prepared to argue that ‘transcendental’ questions are perfectly reasonable, but their ‘necessity and universality’ are always provisional, always generated a posteriori, always open to substantive revision in the light of changing history and perspective. I see no principled difference, therefore, between the power of conjectures of transcendental reason and of admittedly empirical speculations about the ‘conditions of possibility’ of linguistic or interpretational fluency; I see no fatal regress looming, in deciding ad hoc, in practical circumstances – in accord with consensual tolerance and plausible fiat, by way of piecemeal correction wherever wanted – just how to capture (rightly, adequately, determinately) “the meaning of [any] expression” (SZI 72, ch. 3.2). I’m persuaded that the deep contingency and informality of language mastery is itself the key to the matching fluency of the artifactual formation (the cultural evolution and effective transmission, intergenerationally) of the functional powers that constitute what we call the self or human person. There is nothing in
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the paleoanthropology of Homo sapiens that requires more than the gradually evolving (and continually changing, diversifying) regularities of human life. Furthermore, I see no reason to think of human understanding, speech, interpretation, action, norms, principles, commitments of any kind as forming a determinate system (as of operative rules) at any level of human functioning; but I also see no inescapable chaos or loss of rationality (stability of practices or traditions or the like) as a consequence – hence, no need for any strict, determinately qualified, holistic hierarchy of ordered levels of any would-be ‘interpretational praxis’ – to ensure the fluency of understanding meanings (say, at the level of “interpretation1” or “interpretation3”). As far as I can see, Abel’s instructive analysis provides a way of modeling human life; not of mapping its effective conditions of possibility or its actual functioning. (The admission of general discursive fluency is rarely contested – and for good reason.) Finally, along the same lines, I cannot see that a semiotics of any kind can be shown to play the primary or executive role in any hierarchy of intelligent or rational life: “interpretation”, which, read as a distinct kind of competence, can never be more than a subaltern ability, a skill subordinate to one or another higher-order orientation. If it is to serve anything like a Wittgensteinian Lebensform, then to speak of “following the rules” (of our “praxis”) will never be more than a façon de parler; if it is meant in a stricter sense (say, a ‘Kantian’ or apriorist sense), then it needs to be demonstrated – and it will, in any case, be incompatible with the Wittgensteinian picture. It’s in this regard that I am tempted to say that to speak of an “interpretational praxis” in a ‘Kantian’ sense risks being an oxymoron. Surely it makes no sense to suppose that semiotics or interpretation (addressed to fathoming the meaning of expressions) can generate or validate any of those normative convictions that, on any reasonable view, give effective direction (or the right direction) to our lives. I question, therefore, the intent of the verbal elision in Abel’s titling his thesis, “interpretational praxis”. I think it risks obscuring our understanding of the usual (more modestly circumscribed) function of interpretation – what I call “ampliative interpretation” – as in interpreting poetry, paintings, conversations, wars, tea parties, marriage rituals, and the like. Interpretation, viewed as a special competence, presupposes the enabling norms and structures of our form of life; it cannot be their originating source. If I may venture a conclusion here, I find it not unlikely that the conjunction of what to understand as the work of ‘interpretation’ and what, in a more wideranging way, we should construe as ‘praxis’ has made it seem plausible to Abel that he can support (at one and the same time) an account akin to Wittgenstein’s use of and reliance on our Lebensform and his own assurance regarding the de-
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terminacy and normative force of the enabling rules of language. I don’t see the supporting argument. It would have to take a form not unlike what Kant favors in the first Critique: that is, the conviction that ‘understanding’ (Verstand) functions always and only by the application of determinate rules (by merely exercising the power or faculty of judgment). Wittgenstein, as I read him, is the implacable opponent of that side of Kant, just as he is the foe of the Frege he so much admires. (I venture to say that Kant weakens his own argument when, in the third Critique, he enlarges the faculty of judgment.) At the very least, the contrast I’m drawing explains the motivation for my own distinction between the two sorts of interpretation mentioned. If I’ve misread Abel’s intent here, I’m prepared to be corrected. But I should like to know how Abel escapes the charge of privileged knowledge – or, failing that, a petitio. Let me simply add, therefore, a bit more of my own reasoning regarding the two sorts of interpretation mentioned. I take them to be very different indeed; furthermore, I see that their ‘difference’ runs contrary to another of Abel’s claims. What I call “ampliative interpretation” requires that some suitable, culturally generated “artifact” (speech, painting, war, ritual) – linguistically or “lingually” qualified (in the manner suggested) – must be antecedently posited (referentially and descriptively) and must be intrinsically open to interpretation (or, by a conceptual courtesy, treated as if it were). But it’s not part of my account to hold that what is taken to be descriptively (rather than interpretively) characterized cannot, by a mere change of conceptual orientation, be (itself) treated as open to interpretive characterization as well. The Olduvai Gorge, for instance, as a merely physical formation (not a cultural artifact of any kind), is not (as such) open, intrinsically, to being interpreted; but if we treat it as a datum under some paleontological hypothesis about the advent of Homo sapiens, we may indeed interpret it as yielding evidence regarding the dating of the appearance of early man. There’s a fair bit of theory required here if the example is to be made responsible for any of the burden of explaining ampliative interpretation. I shall venture only the briefest sketch of what may be needed – in the context of coming to terms with Abel’s account. I think it’s reasonable to regard physical objects (‘mere’ physical objects) as being very different from cultural (culturally qualified) things. Contrary to the usage of some, any sustained such distinction (I am not invoking strict definitional necessity or essence here) counts as ontologically significant – for the practice posited. I don’t believe this usage need contest the intent of Abel’s ban on the use of the term ‘ontology’; in fact, I’m persuaded that semiotics (for instance, against Michael Dummett’s well-known argument) is metaphysics under another name. But then, I don’t see any reason for the ban either (see SZI 41 ff., ch. 2.1), which worries me.
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If all this is conceded, then (as I’ve argued over the years) “cultural things” (things that belong to the encultured human world) may be reasonably viewed as artifacts (usually deliberately produced or formed by some kind of human craft or intervention) applied to mere physical things (or things that are already artifactual) which thereupon – marble, say, cut to yield the David or an ordinary urinal conceived by Duchamp to yield his Fountain – are transformed into culturally qualified artifacts. Such objects are, then, inherently interpretable, because, in being thus transformed (artifactually, culturally, in hybrid respects), they acquire a variety of culturally significant or significative attributes (expressive, representational, semiotic, linguistic, traditional, institutional, intentional, disclosive in hermeneutic or historied ways, genre-bound or the like), which, aggregatively, I call (by a term of art) “Intentional”. On my account, Intentionality is, characteristically, diversely determinable rather than precisely determinate (whether uniquely or not). Arguably, things of the relevant kind are interpretable in (at least) the way Wittgenstein signals the impossibility of making fully explicit the putative ‘rules’ we say we ‘follow’ in explicating the meaning of selected bits of ordinary language; they are vouchsafed by our being (ourselves) counted as members of a society of apt speakers of the language we share. Collectively, we are ourselves self-constituted artifacts of the exercise of language and other dependent social practices on which the emergent powers of selves depend. Praxis is historied, I would say – as are also the supposed rules and norms of every form of human fluency, interpretation included. Now, in speaking of the usual interpretive practices of ordinary societies addressed to artworks and related “things” – in effect, engaging in “ampliative interpretation” – I claim (as I’ve said) that, interpretation is practiced on identifiable things acknowledged to be real or actual, capable of being descriptively so identified, even if by reference to (their) Intentional properties. That is, always conceding the proviso (mentioned) regarding attributions that, in different circumstances, may be employed either descriptively or interpretively. That’s to say: only something suitably open to being identified and described can be (ampliatively) interpreted; but such interpretation may address both the initial production of an Intentionally qualified artifact (the original creation of a Zen garden, say) or the further interpretation of any such artifact (now descriptively identified). In a perfectly familiar sense, what is interpreted (ampliatively) is something that is already deemed real or existent – and suitably so described. (Of course, this also goes against Arthur Danto’s well-known usage, in The Transfiguration of the Commonplace and The Artworld paper; but then I’m persuaded that there is a deep incoherence affecting the fortunes of the theory of interpretation in Danto’s original account, which, admittedly, Danto has worked at overcoming through his later publications.) There may be a need for conceptual lat-
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itude here (and elsewhere). But ampliative interpretation presupposes a reliable world of actual things: a world that includes at least mere physical objects and whatever comes into existence by way of the cultural (historied) transformation of the other. (I’m speaking a little carelessly here, but nothing important hangs on it.) Now, precisely here, Abel says something which I think obscures several features of his own notion of “interpretational praxis”, which seem to me to be too important to be permitted to be buried in the fashion he favors – and which, frankly, I must salvage in order to make explicit the contrast (I have in mind) between “ampliative” and “constitutive” interpretation. Abel says: “The connection between language, mind and action on the one hand and reality and other people on the other does not first need to be established. It is rather always already presupposed in the depth of a well-established interpretive praxis. Language, mind and action manifest an internal connection to the world. This internal connection has the form of a feedback loop involving the world-disclosing functions of language, symbols and actions and the reality that they thereby form and capture.” (SZI 17, Introduction) I can agree with the abstract formula. So, I imagine, could Wittgenstein. The decisive question concerns, rather, the supposed determinacy and fixity of the discernible structures of that world. For that claim ultimately exceeds the reasonable fluency of any viable practice resembling what I’ve been calling “ampliative interpretation”. Abel specifically adds (a little further on) a distinction between “the performance of signs” and the “construal” of signs – relative (if I understand him correctly) to our “understanding signs” (“understanding of understanding that is philosophically fundamental”), which sets “requirements for interpretations” and “delimit[s] the space of possible interpretations” (SZI 18, Introduction). Frankly, I don’t see how this helps either in distinguishing between (what is ordinarily called) “correct” and “incorrect” determinations of meaning or interpretations or in confirming the actual existence or reality of anything merely physical or open to (ampliative) interpretation. Abel distinguishes between “the ‘lesser logic’ of construing signs and making inferences from premises and the ‘greater logic’ of the self-realizing and self-fulfilling performance of signs” (ibid.). I’m at a complete loss here. For one thing, either semiotics (somehow) takes over the critical function of “understanding” (which strikes me as impossible and very probably not Abel’s meaning); or, the cognitive function of understanding is (somehow) suitably embedded in, and recoverable from within, an “interpretational praxis”, which, in accord with what I’ve already argued, must come to terms with Wittgenstein’s decisive stalemate involving the presumed rules of meaning and interpretation (or, let me add, any reality-disclosing process of the
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sort Abel seems to favor). In particular, on my account, establishing that this or that exists or is real is not a (merely) semiotic matter of any sort, though I would not deny that semiotic or Intentional elements (in my idiom) cannot fail to play a role in evidentiary inferences (for instance, in exemplary inferences from seemingly unlikely experimental results involving problematic theoretical posits).² The point, here, is to emphasize that the ‘logic’ of what I call “constitutive interpretation” is significantly different from that of ampliative interpretation. I see two possible readings, of the first term, neither of which apply perspicuously to the ampliative variety, which, I trust it will be clear, is the important, the most usual use of the notion of interpretation in contexts like those suggested earlier. (In fact, I do see a third reading as well, an essentially ‘rhetorical’ use, which I have, for many years, ascribed to Danto’s account: effectively, to say that artworks are not real or actual, that material things are real, and that we or the artist, working with some materia, imagine or construe it, thus modified, “to be” an artwork – rightly so when “interpreted” in conformity with the original intention with which it was thus “made”. I mention the possibility only to dismiss it and the predicament it produces.) The critical distinction of constitutive interpretation rests with this: that the artist (if we view the painter or sculptor as our exemplar here) produces an actual piece of art, which may then be “ampliatively” interpreted. But if we say the artist, in producing his work, or someone functioning as a critic or commentator in the ampliative way, interprets some “mere real thing” or part of the material world (to call on Danto’s usage) as (or as yielding) an artwork, then he either confuses the two senses or reverts to the third usage I’ve mentioned. The production of a painting or sculpture, or the critical acknowledgment of the presence of an actual such “thing” – anything we may rightly describe or identify as such a thing – will in principle be open to ampliative interpretation. It’s my impression that Abel, incorporating a not-unfamiliar sense of “semiotically” informed operations under the general umbrella of “interpretational praxis”, unnecessarily obscures the special problems and (as I see matters) the profound informality (and even the propriety of a suitably disciplined, often relativistic form) of ampliative interpretation. It seems to me that something of the sort may account for Abel’s sanguine view of the determinate and adequate “rules” of interpretation, which do not appear to isolate the distinctive puzzles of pertinent critical practices. Quite honestly, I’m not persuaded by the account I’ve seen. For some excellent examples, see (Hacking 1983). The entire theorizing process proves to be impressively and openly conjectural, intuitive, informal, revisable, interest-driven – in a word, pragmatic, in a sense decidedly opposed to the thrust of, say, Kant’s account of the nature of the power of ‘judgment’.
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One of Abel’s characteristic remarks runs as follows: “Proceeding in the vein of philosophy of interpretation […]: existence in its final estate is interpretive, i. e. dependent upon the underlying interpretational praxis it presupposes […]. One cannot set oneself outside of the praxis, which directs the semantic and pragmatic features of our expressions and signs, in order, from there, to then ask about reference in an absolute sense.” (SZI 45, ch. 2.1) Abel reminds us that we’re dealing with “finite minds”. Fine. I agree. Nevertheless, what he says has its startling side. First of all, one is inclined to ask: Do you mean to say that the whole of what exists or is real – regardless of whether we’ve got it right about how to characterize real things – is “dependent upon the underlying interpretational praxis [so saying] it presupposes”? (My italics.) Or do you mean to say that “existence” itself is no more than a term within a language or an actual “interpretational praxis”, answering to nothing “external” or “objective”? Or do you mean that our “interpretational praxis” already entails (trivially) the world’s so-called “external” existence? None of these alternatives seems to be a happy solution. If I understand the point, then I agree with the general “Kantian” emphasis that metaphysics or ontology is, finally, inseparable from epistemology; but I don’t agree that that entails its making no sense to speak of claims about what exists objectively, independently, even independently of our descriptively mischaracterizing what we suppose exists. (I think of Mendeleev here.) So I take Abel to have risked equivocation (or more) in a regard important from my point of view. Because, although I agree that we cannot make sense of casting linguistically formulated claims as not dependent on our language or interpretive praxis, that doesn’t seem to bear at all on whether there is an “external world”, a world “external” (in a sense Abel seems to support) about which we make determinate claims relativized (benignly) to our actual modes of language and thought. I may as well speak candidly: I’m persuaded (contra Kant, for instance) that the realism question (and that of the right attribution of ‘real’ or ‘exists’) is a conceptually subaltern matter – not intrinsically or primarily an epistemological issue. The entire canon of Western philosophy (or First Philosophy) opposes the idea and thus generates an infinite regress or petition or skeptical stalemate. My own suggestion, essentially based on Darwinian and post-Darwinian considerations regarding the evolution of the human person (or interpretive agent), holds instead that the realism question is and must be existentially confronted before the epistemological issue can be viable at all. Or, as I would argue, the epistemological treatment of science and interpretation presupposes an existential commitment embedded in our Bildung. There, also, is the point of Wittgenstein’s inchoate notion of the Lebensform. In effect, this means that interpretation cannot be construed exclusively or primarily in seman-
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tic or semiotic terms: its contribution cannot fail to convey its existential and epistemological ‘placement’. Here, I add another of Abel’s remarks: “The philosophy of interpretation does not signify an ontology of interpretation. The position rather entails the abandonment of ontology both in the ancient sense of the ontology of ‘essence’ […] as well as in the modern sense of the ontology of phenomenal things […] and even the linguistically-induced ontology of ‘ontological commitment’ […]. This connects to the aspect [already considered] that the external world is always already posited in every successful use of a public language. In this sense, language and actions are the best guarantors of the external world. Every sentence and every action contains, insofar as they are held to have sense, an indirect but critical ‘proof’ of the external world.” (SZI 40 f., ch. 2.1)
I’m inclined to say, carefully, that I take Abel to have supplied a not-negligible sense of “ontology” that he needs; that, in some measure, concurs with my remarks about “constitutive interpretation”; and that may be put to further interesting use. I don’t think this is at all affected by our admitting (with Abel or, say, Wittgenstein – but not, if Hegel is correct in his criticism of Kant, with Kant, except in terms of Kant’s failed aspiration) that Abel is referring to what is sometimes called a “pragmatic” proof of the external world (which philosophers have been known to contest). Now, would I be right in supposing that if Abel admitted the point, then the question of the “proof” of the external world would not automatically fall within the ineluctable scope and holism of Abel’s “interpretational praxis” – unless trivially; and if that were true, would not the same be true of any and all determinate “ontologies” that Abel would equally suppose belong to the nested contributions of interpretation 1, 2, and 3? The question would rage on: What would remain ineluctable in Abel’s thesis, after we admitted the unique linguistic ability of humans? Not even the underlying structure of language need be conceded if, as is now generally acknowledged, even by Noam Chomsky, that “universal grammar” must, in some sense, be inherently local to the languages it’s introduced to map: Why wouldn’t its possible “structures”, as distinct from its cognitive “functions”, be assignable in empirically contingent ways? Does Abel mean to formulate a transcendental argument expressed in terms of the necessary conditions of any successful praxis reducible in interpretive or semiotic terms? I am inclined, as a consequence of these considerations (and others that may be adduced), to separate questions of interpretation from questions of existence tout court. At the very least, I think we must make room for the option. If one insists (as Abel does) that questions of existence are also interpretive – interpretive1, the least dispensable stratum of interpretation in Abel’s account –
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then I’m prepared to say that they fall within the very different bin I call “constitutive interpretation”, which differs from the ampliative in important logical respects. Crucially, ampliative interpretation simply presupposes the existence of what is interpreted; but then, relative to the interpretive exercise itself, what is interpreted must be capable of being posited as existing and as manifesting some identifiable (describable) features in virtue of which it is, and can be, interpreted. I see no gain in Abel’s notion of an encompassing praxis. It puts critical and evidentiary issues at great risk. (Or so I surmise.) In fact, it now appears that the blunderbuss use of an encompassing praxis puts Abel’s own account at unnecessary risk: namely, that “Interpretation attains the status of a fundamental process. [That’s to say:] The theory of language and of signs as well as the theory of action and ethical and aesthetic theory can, in this sense, be conceived as so many offshoots of a comprehensive and general philosophy of interpretation.” (SZI 11, Introduction) I confess I cannot see the force or benefit of this maneuver. I think it means to argue (perhaps in something of the spirit of Nelson Goodman’s theory) that philosophy is, in the sense suggested, fundamentally a holist semiotics. I think that cannot be quite right – or suitably qualified to decide the matter.
Bibliography Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]; forthcoming as Language, Signs, Interpretation, translated by Daniel Smith. Hacking, Ian 1983: Representing and Intervening, Cambridge. Wittgenstein, Ludwig 1953: Philosophical Investigations, tr. G. E. M. Anscombe, Oxford.
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Ziele der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Replik zum Beitrag von Joseph Margolis Joseph Margolis konzentriert sich in seinem Beitrag auf meine Konzeption der Interpretations-Praxis.¹ Er tut dies vor dem Hintergrund seiner eigenen und wichtigen Beiträge zur Operation Interpretation im Sinne eines Verfahrens der Deutung gegebener kultureller Artefakte. Des Näheren tut er dies mit Bezug auf die von ihm unterschiedenen zwei Arten der Interpretation, nämlich (a) der „ampliative“, mithin der erweiternden Interpretation, „as in interpreting poetry, paintings, conversations, wars, tea parties, marriage rituals, and the like“, und (b) der „constitutive“ Interpretation, wie beispielsweise der künstlerischen Produktion eines Malers oder Bildhauers.² In beiden Hinsichten bestehen deutliche Verbindungspunkte zu der von mir vertretenen Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie]. Was weitere Details von Margolis’ Theorie der Interpretation angeht, so darf ich vor allem auf sein Buch Interpretation Radical but Not Unruly. The New Puzzle of the Arts and History (Margolis 1995) verweisen. Joseph Margolis legt den Akzent ganz auf die kulturellen Artefakte und deren Offenheit vor allem für „ampliative interpretation“. Den entsprechenden Beschreibungen und Analysen stimme ich weitgehend zu. Der Unterschied der beiden Ansätze besteht vor allem darin, dass ich mit der ZuI-Philosophie und des Näheren dem Rekurs auf ZuI-Prozesse, ZuI-Handlungen und ZuI-Praxen einen umfänglicheren Rahmen bereitzustellen versuche, der über eine Theorie der Interpretation hinausgeht. Gern also nehme ich den Faden des durch Margolis eröffneten Dialogs zwischen seiner Interpretations-Theorie und der ZuI-Philosophie auf. In meiner Replik möchte ich zum einen das Profil der ZuI-Philosophie im Blick auf das Gespräch mit Margolis verdeutlichen und zum anderen auf seine Fragen in dem Sinne antworten, dass ich die Bedingungen angebe, unter denen diese Fragen zu Profil und Leistungsfähigkeit der Figur der ZuI-Praxis erst gar nicht entstehen. Im Folgenden werde ich in Erweiterung dieser Konzeption durchgängig von der Zeichen- und Interpretationspraxis [kurz: ZuI-Praxis] sprechen. Zitierte und als solche ohne weiteren Stellenvermerk versehene Passagen von J. Margolis entstammen sämtlich dem Margolis-Beitrag, auf den hier repliziert wird [Anm. d. Hg.]. https://doi.org/10.1515/9783110522280-017
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Außen vor lasse ich in meiner Replik, dass Margolis sich in seinem Beitrag ausschließlich auf die Operation Interpretation konzentriert, mithin den für die ZuI-Philosophie kardinalen Punkt der gleich ursprünglichen und gleich wichtigen Rolle der Zeichen sowie die interne Verschränkung von Zeichen und Interpretation nicht verfolgt. Diese Verschränkung ist für mich jedoch auch in der Rede von ZuI-Praxis, ZuI-Prozessen und ZuI-Handlungen grundlegend. Vor diesem Hintergrund möchte ich meine Replik wie folgt untergliedern: 1. Zeichen- und Interpretations-Theorie und Zeichen- und Interpretations-Philosophie. 2. Stufenmodell der Zeichen- und Interpretationsphilosophie. 3. Erfahrungswirklichkeiten. 4. Zeichen- und Interpretationspraxis.
1 Zeichen- und Interpretations-Theorie und Zeichen- und Interpretations-Philosophie In der ZuI-Philosophie geht es erklärtermaßen nicht nur um eine Theorie oder eine Wissenschaft der Zeichen und Interpretationen. Es geht vornehmlich um den zeichen-verfassten und interpretations-bestimmten Charakter unserer menschlichen Welt-, Fremd- und Selbst-Verhältnisse und unserer Erfahrungswirklichkeiten. Diese triangulären Beziehungen zum eigenen Selbst, zu anderen Personen und zur Welt (kurz die Ich-Wir-Welt-Beziehungen genannt) werden in der ZuIPhilosophie als ZuI-Verhältnisse charakterisiert und mit Hilfe eines heuristischen 3-Stufenmodells beschrieben, analysiert und modelliert.³ Der Hinweis auf das Profil der ZuI-Philosophie insgesamt ist hier deshalb wichtig, weil so die Unterschiede zwischen Margolis’ Interpretations-Theorie und der ZuI-Philosophie verdeutlicht werden können, die dann erlauben, einzelne spezifische Punkte des Beitrags von Margolis zu behandeln. Die Unterschiede sind vor allem die folgenden drei: (a) Margolis ist vor allem an einer Theorie der Interpretation im Sinne einer Regionalphilosophie ‚über‘ Interpretationen in Bezug auf kulturelle Artefakte interessiert. Den Hintergrund dieses Schwerpunktes bildet seine strikte Trennung von Natur und Kultur. Einzig die gegebenen kulturellen Gebilde sind ihm zufolge Objekte der Interpretation. In seiner Theorie geht es (i) nicht um die zeichen-interpretative Struktur unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses, (ii) nicht um den ZuI-Charakter unserer Erfahrungswirklichkeiten, (iii) nicht um den ZuI-Charakter unserer triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen und (iv) nicht um die Ebene Diesen Punkt habe ich vor allem auch in meinen Repliken auf Hans Lenk und Gama Barbosa herausgestellt.
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der ZuI1-Prozesse, in deren Vollzügen es der ZuI-Philosophie zufolge überhaupt erst zur Eröffnung von Räumen der Bedeutsamkeit, des Sinns und der Relevanz kommt, welche in jeder spezifischen Interpretation stets bereits vorausgesetzt sind. Im Lichte dieses Unterschieds ist es möglich, Divergenzen und Übereinstimmungen zu markieren, wobei ich die Übereinstimmungen nachdrücklich hervorheben möchte. Margolis’ Texte möchte ich in der gleichen Weise als eine Theorie der Interpretation ansprechen, wie ich dies in Bezug auf die beiden Bücher von Paul Thom Making Sense. A Theory of Interpretation (Thom 2000) und The Musician As Interpreter (Thom 2007) in meiner Replik auf Gama Barbosa getan habe. Die von einer ZuI-Theorie unterschiedene Dimension der ZuI-Philosophie habe ich in der Replik auf Hans Lenk dadurch markiert, dass ich bestimmte Bedingungen als erfüllt unterstelle, um von ZuI-Philosophie in einem vollblütigen Sinne sprechen zu können. Zu diesen Bedingungen gehören die beiden folgenden: (i) Dass nicht nur die kulturellen, wissenschaftlichen und künstlerischen Produkte als ZuIverfasst und als ZuI-Gestaltungen charakterisiert werden. Vielmehr muss der Gestalt-bildende ZuI-Charakter unseres menschlichen Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns selbst einbezogen, eigens reflektiert und in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. (ii) Dass die in diesen Prozessen diskriminierten, kategorialisierten und individuierten Gehalte als ZuI-ProzessGehalte angesehen und behandelt werden. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang auch, dass die ZuI-Philosophie nicht als eine „holistic semiotics“ verstanden werden darf. Der Unterschied zur Semiotik lässt sich leicht verdeutlichen. In der Semiotik als der Wissenschaft gegebener Zeichen und Zeichenprozesse werden Gattungen und Arten von Zeichen als bereits gegeben vorausgesetzt und dann einer quasi einzelwissenschaftlichen, eben einer semiotischen Analyse unterzogen. Im Unterschied zur Semiotik jedoch ist die ZuI-Philosophie zunächst an der grundlegenden Frage interessiert, wie es denn überhaupt zur Unterscheidung von Gattungen und Arten kommt, angesichts der Tatsache, dass wir zunächst in ungegliederten und kontinuierlichen Erfahrungswirklichkeiten leben. Der ZuI-Philosophie zufolge handelt es sich zunächst um kontinuierliche Verhältnisse flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich funktionierender ZuI-1+2+3-Prozesse. Erst wenn Störfälle in diesen Prozessen auftreten, kommt es zu Anstrengungen, die vormals gegebene Flüssigkeit, Anschlussfähigkeit und Selbstverständlichkeit zwecks theoretischer und vor allem auch praktischer Orientierung wiederherzustellen und Werkzeuge bereitzustellen, die neue Orientierung erlauben. Zu diesen gehört dann auch die ZuI-bestimmte Auftrennung kontinuierlicher Verhältnisse nach Gattungen und Arten. Dies erfolgt durch das Ziehen von Grenzen und kann daher als ein bedeutsamer ZuI1-Vorgang angesehen werden.
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(b) In der ZuI-Philosophie wird neben dem deutenden und auslegenden, mithin dem eher passivischen Sinn der Rede von Interpretation und Zeichen der Charakter aktiver und konstruktionaler Gestaltbildung nicht nur betont, sondern basal gesetzt. Unter Verwendung von Margolis’ Ausdrücken möchte ich geradezu sagen, dass die „ampliative interpretation“ als Grenzwert der „constitutive interpretation“ verstanden werden kann, nicht umgekehrt. Dieser Sinn von Interpretation geht in der ZuI-Philosophie über das von Margolis mitgedachte Element der „constitutive interpretation“ hinaus. So sehe ich aktive Gestaltbildung kraft ZuIProzessen und ZuI-Handlungen nicht nur auf der Ebene von Theorien, Modellen oder Kunstprodukten am Werke. Sie liegt dem 3-Stufenmodell der ZuI-Philosophie zufolge auch auf der ZuI2-Ebene von Konventionen, habitualisierten Mustern, Gewohnheiten, Werten und Normen vor. Und darüber hinaus reklamiere ich den ZuI-Charakter auch zur Charakterisierung der ZuI1-Prozesse des Kategorialisierens, Individuierens, raum-zeitlichen Lokalisierens, Umgrenzens von Räumen der Bedeutsamkeit, der Relevanz und des Sinns. In all diesen Verhältnissen handelt es sich, so die These, um zeichen-interpretative Prozesse, für die das Ziehen von Grenzen, das Setzen von Unterschieden und das Legen von Schnitten ebenso charakteristisch sind wie die Dynamik im Sinne von Wechsel und Wandel, das Auflösen und das dann erneute Ziehen von Grenzen der Orientierungen. (c) Innerhalb des 3-Stufenmodells der ZuI-Philosophie möchte ich die Interpretations-Theorie von Joseph Margolis auf die ZuI3-Ebene verorten. Diese Verortung präzisiert auch die Schlagkraft von Margolis’ Theorie. Zugleich verhindert sie unfruchtbare Auseinandersetzungen, die leicht entstehen können, wenn keine Stufen-Unterscheidungen vorgenommen und alle auftretenden Fragen auf einer einzigen Ebene und in einer einzigen Perspektive verhandelt werden (was zu Ungereimtheiten und gar zu Antinomien führen kann). Die Verortung von Margolis’ Position auf der ZuI3-Ebene möchte ich also so verstehen, dass sie den Dialog präzisiert. Diesen Aspekt darf ich kurz erläutern. Es geht Margolis einzig um „culturally generated ‚artifact[s]‘ (speech, painting, war, ritual)“, die „antecedently posited“ und „intrinsically open to interpretation“ sind. So ist ihm zufolge etwa ein geophysikalisches Gebilde, sagen wir die Alpen (Margolis selbst nennt als Beispiel die Olduvai Schlucht in Afrika), kein Objekt intrinsischer Interpretation. Aber natürlich können die Alpen, als Datum genommen, in bestimmten Kontexten interpretiert werden, beispielsweise in Bezug auf ihre Rolle in der Geschichte zwischen nordeuropäischen und südeuropäischen Gesellschaften und Kulturen. Im Falle der Olduvai Schlucht kann dies (Margolis’ Akzent) in Bezug auf paläontologische Hypothesen zur Entwicklung des Homo Sapiens der Fall sein. Aber auch das wäre wiederum, im Stufenmodell gesprochen, eine Interpretation auf der Ebene 3.
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Dass der Rahmen des ZuI-Stufenmodells weiter und basaler gespannt ist als Margolis’ Theorie der Interpretation, kann ich am angeführten Beispiel verdeutlichen. Ich halte es durchaus für eine sinnvolle Frage, selbst im Hinblick auf Naturgebilde wie die Alpen nach den präsupponierten Prozessen der raum-zeitlichen Lokalisierung, der Individuation, der Kategorialisierung und sortalen Klassifikation zu fragen. Diese Fragen sind, ohne die geophysikalische Seite zu überspringen, insofern zeichen-interpretativ relevant, als damit auf der Ebene epistemischer und epistemologischer Ordnungen und Kategorialisierungen das Ziehen von klassifikatorischen Grenzen und das Legen von einteilenden Schnitten längst schon vorausgesetzt sind, wenn wir von den so-und-so-spezifischen Alpen sprechen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang etwa auch an die Debatten zur Entstehungsgeschichte der Alpen. Letztlich also schließe ich mich der Trennung von Natur und Kultur nicht in der Striktheit an, wie Margolis diese Unterscheidung betont. Erinnern darf ich hier etwa auch an die folgenden fünf Aspekte. Zunächst (a) legt in puncto Natur selbst in der Physik erst die Wahl der Experimentalordnung und der mathematischen Grundgleichungen fest, was überhaupt als ein Gegenstand physikalischer Forschung und damit als physikalischer Gegenstand gilt. Was als ‚Natur‘ zählt, wird in unterschiedlichen Professionen, wie beispielsweise Biologie oder Geologie, unterschiedlich bestimmt. Sodann (b) ist zu beachten, dass bereits die Spezifikation von Objekten als ‚rein physikalische‘ die Frage der Mittel des Spezifizierens voraussetzt bzw. nach sich zieht. Damit aber ist der ZuI-Charakter auch dieser Grenzziehungen bereits präsupponiert, wenn wir von ‚rein physikalischen Objekten‘ sprechen. Auf epistemologischer Ebene ist ein physikalisches Objekt ein solches, das im Idealfall in ausschließlich physikalischen Prädikaten beschrieben werden kann, im Unterschied zu einem kulturellen Objekt, das eines wäre, das im Idealfall in ausschließlich kulturellen Prädikaten beschrieben werden kann. Zwischen beiden Typen von Beschreibungen und Objekten herrscht weder eine metaphysische Lücke noch besteht zwischen ihnen Isomorphie. Wesen eines fremden Planeten könnten – wenn diese Fiktion erlaubt ist – über solche Bestimmungen schmunzeln und sie zumindest als die für Erdlinge charakteristischen ZuI-Konstrukte halten. Darüber hinaus (c) bezweifelt heute wohl kaum jemand, dass auch die Natur selbst eine Geschichte hat. Am Beispiel der Geschichte unseres Universums ist dieser Befund besonders deutlich zu greifen. Offenkundig gibt es nicht nur Kulturgeschichte, sondern eben auch Naturgeschichte. Beide können als ZuI-Geschichten verstanden und rekonstruiert werden. Schließlich (d) denke man hier auch an die teils heftig geführten und auch politischen Debatten darüber, was denn genau als Natur anzusehen sei. Die sich wandelnden Auffassungen der Vorstellung und des Begriffs von Natur in der Geschichte und in unterschiedlichen Kulturen liefern starke Belege dafür, dass wir
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es auch hier nicht mit einer atemporalen und ein für alle Mal fest-stehenden Entität zu tun haben. Schlussendlich (e) ist zu beachten, dass bereits die ganze Unterscheidung zwischen Natur und Kultur nicht durch die Natur selbst, sondern durch Kultur gestiftet ist. Auch in diesem Zusammenhang kann die spezifische Leistungskraft der ZuIPhilosophie verdeutlicht werden. Sie tritt erst in den Blick, wenn gesehen wird, dass das ältere Schema der Philosophie mit seinen metaphysischen, aprioristischen und ontologischen Sicherheiten nicht mehr fraglos gegeben ist und nicht mehr den einzig möglichen Leitfaden der Betrachtung bildet. Das ist mit der ZuIPhilosophie ein wenig so wie auch mit dem philosophischen Pragmatismus. Beide verkörpern nicht eine neue Systemphilosophie, die mit dem älteren Schema um inner-systemphilosophische Diskussionspunkte streitet. Ihre Relevanz tritt vielmehr erst zutage, wenn der Kollaps älterer Systemphilosophien gesehen wird und nicht mehr zurückgedreht werden kann. Dann bekommen wir es mit der Frage zu tun: Was nun? Die ZuI-Philosophie schlägt vor, im Rekurs auf ZuI-Prozesse, ZuI-Handlungen und ZuI-Praxis diesseits des Würgegriffs der Dichotomie von Essentialismus und Relativismus, so bereits der Untertitel meines Buches Interpretationswelten (Iw), Fuß zu fassen. Dieses Shifting vom älteren in ein neueres Schema ist von grundlegender Relevanz. Im neuen Schema sind wir nicht mehr verpflichtet, jede Problemlage des älteren Schemas übernehmen zu müssen, in Bezug beispielsweise auf eine Welt an-sich-seiender oder vorfabriziert fertiger, sich selbst identifizierender Objekte oder in Bezug auf aprioristische, gänzlich zeitlose Ordnungen des Wissens. Was diesen Punkt angeht, so darf ich auf meine Replik auf Bob Schwartz verweisen, in der ich diesen Punkt näher erörtere. Mit solchem Shifting ist nicht nur eine Modifikation einzelner traditioneller Diskussionspunkte verbunden, wie beispielsweise die Frage nach Realismus oder Idealismus.Verbunden ist damit auch eine Modifikation des Selbstverständnisses des Philosophierens. Dessen Fokus ist stärker auf die für endliche Menschen und deren Leben charakteristischen Herausforderungen im Sinne eines den Menschen und der Welt zugewandten humanen Philosophierens gerichtet. Margolis hat letztlich ein auf kulturelle Artefakte enggeführtes Verständnis nachträglicher Interpretation vor Augen, während ich den signo-interpretativen Charakter unserer Selbst-, Fremd- und Welt-Verhältnisse zum Leitfaden der Betrachtung mache. Margolis zufolge gilt, dass die als „a distinct kind of competence“ verstandene Interpretation, „can never be more than a subaltern ability, a skill subordinate to one or another higher-order orientation“. Diese Auffassung zeigt erneut, dass es guten Sinn macht, innerhalb des Stufenmodells die von Margolis beschriebenen Vorgänge der Interpretation auf der Ebene 3 anzusiedeln.
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Über diese Feststellung hinaus möchte ich drei kurze Anmerkungen machen, die der Verdeutlichung meiner Position dienen mögen. Erstens gehe ich davon aus, dass in den Fällen, die Margolis betont, stets bereits Netzwerke, Hintergründe und Räume möglicher Bedeutsamkeit, des Sinns und der Relevanz vorausgesetzt und in Anspruch genommen sind. Und es ist diese Ebene, auf der ich grundlegende ZuI-Prozesse und ZuI-Genealogien am Werke sehe. Damit Margolis’ enger Sinn von Interpretation überhaupt funktioniert und Interpretation nicht bloß eine Deutung beliebiger und belangloser Art ist, müssen diejenigen Räume bereits vorausgesetzt werden, die in der ZuI-Philosophie adressiert und in den Fokus der Aufmerksamkeit gehoben werden. Zweitens gehe ich nicht bloß von passivisch aneignenden Zeichen und Interpretationen, sondern von in unseren Ich-Wir-Welt-Beziehungen wirksamen und aktiv form- und gestaltbildenden ZuI-Prozesen, -Handlungen und -Praxen aus. In signo-interpretativen Prozessen gewinnen unsere Welten und Erfahrungswirklichkeiten Gestalt. Diese Gestaltbildungen sind für unser Leben unverzichtbar und signifikant. Leben vollzieht sich geradezu in zeichen-interpretativen Gestaltbildungen. Darin unterscheidet sich die ZuI-Philosophie erklärtermaßen sowohl von der Hermeneutik (siehe meine Repliken zu Angehrn und Przylebski) als auch von der Semiotik (siehe meine Replik auf Dottori) – und eben auch von Margolis’ Theorie der Interpretation. Drittens sind Wissens- und Orientierungs-Ordnungen (auch solche höherer Art, auf die Margolis rekurrieren möchte) keineswegs a-temporal, a-kulturell, ageschichtlich und für alle Zeiten gültig, gleichsam als Ordnungen-perennis gegeben. Vielmehr sind sie unaufhebbar zeichen-interpretativ bestimmte Wissensund Orientierungs-Ordnungen, die jeweils ihre Zeit organisierender, ordnender und orientierender Kraft haben – bis auf weiteres, nicht ewig. Die Wissenschaftsgeschichte und die Kunst- und Kulturgeschichte liefern vielfältige Belege für diese Sichtweise. Man denke auch an Veränderungen und Revolutionen in puncto Wissensordnungen entlang der Geschichte, zumal im gegenwärtigen Zeitalter der Umbrüche und Transformationen von Wissensordnungen in nahezu allen Lebens-, Wissenschafts-, Technik-, Kultur- und Kunstbereichen. Von zeitlosen Wissensordnungen sind wir nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch abgeschnitten. Das ist die Situation, von der die ZuI-Philosophie ihren Ausgang nimmt, im Blick auf Halt und Orientierung jenseits des Würgegriffs der Dichotomie von Essentialismus und Relativismus.
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2 Stufenmodell der Zeichen- und Interpretationsphilosophie In der Regel arbeiten Theorien der Zeichen und der Interpretation nicht mit reflexiven Stufungen. Die ZuI-Philosophie dagegen tut dies erklärtermaßen. Dieses methodische und reflektierte Vorgehen ist grundlegend. Da man manche der Operationen und Manöver der ZuI-Philosophie nur dann verstehen kann, wenn das heuristische 3-Stufenmodell und das Konzept der Erfahrungswirklichkeit klar vor Augen stehen, möchte ich im Blick auf den Dialog mit Joseph Margolis das Stufenmodell anhand des Beispiels des Sprechens einer Sprache knapp skizzieren.⁴ Ich möchte auf der ZuI3-Ebene einsetzen. Auf dieser Ebene liegen auch die Übereinstimmungen mit Joseph Margolis’ Theorie der Interpretation. Es handelt sich um die Ebene des Beschreibens, Deutens, Erklärens, Konstruierens und Theoriebildens. Im Beispiel des Sprechens meint dies etwa die Sprecher-Bedeutung und die in der Regel flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich funktionierende sprachliche Verständigung. Tritt auf dieser Ebene ein Störfall ein (und wird beispielsweise nach der Bedeutung des Wortes ‚Tisch‘ gefragt), dann gehen wir auf die tieferliegende ZuI2-Ebene unserer Sprach-Gewohnheiten sowie der mit der gegebenen Sprache verbundenen Konventionen und Stereotypen zurück. Im Beispiel ist dies die semantische Sprach-Bedeutung des fraglich gewordenen Wortes ‚Tisch‘. Meistens hilft bereits dieser Rückgang in die ZuI2-Ebene, den Störfall zu beseitigen. Es wird dann einfach auf den üblichen Sprachgebrauch hingewiesen. Falls dieses Manöver jedoch noch nicht erfolgreich ist, können wir in die tieferliegende ZuI1-Ebene zurückgehen. Im Beispiel wäre dies die Ebene der Sprachlichkeit unseres triangulären Welt-, Fremd- und Selbst-Verständnisses sowie unseres In-der-Welt-seins. In dem dargelegten Sinne siedle ich die auf kulturelle Artefakte bezogenen und dort wichtigen Theorien der Interpretation (analytischer ebenso wie hermeneutischer, psycholinguistischer oder soziologischer Provenienz) auf der ZuI3Ebene an. Dies tut solchen Theorien der Interpretation keinerlei Abbruch, im Gegenteil. Vielmehr liefern diese Theorien, wie in den Fällen von Joseph Margolis und Paul Thom, überaus wichtige Beschreibungen der in Alltagspraktiken, Wissenschaften und Künsten sich vollziehenden Mechanismen der Interpretation. Mit ihrer Begrenzung auf die ZuI3-Ebene steigt ihre Stärke.
Für eine ausführlichere Erläuterung dieses Modells darf ich auf meine Einleitung zu dem Buch ZdW und auch auf meine Replik auf Hans Lenk verweisen.
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Zugleich ist mit dieser Einordnung ins ZuI-Stufenmodell auch verbunden, dass ZuI-Theorien keineswegs einen Universalitätsanspruch hinsichtlich aller Phänomene und Formen von ZuI-Prozessen besitzen (von wissenschaftlichen Theorien auf der ZuI3-Ebene über Gewohnheiten, Konventionen und Verhaltensmuster auf der ZuI2-Ebene bis hinein in die Prozesse der Kategorialisierung, Individuation, raum-zeitlichen Lokalisierung und der Leiblichkeit auf der ZuI1Ebene). In Bezug auf kulturelle Artefakte erfolgreiche Beschreibungen3 decken nicht zugleich auch schon diejenigen Prozesse ab, die in der ZuI-Philosophie als Ebene 2 und Ebene 1 adressiert und modelliert werden. Margolis überlegt, ob das, was ich die Ebene 1 nenne und als basal ansehe, in seine Rubrik der „constitutive interpretation“ fallen könnte. Das ist jedoch offenkundig nicht der Fall. Die auf Ebene 1 angesiedelten Prozesse der Individuation, Kategorialisierung und raum-zeitlichen Lokalisierung greifen weiter und basaler als Margolis’ Rede von konstituierender Interpretation. Diese Prozesse umfassen zugleich auch sinnlich-anschauliche und leibliche Komponenten, die sich ebenfalls einer Interpretations-Theorie Margolis’scher Prägung entziehen. Dies gilt zumal dann, wenn, wie er selbst hervorhebt, unter seinen beiden Arten von Interpretation die „ampliative“ Interpretation im Sinne nachträglicher erweiternder Deutung gegebener kultureller Artefakte die bei weitem üblichere und wichtigere sei. Margolis meint mit seiner Rede von „constitutive interpretation“ etwa den Fall, dass ein Maler oder ein Bildhauer ein Kunstwerk als ein Artefakt produzieren. Dieses künstlerische Artefakt kann dann Gegenstand deutender und erweiternder Interpretation werden. Das Beispiel des Malers oder Bildhauers ist gut geeignet, den zeichen-interpretativ konstruierenden und -gestaltenden Charakter der ZuI3Prozesse im Bereich der Künste zu verdeutlichen. Ich möchte jedoch erneut betonen, dass mit der Rede von den ZuI2+3-Ebenen umfänglichere und primordiale Prozesse adressiert werden. Sie bringen die Tiefen- und Hintergrundfunktionen in den Blick, die in Margolis’ Arten von Interpretation nicht modelliert werden. Wichtig ist mir also der Unterschied zwischen den „special problems“ beispielsweise künstlerischer Produktion und der Thematisierung der in solcher Produktion stets bereits vorausgesetzten und in Anspruch genommenen ZuI2+1Stufen. Diese Perspektiven dürfen nicht verwechselt werden. Das wird bei Margolis nicht immer vermieden. Beispielsweise ist dies dann der Fall, wenn Margolis meinen Satz aus SZI, den er zitiert: „existence in its final estate is interpretative“, so versteht, als gehöre der in dieser Formulierung adressierte Vorgang auf die Stufe 3, analog etwa zum konstruierenden Interpretieren seitens eines Malers oder Bildhauers. Das ist jedoch nicht der Fall. Der zitierte Satz ist kein wissenschaftstheoretischer Satz der Ebene 3. Er bringt vielmehr die Ebene 1 ins Spiel, des Näheren die in der Rede von Existenz bereits mit vorausgesetzten Prozesse der
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Individuation, Kategorialisierung, raum-zeitlichen Lokalisierung und der Gegenstandskonstitution. Auf dieser Ebene entfaltet der Satz seine Leistungsfähigkeit, nicht auf der Ebene 3, auf welcher Existenz in der Tat als Ebene-3-unabhängig unterstellt wird. Dem entsprechend meint mein Satz auch keinesfalls, dass es keine Existenz gibt. Er holt lediglich die genealogischen Voraussetzungen mit ins Boot, die in der Rede von Existenz stets bereits epistemologisch, epistemisch sowie in der Sache mitgesetzt und in Anspruch genommen sind. Man muss hier also keineswegs befürchten, dass Existenz auf der Strecke bleibt. Sie wird nur anders als im älteren Schema gefasst, als fraglose Sinn-Präsupposition mit genealogischer Genese. Entsprechend wird in der ZuI-Philosophie auch Objektivität, die Margolis natürlich auch wichtig ist, gerade nicht geleugnet. Das Gegenteil ist der Fall. Aber die ZuI-Philosophie stellt sich der Herausforderung, dass Objektivität und andere Konzepte (wie beispielsweise Rationalität, Vernunft, Wahrheit, Subjektivität, Erkenntnis) einem veränderten Verständnis zugeführt werden müssen. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: ich bin keineswegs der Ansicht, dass die genannten Konzepte im Zuge der in der modernen Philosophie des Öfteren vorgetragenen und teils radikalen Kritik verabschiedet werden können. Das wäre, mit einer schönen Formulierung Hilary Putnams gesprochen, intellektueller Selbstmord. Aber das heißt eben nicht, die älteren Konzepte einfach fortzuschreiben.Vielmehr besteht das Desiderat darin, sie jenseits des Würgegriffs der Dichotomie von Essentialismus und Relativismus auszubuchstabieren. Die ZuI-Philosophie versteht sich als Versuch in dieser Richtung. Margolis zitiert meinen Satz aus SZI, „that the external world is always already posited in every successful use of public language“, – und ich füge hinzu: in jedem erfolgreichen Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten. Ich begrenze die Realismus-Präsupposition keineswegs auf unser Sprechen und Handeln allein. Die präsupponierten Annahmen erstrecken sich auch auf die anderen Ingredienzien unserer Ich-Wir-Welt-Beziehungen, der ZuI-Prozesse je einzeln sowie in ihren Vernetzungen.
3 Erfahrungswirklichkeiten In der ZuI-Philosophie kommt unseren Erfahrungswirklichkeiten eine grundlegende Rolle zu. Es geht nicht nur um Begriffsanalyse. Dieser Doppelbefund ist überaus wichtig, um den Tiefensitz der Denkfiguren, Operationen und Manöver der ZuI-Philosophie verstehen zu können. Die grundlegende Frage lautet auch hier: Auf welche Fragen, auf welcher Ebene der Betrachtung und in welchen Kontexten geben die vorgetragenen ZuI-Beschreibungen, -Deutungen, -Modelle
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und -Theorien Antworten? Zum Verständnis der Konzepte der ZuI-Philosophie und zur Prüfung ihrer Leistungsfähigkeit ist es erforderlich, diese Frage mit vor Augen zu haben. Das gilt auch in Bezug auf die Rede von Erfahrungswirklichkeiten, ZuI-Praxis, ZuI-Prozessen oder ZuI-Handlungen. Im Folgenden konzentriere ich mich zunächst auf die Rede von Erfahrungswirklichkeiten und in dem folgenden Kapitel auf die auch in der Sicht von Margolis so wichtige ZuI-Praxis. Die mit unserem Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestaltbilden verbundenen Erfahrungswirklichkeiten sind von genuiner Eigenart und irreduzibler Vielfalt. Zugleich entziehen sie sich den im Zeitalter der Wissenschaften so beliebten Reduktionismen auf aufschlussreiche Weise. Nicht zuletzt dadurch sind sie für ein Menschen- und Menschenwelt-bezogenes Philosophieren in der Sache von so zentraler Relevanz. Diesem Umstand trägt die ZuIPhilosophie durch die folgenden drei Positionierungen Rechnung. Erstens werden die semantischen und pragmatischen Merkmale der Erfahrungswirklichkeiten nicht auf physikalistische oder biologistische Zustände reduziert. Eine Farbempfindung zu haben ist nicht einfach eine kausal ableitbare Folge eines physikalischen oder biologischen Zustands.⁵ Ebenso wird es in der ZuI-Philosophie als sinnwidrig und irreführend angesehen, normative Fragen, beispielsweise die Gültigkeit arithmetischer Regeln oder gar ethische Entscheidungen betreffend, strikt naturalistisch reduzieren zu wollen. Zweitens reduziert die ZuI-Philosophie Erfahrungswirklichkeiten auch nicht auf innerpsychische Erlebniszustände und psychische Innenwelten. Und drittens reduziert sie Erfahrungswirklichkeiten nicht auf rein logische Gedanken, mithin nicht auf die ganz ohne Frage faszinierende Welt der formalen Logik im Sinne des Prämissen folgernden korrekten Schließens. Formale Logik aber sagt, wie die Logiker selbst betonen, nichts über unsere Welten oder über unsere Erfahrungswirklichkeiten aus. Die angeführten drei Beziehungen (Erfahrung und Physis, Erfahrung und Psyche, Erfahrung und Logik) zu erfassen und auszubuchstabieren, ist überaus wichtig, stellt aber bekanntlich auch seit den Anfängen des Philosophierens riesige Herausforderungen an Philosophie, Wissenschaften und Künste. Zunächst jedoch kommt alles darauf an, dass wir nicht in die Falle verlockender Reduktionismen und Fehlschlüsse tappen. Hier ist die ZuI-Philosophie sehr aufmerksam. Sie begeht weder den Fehlschluss des Physikalismus bzw. Biologismus noch den des Psychologismus oder des Logizismus. Die ZuI-Philosophie fokussiert, verdeutlicht und expliziert die menschlichen Erfahrungswirklichkeiten diesseits
In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich auf meine Replik auf Hinderk M. Emrich verweisen, in der es um das Verhältnis von Philosophie und Neurowissenschaften geht.
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des genannten Fehlschlüsse-Tripels. Unsere Erfahrungswirklichkeiten können als die uns als Lebewesen zugehörigen angesprochen werden. Sie sind die gelebten Wirklichkeiten, die unser Leben ausmachen, auf die wir uns verstehen und in denen wir uns in der Regel zurechtfinden. Sie widersetzen sich den Reduktionismen, die heute im Mainstream der Philosophie so sehr propagiert werden. Sie sind weder kausalistisch noch logizistisch determiniert, aber eben auch keineswegs Vorkommnisse relativistischer Beliebigkeit. Denn sie sind gerade nicht unorganisiert, nicht gestaltlos und nicht ungeregelt. Bezogen auf dieses Setting wächst der Figur der ZuI-Praxis ihre besondere Relevanz zu. Wie ist das zu verstehen?
4 Zeichen- und Interpretationspraxis Zeichen und Interpretationen verfügen nicht über metaphysisch vorab, ein für alle Mal fest-stehende semantische und pragmatische Merkmale. Unter semantischen Merkmalen verstehe ich: Bedeutung, Referenz, Erfüllungs- bzw. Wahrheitsbedingungen. Unter pragmatischen Merkmalen verstehe ich: Zeit-, Personen-, Kontext-, Kultur- und Situations-Gebundenheiten. Diese Merkmale (die sich im flüssigen, anschlussfähigen und selbstverständlichen Funktionieren unseres Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltbildens als pragmatisch umgrenzt und unverzichtbar erweisen) setzen stets bereits eine Praxis voraus und nehmen diese in Anspruch, in welcher die semantischen und pragmatischen Umgrenzungen bewerkstelligt werden. Die entsprechenden Funktionen und Bindungen habe ich unter dem Titel der ZuI-Praxis zusammengefasst und ihnen, wie Joseph Margolis richtig sieht, eine überaus wichtige Rolle zugesprochen. Die so angesprochenen Umgrenzungen betreffen aber nicht nur die Merkmale der semantischen Bedeutung im Sinne von meaning, sondern die Dimensionen der Bedeutsamkeit (im Sinne von significance), des Sinns und der Relevanz. Daher auch spreche ich nicht einfach nur von der ‚Verwendung‘ oder dem ‚Gebrauch‘ von Zeichen und Interpretationen im Sinne von deren funktionalistischer Benutzung, sondern eben von der ‚Praxis‘, die ich als eine zeichen-verfasste und sich interpretativ-vollziehende Praxis, kurz: als ZuI-Praxis charakterisiere. Daher auch hat mir nicht nur in Bezug auf die Wörter einer Sprache stets die Formulierung Ludwig Wittgensteins sehr gefallen, nicht einfach nur vom ‚Ge-
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brauch‘, sondern von der ‚Praxis des Gebrauchs‘ der Wörter (z. B. PU Nr. 7) zu sprechen.⁶ Wird der Fokus auf das flüssige, anschlussfähige und selbstverständliche Funktionieren unserer triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen gelegt, dann zeigt sich schnell, dass in verwendeten Zeichen und Interpretationen mehr steckt, als an den lexikalischen Merkmalen der Wörter, Zeichen und Interpretationen festgehalten wird. Über die bereits angeführten Merkmale hinaus stecken in erfolgreich verwendeten Zeichen und Interpretationen beispielsweise: deren Verankerung in einer Lebenswelt und Lebensform; die Situiertheit der ZuI-Prozesse und -Handlungen in Gewohnheiten, Konventionen, habituellen Mustern, sozialen und öffentlichen Werten und Normen; sowie die genealogische Herkunft aus sub-semantischen Vorfeldern, aus prä-bewussten und prä-intentionalen Einstellungen, Prozessen, Weltbildern und Ritualen. Offenkundig ist die ZuI-Praxis eine höchst komplexe und dynamische Angelegenheit. Ohne impliziten Rekurs auf Situiertheiten und Gebundenheiten der skizzierten Art ließe sich der Erfolg in Lehr- und Lernsituationen zwischen Lehrer und Schüler ebenso wenig verständlich machen wie flüssiges, anschlussfähiges und selbstverständliches Leben, Kommunizieren und Kooperieren überhaupt. Es sind diese nicht eliminierbaren, unverzichtbaren und nicht überspringbaren ZuI-Dimensionen und -Gestaltbildungen menschlichen Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens, die ich abkürzend unter dem Etikett ‚ZuI-Praxis‘ an Bord einer umfänglichen Betrachtung zu holen versucht habe. Diesen Versuch möchte ich anhand von sieben Punkten näher verdeutlichen, die zugleich Antworten auf Margolis’ Fragen enthalten. (a) Regeln und Regularität. – Die ZuI-Verhältnisse sind keineswegs ungeregelte Verhältnisse. Aber diejenigen Regeln, denen wir im flüssigen, anschlussfähigen und selbstverständlichen Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten folgen, dürfen nicht als Kriterien, nicht als extern-kriteriale Vorab-Regeln im Sinne externer Vorschriften missverstanden werden. Hier bin ich ganz auf der Seite von Wittgenstein. An anderen Stellen habe ich zur Verdeutlichung dieses wichtigen Punktes die Unterscheidung von ‚Regel‘ und ‚Regularität‘ eingeführt und des Näheren das Konzept einer ‚praxis-internen Regularität‘ entwickelt.⁷ Regelfolgen ist, zugespitzt formuliert, eine Praxis und des Näheren eine zeichen-verfasste und interpretativ-verfahrende Praxis, kurz: eine ZuI-Praxis. Regelfolgen ist keine Theorie.
Zum Folgenden siehe auch (Abel 2011). Siehe dazu (Abel 2012; deutsche Version Abel 2010) und meine Repliken auf Catherine Z. Elgin und Hans Julius Schneider im vorliegenden Band.
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(b) Woher kommt die Bedeutung der Zeichen? – Solange Verständigung und Kooperation flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich funktionieren, machen wir uns keine Gedanken über die Frage, woher ein Zeichen seine Bedeutung und Referenz hat oder wie die semantischen und pragmatischen Merkmale aussehen. In den unproblematischen Fällen ist dies schon selbstverständlich gegeben. Freilich ist nicht davon auszugehen, dass es vorab durch ein göttliches Dekret oder irgendeine andere metaphysische Instanz, etwa die Evolution, festgelegt wurde. Andererseits jedoch ist die Bedeutung der Zeichen einer gegebenen Sprache ganz offenkundig keineswegs beliebig, keineswegs gänzlich durch die subjektiven Meinungen und psychischen Zustände der einzelnen Sprecher und Hörer bestimmt. Letzteres wäre relativistische Beliebigkeit der Bedeutung. Sie ist für erfolgreiche Verständigungsverhältnisse gerade nicht kennzeichnend. Mit ihr würde die Verständigung mangels semantischer und pragmatischer Überschneidung kollabieren. Um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie Bedeutung und Referenz in die Zeichen kommen, kann man von der Einsicht ausgehen, dass in jedem gelingenden Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten intern stets bereits eine Interpretation der Sprache und Zeichen vorausgesetzt ist. Bedeutung und Referenz der Zeichen hängen daher von unserer Praxis der Interpretation der Wörter, Zeichen und Handlungen ab. Und diese Praxis der Sprach- und Zeicheninterpretation kann als in die lebensweltliche Praxis eingebettet, situiert und von dort mitgeformt verstanden werden. Die These kann daher lauten: Bedeutung und Referenz eines Zeichens und Ausdrucks werden durch die angemessene ZuIPraxis umgrenzt. Bedeutung und Referenz unserer Zeichen sind intern stets bereits zeichen-interpretativ gebunden. Es ist diese signo-interpretative Gebundenheit, die dann auch eine nachträgliche Deutung ‚richtig‘ oder ‚unrichtig‘ werden lässt. Im positiven Fall des erfolgreichen Passens ermöglicht dies das flüssige Fortsetzen des Sprechens, Denkens, Handelns, Gestaltens und Orientierens in der Welt, anderen Personen und sich selbst gegenüber. In diesem Sinne wird die Frage gelingender Verständigung im Kern zu einer Frage des Eingespieltseins und des mehr oder weniger fraglosen Funktionierens einer Sprach-, Zeichen- und Interpretations-Praxis. (c) Lebensformen. – Das skizzierte Eingespieltsein der ZuI-Praxis kann auch als das Eingespieltsein derjenigen Lebenswelt und Lebensform angesehen werden, in die situiert, eingebettet und gebunden unser Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln diejenigen semantischen und pragmatischen Merkmale besitzen, die ihr flüssiges Funktionieren ermöglichen, gewährleisten und bis auf weiteres stabilisieren. Und umgekehrt ist in der ZuI-Philosophie damit zugleich eine These bezüglich der Verfasstheit von Lebenswelten und Lebensformen verbunden: Beide sind in ihren Horizonten, Praktiken und Dynamiken zeichen-in-
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terpretativ verfasst und darin zugleich Gestalt-bildend wirksam. Horizonte zu bilden, die unsere Erfahrungswirklichkeiten formen, ist bereits ein Vorgang von signo-interpretativer Kraft. Dies heißt, dass bereits diejenigen Prozesse, mittels derer Lebenswelten und Lebensformen den Horizont unserer Erfahrungswirklichkeiten bilden, sich als ZuI-Prozesse in einer ZuI-Praxis vollziehen. In diesem Sinne können Lebenswelten und Lebensformen (die selbst keine Gegenstände der semantischen Logik, mithin nichts Gegenständliches sind, sondern semantische Logik und Gegenständlichkeit überhaupt erst ermöglichen und umgrenzen) als ZuI-Welten und ZuI-Formen angesehen werden. Im Hinblick auf die Prozesse des Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens können die Lebenswelten und Lebensformen in ihrer zeichen-interpretativen Verfasstheit als formierend für die Horizonte unserer Erfahrungswirklichkeiten und zugleich als in der Reflexion nicht hintergehbar charakterisiert werden. In puncto Lebensform möchte Margolis eine Alternativstellung gegen die Rede von der ‚ZuI-Praxis‘ in Stellung bringen, die erklärtermaßen nicht die meinige ist. Er unterstellt, dass ich einerseits auf Wittgensteins ‚Lebensformen‘ setze und andererseits eine „determinacy and normative force of the enabling rules of language“ annehme, letztere sogar im Sinne eines „priviledged knowledge“. Beides zugleich haben zu wollen, so Margolis, gehe aber nicht. Diese ganze Alternativstellung und vor allem die Annahme eines „priviledged knowledge“ artikuliert erklärtermaßen nicht meine Position und ist nicht für die ZuI-Philosophie kennzeichnend. Damit aber bricht der von Margolis angestrebte Zwickmühleneffekt in sich zusammen. Denn dessen Voraussetzungen sind gerade nicht gegeben. Die ganze Alternativstellung möchte ich als irreführend einstufen. (d) Transzendentalismus. – Die Art und Weise, wie Margolis in diesem Zusammenhang vor allem Kant und dort insbesondere die Kritik der reinen Vernunft (KrV) als ein Beispiel zur Stützung seiner Behauptung hervorhebt, fügt sich durchaus in sein Gesamtbild. So behauptet er, dass Kant leider „weakens his own argument, when in the third Critique, he enlarges the faculty of judgement“. Meines Erachtens wirkt die Kritik der Urteilskraft (KU) jedoch keineswegs schwächend, sondern stärkend für Kant, ebenso wie für das Anliegen der ZuIPhilosophie. Denn das in der dritten Kritik entfaltete Vermögen der Urteilskraft ist, obwohl zeitlich später als die KrV verfasst, der Sache nach in der KrV längst bereits vorausgesetzt. Die KrV konzentriert sich unter Voraussetzung der Urteilskraft auf die besondere Frage, wie es zu denken sei, dass unsere Erfahrung so ist, wie sie ist. Die Urteilskraft ist bei Kant der Sache nach längst vorausgesetzt, bevor er an die erkenntnistheoretische Frage herangeht, wie Urteile des Erkennens möglich sind. Diesen interessanten Punkt kann ich im Rahmen der vorliegenden Replik natürlich nicht weiter verfolgen.
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In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Margolis sich für einen starken Transzendentalismus ausspricht, den er für „perfectly reasonable“ hält und kritisch gegen mich einsetzen möchte. Er sieht nämlich „no prospect of defending any apriorist or transcendentalist reading“ meiner Thesen. Auch hier wäre natürlich ein detaillierter Dialog mit Margolis über den Sinn der Rede von ‚transzendental‘ geboten. Im Rahmen der vorliegenden Replik kann das aber leider nicht erfolgen. Die mir wichtigsten Punkte möchte ich gleichwohl formulieren. Zwar verkörpert die ZuI-Philosophie mit ihrem Akzent auf den ZuI-Prozessen, ZuI-Handlungen und ZuI-Praxen sowie auf unseren Erfahrungswirklichkeiten einen näher zu erläuternden Sinn von De-Transzendentalisierung der Betrachtungsweise. Diesen Aspekt aber einmal beiseite gelassen, ist die ZuI-Philosophie in einem bestimmten Sinne durchaus einer transzendentalphilosophischen Überlegung gegenüber offen. Freilich kommt bei näherem Hinsehen alles darauf an, was wir unter ‚transzendental‘ verstehen. Für Margolis handelt es sich bei ‚transzendental‘ im Kern um Fragen der Notwendigkeit und der Universalität. Dagegen ist aus meiner Sicht vielmehr die Frage entscheidend, welche Annahmen wir im Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten als erfüllt präsupponieren müssen, wenn wir eben diese Aktivitäten im Sinne eines making sense überhaupt für bedeutsam, sinnvoll und relevant halten – was wir offenkundig tun. Zu solchen stets bereits präsupponierten Annahmen gehört beispielsweise die fraglose Annahme einer Welt, anderer Personen sowie des eigenen Selbst. (e) Interne Realitäts-Präsuppositionen. – Dass ich in der ZuI-Philosophie von starken Realitäts-Präsuppositionen im Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten ausgehe, trifft sich mit einem Aspekt von Margolis’ Sichtweise, in dem er mit mir übereinstimmt. Freilich besteht ein entscheidender Unterschied zwischen uns. Margolis versteht die Realitäts-Annahme als etwas, das „exceeds [Hervorhebung G. A.] the reasonable fluency of any viable practice“. Dagegen bestehe ich darauf, dass diese Annahme als eine interne Präsupposition, mithin nicht als ein Überschreiten, sondern als ein Rückgang in die internen Präsuppositionen des making sense zu verstehen ist. Das markiert einen entscheidenden Unterschied. Denn Margolis’ ‚exceed‘-Bild ist jederzeit skeptisch angreifbar. Ich dagegen betone, dass es sich gar nicht um ein ‚exceed‘ und natürlich erst recht nicht um einen inferentiellen Schluss auf die Existenz der äußeren Welt handelt. Mit der internen Präsupposition ist, so meine These, eine weitaus stärkere Version von Welthaltigkeit und damit auch von Realismus des Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens gegeben, als dies in Margolis’ Bild der Fall ist. (f) Indeterminiertheit. – Den genannten Befund möchte ich kritisch verbinden mit dem Aspekt, dass Margolis mir die Suche nach „determinate rules of language use“ unterstellt. Eine solche Suche findet in der ZuI-Philosophie jedoch erklär-
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termaßen nicht statt. Die ganze Betrachtung der ZuI-Philosophie, einschließlich der Auffassung der Bedeutung eines Zeichens als dessen angemessene Interpretation (im Sinne der Übereinstimmung mit den handlungsbezogenen, pragmatischen, zeit-, personen- und kultur-bedingten Bedingungen), erfolgt vielmehr auf dem Boden der drei folgenden Überlegungen: (i) dass wir von dieser Möglichkeit abgeschnitten sind; (ii) dass die Suche nach solchen Regeln für natürliche Sprachen letztlich nicht verständlich gemacht werden kann, da wir ja anderenfalls stets vorab bereits wissen müssten, welches die Regeln sind, nach denen wir suchen; und (iii) dass das tatsächliche natürliche Sprechen nicht als, mit Wittgenstein gesprochen, das ‚Befolgen eines Kalküls mit festen Regeln‘ verstanden werden kann. Margolis selbst betont, dass er nicht glaube, „that there are any determinate rules of language“. Dem kann ich nur zustimmen. Dann aber formuliert Margolis die folgende Alternativstellung, in der ich mich nicht wiederfinde: (i) falls ich, so Margolis, „cannot admit […] indeterminacy“ – die ich jedoch erklärtermaßen an vielen Stellen gerade dezidiert herausgestellt habe (siehe beispielsweise SZI Kap. 5 und Abel 1994) –, dann sei fraglich, ob ich mit meiner Konzeption der ZuIPraxis ins Ziel komme; und falls ich (ii) „indeterminacy“ jedoch „tolerate“, dann sei fraglich, ob die ZuI-Praxis dann beides sein könne: „adequate and decisive“. Entschieden betone ich jedoch die nicht-eliminierbare und nicht-überspringbare ‚indeterminacy‘ der semantischen und pragmatischen Merkmale und damit auch der Praxis des Sprach- und Zeichengebrauchs selbst. Unbestimmtheit ist kein Hindernis der Verständigung, sondern vielmehr eine ihrer Bedingungen. Die Pointe ist hier, dass die Rede von ‚adequate‘ (nicht im Sinne externer Adäquatheit, sondern als ‚angemessene‘ Interpretation im Sinne flüssigen, in sich stimmigen und anschlussfähigen Sprach- und Zeichengebrauchs verstanden) auf der einen Seite und die Rede von ‚decisive‘ auf der anderen Seite sich dann nicht nur nicht gegenseitig ausschließen, sondern intern bestens zusammengehen. Möglicherweise löst sich Margolis’ Überlegung von selbst auf, sobald wir ‚adequate‘ nicht mit ‚adäquat‘, sondern mit ‚angemessen‘ (im Sinne von englisch: appropriate) rückübersetzen, welche Formulierung ich im Original gebrauche. Möglicherweise führt die Rede von ‚adäquat‘ das Missverständnis mit sich, es handle sich um das ältere Schema der Korrespondenz zwischen signum et res. Die ZuI-Philosophie hat dieses Schema jedoch längst zugunsten des flüssigen, anschlussfähigen und zumeist geradezu selbstverständlichen Funktionierens unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens zurückgelassen. ‚Angemessen‘ heißt bei mir hier soviel wie ‚passgenau‘ (im Sinne von englisch ‚fitting‘) zu derjenigen ZuI-Praxis, die den flüssigen, anschlussfähigen und selbstverständlichen Gebrauch der Zeichen und Wörter bewerkstelligt.
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Margolis zitiert zwar die mir wichtige Stelle aus meinem Buch SZI: „The meaning of signs therefore depends upon our praxis of interpreting signs“ (s. SZI 72). Aber auch hier wiederum unterstellt er mir zu Unrecht eine Suche nach „determinacy“. Als Beispiel führt er die Dichtung an, die nicht „under an interpretational praxis of any marked determinacy“ zu bringen sei. Dem kann ich nur zustimmen, wenn damit eine externe und vorab geregelte und gar determinierte Praktik des Verstehens der Wörter und Zeichen einer Dichtung gemeint ist. Aber genau das ist, was ich im Zusammenhang der Rede von ZuI-Praxis nicht meine. Die Wörter und Bilder der Dichtung sitzen direkt und sind darin doch keineswegs determiniert. Sie leben sowohl vom Offenen wie von ihrer ästhetischen Prägnanz und den Spielräumen der sie tragenden ZuI-Praxis. Diese kann nicht deterministisch reduziert werden. Gleichwohl jedoch ist sie nicht ungeregelt und schon gar nicht beliebig. Sie zeichnet sich vielmehr durch höchste anschauliche, syntaktische, semantische, pragmatische und situative Prägnanz aus. Man denke beispielsweise an die Strenge von Zeilen Hölderlins. Offenheit und Prägnanz der Dichtung können uns übrigens spüren lassen, dass die dichterische Sprache und direkter wohl noch ein musikalischer Klang die ZuI1-Ebene des Eröffnens von Räumen der Bedeutsamkeit, des Sinns und der Relevanz berühren lassen und diese zur Expressivität zu bringen vermögen.⁸ Margolis scheint noch dem älteren Schema verpflichtet. Das ist ganz in Ordnung. Für mich aber gibt die Verabschiedung der Suche nach vorab determinierten Regeln sowie eines privilegierten Zugangs zu diesen überhaupt erst den Blick frei auf den flüssigen, offenen und indeterminierten Charakter des Funktionierens von natürlichen Wörtern, Zeichen und Klängen. (g) Blindes Regelfolgen. – Da in Margolis’ Beitrag die Frage des Regelfolgens eine zentrale Rolle spielt, möchte ich Status und Rolle der ZuI-Praxis auch im Zuge des Verständnisses der berühmten Wittgenstein-Stelle in den Philosophischen Untersuchungen (PU) erläutern, die Margolis zitiert. Wenn ich im tatsächlichen Sprechen, so Wittgensteins Formulierung, der „Regel folge, dann wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind.“ (PU 219) Im Umfeld von PU 219 gibt Wittgenstein eine Reihe von Hinweisen, wie das Regelfolgen offenkundig nicht zu verstehen ist. Ich darf die wichtigsten der möglichen und traditionellen Missverständnisse in Bezug auf das flüssig und anschlussfähig funktionierende Sprechen, Kommunizieren und Kooperieren stenogrammartig auflisten. Regelfolgen kann nicht konzipiert werden als vor dem tatsächlichen Sprechen liegende: (i) Wahl, (ii) Erkenntnis, (iii) zwanghafte Nötigung, (iv) Intuition, (v) Inspiration, (vi) Anleitung,
In puncto Expressivität und Stellung der Musik innerhalb der ZuI-Philosophie darf ich auf meine Replik auf Helga de la Motte verweisen.
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(vii) Magie, (viii) Zauberei, (ix) Zufälligkeit, (x) innere Stimme, (xi) inneres Bild, (xii) Irrtumsvermeidung, (xiii) intentionale Absicht. Alle diese Konzeptionen müssen, so betont die ZuI-Philosophie, ihre Waffen strecken vor der eigentlichen Herausforderung, die darin besteht, den flüssigen, anschlussfähigen und selbstverständlichen Charakter der Prozesse der Kommunikation und Kooperation verständlich zu machen und zu verstehen. Was also tun, wenn alle angeführten Kandidaten nicht mehr als erfolgversprechend und zufriedenstellend angesehen werden können? Genau hier kommt, so die These, die Figur der ZuI-Praxis ins Spiel. Da trotz des Scheiterns der genannten Kandidaten Kommunikation und Kooperation in unseren Ich-Wir-Welt-Beziehungen keineswegs chaotisch, inkohärent, beliebig und ungeregelt verlaufen, bringt die ZuI-Philosophie die ZuI-Praxis als Raum des Umgrenzens und Generierens derjenigen Regularitäten ins Spiel, im Rückgriff auf die das flüssige Funktionieren überhaupt erst verständlich gemacht werden kann. Um diese Funktionsstelle zu markieren, habe ich an mehreren Stellen (siehe Abel 2010 bzw. 2012; Repliken auf Catherine Z. Elgin und auf Hans Julius Schneider) die bereits angeführte Formulierung der ‚praxis-internen Regularität‘ vorgeschlagen. ‚Praxis-interne Regularität‘ verstehe ich in klarem Gegensatz zu ‚extern-kriterialen Regeln‘. Das flüssige (indeterminierte, jedoch nicht ungeregelte) Funktionieren des Sprechens und Handelns können wir, so die These, im Rekurs auf praxis-interne Regularitäten verständlich machen (von automatisierten und mechanisch repetierenden Vorgängen natürlich abgesehen). Wenn extern-kriteriale Regeln, die es natürlich in vielen Fällen gibt und die in ihrem Geltungsbereich überaus wichtig sind, erfolgreich sind, dann, so die Pointe, ist die praxis-interne Regularität längst bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Im flüssigen Kommunizieren, Kooperieren und Gestaltbilden geht es, so möchte ich in Anklang an eine berühmte Formulierung Heinrich v. Kleists sagen, um das Verfertigen von Kommunikation, Kooperation und Gestaltung im praxis-intern bestimmten Sprechen, Handeln und Gestalten. Dieses Bild stößt schnell auf bekannte Vorbehalte, weil hier eben nicht mehr mit dem traditionellen Bild externer und kriterialer Regeln operiert wird. Das dann die Aufgabe darin besteht, die Funktionsweisen der ZuI-Praxis näher auszubuchstabieren, liegt auf der Hand. Entsprechend ist der ZuI-Philosophie zufolge die ZuI-Praxis auch nicht (wie Joseph Margolis ihr irrtümlicherweise unterstellt und als Aufgabe zuschreiben möchte) Lieferant von strikten Regeln für die Ebene der Urteile. Die Festsetzung und Verständigung auf rationale und epistemische Regeln des Urteils der Form „X ist ein F“ sowie der Prozeduren im Raum der Gründe ist eine zwar genealogisch aus der ZuI-Praxis hervorgehende, aber eben eine spätere und höherstufige Aufgabe willentlicher diskursiver Rationalität. Letztere schließt beispielsweise die Festsetzung der arithmetischen Regel ein, der zufolge 2+2 = 4 ist. Zu dem von hier
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aus veränderten Verhältnis von ZuI-Prozessen und Rationalität darf ich auf meinen Text Rethinking Rationality (Abel 2016) verweisen. Dort wird die These entwickelt, dass und in welchem Sinne Rationalität keineswegs in ZuI-Prozessen aufgelöst wird und keineswegs in eine unendliche Semiose der Zeichen diffundiert. Vielmehr kann Rationalität unter Einräumung des flüssigen, anschlussfähigen und zumeist selbstverständlichen Charakters der kommunikativen und kooperativen ZuI-Prozesse einer robusten Reformulierung zugeführt werden, die nicht mehr von aprioristischen oder universalistischen Vorannahmen abhängig ist. Die Rolle der ZuI-Praxis besteht, so möchte ich zugespitzt sagen, vor allem auch darin, die semantischen, pragmatischen und situativen Merkmale unserer Zeichen, Wörter, Gedanken, Handlungen und Gestaltungen vor chaotischem oder relativistischem Diffundieren zu retten. Die ZuI-Praxis erreicht dies, indem sie die genannten Merkmale nach Menschenmaß, und nicht nach Gottesmaß, umgrenzt und auf diese Weise pragmatisch funktionabel macht. Das ist eine zutiefst humane Leistung. Der Rekurs auf die ZuI-Praxis befreit uns aus dem Würgegriff der Dichotomie von Essentialismus und Relativismus. Er rettet uns vor einem Relativismus der Beliebigkeit durch die Bindung an diejenigen Umgrenzungen, welche das flüssige, anschlussfähige, selbstverständliche und evidente Funktionieren unserer Zeichen, Wörter, Gedanken, Handlungen und Gestaltungen ermöglichen und, bis auf weiteres, stabilisieren. Der Zusatz ‚bis auf weiteres‘ heißt hier: bis der nächste Störfall eintritt, der dann die ordnende und orientierende Kraft der ZuIPraxis erneut herausfordert.
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1994: Indeterminacy and Interpretation, in: Inquiry: An Interdisciplinary Journal of Philosophy 37/4, S. 403 – 419. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2010: Knowing-How. Eine scheinbar unergründliche Wissensform, in: Bromand, Joachim / Kreis, Guido (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin, S. 319 – 340. Abel, Günter 2011: Der interne Zusammenhang von Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft, in: Gethmann, Carl Friedrich (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft. Kolloquiums-Vorträge des XXI. Deutschen Kongresses für Philosophie, Hamburg, S. 351 – 371.
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Abel, Günter 2012: Knowing-How: Indispensable but Inscrutable, in: Tolksdorf, Stefan (Hg.): Conceptions of Knowledge, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 4), Berlin / Boston, S. 245 – 267. Abel, Günter 2016: Rethinking Rationality: The Use of Signs and the Rationality of Interpretations, in: Wagner, Astrid / Ariso, José Maria (Hg.): Rationality Reconsidered. Ortega y Gasset and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 9), Berlin / Boston, S. 15 – 29. Kant, Immanuel 1787: Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904/11; (Nachdruck: Werke. Akademie Textausgabe, Berlin / New York 1968 ff.), S. 1 – 552; [KrV]. Kant, Immanuel 1790: Kritik der Urtheilskraft, in: Gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften u. a., Berlin 1902 ff., Bd. V, 165 – 485; [KU]. Margolis, Joseph 1995: Interpretation Radical but Not Unruly. The New Puzzle of the Arts and History, Berkeley. Thom, Paul 2000: Making Sense. A Theory of Interpretation, New York / Oxford. Thom, Paul 2007: The Musician As Interpreter, Pennsylvania. Wittgenstein, Ludwig 1984: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., S. 225 – 580; [PU].
Kapitel 4: Zeichen und Leiblichkeit
Josef Simon
Mit anderen Worten Zeichen, Interpretation und Fürwahrhalten Abstract: The present paper reconstructs key positions concerning the epistemological role of the concepts of sign and interpretation along the history of Western philosophy. The treated approaches range from philosophers of Greek antiquity as Heraclitus, Plato and Aristotle over the modern positions of Descartes, Leibniz, Lambert, Humboldt, Kant and Hamann up to Nietzsche and Wittgenstein. Accentuating above all the interplay of both terms, Simon shows that his philosophy of signs and Abel’s philosophy of interpretation can be understood not only as complementary approaches (“two sides of the same coin”), but also as consequent developments within a philosophical tradition whose important positions and turning points are traced in this paper.
Die Interpretationsphilosophie Günter Abels geht, ebenso wie die Philosophie des Zeichens (Simon 1989), davon aus, dass wir ,immer schon‘ in Verhältnissen der Welt-, Fremd- und Selbstbezüglichkeit leben und uns in besonderen Interpretationsverhältnissen befinden, die unser Erkennen bestimmen, ohne dass wir dies in einer relevanten Weise mitbestimmen können. Interpretieren ist, allgemein gesagt, die Tätigkeit des Denkens, mit den Antworten auf die Frage nach der Bedeutung von Zeichen in einem gegebenen Zusammenhang zu einem befriedigenden Ende zu kommen. Die Frage nach der Bedeutung kommt aus dem Nichtverstehen. Die Antwort sind wiederum Zeichen. Im Prinzip kann alles, was vorkommt, Zeichen sein oder werden, aber nicht alles zugleich. Eine Interpretation, die das Fragliche von dem im gegebenen Zusammenhang bereits Verstandenen her zu erklären versucht, wäre dann nicht möglich.Wir verstehen das meiste unmittelbar, und unser Verstehen geht von dem unmittelbar Verstandenen als dem Gegebenen aus, um von dort aus nach Erklärungen für das nicht Verstandene zu fragen, für das die Zeichen stehen. Wenn die Erklärung gelingt, kann die Interpretation einsichtig werden und uns im Leben und Handeln orientieren. Dass in diesem Sinn alles, das uns als etwas zu Verstehendes und damit als Zeichen gegeben ist, Zeichen sei, kann vorausgesetzt werden, so wie alles Verstehen auf Voraussetzungen beruht. Dabei bleibt zu bedenken, dass die Sprache „diejenige Semiotik ist, in die alle übrigen Semiotiken übertragen werden können, die aber in keine andere Semiotik im ganzen übertragen werden kann“ (Coseriu 1992: 6, nach Hjelmslev). https://doi.org/10.1515/9783110522280-018
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In der Reflexion Hegels treten die Zeichen so in den Vordergrund, wie ihr Verständnis durch Bildung erworben und im Gedächtnis behalten wird. Das Gedächtnis ist eine Bedingung des Denkens in Allgemeinbegriffen über die Zeit hinweg. Es hat es „überhaupt nur mit Zeichen zu tun“, gerade weil „der eigene Inhalt der Anschauung und der, dessen Zeichen sie ist“, einander nichts angehen (Enz § 458). Nur so behält jeder die Freiheit, dasselbe von sich aus zu verstehen und es auch so, wie der eine oder der andere es versteht, für dasselbe zu halten. Auf diese Weise ist die Intelligenz „wiedererkennend“ (Enz § 465). Damit ist das Gedächtnis „der Übergang in die Tätigkeit des Gedankens, der keine Bedeutung mehr hat, d. i. von dessen Objektivität nicht mehr das Subjektive ein Verschiedenes ist“ (Enz § 464). Für das Zeichensein eines Zeichens ist die materiale Subsistenz der Zeichen ohne Bedeutung. Das betrifft auch die Unterscheidung von sogenannten natürlichen und gesetzten Zeichen. Wenn ,etwas‘ als Zeichen, aber damit noch nicht in (s)einer Bedeutung verstanden wird, sind solche Unterscheidungen schon übergangen. Nur aus dem Willen, ,etwas‘, nämlich gegebene Zeichen zu verstehen, fragt man nach der Bedeutung. Man erhält die Antwort wieder in Zeichen, die man wiederum entweder unmittelbar hinreichend versteht oder nach deren Bedeutung man weiterfragen kann, wenn man denn will und es für angebracht hält. Das muss dann aber auch für eine Interpretationsphilosophie und für eine Philosophie des Zeichens gelten, wenn auch in verschiedener Hinsicht. „Je nachdem nun, ob der Akzent auf die Zeichen gelegt wird (deren Interpretation dann als erforderlich angesehen wird oder nicht) oder ob das Verhältnis primär von den Interpretationsprozessen her gefaßt wird, kann man einen zeichenphilosophischen und einen interpretationsphilosophischen Ansatz unterscheiden. Diese beiden bilden aber keinen Gegensatz, sondern gehören aufs engste zusammen. […] Die Philosophie des Zeichens spannt sich zwischen (a) Zeichen, die durch andere Zeichen interpretiert, verdeutlicht und (b) Zeichen, die ohne weitere Interpretation verstanden werden“ (Abel 1992: 167 f.). Die Interpretation bleibt in ,bestimmter Negation‘ des Vorgegebenen (s.u.) von ihm abhängig, indem sie das ausgrenzt, was sie selbst nicht ist. Damit ist gesagt, dass man etwas als Teil eines Zusammenhanges interpretiert, den man von seinem begrenzten Standpunkt aus in den Blick genommen hat. Von einem anderen Standpunkt aus hätte sich der Zusammenhang anders zeigen und die Interpretation anders ausfallen können. Auch der Philosoph macht keine Begriffe; er macht Begriffe nur deutlicher, als sie ihm gegeben sind (Kant; s. Log 64). Das gilt dann auch für den philosophischen Begriff der Wahrheit als dem „Königswort der abendländischen Philosophie“ (SZI 261). Dass die philosophische Kritik „wirklich nur negativ“ zu verstehen sei (KrV B 25), ist, als „Propädeutik“ zur Metaphysik als einer positiven Philosophie, ein Leitfaden der Kanti-
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schen Kritik. Die Transzendentalphilosophie soll systematisch darstellen, was zwar nicht der Fall, aber vorauszusetzen ist, damit synthetische Urteile a priori nicht nur in subjektiver, sondern auch in objektiver Gültigkeit als möglich gedacht werden können. Das in einem obersten Grundsatz zu sagen, steht vor einem Denken, das sich als unmittelbar auf das Sein von Seiendem bezogen versteht. Etwas „als ein hypothetisches Ding zum Behuf möglicher Erscheinungen anzunehmen“, nennt Kant aber „dichten“ (OP XXII 121). Das führt zu einem veränderten Erkenntnisbegriff, der die Individualität, ihre Einbildungskraft und Emotionalität nicht ausschließt: Gleich „als ob es ein glücklicher unsre Absicht begünstigender Zufall wäre“, sind wir, wie Kant sagt, „erfreut (eigentlich eines Bedürfnisses entledigt) […], wenn wir eine solche systematische Einheit unter bloß empirischen Gesetzen antreffen: ob wir gleich nothwendig annehmen mußten, es sei eine solche Einheit, ohne daß wir sie doch einzusehen und zu beweisen vermochten“ (KU XXXIV). Der Verstand bedarf „einer gewissen Ordnung der Natur in den besonderen Regeln derselben, die ihm nur empirisch bekannt werden können, und die in Ansehung seiner zufällig sind“, deren Notwendigkeit er jedoch „nicht erkennt oder jemals einsehen könnte“ (KU XXXV). Er selbst hat diese Ordnung ,nur‘ als Ordnung der Zeichen. Anders ist es im Verhältnis der Arbeit an Zeichen in der Mathematik. Ihre Begriffe verstehen sich als „Constructionen ursprünglich gemachter“ Begriffe. Alle nicht mathematischen Begriffe können nur Expositionen vorgegebener empirischer Begriffe sein, „deren Vollständigkeit“ und damit dann auch ihre objektive Geltung „nicht apodiktisch gewiß ist“. Erst durch eine vollständige (analytische) Zergliederung, die wir von unserem Standpunkt in Raum und Zeit aus aber nicht erreichen können, könnte die Vollständigkeit erreicht werden (KrV B 758). Weil vorausgesetzt ist, dass die Mathematik ihre Begriffe synthetisch selbst macht, führt sie in ihren Axiomen und Definitionen „ad esse“, während empirische Begriffe in ihren zwar „nützliche[n]“, aber „mangelhafte[n]“ Definitionen nur „ad melius esse“ führen können. Es sei, wie Kant gesteht, „schön, aber oft sehr schwer, dazu zu gelangen“ (KrV B 759 Anm.). Schon in seiner frühen Schrift über die „Deutlichkeit“ schreibt er, nichts sei „der Philosophie schädlicher gewesen […] als die Mathematik, nämlich die Nachahmung derselben in der Methode zu denken, wo sie unmöglich kann gebraucht werden“ (DdG 283). In einer Naturwissenschaft als einer „besonderen Naturlehre“ sei daher „nur so viel eigentliche Wissenschaft […] als darin Mathematik anzutreffen ist“ (MAN 470). Die auf diese Weise bedingten Begriffe des Zeichens und der Interpretation sind in der Geschichte ,unserer‘ Philosophie keineswegs unbedacht geblieben. Man orientierte sich in pragmatischer Hinsicht ontologisch, d. h. an der Voraussetzung einer im Denken nicht noch weiter zu vermittelnden Einheit von Denken und Sein. So wie es unter einem demgegenüber vernunftkritischen Ansatz keinen
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voraussetzungslos absoluten Anfang geben kann, kann es auch kein von diesem Anfang abgelöstes, zur Sache selbst gelangendes Ende geben, in dem alle übereinstimmen müssten. Nach Hegel, mit dessen Philosophie der Gedanke einer absoluten Philosophie verbunden wird, ist deshalb auch „keine Philosophie widerlegt worden“. Was „widerlegt worden“ ist, sei „nicht das Princip dieser Philosophie, sondern nur dieß, daß dieß Princip das Letzte, die absolute Bestimmung sey“ (VGPh I, Bd. 17, 67). Die „bestimmte Negation“ bleibt unter kritischem Aspekt das einzige, um einen Fortgang über die jeweils gegebene Darstellung hinaus zu gewinnen: „Indem das Resultirende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt. Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende“. In ihm bleibt die negierte Bedeutung des Begriffs aufgehoben und ermöglicht dadurch die weitere Bewegung des Begriffs. „In diesem Wege hat sich nun auch das System der Begriffe zu bilden, – und in unaufhaltsamem, reinem, von Aussen nichts hereinnehmendem Gange, sich zu vollenden“ (Log I, 25), ohne dass ein Ende aber absehbar wäre. Interpretieren ist eine objektiv nicht zuende zu bringende Arbeit an Zeichen, auch wenn diese Zeichen (wie Freiheit und Kausalität für die entsprechenden Einteilungen in theoretische und praktische Philosophie) vorausgesetzt werden. So bleibt zu bedenken, dass „niemand“ mit objektiver Gültigkeit ergründen kann, „wie viel“ von den Handlungen einer Person als „reine Wirkung der Freiheit“ zu bezeichnen und „wie viel der bloßen Natur“ „zuzuschreiben“ sei, sodass niemand „nach völliger Gerechtigkeit richten“ kann (KrV B 579 Anm.). Wenn ein Mensch sich, indem er handelt, als frei denkt und „eo ipso“ frei ist (PR 1068), müssen die „Wirkungen dieses Denkens und Handelns“ „nichts desto minder aus ihrer Ursache in der Erscheinung nach Naturgesetzen vollkommen erklärt werden können, indem man den bloß empirischen Charakter derselben als den obersten Erklärungsgrund befolgt, und den intelligibelen Charakter, der die transcendentale Ursache von jenem ist, gänzlich als unbekannt“ übergeht, „außer so fern er nur durch den empirischen als das sinnliche Zeichen desselben angegeben wird“ (KrV B 574). Was bisher als bloße Ausnahme gedacht war, rückt mit dieser Interpretation in die vermittelnde Mitte. Die vollkommene Erklärung bleibt jedoch Idee. – Von praktischer Bedeutung, die hier den Vorrang erhält, ist die Bemerkung, „von der Vernunft Aufklärung zu erwarten und ihr doch vorher vorzuschreiben, auf welche Seite sie nothwendig ausfallen müsse“, sei „sehr was Ungereimtes“. „In dieser Dialektik“ gebe es „keinen Sieg“, über den man „besorgt zu sein Ursache“ hätte (KrV B 775). Im Folgenden möchte ich einige Positionen und Wendepunkte innerhalb der Denkungsart unserer abendländischen Philosophie so darstellen, wie wir sie in der Folge der Entwicklung des philosophischen Denkens heute verstehen können. Das gilt auch für die Begriffe Zeichen und Interpretation. Was auch immer gedacht wird, verdankt sich einer fortwährenden „Arbeit an Zeichen“ (vgl. Flasch 1992:
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136 ff.), die das Denken bewegen. Die Kritik bleibt dabei gegenwärtig. Es geht um die Interpretation der systematischen Beziehungen verschiedener philosophischer Ansätze aufeinander. Nicht nur zusätzliche Erklärungen, sondern auch Umstellungen, Abkürzungen und Zusammenfassungen sind Interpretationen in der Intention der Bewahrung und Verdeutlichung des in Zeichen vorgegebenen Sinnes. Die Philosophie des Zeichens geht davon aus, dass wir nicht unsere Vorstellungen, sondern ,nur‘ Zeichen für Vorstellungen gemeinsam haben. Das betrifft die Frage, was „Vorstellung“ sei, d. h. was wir ,darunter‘ verstehen. Ein Zeichen hat mit der Arbitrarität der Relation zwischen ihm und ,seiner‘ Bedeutung in sich schon die Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit. Zum Bezeichnungsvermögen in anthropologischer Hinsicht gehören sowohl das unmittelbare Verstehen von Zeichen als auch die Erfahrung, dass Zeichen nicht oder zumindest nicht in allen Fällen, für alle ,dasselbe‘ bedeuten. Ob das ,wirklich‘ so ist, ist eigentlich eine sinnlose Frage, da man Vorstellungen nicht vergleichen kann. Ein auf das Sein von Seiendem ausgerichtetes, sein unmittelbares Gegebensein transzendierendes Ich bleibt wesentlich dogmatisch. „Ein allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit ist demnach nicht möglich; es ist sogar in sich selbst widersprechend“ (Log 50). Der mythische Anfang des so verstandenen ontologischen Denkens findet sich, ebenso wie dessen Kritik, bei den vorsokratischen Philosophen. Heraklit von Ephesos hält fest, das Orakel von Delphi sage nicht unmittelbar etwas (Bestimmtes), es verkünde oder verberge auch nichts, sondern es gebe, um es hier so zu übersetzen und zu interpretieren, nur Zeichen (σημαίνει) (Heraklit 1989: 30; fr. 93). Damit lässt er jedoch dem Einzelnen die Freiheit, von sich aus zu interpretieren. Parmenides von Elea lässt dagegen Dike, die Göttin der Gerechtigkeit gebieten, die Einheit von Denken und Sein zu denken, und verbieten, das Nichtsein auch nur zu denken. Bei Platon ist das Denken dann aber in seiner Darstellung schon dialogisch. Der Eleatismus ist jetzt nur noch eine von möglichen Positionen. Im Versuch, den Sophisten im Dialog zu bestimmen, kam man zur Bestimmung des Philosophen. In den späteren Dialogen wird das Sein, als ,etwas‘ vom Nichtsein Abzugrenzendes erörtert, das dazu aber auch selbst irgendwie ,etwas‘ sein müsse, und im Spätdialog Sophistes kommt es zu der Einsicht, dass „sowohl das Nichtseiende in gewisser Hinsicht“ sei „als auch das Seiende wiederum irgendwie nicht“ sei (Platon 1990: Soph. 241d; vgl. Liebrucks 1949). Es ist von einem „Riesenkrieg“ wegen der „Uneinigkeit über das Sein“ die Rede (Soph. 246 a). Nach Hegel wird der Anfang dann gemacht, indem er überhaupt gemacht wird. Damit ist er als unbedingter Anfang bei dem reinen Sein, das in seiner Unbestimmtheit dasselbe ist wie das reine Nichts, gesetzt. Ihre Einheit ist das Werden (vgl. Log I, 44), als eine Kategorie, die mit der Veränderung die Zeit in sich enthält.
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Werden ist Entstehen und Vergehen, je nach dem Gesichtspunkt der Interpretation. Aristoteles, mit dessen Name der Anfang der wissenschaftlichen Erkenntnis verbunden wird, geht von der Natur als dem eigentlich Vorgegebenen aus. Nach dem ersten Satz seiner Metaphysik strebt der Mensch „von Natur aus (φύσει) nach Wissen“. Das zeige „die Liebe (ἀγάπησις) zu den Sinneswahrnehmungen“ (Aristoteles 1957: Met. A 1, 980 a 21). Aber auch die kleine Schrift, die Peri hermeneias, De interpretatione und bezeichnenderweise auch Lehre vom Satz genannt wird, beginnt mit einer Reihe metaphysischer, im Licht der späteren Kritik dogmatischer Feststellungen über die menschliche Natur: „Die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird“, seien Zeichen (σύμβολα), die sich in die als aufnehmend verstandene Seele eindrücken (παθήματα τῆς ψυχῆς), und die Schriftzeichen seien „Zeichen der Laute“. Doch ebenso, „wie nicht alle dieselbe Schrift haben“, seien „auch die Laute nicht bei allen dieselben“. „Was aber durch beide, die Laute und die Schrift“, angezeigt sei, „die einfachen seelischen Vorstellungen“, seien „bei allen Menschen dieselben, und ebenso“ seien es „die Dinge (πράγματα), deren Abbilder die Vorstellungen“ seien. (Aristoteles 1949: De Int. 1, 16a) Dass das so sei, wird als allgemeine wissenschaftstheoretische Feststellung verstanden, aber auch kritisch in Frage gestellt. Mit Descartes beginnt dann ein neues Paradigma der abendländischen Philosophie. Mit der Verbindung von Denken und Sein vermittelt das cogito sum dem Denkenden, solange er denkt (quandiu cogito), die Verbindung von Denken und Sein im Denken (Descartes 1641: 46 f., Med. II, 6). Das gelingt aber nur mit Hilfe eines ontologischen Gottesbeweises, der als Beweis etwas voraussetzt, um etwas anderes beweisen zu können, nämlich dass Gott in seiner zu denkenden Vollkommenheit nicht täuschen will (vgl. 98 f., Med. IV, 2) – Das cogito sum sagt mir noch nicht, als was ich existiere. Descartes nimmt als essentielle Bestimmung die traditionelle Wesensbestimmung des Menschen: „Was also habe ich vordem geglaubt zu sein? Doch wohl ein Mensch! Aber was ist das, ,ein Mensch’? Soll ich sagen: ein vernünftiges, lebendes Wesen (animal rationale)? Keineswegs, denn dann müsste man ja hernach fragen, was ein ,lebendes Wesen‘ und was ,vernünftig‘ ist, und so geriete ich aus einer Frage in mehrere und noch schwierigere.“ Das Fragen muß, wenn es Sinn haben soll, irgendwann abgebrochen werden. Wo und wann das geschieht, ist eine individuelle, aber nicht willkürliche Entscheidung. Descartes sagt, er habe „nicht soviel Zeit (nec jam mihi tantum otii est)“, dass er sie „mit derartigen Spitzfindigkeiten vergeuden möchte“ (44 f., Med. II, 5). Auch wegen des begrenzten Reichtums der Sprache käme man objektiv an kein Ende. Für den Mathematiker, Physiker und Philosophen Johann Heinrich Lambert ist es ein wichtiges Argument, dass die „Anzahl der Wörter“, über die wir in einer
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Sprache verfügen, „ziemlich“ bestimmt ist. Das setze „unserer Erkenntniß, in Absicht auf ihre Ausdehnung, gewissermaßen Schranken“ und gebe „derselben eine ihr eigene Form und Gestalt, welche allerdings in die Wahrheit selbst einen Einfluß“ habe (Lambert 1764: 5). Eine Bereicherung der Sprache sieht er im metaphorischen Sprachgebrauch. – Kant war der Aufforderung Lamberts, gemeinsam mit ihm eine Metaphysik zu entwickeln, nicht gefolgt. Er sah in der Anschauung die bessere Möglichkeit, die „Begrenzung des Vernunftgebrauchs, den man Metaphysik nennt“, „zur völligen Deutlichkeit“ zu bringen als in Definitionen oder anderen Umschreibungen der Begriffe durch andere Begriffe, deren Deutlichkeit dann wiederum von anderen Begriffen abhängig wäre (vgl. Kant an Reccard am 7.6.1781; AA X 270; Brief 167). Im Unendlichen könnte man sich dabei jedoch nicht verlieren, weil man unter Bedingungen der Zeit und der Situation die Erklärungen irgendwie abbrechen und zuletzt doch die Anschauung zu Hilfe nehmen muss. Die Anschauung ist damit in die transzendentale Konstitution möglicher ,Gegenstände überhaupt‘ einbezogen. Damit ist die ,Menschlichkeit‘ des Menschen in den Begriff des Menschen einbezogen: seine Existenz unter ihrerseits nicht vollständig, sondern nur in pragmatischer Hinsicht befriedigend zu erkennenden Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens. Das war auch schon für Leibniz‘ Gedanken einer ,prästabilierten Harmonie‘ problematisch. Er verstand die Übereinstimmung einer Ordnung der Dinge, die wir als endliche Wesen aber nicht kennen, mit einer Ordnung der Zeichen, so wie wir sie anstelle der Ordnung der Dinge denken (rerum loco signis utimur) (Leibniz 1684: 423), als „prästabilierte Harmonie“ individueller Substanzen (Monaden). Wir haben eine solche Ordnung aber nicht vollständig im Blick. Da jeder nur eine von allen individuellen Substanzen ist, kann man auch nicht allgemeinverbindlich, sondern nur aus der eigenen Perspektive heraus interpretierend wissen, ob dieser Gedanke widerspruchsfrei zu Ende geführt werden kann oder nicht. In der Analyse der Begriffe könnte sich immer noch ein Widerspruch zeigen (fit ut lateat nos contradictio) (424). Der erscheinende Widerspruch könnte durch eine weitere Arbeit an den Zeichen immer noch aufgehoben werden, sodass man, bevor man nach der Wahrheit fragt, sich fragen muss, ob das Gegebene „dunkel oder klar“, „verworren oder deutlich“ oder „inadaequat oder adaequat“ gegeben ist. Nur wenn man dasjenige, was zur weiteren Verdeutlichung eingesetzt werden soll, ebenfalls deutlich erkennt, wäre die Vorstellung „adaequat“. Erst wenn sie außerdem intuitiv, das heißt nicht noch weiter zu verdeutlichen wäre, wäre sie vollkommen. Leibniz fügt jedoch selbstkritisch hinzu, er wisse nicht, „ob die Menschen“ dafür „ein vollkommenes Beispiel geben können“ (422 ff.). Die Vernunft wird zum Objekt und ist nicht mehr nur Subjekt der Kritik. In der Kritik der reinen Vernunft wird gesagt, unter welcher Bedingung synthetische Ur-
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teile a priori mit objektiver Gültigkeit als möglich gedacht werden können. Das können nicht alle Bedingungen sein. Um sagen zu können, dass es alle seien, müsste man die ‚Sache an sich‘ im Ganzen schon kennen. – Hier geht es um Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Geltung synthetischer Urteile a priori. In Hegels Logik geht es um die Existenz von Sachen in ihrer besonderen Bestimmtheit. „Wenn alle Bedingungen vorhanden sind“, tritt die Sache in die Existenz. In ihrem Namen ist sie aber schon da, wenn die Bedingungen noch nicht erfüllt sind. Somit ist sie, „eh sie existirt“ (Log I, 321). Vom Positiven ausgehend wird die bestimmte Negation zum Postulat der Kritik. Das ist nun aber nicht mehr als ein defizienter Modus zu verstehen. Kant entspricht den Bedingungen der Möglichkeit allgemeiner kommunikativer Vermittlung, wenn er seine Begriffe, ohne Anspruch auf Vollkommenheit der Interpretation nur bis zu dem Grad erläutert, der ihm für seine kritische Absicht als hinreichend deutlich erscheint. Auch das kann und soll „wirklich nur negativ“ (KrV B 25) zu verstehen sein. Diese Einschränkung wird leicht übersehen, wenn die Kritik reiner Vernunft als positive Metaphysik verstanden wird, von der Kant sagt, dass er „das Schicksal“ habe, in sie „verliebt zu sein“ (Träume 367), ohne objektive Geltung für sie beanspruchen zu können. Seine Transzendentalphilosophie versteht Kant als Darstellung eines Systems von Begriffen – bzw. von Zeichen für Begriffe – die wir nicht vollständig haben. Dazu gehört zum Beispiel die Voraussetzung einer transzendentalen Einheit der Apperzeption. In der Vorrede zur Kritik der Urteilskraft heißt es entsprechend: „Hiemit endige ich also mein ganzes kritisches Geschäft. Ich werde ungesäumt zum doctrinalen schreiten, um wo möglich meinem zunehmenden Alter die dazu noch einigermaßen günstige Zeit noch abzugewinnen“ (KU 170). – Nach der Metaphysik der Sitten gerät jeder Fall der begrifflichen Bestimmung einzelner Tugenden und Laster unvermeidlich „in eine Casuistik, von welcher die Rechtslehre nichts weiß“ (MS 411). In einer „katechetischen Moralunterweisung würde es daher zur sittlichen Bildung von großem Nutzen sein, […] einige casuistische Fragen aufzuwerfen und die versammelten Kinder ihren Verstand versuchen zu lassen, wie ein jeder von ihnen die ihm vorgelegte verfängliche Aufgabe aufzulösen meinte“ (MS 483). Nach Hegel, mit dem der Gedanke einer Philosophie des Absoluten verbunden ist, ist das „Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen, […] die Erkenntniß des logischen Satzes, daß das Negative eben so sehr positiv ist, oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstracte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur in die Negation seines besondern Inhalts, oder daß eine solche Negation nicht alle Negation, sondern die Negation der bestimmten Sache, die sich auflöst, somit bestimmte Negation ist; daß also im Resultate wesentlich das enthalten ist, woraus es resultirt“ (Log I, 25). Die Kantische Kritik hat, ebenso wie andere philosophische Ansätze, von denen sie ausgeht, eine eigene Termi-
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nologie entwickelt und damit eine ihr eigene Unmittelbarkeit gewonnen. Deshalb sei es auch „Unfug“,Wörter „die in der Kritik d. r. V. selbst nicht wohl durch andere gangbare zu ersetzen sind, […] auch außerhalb derselben zum öffentlichen Gedankenverkehr zu brauchen“ (MS 208). Jedes System sich wechselseitig bestimmender Zeichen, z. B. auch das transzendentalphilosophische, entwickelt sich in bestimmter Negation vorhergehender Bestimmungen und bleibt dadurch auf sie bezogen. Mit jedem vermeintlich neuen Ansatz bleibt man zugleich innerhalb einer eingespielten Interpretation. Sonst verlöre man mit dem Verstehen der Zeichen den Gegenstand, den man anders als in den Zeichen für ihn nicht hat. Damit treten die Zeichen, so wie sie persönlich erworben und im Gedächtnis bewahrt sind, in das Bewusstsein. Das Gedächtnis hat es nach Hegel „überhaupt nur mit Zeichen zu tun“, gerade weil „der eigene Inhalt der Anschauung und der, dessen Zeichen sie ist“, einander nichts angehen (Enz § 458). Dass ihre Verbindung arbiträr ist, ist Voraussetzung des individuellen Verständnisses. Wenn wir es mit Zeichen zu tun haben, haben wir es mit etwas zu tun, das, wenn es mit diesem Wort um einen onto-logischen Seinsbezug zu tun sein soll, nichts ist. Aber es bleibt auch ,etwas‘, nämlich das, was diese Zeichen im positiven Sinn bedeuten. Man versteht wesentlich „wiedererkennend“ (Enz § 465). „Das reproduzierende Gedächtnis hat und erkennt im Namen die Sache, und mit der Sache den Namen, ohne Anschauung und Bild“ (Enz § 462). „Der Name ist das einfache Zeichen für die eigentliche, […] nicht in ihre Bestimmungen aufgelöste und nicht aus ihnen zusammengesetzte Vorstellung“ (Enz § 459). Das Zeichen verweist wiederum auf andere Zeichen. Die Welt, in der wir uns befinden, ist eine Welt der Zeichen. Auch wir sind füreinander Zeichen, die sich verstehen, nicht verstehen oder auch nicht verstehen wollen. Nicht in ihrem reinen Sein, das sich in seiner Unbestimmtheit als dasselbe wie das reine Nichts erwiesen hat, sondern in ihrem In-der-Welt-sein ist die Zeichenwelt die wahre Welt. Durch die „letzte Negation der Unmittelbarkeit“ ist an sich gesetzt, dass die Intelligenz den Inhalt selbst bestimmt. Das Denken ist dann „auch dem Inhalte nach frei“. Damit ist es zugleich als Wille gedacht: Was immer schon „Eigentum“ der Intelligenz war (Enz § 468), kann für sie, was es auch sei, kein zu vermeidendes Vorurteil mehr sein. Es bedingt vielmehr die Individualität der Person. – Hegel geht in der Kritik der Urteilsform als der Form der Wahrheit aber noch einen Schritt weiter: Das Urteil sei schon „durch seine Form“, in der es das „Konkrete“ ausdrücken soll – und das Wahre sei konkret – „einseitig und insofern falsch“ (Enz § 31). Indem das Denken von Namen zu Namen übergeht, bewirkt es „das Aufheben jenes Unterschiedes der Bedeutung und des Namens“ (Enz § 463), so dass „von dessen Objektivität nicht mehr das Subjektive ein Verschiedenes ist“ (Enz § 464).
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„Es ist in Namen, daß wir denken“ (Enz § 462). Die damit erreichte absolute und nicht mehr nur vorausgesetzte Identität der Begriffe führt bei Hegel zu dem eigenartigen Begriff eines Begriffs, den man nicht hat, sondern der man ist: „Ich habe wohl Begriffe, das heißt, bestimmte Begriffe; aber Ich ist der reine Begriff selbst, der als Begriff zum Daseyn gekomment“ (Log II, 17). – In Hegels Phänomenologie sich in bestimmter Negation entwickelnder Erscheinungsweisen des Geistes ist der seiner vermeintlichen Unmittelbarkeit „entfremdete“ Geist die Bildung. Die „wahre Aufopferung des Fürsichseyns“ ist „allein die, worin es sich so vollkommen als im Tode hingibt, aber in dieser Entäußerung sich ebensosehr erhält; es wird dadurch als das wirklich, was es an sich ist, als die identische Einheit seiner selbst und seiner als des Entgegengesetzten.“ Diese Entfremdung „geschieht allein in der Sprache, welche hier in ihrer eigenthümlichen Bedeutung auftritt“. „Ich ist dieses Ich – aber ebenso allgemeines.“ (Phän 275 f.) – Der Begriff, der ich bin, ist im Unterschied zu den Begriffen, die ich habe, kein Begriff von Gegenständen, sondern von Begriffen, die man nur in den Zeichen für sie hat, sodass sich Zeichen nur auf andere Zeichen beziehen und das ,Ich‘ der sich bildende Zusammenhang dieser Zeichen ist. Das weist wieder auf Kant zurück. Auch er hat, unter dem Aspekt der Kritik früherer Ansätze, die Wahrheit auf ihren philosophischen Begriff gebracht. Dieser Begriff schließt ein, dass das Subjekt nur von seinem Standpunkt in Raum und Zeit aus etwas für wahr halten kann. Eine davon unabhängige, rein objektive Wahrheit setzte eine unbedingte Übersicht voraus. – Mit der Einbeziehung der Subjektivität in den Wahrheitsbegriff sind drei Modi des Fürwahrhaltens systematisch möglich: das Meinen, das Glauben und das Wissen. Die Voraussetzung des Urteils (bzw. des Aussagesatzes) als Form der Wahrheit bedingt die Einschränkung des Begriffs reiner Objektivität auf den des subjektiv-persönlichen Fürwahrhaltens. Kant erörtert diese Modalitäten sowohl in der Kritik der reinen Vernunft als auch in der Logik (vgl. KrV B 848 ff., Log 66 ff.). Wenn wir uns zu urteilen entschließen, statt unser Urteil in suspenso zu halten, sollen wir dazusagen, ob wir es als Äußerung unserer freien Meinung, unseres persönlichen Glaubens oder unseres als allgemein gültig angesehenen Wissens verstehen. ,Meinung‘ bedeutet nach dieser systematischen Einteilung ein weder subjektiv noch objektiv hinreichend begründetes Fürwahrhalten. Wir halten das Gesagte für möglich. ‚Glauben’ bedeutet ein nur subjektiv, aber nicht objektiv hinreichend begründetes Fürwahrhalten. Wir halten das Geglaubte für wirklich und sind bereit, daraufhin zu handeln. ‚Wissen‘ bedeutet schließlich ein sowohl subjektiv als auch objektiv hinreichend begründetes Fürwahrhalten. Der Glaube steht vermittelnd in der Mitte. – Der „Versuch“, ob die Gründe unseres Fürwahrhaltens „auf fremde Vernunft eben dieselbe Wirkung“ haben wie auf die unsrige, ist Grund der „Vermuthung“, „ungeachtet der Verschiedenheit der
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Subjecte“ werde das Fürwahrhalten „auf dem gemeinschaftlichen Grunde, nämlich dem Objecte, beruhen, mit welchem sie daher alle zusammenstimmen und dadurch die Wahrheit des Urtheils beweisen“ (KrV B 848 f.). Der systematische Vorteil gegenüber jedem als definitiv verstandenen Wahrheitsbegriff besteht darin, dass nicht definitiv gesagt werden kann, was ,Wahrheit‘ ihrem Begriff nach sei. Wir verlassen uns auf unseren Glauben, etwas so für wirklich zu halten, dass wir bereit sind, daraufhin zu handeln und dies auch zu verantworten. So wird verständlich, dass wir unser Urteil nicht ohne Not fällen, sondern es möglichst „in suspenso“ halten sollen. Nur wenn man „aus moralischen Gründen ein Urtheil fällen muß“ und deshalb nicht „in suspenso“ bleiben darf, sei „dieses Urtheil nothwendig.“ (R, XVI Nr. 2446) Es sei etwas anderes, „sein Urtheil in dubio als es in suspenso zu lassen. Bei diesem habe ich immer ein Interesse für die Sache, bei jenem ist es nicht immer meinem Zwecke und Interesse gemäß zu entscheiden, ob die Sache wahr sei oder nicht“ (Log 75). Besonders das Verständnis der grammatischen Subjekt-Prädikat-Struktur als logische Denkform wurde Gegenstand der Kritik. Die selbst bedeutungslose Kopula ,ist‘ ist, wenn sie denn einzelsprachlich in dieser syntaktischen Form überhaupt vorgegeben ist, als Verbindung des grammatischen Subjekts mit dem grammatischen Prädikat durch keine urteilsbildenden Verstandeskategorien näher bestimmt. Da es sich bei dem ,ist‘ der Kopula um eine grammatische Form des unbestimmten Seins handelt, kann sie sowohl als Verbindung von Subjekt und Prädikat im Sein als auch im Denken verstanden werden. Der logische Schluss ist, so gesehen, zugleich ein Entschluss. Wenn das denkende Subjekt den Akzent auf das Sein legt, verstanden als das substantiell Zugrundeliegende, sieht es sich an sein Urteil gebunden. Legt es den Akzent auf das Denken, weiß es sich als frei, auch anders zu denken. Nichts hindert es, von dem einen Aspekt zu dem anderen überzugehen. – Auch für die Urteilshandlung gilt, dass der Mensch „nach der Idee der Freiheit“ handelt, „als ob er frei wäre, und eo ipso ist er frei“ (PR 1068). Mit seiner freien Handlung initiiert er jedoch eine Kausalreihe, deren Folgen er nicht übersehen und erst recht nicht beurteilen kann. Sie unterliegen dem Naturgesetz. Nach Johann Georg Hamann ist „reden“ als solches schon „übersetzen, aus einer Engelsprache“ (die in diesem Zusammenhang als eine sich unvermittelt auf Seiendes beziehende Sprache zu verstehen ist) in unsere „Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen“ (Hamann 1762: 199). Bilder werden in Zeichen übersetzt, weil sie als Bilder auch von dem her bestimmt sind, was sie darstellen sollen. Die Übersetzung von Gedanken in Worte erfolgt dagegen in jedem Sprechen unmittelbar. Es wird davon ausgegangen, dass sie adäquat sei. Sachen werden in Namen übersetzt, weil wir mit anderen nur die Namen bzw. die Zeichen gemeinsam haben. Auch nach Humboldt haben wir
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„nicht einmal die entfernteste Ahndung eines andren als eines individuellen Bewußtseyns“ (Humboldt 1830 – 1835: 408; VII 37). Hier muss die Philosophie an der allgemeinen Erfahrung ansetzen: „Einer verbindet die Vorstellung eines gewissen Worts mit einer Sache; der andere mit einer anderen Sache; und die Einheit des Bewußtseins in dem, was empirisch ist, ist in Ansehung dessen, was gegeben ist, nicht nothwendig und allgemein geltend“ (KrV B 140). Wir sollen – und darin liegt wieder ein praktisches Moment – uns unsere Vorstellungen der Realität so machen, wie es uns als hinreichend erscheint. Die „Wirksamkeit des Einzelnen“ ist nach Humboldt „immer eine abgebrochene“ (1830 – 1835: 403; VII 32). Hegel spricht dagegen von der „göttlichen Natur“ der Sprache, die „Meynung“ der sinnlichen Gewissheit „unmittelbar zu verkehren, zu etwas anderem zu machen, und so sie erst gar nicht zum Worte kommen zu lassen“ (Phän 70). Das andere ist hier die Sprache, insofern sie das hier und jetzt Gegebene unmittelbar ins Allgemeine ,verkehrt‘. Die subjektiv gebildeten moralischen Maximen werden mit ihrer Verallgemeinerung kategorisch. Man soll nach solchen Maximen handeln, die jederzeit zugleich auch allgemeine Gesetze sein könnten, so „als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte“ (GMS 421). Das bedeutet eine kritische Auswahl aus den eigenen Maximen. Kant versichert, wie gesagt, ausdrücklich, dass die Kritik „wirklich nur negativ“ sei (KrV B 25). „Charaktere“ (Zeichen), die „an sich nichts bedeuten“, führen „nur durch Beigesellung auf Anschauungen und durch diese zu Begriffen“ (Anth 191). Es läge am „Mangel des Bezeichnungsvermögens, oder dem fehlerhaften Gebrauch desselben“, „Zeichen für Sachen und umgekehrt“ zu nehmen, so dass, „vornehmlich in Sachen der Vernunft“, denen keine Anschauung „beigesellt“ ist, „Menschen, die der Sprache nach einig sind, in Begriffen himmelweit von einander abstehen; welches nur zufälligerweise, wenn ein jeder nach dem seinigen handelt, offenbar wird“ (Anth 193). „Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken“, und „die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, dieses größte Mittel, sich und andere zu verstehen. Denken ist Reden mit sich selbst“ (Anth 192), und demnach denken wir nicht in Begriffen, sondern in Zeichen für Begriffe. Das Bezeichnungsvermögen ist vom Erkenntnisvermögen nicht zu trennen. Es ist „das Vermögen der Erkenntniß des Gegenwärtigen als Mittel der Verknüpfung der Vorstellung des Vorhergesehenen mit der des Vergangenen“. Das Gegenwärtige kommt dabei selbst nicht zur Vorstellung, so dass die Verknüpfung der Vorstellung des Vorhergesehenen mit der des Vergangenen als unmittelbar erscheint. Anders als in der symbolischen Erkenntnis begleitet das verbindende Zeichen ,ist‘ in der diskursiven Erkenntnis „den Begriff nur als Wächter (custos), […] um ihn gelegentlich zu reproduciren“ (Anth 191). Es ist Sache der Einbil-
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dungskraft als der „Zeichen machende[n] Phantasie“ (Enz § 457) Wörter zu finden, die in der gegebenen Situation geeignet sind, den Begriff entsprechend auszulegen. Da wir nicht in Begriffen, sondern in Namen für Begriffe denken, müssen wir uns unsere Vorstellungen von der Realität in der Arbeit an Zeichen jeweils so machen, dass sie für die Bildung unserer Urteile hinreichend deutlich sind. Zu ihrer Deutlichkeit gehört die Kennzeichnung der Modalität. Wir sollen sagen, ob wir unser Urteil meinen, glauben oder wissen. Was einer meint, mag ein anderer glauben oder zu wissen glauben. Wissen ist als die Gewissheit verstanden, auf die wir uns verlassen. Unter Umständen ändert sich dadurch auch unser pragmatischer Glaube, auf den hin wir handeln und unser Handeln verantworten. Nietzsche spricht dagegen von einer „gemeinsamen Philosophie der Grammatik“, die das Denken bestimme (JGB 20, KSA 5.34). Es liege „im Wesen einer Sprache, eines Ausdrucksmittels, eine bloße Relation auszudrücken“, und er fügt hinzu: „Die Forderung einer adäquaten Ausdrucksweise“ sei „unsinnig“. (Nachlass 1888, 14[122], KSA 13.303). Sie lässt sich nicht erfüllen, und deshalb kann hier auch nicht von Bedingungen der Möglichkeit der objektiven Gültigkeit synthetischer Urteile ohne die Beihilfe der Anschauung die Rede sein. – Die allgemeinen Formen des Fürwahrhaltens sind bei Nietzsche grammatisch gebildete Urteile, die damit auch nur grammatisch zu verstehen sind und deshalb nicht Formen der Wahrheit sein können. Der Mensch ist nicht nur ein sprachliches, sondern „vor Allem ein urtheilendes Thier; im Urtheile aber liegt unser ältester und beständigster Glaube versteckt, in allem Urtheilen giebt es ein zu Grunde liegendes Fürwahr-halten und Behaupten“. „Daß wir ein Recht haben, zwischen Subjekt und Prädikat, zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden – das ist unser stärkster Glaube“ (Nachlass 1886, 4[8], KSA 12.182). Nur „das Individuum“, das als solches ,ineffabile‘ ist, ist nach Nietzsche „etwas Absolutes, alle Handlungen [sind] ganz sein eigen“ (Nachlass 1883/84, 24[33], KSA 10.663). – Er bezieht sich auf das Sprachproblem der Tradition, wenn er sagt, er fürchte, wir würden „Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben“ (GD 5, KSA 6.78). „Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachlichen Zwange thun wollen. […] Das vernünftige Denken ist ein Interpretiren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können“ (Nachlass 1886/87, 5[22], KSA 12.193 f.). Auch Nietzsche denkt hier von Voraussetzungen her, deren objektive Geltung mit vorausgesetzt werden muss, damit andere Sätze als objektiv gültige ,Grundsätze‘ gedacht werden können. – „Gesetzt“, dass aber auch das, was er selbst über Zeichen und Interpretation sagt, „nur Interpretation“ sei – „und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? – nun, um so besser“ (JGB 22, KSA 5.37). Für ihn ist es ein Grenzfall des Verstehens, er nennt es einen „Mangel an [erklärender] Philologie: einen Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen“. Das sei „die späteste Form der ,inneren Erfahrung‘, – vielleicht eine kaum mögliche…“
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(Nachlass 1888, 15[90], KSA 13.460). Sie muss jedoch für möglich gehalten werden, da eine begrenzte Positivität notwendig ist, damit der Zeichenprozess zeitweilig zu einem verlässlichen Abschluss gelangen kann. Der gute Wille zum Verstehen ist, „exoterisch“ gesagt, Wille zur Macht, „Wille gegen Wille“. Nietzsche notiert aber auch „esoterisch“, es gebe „gar keinen Willen“, sondern nur „Ursache-Wirkung“ (Nachlass 1886/87, 5[9], KSA 12.187). „Die Auslegung eines Geschehens als entweder Thun oder Leiden“ setze „einen Urheber voraus, und einen, an dem ,verändert‘ wird“ (Nachlass 1886/87, 2[145], KSA 12.138). – Auch das sind dann aber Ordnungen von Zeichen und nicht von Dingen, von denen wir nichts wissen und, insofern sie uns nichts angehen, auch nichts zu wissen brauchen, nicht einmal, ob sie außer den Namen ,für‘ sie überhaupt ,etwas‘ seien. Das Sein als das unbestimmte Unmittelbare war schon nach Hegel „in der That Nichts“ (Log. I, 44). Der Begriff des Seins ist als der allgemeinste auch der ärmste, nichtssagende Begriff. Dem Verstehen liegt dagegen immer schon ein früheres Verstehen oder Nichtverstehen voraus. Für Nietzsche ist es deshalb auch „schwer, verstanden zu werden. Schon für den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation soll man von Herzen dankbar sein: an guten Tagen verlangt man gar nicht mehr Interpretation. Man soll seinen Freunden einen reichlichen Spielraum zum Mißverständniß zugestehen.“ Es dünkt ihn, „besser mißverstanden als unverstanden“ zu sein. Es sei „etwas Beleidigendes darin, verstanden zu werden. Verstanden zu werden? Ihr wißt doch, was das heißt? – Comprendre c’est égaler“ (Nachlass 1885/86, 1[182], KSA 12.50 f.). Ludwig Wittgenstein setzt in seiner frühen Schrift Tractatus logico-philosophicus dagegen noch voraus, dass „die Welt“ in „Tatsachen“ zerfalle (Tr 1.2). Unter dieser Voraussetzung kann die Welt in die grammatische Form von Aussagesätzen gefasst werden, die je für sich genommen wahr oder falsch und damit Form der Wahrheit sein sollen. Dass „die Bedeutung eines Wortes“ sich im Sprachgebrauch zeige, gilt nach den späteren Philosophischen Untersuchungen nur noch „für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ,Bedeutung‘, wenn auch nicht für alle Fälle“ (PU 43). Für „alle Fälle“ kann nur gelten, dass die „Bedeutung des Wortes“ eben „das“ sei, „was die Erklärung der Bedeutung erklärt“ (PU 560). – „Ein philosophisches Problem“ habe allgemein die Form: „,Ich kenne mich nicht aus‘“ (PU 123). Man kennt sich nicht aus, wenn man die Zeichen, so wie sie hier und jetzt gegeben sind, nicht oder für die eigene Orientierung nicht mehr hinreichend versteht. Die Frage: „Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen“, beantwortet Wittgenstein mit der Gegenfrage: „Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen“ (PU 504).
Mit anderen Worten
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Günter Abel
Interpretationsphilosophie und Philosophie des Zeichens Replik zum Beitrag von Josef Simon
1 Zeichen- und Interpretationsphilosophie als Ergebnis der Entwicklungen der Geschichte der Philosophie und als systematischer Reflexionsstand gegenwärtigen Philosophierens Josef Simon liefert in seinem Beitrag den Nachweis, dass die beiden Grundwörter ‚Zeichen‘ und ‚Interpretation‘ in der Geschichte des abendländischen Philosophierens eine überaus wichtige Rolle spielten und spielen. Es handelt sich dabei aber keineswegs um eine bloß begriffsgeschichtliche Betrachtung. Es geht um weit mehr, nämlich darum, dass was „auch immer gedacht wird“, sich „einer fortwährenden ‚Arbeit an Zeichen‘“ verdankt (mit Verweis auf Flasch 1992: 136 ff.), wodurch das Denken bewegt wird.¹ Und diese Arbeit wird von Simon als ‚Interpretieren‘ gefasst, welches „eine objektiv nicht zuende zu bringende Arbeit an Zeichen“ ist. Der Hauptteil des Beitrags von Simon demonstriert diese These auf dem Boden gründlichster Kenntnisse der „Positionen und Wendepunkte“ der Geschichte des abendländischen Philosophierens. Über das Verhältnis der beiden Grundwörter ‚Zeichen‘ und ‚Interpretation‘ in Simons Philosophie des Zeichens und in der von mir vertretenen Interpretationsphilosophie wird im einzelnen noch zu handeln sein. Mit seiner eindrucksvollen Rekonstruktion der abendländischen Philosophiegeschichte entlang des Fokus auf die Begriffe Zeichen und Interpretation seit ihren Anfängen, vor allem aber seit Beginn der Neuzeit von Descartes, Leibniz, Lambert, Humboldt, Kant, Hamann bis hin zu Nietzsche und Wittgenstein liefert Simon einen eindrucksvollen Beweis für die These, die ich zugespitzt wie folgt formulieren möchte: An der in der neuzeitlichen Philosophie zunehmend rele Zitierte und als solche ohne weiteren Stellenvermerk versehene Passagen von J. Simon entstammen sämtlich dem Simon-Beitrag, auf den hier repliziert wird [Anm. d. Hg.]. https://doi.org/10.1515/9783110522280-019
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vanter werdenden Karriere des Begriffspaares Zeichen und Interpretation wird manifest, dass eine umfängliche Zeichen- und Interpretationsphilosophie zum einen (a) als argumentationsfähiges Ergebnis der Entwicklungen der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie und zum anderen (b) als Ausdruck eines systematischen Reflexionsstandes gegenwärtigen Philosophierens angesehen werden kann. Die Komponenten (historische Entwicklungslinie der Denkungsart und systematischer Reflexionsstand heute) bilden eine Einheit. Historisches und systematisches Philosophieren können darin nicht gegeneinander isoliert oder gar ausgespielt werden. Mit dieser Doppelverortung der Zeichen-und-Interpretations-Problematik rückt Simon die Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuIPhilosophie] historisch wie systematisch in ein äußerst anspruchsvolles und herausforderndes Szenario. Auf diese Weise liefert er eine ausgezeichnete Verortung des zeichen- und interpretationsphilosophischen Ansatzes, die ich nicht nur für hochattraktiv in Bezug auf die Aktualität der ZuI-Philosophie halte, sondern auch als eine starke Bürde für jeden Schritt innerhalb der ZuI-Philosophie verstehe. Denn unübersehbar ist nach der Lektüre des Simon-Beitrags, wie trefflich das bekannte Gleichnis von den Zwergen auf den Schultern der Riesen ist, sobald wir das Verhältnis der aktuellen Philosophie zur abendländischen Tradition und zu den Leistungen früherer Generationen in den Blick nehmen. Freilich liefert Simon eine bestimmte, eben seine Lesart der Entwicklungen der abendländischen Philosophie. Andere Lesarten bleiben möglich. Eine davon, für die ich ebenfalls viel Sympathie empfinde, wäre zu betonen, dass sich das Begriffspaar Zeichen und Interpretation nicht zuletzt und vornehmlich im Gegenzug zu vielen stark metaphysisch-ontologischen Positionen nur unter Schwierigkeiten überhaupt ins Spiel bringen, gar durchsetzen konnte. Einige der Riesen sind dann auch riesige Hindernisse, nicht nur Beförderer, sondern auch Behinderer neuerer und grundständig differenter Entwicklungen. Wichtig scheint mir bei alledem und egal, welches der beiden Bilder wir favorisieren, der Punkt, dass wir es in der abendländischen Geschichte des Philosophierens stets sowohl mit Positionierungen als auch mit deren Kritik zu tun haben. Die Geschichte der abendländischen Metaphysik ist so gesehen zugleich eine Geschichte der Metaphysik-Kritik. Und es ist genau dieses Wechselspiel, das den Aufstieg und die Karriere des Begriffspaars Zeichen und Interpretation nicht unwesentlich ermöglicht und beeinflusst hat. Geben wir, was die Frage der Lesart angeht und was nicht überraschen wird, in dem hier zu erörternden Kontext der Simonschen Lesart deutlich den Vorrang. Simons großartige Leistung ist hier wie in allen seinen Schriften, dass er uns die Tradition der abendländischen, speziell der neuzeitlichen Philosophie so sprechend und transparent vor Augen und Ohren zu führen vermag, dass die Autoren
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der neuzeitlichen Philosophie von Descartes bis Wittgenstein sogleich zu Zeitgenossen und des näheren eben sofort zu argumentativen Zeitgenossen der Diskussionen um die Probleme und Perspektiven einer Zeichen- und Interpretationsphilosophie werden.² Auch bestätigt sich, dass die großen Autoren der Geschichte der Philosophie neu zu uns sprechen, sobald wir neue Fragen an sie herantragen. Und die Fragen nach epistemischem Status, genuinem Profil und funktionaler Rolle von Zeichen und Interpretationen im Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Erkennen und Handeln sind ohne Zweifel Fragen von solch aufschließender Art. Auch dies demonstriert Simon mit seinem philosophiegeschichtlich ebenso aufschlussreichen wie reichhaltigen Beitrag. Auf die von Simon diskutierten Positionen und Formulierungen der Autoren der Tradition – wie z. B. die Formulierung von Hegel „Es ist in Namen, dass wir denken“ (Enz § 462) oder die, dass in Kants Kritik der reinen Vernunft die Vernunft vom Subjekt der Kritik zu deren Objekt werde, oder die Cartesianische Figur der Verbindung von Denken und Sein im Denken oder die Hegelsche Überzeugung, dass das Urteil allein schon aufgrund seiner Subjekt-Prädikat-Form „ungeschickt“ sei, die Wahrheit zu erfassen, oder Nietzsches Rede von der „gemeinsamen Philosophie der Grammatik“ oder die vom „vernünftigen Denken“ als eines „Interpretierens nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können“ (Nietzsche: Nachlass 1886/87, 5[22], KSA 12.193 f.) – kann und will ich hier im einzelnen nicht eingehen. Das würde den Rahmen einer Replik sprengen.Wichtig ist mir jedoch zu betonen, dass auch die angeführten Denkfiguren des neuzeitlichen Philosophierens als öffnende Wegbereiter dafür angesehen werden können, dass, die These sei gewagt, die ZuI-Philosophie als zugleich historischer wie systematischer Reflexionsstand des neueren und gegenwärtigen Philosophierens angesehen werden kann. Diese Verortung der ZuI-Philosophie zu akzentuieren, heißt selbstverständlich nicht, sie in irgendeinem Sinne als abschließend, gar als eine Art ‚letzte‘ oder ‚absolute‘ Philosophie misszuverstehen. Hier stehe ich ganz auf der Seite des von Simon zitierten Hegel, dem zufolge „keine Philosophie widerlegt worden“ ist.Was „widerlegt“ worden ist, sei „nicht das Prinzip dieser Philosophie, sondern nur dies, dass dies Prinzip das Letzte, die absolute Bestimmung sei“ (VGPh I 67); das ist auch das Vorspann-Motto von Simons Buch Philosophie des Zeichens (1989). Aber gegeben den gegenwärtigen historischen wie systematischen Reflexionsstand könnte man durchaus die These vertreten, dass die ZuI-Philosophie einen Typus gegenwärtigen Philosophierens verkörpert, der dem Hegelschen Befund
Zur Einordnung der ZuI-Philosophie in den Zusammenhang einiger der zeitgenössischen Strömungen der Philosophie vgl. (Gunnarsson 2001).
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und dessen bekanntem Diktum „Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefasst“ [GPR 26] durchaus affin ist – bis auf weiteres, bis, so könnte man in ebenfalls Hegelscher Manier sagen, es im Sinne bestimmter Negation zu einem weiteren und anderen Philosophieren kommt, das dann jedoch den in der ZuI-Philosophie erlangten Reflexionsstand in sich aufgenommen hat und weiterführt.
2 Interpretationsphilosophie und Philosophie des Zeichens Mit Recht betont Josef Simon die engen Verbindungen zwischen der Interpretationsphilosophie und der von ihm vertretenen Philosophie des Zeichens (Simon 1989). Diese Verbindung gründet vor allem darin, dass das Verhältnis von Zeichen und Interpretation für jedes Welt-, Fremd- und Selbstverhältnis grundlegend ist und darin für uns als endliche Geister auch den Horizont möglicher Erkenntnis sowie deren Grenzen umschreibt. Dieser Befund gilt im Blick auf das ganze Spektrum von alltäglich-phänomenalen Empfindungen und Erfahrungen bis hin zu den reflektierten Einstellungen und Rekonstruktionen in Bezug auf das, was da geschieht, wenn wir so empfinden, wahrnehmen, sprechen, denken, erkennen und handeln, wie wir dies nun einmal tun. Die explizite Reflexion auf den Zeichen- und Interpretationscharakter aller Bereiche und Prozesse dieses Spektrums sowie auf die Mechanismen ihrer Interaktionen hat mithin Grundlagencharakter und unterscheidet eine ZuI-Philosophie von einer Theorie der Zeichen und Interpretationen, welch letztere auf methodologisches Vorgehen in einzelwissenschaftlichen Bereichen bezogen und begrenzt ist.³ Des näheren spielen Zeichen und Interpretationen in allen unterschiedlichen Bereichen der Philosophie eine wichtige Rolle. Hier kommen einige wenige Beispiele: in der Hermeneutik werden gegebene Zeichen (z. B. ein Text oder ein Bild) interpretiert; in der Sprachphilosophie wird betont, dass das Interpretieren der Zeichen in der Sprecher-Hörer-Relation nicht bloß eine Operation unter anderen, sondern dass Interpretation Kondition des Verstehens von Zeichen ist; in der Epistemologie ist jede Leistung repräsentational verwendeter Zeichen intern an die Interpretation dieser Zeichen geknüpft; in der mathematischen Logik werden den Zeichen nicht-leere Gegenstandsbereiche und Wahrheitswerte kraft Interpretation zugeordnet; in der Semiotik ist seit Peirce das Verhältnis von Zeichen und es interpretierendem Folgezeichen bzw. Interpretanden von besonderer Vgl. zu dem ganzen Feld ausführlicher auch (Abel 1992); im Folgenden greife ich auch auf Materialien aus diesem Aufsatz zurück.
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Wichtigkeit. Und auch in der Philosophie des Zeichens Josef Simons, derzufolge in einem weiten Sinne alles, was wir verstehen, Zeichen ist, ist das Begriffspaar von Zeichen und Interpretation grundlegend. Auf dieser der Interpretationsphilosophie und der Philosophie des Zeichens gemeinsamen Basis können wir dann den zeichenphilosophischen von dem interpretationsphilosophischen Ansatz entlang der Frage unterscheiden, ob das Verhältnis von Zeichen und Interpretation primär vom Zeichen oder von der Interpretation her gefasst wird. Dabei treten im Einzelnen dann auch Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen hervor. Es geht um Kooperationen und Differenzen, wobei letztere in keinem Falle als Gegensätze verstanden werden dürfen. Die bei feinkörnigerer Betrachtung deutlicher werdenden Unterschiede ergeben sich vor allem aus den unterschiedlichen Zwecksetzungen der jeweiligen Betrachtung. Die wichtigsten Aspekte der Kooperation wie der Differenz sind die folgenden: (a) In der ZuI-Philosophie werden Zeichen und Interpretationen, so möchte ich sagen, nicht in einer Asymmetrie mit Vorrang des Zeichens, sondern in ihren gleichursprünglichen Funktionen gefasst. Daher auch bezeichne ich meine Position als ‚Zeichen- und Interpretationsphilosophie‘, im Unterschied zu der Simonschen (zudem singularischen) Formulierung ‚Philosophie des Zeichens‘. (b) Die Unterschiede hängen damit zusammen, dass in der ZuI-Philosophie nicht, wie in der Philosophie des Zeichens, die Optik vorherrscht, dass da zunächst und vor allem ein unmittelbares Zeichenverstehen bzw. ein unmittelbares Zeichen ist, wobei dann, sobald nicht mehr unmittelbar verstanden, sondern nach der Bedeutung des Zeichens gefragt wird, das Zeichen solange mit Hilfe anderer Zeichen zu interpretieren ist, bis eines dieser Folgezeichen als Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Zeichens akzeptiert wird. Demgegenüber setzt die Interpretationsphilosophie zwar beim Interpretieren ein, möchte dann aber den für die Philosophie des Zeichens wichtigen Punkt eines ‚Zeichenverstehens ohne weitere Erklärung‘ (welcher unten eigens behandelt wird) von der Innenseite des Interpretierens sowie des interpretativen Zeichengebrauchs her als Grenzfall eines Interpretierens verstehen und entfalten – und es nicht als dessen metaphysisch-ontologische Voraussetzung ansehen müssen. (c) In Bezug auf das Verhältnis von Zeichen und Interpretation plädiert die ZuI-Philosophie daher nachdrücklich gegen eine trennscharfe Abgrenzung sowie gar eine Entgegensetzung beider und für deren Gleichrangigkeit und nach Art siamesischer Zwillinge gegebener wechselseitiger Abhängigkeiten. Interpretation geschieht in und an Zeichen, und Zeichen werden nicht nur nachträglich (falls erforderlich) interpretiert, sondern sie sind bereits in ihren Zeichenfunktionen, die sie üben und durch die sie die Zeichen sind, die sie sind, interpretatorisch (z. B. denotierend, referierend, exemplifizierend, ausdrückend, organisierend,
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klassifizierend, fixierend). Zeichen sind interpretativ, wobei ich ‚interpretativ‘ hier, wie oft betont, in prädikativer Stellung verwende. (d) Es gibt keine nicht-interpretativen Zeichen (jedenfalls lassen sich solche nicht auf nicht-interpretative Weise auszeichnen), einschließlich derjenigen Zeichen, die nicht oder noch nicht verstanden werden und deshalb einer Deutung im Sinne einer aneignenden Interpretation3 bedürfen. Es gilt mithin, beide Komponenten in ihrem Zusammenspiel zu sehen: zum einen kann nichts ein Zeichen sein, „unless it is interpreted as a sign“ (Peirce CP II 308), und das Zeichen ist dann zugleich in seinen Funktionen interpretatorisch; zum anderen sind Interpretationen Ereignisse in und an Zeichen (vgl. Abel 1992: 168 f.). (e) Anders als die Philosophie des Zeichens trete ich nachdrücklich für ein Stufenmodell der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse ein. Darin manifestiert sich eine Erweiterung und Tieferlegung der beiden Grundwörter ‚Zeichen‘ und ‚Interpretation‘. Die Rede von ‚Interpretation‘ ist ebenso wenig auf auslegende und aneignende Deutung einzugrenzen wie die Rede von Zeichen auf begriffliche und einzelwissenschaftliche Zeichen. Sieht man, dass in beiden Fällen die Weite des jeweiligen Grundwortes wesentlich zum Argument gehört, stellt sich die Lage verändert dar. Für die Philosophie des Zeichens hat Simon die entscheidenden Erweiterungen vorgenommen. Zeichen ist letztlich gerade das, was in dem subsumierenden Zugriff sprachlich-begrifflicher und vorab regionalisierter Zeichen nicht aufgeht. Für die Interpretationsphilosophie ist zu betonen, dass Interpretation im Sinne auslegender und aneignender Deutung (zu der z. B. Erklärungen, Paraphrasen, Theorien, Begründungen und vieles andere gehören) nur den engen Sinn von Interpretation, nur eine von drei heuristisch zu unterscheidenden Ebenen des Interpretierens und des Zeichengebrauchs kennzeichnet. Von diesen aneignenden Zeichen und Interpretationen, kurz Zeichen3 und Interpretationen3 genannt, kann man die Gleichförmigkeitsmuster und die Gewohnheiten unseres Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses unterscheiden, kurz Zeichen2 und Interpretationen2 genannt. Und von beiden Ebenen wiederum lassen sich die in den kategorialisierenden Funktionen unserer welt- und sinn-formierenden Horizonte selbst sitzenden Weisen des Zeichengebrauchs und des Interpretierens (wie vor allem diejenigen des basalen phänomenalen Diskriminierens, des Individuierens von Gegenständen sowie deren raum-zeitlicher Lokalisierung und sortalen Klassifikation) unterscheiden, kurz Zeichen1 und Interpretationen1 genannt.⁴ Zum Stufenmodell im Einzelnen und mit weiteren differenzierenden Unterscheidungen vgl. z. B. (Abel 1989b, SZI, ZdW); angemerkt sei, dass ich zu Beginn meiner Überlegungen [seit (Abel 1984), und dann in den ersten Texten 1988 und 1989] nur von ‚Interpretationsphilosophie’ gesprochen habe, später erst die gleichursprüngliche Rede von ‚Zeichen und Interpretation’ und entsprechend auch von ‚Zeichen- und Interpretationsphilosophie’ verwendet habe. Zeichen
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(f) Mit der Erweiterung und Tieferlegung der beiden Grundwörter ‚Zeichen‘ und ‚Interpretation‘ wird deutlich, dass es hier nicht um (einzelwissenschaftlich orientierte) Zeichentheorie und Interpretationstheorie, sondern um Zeichenphilosophie und Interpretationsphilosophie geht. Zeichentheoretiker fragen (z. B. in Bezug auf Texte, Bilder, Musikstücke, Architektur und vieles mehr), was ein Zeichen, Interpretationstheoretiker, was eine Interpretation sei, und sie betonen dann mit schöner Regelmäßigkeit, dass sie dies leider immer noch nicht wüssten. In der Philosophie ist dies aber gar nicht die entscheidende Frage. Entscheidend ist nicht, was genau Zeichen und Interpretationen sind, sondern wann etwas als ein symbolisierendes Interpretationszeichen fungiert, was es heißt, das Welt-, Fremd- und Selbstverständnis am Leitfaden von Zeichen- und Interpretationsprozessen zu verstehen und welche Leistungsfähigkeiten mit einem solchen Ansatz verbunden sind oder nicht. Einzelwissenschaftliche Zeichen- und Interpretationstheorien (z. B. in der Literatur-, Kunst- oder Musikwissenschaft) gehen bereits von der Unterscheidung nach Gattung und Art aus, nehmen Zeichen und Interpretation als Gattungsausdrücke (d. h. ‚Zeichen‘ als alles, was für etwas anderes steht; ‚Interpretation‘ als Verdeutlichung gegebener und bislang nicht oder noch nicht verstandener Zeichen wie z. B. literarischer Texte) und unterscheiden dann Arten von Zeichen (z. B. Anzeichen, Signale, Hinweise, Richtungen, Symptome) und Arten von Interpretationen (z. B. Kommentare, Exegesen, Erläuterungen, Paraphrasen, Übersetzungen, Transkriptionen). Auftretende Zeichen und Interpretationen werden dann als Arten der Gattung Zeichen bzw. Interpretation gefasst. Der Witz einer zeichen- und interpretations-philosophischen Betrachtung besteht nun aber einfach darin, dass sie die Unterscheidung von Gattung und Art selbst bereits als ein Resultat eines tieferliegenden Zeichen- und InterpretationsGeschehens auffasst. Unter anderem zeigt sich gerade an der Unterscheidung von Gattung und Art, d. h. daran, dass durch diese Unterscheidung, gleichsam wie in Dedekindschen Schnitten, zunächst kontinuierlich verfasste Verhältnisse aufgetrennt werden, dass wir es hier mit kategorialisierenden Zeichen1- und Interpretationen1-Prozessen zu tun haben. Dies ist ein in epistemologischer Hinsicht zentraler Befund. Das interpretatorische Element sitzt nicht erst in der Subsumtion einzelner Vorkommnisse unter Arten und dieser unter Gattungen. Es sitzt zum einen bereits in der Genesis der Gattungen und Arten selbst, deren Bildung darin zugleich als eine Reaktion auf den Fluss der Zeichen und Interpretationen, als ein Versuch erscheint, das zunächst kontinuierliche Ineinanderübergehen der
hängen ohne Interpretation ebenso in der Luft wie Interpretationen ohne Zeichen. Diese Einsicht bildet den einfachen Grund für die terminologische Erweiterung des Labels.
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Interpretationszeichen zu segmentieren und zu fixieren. Zum anderen sitzt das interpretatorische Element in der Unterscheidung zwischen Gattung und Art sowie zwischen Art und Art kraft der spezifischen Differenz als demjenigen Begriff, der die zunächst bestehende Kontinuität zwischen Gattung und Art (d. h. den Zustand, in dem eine Gattung für eine Art und eine Art für eine Gattung sowie Arten füreinander stehen können) durch ein explizites Dazwischen-Treten auftrennt.⁵ (g) Die ZuI-Philosophie vertritt (in Übereinstimmung mit der Philosophie des Zeichens) in Bezug auf die Bedeutung sprachlicher sowie nicht-sprachlicher Zeichen die These, dass die Bedeutung in der angemessenen Interpretation liegt. Dabei ist mir zunächst freilich (und in Differenz zur Philosophie des Zeichens) der Unterschied zwischen ‚Deutung‘ und ‚Interpretation‘ wichtig. Einerseits ist Wittgensteins bekannte Bemerkung trefflich: „Die Deutungen allein bestimmen die Bedeutung nicht“ (PU Nr. 198). Andererseits muss eben, so ist zu ergänzen, das ganze praktische Geflecht unserer Interpretationen (im Sinne der vielfältigen Tätigkeiten des Projizierens, Konjektierens, Perspektivierens, Eingrenzens, Hierarchisierens, in Praktiken Situierens, Diskriminierens, Individuierens und vieles mehr), kurz: muss eben zwecks Bestimmung der ‚Bedeutung‘ eines Zeichens unsere ganze Zeichen- und Interpretations-Praxis ins Spiel kommen, nicht bloß die nachträgliche und aneignende Deutung (die in der ZuI-Philosophie lediglich eine von mehreren Weisen des Interpretierens darstellt). Die verdeutlichende Kraft der angemessenen Interpretation eines Zeichens durch sein Folgezeichen hängt in diesem Sinne nur dann nicht in der Luft, wenn die zugehörige Interpretation3+2+1-Praxis aktiviert ist. Diese Aktivierung ist stets bereits erfolgt und in Anspruch genommen, wenn Zeicheninterpretation gelingt und Kommunikation sowie Kooperation flüssig funktionieren bzw. flüssig fortgesetzt werden können. Eine der Konsequenzen dieser Auffassung ist, dass es im Hinblick auf das Erfassen und Beschreiben des flüssigen Funktionierens der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse eine ‚Theorie der Bedeutung‘ (im engen Sinne des Ausdrucks als einzelwissenschaftlicher Theorie über ein fest vorgegebenes Gegenstandsfeld) nicht geben kann. (h) Der Punkt, dass es, streng genommen, eine Theorie der Bedeutung nicht geben kann (welcher Befund freilich das Erfordernis einer Philosophie der Bedeutung keineswegs obsolet macht, sondern nur um so dringlicher auf den Plan ruft) bedarf der Erläuterung. Eine solche Erläuterung ist nicht zuletzt auch im Simon verweist in seiner Philosophie des Zeichens (Simon 1989: 264) in diesem Zusammenhang auf Kants Maxime der „Kontinuität der Formen“ (KrV B 686) begrifflich durchgeführter Spezifizierungen. Gattungen und Arten liegen dieser Maxime zufolge „beliebig dicht aneinander, so dass ihre Unterscheidung im Grenzfall schwer wird“ (Simon 1989: 264).
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Blick auf die jüngste sprachphilosophische Diskussion im Anschluss an Wittgenstein, Austin, Grice und Davidson von besonderem Interesse. Die wichtigsten Punkte sind stenogrammartig die folgenden (vgl. ausführlicher Abel 1992: 183 – 185): (i) Wir können die Sprache, die wir tatsächlich sprechen, und die nichtsprachlichen Zeichen, die wir tatsächlich verwenden, im tatsächlichen Sprechen und Zeichengebrauch nicht distanziert und abgegrenzt vor uns hinstellen und über diese dann Theorien im Sinne einzelwissenschaftlicher Theorie formulieren. (ii) Wird Theorie als formale Theorie aufgefasst, so entzieht die Verschränkung des Sprach- und Zeichengebrauchs mit der Interpretations-Praxis diesen Sprachund Zeichengebrauch einer formalen Behandlung etwa im Sinne eine Kalkülisierung oder Algorithmisierung. Stets gibt es so viele Bedeutungen, wie es angemessene Interpretationen gibt (wobei ‚angemessen‘ das Passen einer gegebenen Zeicheninterpretation zu den Mechanismen der ZuI-Praxis meint, wodurch ein Relativismus selbstredend ausgeschlossen ist). (iii) Eine Theorie der Bedeutung müsste angeben können, was für ein Ding Bedeutung ist. Erinnert sei demgegenüber an Austins schöne Feststellung: „the phrase ‚the meaning of a word‘ is, in general, if not always, a dangerous nonsense phrase“ (Austin 1961: 24, vgl. 24– 30). (iv) Theorien (im engeren Sinne dieses Ausdrucks) sind ihrer Natur nach auf reduktive Analyse angelegt. Darin liegen ihre Attraktivität und ihre Leistungsfähigkeit. In den meisten Fällen geht es dann um eine physikalistische Reduktion semantischer Ausdrücke. Die entsprechenden Versuche können jedoch als gescheitert angesehen werden. Stephen Schiffer betont mit Recht, dass es nicht gelingen kann, das Schema ‚x bedeutet bzw. referiert auf y, wenn…‘ so zu ergänzen, dass in der Ergänzung keine semantischen und/oder intentionalen Ausdrücke vorkommen (vgl. Schiffer 1987: 268 ff., xiii und Kap. 9). (v) Auch kann man nicht davon ausgehen, dass natürliche Sprachen stets bereits eine Theorie der Bedeutung etwa im Sinne Davidsons enthalten, diese ihnen gleichsam vorab eingebaut ist. Eine solche Theorie ist, glücklicherweise, auch nicht erforderlich. Denn die Subtilität und Komplexität der Praxis des Gebrauchs sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen, mithin des wirklichen Sprechens und Handelns, ist so hoch, so an das Sprecher-Hörer-Individuum gebunden und so wenig fest-stehend, dass eine Theorie, die diese Aspekte erfassen können wollte, letztlich ihr kennzeichnendes Merkmal, ihre Allgemeinheit nämlich, und damit sich selbst als Theorie aufgeben müsste. Wer im wirklichen Sprechen, Gestengebrauch und Verstehen kein Auge und kein Ohr für Nuancen hat, den bezeichnet Wittgenstein einmal als einen „Bedeutungsblinden“ (BPP I, §§ 225, 232, 243; II, § 572).⁶
Davidsons Bedeutungstheorie ist durch zwei Anforderungen gekennzeichnet: „it would provide an interpretation of all utterances, actual and potential, of a speaker or group of speakers;
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Die vertikale Staffelung des skizzierten Stufenmodells habe ich vor allem aus den folgenden vier Gründen eingeführt. Erstens (a) lassen sich eine Reihe von Fragen und Problemen in Sachen Zeichen und Interpretation bereits dadurch aufklären, dass die jeweilige Ebene bzw. Stufe, auf der das Problem angesiedelt ist, explizit benannt und von anderen unterschieden wird. Solange wir konfligierende Situationen und Probleme in Sachen Zeichen und Interpretation auf nur einer einzigen Ebene zu behandeln suchen, sind antinomische Konsequenzen nicht zu vermeiden. Das Stufenmodell der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse ist in diesem Sinne ein methodologischer und epistemologischer Schachzug, antinomische Konsequenzen zu unterlaufen bzw. deren Möglichkeit erst gar nicht ins Spiel kommen zu lassen. Die Pro- und Opponenten eines Konflikts können auf die unterschiedlichen Ebenen bzw. Stufen verteilt und dann kohärent zwischen den Stufen untereinander kompatibel rekonstruiert werden. Zweitens (b) ist das Stufenmodell deshalb von Vorteil, weil die Fülle der zeichen- und interpretationsbestimmten Phänomene eingefangen und auf die unterschiedlichen Ebenen bzw. Stufen verteilt werden kann. Das Stufenmodell ist also nicht bloß ein methodologischer Schachzug. Es erlaubt zugleich die Erweiterung der Betrachtung von einer rein sprachlich-begrifflichen Ebene in die Sphäre der Phänomene, mithin den Übergang von dem Begriff des Zeichens und der Interpretation zu den sinnlich-lebensweltlichen Phänomenen der Zeichenund Interpretationsverhältnisse, die es im Philosophieren zu erfassen und in der ZuI-Welt zwecks Orientierung zu nutzen gilt. Drittens (c) ist das Stufenmodell in der ZuI-Philosophie nicht als ein Schichtenmodell zu verstehen, das in ontologischer und/oder soziologischer bzw. sozial-epistemologischer Hinsicht Schichten bottom-up bis hinauf zu höheren kognitiven sowie reflektierten und normativ-ethischen Einstellungen abdeckt. Das Stufenmodell verstehe ich vielmehr als ein zuschreibungstheoretisches Reflexionsmodell. Wie ist das zu verstehen? Hier kommt ein Beispiel: Wenn im Falle eines sprachlichen Ausdrucks (sagen wir des Wortes ‚Tisch‘) auf der Ebene 3 dessen semantische Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen) nicht mehr fraglos verstanden werden, gehen wir zwecks Beseitigung dieses Störfalls reflexiv in die Ebene 2 und d. h. in die Ebene der deutschen Sprache zurück und schauen dort nach, wie andere Sprecher und Hörer der deutschen Sprache üblicherweise das Wort verwenden; führt auch dies
and it would be verifiable without knowledge of the detailed propositional attitudes of the speaker“ (Davidson 1984: xiii). Keine dieser beiden Anforderungen ist im tatsächlichen Sprechen und Verstehen sprachlicher und/oder nicht-sprachlicher Zeichen gegeben oder gar erfüllt.
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nicht zur Beseitigung des Störfalls, so kann eine darüber hinausgehende Reflexion auf die Ebene 1 weiterhelfen, auf diejenige Ebene nämlich der Sprachlichkeit unseres In-der-Welt-seins, in Kombination mit der Reflexion auf die in unserer Sprache verkörperten Prinzipien der Individuation (denen zufolge es in unserer Welt Tische derart als Objekte gibt, dass diese durch das Wort ‚Tisch‘ und die in diesem denotierenden Wort verkörperten Mechanismen der phänomenalen Diskriminierung und der objektbezogenen Individuierung adressiert werden und damit Bestandteile unserer Welt sind, in der wir leben und auf die wir uns üblicherweise verstehen). Viertens (d) zählt meines Erachtens zu den methodologischen und epistemologischen Vorzügen des Stufenmodells auch, dass es sich um ein zuschreibungstheoretisches Modell handelt. Der keineswegs gering zu veranschlagende Vorteil gegenüber anderen Modellen besteht hier in dem doppelten Effekt, (i) dass das Modell nicht als ein ontologisches Modell missverstanden bzw. nicht von seinen ersten Schritten an auf ontologische Verpflichtungen festgelegt werden kann und (ii) dass das Stufenmodell selbst-inkludierend ist, mithin sich seinerseits nicht außerhalb der Zeichen- und Interpretations-Signatur unserer Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse, mithin sich nicht außerhalb unserer Zeichen- und Interpretationswelt, nicht außerhalb unserer Welt aufstellen möchte oder dies auch nur, etwa im Sinne einer epistemischen Idealisierung, zu können behauptet. Das Stufenmodell der ZuI-Philosophie ist ein Modell, des näheren ein heuristisches Modell, keine Theorie.
3 Zeichenverstehen ohne Interpretation? Ein wichtiger Unterschied zwischen der Interpretations-Philosophie und der Simonschen Philosophie des Zeichens besteht darin, dass in letzterer die Figur eines ‚Verstehens ohne jede Interpretation‘ vertreten wird. Demgegenüber konzipiere ich diesen besonderen Fall eines Zeichenverstehens (den ich keineswegs leugne, sondern ebenfalls als hoch wichtig für das flüssige Kommunizieren und Kooperieren hervorhebe) als einen Grenzfall fraglos eingespielter Verhältnisse einer zugrunde liegenden Zeichen-und-Interpretations-Praxis. Ich möchte also, wenn man so will, das ‚direkte Zeichenverstehen‘ (so mein terminologischer Vorschlag, um den Unterschied zur Philosophie des Zeichens zu markieren) strikt von dem Verdacht auf ein unmittelbares, gar mystisches oder magisches Verstehen der Zeichen abgrenzen. Den Hintergrund meiner Position bildet der auch in dem oben beschriebenen Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse bereits herausgestellte Punkt, dass Zeichen nicht nur nachträglich und nicht nur dann, wenn sie nicht verstanden werden,
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interpretiert werden, sondern in ihren ursprünglichen Funktionen stets bereits interpretatorisch fungieren bzw. interpretatorisch sind. Dieser Punkt lässt sich durch zwei einfache Beispiele verdeutlichen: Wird in Bezug auf ein Wort einer Sprache oder in Bezug auf eine wissenschaftliche Theorie, deren beider Gebrauch auf die Ebene 3 der ZuI-Verhältnisse gehört, in der Sprachgemeinschaft nicht eigens nach der Bedeutung des Wortes oder in der Scientific Community nicht eigens nach der Geltung der Theorie gefragt – haben wir es also in diesem Sinne mit einem ‚Verstehen ohne Interpretation‘ zu tun –, so heißt dies eben nicht nur nicht, dass keine Interpretationsverhältnisse vorausgesetzt werden müssen, sondern darüber hinaus, dass dieses Verstehen ohne weitere Deutung/Interpretation auf der Ebene 3 überhaupt nur dadurch gewährleistet ist, dass das Wort oder die Theorie in den Ebenen 2+1 verankert und in diesem grundlegenden Sinne stets bereits interpretiertes Wort bzw. interpretierte Theorie ist. Ein in diesem Sinne nicht-interpretatives Wort kann es unter sinnlogischem Vorzeichen (d. h. dann, wenn das Wort bzw. Zeichen Sinn machen soll) ebenso wenig geben wie eine in diesem Sinne nicht-interpretative wissenschaftliche Theorie. Dass in jedes Zeichenverstehen stets bereits eine Fülle interpretatorischkonstruktionaler Aspekte mit eingehen, ist offenkundig (vgl. dazu ausführlich Abel 1997). Stenogrammartig seien einige dieser Aspekte hier benannt, auch um zu verdeutlichen, mit was für einem grandiosen und wunderbaren Mechanismus wir es zu tun haben, wenn wir uns auf unsere Zeichen (in etwa so selbstverständlich wie die Tausendfüßler auf ihre Beinbewegungen) verstehen und dass heißt: wenn wir Zeichen direkt, ohne weitere Deutungen und Erklärungen dazwischenschalten zu müssen, verstehen. Die wichtigsten Elemente sind: (i) Ein Zeichen (z. B. ein Wort, eine Geste, eine Linie) muss erst einmal aus seiner Umgebung hervorgehoben und in den Fokus unserer Aufmerksamkeit gehoben werden, um als solches fungieren zu können. (ii) Die eigenen Standards des Verwendens und Verstehens müssen hinter die fremden Äußerungen und Zeichen projiziert werden, um so (iii) die Organisation der Zeichen und, im Falle von Sätzen, die logische Form der Sätze zu fixieren. (iv) Die syntaktischen, semantischen und pragmatischen Merkmale des Zeichens müssen identifiziert und in ein Verhältnis zum eigenen Gebrauch von Zeichen gesetzt werden. (v) Mögliche (z. B. propositionale) Einstellungen anderer Personen zu ihren Äußerungen und Zeichen müssen bestimmt werden. (vi) Da ins Verstehen nicht jeweils nur ein Typ von Interpretieren eingeht, sondern mehrere und dies im ZuI-Modell auf unterschiedlichen Ebenen, müssen die relevanten Weisen des Interpretierens ausgezeichnet werden und (vii) mit dem eigenen und bisherigen Geflecht anderer Zeichen und Interpretationen in Passung oder Nichtpassung gebracht werden. (viii) Da Verstehen keine univoke Handlung ist – man denke etwa an den Unterschied zwischen dem Verstehen einer wissenschaftlichen Hypothese und dem
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Verstehen religiöser Rede – muss der jeweils relevante Verstehenstypus umgrenzt und von anderen unterschieden werden. Die ZuI-Philosophie versucht also mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu verstehen, wie das Verstehen zu verstehen ist. Sie tut dies gleichsam so, als klicke sie auf einem Bildschirm das Wort ‚Verstehen‘ an und schaue dann nach, was alles in diesem Wort und Phänomen drin liegt. Damit, denke ich, bewegt sich die ZuI-Philosophie auf der Ebene des philosophischen Problems des Zeichenund Interpretationsverstehens. Dieses besteht nicht darin, ein Nichtverstehen oder Miss- und Unverständnisse zu beheben. Es besteht auch nicht darin, bislang Unverstandenes in Verstandenes zu überführen (was in der Regel so gedacht wird, dass wir das bislang Unverstande von dem bereits Verstandenen her verstehen und es dann mit entsprechenden Merkmalen versehen). Wird verkürzender Weise der enge Sinn und Begriff von Interpretation im Sinne von Interpretation3 zum überhaupt einzigen Sinn und Begriff von Interpretation erklärt, dann treffen wir auf die weit verbreitete Auffassung, Interpretation bestehe in der Überführung von Nichtverstehen in Verstehen. Der Kernjob des Interpretierens wird dann, verkürzend, allein in dieser Überführung gesehen. Dieses Bild liegt auch bei Simon zugrunde. Übersehen wird dabei, dass bereits die Unterscheidung und Abgrenzung von Nichtverstandenem und Verstandenem natürlich eine interpretatorische ist, keine, die sich einfach am Zeichen als solchem (gleichsam an seiner Zeichenhaftigkeit) und durch dieses selbst vollzieht. Auch dieser Befund unterläuft die Monopolstellung des Bildes, wir hätten da zunächst die unverstandenen Zeichen, die nach Interpretation verlangen, weil sie, in aller Priorität des Zeichens vor der Interpretation, in Verstandenes überführt, mithin in ihrer vom Zeichen selbst verschiedenen Bedeutung erfasst werden sollen. Was in solchen Situationen jedoch überhaupt zur Interpretation3 ansteht, ist selbst bereits Produkt einer Interpretation3-Grenzziehung sowie des für die Akzeptabilität dieser Grenzziehung bereits vorausgesetzten und in Anspruch genommenen Geflechts der tiefengestaffelten ZuI-Verhältnisse selbst. Einfacher Beleg für diese These: was der einen Person in einer Kultur als Zeichen auffällt (z. B. eine Linie im Sand) und in Bezug auf welches Zeichen dann nach dessen Bedeutung gefragt wird, rauscht an einer anderen Person (in derselben ebenso wie einer anderen Kultur) als nicht bemerktes Zeichen einfach vorbei – etwa so wie die Neutrinos, die, so sagen uns die Physiker, unseren Körper durchdringen, wir sie aber nicht bemerken und sie uns daher nicht in den Fokus unserer Aufmerksamkeit geraten. Demgegenüber die Aufmerksamkeit auf das Verstehen des Verstehens zu lenken, ist daher alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Denn hier meldet sich schnell der gesunde Menschenverstand mit der für ihn kennzeichnenden Frage, wo denn überhaupt das Problem sei. Aber genau diese Selbstverständlichkeit des Zeichenverstehens scheinen wir, um Wittgensteins Formulierung ins
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Spiel zu bringen, nicht oder zumindest nur sehr schwer zu verstehen. Denn das Irritierende daran ist, dass man, wie Wittgenstein betont, die Antwort weiß, „wenn uns niemand fragt, aber nicht mehr weiß, wenn wir es erklären sollen“ (PU Nr. 89; vgl. Nr. 92). Und es ist „schwer“, sich darauf zu „besinnen“. Denn wir verfügen nicht oder noch nicht über ein Vokabular, um hier passende bzw. zufriedenstellende Beschreibungen zu liefern. Eine umfängliche ZuI-Philosophie kann mit ihren Unterscheidungen nach verschiedenen Stufungen und Hinsichten (letztere vor allem den Zusammenhang von logischen, ästhetischen und ethischen Aspekten betreffend) als ein Versuch in diese Richtung gelesen werden. Hinsichtlich des Verstehens ohne weitere Erklärungen/Deutungen sind meines Erachtens die folgenden beiden Varianten zu unterscheiden, die jedoch beide von ihrem Eingebettetsein in die ZuI-Praxis als ganze sowie von dem flüssigen Zusammenspiel ihrer unterschiedlichen Komponenten und Mechanismen leben: (a) Geht es um das direkte Verstehen z. B. eines Gesichtsausdrucks oder einer Körpergeste oder einer Karikatur oder eines Diagramms, so wäre der Vorgang sicherlich unzutreffend beschrieben, wollte man (im Falle des Gesichtsausdrucks) sagen: Ich sehe da zunächst ein Gesicht und schließe dann auf dessen Ausdruck, etwa auf Traurigkeit.Vielmehr gilt: Ich sehe das traurige Gesicht. Die eingeführten Unterscheidungen im Zeichen- und Interpretationsbegriff erlauben hier eine Reformulierung dessen, was es heißt, ein Zeichen (z. B. ein nicht-sprachliches Zeichen wie einen Gesichtsausdruck) direkt zu verstehen. Die deutend-aneignenden und in vielen Fällen schlussfolgernden Interpretationen3 entfallen (sind bis auf weiteres gleichsam in Suspens); aber ohne eine eingespielte ZuI2+1-Praxis gäbe es da wohl gar nichts bzw. würde gar nichts in den Fokus unserer Aufmerksamkeit rücken, das uns als ein Zeichen affiziert und direkt verstanden werden könnte (vgl. dazu ausführlicher Abel 1989a: insbes. 342 ff. und 356 ff.). In diesem Sinne kann die ZuI-Philosophie, die ich vertrete, auch als eine zeichen- und interpretations-pragmatische Philosophie angesprochen werden. (b) Von der Situation des soeben skizzierten Verstehens ohne Deutung/Interpretation sollten wir deutlich diejenige Situation unterscheiden, in der wir uns befinden, wenn wir die Kette möglicher Deutungen/Interpretationen3 in dem Sinne nicht einfach ins Unendliche fortsetzen können, wenn anders wir denn überhaupt in ein wirkliches Sprechen, Denken, Erkennen und Handeln eintreten wollen. Wir müssen dann, wie Wittgenstein sich einmal ausdrückt, mit den Deutungen zu einem Ende kommen. Beispiel: Wenn Peter mich fragt, welches die Bedeutung des Wortes ‚Rotkehlchen‘ in meiner Äußerung ‚Mach mit Deiner Kamera ein Foto von dem Rotkehlchen auf dem Zaunpfahl‘ sei, und er sich dann mit der Antwort, ‚Rotkehlchen‘ sei der ‚Singvogel, der…‘, nicht zufrieden gibt, sondern bis ins Unendliche weiter nach der Bedeutung der zur Erläuterung eingesetzten Wörter fragt, dann werden Peter und ich niemals dazu gelangen, ein Foto
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von dem Rotkehlchen zu machen. Wir würden selbst dann noch, und sei es im Sinne des Kannitverstan, fragend beieinander sitzen, wenn das Universum längst schon untergegangen ist. Oder anders formuliert, wir würden uns selbst vom Eintritt in die Handlung abschneiden und diese letztlich auf immer verunmöglichen. Es muss also zu einem Ende der Deutungen/Interpretationen3 kommen, um ins wirkliche Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Wissen, Erkennen und Handeln gelangen zu können. Und das tut es ja glücklicherweise auch. Doch kommt alles darauf an, wie dieses Ende zu verstehen ist. In der ZuIPhilosophie, ebenso wie in der Simonschen Philosophie des Zeichens oder auch in Wittgensteins Sprachphilosophie, ist dieses Ende dezidiert nicht als ein metaphysisches, nicht als ein in der Sache definitiver und allgemein verbindlicher bzw. ultimativer Abschluss in der Reihe der Deutungen/Interpretationen3 zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um einen zeichen- und interpretations-pragmatischen Abschluss-auf-Zeit, den wir benötigen, um unser Welt-, Fremd- und Selbstverständnis/-verhältnis aufrechtzuerhalten und zu stabilisieren. Der Abbruch ist also konditional, nicht optional. Dass weitere Deutungen/Interpretationen3 hier entfallen bzw. suspendiert werden müssen, heißt jedoch gerade nicht, dass es sich um Verstehen ohne jede Interpretation, ohne jede Interpretativität handelt, denn: (i) Das Zum-EndeKommen bzw. das Abbrechen und Suspendieren ist selbst offenkundig ein interpretativer Vorgang (einschließlich der schwachen Form solchen Abbrechens, derzufolge sich die Reihe unserer Deutungen/Interpretationen3 erschöpft hat). Die theoretisch mögliche unendliche Reihe der Deutungen wird gezielt unterbrochen, an einer bestimmten Stelle geradezu kraft Negation (wie man Hegelianisch sagen könnte) so aufgehoben, dass wir ins Sprechen, Denken, Erkennen und Handeln eintreten können. (ii) Dass das Abbrechen als Abbrechen von der Zeichengemeinschaft akzeptiert, gleichwohl aber nicht als willkürlich oder dogmatisch, sondern als natürlich angesehen wird, hängt im Kern davon ab, dass das Abbrechen mit dem vielfältigen Zusammenspiel der unterschiedlichen Formen und Ebenen unserer Zeichen- und Interpretations-Praxis übereinstimmt, in Gleichklang ist, und zwar: ohne weiterer Erklärungen zu bedürfen, sich mithin nahtlos in das stets bereits vorausgesetzte und selbst im Abbrechen noch in Anspruch genommene Interpretationengeflecht einpasst. (iii) Wenn es mithin zu einem Zeichenverstehen ohne weitere Deutungen, Erklärungen und Interpretationen3 kommt – und das geschieht vornehmlich umwillen des flüssigen Fortsetzens von Kommunikation und Kooperation – dann ist solches Suspendieren und Abbrechen der Reihe weiterer Deutungen und Interpretationen3 in dem flüssigen Funktionieren der ZuI3+2+1-Ebenen begründet. Weder das akzeptierte Abbrechen noch das flüssige Fortsetzen vermögen nicht-interpretativ aus der Interpretativität der ZuI-Praxis, in der wir leben, herauszuspringen bzw. diese zu überspringen.
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Jeder derartige Versuche liefe darauf hinaus, dass wir uns außerhalb unseres Lebens, unserer Welt, unserer Sozialität und unserer selbst zu stellen versuchten – was in einem bemerkenswerten Sinne selbst-destruktiv, ja geradezu nihilistisch wäre.
4 Zeichen, Interpretation und Wahrheit Der dritte Begriff im Untertitel von Simons Beitrag neben Zeichen und Interpretation ist derjenige des ‚Fürwahrhaltens‘. Damit wird der bei Kant in Sachen ‚Wahrheit‘ erreichte Reflexionsstand markiert, dass der Begriff der Wahrheit von nun an einschließe, „dass das Subjekt nur von seinem Standpunkt in Raum und Zeit aus etwas für wahr halten kann.“ Simon erläutert diese Position im Rekurs auf Kants drei Modi des Fürwahrhaltens, nämlich das Meinen (als weder subjektiv noch objektiv begründetes Fürwahrhalten), das Glauben (als ein nur subjektives, aber subjektiv bereits verbindliches Fürwahrhalten) und das Wissen (als zugleich subjektiv wie objektiv verbindliches Fürwahrhalten) (KrV B 848 ff.). Den systematischen Vorteil solchen Umgangs mit der Wahrheitsfrage gegenüber einem als definitiv verstandenen Wahrheitsbegriff sieht Simon darin, „dass nicht definitiv gesagt werden kann, was ‚Wahrheit‘ ihrem Begriff nach sei.“ Wir verlassen uns auf unseren Glauben und treten in vielen Fällen auf diesen hin in Handlungen ein. Ich teile diese Kantisch-Simonsche Auffassung in Sachen Wahrheitsfrage. Im Rahmen des Ansatzes der ZuI-Philosophie habe ich an anderer Stelle jedoch und darüber hinausgehend unter dem Titel Zeichen der Wahrheit – Wahrheit der Zeichen (Abel 2010, vgl. auch Abel 1989a) versucht, die Wahrheitsfrage ihrerseits einer zeichen- und interpretationsphilosophischen Reformulierung zuzuführen. Selbstverständlich wird die Wahrheitsfrage in der ZuI-Philosophie nicht obsolet und schon gar nicht kann sie verschwinden. Das wäre, mit einem Ausdruck Hilary Putnams gesprochen, intellektueller Selbstmord. Aber sie bedarf einer Reformulierung. Zu diesem Zwecke ist es zunächst erforderlich, die Krise des traditionellen, metaphysischen Wahrheitsbegriffs zu diagnostizieren, dem gemäß Wahrheit den Wahrheitsträgern zeitlos, zeichenunvermittelt und interpretationsunabhängig zukomme. Zugleich wird davon ausgegangen, dass es so etwas wie externe und metaphysische Wahrmacher gibt, die dafür verantwortlich sind, dass in Urteilen erhobene Wahrheitsansprüche als gerechtfertigte und begründete Wahrheiten gelten können. An den angegebenen Stellen kritisiere ich dieses Verständnis und bediene mich bei dieser Kritik sowohl der Unterscheidung zwischen einem engen und einem weiten Sinn von Wahrheit als auch der Gegenüberstellung einer alten und einer neuen Rede von Wahrheit. Ich möchte das hier und jetzt nicht erneut
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tun. Mit dem skizzierten Instrumentarium gelingt es, Wahrheit als Funktion von Zeichen- und Interpretationsprozessen zu konzipieren und in ihrer unverzichtbaren Rolle zur Geltung zu bringen. Dieses neue Modell der Wahrheitsproblematik erlaubt darüber hinaus einerseits eine Reformulierung älterer Aspekte der Wahrheitsfrage, andererseits aber auch die Neubestimmung der Wahrheit als zeichen- und interpretationsprozessual, historisch, genealogisch und gradierbar vorzunehmen. Die Details dieser Thesen werden an den beiden angegebenen Stellen im Einzelnen ausgeführt. Hier kommt es mir nur darauf an, die unverzichtbare Funktionsstelle einer zeichen- und interpretationsphilosophisch rekonstruierten Wahrheitsproblematik anzusprechen.
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Günter Abel
Kant, Immanuel 1787: Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904/11; (Nachdruck: Werke. Akademie Textausgabe, Berlin / New York 1968 ff.), S. 1 – 552; [KrV]. Nietzsche, Friedrich 1988: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde., hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 2. Aufl., Berlin / New York; [KSA]. Peirce, Charles Sanders 1931 – 1958: The Collected Papers of Charles Sanders Peirce, 8 Bde., hg. v. C. Hartshorne, P. Weiss u. A. W. Burks, Cambridge Mass.; [CP]. Schiffer, Stephen 1987: Remnants of Meaning, Cambridge Mass. Simon, Josef 1989: Philosophie des Zeichens, Berlin / New York. Wittgenstein, Ludwig 1984: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., S. 225 – 580; [PU]. Wittgenstein, Ludwig 1984: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M., S. 225 – 580; [BPP].
Jesús Conill
Die Poetisierung der Zeichen aus der Leiblichkeit¹
Abstract: The first objective of this article is to point out that Günter Abel’s philosophical stance constitutes an inspiring philosophy of signs and interpretation, based mainly on Nietzsche’s thinking, to defend the radical thesis of the semiotical and hermeneutical nature of all human activities. Secondly, the article seeks to show that in order to better understand that semiotical and hermeneutical nature, Nietzsche’s genealogy discovers that this semiotical and hermeneutical process originates in the body of the fantastic animal which is the human being, and in the poetising power of his imagination. This is no impediment to putting forward a new corporal conception of reason and a tropological conception of truth, and the reason for the importance of a philosophy of corporality: to transform contemporary philosophy by overcoming idealism, but also positivism and the current reductionist neurophilosophy.
1 Abels Philosophie des Zeichens Der philosophische Vorschlag Günter Abels bildet eine anregende Zeichen- und Interpretationsphilosophie², deren Grundzüge von Nietzsche, Peirce und Wittgenstein inspiriert sind, die sich jedoch meiner Ansicht nach zur Verteidigung der radikalen These vom zeichenhaften und interpretatorischen Charakter aller menschlichen Aktivitäten im Wesentlichen auf das Denken Nietzsches stützt.³ Darum möchte ich im Folgenden aufzeigen, dass zum besseren Verständnis dieses zeichenhaften und interpretatorischen Charakters erhellt werden muss, dass dieser durch einen sogenannten „dichtenden“ Prozess entsteht, der auf die pekuliäre Leiblichkeit des Menschen und dessen ursprüngliche Fähigkeiten als „phantastisches Tier“ zurückgeht. Dadurch würde darüber hinaus aus meiner Diese Studie erfolgt innerhalb des vom spanischen Ministerium für Wissenschaft und Innovation (zur Zeit Ministerium für Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit) und aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung EFRE der Europäischen Union finanzierten Projekts für wissenschaftliche Forschung und technologische Entwicklung FFI2016-76753-C2-1-P sowie im Rahmen der Aktivitäten der Forschungsexzellenzgruppe PROMETEO/2009/085 der Regierung der autonomen Gemeinschaft Valencia. Siehe hierzu Abels Werke ZdW, Iw und SZI sowie (Wagner 2008). Vgl. (Abel 1984) und N. Siehe auch (Müller-Lauter 1974). https://doi.org/10.1515/9783110522280-020
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Sicht ermöglicht, besondere Verbindungen zur Philosophie von José Ortega y Gasset herzustellen. Ein zentraler Aspekt, den Abel hervorheben will, ist die Beziehung zwischen Zeichen und Wirklichkeit, die weder als Spiegelung noch als Konstruktion verstanden werden darf, sondern als Ergebnis von Zeichen- und Interpretationsprozessen aufgefasst werden muss, die mittels einer besonderen Genealogie zu enthüllen sind, welche derjenigen Nietzsches ähnlich ist. Denn die Erfahrung der Wirklichkeit erfolgt kraft Zeichen- und Interpretationsfunktionen und der Tiefensitz der Zeichen- und Interpretationsfunktionen ist in intelligenten Aktivitäten im Leib sowie insbesondere in der Aktivität der Einbildungskraft verortet (ZdW 18), was abermals eine Verbindung mit der Position Ortega y Gassets ermöglicht, und zwar im Hinblick auf die wesentliche Funktion der Phantasie beim Menschen. Diese Zeichen- und Interpretationsphilosophie lehrt jedoch nicht „Alles ist Zeichen“ oder „Alles ist Interpretation“ (ZdW 16), sondern vielmehr dass die Erfahrung der Wirklichkeit nicht unabhängig ist von Zeichen- und Interpretationsfunktionen, in die affektive und wertende Funktionen ausdrücklich miteinbezogen werden müssen. Folglich ist die Interpretationsphilosophie in die aktuellen Tendenzen der sprachanalytischen und der hermeneutisch-analytischen Philosophie einzureihen und leistet einen innovativen Beitrag durch eine – wie ich meine – genealogische (nietzscheanische) Transformation der Philosophie Kants. Erweiterung und Vertiefung des Ansatzes der Zeichen- und Interpretationsphilosophie tragen zum besseren Verständnis der auf Zeichen und Interpretation zurückgehenden Begründungen von Verständigung,Wirklichkeitsbezug und Handeln bei. Jede Philosophie erfolgt wie alle Wissenschaften, Künste und Handlungen in Zeichen und bezieht sich daher immer bereits auf Interpretationsprozesse. Und das gilt auch für die aktuellen Neurowissenschaften und neuen neurophilosophischen Projekte.⁴ Abel geht vom Zeichencharakter aller Prozesse (fühlen, wahrnehmen, sprechen, denken und handeln) aus. Sie alle werden in Zeichen realisiert und durchgeführt, sie sind Geschehnisse „in Zeichen“. Zeichen- und Interpretationsfunktionen sind in ihren kontextuellen und perspektivistischen Verbindungen für jegliche Öffnung zur Welt und Wirklichkeit, für jedes Verstehen und Selbstverstehen, für jede Orientierung in der Welt und für jedes Handeln fundamental. Zeichenprozesse sind eine Voraussetzung, von der die Wirklichkeit abhängt, und werden darum zu Grundlage und Leitfaden der Überlegungen der von Abel unterbreiteten Philosophie (ZdW 20).
Vgl. (ZdW 19) sowie den Abschnitt „Noología y Neurofilosofía“ in (Conill 2011).
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Dieses Verständnis der Zeichen ist nicht auf sprachliche und bildliche Zeichen beschränkt. Es hat vielmehr einen weiteren Sinn, der wie bei Nietzsche sogar die zeichenhafte Bedeutung aus der Dynamik umfasst, die vom bloßen Sinneseindruck ausgeht (21). Darum sollten die Zeichen laut Abel zuallererst ausgehend von ihren ursprünglichen Beziehungen genealogisch präsentiert werden, um anschließend weiter aufzuzeigen, dass sich etwas in ein Zeichen verwandelt, wenn es als solches verstanden und verwendet wird. Folglich muss erst die jedem Zeichengebrauch zugrunde liegende Interpretationspraxis rekonstruiert werden, bevor die Rekonstruktion auf kulturellen Hintergrund, Kontexte, Situationen und Epochen ausgedehnt werden kann. Somit haben wir es mit zwei Auffassungsarten der Zeichen zu tun: die ursprüngliche oder weitläufige Art und die abgeleitete oder eingeschränkte Art. Neben den beiden Bedeutungen (weitläufig und strikt) des Zeichens wäre es vielleicht grundsätzlich relevant, ebenfalls zwei Bedeutungen von ‚Interpretation‘ zu unterscheiden. Laut Abel ist die strikte Bedeutung diejenige, die der hermeneutischen Interpretation am nächsten kommt, die er mit den Begriffen ‚Deutung‘ und ‚Auslegung‘ anspricht. Für die ‚weitläufige‘ Bedeutung der Interpretation behält sich Abel jedoch die Termini ‚interpretativ‘ und ‚interpretatorisch‘ vor. Diese enthält und impliziert die perspektivistische und konstruktionale Verwendung der Zeichen. Dieser urtümliche Charakter ist bei jeder Zeichenfunktion ipso facto gegeben. Folglich beginnt die Interpretationsgebundenheit jedes Zeichens nicht mit der Information über die semantischen und pragmatischen Züge, sondern hat eine konstitutive Wirkung darauf, was es für ein Zeichen bedeutet, eine Zeichenfunktion auszuüben (23). Wenn etwas als Zeichen funktioniert, Symbolkraft besitzt und sie ausübt, dann liegt dieser Funktion stets eine Interpretationspraxis zugrunde. Darum ist die Bedeutung eines Zeichens in einem zweifachen Sinn von der Interpretation abhängig: 1) weil sie an die perspektivischinterpretative Konstitution der Zeichenfunktion gebunden ist; und 2) durch die Deutung des Zeichens, mit deren Hilfe erneut ein offenes und flüssiges Verständnis hervorgerufen wird. Diese wichtigen Unterscheidungen zwischen der strikten und weitläufigen Bedeutung von Zeichen und Interpretation dienen Abel zu der Erläuterung, dass sein Vorhaben weder aus einer Hermeneutik noch einer Semiotik besteht. Denn die Zeichen- und Interpretationsphilosophie Abels will einen Schritt zuvor ansetzen; sie behandelt den Entstehungsprozess der Zeichen, ihre Genealogie, von den vitalen Zusammenhängen aus. Abel hebt hervor, seine Absicht sei keine Semiotik im Sinne einer „Zeichentheorie“ oder „Interpretationstheorie“, sondern eine „Zeichen- und Interpretationsphilosophie“ (24), zu verstehen als ‚Genealogie‘ in Anlehnung an Nietzsche, die, insofern sie dem ‚Leitfaden des Leibes‘ folge, eine fruchtbare Alternative zum ontologischen Abdriften Heideggers biete.
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Es hat mehrere Interpretationslinien zu dieser nietzscheanischen Genealogie des Zeichens gegeben. Eine davon war die Semiotisierung der Sprache, die Berücksichtigung ihres Zeichencharakters, die nicht nur zur Verteidigung einer ‚Semiotik‘ im Sinne Nietzsches geführt, sondern sogar den Anstoß zu einer besonderen „Philosophie des Zeichens“ gegeben hat.⁵ Andere haben ausgehend von Nietzsches Vorlesungen über Rhetorik⁶ und seinem (posthum veröffentlichten) Werk Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) den rhetorischen Charakter der Sprache betont. Wenn wir den Schlüssel zu diesem und anderen Ansätzen finden wollen, müssen wir meines Erachtens die ursprüngliche Poetisierung von Sprache und Zeichen in Nietzsches Denken hinterfragen. Daher legen wir in dieser Arbeit zuerst gewisse Züge und Erklärungen mittels des (ursemiotischen) Zeichenansatzes dar und zeigen auf, dass dessen tiefster Sinn interpretatorisch (urhermeneutisch) ist, um dann die These zu verteidigen, dass sich dies alles im Kontext von Nietzsches Denken auf die Poetisierung der Zeichen und der Sprache vom Leib aus stützt, denn letztendlich geht die Poetisierung des Denkens von dieser Ebene aus, kraft des Vermögens und der Macht der Einbildungskraft des „phantastischen Tiers“, das der Mensch ist.
2 Genealogische Kritik des Zeichens Einen unausweichlichen Bestandteil der ‚genealogischen Kritik‘ Nietzsches bildet die Genealogie der Sprache.⁷ Der radikale Kritizismus im Sinne Nietzsches erfordert zwangsläufig eine genealogische Untersuchung der Sprache, bei der eine Reihe von Aspekten hervorgehoben wird, die im Laufe der Geschichte des Denkens im Allgemeinen vergessen oder zumindest vernachlässigt worden waren; hier beziehe ich mich insbesondere auf den radikal zeichenartigen, interpretatorischen, tropologischen und vor allem metaphorischen Charakter der Sprache. Diese urhermeneutische Genealogie Nietzsches ist ‚vom Leitfaden des Leibes‘ abhängig. Folglich ist nicht länger das Bewusstsein Kern des Menschen, sondern dieser Kern wird auf den leiblichen Organismus übertragen, wo sich die vitalen Kräfte befinden. Der Vereinfachungsprozess im vorbewussten leiblichen Dasein wird bei den bewussten Selektions- und Assimilationsprozessen fortgesetzt. Allerdings Vgl. zum Beispiel (Simon 1989). Siehe auch Abels ZdW, wo der philosophische Ansatz seiner Bücher Iw und SZI weiter ausgeführt wird. Vgl. ferner (Wagner 2008: bes. 182– 197). F. Nietzsche „Darstellung der antiken Rhetorik“ (Wintersemester 1872), (GA XVIII, 237– 268). Siehe auch (Stingelin 1995) und (Behler 1998). Vgl. (Conill 1988: Kap. 6) sowie (Conill 1997: Kap. 3).
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wird der Prozess nunmehr in Form von Zeichen realisiert⁸, so dass durch den Wunsch nach Vereinfachung die Zeichen selbst, die Zeichenschriften, entstehen.Was dann im Denken Nietzsches eingeführt wird, ist eine eigentümliche „Semiotik“⁹. Meiner Ansicht nach wäre es angemessener, von einer Ursemiotik zu sprechen, wenn wir die Unterscheidung Abels zwischen dem abgeleiteten (strikten) Sinn der ‚Theorie der Zeichen‘ und dem radikaleren (weitläufigeren) Sinn der Zeichenwelt berücksichtigen, das heißt den fundamentalen und ursprünglichen Zeichencharakter jeder Sprache, der auf die organische (leibliche) Dynamik zurückgeht. Nietzsche beruft sich auf etwas, das er als Zeichensprache betrachtet, um die zeichenartige (ursemiotische) Struktur des Gedankens aufzuzeigen, die interpretiert werden muss, denn „der Gedanke ist in der Gestalt, in welcher er kommt, ein vieldeutiges Zeichen, welches der Auslegung […] bedarf“ (Nachlass 1885, 38[1], KSA 11.595). Der Gedanke hat einen im Wesentlichen zeichenhaften Charakter und gilt lediglich als „ein Zeichen, ein Fragezeichen“; der Gedanke ist „zuerst vieldeutig und schwankend“ und „an sich nur ein Anlaß zu mehrfacher Interpretation“ (Nachlass 1884, 26 [92], KSA 11.174). Die Erfahrung lehrt, dass der Gedanke verborgenen Ursprungs ist, dass er auf nicht bekannte Weise und „unabhängig von meinem Willen“ entsteht. Der Titel des Fragments, dem der oben zitierte Text entnommen ist, lautet „Das Unfreiwillige im Denken“. Um zu versuchen, der Vieldeutigkeit zu entkommen, müssen wir das Denken mithilfe eines Interpretationsprozesses erläutern. So entscheidend ist diese Dynamik der Interpretationen, dass der an Nietzsche inspirierte und (ähnlich wie der Vorschlag von Josef Simon) als „Philosophie des Zeichens“ unterbreitete philosophische Ansatz von Günter Abel als „Interpretationismus“ bezeichnet werden kann.¹⁰ Nun wird dieser Erhellungsprozess aber nicht vom Bewusstsein gesteuert:¹¹ „wer das Alles thut, – ich weiß es nicht“ (Nachlass 1885, 38[1], KSA 11.595). Nietzsche beschreibt den Erhellungsprozess mit dem Bild eines Gerichtsverfahrens.¹² Das Bild vom Gerichtsverfahren zeigt, dass die Erhellung eines Gedankens nicht Folge der logischen Notwendigkeit ist, sondern das Ergebnis eines Prozesses, der mehr Ähnlichkeit mit einem Gerichtsverfahren als mit der Logik aufweist. Es handelt sich
„Dadurch daß wir jene Fiction als Schema anlegen, also das thatsächliche Geschehen beim Denken gleichsam durch einen Simplifications-Apparat filtriren: bringen wir es zu einer Zeichenschrift“ (Nachlass 1885, 34[249], KSA 11.505). Vgl. (Figl 1982: Kap. 8: „Semiotisches Verstehen“). Vgl. N sowie (Abel 1988). Siehe auch (Simon 1989). Vgl. (Simon 1984). „[D]enken ist eine Art Übung der Gerechtigkeit, bei der es auch Zeugenverhör giebt. Was bedeutet er? fragen wir […] das heißt: Der Gedanke also wird nicht als unmittelbar gewiß genommen, sondern nur als ein Zeichen, ein Fragezeichen“ (Nachlass 1884, 26[92], KSA 11.174).
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darum um einen Zeicheninterpretationsprozess, der unsererseits als urhermeneutischer Weg aufgefasst wird. In dieser Sicht stellt sich der Gedanke folglich als ein urhermeneutisches Geschehen zur Interpretation von Zeichen heraus. Der Ursprung eines Gedankens liegt im Verborgenen, aber wahrscheinlich ist er ein „Symptom“, ein „Zeichen“ für etwas (‚er drückt etwas von unserem Allgemeinzustand in Zeichen aus‘); der Gedanke ist „ein Symptom eines umfänglicheren Zustandes“ und in ihm „drückt sich irgend Etwas von einem Gesammt-Zustand in Zeichen aus“ (Nachlass 1884, 26[92], KSA 11.174). Gedanken sind „Symptome des eigentlichen Geschehens! – Unter jedem Gedanken steckt ein Affekt“ (Nachlass 1885/86, 1[61], KSA 12.26). Denn Denken ist stets etwas Sekundäres, Äußerliches, im Verhältnis zum ‚Innerlichen‘ der Affekte: „Das Denken ist noch nicht das innere Geschehen selber, sondern ebenfalls nur eine Zeichensprache für den Machtausgleich von Affekten“ (Nachlass 1885/86, 1[28], KSA 12.17). Gedanken sind Zeichen des Zusammenspiels von Affekten. Darum geht der Inhalt eines Gedankens nicht aus ihm selbst hervor, sondern seine Bedeutung ergibt sich aus dem Komplex von miteinander ringenden Trieben, die ihn gestalten, aus der Kraft, die ihn hervorruft. Daher bedarf es einer urhermeneutischen (genealogischen!) Interpretation von den Trieben her. Daraus folgt, dass die logischen Verbindungen der Gedanken reine Fiktion sind. Zwischen den Gedanken treiben die Affekte ihr Spiel. In der logischen Fiktion „wird ein Denken erdichtet, wo ein Gedanke als Ursache eines anderen Gedankens gesetzt wird; alle Affekte, alles Fühlen und Wollen wird hinweg gedacht. Es kommt dergleichen in der Wirklichkeit nicht vor: diese ist unsäglich anders complicirt“ (Nachlass 1885, 34[249], KSA 11.505). Es bedarf der Interpretation, wodurch ein anhaltender und endloser Prozess eröffnet wird. Alle Denkkategorien, mit denen wir die Realität denken, hängen also von grammatischen Funktionen ab,¹³ und daher stammen besonders tief verwurzelte Verwechslungen. Aber es handelt sich um „eine bloße Semiotik und [es wird] nichts Reales bezeichnet“ (Nachlass 1888, 14[79], KSA 13.258). In der philosophischen Tradition war es üblich zu denken, dass Worte und Begriffe dazu dienten, um reale Dinge zu erkennen, doch Nietzsche führt „das methodische Mißtrauen“ ein, mit dem er „dem Glauben an die Erkennbarkeit der Dinge“ (Nachlass 1885, 38[14], KSA 11.614) abschwört und eine Trennlinie zwischen Worten und Erkenntnis zieht. Da Worte keine erkenntnistragenden Symbole sind,wird mit ihnen lediglich eine Zeichenwelt erreicht, besteht eine Lücke zwischen dieser Zeichenwelt und der Wirklichkeit. Der Gedanke bewegt sich in dieser Welt aus sprachlichen Zeichen mit endlosen Verweisen, aus denen die Bedeutungen und ihre Transformationen her-
Vgl. (Simon 1972).
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vorgehen, und somit in einem stetigen Prozess urhermeneutischer Interpretation: „aber welches ‚das ist‘ bisher auch aufgestellt wurde, eine spätere und feinere Zeit hat immer wieder daran aufgedeckt, daß es nicht mehr ist als ‚das bedeutet‘“ (Nachlass 1885, 40[27], KSA 11.643).
3 Urhermeneutische Genealogie Die „eigentliche Kritik“ der Zeichen und der Begriffe, die von Nietzsche als „eine wirkliche ‚Entstehungsgeschichte des Denkens‘“ betrachtet wurde,¹⁴ kann in unserem Kontext als eine urhermeneutische Genealogie ausgelegt werden, von der aus manch einer aufgedeckt hat, dass sprachliche Zeichen einer Erkenntnisfunktion entbehren und sich Erfahrungen auf Zeichen reduzieren.¹⁵ Meinem Urteil nach müsste diese Analyse jedoch vertieft werden, um die „Werthschätzungen“ (Nachlass 1885, 40[27], KSA 11.643) miteinzubeziehen, die allen logischen Fiktionen zugrunde liegen und die Zeichenfunktionen begleiten. Die urtümliche Aufgabe der Zeichen nämlich ist gewiss nicht die Erkenntnisfunktion; sie dienen vielmehr einem anderen Zweck, nämlich der „Verständigung“ (Nachlass 1886/87, 5[16], KSA 12.190). Die Notwendigkeit der Verständigung hat dazu geführt, sich einander zu nähern und mit ähnlichen Zeichen auszudrücken, um sich zu verstehen. Die begriffliche Verständigung ist lediglich eine Ausgestaltung der ursprünglichen Verständigungsart über Zeichen. Doch zuerst kommen die Zeichen: „Erst Zeichen, dann Begriffe, endlich ‚Vernunft‘, im gewöhnlichen Sinn“ (Nachlass 1884/85, 30[10], KSA 11.356). Und das Bewusstsein entsteht, weil es von der sozialen Dimension lebender Wesen gefordert wird: „An sich kann das reichste organische Leben ohne Bewußtsein sein Spiel abspielen: so bald aber sein Dasein an das Mit-Dasein anderer Thiere geknüpft ist, entsteht auch eine Nöthigung zur Bewußtheit“ (ibd.). Nicht das Bewusstsein ist urtümlich, sondern der Zwang zur Verständigung, kraft der Daseinsbedingungen, deren Folge das Bewusstsein ist.¹⁶ Das bewusste Verständnis dient der auf Zeichen basierenden, vitalen Beziehung zu den anderen. Das Bewusstsein hängt darum von dem Interesse ab, sich zu verständigen, und wird von den Daseinsbedingungen bestimmt.
(Nachlass 1885, 40[27], KSA 11.643). Hinzuweisen ist auf das Verhältnis – und den Unterschied – zur Hermeneutik Gadamers, die auch die „Geschichte des Begriffs als Philosophie“ vorschlägt (Gadamer 1986: Kap. 7). Vgl. (Figl 1982) sowie (Brusotti 1997). Vgl. (Simon 1984).
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Die ursemiotische und urhermeneutische Ebene geht der Bewusstseinsebene voraus, und diese dient jener. Die Zeichen üben ihre erste Funktion innerhalb der vitalen Prozesse aus und sind Ausdruck, Manifestation, Symptom und mögliches Instrument in Bezug auf ein grundlegendes, inneres und tieferes Geschehen: „– alle Bewegungen sind als Gebärden aufzufassen, als eine Art Sprache, wodurch sich die Kräfte verstehen“; „– alle Bewegungen sind Zeichen eines inneren Geschehens; und jedes innere Geschehen drückt sich aus in solchen Veränderungen der Formen. Das Denken ist noch nicht das innere Geschehen selber, sondern ebenfalls nur eine Zeichensprache für den Machtausgleich von Affekten“ (Nachlass 1885/86, 1[28], KSA 12.16 f.). Alle Bewegungen sind also Symptome und Zeichen für ein inneres Geschehen, das auch „Wille zur Macht“ genannt worden ist.¹⁷ Die eigentliche Wirklichkeit des Willens zur Macht ist ein inneres Geschehen, und die Zeichensprachen beziehen sich auf etwas anderes, das nur in Zeichen zugänglich ist: „Alle Bewegung als Zeichen eines inneren Geschehens: – also der ungeheuer überwiegende Theil alles inneren Geschehens ist uns nur als Zeichen gegeben“ (Nachlass 1886/87, 7[9], KSA 12.294). Die Zeichen ermöglichen keine Einsicht in das Wesen der Dinge, sondern eine Interpretation der Wirklichkeit, in der das Entscheidende nicht die Frage nach Erkenntnis und Wahrheit ist, sondern das Problem, bis zu welchem Punkt die Vereinfachung durch Zeichen fortgeführt werden kann: „‚Abkürzungen der Zeichen‘ im Gegensatz zu den Zeichen selber. Das Wesentliche ist: die Bildung von Formen, welche viele Bewegungen repräsentiren, die Erfindung von Zeichen für ganze Arten von Zeichen“ (Nachlass 1885/86, 1[28], KSA 12.17). Der Vorteil dieser Zeichenwelt besteht darin, dass der Mensch durch ihren Zeichenapparat in der Lage ist, eine Vielzahl von Dingen als Zeichen zu beherrschen und sich diese anzueignen. „Dieser Zeichen-Apparat ist seine Überlegenheit, gerade dadurch, daß er sich von den Einzel-Thatsachen möglichst weit entfernt. Die Reduktion der Erfahrungen auf Zeichen, und die immer größere Menge von Dingen, welche also gefaßt werden kann: ist seine höchste Kraft.“ (Nachlass 1885, 34[131], KSA 11.464) Doch Nietzsche führte diese Interpretation ad extremis, indem er sie in eine Umwertung verwandelt, denn „diese Zeichen-Welt ist lauter ‚Schein und Trug‘“ (ibd.). Wir befinden uns im Reich der Fälschung, dessen, was Nietzsche einmal als „die Masken des Teufels“ (Nachlass 1885, 39[8], KSA 11.622) bezeichnet, wo folglich nicht nur Interpretations-, sondern auch Umwertungsprozesse stattfinden. Damit sind wir auf die Ebene der Werthschätzungen gelangt, die allen logischen Fiktionen zugrunde liegen und von denen die Umwertungsprozesse in Gang gesetzt
Vgl. z. B. F. Nietzsche (JGB 36, KSA 5.55) und (Gentili 2004: Teil V).
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werden. Dies ist ein radikales und meiner Meinung nach erfahrend-empfindendes Moment in Nietzsches Transformation der reinen Vernunft in eine unreine Vernunft, in dem die tiefste Schicht der Erfahrung aufgedeckt wird: die umwertende und schätzende Interpretation.¹⁸ Ab Nietzsche wird die Philosophie zur Interpretation (nicht nur zur Argumentation) und ihre erfahrend-empfindende Voraussetzung sind darüber hinaus die Prozesse der umwertenden Interpretation, deren Hintergrund schätzend ist. Doch wollte der Gedanke nicht immer die Wahrheit erkennen und denken? Wie kann er sich mit diesem Mangel an Erkenntniswerten der Zeichenwelt begnügen? Zeigt die urhermeneutische Genealogie Nietzsches, dass es unmöglich ist, einen Weg einzuschlagen, der zur Wahrheit führen und die Wirklichkeit aktualisieren kann? In der hermeneutischen Tradition ist stets die „Wahrheit des Zeichens“ präsent gewesen (vgl. Figl 1982: 174 ff.). Der Wahrheitswert der Zeichen war weiterhin ein wichtiger Aspekt in fast allen Versionen hermeneutischen Denkens, in den Hermeneutiken von Gadamer und Grondin, in denen von Apel und Habermas ebenso wie in der von Ricœur.¹⁹ Lediglich manche Nietzsche-Interpreten verwischen diese Öffnung zur Wahrheit und Wirklichkeit (zum Beispiel Vattimo). Verschwindet jedoch Nietzsche zufolge beim Zeichen- und Interpretationsprozess zwangsläufig jeder Wahrheitssinn? Abel scheint im Rahmen seiner Zeichen- und Interpretationsphilosophie einen gewissen Sinn der Geltung der Wahrheit wieder herzustellen, insofern er einen „Relativismus der Beliebigkeit“ nicht akzeptiert, sondern eine Geltungs- oder Sinnordnung beibehält, die sich auf „strenge Restriktionen“ sowie „Bedingungen“ und sogar auf einen „Willen zur Verständigung“ stützt, womit er glaubt, den unverantwortlichen und launischen Relativismus überwinden zu können (vgl. ZdW 58 u. 202), obgleich er einräumt, dass die Ausarbeitung eines strikten Wahrheitskonzepts „ein Desiderat“ sei (ZdW 169). Meinerseits hingegen glaube ich, dass man ausgehend von Nietzsche von einem tropologischen Wahrheitsbegriff sprechen könnte.
4 Tropologische Wahrheit? Es handelt sich um einen Versuch, Nietzsches Beitrag in eine urhermeneutische Konzeption der Wahrheit einzubinden, das heißt um eine Überlegung, die den
Vgl. (Nachlass 1884, 25[372], KSA 11.109) und (Nachlass 1885, 40[10], KSA 11.632). Vgl.vor allem (Gadamer 1975), (Grondin 2000), (Grondin 1991), (Apel 1973), (Apel 2011), (Habermas 1999) und (Ricœur 1975).
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genealogischen Ansatz nutzt, um den dynamischen Prozess der Wahrheit neu zu überdenken, ohne das relativistische und nihilistische Abdriften mancher seiner Interpreten zu akzeptieren. Diese Urhermeneutisierung des Gedankens bringt es mit sich, sowohl Interpretationismus als auch Perspektivismus in Gegenüberstellung zum Positivismus zu berücksichtigen, impliziert jedoch nicht zwangsläufig den Verzicht auf den Wirklichkeits- und Wahrheitsbegriff, sondern könnte neben einem ursemiotischen und urhermeneutischen Wirklichkeitsbegriff (wie in Zeichen der Wirklichkeit) durch Vertiefung dieser Linie den tropologischen Sinn der Wahrheit wieder herstellen. In Gegenüberstellung zum Idealismus und Positivismus bringt die in eine besondere Urhermeneutik (nach Abel „Interpretationismus“) verwandelte, kritische Methode Nietzsches im Wesentlichen zwei Ansätze hervor: Einer untersucht die psycho-physiologische ‚Organisation‘ des menschlichen Leibes und der andere entdeckt in ihm die ursprüngliche tropologische Dynamik. Den ersten Ansatz unternimmt Nietzsche durch den Einfluss von Lange und anderer Umwandler der Philosophie Kants im 19. Jh., die damit begonnen hatten, den Sinnen und sogar dem Gehirn wesentlich mehr Aufmerksamkeit zu widmen. In der psycho-physischen Einheit der Organisation des menschlichen Leibes lässt sich eine Neigung zur Interpretation entdecken, von der die Basis für einen neuen Wahrheitsbegriff gebildet wird: Es handelt sich weder um einen „Thatbestand“, noch um einen „Text“, sondern um eine „Zurechtmachung“, um eine Interpretation, die „Machtansprüche“ ausdrückt (JGB 22, KSA 5.37). Das grundlegende factum ist das der Sinne, als seien diese „Kraftzentren“, die immer empfindend sind (vgl. Nachlass 1888, 14[79], KSA 13.257 ff.; 14[186], KSA 13.373 f.). Hier beginnt das, was als eine Art „Physiologie der Wahrheit“²⁰ verstanden werden könnte, mit deren Hilfe unsere psycho-physiologische Organisation Interpretationsschemata produziert. Der andere, den ersten ergänzende Ansatz ist jener, der die im Ursprung der Sprache vorhandene tropologische Dynamik hervorhob, indem er aufdeckte, dass alle Worte ursprünglich Tropen sind,von denen sich die Metapher (sowie Metonymie und Synekdoche) abhebt. Der Ursprung der Sprache geht vom „künstlerisch schaffende[n] Subjekt“ aus, für das ein „Trieb zur Metapherbildung“ unumgänglich ist. Dieser Trieb wirkt auf die Bildung von Worten ein und bildet die erfindende und poetisierende „Mittelkraft“ zwischen den heterogenen Sphären von Subjekt und Objekt, zwischen denen nur ein „ästhetisches Verhalten“, ein tropologisches Verhältnis möglich ist.²¹ Daher meint Nietzsche, dass die Sprache radikal unfähig sei, Für eine heutige Bedeutung dieses Ausdrucks in der neuen neurologischen Forschung vgl. (Changeux 2004). „Wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und Mittelkraft bedarf.“ (WL, 1, KSA 1.884)
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die Wirklichkeit adäquat auszudrücken, und aufgrund dieser Unfähigkeit der Anspruch der Wahrheit als Adäquation vergeblich sei. Die Genealogie enthüllt die tropologische Dynamik und somit, dass wir die Dinge weder als solche kennen noch adäquat zum Ausdruck bringen können, so dass die Wahrheit nicht als Adäquation aufgefasst werden kann, sondern ein tropologischer Prozess abläuft, den Nietzsche als eine Reihe metaphorisierender Phasen beschreibt. Die Empfindungen sind Bilder der Nervenreize. Und der Übergang von einer Phase zur anderen geht auf den künstlerischen oder metapherbildenden Trieb zurück, der ein primärer und ursprünglicher Trieb ist. Deshalb ist bereits beim Übergang vom Nervenreiz zur Empfindung eine metaphorische Bewegung gegeben. Alle Worte sind metaphorischen und damit tropologischen Ursprungs. Diese Sprachkonzeption Nietzsches geht auf Gerber und sein Werk Die Sprache als Kunst (1871) zurück,²² in dem Sprache als eine Art unbewusster Kunst verstanden wird, sowie auf Lichtenberg,²³ durch dessen Einfluss Nietzsche auf dem der Sprache (je nach der grammatischen Routine) innewohnenden Interpretationsprozess insistiert. Sind wir nach dieser Konzeption letztendlich unfähig, die Wahrheit zu erkennen? Das ist die grundsätzliche Frage. Meiner Ansicht nach ließe sich der tropologische Prozess in der Linie Humboldts als Konkretisierung der energetischen Dynamik der Sprache auffassen. In dieser enérgeia wird die geistige Kraft des Menschen, die einen Raum der Freiheit öffnet, indem sie über die instrumentalistische Weise, Sprache zu verstehen, hinausgeht, manifestiert, also ausgedrückt. Und deshalb ist es möglich, den Wahrheitsbegriff über die eng gefassten Begriffe von Adäquation und Objektivität hinaus auf eine auf vitalen Tropen basierende, rhetorische Wahrheit zu erweitern. Zwar gibt es keine ‚reine Wahrheit‘ oder vollständige Adäquation, aber es wäre eine beschränkte Wahrheit im Sinne dieser eigentümlichen Beziehung möglich, die nun als tropologischer Prozess beschrieben wird. Denn der Kontakt mit der jeweiligen Wirklichkeit ruft einen Nervenreiz hervor, der in ein Bild extrapoliert wird, was Nietzsche als erste Metapher, den ersten Schritt im tropologisierenden Prozess, charakterisiert. Es ist nicht so, dass es keine Verbindung zur jeweiligen Wirklichkeit gäbe, sondern dass uns hier eine besondere Art und Weise geboten wird, die Verbindung zu verstehen, die von unserer körperlichen Verfassung aus über die Sinne und ihre Fähigkeit zur Extrapolierung und Konfiguration von Bildern hergestellt wird, die dem metaphorisierenden Prozess folgen. So glauben wir die Dinge zu erkennen, auch wenn wir nichts als Metaphern und Zeichen besitzen, daher der letztendlich rätselhafte Charakter der Wirklichkeit. Darum folgt der vermeintliche
Vgl. (Meijers 1987) und (Meijers 1988). Vgl. (Stingelin 1996), (Stingelin 2000) sowie (ZdW 226).
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Zugang zur Wahrheit keinem „logischen Prozeß“, sondern es gibt höchstens eine tropologische und auf Zeichen basierende Dynamik, die somit zwangsläufig interpretatorisch und schätzend ist. Nietzsches Kritik der Wahrheit als Adäquation geht darauf zurück, dass er die Forderung nach einer „adäquaten“ Ausdrucksform für absurd hält, denn ein Ausdrucksmittel drückt ein ‚Verhältnis‘ aus, das jedoch nicht unbedingt ein adäquates Verhältnis sein muss, vielmehr deckt die Genealogie auf, dass es sich um ein Verhältnis mittels vitaler Tropen handelt. Der Wahrheitsbegriff kann sich nur auf Verhältnisse beziehen, nicht jedoch auf ein „An sich“ (Nachlass 1888, 14[122], KSA 13.303), so dass die Bilder die Wirklichkeit mittels der „Metaphern der Dinge“ und somit in Zeichen der Wirklichkeit, in fremde und ungeeignete Perspektiven aktualisieren (wie nach Nietzsches Beispiel für einen gehörlosen Menschen die Musik). Daher ist der Diskurs über Sein und Wahrheit als Adäquation in diesem Kontext sinnlos. Gegenüber der Adäquation wird die Interpretation eingesetzt, aber die Interpretation verfügt über den tropologischen Prozess, darum könnte man kraft des tropologischen Wahrheitsbegriffs auch von Indizien oder ‚Zeichen der Wahrheit‘ sprechen. Diese mögliche Sicht der Wahrheit, die auf vitalen Tropen basiert, macht sie zur ‚Lebensbedingung‘ und über Grammatik und Logik hinaus abhängig von der Einverleibbarkeit, weil in letzter Instanz der Wert für das Leben entscheidet.²⁴ Es gibt keine ‚logische‘ Lösung für das Problem der Wahrheit, sondern das Lebensexperiment ist unentbehrlich.²⁵ Die Konzeption der Wahrheit als Adäquation führt zur Entifizierung und Objektivierung. Dennoch nährt die mögliche tropologische Auffassung der Wahrheit die Dynamik der Interpretation, vor deren Hintergrund das Spiel der vitalen Bewertungen und Schätzungen stattfindet.²⁶
5 Die Poetisierung der Zeichen, der Sprache und des Denkens Nietzsches eigentümliche Poetisierung von Zeichen, Sprache und Denken geht vom Kontext der Transformation des kantischen Kritizismus aus. Meiner Ansicht nach gehört sie zu den Aspekten, welche die philosophische Bedeutung Friedrich Albert Langes für Nietzsches Gedankenbildung besonders machen.²⁷
Vgl. (Stegmaier 1985a u. 1985b). Vgl. (FW 110, KSA 3.469 ff.), (Nachlass 1888, 16[32], KSA 13.492 f.) und (Kaulbach 1980). Vgl (Nachlass 1884, 25[372], KSA 11.109) und (Nachlass 1885, 40[10], KSA 11.632). Vgl. (Salaquarda 1978).
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Der von Nietzsche kraft der Transformation des kantischen Kritizismus durch die Einbindung der physiologischen, über die rein logische hinausgehenden Kritik praktizierte radikale Kritizismus verweist uns auf einen neuen Fokus, den „unserer Organisation“, denn wie bereits Lange anmerkte: „Die Phisiologie der Sinnesorgane ist der entwickelte oder der berichtigte Kantianismus“ (Lange 1866: II, 850). Diese kritische Haltung hindert allerdings nicht daran zu erkennen, dass sich im Menschen die Neigung zu einer globalen Interpretation der Wirklichkeit entwickelt, die das Ergebnis der kreativen Phantasie, also der „Begriffsdichtung“ ist, um den Begriff Langes zu verwenden. Der hybride Charakter des Ausdrucks wird nicht unbemerkt bleiben: Zum einen spielt er auf die erfinderische, kreative, poetische Fähigkeit an, doch zum anderen bezieht er sich auf den Begriff. Hier gibt es keinen Bruch, keine ausschließende Spaltung in Erfindung oder Schöpfung und Konzeption, also zwischen Dichten und Denken – derart, dass sich der Ausdruck sogar als „Begriffspoesie“ verstehen ließe. Diese Öffnung der ‚Begriffserfindung‘ im Sinne von Poetisierung ermöglicht eine Spannung zwischen der wissenschaftlichen und der künstlerischen Tätigkeit, die aus den philologischen und philosophischen Studien Nietzsches herausgelesen werden kann, da es ja darum geht, eine neue kritische Interpretation durchzuführen. Nietzsche radikalisiert so den Kritizismus Langes durch die Poetisierung, die in „unserer“ physiologischen „Organisation“ wurzelt, da sie es ist, die Interpretationsschemata produziert. Von diesem neuen, auf der Poetisierung basierenden kritischen Ansatz aus müssen einerseits alle Interpretationen überwunden werden, die Nietzsche weiterhin in die (für die moderne Philosophie typischen) Schemata der „Repräsentation“ gezwängt haben (vgl. Crawford 1988), und andererseits muss zugleich den Gefahren der poetischen Sprache Nietzsches begegnet werden, auf die seinerzeit bereits Mauthner hinwies,²⁸ obgleich er sehr früh die Kraft der Sprache bei Nietzsche zu schätzen wusste.
5.1 Poetisierung der Sprache Wesentlich in Nietzsches Auffassung der Sprache ist deren mit dem Primärtrieb der menschlichen Phantasie verknüpfter metaphorischer Charakter. In diesem Sinn ist es angebracht, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne heranzuziehen, um die Genealogie der Sprache aufzuzeigen, deren Grundinhalt mit der von Nietzsche in den Vorlesungen über Rhetorik verteidigten Position übereinstimmt.
Vgl. (Mauthner 1901– 1903).
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In diesen Vorlesungen springt ein Abschnitt besonders hervor, in dem er das Verhältnis von Rhetorik und Sprache behandelt. In diesem Kontext betrachtet er die Rhetorik als eine unbewusste Kunstform, der es untersagt ist, das Wesen der Dinge wiederzugeben. Und andererseits findet sich die Entstehung der Sprache in der Einbildungskraft, da alle Worte ursprünglich Tropen sind. Damit ist die Rhetorik Fortsetzung und Erweiterung des ursprünglich bildlichen Charakters der Sprache. Die Vorlesungen über Rhetorik und Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne stimmen zwar grundsätzlich in der Auffassung und Entstehung der Sprache überein, aber im zweitgenannten Text zeigt Nietzsche darüber hinaus die Elemente und Phasen auf, die den genetischen Komplex der Sprache bilden. Hinsichtlich des Ursprungs tritt die Konzeption des Menschen als ‚schaffendes Subjekt‘ hervor, für das ein ‚Trieb zur Metapherbildung‘ wesenhaft ist. Dieser Dichtungstrieb wirkt bei der Bildung von Wörtern und Begriffen und ist die vermittelnde Kraft zwischen den heterogenen Sphären von Subjekt und Objekt, zwischen denen nur ein poetisches Verhältnis möglich ist. Dies ist ein grundlegender Aspekt, um zu verstehen, warum Nietzsche der Ansicht ist, die Sprache sei unfähig, die Wirklichkeit adäquat auszudrücken. Für Nietzsche besteht bereits ein metaphorisches Moment beim Übergang vom Nervenreiz zur Empfindung und von der Empfindung zum Laut. Da die Sprache von Grund auf metaphorisch ist, darf man sich keine Illusionen machen, dass wir die Dinge als solche erkennen. Die Empfindungen sind Bilder der Nervenreize. Und der Übergang zwischen den unterschiedlichen Phasen geht auf den Metapherbildungstrieb zurück, der ein primärer Urtrieb ist. Infolgedessen ist für Nietzsche bereits beim Übergang vom Nervenreiz zur Empfindung und von der Empfindung zum Laut eine metaphorische Bewegung vorhanden. Folglich haben alle Worte einen radikal metaphorischen Ursprung: Die Sprache ist metaphorischer Herkunft. Die Forschung nach den Denkquellen Nietzsches hat dessen Verbindung zu Gustav Gerbers Buch Die Sprache als Kunst (1871) ans Licht gebracht, und zwar im Hinblick auf die in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne und den Vorlesungen über Rhetorik verteidigte Sprachauffassung.²⁹ In der Linie Humboldts sind sowohl Gerber als auch Nietzsche an einer genetischen Perspektive und lebendigen Sprache interessiert, an der enérgeia, nicht an dem bloßen Endprodukt, das eher eine sprachliche Leiche ist. Was sie interessiert, ist die vitale Dynamik der Sprache: die Sprache als unbewusste Schöpfung durch die ursprünglichen Tropen. Und wenn „die Sprache das bildende Organ des Gedankens“ (Humboldt) und die Sprache tropologisch (im Wesentlichen metaphorisierend) ist, wäre denken ebenfalls ‚tropologisieren‘, also poetisieren. Die ursprüngliche Bildhaftigkeit der
Vgl. (Meijers 1987), (Meijers 1988) sowie (Stingelin 1988).
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Sprache (ihre Metapherartigkeit), die ursprüngliche Tätigkeit des Geistes – mit Humboldt gesprochen –, bildet die Schaffenskraft der Poetisierung. Und nach Simon entsteht genau aus diesem Trieb und der Kraft der Zeichen die Freiheit, da sich diese von der Zeichendynamik (im Herzen der Sprache) an findet, die letztendlich im Leib wurzelt. Denn das Verstehen der Zeichen beruht auf dem Vorstellungsvermögen, auf einer Kraft, der „Einbildungskraft“. Die Freiheit (beim Verstehen von Zeichen) ist Sache der Einbildungskraft. „Die Freiheit ist keine ‚ontologische‘, sondern eine semiotische Tatsache“.³⁰ Inspiriert von Gerber, insistiert Nietzsche infolgedessen auf dem ursprünglichen Charakter der Sprache als Bild und Tropus. Von dieser genetischen Perspektive aus, die die im Leben der Sprache innewohnende Schaffenskraft aufdeckt, kritisiert er die traditionelle Philosophie, weil sie sich von der Substantivierung der Sprache verführen ließ, als wären wir durch sie fähig, die wahre Struktur der Wirklichkeit auszudrücken. Die traditionelle Philosophie scheint vergessen zu haben, dass auch ihre Kategorien Bilder und Tropen sind. Daher hat bereits Gerber rundweg behauptet: „Das reine Denken ist eben solches Hirngespinst, wie es eine reine Sprache sein würde“ (Gerber 1871: I, 244). Das untrennbare Verhältnis zwischen Denken und Sprache, die in dieser humboldtschen Tradition, der Gerber angehört, so eingehend studiert wurde, ermöglicht ihm, einen großen Schritt zu tun, den Nietzsche ausnutzen sollte, um seinen Kritizismus auszuarbeiten.War er mit Lange bereits bis zum ‚physiologischen‘ Kritizismus gelangt (ausgehend von ‚unserer Organisation‘), so war Gerbers Beitrag das Glied in der Kette, über das Nietzsche Verbindung zur Sprachphilosophie im eigentlichen Sinne Humboldts aufnahm, was nicht nur auf die eigentliche Sprachauffassung, sondern auch auf seine gesamte Philosophie gewaltige Auswirkungen hatte. So kann man ohne Übertreibung behaupten, dass Nietzsche bei Gerber fand, was ihm an Langes kritizistischem Modell noch gefehlt hatte, weil, wie Gerber sagt: „was Kant als ‚Kritik der reinen Vernunft‘ zu untersuchen begann, fortzuführen ist als Kritik der unreinen Vernunft, der gegenständlich gewordenen, also als Kritik der Sprache“ (ibd).³¹ Wenn bereits für Nietzsche denken im Grunde dichten ist,³² wird die neue Kritik der Vernunft aus einer Kritik der dichtenden Vernunft bestehen, als Konkretisierung der Transformation des Kritizismus der reinen (logischen) Vernunft in eine Urher Vgl. (Simon 1989) sowie die Einführung von Ana Agud zu (Simon 1998). Schon Feuerbach beabsichtigte während der Jahre der Vorbereitung der Veröffentlichung von Das Wesen des Christentums (1841), diese in direktem Kontrast zu Kant „Kritik der unreinen Vernunft“ zu nennen (vgl. Cabada 1980). Vgl. (Djurić1986).
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meneutik erfahrend-empfindenden Denkens, das von der poetischen Kraft und der Phantasie genährt wird. Die Schaffenskraft, der metaphorisierende Trieb des ‚phantastischen Tiers‘, treibt zur Entwicklung der in der sprachlichen Dynamik innewohnenden Kräfte über alle Konfigurationen des Geistes und der Kultur (in Wissenschaft, Technik, Religion, Metaphysik und Mythos) an.³³
5.2 Poetisierender Perspektivismus Nietzsche führt die perspektivistische Projektion der Welt auf die dichterische Vorstellungskraft zurück. Darum ist die Weltsicht vergleichbar mit der Dichtung, insofern sie keine objektive Wahrheit, sondern Sinn-Wahrheit ist. Eine Perspektive, deren Interpretationskraft einen sinnfreien Raum zum Denken und Handeln öffnet, vielleicht gar hin ‚zu neuen Meeren‘. Die perspektivistische Freiheit, bereits zum Ausdruck gekommen in der ‚kopernikanischen Wende‘ Kants (die für viele eine kanonische Version der Selbstfreiheit des modernen Menschen ist), wird bei Nietzsche radikalisiert durch die Wiedereinbindung des ‚Leibes‘ (in Gegenüberstellung zum Triumph des ‚Bewusstseins‘), da sie den Vorteil besitzt, die sensiblen Fähigkeiten zur Sinnschöpfung zu beinhalten. In Nietzsches Perspektivismus entdeckt man nämlich eine andere Sinnphilosophie, die die schöpferische Fähigkeit aus der Vernunft des Leibes ermöglicht. Die zu einer philosophisch-poetischen Rechtfertigung des Daseins fähige, große Vernunft des Leibes besteht aus einer erfahrend-empfindenden Erweiterung der reinen Vernunft aus der dichterischen Vorstellungskraft und der Perspektivität als Schöpfung (Dichtung), die im Leib und seiner dionysischen Vitalität verwurzelt ist und uns eine besondere Sinnhermeneutik öffnet. Aus Nietzsches – zur Urhermeneutik gewandeltem – Kritizismus geht eine neue Denkweise hervor, deren bevorrechtigte Darstellung Also sprach Zarathustra ist. Darin finden wir eine eigentümliche Synthese aus Denken und Dichten in einer poetischen Sprache mit rhythmisch-metaphorischen Elementen und symbolischen Vermittlungen: dichtend denken und denkend dichten.³⁴ Hier ist das Denken als Dichtung geprägt, in der die Grenzen zwischen Denken und Dichten aufgrund des „dichtenden Wesens der Vernunft“ (das später so sehr genutzt wurde, zum Beispiel von Heidegger) ausgelöscht wurden. Die Konzeption des Zarathustra entsteht aus der ursprünglichen Einheit von Dichten und Denken, weshalb die dort gebotenen Verbindungen nicht logisch begründet sind, sondern
Vgl. (Conill 1991). Vgl. (Djurić 1986).
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eine andere Art von „Rechenschaft geben“ (lógon didónai) bilden. Somit handelt es sich um eine andere Denkart auf der Basis einer Art poetisch-symbolischer Einheit. Nietzsche räumt dem Dichten gegenüber dem Denken Vorrang ein, er glaubt an die Urkraft des Dichtens und betrachtet das Dichten als Geburtsort allen Denkens. Es gibt Notizen, in denen Nietzsche eindeutig auf den poetisierenden Charakter der Vernunft und den Vorrang des Dichtens vor dem Denken anspielt, denn „bevor also ‚gedacht‘ wurde, muss schon gedichtet worden sein, der formende Sinn ist ursprünglicher als der ‚denkende‘“.³⁵ Und worauf ist Nietzsches Primat des Dichtens über das Denken zurückzuführen? Darauf, dass der Gedanke im Dichten verwurzelt ist; er ist poetischen Ursprungs. ‚Dichten‘ bedeutet ‚sich einbilden‘, ‚ersinnen‘, ‚erfinden‘, also frei schaffen. Somit ist das Dichten ursprünglicher als jeder Gedanke, wie in dem Bild vom „phantastischen Tier“, das Nietzsche und Ortega y Gasset miteinander teilen. Daher die Möglichkeit, sich über Nietzsche von der Ontologie loszusagen.³⁶
6 Poetisierung aus der Leiblichkeit Abels Überlegungen zur Leiblichkeit, ausgehend von Nietzsches Philosophie des Leibes in Gegenüberstellung mit einigen der aktuellen vorherrschenden Tendenzen der ‚Neurophilosophie‘, sind meiner Ansicht nach für die Entwicklung der zeitgenössischen Philosophie von besonderem Interesse. Die Leiblichkeit ist die präkognitive Dimension, die Erkenntnis und Handeln ermöglicht, aber sie ist nicht rein naturalistisch und biologisch zu verstehen. Infolgedessen kann sie weder auf den organischen Körper, noch auf das Gehirn oder das Nervensystem reduziert werden (vgl. ZdW 30). Ein wichtiger Punkt für Philosophie und Neurowissenschaften ist die Beschaffenheit des Bewusstseins und die Frage, ob bewusste Geisteszustände auf physische Zustände reduziert werden können. Abel will seine Zeichen- und Interpretationsphilosophie jenseits der Dichotomie von Materialismus und Mentalismus ansiedeln, indem er sich auf das beruft, was er als „Prinzip des Kontinuums“ bezeichnet, und auf ein „prozessuales Modell“, um die Aktivitäten des menschlichen Geistes einschließlich der „Triebe“ als intelligente Aktivitäten zu verstehen (vgl. 37 f.). Der für mich entscheidende Schritt in Abels Vorschlag ist jedoch der von einer bewusstseinszentrierten (und selbstbewusstseinszentrierten) Philosophie zu einer
(Nachlass 1885, 40[17], KSA 11.636); (Nachlass 1887, 10[159], KSA 12.550). Siehe auch (Nachlass 1885, 40[15]; 40[33]; 40[7]; 40[13], KSA 11.631– 645). Vgl. (Simon 1989: Kap. 29), (Ortega 1952) und (Ortega 1948: Vorlesungen X und XI).
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Philosophie der Leiblichkeit im Sinne Nietzsches, mit dem sich selbst die unbezweifelbaren Beiträge der Phänomenologie und zeitgenössischen Neurophilosophie überwinden lassen. Zum einen, weil die phänomenologische Intentionalität überschritten werden muss, um auf eine fundamentalere Ebene wie die der leiblichen Prozesse zeichenhaften und interpretatorischen Charakters zu gelangen (vgl. 78 f.); und zum anderen, weil die reduktionistischen Versionen der Neurophilosophie³⁷ mittels einer „Vernatürlichung“ des an Nietzsche inspirierten Menschen überwunden werden müssen, die zu einer Auffassung vom menschlichen Leib führt, in der die radikale poetisierende (kreative) Funktion des phantastischen Tiers entdeckt wird.³⁸ Die Inspiration durch Nietzsche ist in Abels Neuinterpretation äußerst sachdienlich und höchst aktuell, weil sich in seiner Denkweise weder die Eliminierung des Bewusstseins noch dessen Reduktion auf physische Zustände oder Prozesse finden. Abel zufolge gehört Nietzsche dem Kreis der „Realisten des Bewusstseins“³⁹ an. Indem er sich auf die Konzeption Nietzsches vom Leib stützt, akzeptiert Abel weder einen monistischen Materialismus oder Physikalismus noch einen mentalistischen Dualismus, weil seinem Urteil nach beide Thesen an der Erklärung des Rätsels des Bewusstseins scheitern. Über Dualismus und Monismus sowie über Mentalismus und physikalistischen Materialismus hinaus schlägt Abel vor, die Wirklichkeit ausgehend vom Anorganischen über das Organische bis hin zum Bewusstsein und den geistigen Aktivitäten als „Kontinuum“ zu verstehen. Bei diesem kontinuierlichen Prozess ist der Mensch nicht nur Individuum, sondern „das Fortlebende Gesammt-Organische in Einer bestimmten Linie“ (Nachlass 1886/87, 7[2], KSA 12.251); und „der [ganze] organische Prozeß setzt [bereits] fortwährendes Interpretiren voraus“, weil „der Wille zur Macht interpretirt: bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation“ (Nachlass 1885/86, 2[148], KSA 12.139 f.). Diese Interpretation existiert als Form des Willens zur Macht auf prozessuale und affektive Weise, das heißt, als „Prozess“, „Werden“ und „Affekt“, aber nicht entifiziert wie ein „Sein“⁴⁰. Nietzsche betont den prozessualen und Vollzugs-Charakter der Prozesse der Organisation des Leibes, die er zudem als intelligent betrachtet und mit dem Modell einer funktionalen Organisation interpretiert.⁴¹
Zum Beispiel (Churchland 1996) und ähnliche. Für eine mögliche Verbindung zu Ortega y Gasset siehe (Ortega 1952) und (Ortega 1948: Vorlesungen X und XI). Vgl. (Abel 2001) und (ZdW 211). Vgl. (Nachlass 1885/86, 2[151], KSA 12.140) sowie (Nachlass 1885, 36[22], KSA 11.560 f.). Vgl. (N 110 – 129) sowie (Müller-Lauter 1999).
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Diese Konzeption Nietzsches von der Leiblichkeit des Menschen als funktionale Organisation ermöglicht es laut Abel zu verstehen, dass das ‚Selbst‘ des menschlichen Leibes Einfluss auf die Prozesse des Organismus nehmen kann und bestimmte Gedanken ‚einverleibt‘ werden können. So sind dem Menschen gewisse Wertschätzungen und verschiedene intelligente Aktivitäten organisch einverleibt. Nietzsche zufolge ginge es darum, „den Menschen […] zurückzuübersetzen in die Natur“ (JGB 230, KSA 5.169). Diese „Vernatürlichung“⁴² ist jedoch nicht reduktionistisch wie im physikalistischen Naturalismus, sondern bewahrt und betont die geistigen und intelligenten Aktivitäten schon im Bereich des Organischen. Damit erfolgt laut Abel nicht nur eine „Naturalisierung“ des Geistes, sondern auch eine gewisse „QuasiVergeistigung“ der Natur (ZdW 216). Folglich nutzt Abel den Gedanken Nietzsches, um ein nicht-reduktionistisches Programm des Bewusstseins,⁴³ des Geistes, der Subjektivität und der Intentionalität vorzuschlagen, das ihn von den derzeitigen Programmen unterscheidet, welche die gesamte menschliche Wirklichkeit auf das Natürliche reduzieren und sie zum Gegenstand der empirischen Wissenschaften machen wollen. Um nicht in den thematischen Reduktionismus (auf das Natürliche) oder in den methodologischen Reduktionismus (auf die empirischen Wissenschaften) zu verfallen, will Abels Vorschlag den philosophischen Charakter stärken, selbst für den Fall, dass eine in befriedigender Weise vereinheitlichte ‚Neurophilosophie‘ des Bewusstseins, des Geistes und des Organismus, das heißt eine wirklich kritische Neurophilosophie durchgeführt werden sollte.⁴⁴ Denn der Übergang zur Philosophie des menschlichen Leibes wäre ein Teil der Entwicklung der kritischen Haltung, die durch die Überwindung der Dimension des Bewusstseins und der Sprache bis in die tiefsten Schichten der Leib-Organisation vordringt, da diese das „reichere Phänomen“ (Nachlass 1885, 40[15], KSA 11.635) ist. Was die Philosophie des Leibes folglich tut, ist, die kritische Philosophie des Bewusstseins und der Sprache zu einem Kritizismus aus dem Leib zu radikalisieren. Denn worum es laut Nietzsche bei der gesamten Entwicklung des Geistes vielleicht geht, ist der Leib, um die Geschichte, bei der wahrnehmbar wird, dass sich ein höherer Leib bildet.⁴⁵ Wie Abel treffend deutlich macht, geht es jedoch um die Bildung eines ganzen Leibs, nicht nur des Gehirns, so wichtig dieses auch sein mag. Der Geist müsste dann als „Zeichensprache des Leibes“ (Nachlass 1883, 7[126], KSA 10.285) gesehen werden. In der Organisation und Dynamik des Leibes, des Be Von Abel verwendeter Begriff, um sich von den reduktionistischen Naturalisierungen zu unterscheiden; z. B. (ZdW 216). Vgl. (Simon 1984). Vgl. (ZdW 262), (Zubiri 1986) und (Zubiri 1980). Vgl. (Nachlass 1883/84, 24[16], KSA 10.653 – 656); 16[21], KSA 10.506).
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wusstseins und des Geistes kommt Nietzsche zufolge „etwas von unserem Gesammtzustande in Zeichen“ (Nachlass 1885, 38[1], KSA 11.596) zum Ausdruck. Eher als um eine Neurophilosophie ginge es deshalb um eine Philosophie des Leibes, in der auch der neurophilosophische Aspekt enthalten wäre. In dieser Philosophie der Leiblichkeit, verstanden als funktionale Organisation, die den physikalistisch-biologistischen Reduktionismus auch in seiner neurobiologischen Version transzendiert, werden die Prozesse des Organischen als Zeichenund Interpretationsprozesse (die Zeichenfunktionen als Interpretationsfunktionen) betrachtet und der entscheidende Schritt getan, um das zu verstehen, was Nietzsche die „große Vernunft“ des menschlichen Leibes nennt.⁴⁶ Dieser Übergang erfolgt durch einen ‚Rückgang-in-sich‘, das heißt, durch Öffnung gegenüber der eigentlichen „Bedingungen“, die im „Selbst des menschlichen Leibes“ oder im „leiblichen Selbst“ (ZdW 260) entdeckt werden, das, wie wir gesehen haben, nicht im Sinne eines reduktionistischen Naturalismus oder Biologismus verstanden werden darf, sondern uns eine weite interdisziplinäre Problematik eröffnet, bei der Wissenschaften und Philosophie ins Spiel kommen.⁴⁷
Schlussfolgerung Im Laufe meiner Darlegung habe ich im Dialog mit der Philosophie Abels drei Anregungen unterbreitet, die meiner Meinung nach zur Entwicklung einer fruchtbaren philosophischen Linie beitragen könnten. Darüber hinaus würden sie ermöglichen, diese Linie in Verbindung mit einigen Autoren der spanischen Philosophie fortzuführen, ein Vorschlag, den ich in diesem Artikel aus Platzgründen lediglich andeuten konnte und an anderer Stelle näher ausführen möchte. Die drei Anregungen wären folgende: 1) Abel bringt ein „Desiderat“ (ZdW 196) in Bezug auf die Auffassung der Wahrheit zum Ausdruck, das in meiner Sicht über eine in der Philosophie Nietzsches verwurzelte, tropologische Konzeption der Wahrheit umgesetzt werden könnte. 2) Abel verteidigt den grundlegenden und fundamentalen Interpretationscharakter der Zeichen, weist aber zurück, dass es sich dabei um eine Semiotik und eine Hermeneutik handelt. Meinem Urteil nach könnte jedoch die Philosophie, die sich mit dieser primären Ebene der Zeichen beschäftigt, als eine Ursemiotik oder Urhermeneutik verstanden werden, die über das genährt wird, was als die nietzscheanische Wurzel der Hermeneutik betrachtet werden kann.
Vgl. (Abel 1990). Wie zum Beispiel im Vorschlag von Pedro Laín Entralgo (1989).
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Diese Urhermeneutik würde eine bereichernde Verbindung zur offiziellen Tradition der Hermeneutik ermöglichen. Denn die Genealogie bildet bei Nietzsche eine – obgleich nicht von allen Autoren als solche akzeptierte – tiefgehende Wurzel, die eine mögliche radikale kritische Hermeneutik nähren könnte, im Unterschied zur offiziellen oder konventionellen Hermeneutik, die an die interne Transformation der Phänomenologie durch Husserl und Heidegger⁴⁸ sowie später durch Gadamer geknüpft war. In dieser, der Ausrichtung Nietzsches näher liegenden und mit dem Vorschlag Abels verbundenen Hermeneutik lässt sich eine neue Version der „(Ur) hermeneutik der Faktizität“ entwickeln, die sowohl den Idealismus (einschließlich des phänomenologischen) als auch den szientifistischen Positivismus überwindet.⁴⁹ 3) Abels wertvoller Vorschlag einer Zeichen- und Interpretationsphilosophie gewänne an Tiefe, wenn er auf das zurückgeführt würde, was ich als die tiefste Ebene der Zeichen- und Interpretationsdynamiken betrachte, die auch in der Genealogie von Nietzsche deutlich gemacht wurde: Es geht dabei um die Aufdeckung der radikalen Poetisierung der Zeichen aus den intelligenten Aktivitäten des Leibes. In Nietzsches genealogischem Ansatz wird nicht nur, wie in den aktuellen Neurowissenschaften, die Neuronenaktivität berücksichtigt, sondern auch eine Philosophie des Leibes vorgeschlagen, die umfassender ist als die Neurophilosophie. Und diese Philosophie des Leibes ist in Verbindung mit dem Bild vom „phantastischen Tier“ zu verstehen, dessen Vorstellungskraft und Phantasie die Ausgangsbasis für die radikale Poetisierung des ganzen menschlichen Lebens ist. Dieser neue Ansatz einer kritischen Philosophie, nunmehr ausgehend vom menschlichen Leib, transformiert die idealistische transzendentale Philosophie, ohne dem szientifistischen Positivismus zu weichen. Sie befände sich folglich auf der Linie einer nicht-reduktionistischen Neurophilosophie, wie sie Abel unterbreitet, und ebenso auf der Linie der spanischen Philosophie seit Ortega y Gasset und einigen seiner Schüler wie Zubiri, Marías und Laín Entralgo (und in der Ethik Aranguren), die in hohem Maß auch dazu beigetragen haben, eine Philosophie des Leibes voranzutreiben.
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Vgl. (Husserl 1989: 177) und (Heidegger 1923). Vgl. (Conill 2006).
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Genealogien der Leiblichkeit Replik zum Beitrag von Jesús Conill Überaus trefflich kennzeichnet Jesús Conill das Anliegen der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] durch kurze Beschreibungen einer Reihe grundcharakteristischer Merkmale dieses Ansatzes. Insbesondere markieren Conills Charakterisierungen den Tiefensitz der ZuI-Prozesse sehr gut, einschließlich der Unterschiede der ZuI-Philosophie zur Zeichen- und Interpretationstheorie sowie zur klassischen Hermeneutik. Richtig sieht Conill, dass es in der ZuI-Philosophie nicht um einen Dualismus von Zeichen/Interpretation und Wirklichkeit, sondern darum geht, die Prozesse der Erfahrungswirklichkeit als zeichen-interpretativ verfasst zu charakterisieren, Zeichen und Interpretation mithin in dem, was ihre grundlegende Funktion angeht, in prädikativer Stellung zu sehen. Dem entsprechend ist die ZuI-Philosophie auch nicht mit einem bloßen Konstruktivismus zu verwechseln, demzufolge Wirklichkeit ein Konstrukt seitens unseres Gehirns oder anderer konstruktionaler Mechanismen ist. Die Beziehung zwischen Zeichen/Interpretation und Wirklichkeit darf, wie Conill richtig feststellt, aus meiner Sicht „weder als Spiegelung noch als Konstruktion verstanden werden“ (Conill-Beitrag, Kap. 1). Die Aufmerksamkeit auf den auf diese Weise in den Fokus rückenden Punkt der Erfahrungswirklichkeit zu lenken, halte ich für ebenso wichtig in Conills Beitrag wie dessen Vorschlag, die Genealogie der Zeichen und Interpretationen aus der Leiblichkeit ins Zentrum der Betrachtung zu rücken. Beide Punkte sind von grundlegender Relevanz und verdienen vertiefende Beachtung. Dass Conill zudem Verbindungen zwischen der ZuI-Philosophie und der Philosophie José Ortega y Gassets (und einigen seiner Schüler wie Zubiri, Marías und Laín Entralgo sowie in der Ethik Arangurens) sieht, finde ich überaus spannend und warte auf die entsprechende Ausarbeitung, die Conill ankündigt. Auch finde ich Conills Ausführungen dazu, dass die ZuI-Philosophie sich nicht mehr im älteren Schema sowie innerhalb der älteren Dichotomie von Essentialismus und Relativismus bewegt, trefflich, einschließlich seiner Betonung, dass ich auch in Sachen Wahrheitsfrage keineswegs eine relativistische Position vertrete. Anregend und wichtig finde ich in diesem Zusammenhang seinen Vorschlag, einen von der älteren Korrespondenzvorstellung unterschiedenen „tropologischen Wahrheitsbegriff“ (Kap. 3 f.) zu profilieren. Das, was Conill hier ausführt, passt gut auch zusammen mit dem, was ich in puncto Wahrheitsfrage in meinem Text Zeichen der Wahrheit – Wahrheit der Zeihttps://doi.org/10.1515/9783110522280-021
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chen (Abel 2010) im Detail entwickelt habe. Dort unterscheide ich zwischen einem engen und einem weiten Sinn von Wahrheit ebenso wie zwischen einer älteren und einer neuen Rede von Wahrheit. Letztere wird mit Rekurs auf das 3-stufige Modell der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse entfaltet. Diese veränderte Sicht auf die Wahrheitsfrage und deren zeichen- und interpretationsphilosophische Reformulierung führt zu einer Neubestimmung der Wahrheit als zeichenund interpretations-prozessual, -historisch, -dynamisch und -genealogisch. Auf diese Weise, so denke ich, gelingt es, Wahrheit als Funktion basaler, nicht-hintergehbarer und nicht-überspringbarer Zeichen- und Interpretationsprozesse zu konzipieren und ihre (trotz der Krisis des traditionellen Wahrheitsbegriffs als metaphysischer Wahrheit-de-re) zentrale Rolle zur Geltung zu bringen. Die Wahrheitsfrage wird also in der ZuI-Philosophie weder relativistisch suspendiert, noch wird ihre Funktionsstelle einfach aufgelöst. Beides wäre, um eine Formulierung Hilary Putnams zu gebrauchen, ‚intellektueller Selbstmord‘. Auf diese Fragen möchte ich aber im Folgenden nicht näher eingehen. Der Hinweis auf die genauere Ausarbeitung der Frage in dem genannten Aufsatz muss hier genügen. Auch möchte ich nicht näher auf die Punkte von Conill eingehen, die er in Abschnitt 6 dazu macht, dass meine Überlegungen zur Leiblichkeit und Leibphilosophie vornehmlich an den heute diskutierten Schnittstellen von Philosophie und Neurowissenschaften „für die Entwicklung der zeitgenössischen Philosophie von besonderem Interesse“ (Kap. 6) sind, welche (insbesondere mein „Kontinuums-Modell“ und mein „Prozess-Modell“) er kenntnisreich vorstellt und in die Debatte einbringt.¹ Im Folgenden möchte ich vielmehr die drei folgenden Themenfelder im Anschluss an Conills Ausführungen in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und etwas ausführlicher erörtern: 1. Wirklichkeit als Erfahrungswirklichkeit; 2. Genealogie der Sprache, Zeichen und Interpretationen; und 3. die Abgrenzung gegenüber der Figur einer ‚Ursemiotik‘ sowie einer ‚Urhermeneutik‘. In allen drei Hinsichten hoffe ich zugleich, weiterführende Präzisierungen der ZuI-Philosophie formulieren zu können.
Siehe in diesem Zusammenhang auch das Kapitel „Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Geistes“ meines Buches Zeichen der Wirklichkeit (ZdW Kap. 8), wo die Grundzüge einer ZuIPhilosophie des menschlichen Geistes entwickelt werden.
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1 Wirklichkeit als Erfahrungswirklichkeit Trefflich betont Conill, dass in der ZuI-Philosophie keineswegs kurzgeschlossen gilt „Alles ist Zeichen und Interpretation“, sondern dass die „Erfahrung der Wirklichkeit nicht unabhängig ist von Zeichen- und Interpretationsfunktionen“, dass die Prozesse des Fühlens,Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns „Geschehnisse ‚in Zeichen‘“ und ‚in Interpretationen‘, mithin Prozesse sind, die „in Zeichen realisiert“ sind bzw. der Verkörperung in Zeichen und Interpretationen bedürfen, um überhaupt die diskriminierten, individuierten, raum-zeitlich lokalisierten und spezifizierten Wirklichkeiten zu sein, die sie sind (Kap. 1). Diese Mechanismen des Diskriminierens, Individuierens, Lokalisierens und Spezifizierens werden in der ZuI-Philosophie als Zeichen- und Interpretationsmechanismen angesprochen, mit der Rede von ‚Zeichen und Interpretation‘ in prädikativer und keineswegs bloß konstruktionaler und/oder nachträglich deutender, auslegender Stellung. Zeichen und Interpretationen sind nicht bloß Werkzeuge und Instrumente, nicht bloß Organon, um eine von ihren Funktionen unabhängige Wirklichkeit zu formatieren, zu repräsentieren, darzustellen, kommunikabel und für Interventionen zugänglich zu machen. Ohne die skizzierten ZuI-Prozesse gäbe es gar keine Gegenstände des Formatierens, der Repräsentation und des näheren etwa des Fühlens,Wollens, Sprechens, Denkens und Handelns. In diesem Befund liegt der epistemische Witz des ganzen Ansatzes der ZuI-Philosophie. Eine nichtinterpretative und nicht-zeichenverfasste Erfahrungswirklichkeit wäre keine für uns erfahrbare, wäre nicht unsere Erfahrungswirklichkeit. Sie wäre bestenfalls eine magische Wirklichkeit, die nicht von unserer Welt und uns eigentümlich fremd wäre, auf die wir uns nicht verstehen würden. Sie wäre nicht Welt von unserer Welt. Unsere Wirklichkeit muss Zeichen-und-Interpretations-Wirklichkeit sein, wenn wir nicht im gnostischen Syndrom der Welt- und WirklichkeitsFremdheit mit all den für uns dort lauernden Gefahren der Orientierungs- und Sinnlosigkeit enden wollen. Ich möchte hier auf einen weiteren und für die ZuI-Philosophie überaus wichtigen Aspekt hinweisen. Mit dem Konzept der adualistischen und direkten Erfahrungswirklichkeit ist zugleich gesetzt, dass ZuI-Philosophie nicht irgendeinem Skeptizismus-Verdacht oder auch nur Idealismus-Verdacht ausgesetzt ist. Unsere Erfahrungswelt gilt als wirklich und die Existenz dieser Erfahrungswirklichkeit anzuzweifeln wäre ein selbst-destruktiv unwirklicher Gedanke, der zudem mit der nicht einlösbaren Vorstellung einer absoluten Wirklichkeit operieren müsste und aufgrund eben von deren Unerreichbarkeit in einen Skeptizismus führte. Vielmehr wird die Existenz der Wirklichkeit selbstredend von niemandem ernsthaft wirklich bezweifelt. Denn es hieße, die Existenz derjenigen Wirklichkeit
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zu bezweifeln, in der wir leben und die uns auch noch das Zweifeln erlaubt. Aber alles kommt darauf an, in welchem Sinne genau diese fraglose Annahme zu verstehen ist. Und genau hier, mithin im Sinne eines durchaus starken Verständnisses von Erfahrungswirklichkeit, ja durchaus im Sinne eines Realismus, kommt die ZuI-Philosophie und behauptet, dass der Grundcharakter der Erfahrungswirklichkeit nicht konstruktivistisches Resultat einer externen Zeichen- und Interpretationskonstruktion ist, sondern in ihrer adualistischen Verfassung nichthintergehbar zeichen-interpretativ verfasst ist, in prädikativer und lebensweltlich faktiver Stellung, nicht in erkenntnistheoretisch distanzierter und damit sekundär abgeleiteter Einstellung. Unsere Erfahrungswirklichkeit ist intern und adualistisch sowie akonstruktivistisch die Zeichen-und-Interpretationswirklichkeit, die sie ist. In den hier konstitutiven Lebensvollzügen noch einmal die Frage zu stellen, ob dieser Zeichen-und-Interpretationswelt auch etwas Wirkliches da draußen entspricht, ist ein sinnlogisches Rezidiv, ist Rückfall in vormals vermeintlich sinnvolle erkenntnistheoretische Fragen, die an der tatsächlichen Erfahrungswirklichkeit vorbeigehen und zudem für das flüssige Funktionieren unserer Lebensvollzüge gefährlich sind, weil sie Welt-Fremdheit und Orientierungslosigkeit mit sich führen. Vor diesem Hintergrund ist mir wichtig zu betonen, dass ich nicht die von Conill vertretene und Nietzsche zugeschriebene Position teile, dass wir mit unseren Zeichen und Interpretationen „lediglich eine Zeichenwelt“ erreichen und dass „eine Lücke [besteht] zwischen dieser Zeichenwelt und der Wirklichkeit“ (Kap. 2). Zugespitzt möchte ich formulieren: wenn die angesprochene Lücke zwischen Zeichenwelt und Wirklichkeit als eine logische Lücke tatsächlich existierte, verschwände in dieser Lücke auch die „ursemiotische“ und „urhermeneutische“ Genealogie, die Conill betont. Sie wäre bestenfalls ein in sich selbst als gehaltlose und gleichsam blinde Zeichenwelten leerlaufendes Exerzitium dessen, was man mit Zeichen alles machen kann. Die ZuI-Philosophie dagegen, wie ich sie vertrete, geht hier einen entscheidenden Schritt auch über Nietzsches entsprechende Sichtweisen hinaus. Nietzsche steht meines Erachtens noch im Würgegriff der älteren Architektur, der zufolge wir ohne Sprache und Zeichen zwar gar keine Möglichkeiten des Sprechens und Denkens über Wirklichkeit haben, mit Sprache und Zeichen aber letztlich jederzeit von der vermeintlich wirklicheren Verfasstheit der Wirklichkeit abgeschnitten seien. Dieses Bild teile ich keineswegs. Es scheint mir noch im Würgegriff der älteren Metaphysik von Wirklichkeit und unerreichbarer ‚Hinterwelt‘ zu stehen. Um meine diesbezügliche Haltung auf den Punkt zu formulieren: Im Lichte der Überlegungen in Sachen Erfahrungswirklichkeit bin ich nicht mehr bereit, mich der metaphysischen und unter kritischem Vorzeichen uneinlösbaren Beweislast auszusetzen, Wörter, Zeichen und Interpretationen
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überhaupt nur dann für gehaltvoll, sinnvoll und funktional wertvoll zu halten, wenn der Nachweis geliefert worden ist, dass sie in einer Passungs- bzw. Korrespondenzrelation zu einer letztlich absoluten Wirklichkeit stehen. Dass innerhalb dieses Bildes keine zufriedenstellenden Palliative gegen das gnostische Syndrom der Weltfremdheit formuliert werden konnten und können, zeigt aufschlussreich, dass es sich um ein selbst-destruktiv hoch angesetztes Bild handelt, das mit epistemischen Voraussetzungen arbeitet, die nicht zu denjenigen endlicher Geister gehören, nicht Denken nach Menschenmaß sind. Die ZuI-Philosophie vertritt die skizziert adualistische Sicht der Erfahrungswirklichkeit. Sie ist keine Zwei-Welten-Lehre, gar eine, die dann mit der Klage gekoppelt werden könnte, mittels unserer Zeichen und Interpretationen niemals an die wirkliche bzw. absolute Wirklichkeit heran zu gelangen. Dieser Punkt ist mir mehr als wichtig. Unsere welt-, kommunikations-, kooperations- und sinn-erschließenden Zeichen und Interpretationen dürfen meines Erachtens nicht einfach nur nach der Seite ihrer vereinfachenden Wirkung verstanden werden. Diese Kraft ist zwar außerordentlich wichtig, denn nicht zuletzt mit Hilfe der den Zeichen eigentümlichen Vereinfachungen und Abkürzungen (ja, sagen wir durchaus auch Verkürzungen und Verarmungen) gegenüber der hohen Komplexität der tatsächlichen Zustände und Prozesse (z. B. im Gefälle zwischen dem Farbprädikat ‚rot‘ und der feinkörnigen phänomenalen Nuanciertheit einer individuellen Rot-Farbempfindung) gelingt es uns in der Regel gut, durch die Welt zu kommen, uns orientieren zu können. Die lebensdienliche Seite der Vereinfachungen und Abkürzungen kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.Wer ohne selektive Mechanismen von Dominanzen und Präferenzierungen alle Reize und ‚petites perceptions‘ (Leibniz) in den Raum seiner Aufmerksamkeit und Bewusstheit lässt, der ist in seiner Überlebensfähigkeit durchaus gefährdet. Die vereinfachenden und abkürzenden Zeichen- und Interpretationsfunktionen verdienen also durchaus eine bessere Presse als die, die sie üblicherweise haben. Hinzu kommt meines Erachtens aber noch ein zweiter und ebenfalls überaus wichtiger Aspekt. Zeichen und Interpretationen wirken nicht nur in dem skizzierten Sinne verengend und abkürzend. Sie wirken zugleich eröffnend und intensivierend. Letzteres zeigt sich vor allem an den künstlerischen Zeichen, etwa an den Zeichen der Musik, der Malerei, der Skulptur, der Gedichte. Ich erwähne diese Seite, um deutlich zu machen, dass ich den Zeichen mehr zutraue, als dies in der Beschreibung von Conill und auch bei Nietzsche der Fall zu sein scheint. Bleiben wir bei den musikalischen Zeichen. Hier ist Nietzsche übrigens selbst mein Kronzeuge. Die Musik verfüge, so notiert Nietzsche einmal, über die Kraft, ‚unendlich deutlich‘ zu sein. Im intonierten musikalischen Klang, mithin im Vollzug des musikalischen Zeichens, ist, so möchte ich mich ausdrücken, gleichsam die ganze Expressivität des intonierten Zustands selbst da, ihre volle
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Wirklichkeit, und weder bedarf es eines Brückenschlages zwischen dem musikalischen Zeichen und dem in ihm expressierten Zustand noch macht die Figur der Lücke zwischen Zeichenwelt und Wirklichkeit hier Sinn. Die genuine Stellung des Raums der Erfahrungswirklichkeit bzw. der Erfahrungswelt möchte ich durch zwei Abgrenzungen dieses spezifisch menschlichen Raumes verdeutlichen. Die Erfahrungswirklichkeit bzw. der Erfahrungsraum ist weder gleichzusetzen mit dem Raum der physikalischen Außenwelt (letztlich der Welt der physikalischen Elementarteilchen) noch sind sie gleichzusetzen mit dem Raum der psychologischen Innenwelt (letztlich der Welt der mentalen und introspektiven innerpsychischen Zustände und Erlebnisse). Ersteres wäre ein physikalistischer, letzteres ein psychologistischer Fehlschluss. In beiden Fällen wird meines Erachtens in puncto Erfahrungswirklichkeit in methodologischer Hinsicht ein entscheidender Fehler begangen bzw. nicht bemerkt. Beide Male wird nämlich davon ausgegangen, dass es da zunächst einen Set von Vorabbedingungen geben müsse, auf die bezogen und von denen her es dann in einem abgeleiteten Sinne zu Erfahrungen komme. Im Falle des physikalistischen Fehlschlusses besteht der Set etwa in einer Reihe von materialistischen Voraussetzungen wie z. B. der materiellen Beschaffenheit eines Gehirns, bei deren Gegebenheit es dann zu einer aus diesem Set abgeleiteten Erfahrung kommt oder nicht. Das ist, wenn man so will, der wissenschaftliche, der szientistische Blick auf Erfahrung im Sinne einer wissenschaftlichen Erklärung des Auftretens einer Erfahrung. Wohlgemerkt: dieser Blick ist ganz in Ordnung, sofern es um eine wissenschaftliche Erklärung unserer Erfahrung aus Antezedenzien geht. Für das faktische und phänomenale Haben einer Erfahrung bzw. Erfahrungswirklichkeit jedoch ist eine solche Ableitung nicht aufschlussreich und auch nicht konditional. Unsere Erfahrungen sind (phänomenal und im Sinne von Untersuchungsobjekten einer entsprechenden Phänomenologie gesprochen) nicht in diesem Sinne aus Antezedenzien und Konstituenten abgeleitet. Sie sind vielmehr direkt, was jedoch keineswegs bedeutet: gänzlich ohne Vermittlungen. Sie dürfen mithin nicht im Sinne von ‚unmittelbar‘ missverstanden werden. Dieser Unterschied zwischen ‚direkt‘ und ‚unmittelbar‘ ist mir außerordentlich wichtig. Auf ihm beruht die in der ZuI-Philosophie propagierte Vereinbarkeit von alltäglichem und wissenschaftlichem Wissen. Der skizzierten Direktheit entspricht, dass ‚ich‘ (als, um John Perry’s trefflichen Ausdruck zu verwenden, ‚essential indexical‘) bzw. ‚wir‘, nicht jedoch physikalische Elementarteilchen, Erfahrungen machen und in Erfahrungswirklichkeiten leben. Analog liegt auch im Falle des psychologistischen Fehlschlusses der Fehler vor, dass erst eine Reihe von psychologischen Antezedenzien und Konstituenten, etwa auch Dispositionen, gegeben sein müssen, um aus deren Erregungsaktivi-
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täten dann zu einer psychischen Erfahrung zu kommen, gar diese erst ableiten zu können. Wie subtil der Fehlschluss hier wirken kann, lässt sich etwa auch daran sehen, dass in der gegenwärtigen Philosophy of Mind in anti-physikalistischer Einstellung wie selbstverständlich auf die sogenannten Qualia als Träger von mentalen Erfahrungen rekurriert wird, ohne die Gefahr auch nur zu bemerken, dass diese hier methodologisch in die gleiche Stellung gesetzt werden wie die Elementarteilchen oder Atome im physikalistischen Fehlschluss. Eine mentale Erfahrung zu haben bzw. in einer mentalen Erfahrungswirklichkeit zu leben bedeutet dann ebenfalls, es mit einer abgeleiteten und nicht mit einer direkten Erfahrung, es mit einer in diesem Falle psychischen Erfahrung zu tun zu haben, die ihre Existenz eben genau jener Ableitung aus einem vorausgesetzten Set der Qualia verdankt. Auch hier wiederum ist die Erklärung im Sinne der Wissenschaft der Psychologie ganz in Ordnung. Ohne Rekurs auf Qualia und ohne Rekurs auf einen Set von psychischen Dispositionen könnte keine wissenschaftliche Erklärung geliefert, könnte nicht die von den Wissenschaften in der Tat und zu Recht erwartete Kausalgeschichte vom ersten auslösenden Reiz bis hin zum Auftreten bzw. Haben zum Beispiel einer Rotempfindung geliefert werden. Aber so lückenlos diese Kausalgeschichte im Sinne der Wissenschaften auch immer erzählt würde (wobei wir heute faktisch z. B. in den Neurowissenschaften noch himmelweit von solcher Lückenlosigkeit der kausalen Geschichten entfernt sind), sie lieferte gleichwohl noch keinerlei Aufschluss über die direkte Erfahrungswirklichkeit der Rotempfindung. Kurzum: den Raum der Erfahrungswirklichkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken und ihn von der physikalischen Außenwelt ebenso wie von der psychologischen Innenwelt in dem skizzierten Sinne abzuheben und als den genuin menschlichen Erfahrungsraum zu betonen und zu profilieren, ist mir im Lichte der ZuI-Philosophie besonders wichtig. Wir erfahren keine Elementarteilchen und keine Qualia oder Psychonen. Offenkundig sind ZuI-Prozesse in allen drei (hier lediglich zu heuristischen Zwecken unterschiedenen) Räumen grundlegend. Die Wissenschaften der Physik und der Psychologie ebenso wie alle anderen Wissenschaften sind intern an ihre Artikulation, Darstellung und Kommunikation in Sprache und Zeichen gebunden. Und auch in ihnen präfigurieren die zeichen- und interpretations-bestimmten Prozesse der Diskrimination, der Individuation, der raum-zeitlichen Lokalisierung, der sortalen Klassifikation und der methodischen Spezifikation das, was überhaupt als ein Objekt der intellektuellen, sprich der wissenschaftlichen Begierde in Physik und Psychologie gilt. Aber im Blick auf den Raum der Erfahrungswirklichkeit ist dieser interne Zusammenhang in einem noch deutlicheren Maße mit Händen zu greifen. Unsere Erfahrungswirklichkeiten können gänzlich adualistisch und nicht-hintergehbar
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als Zeichen- und Interpretationswirklichkeiten angesehen und als solche behandelt werden. Ohne Zeichen- und Interpretationsprozesse keine Wirklichkeiten. Ich füge hier noch einen meines Erachtens wichtigen Aspekt hinzu. Ich hatte bereits betont, dass es sich in den Zeichen- und Interpretationsprozessen keineswegs um einen lediglich instrumentell verstandenen Einsatz von Zeichen und Interpretationen als Werkzeugen zwecks Repräsentation einer vorab vorhandenen Wirklichkeit handelt. Unsere Zeichen und Interpretationen sind keineswegs bloß eine Art Presseerklärung seitens der vorab fertigen Wirklichkeit selbst. Darüberhinaus möchte ich aber noch einen weiteren Punkt nachdrücklich betonen und in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Die unsere Erfahrungswirklichkeiten ausmachenden ZuI-Prozesse sind nicht so zu verstehen, als sollten in ihnen die statischen Strukturen der Wirklichkeit adressiert, dechiffriert, verstanden und in Zeichen und Interpretationen wiedergegeben, reproduziert, dargestellt werden. Überaus wichtig ist vielmehr zu betonen, dass Erfahrungswirklichkeiten ebenso wie die sie ausmachenden ZuI-Prozesse als durch und durch dynamische Prozesse verstanden werden. Es geht also nicht um das Dechiffrieren, Entschlüsseln, Erfassen und Verstehen von letztlich statischen Strukturen. Es geht vielmehr um angemessene Beschreibungen durch und durch dynamischer Wirklichkeiten und Prozesse, einschließlich, und das ist mir ein besonders wichtiger Punkt, der kreativen Hervorbringung neuer Erfahrungswirklichkeiten.
2 Genealogie der Zeichen und Interpretationen Wenn keineswegs alles einfach Zeichen und Interpretation ist (wie Conill in Bezug auf die ZuI-Philosophie mit Recht betont), dann kann und muss die Frage nach der Genealogie der Zeichen und Interpretationen gestellt werden. Wo nehmen die zumal für den Menschen so charakteristischen Sprachen, Zeichen und Interpretationen (einschließlich der Erfindung neuer Zeichen) ihren Ausgang? Warum und in welchem Sinne sind Sprache, Zeichen und Interpretation für die Menschen so wichtig? Wo liegt der Ursprung der Zeichen und Interpretationen? Aus welchem Setting sind sie hervorgegangen und in welchen Settings sind sie wie verankert, verkörpert? Welche Funktionen üben sie nach ihrer Entstehung und Freisetzung aus? Welchen auch höherstufigen und emergenten Dynamiken sind Sprache, Zeichen und Interpretationen im Laufe ihrer Geschichte ausgesetzt und zugänglich? Und wie kann man deren nicht einfach teleologisch oder kausal zu beschreibende Genealogien des näheren charakterisieren? In welchem Sinne beruht auch die Normativität der Sprache, Zeichen und Interpretationen auf diesen Ge-
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nealogien, genealogischen Geltungspfaden? Diese Fragen kann ich hier nur aufwerfen. Ihre genauere Beantwortung muss an anderer Stelle erfolgen. In seinem Beitrag lenkt Conill den Blick auf die Frage der „Genealogie“ (im Singular) und möchte diese in der Leiblichkeit verorten. Zunächst sieht Conill richtig, dass die ZuI-Philosophie keine ZuI-Theorie, weder eine Semiotik noch eine Hermeneutik ist, sondern „einen Schritt zuvor ansetzen“ (Kap. 1) möchte, dort nämlich, wo es überhaupt erst zur Ausbildung von Zeichen und Interpretationen kommt. Und ganz richtig sieht Conill dann auch, dass in der ZuI-Philosophie in diesem Rahmen der Leiblichkeit, dem menschlichen Leib (im Unterschied zum bloßen Körper oder Organismus), eine zentrale Stellung und Funktion zukommt. Im Anschluss an Nietzsches Leibphilosophie zielt Conill auf das, was er unter dem Titel einer „Poetisierung der Zeichen und der Sprache vom Leib aus“ (ebd.) adressiert. Eine solche Vertiefung der Zeichen- und Interpretationsproblematik in die Dimension der Leiblichkeit, der Verkörperung und, um einen neuerdings (in der Philosophie ebenso wie in Psychologie, Neurowissenschaften, Kognitionswissenschaften und Anthropologie) prominent gewordenen Ausdruck zu verwenden, des ‚embodiment‘ ist mir sehr wichtig (vgl. dazu auch Abel 1990). Die ZuI-Philosophie gehört in die Reihe derjenigen Philosophien, in denen es zu einer nachdrücklichen Rehabilitierung der Rolle der Leiblichkeit im und für das menschliche Selbst-, Fremd- und Weltverständnis kommt. Vornehmlich in dem oben so stark hervorgehobenen Aspekt der Erfahrungswirklichkeit kommt der menschlichen Leiblichkeit eine grundlegende Stellung und Rolle zu. Erfahrung kann ohne konstitutive Einbeziehung des menschlichen Leibes nicht konzipiert werden, angefangen bei einfachen Gegenstandserfahrungen im Raum und in der Zeit bis hin zu leibbezogenen Aspekten der Sprach- und Zeichenbedeutung, etwa der ‚felt meaning‘ (Gendlin, Schneider), insbesondere, aber keineswegs nur, im Falle nicht-sprachlicher Zeichen wie zum Beispiel einer verletzenden Geste und Gebärde, die einem, so möchte man sagen, in Leib und Knochen fahren kann. So wichtig mir jedoch der Rekurs auf die Rolle des Leibes in diesen Hinsichten ist, so möchte ich gleichwohl nicht nur für eine und nur eine einzige Genealogie der Zeichen und Interpretationen aus der Leiblichkeit, sondern für unterschiedliche Genealogien im Plural plädieren. In Sachen Genealogie der Zeichen und Interpretationen scheint mir nicht nur der ohne Frage zentrale Rückgang in die Leiblichkeit, sondern zugleich auch der Übergang in die Mechanismen des Triangels bzw. in die triangulären Relationen zwischen Ich, Wir und Welt geboten. Ich plädiere also für einen Übergang von der Genealogie im Singular in Genealogien im Plural. Auf diese Weise möchte ich einen naturalistischen LeiblichkeitsFehlschluss vermeiden. Keineswegs sollten wir die anderen und gleichursprünglichen Komponenten vernachlässigen, die ihren Ausgang in dem mit an-
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deren Personen gemeinsam geteilten öffentlichen (sozialen und kulturellen) Raum haben, mithin die öffentliche Natur der Sprache, Zeichen und Interpretationen ebenso betreffen wie die natürlich-materielle Seite der Welt und Umwelt des Menschen. Dass der Leiblichkeit in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zukommt, wird durch diese Pluralität nicht aus-, sondern eingeschlossen. So bin ich zum Beispiel auch davon überzeugt, dass in puncto Intersubjektivität und Welterschließung ‚leibliche (gemeinsam geteilte) Intersubjektivität‘ ebenso wie ‚leibliche (gemeinsam geteilte) Welterschließung‘ von hoher Relevanz sind. Ob diese nicht reduzierbare Pluralität ihrerseits dann noch einmal in eine Genealogie des Leibes zurückgebündelt werden kann, sei für den Moment offen gelassen (eine solche Bündelung wäre in der Sicht von Nietzsches Philosophie „am Leitfaden des Leibes“ der Versuch, die unterschiedlichen Genealogien schließlich in der physio-logischen Frage der Leib-Verfassung zu bündeln, welcher Sicht Conills Beitrag durchaus entspricht). Der demgegenüber hier propagierte Übergang in eine irreduzible Pluralität von Genealogien (im Plural) der Sprachen, Zeichen und Interpretationen markiert daher zugleich auch einen Unterschied zur Auffassung von Conill, dem zufolge der „ursprüngliche Zeichencharakter jeder Sprache“, den er auch als „ursemiotisch“ bezeichnet, auf „die organische (leibliche) Dynamik zurückgeht“ (Kap. 2). Die vorgeschlagene Erweiterung der Betrachtung vom Singular Genealogie zum Plural Genealogien sei durch die folgenden sieben Punkte erläutert und präzisiert: (a) Die leibliche Genealogie. In ihr wird der menschliche Leib als Ursprungsort und auch als Adressat der Entstehung der Sprachen, Zeichen und Interpretationen angesehen. Das ist die Sicht Nietzsches, die in Conills Beitrag kenntnis- und aufschlussreich zum Zuge gebracht wird. (b) Die pragmatische Genealogie. In ihr wird der Akzent auf die menschliche Praxis und die Fähigkeiten der Menschen zu Handlungen, kurz: auf den Menschen als handelndes Wesen gelegt. Sprachen, Zeichen und Interpretationen entstehen, entwickeln sich und entfalten ihre Wirkungen aus diesem HandlungsSetting heraus und auf es hin. (c) Die kommunikative Genealogie. Der Mensch steht, wie Nietzsche insbesondere in Die fröhliche Wissenschaft (FW Nr. 354) hervorhebt, unter dem Druck und in der Not, mit seinen Artgenossen in Kommunikation zu treten, um einander mitzuteilen, wo Gefahr lauert und wie man ihr gemeinsam begegnen könnte. Diese Kommunikation ist realisiert in „Mitteilungszeichen“, wodurch Nietzsche zufolge der Ursprung sowohl der Sprachen und Zeichen als auch des Bewusstseins, des näheren des Sich-Bewusst-werdens, deutlich zutage liege. Die Zeichen sind nicht magisch vorab fertig da und werden dann instrumentell eingesetzt. Sie entstehen vielmehr aus den Prozessen, zwecks deren Kommunikation, Mitteilung und Gestaltung sie auf die Bahn gebracht wurden. Sprache ist, wie die anderen
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nicht-sprachlichen Zeichen, wie z. B. Gebärde, Körperbewegung und Blick, ein ‚Verbindungsstück von Mensch zu Mensch‘ (Nietzsche), und in dieser Perspektive ist sie entstanden sowie im Laufe der Zeit immer weiter subtilisiert worden, gekoppelt an ein sich seiner selbst immer stärker bewusst werdendes Bewusstsein. (d) Die kooperative Genealogie. Sprache, Zeichen und Interpretation waren erforderlich und sind entstanden aus dem Druck und der Not heraus, mit anderen Artgenossen zu kooperieren, um das eigene Überleben und dessen Verbesserung zu bewerkstelligen. Diesen Aspekt finden wir ebenfalls bei Nietzsche (FW Nr. 354). Er ist gegenwärtig vor allem auch in der evolutionären Anthropologie anzutreffen, insbesondere in den Arbeiten von Michael Tomasello. (e) Die künstlerische und ästhetische Genealogie. Sprache, Zeichen und Interpretationen entstehen, wie ebenfalls vor allem Nietzsche betont hat, auch aus den ästhetischen Zuständen der Überfülle, die es nach Mitteilung, nach Ausdruck, nach Expressivität drängt, unter Einschluss nicht nur der sprachlichen Zeichen im engeren Sinne, sondern vor allem auch der nicht-sprachlichen Zeichen, wie z. B. der Gesten, Gebärden, Musik, Malerei und Skulptur. In diesem Zusammenhang sei auch der Hinweis auf den berühmten § 9 von Kants Kritik der Urteilskraft erlaubt, in dem der ästhetische Zustand einer Person als ein ganzheitlicher Erregungszustand mit zugleich stark ausgeprägter Mitteilungsbedürftigkeit und Mitteilungsfähigkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird. (f) Die imaginatorische und in der antizipatorischen Einbildungskraft wurzelnde Genealogie. Sprache, Zeichen und Interpretation verdanken einen Teil ihrer Entstehung und Leistungsfähigkeit der genuin menschlichen Einbildungs- bzw. Imaginationskraft. Mittels dieser Fähigkeit sind wir überhaupt erst in der Lage, uns gegenwärtig nicht-aktuale Aspekte und Dinge so vorzustellen, dass diese für die gegenwärtige aktuale Situation relevant sind, zum Beispiel im Falle der aktualen semantischen Merkmale unserer Wörter, Zeichen und Handlungen in Situationen der Kommunikation, der Kooperation und der Welterschließung. Der Imaginationsraum einschließlich der kreativen Phantasie sowie des genuin menschlichen Bedürfnisses, ja geradezu Triebes nach Metaphernbildung kann mithin als ein Ursprungsraum von Sprachen, Zeichen und Interpretationen angesehen werden. Dem Moment des antizipatorischen Vorgriffs entspricht, gleichsam nach hinten, das Einbringen von vormals Gegebenem in eine gegenwärtige Situation (z. B. der Erinnerung an Onkel Paul in dessen herzliche Begrüßung). Beide Komponenten treffen nicht nur auf Sprache und Zeichen, sondern im Kern auch auf das zu, was wir Denken nennen (was ohnehin ein Ereignis in Zeichen ist). Erinnert sei hier lediglich an die konstitutive Rolle des Gedächtnisses für jedes Denken. Im Denken und zumal in der für dieses kennzeichnenden Seite des Allgemeinen muss ich kraft Gedächtnis frühere und vergangene Identifikationen, Situationen und Gehalte einbringen können, um überhaupt von einem
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Allgemeinen, das sich auf zumindest zwei Fälle, Vorkommnisse und Situationen beziehen muss, sprechen zu können. (g) Die rekursive Genealogie. Darunter verstehe ich vor allem die Struktur, dass die aus der Leiblichkeit sowie aus den anderen Genealogien hervorgegangenen und herausgewachsenen Sprachen, Zeichen und Interpretationen auf der dann explizit semantischen Ebene Rückwirkungen auf diejenigen vor-sprachlichen und vor-diskursiven Bereiche haben können (wie z. B. unsere Leiblichkeit, unsere Praxis, unsere Perzeptionen, unsere Handlungen, unsere Einstellungen, bis hin in neurophysiologische neue Bahnungen in unserem durch Plastizität gekennzeichneten Gehirn), aus denen sie genealogisch hervorgegangen sind und sich auf weitgehend emergente und nicht-algorithmische Weise entwickelt haben. Diese rekursive Schleifenbildung zu betonen ist mir wichtig, nicht zuletzt auch deshalb, um auch auf dieser Ebene der Gefahr eines naturalistischen Reduktionismus einer einseitig linearen Ableitbarkeit zu entgehen. Eine umfängliche ZuI-Philosophie möchte die Entstehung, den Ursprung und die Funktion der Zeichen und Interpretationen nicht nur auf eine einzige Dimension bzw. Genealogie zurückführen und einschränken. Die Grundthese lautet vielmehr, dass wir von einer Pluralität von Genealogien auszugehen haben. Dieser Punkt ist mir auch aus folgendem Grunde besonders wichtig. Bei aller Überzeugung in Bezug auf die Wichtigkeit der Verankerung und rekursiven Rückbindung der Sprachen, Zeichen und Interpretationen in der Leiblichkeit ist doch auch festzuhalten, dass die Dimensionen feinkörniger Diskriminierung, Individuation, Bestimmtheit und Spezifikation der semantischen Merkmale unserer Sprache, Zeichen und Interpretationen keineswegs bereits allein kraft der leiblichen Verankerung vorab und fertig gegeben sind. Die Wörter, Zeichen und Gedanken sind zunächst umgeben von Vagheiten und Möglichkeiten vieldeutiger Auslegungen und Interpretationen. Erst im Laufe ihrer Verwendung in spezifischen Kontexten und Situationen kommt es zu einem Abbau von Vagheit, bezogen auf die jeweilige Situation, den jeweiligen Kontext, auf Zeit, Personen, Sprecher- und Hörer-Einstellungen. Die Bestimmtheit der Bedeutung eines Wortes, Zeichens oder Gedankens hängt von der im Einsatz befindlichen Interpretation ab und ist nicht bereits mit dem Hinweis auf deren leiblichen Ursprung gegeben. Letzteres wäre eben ein Leiblichkeits-Fehlschluss. Und erst dadurch wird ein Wort, ein Zeichen, ein Gedanke das semantische Merkmale tragende Zeichen, das es dann in erfolgreichem Kommunizieren, Kooperieren und Koordinieren ist. Fragen wir, mit Peirce, welches der ultimative Interpretant eines Zeichens ist, dann (so die wichtige Präzisierung gegenüber einer einseitigen Reduktion von Semantik, Pragmatik und Syntax auf die Leiblichkeit allein) stoßen wir letztlich nicht nur auf Leibfunktionen, sondern auf Handlungen. Diese können als die ultimativen Interpretanten der Zeichen und Gedanken und damit als die eigent-
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lichen Festlegungen, Umgrenzungen der semantischen Merkmale der Zeichen und Gedanken angesehen werden. Handlungen setzen zwar stets leibliche und andere Fähigkeiten und Dispositionen voraus und sind mit diesen gekoppelt (wie z. B. imaginatorische und antizipatorische Kraft, denn das, was im Handeln erreicht werden soll, ist ja aktual noch nicht da, muss also zunächst auch vorgestellt werden können). Aber erstere lassen sich nicht einfach naturalistisch auf letztere reduzieren. Und da dieser komplexe Prozess zunehmender Bestimmtheit (oder nach der gegenteiligen Seite hin auch möglicher zunehmender Veränderung, bis hin zum Abbau von vormaligen Bestimmtheiten und deren Ersetzung durch andere) im Verhältnis von Zeichen und Interpretation nicht eine passivisch und sich linear vollziehende kausale Geschichte ist, sondern ein Prozess vielfältiger Aktivitäten, Um- und Neuinterpretationen nicht-vorhersagbarer, nicht-deterministischer und nicht-teleologischer Art, möchte ich Conills Charakterisierung der Prozesse der Zeicheninterpretation als „Urhermeneutik“, als „urhermeneutischer Weg“ oder als „urhermeneutisches Geschehen“ (Kap. 2) nicht übernehmen.
3 Abgrenzung gegenüber „Ursemiotik“ und „Urhermeneutik“? Dass ich trotz der basalen Stellung der Zeichen- und Interpretationsprozesse in unserem Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln gleichwohl nicht die von Conill verwendeten Begriffe einer „Ursemiotik“ und einer „Urhermeneutik“ verwenden möchte, hat verschiedene Gründe. Der wichtigste und einfachste ist der folgende (den ich auch bereits in meinen Repliken zu den Beiträgen von Angehrn, Przylebski und Bertram dargelegt habe, auf die hier explizit verwiesen sei): Mit ihrem Fokus auf den nicht-hintergehbaren ZuI-Prozessen greift die ZuI-Philosophie hinter die mit den Ausdrücken ‚Semiotik‘ und ‚Hermeneutik‘ üblicherweise adressierten und spezifizierten Felder des Gebrauchs gegebener semiotischer Zeichen und einer Strategie, gar einer Theorie zur auslegenden Deutung kultureller Produkte, Handlungen und Texte zurück. Die Radikalität des ZuI-Ansatzes wird in diesem Zusammenhang auch daran deutlich, dass nach denjenigen Prozessen und Mechanismen gefragt wird, die überhaupt erst dazu führen, dass wir es mit unterschiedlichen spezifizierten Arten von Zeichen (wie z. B. Rechtszeichen, Verkehrszeichen) und etwa auch mit der Unterscheidung von Art und Gattung und mit unterschiedlichen Arten von kulturellen Produkten (wie Sprachen, Bildern, Musik, Rechtssystemen, Moralen) zu tun haben, die es dann im Sinne aneignender Deutung sowie eines Sinn-Verstehens verständlich zu machen gilt. Die ZuI-Philosophie umfasst in ihrem umfänglichen Sinne nicht nur mehr als das,
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was mit den Ausdrücken ‚Semiotik‘ und ‚Hermeneutik‘ üblicherweise adressiert wird. Indem sie keine Theorie der Zeichen und keine Theorie des Verstehens ist, sondern auf den ursprünglichen ZuI-Charakter der Prozesse des menschlichen Selbst-, Fremd- und Welterschließens selbst gerichtet ist, greift sie zugleich hinter die immer noch rest-disziplinären Strategien der Semiotik und der Hermeneutik zurück. Sie möchte Semiotik und Hermeneutik aus ersterem Geschehen genealogisch rekonstruieren und erfassen, nicht umgekehrt. Das ist es, was die Zeichenund Interpretations-Philosophie von einer Theorie der Zeichen und Interpretation (etwa in den Literatur-, Geistes-, aber auch in den Natur-, Kunst- und Technikwissenschaften) basal unterscheidet. Es geht um die vielfältigen, dynamischen Genealogien und Prozesse, die keineswegs auf eine einzige „Ursemiotik“ oder „Urhermeneutik“ zurückzuführen sind. Es geht um die vielfältigen und dynamischen zeichen-interpretativen Prozesse, in deren Zuge es überhaupt erst zur Generierung und Individuierung von Verhältnissen der ‚significance‘ kommt, deren eigentümliche Pfade, Beschaffenheiten und Dynamiken dann explizit auch Gegenstand der einzelwissenschaftlichen Methodologien sind, etwa der Semiotik oder der Hermeneutik. Innerhalb des heuristischen 3-Stufenmodells der ZuIVerhältnisse sind diese Anstrengungen und Methodologien dann bekanntlich vor allem auf der ZuI3-Ebene angesiedelt und dort von kardinaler Wichtigkeit.
Literatur Abel, Günter 1990: Interpretatorische Vernunft und menschlicher Leib, in: Djurić, Mihailo (Hg.): Nietzsches Begriff der Philosophie, Würzburg, S. 100 – 130. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2010: Zeichen der Wahrheit – Wahrheit der Zeichen, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 39, S. 17 – 38. Nietzsche, Friedrich 1988: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde., hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 2. Aufl., Berlin / New York; [KSA]. Darin insbesondere: Die fröhliche Wissenschaft, in: KSA 3, S. 343 – 651; [FW]. Kant, Immanuel 1790: Kritik der Urtheilskraft, in: Gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften u. a., Berlin 1902 ff., Bd. V, S. 165 – 485; [KU].
Kapitel 5: Neurobiologische Kognition und Zeitlichkeit
Hinderk M. Emrich
Zur Frage nach dem „Semantom“ Abstract: The great challenge to understand the genesis of “meaning” within the human brain, characterized by the question “how do semantics get into the human brain?”, raised by Wolf Singer, Max Planck Institute for Brain Research, FFM, represents a fundamental question in neurobiology. In the present situation of research there is a gap between the neurophysiologically manifestable functional patterns and, on the other hand, the neuropsychological phenomena, which can be quantified using subjective scales. These are, in the present paper, realized within complex illusionary phenomena, which are important for quantifying experiences and decisions and which – in this sense – describe so to say “meaning”. Interestingly, these aspects of meaning can be very intensely be explored by using comparisons between measurements in normal probands and, on the other hand, patients with psychiatric disorders: for example in psychotic patients, patients under influence of cannabis and also after sleep deprivation. Under these conditions one is able to objectify the so called “semantic pressure”; and the crucial question in this regard is: might it by possible to quantify these differences in the sense of finding a semantic “particle”, a “semantom”.
1 Einleitung: Zur Bedeutung von ‚Bedeutung‘ Die Frage nach der Entstehung von Bedeutungshaftigkeit im Gehirn ist sicherlich eine der zentralen Herausforderungen der neurobiologisch fundierten Kognitionswissenschaften der Gegenwart und indirekt wohl auch für die Philosophie. „Wie kommt Semantik ins Gehirn?“, fragt zu Recht der Neurobiologe Wolf Singer (Max-Planck-Institut für Hirnforschung), denn bisher können wir nur Erregungsmuster im Gehirn beschreiben, messen und quantifizieren, nicht aber die neuronalen Prozesse, die die überlebensrelevanten Phänomene der ‚Bedeutung von etwas‘ erfassen. Vom Standpunkt der Phänomenologie aus ergibt sich das Konzept, dass ‚Bedeutung‘ sich für das Subjekt daraus ergibt, dass es in bestimmten Situationen um Entscheidungen für (oder gegen) bestimmtes intentionales Handeln geht, die nur durch die Erkundung der Bedeutung entscheidungsrelevanter Signale zielführend getroffen werden können. In diesem Sinne ist das Gehirn ein „Signifikanz-Detektor“. So sagt der Neurobiologe von der Malsburg, dass das Gehirn in der Lage ist, „aus dem unendlichen Grundrauschen
https://doi.org/10.1515/9783110522280-022
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der Sinnesdaten der Umgebung etwas Signifikantes, etwas Bedeutungsvolles herauszufiltern“.¹ In der Informationstheorie wird die Informationsdichte von Daten in Bits und Bytes „quantifiziert“ (Shannon / Weaver 1949), ohne dass dabei der Anspruch erhoben wird, das Phänomen der Bedeutung von etwas für eine Situation zu quantifizieren, denn winzige Veränderungen einer Datenkette können die Bedeutung einer Information völlig verändern, wie wir dies z. B. aus der Linguistik (im Übergang z. B. von „Saulus“ zu „Paulus“) und aus der molekularen Genetik (bei den DNS-RNS-Übergängen) kennen, wo der Austausch eines einzigen Nucleotid-Bausteins der DNS so ‚bedeutungsvoll‘ sein kann, dass es z. B. zur Entstehung einer genetisch übertragbaren Krankheit kommt. Aus diesem Grunde gibt es Ansätze, Informationen nicht (im Sinne quantifizierbarer Datenmengen) ‚absolut‘ zu bestimmen, sondern den Ansatz der ‚pragmatischen Information‘ zu verfolgen, in dem es nicht um Datenmengen als solche geht, sondern um deren Aspekte als handlungsrelevante Datenlagen. Möchte man in dieser Hinsicht weiterkommen, so mag ein Ansatz aus der Human-Neuropsychologie interessant sein, der sich mit der Quantifizierung von Wahrnehmungsillusionen beschäftigt. Dabei geht es um Untersuchungen visueller Illusionen bei gesunden Probanden und bei Patienten mit z. B. schizophrenen Psychosen, von Probanden unter Cannabis-Einfluss sowie bei gesunden Probanden nach Schlafentzug, bei welchen eine derartige Illusion sich dadurch manifestiert, dass – je nach der vorherigen Lerngeschichte der betreffenden Person – die Illusion in quantifizierbarer Weise entweder auftritt, in veränderter Form vorhanden ist oder überhaupt nicht nachweisbar ist. Dabei ist die illusionäre Wahrnehmung insofern bedeutungsrelevant, als sie mit der Frage zu tun hat: „Was bedeutet das, was ich wahrnehme, für mich?“ (Erfassung des ‚semantischen Drucks‘). Bei der Frage nach der phänomenologischen Erfassung der ‚Bedeutung von etwas‘ für das Subjekt scheint von wesentlicher Relevanz auch das Thema der Einheit / Multiplizität entscheidungsstiftender Subsysteme zu sein: neuronale Untereinheiten können quasi unterschiedliche Vorerfahrungen repräsentieren und – z. B. in der Ausgestaltung der illusionären Wahrnehmung in der beschriebenen Wahrnehmungsforschung – zu einem je verschiedenen Wahrnehmungsresultat führen. Ein beeindruckendes Beispiel hierfür ist ein Forschungsergebnis meiner Doktorandin Nora Dietzek an einer Gruppe von Studenten, die sich eine Woche lang in einer von außen abgedunkelten Wohnung aufhielten, in der alle Lichtquellen von unten nach oben leuchteten. Dadurch wurden von oben be-
Diskussionsbemerkung von Christoph von der Malsburg.
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leuchtete 3-dimensionale visuelle Objekte anders wahrgenommen als vor diesem einwöchigen Aufenthalt. Es ist zu erwarten, dass derartige Interaktionen für die Erfahrung von ‚semantischem Druck‘ bei der visuellen Wahrnehmung von erheblicher Bedeutung sind.
2 Der subjektive Beobachter: zur Freisetzung von ‚Bedeutung‘ bei der visuellen Wahrnehmung In seinem Buch Physik und Erkenntnistheorie von 1961 spricht Wolfgang Pauli von einer „neuen und erweiterten Art des Denkens“: „Dieses Denken zieht auch den Beobachter mit in Betracht, einschließlich des von ihm benutzten Meßgerätes, also ganz verschieden von der Art, wie es in der klassischen Physik geschah […] Bei der neuen Art zu denken nehmen wir nicht mehr den losgelösten Beobachter an, […] sondern einen Beobachter, der durch seine undeterminierbaren Einwirkungen eine neue Situation schafft, die theoretisch als ein neuer Zustand des beobachteten Systems beschrieben wird. Auf diese Weise ist jede Beobachtung eine Aussonderung eines realen Einzelereignisses, hier und jetzt, aus den theoretischen Möglichkeiten, wobei gleichzeitig die diskontinuierliche Seite der physikalischen Phänomene zutage tritt.“ (Pauli 1961: 7) Dieses Zitat mag als Einführung dafür gelten, dass Fragen nach der Natur der Subjektivität und der damit verbundenen Semantik in den Naturwissenschaften der Gegenwart eine nicht mehr zu vernachlässigende Rolle spielen. Die derzeitige neurobiologisch fundierte Kognitionstheorie hat sich die Aufgabe gestellt, auch eine Theorie der Subjektivität zu entwickeln und insofern einen Beitrag zu dem von Pauli in den Blick genommenen Problem der Wechselwirkung zwischen Konstellierung einer Situation durch das Subjekt und der „Aussonderung eines realen Einzelergebnisses […] aus den theoretischen Möglichkeiten“ (ibid.) zu leisten. Innerhalb dieser Problematik spielt der Begriff ‚Bedeutung‘ eine besondere Rolle, die sich innerhalb der oben erwähnten wahrnehmungspsychologischen Studien thematisieren lässt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Forschungsrichtung der Physik, nämlich die informationstheoretische Seite der nichtlinearen Dynamik, die sogenannte ‚Informationsdynamik‘ in den letzten Jahren Beiträge zu dem Verhältnis zwischen ‚Komplexität‘ und ‚Bedeutung‘ geleistet hat. Im Zentrum dieser Überlegungen steht der Begriff der ‚pragmatischen Information‘, der ursprünglich von Ernst von Weizsäcker geprägt wurde.² Eine
Vgl. zur Übersicht (Kornwachs / Lucadou 1985); (Kurths / Witt 1994).
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mehr als deskriptive Bewältigung des Bedeutungsbegriffs ist dabei die herausfordernde Thematik. In die Themenstellung einführen mag folgendes Zitat aus Wittgensteins Blauem Buch: „Die Fragen ‚Was ist Länge?‘, ‚Was ist Bedeutung?‘, ‚Was ist die Zahl Eins?‘ etc. verursachen uns einen geistigen Krampf. Wir spüren, daß wir auf nichts zeigen können, um sie zu beantworten, und daß wir gleichwohl auf etwas zeigen sollten. […] Denn sicherlich mußt du, um die Bedeutung von ‚Bedeutung‘ zu verstehen, auch die Bedeutung von ‚Erklärung der Bedeutung‘ verstehen.“ (Wittgenstein 1984: 15) Eine Bedeutungstheorie müsste nach Wittgenstein also die Aufgabe bewältigen, eine „Erklärung der Bedeutung“ zu liefern. Eine derartige ‚Erklärung‘ aber kann – vom Standpunkt der Kognitionstheorie her – nur im Rahmen einer ‚Theorie des Gehirns‘ erfolgen und damit der Entstehung von (subjektiv) relevanter Signifikanz. Dies ist ein Thema, über das der an der Schwelle zur Neuzeit tätige Denker, Naturforscher und Dichter Johann Wolfgang von Goethe hellsichtig formulierte, indem er von einer „Gedankenfabrik“ sprach, in der er die Lösung des Rätsels der Verbindung zwischen ‚Einheit‘ und ‚Mannigfaltigkeit‘, das in der damaligen Philosophie eine besondere Rolle spielte, vermutete: Zwar ist’s mit der Gedankenfabrik Wie mit einem Weber-Meisterstück, Wo ein Tritt tausend Fäden regt, Die Schifflein herüber hinüber schießen, Die Fäden ungesehen fließen, Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt. Der Philosoph, der tritt herein Und beweist Euch, es müßt so sein: Das Erst wär so, das Zweite so, Und drum das Dritt und Vierte so; Und wenn das Erst und Zweit nicht wär, Das Dritt und Viert wär nimmermehr. Das preisen die Schüler allerorten, Sind aber keine Weber geworden. Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist heraus zu treiben, Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt, leider! nur das geistige Band. Goethe: Faust – Der Tragödie erster Teil, Vers 1896 ff.
Dieser sarkastische Text über das Projekt der kognitiven Neurobiologie hat an Aktualität erheblich zugenommen. Man kann nur hoffen, dass uns das Lachen
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nicht bald dadurch vergeht, dass die entstehenden Hirn-„Weber“ die „tausend Verbindungen“ manipulieren werden. Das Verhältnis zwischen Mannigfaltigkeit in der Natur und Einheit im Bewusstsein spielt ca. 50 Jahre später bei dem philosophischen Psychologen Franz von Brentano in seinem 1874 geschriebenen Werk Psychologie vom empirischen Standpunkt eine besondere Rolle bei der Frage nach der Abgrenzung zwischen psychischem Geschehen und dem Reich der Physik. So schreibt er: „In welchem Sinne kann man also allein etwa sagen, dass von psychischen Phänomenen stets nur eines, von physischen dagegen viele zu gleicher Zeit auftreten? Man kann es, insofern die ganze Mannigfaltigkeit der psychischen Phänomene, die jemandem in innerer Wahrnehmung erscheinen, ihm immer als eine Einheit sich zeigt, während von den physischen Phänomenen, die er gleichzeitig durch sogenannte äußere Wahrnehmung erfasst nicht dasselbe gilt.“ (Brentano 1874: 135) Die Mechanismen der intermodalen Integration sind bisher nicht gelöst, wenn auch hierzu interessante Modelle derzeit diskutiert werden, wie sie von Pöppel, Singer und anderen vorgeschlagen werden.³ Ein möglicherweise etwas einfacher strukturiertes Problem stellt die Lösung der Aufgabe der ‚intramodalen Integration‘ dar, d. h. der internen Verrechnung verschiedener Aspekte von ‚Wirklichkeit‘ innerhalb einer einzigen Sinnesqualität. Ein Beispiel dafür, wie im Prinzip eine derartige Integrationsleistung neurobiologisch realisiert sein kann, wurde von dem in San Diego tätigen Neurobiologen Heiligenberg in Experimenten am elektrischen Fisch vorgeschlagen. Diese Untersuchungen zum „Mechanismus der Funktion des ‚Höhenruders‘ des elektrischen Fischs“ zeigt, dass die Regulation der Schwimmhöhe durch CO2- und pHsensible neuronale Netze, sogenannte ‚Assemblies‘ realisiert ist, die, ohne Rückmeldung über das Ergebnis ihres Beitrags, im Sinne einer ‚parlamentarischen Abstimmung‘ ihre ‚Voten‘ in die Steuerung der Schwimmblase des Fisches einbringen. Wenn die Mehrheit dieser Einzel-Voten für eine Erniedrigung der Schwimmhöhe spricht, reagiert der Fisch mit einer Abwärtsbewegung und vice versa (Heiligenberg 1987). Ähnlich funktionierende integrative Leistungen scheinen nach neueren Ergebnissen der wahrnehmungspsychologischen und neurobiologischen Forschung auch für die intramodalen Integrationsleistungen der Sinneswahrnehmung vorhanden zu sein. Die Grundüberzeugung der Wahrnehmungspsychologie bei der intramodalen Integration geht dabei davon aus, dass Wahrnehmung keinen in sich ‚einheitlichen Prozess‘ darstellt, sondern vielmehr durch interne Verrechnung, interne Wechselwirkung verschiedener, zum Teil widersprüchlicher
Vgl. (Pöppel 1985), (Singer 1989).
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Informationsgehalte zustande kommt. Eine mögliche Beschreibung dieser internen Verrechnungsleistungen stellt das sogenannte ‚3-Komponenten-Modell‘ der Wahrnehmung dar. Dieses Modell hat einen heuristischen Aspekt in dem Sinne, dass drei verschiedene qualitative Eigenschaften, drei funktionelle Aspekte des visuellen Systems beschrieben werden, und zwar einerseits der reine Sinnesdaten-Aspekt im Sinne der ‚bottom-up‘-Komponente der visuellen Wahrnehmung im Sinne der Daten von Hubel und Wiesel (1979); andererseits handelt es sich um den Aspekt der Konzeptualisierung bzw. die sogenannte ‚top-down‘-Komponente im Sinne von Gregory und Donald MacKay (MacKay 1965). Die dritte Komponente repräsentiert den Aspekt einer ‚zensurierenden‘ bzw. ‚wirklichkeitsüberarbeitenden‘ Korrektur- bzw. Zensur-Komponente. Durch konnektionistische Modellierungen lässt sich zeigen, dass die dritte Komponente, die insbesondere bei den weiter unten beschriebenen Illusionsexperimenten von Bedeutung ist, auch als reine Dynamik repräsentiert sein kann und nicht notwendigerweise als strukturelle Komponente des Systems auftreten muss. Hinsichtlich der dann verbleibenden 2-Komponenten-Interaktion ist die Forschungssituation nicht ganz einheitlich; denn es gibt Forscher, die der Überzeugung sind, dass innerhalb der ‚bottom-up‘-Komponenten der rein sensualistischen Zerlegung von Daten sich gewissermaßen von selbst die Konzeptualisierung durch die Zerlegung in Unteraspekte ergibt. Je nach bevorzugter Beschreibungsweise hat man dann also eine 2oder 3-Komponenten-Hypothese der visuellen Wahrnehmung vor sich.
3 Störung der Wahrnehmung stereoskopischer Invertbilder als Indikator einer Psychose Die hier dargestellte Neuropsychologie visueller illusionärer Wahrnehmung hat den Hintergrund, dass hiermit Grundstörungen schizophrener Erkrankungen untersucht werden können. Die Bedeutung eines solchen Konzeptes liegt dabei darin, dass produktive Symptome der Psychose dadurch erklärt werden können, dass ein relatives Überwiegen interner Konzeptualisierungen als ursächlich für Sinnestäuschungen wie Halluzinationen, Wahnwahrnehmungen etc. angenommen werden kann, da durch die mangelnde Löschung, Zensurierung bzw. Korrektur dieser internen Konzeptualisierungen diese ins Bewusstsein eintreten und damit als produktive Symptome vom Patienten wahrgenommen werden. Im Folgenden wird eine Methode vorgestellt, mit der das hier dargestellte Drei-Komponenten-Konzept experimentell überprüft werden kann. Das Phänomen der Wahrnehmung stereoskopischer Invertbilder kann auf eindrucksvolle Weise durch die Betrachtung dreidimensionaler Hohlmasken von
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menschlichen Gesichtern demonstriert werden, wie sie z. B. in Disneyland in Kalifornien im „Haunted Mansion“ zu beobachten sind. Dabei werden dreidimensionale Hohlmasken als normale menschliche Gesichter wahrgenommen, bei denen beim Hin- und Hergehen vor der Maske wegen der perspektivischen Veränderung die Illusion entsteht, dass sich die wahrgenommenen Köpfe jeweils mit dem Beobachter mitdrehen. Die Invertwahrnehmungsillusion kommt dabei dadurch zustande, dass das menschliche Gehirn bestimmte Hypothesen über die dreidimensionale Struktur von Objekten testet und diese mit den retinalen Sinnesdaten vergleicht. Das Sehen von Invertbildern tritt nur dann auf, wenn der semantische Gehalt des gesehenen Objekts nur in invertierter Form sinnvoll interpretiert werden kann. Offensichtlich korrigieren und modifizieren die mentalen Konzepte (,ratiomorpher Apparat‘), im Sinne von Vorurteilen, die Sinnesdaten in einem kritischen Interaktionsprozess, der letztlich zur bewussten Sinneswahrnehmung führt. Dieser Interaktionsprozess ist nach der vorliegenden Hypothese bei schizophrenen Psychosen (und, nebenbei bemerkt, auch bei Modellpsychosen) in dem Sinne gestört, dass die Korrektursysteme nur unvollständig funktionieren. Es ist somit zu erwarten, dass bei schizophrenen Patienten eine Abnormität der Wahrnehmung von Invertbildern in dem Sinne auftreten sollte, dass wegen der Unvollständigkeit der ‚Zensur‘ in verstärktem Maße Hohlmasken gesehen werden, wenn stereoskopisch invertierte, semantisch relevante Objekte vorgeführt werden, d. h. dass die Illusion eines Normalgesichtes nur unvollständig oder gar nicht auftreten sollte. Im Rahmen experimenteller Untersuchungen unter Verwendung eines stereoskopischen Projektionssystems, das mit linear polarisiertem Licht arbeitet, wurde bei schizophrenen Patienten gefunden, dass sie im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden erhebliche Unterschiede der Wahrnehmung stereoskopischer Invertbilder zeigten. Auch Normalprobanden zeigten unter Einwirkung des Cannabinoid-Psychedelicums THC analoge Effekte.
4 Philosophie der Entscheidung – der präfrontale Cortex als Hypothesen-bildende (Fragenstellende) Organisationsstruktur In der „Psychiatrischen Anthropologie“⁴ wird zwischen ‚Erregungs-Code‘ und ‚bedeutungsgenerierendem Code‘ unterschieden; dabei wird davon ausgegangen, dass der bedeutungsgenerierende Code nur von der Warte eines ‚Hypersystems‘
Vgl. (Emrich 2008).
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aus beschrieben werden kann und somit einer direkten neurophysiologischen Messung nicht zugänglich ist.⁵ Überlegungen, die sich auf neuropsychologische Messungen an Synästhesie-Probandinnen und -Probanden beziehen, zeigen, dass offenbar bei der ‚internen Dialogik‘ des Gehirns dem präfrontalen Cortex eine entscheidende Rolle zukommt. ‚Intermodale Integration‘ (‚Binding‘) erscheint dabei als top-down-Phänomen. In diesem Sinne wird die Hypothese aufgestellt, dass (z. B. bei der Entstehung der sog. ‚genuinen Synästhesie‘) die Leistung des dabei auftretenden ‚Hyperbindings‘ dadurch zustande kommt, dass die auftretende zusätzliche transmodale Integration von Sinneskanälen auf der Grundlage der Konzeptualisierungskomponente, einer ‚top-down-Verbindung‘ – im Sinne einer zusätzlichen Konnektivität – zustande kommt. Um nun die Frage zu etablieren, was ist für das Subjekt ‚bedeutungsvoll‘, muss der Organismus kohärenzbildend funktionieren und zugleich intermodal integrieren, um die jeweilige ‚Situation‘ zu ,verstehen‘ (d. h. eine überlebensrelevante Beurteilung der ‚Situation‘ abzugeben), die sich aus den Kontexten der eingehenden Sinnesdaten im Vergleich mit bisherigen Erfahrungen („stored regularities“, Jeffrey Gray)⁶, gespeichert in neuronalen Gedächtnissystemen, herstellt, und daraus eine ‚Wirklichkeitshypothese‘ bilden zu können, mit dem Gestus: „Was bedeutet dies für mich?“, „Könnte es so oder so sein?“. Hermann Schmitz hat in seinem Buch Höhlengänge: Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie ausgeführt: „Um meinen Situationsbegriff aus der Lebenserfahrung zu motivieren, greife ich auf das schon erwähnte Beispiel der unfallträchtigen Gefahrensituation zurück, die ein Autolenker schlagartig sowohl erfaßt als auch durch geschicktes Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen bewältigt. Er muß die Situation in ihrer Ganzheit, ohne durch Analyse und Überlegung Zeit zu verlieren, in Hinsicht auf die relevanten Sachverhalte, die Probleme der Unfallgefahr und die Programme möglicher Rettung erfassen und auch schon demgemäß beantworten. Vielleicht kommt ihm nichts davon einzeln zu Bewußtsein, sondern alles in chaotisch-mannigfaltiger Ganzheit. In diesem Sinn ist eine Situation in meinem Sinn eine chaotisch-mannigfaltige Ganzheit, zu der mindestens Sachverhalte gehören, die, meist zusammen mit Programmen und Problemen, den die Ganzheit integrierenden Hof der Bedeutsamkeit der Situation bilden; die Programme und Probleme enthalten programmierte und problematische Sachverhalte, so daß diese im Hof der Bedeutsamkeit die grundlegende Stellung haben.“ (Schmitz 1997: 55)
Vgl. (Emrich 2007). Vgl. (Gray / Rawlins 1986).
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Dabei erscheint der präfrontale Cortex als „Fragensteller“, als „Hypothesenbildner“ und das Parietallappen-System als Vermittler von „stored regularities“ und als „Comparator-System“ (Jeffrey Gray)⁷. ‚Bedeutung‘ (entstanden auf der Grundlage eines ‚bedeutungsgenerierenden Codes‘) wäre dann also als ein auf verschiedene Subsysteme verteiltes ‚dynamisches Muster‘ zu verstehen. Es wäre neurophysiologisch nicht direkt ableitbar sondern nur durch Messungen der Dynamiken der zeitlichen und räumlichen Verteilung von Erregungsmustern in bestimmten somatosensorischen Kontexten (der Bedrohung oder der Erfolg versprechenden Suche nach Beute, Terrain, Partnern etc.) zu verstehen, wobei die Koordination dieser Muster im Hinblick auf verschiedene neuronale Topologien von entscheidender Bedeutung wäre. ‚Bedeutung‘ im Sinne einer ‚pragmatischen Information‘ würde dann entstehen durch die Dynamik der Wechselwirkung zwischen dem präfrontalen Cortex als ‚großem Fragesteller‘ (Hypothesenbildner) und dem Temporallappen-System mit Comparatorsystemen und der Bereitstellung von „stored regularities“ (Jeffrey Gray). Es stünde dies alles unter dem Einfluss des Themas, das von Martin Heisenberg herausgearbeitet wurde, nämlich der „Initialen Aktivität“ (vgl. auch Johann Gottlieb Fichte „Spontaneität des Ich“). Die „initiale Aktivität“ lässt sich mit Heisenberg wie folgt beschreiben: „Die Katze, die bedürfnislos in der warmen Frühlingssonne liegt, steht plötzlich auf, geht ein paar Schritte, schaut den Baum hinauf und legt sich wieder hin. Das Gehirn bestimmt ohne aktuelle Veranlassung, d. h. in begrenztem Rahmen rein zufällig, welches motorische Programm aktiviert wird. In diesen Zufallsprozeß mischt sich die Sensorik zusammen mit anderen Determinanten ein.“ (Heisenberg 1997: 168) Im Sinne von Martin Heisenberg schafft sich die Katze in dieser von ihr geschaffenen Situation eine Welt. Hermann Schmitz schreibt dazu in seinem Buch Höhlengänge: „In Situationen aber ist die Bedeutsamkeit primär. Als Grundbegriff der Ontologie besagt der Situationsbegriff, daß es nicht auf der Grundlage einer Welt neutraler Sachen zu einer Welt hinzugebrachter, z. B. aus Bedürfnissen von Subjekten projizierter, Bedeutungen kommt, sondern umgekehrt aus einer Welt von Bedeutungen zu einer davon abhängigen Welt von Sachen.“ (Schmitz 1997: 109) In der Philosophie des Zeichens von Günter Abel taucht diese Problematik in der Weise auf, dass die „Interpretationspraxis“ von Zeichen immer mit der Frage nach der Wirksamkeit im „Handlungszusammenhang“ zu tun hat. Abel formuliert Jeffrey Gray hat in seinem Buch Consciousness (2004) aus dieser Organisationsstruktur und deren Funktionen eine Konzeption von „Bewusstsein“ abgeleitet: dabei wird davon ausgegangen, dass Bewusstsein als Synonym für die funktionelle Eigenschaft zu verstehen ist, dass in bestimmten (späten) Phasen von Entscheidungsprozessen noch einmal überprüft werden kann, ob hier nicht eine Fehlerkorrektur ‚im letzten Moment‘ notwendig ist.
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hierzu: „Worauf beruht […] das Gelingen und der Erfolg eines Zeichens im Anschluß an einen zuvor problematisch gewordenen Zeichengebrauch und Handlungszusammenhang? Sie beruhen darauf, daß ein Folge- und Anschlußzeichen sowie eine entsprechende Handlungsausführung erneut und bis auf weiteres eine Fraglosigkeit für Echtzeit-Kommunikation und Echtzeit-Verhalten zustande bringen. Beispiele für solche Verhältnisse des ›Passens‹ liefern offenkundig auch die erfolgreichen Lehr- und Lernsituationen. Vor diesem Hintergrund läuft das Programm einer pragmatischen Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Geistes und der Handlungen (und überhaupt das Programm des Pragmatismus, zumindest das von Peirce) darauf hinaus, dem Menschen diejenigen Mittel bereitzustellen, die es ihm ermöglichen, Störungen in Verständigungs-, Weltbezugs- und Handlungsverhältnissen zu beseitigen und die zuvor fraglos funktionierende Alltagspraxis bzw. Lebenswelt ›wiederherzustellen‹ und fortzuführen. Im Kern heißt dies, ein interpretatives Verfahren zur Klärung der (fraglich gewordenen) semantischen und pragmatischen Merkmale der Zeichen zu liefern.“ (ZdW 310)
5 ‚Binding‘ als top-down-Phänomen Das große Generalthema der derzeitigen kognitiven Neurobiologie des ZNS steht unter dem Motto der Frage nach der Entstehung von ‚binding‘ als ‚intermodale Integration‘. Wieso erscheint es sinnvoll, dies als ‚top-down‘-Prozess der ‚initialen Aktivität‘ zu sehen? Wieweit ist es für den Organismus ausschlaggebend, in Situationen der Entscheidung (z. B. zwischen Angriff oder Rückzug) alle Informationen aus der Außenwirklichkeit (und der eigenen körperlichen somatosensorischen Wirklichkeit) zu integrieren, sie zu ‚bündeln‘, d. h. ‚binding‘ und die optimale Entscheidung damit zu ermöglichen? Der Gedanke hierbei ist der – in Anlehnung an eine Diskussionsbemerkung von Herrmann Schmitz (Atmosphärentagung Karlsruhe 2011) – dass derartige top-down Konzepte als bedeutungsgenerierende Wirklichkeitshypothesen auftreten und insofern nicht aus den Daten zusammengesammelt und gebündelt werden (so wie von der Malsburg sagt „aus dem unendlichen Grundrauschen gefiltert“, vgl. o.), sondern vielmehr als genuine spontane Wirklichkeitshypothese an die Datenlage herangetragen und in diesem Sinne ‚ausprobiert‘ werden (Neufeld et al. 2012). Solche Wirklichkeitsschaffenden Konzepte können aber auch interpersonal vermittelt werden. Sie werden im intersubjektiven Handlungsfeld vereinbart und damit zur kommunizierbaren Bedeutungshaftigkeit. Hermann Schmitz sagt hierzu in Höhlengänge: „Die natürlichen Einheiten der Wahrnehmung sind nicht Sinnesdaten oder Dinge, sondern vielsagende Eindrücke. Wir stehen nicht so in der Welt, daß uns durch Sinnesdaten Empfindungen
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zukämen, die von einer bewußten oder unbewußten Intelligenz durch synthetische Auffassungsleistungen verarbeitet werden müßten, sondern unser Wahrnehmen ist von vorn herein ein Bemerken, was los ist, d. h. von Situationen, das allerdings in die Verschwommenheit des absolut chaotischen Mannigfaltigen, in dem sich nichts mehr einzeln abhebt, absinken kann und beim Säugling wahrscheinlich daraus hervorgeht.“ (Schmitz 1997: 110) In der Zeichenphilosophie Günter Abels ist hierzu eine neurobiologisch höchst relevante Konzeption herausgearbeitet worden, die beinhaltet, dass „Geist“ keine (solipsistische) private Innenperspektive beinhaltet sondern, wie er formuliert, „[…] daß er seinen Ort und seine Funktion in der öffentlichen und mit anderen Sprechern und Hörern geteilten intersubjektiven Zeichen- und Interpretations-Praxis hat.“ Und Abel fährt fort: „Geist ist keine inner-psychische Privatsache. Seine an den öffentlichen Raum des Zeichengebrauchs gebundene und grundlegende Leistung der Generierung von Bedeutungen ist immer schon vorausgesetzt und in Anspruch genommen, sobald überhaupt mit Zeichen und deren Bedeutungen operativ umgegangen werden kann. Umgekehrt heißt dies, daß die Prozesse der Generierung und der Festlegung ebenso wie die Dynamik der Zeichenbedeutungen stets bereits von menschlichen geistigen Aktivitäten abhängig sind. Alles andere liefe auf Magie der Zeichen oder auf ein deterministisches Verständnis der Interpretation der Zeichen hinaus.“ (ZdW 290 f.)
6 Auf der Suche nach dem „Semantom“ Robert Spaemann hat vielfältig darauf hingewiesen, dass es in der Natur elementare Phänomene gibt, auf die man nicht mit technischen Mitteln manipulierend zugreifen sollte: das Atom und das Genom.⁸ Hier könnte man hinzufügen, so etwas gilt auch für die Elemente des Bedeutungsphänomens als eine Art von Urstoff des Geistig-Seelischen im Menschen. Insofern wäre die Konzeption des ‚Semantoms‘ ein höchst schützenswertes Element unseres Daseins. Ob es diese ‚Elementarteilchen von Bedeutung‘ nun aber gibt oder ob sie sich jeweils nur aus den Kontexten erschließen lassen, dies zu erkunden ist wohl noch ein weiter Weg …
Persönliche Korrespondenz 2011.
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Günter Abel
Schnittstellen von Zeichen- und Interpretationsphilosophie, Psychologie und Psychiatrie Replik zum Beitrag von Hinderk M. Emrich Der Beitrag von Hinderk M. Emrich betrifft die Schnittstelle zwischen kognitiver Neurobiologie und Philosophie. Emrichs Text kann als ein Beitrag der biopsychologischen Forschung gekennzeichnet werden, der zugleich auf eine nicht-reduktionistische und ganzheitliche Weise einige der grundlegenden Probleme gegenwärtiger neurobiologischer Kognitionsforschung adressiert und dieses gesamte Szenario in einen Dialog mit der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] bringt. Dieses Dialog-Angebot greife ich gern auf. Dass Emrich dabei nicht nur auf empirische Untersuchungen zurückgreift, sondern zugleich seinen eigenen Ansatz des Drei-Komponenten-Modells der Analyse von Wahrnehmungsillusionen im Rahmen psychotischer Erkrankungen mit Konzentration auf Störungen der Wahrnehmung stereoskopischer Invertbilder bei schizophrenen Patienten vorstellt, macht die von ihm fokussierte Schnittstelle umso wichtiger, zeigt sich doch auch daran der tiefe Sitz der ZuI-Philosophie im Leben. Dieser Tiefensitz manifestiert sich nicht zuletzt im Lichte zweier grundlegender Prinzipien der ZuI-Philosophie: (a) des Prinzips der wechselwirkenden Kontinuität zwischen den natürlichen und den symbolischen Prozessen, Phänomenen und Formen des Lebens und (b) des pragmatischen Prinzips der Humanität. Das Prinzip der Kontinuität gilt in der ZuI-Philosophie (wie an verschiedenen Stellen betont) sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Hinsicht. In vertikaler Hinsicht wird im Sinne des 3-Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse diejenige Kontinuität adressiert, die virulent ist auf dem ganzen gestuften Kontinuum von den materiellen und das In-der-Welt-sein insgesamt ausmachenden Dispositionen und Mustern auf der ZuI1-Ebene über die konventionellen und habitualisierten Gewohnheitsmuster der ZuI2-Ebene bis hin zum bewussten mentalen Erleben und zum Beispiel auch zu expliziter Theoriebildung auf der ZuI3-Ebene. In horizontaler Hinsicht adressiert das Prinzip der Kontinuität das Geflecht der Wechselwirkungen der unterschiedlichen Formen des Wissens im Spektrum von funktionellem Verkörperungs- und Erfahrungswissen, theoretisch-sprachlichem Knowing-That, praktisch-technischem Knowing-How bis hin zum ästhetischen https://doi.org/10.1515/9783110522280-023
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und zum ethischen Wissen sowie zum phänomenalen, subjektiven und qualitativen Erlebniswissen. Das der ZuI-Philosophie eigene und ganz im Sinne des Pragmatismus, vor allem in dessen Peircescher Ausprägung zu verstehende, Prinzip der Humanität besteht darin, dem Menschen „diejenigen Mittel bereitzustellen, die es ihm ermöglichen, Störungen in Verständigungs-, Weltbezugs- und Handlungsverhältnissen zu beseitigen und die zuvor fraglos funktionierende und vor-theoretische Alltagspraxis bzw. Lebenswelt ‚wiederherzustellen‘ und fortzuführen“ (ZdW 310), um auf diese Weise im Erleben, Sprechen, Denken und Handeln erneut verständigungs-, kooperations- und anschlussfähig zu sein. Emrich sieht eine Reihe von Verbindungen zwischen den neurobiologisch fundierten Kognitionswissenschaften und grundlegenden Aspekten der ZuI-Philosophie. Des näheren greift er Auffassungen der ZuI-Philosophie vor allem in den folgenden vier Hinsichten auf: Erstens (a) in Hinsicht auf die Bedeutung von Zeichen, Gedanken und Handlungen sowie deren Beziehung zu den jeweils korrelierten Interpretationspraktiken. In diesem Zusammenhang wird die ZuI-Praxis als derjenige Ort angesehen, an dem es zur Generierung, Festlegung und prozessualen Dynamik zunächst von Bedeutsamkeit und Relevanz im weiten Sinne (im Sinne von englisch ‚significance‘) und sodann von Bedeutung im engen Sinne (im Sinne von englisch ‚meaning‘) als semantische Merkmale (Bedeutung, Referenz und Erfüllungsbedingungen) zum Beispiel der Wörter einer Sprache kommt. Zweitens (b) in Hinsicht auf die ihrer Natur nach irreduziblen geistigen und semantischen Prozesse des Sprechens, Denkens und Handelns, die sich zum einen einer direkten neurophysiologischen Ableitung entziehen, zum anderen jedoch unverzichtbar für unsere Orientierung in der Welt, anderen Personen und uns selbst gegenüber, kurz: unverzichtbar für unser Leben sind. Drittens (c) in Hinsicht auf die Bereitstellung derjenigen Mittel, die ein flüssiges und anschlussfähiges Funktionieren unserer Lebenspraxis auch im Blick auf mögliche Störungen und auftretende Dysfunktionalitäten in den zumeist flüssig funktionierenden Prozessen und Praktiken ermöglichen. Viertens (d) in Hinsicht auf die öffentliche Natur des menschlichen Geistes, der in der ZuI-Philosophie weder als eine rein im Gehirn lokalisierbare Größe noch als eine rein innerpsychische Privatsache in einem psychischen Innenraum verstanden wird, sondern seinen Sitz vielmehr in den mit anderen Personen öffentlich geteilten triangulären Beziehungen von Ich-Wir-Welt und dort des näheren in der bereits erwähnten ZuI-Praxis hat, welche Sicht von Emrich als eine „neurobiologisch höchst relevante Konzeption“ angesehen wird (Emrich-Beitrag, Kap. 5).
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Des näheren sehe ich im Beitrag von Hinderk M. Emrich die folgenden und für den Dialog zwischen Neurowissenschaft und ZuI-Philosophie überaus relevanten Fragen offen oder hintergründig am Werke: Wie kommt die Semantik ins Gehirn? Wie kommt es überhaupt für ein Subjekt zu Bedeutsamkeit und Relevanz und von dort zu einer gegebenenfalls überlebensrelevanten Bedeutung von etwas? Hat Bedeutung ihren Sitz unter unserer bzw. anderer Personen Schädeldecke? Welche Rolle spielen Störungen des funktionellen Gleichgewichts zwischen den Komponenten einer Wahrnehmung (zum Beispiel zwischen Sinnesdaten, Konzeptualisierung, Kontroll-/Zensur-Komponente)? Welche Instabilitäten zwischen welchen dieser Faktoren können im Blick auf psychotische Erkrankungen als Indikator einer Psychose angesehen und wie detektiert werden? In welchem Sinne geht es darum, die irreduzibel menschliche Dimension der Bedeutung bzw. des Semantischen vor den drohenden Risiken eines bloß instrumentellen und manipulativen Reduktionismus in Schutz zu nehmen? Welcher Art soll das Verhältnis von Philosophie und (Neuro‐)Wissenschaften sein? Welche forschungsleitenden Rollen können genuin philosophische, speziell ZuI-philosophische Gesichtspunkte an den kooperativen Schnittstellen beider spielen? Natürlich ist es unmöglich, an dieser Stelle alle diese Fragen zu beantworten. Meine Replik konzentriert sich auf die folgenden drei Bereiche: 1. Das ‚DreiKomponenten-Modell‘ (Emrich) der Psychose als ein Interpretations-Modell der Wahrnehmung sowie bestimmter Wahrnehmungsstörungen. 2. Das Verhältnis von ZuI-Philosophie und Neurowissenschaften. 3. Aspekte möglicher Kooperation von ZuI-Philosophie, Wissensforschung und Psychiatrie.
1 Das „Drei-Komponenten-Modell“ (Emrich) der Psychose als ein Interpretations-Modell der Wahrnehmung sowie bestimmter Wahrnehmungsstörungen Emrich präsentiert seine Drei-Komponenten-Hypothese der Psychose in Bezug auf die visuelle Wahrnehmung und eine von deren aufschlussreichen Störungen, der Störung im Sehen von stereoskopischen Invertbildern (s. Kap. 3). Wahrnehmung wird darin als ein Prozess angesehen, der aus den folgenden drei Komponenten besteht: (a) der „sensualistischen“ Komponente (Sinnesdaten aus der äußeren Welt), (b) der „konstruktivistischen“ Komponente (Bildung von Konzeptualisierungen der Datenmaterialien) und (c) der „Kontroll“-Komponente („Zensur“ im Sinne einer gegebenenfalls gebotenen Fehlerkorrektur gleichsam
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„im letzten Moment“ (Kap. 4, Anm. 7), kurz bevor eine elementare und überlebensrelevante Entscheidung getroffen wird, zum Beispiel die Entscheidung zwischen Flucht oder Angriff). Dieses Modell Emrichs versteht sich als ein wissenschaftliches Modell, das durchgängig die Möglichkeit seiner empirischen Überprüfung und Quantifizierung enthält. Aus Sicht der ZuI-Philosophie ist an diesem Modell spannend, dass es die folgenden vier genuin philosophischen Komponenten als forschungsrelevante Parameter enthält: Erstens (a) wird die aktive und nicht eliminierbare Rolle der Subjektivität und des subjektiven Beobachters im Blick auf das betont, was überhaupt als ein gleichgewichtiges oder ungleichgewichtiges neurobiologisches oder physikalisches System gelten kann und was nicht. Emrich zitiert den Physiker Wolfgang Pauli, der die überaus wichtigen, wenngleich ‚undeterminierbaren Einwirkungen‘ (Pauli) des Beobachters einschließlich des von ihm benutzten Messgerätes im Blick auf die Zustandsbeschreibung eines physikalischen Systems nachdrücklich betont hat. Der Beobachter und in diesem Sinne die Subjektivität können heute selbst in den Naturwissenschaften nicht nur nicht mehr neutral außen vor gehalten werden, sondern die physikalischen Phänomene und Ereignisse selbst zeigen ihre ‚diskontinuierliche Seite‘ (Pauli). Emrich sieht die neurobiologische Kognitionsforschung in der vergleichbaren Pauli-Situation. Die Kognitionsforschung müsste eine zufriedenstellende Theorie der Subjektivität bereitstellen, in der dem Begriff der Bedeutung von Wahrnehmungen, Wörtern, Gedanken, Einstellungen und Handlungen im Blick auf Systeme nicht-linearer Dynamik eine besondere Rolle zukäme. Vor allem ginge es dabei nicht einfach nur um Bedeutung erster Ordnung, sondern zugleich um Bedeutung zweiter Ordnung, um „die Bedeutung von ‚Bedeutung‘“, wie Emrich (Kap. 2) mit Hinweis auf Wittgensteins bekannte Formulierung betont. Wolle man die Bedeutung von ‚Bedeutung‘ erfassen, dann müsse man, wie Wittgenstein betont, verstehen, was als eine Erklärung der Bedeutung zählt. Anmerken möchte ich hier, dass die Rede von ‚erklären‘ in diesem Zusammenhang keineswegs ein Erklären im Sinne kausaler Erklärung und auch nicht im Sinne prognostischer Vorhersage oder sonst einer wissenschaftlichen Erklärung aus Konstituenten einer anderen Art (z. B. aus Elementarteilchen oder neuronalen Assemblies) oder im Sinne einer Theorie des Gehirns meint. Ich teile nicht die Auffassung Emrichs, dass eine Erklärung der Bedeutung, „vom Standpunkt der Kognitionstheorie her“, einzig „im Rahmen einer ‚Theorie des Gehirns‘ erfolgen“ könne (Kap. 2). Vielmehr bin ich umgekehrt der Auffassung, dass jede sinnvolle Konzeption der Funktionsweisen des Gehirns stets auch bereits eine Konzeption von Bedeutung voraussetzt und in Anspruch nehmen muss – nicht umgekehrt! Es handelt sich meines Erachtens vielmehr um ein Erklären im Sinne des Erläuterns,
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mithin um das, was passiert, wenn auf die Frage nach der Bedeutung eines Zeichens eine Erläuterung des fraglichen Zeichens derart gegeben wird, dass der normale Gebrauch dieses (oder eines verwandten) Zeichens beispielhaft vorgeführt wird und in dieser Performation deutlich wird, was als Bedeutung des Zeichens fungiert (was zum Beispiel in einer Verständigung oder in einer Übersetzung gleich bleibt). Um Wittgensteins Formulierung (PU Nr. 560) aufzunehmen: die Bedeutung eines Zeichens ist das, was die Erklärung der Bedeutung erklärt. In Bezug auf neurobiologische Systeme, die Emrich vor allem interessieren, gilt dieser Befund, so möchte ich betonen, sowohl in Bezug auf die Bedeutung im Sinne von systemisch überlebenswichtiger Relevanz als auch in Bezug auf das Semantische im engeren Sinne des Gebrauchs von Wörtern, Gedanken und Handlungen. Zweitens (b) betont Emrich mit Recht, dass angesichts der nicht nur nichteliminierbaren, sondern mit-konstitutiven Rolle der Subjektivität die Frage der Bedeutung im Sinne überlebenspraktischer Relevanz auch bereits innerhalb der neurobiologischen und physikalischen Systeme eine zentrale (wenngleich noch weitgehend ungeklärte) Rolle spielt. Drittens (c) weist Emrich innerhalb seines Drei-Komponenten-Modells der Komponente der Konzeptualisierung im Sinne einer „‚top-down‘-Komponente“ eine entscheidende Funktion in der gelingenden visuellen Wahrnehmung ebenso wie in der Organisation von deren „‚bottom-up‘-Komponente“ im Sinne der Sinnesdatenmaterialen zu (Kap. 2). Vor diesem Hintergrund möchte ich Emrichs Modell ein ‚sziento-philosophisches Modell‘ nennen. Dass in Sachen Subjektivität und Spontaneität Johann Gottlieb Fichte als Zeuge ebenso genannt wird wie in Sachen Wahrnehmung die Phänomenologie von Hermann Schmitz, öffnet für Emrich natürlich auch von dieser Seite den Weg zur einschlägigen Einbeziehung der ZuI-Philosophie (s. Kap. 4). Viertens (d) betont Emrich, dass innerhalb der von ihm vertretenen Psychiatrischen Anthropologie (so ein Buchtitel Emrichs von 2008) zwischen einem „Erregungs-Code“ und einem „bedeutungsgenerierenden“ Code unterschieden wird. Letzterer kann nur aus der Perspektive eines „Hypersystems“ beschrieben werden und ist einer „direkten neurophysiologischen Messung nicht zugänglich“. Im Klartext heißt dies, dass Bedeutung „neurophysiologisch nicht direkt ableitbar“ ist (Kap. 4). Diesen Befund halte ich für außerordentlich wichtig, formuliert er doch die klare Einsicht, dass aus methodologischen wie aus empirischen Gründen das Semantische auf lediglich neurophysiologische Prozesse im Gehirn nicht reduziert werden kann. Darüberhinaus kommt Emrich zufolge innerhalb des DreiKomponenten-Modells den (bio)psychologischen Aspekten im Zuge der Konzeptualisierungs-Komponente eine überaus aktive und wichtige Rolle zu. Diese Aspekte sind direkt auch an der Organisation der Prozesse der funktionellen Prü-
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fung, Kontrolle und Zensur beteiligt. Sie sind Emrich zufolge unverzichtbar relevant für die Bewerkstelligung sowohl der „intermodalen“ Integration (zwischen den verschiedenen Sinnlichkeiten eines Wahrnehmungsvorganges) als auch der „intramodalen“ Integration (Kap. 2) (in Bezug auf die mannigfaltigen Aspekte innerhalb einer einzigen Sinnlichkeitskomponente). Das Drei-Komponenten-Modell Emrichs kann als ganzes ebenso wie in jeder seiner drei Teilkomponenten und deren Zusammenwirken zu einem mereologischen Ganzen als ZuI-Modell reformuliert werden. Jedenfalls möchte ich diesen Vorschlag hier unterbreiten. Im Abschnitt 3 werde ich diesen Vorschlag näher ausführen. Auf diese Weise sollen sowohl Verbindungen zwischen Emrichs Ansatz und der ZuI-Philosophie als auch mögliche Modellierungen der Schnittstellen von ZuI-Philosophie und Psychiatrie weiter verdeutlicht werden. Beide Aspekte verstehen sich als Angebote für einen weiteren Dialog mit dem biopsychologischen und zugleich phänomenologischen Ansatz von Hinderk M. Emrich. Dass das, was es im engeren Sinne heißt, Wissenschaft – und mithin auch Neuro- und Kognitionswissenschaften – zu treiben, als ZuI-Prozesse beschrieben werden kann, habe ich unter dem Titel ‚Interpretationistische Wissenschaftsphilosophie‘ in einem Kapitel meines Buches Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI Kap. 6) im einzelnen herausgearbeitet. Dort geht es um den ZuI-Charakter unter anderem der szientifischen Beobachtung, der Hypothesen-, Modell- und TheorieBildungen, der Wahrscheinlichkeit von Beobachtungsergebnissen, des Hintergrundwissens sowie um den inneren Zusammenhang von Beobachtung und Zeitlichkeit der Erfahrung. Diese Punkte erwähne ich hier lediglich, möchte sie natürlich nicht in den Details wiederholen. Wichtig ist mir im Augenblick vor allem der Punkt, dass nicht erst die forschungsbezogene Schnittstelle von Philosophie und Wissenschaften in dem oben skizzierten Sinne für die ZuI-Philosophie wichtig ist. Überaus wichtig ist grundsätzlich, dass auch die Wissenschaften für sich genommen und in ihrem engeren Verständnis als szientifische und methodisch geregelte Verfahren mit empirischer Überprüfbarkeit und Quantifizierung als ZuI-Prozesse und ihre Resultate als ZuI-Konstrukte charakterisiert und im einzelnen auch so beschrieben werden können. Im Augenblick jedoch, im Rahmen des Dialogs mit Hinderk M. Emrich, geht es darüber hinaus um den noch spannenderen Punkt der oben skizzierten sziento-philosophischen Schnittstelle zwischen ZuI-Philosophie, biopsyschologischer und neurobiologischer Forschung. Das Emrichsche Drei-Komponenten-Modell der Wahrnehmung möchte ich hier nicht in Bezug auf die Frage diskutieren, ob Wahrnehmung ein Vorgang ist, der in Faktoren und Konstituenten zerlegt und im Rekurs auf deren Zusammenwirken beschrieben werden kann oder nicht. Ich bin da eher kritisch und verteidige ein konsequentes Prozess-Modell des Wahrnehmens. In diesem ZuI-Mo-
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dell des Wahrnehmens werden die von Emrich genannten drei Elemente überhaupt erst in retrospektiver und retro-heuristischer Einstellung, gleichsam nur als späte theoretische Auskristallisierungen der zunächst und vor allem nicht in Bestandteile zerlegbaren Prozesse des Wahrnehmens adressiert. Außerdem stufe ich die Rolle der Konzeptualisierungskomponente im Wahrnehmen deutlich geringer ein, als Emrich dies tut. Bei Emrich ist eine Aufnahme von Aspekten des Konzeptualismus unverkennbar. Er hält die Rolle der Konzepte in dem skizzierten Sinne für sehr relevant. Und insofern es sich darin um eine genuin philosophische Komponente des Szenarios handelt, gefällt mir dieser Punkt sehr gut. Gleichwohl bin ich – ginge es hier um eine genauere Analyse und Beschreibung der Prozesse, der Phänomenalität und der inneren Struktur des prozessualen und dynamischen sinnlichen Sehens und Wahrnehmens – der Auffassung, dass Sehen und Wahrnehmen stärker durch nicht-konzeptualistische und nicht-propositionalistische (freilich ihrerseits zeichen-bezogene und interpretativ-verfasste) Muster- und Gestaltenbildungen charakterisiert sind (durchaus etwa auch im Sinne der Gestaltpsychologie). Ich gehe also davon aus, dass die Prozesse des Sehens ebenso wie die Prozesse der anderen Weisen des Wahrnehmens (auditiv, haptisch, schmeckend, riechend) intern durch sinnliche und das heißt durch nicht-konzeptualistische, nicht-propositionale und nicht-sprachliche Mechanismen der Individuation charakterisiert sind, die sich in den sinnlichen Mustern und Gestalten des Sehens und Wahrnehmens direkt manifestieren. Das Konzeptionelle wird dann auch im Bereich des Sinnlichen relevant, sobald wir in Bezug auf Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken und Riechen Berichte, intersubjektive Mitteilungen und vor allem Urteile, Wahrnehmungsurteile, formulieren. Egal jedoch, für welche der beiden Sichtweisen man plädiert (konzeptualistisch oder nicht-sprachlich), entscheidend ist im Blick auf den hier erörterten Zusammenhang: In beiden Sichtweisen haben wir es in philosophischer (mithin in phänomenaler und begrifflicher) Hinsicht ebenso wie in wissenschaftlicher/ szientifischer (mithin in experimentell überprüfbarer und empirisch belegbarer) Hinsicht mit ZuI-Prozessen unterschiedlichen Profils zu tun. Das Wahrnehmen kann als ZuI-Prozess angesehen, beschrieben, verstanden, analysiert und rekonstruiert werden. Und natürlich brauche ich nicht eigens zu betonen, dass diese ZuI-philosophische Auffassung des Wahrnehmens keineswegs impliziert, dass wir unsere Wahrnehmungswelten als Fiktionen oder als fiktionale Welten oder auch nur als bloße Konstruktionen bzw. konstruktivistische Welten (im Sinne des Konstruktivismus) anzusehen hätten. Eine solche Sicht wird in der ZuI-Philosophie (im Unterschied zum Fiktionalismus ebenso wie zum Konstruktivismus) erklärtermaßen zurückgewiesen. Alles, worum es im Augenblick geht, ist vielmehr, den Prozess des Wahrnehmens als einen zeichen-verkörperten und inter-
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pretativ-verfassten Prozess zu charakterisieren. Zugleich möchte ich im Blick auf das 3-stufige ZuI-Modell nachdrücklich daran erinnern, dass wir auch im Zusammenhang der Phänomene und Prozesse des Wahrnehmens die fundamentale ZuI1-Ebene (zu der die Prozesse des direkten Wahrnehmens zählen) keineswegs willentlich abändern, die Wahrnehmungsmuster und ‐gestalten mithin keineswegs zu Gegenständen unserer freien Wahl erklären könnten. Entsprechend haben wir ganz im Sinne unseres Common-Sense-Realismus der Wahrnehmung gute Gründe, die Objekte und Ereignisse der Wahrnehmung als reale Objekte und Ereignisse zu nehmen. Diese Thesen kann ich an dieser Stelle natürlich nicht im Einzelnen ausführen. Ich werde dies an anderer Stelle tun. Die genannten Thesen sind jedoch für die ZuI-Philosophie in Sachen Wahrnehmung grundlegend. Aber im gegenwärtigen Diskussionszusammenhang akzeptiere ich das wissenschaftliche Modell Emrichs, begebe mich ein Stück weit auf dessen Boden und in seine Mokassins und vermag dann ohne weitere Schwierigkeiten, das DreiKomponenten-Modell als ein ZuI-Modell bzw. als eine ZuI-Modellierung zu adressieren. Emrichs experimentelle und empirische Forschungen zeigen, dass im Zusammenspiel der drei Komponenten (Sinnesdaten, Konzeptualisierung, Kontrolle) Sinnestäuschungen (wie Halluzinationen oder Wahnwahrnehmungen) ursächlich dadurch hervorgerufen werden, dass ein „relatives Überwiegen interner Konzeptualisierungen“ vorliegt und dieses Übergewicht der mangelnden Zensur/ Kontrolle dieser Konzeptualisierungen vom Klienten bzw. Patienten als „produktive Symptome“ (Kap. 3) wahrgenommen wird. Emrich führt dies vor allem anhand des Sehens stereoskopischer Invertbilder, des näheren anhand der Betrachtung dreidimensionaler Hohlbilder von menschlichen Gesichtern im einzelnen aus. Den normalerweise eintretenden Effekt des Sehens der Hohlmasken als normale menschliche Gesichter illustriert Emrich auch durch den Hinweis auf die Hohlmasken im Haunted Mansion im Kalifornischen Disneyland. Für den normalen Betrachter entsteht beim Hin- und Herbewegen vor der Hohlmaske wegen der perspektivischen Verschiebungen die „Illusion“, dass sich die Köpfe mit dem Beobachter drehen (ebd.). Emrichs Hypothese ist, dass das menschliche Gehirn in diesen Prozessen „bestimmte Hypothesen über die dreidimensionale Struktur von Objekten testet und diese mit den retinalen Sinnesdaten vergleicht“ (ebd.). Und sein Befund ist doppelter Natur. Zum einen (a) „korrigieren und modifizieren die mentalen Konzepte (‚ratiomorpher Apparat‘), im Sinne von Vorurteilen, die Sinnesdaten in einem kritischen Interaktionsprozess, der letztlich zur bewussten Sinneswahrnehmung führt“ (ebd.). Zum anderen (b) ist genau dieser Interaktionsprozess bei schizophrenen Psychosen in dem Sinne „gestört“, dass „die Korrektursysteme nur unvollständig funktionieren“ (ebd). Diese Unvollständigkeit ist Emrich zufolge ursächlich dafür verantwortlich, dass bei nicht-
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normalsichtigen Personen eher Hohlmasken gesehen werden, mithin die für Normalsichtige charakteristische Illusion eines normalen menschlichen Gesichtes unvollständig oder gar nicht auftritt. Und genau letztere Eigentümlichkeit hat Emrich in seinen experimentellen Untersuchungen als einen signifikanten Unterschied in der Wahrnehmung seitens schizophrener Patienten im Vergleich zu Normalprobanden herausgearbeitet. Die von Emrich durchgeführten experimentellen und empirischen Forschungen lassen sich in allen angeführten Aspekten des Designs ihrer Experimentalanordnungen ebenso wie in ihren theoretischen, phänomenologischen und biopsychiatrischen Einstellungen sowie in ihren Resultaten ganz offenkundig als ZuI-Konstrukte charakterisieren und sich im ZuI-philosophischen Vokabular reformulieren. Emrichs Forschungen, deren Reflexion auf die forschungsrelevanten Voreinstellungen und deren empirisch überprüfbaren Ergebnisse lassen die ZuI-Philosophie als einen natürlichen Co-Partner der Neuro- und der Kognitionswissenschaften erscheinen, sobald es um die Frage geht: Wie funktioniert das menschliche Wahrnehmen und der menschliche Geist? Der Dialog zwischen ZuI-Philosophie und Neurowissenschaften könnte sich als überaus fruchtbar erweisen. Diesen Punkt möchte ich im Folgenden näher ausbuchstabieren.
2 Das Verhältnis von ZuI-Philosophie und Neurowissenschaften Emrichs Beitrag gibt bestmöglichen Anlass, mich in Bezug auf die Frage des Verhältnisses von ZuI-Philosophie und Neurowissenschaften zu positionieren. Die Erforschung des menschlichen Bewusstseins und Geistes in Philosophie, Psychologie, Kognitions- und Neurowissenschaften hat in jüngster Zeit enormen Aufschwung erhalten. Die entsprechenden Fragestellungen und Probleme sind herausfordernd und hoch spannend. Emrich nennt als Beispiel die „Entstehung von Bedeutungshaftigkeit im Gehirn“ (Kap. 1) als eines der Probleme, die Neurobiologie, Kognitionswissenschaften und Philosophie gleichermaßen umtreiben. Solche und andere Fragen sind für die zukünftige Rolle der Philosophie sowie für das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften von grundlegender Bedeutung. Neben der Frage nach der Bedeutung bzw. des Semantischen sind bis heute ungeklärte Fragen unter anderem die folgenden: Wie ist es möglich, dass ein physischer Organismus Bewusstsein ausbildet? Sind Bewusstsein, mentale Zustände und Prozesse (wie z. B. Gedanken, Überzeugungen, Wünsche) nichts anderes als Zustände und Prozesse unseres Gehirns? Sind wir es als Personen und
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Akteure, die denken und entscheiden, oder ist es unser Gehirn, das denkt und Entscheidungen trifft? Und wäre letzteres der Fall: Was folgte daraus? Was trägt die Philosophie des Geistes zu unserem Menschenbild bei? Worin besteht die Relevanz der Philosophie für die Neurowissenschaften und des näheren für die neurobiologisch fundierten Kognitionswissenschaften? In der Beschäftigung mit einigen dieser Fragen möchte ich sowohl einige der aktuellen philosophischen als auch einige der aktuellen neurowissenschaftlichen Lösungsvorschläge einer kritischen Prüfung unterziehen. Ziel ist es auszuloten, ob und in welchem Sinne eine fruchtbare Kooperation zwischen der ZuIPhilosophie und den Neurowissenschaften konzipiert werden kann und wie sie aussehen könnte. Zu diesem Zwecke möchte ich in diesem Abschnitt in methodologischer Einstellung Unterschiede ebenso wie Verbindungen zwischen Philosophie, des näheren der ZuI-Philosophie, und den Neurowissenschaften stenogrammartig markieren. Hinsichtlich des Verhältnisses von Philosophie und Neurowissenschaften sind zunächst einige weit verbreitete und tief sitzende Missverständnisse und Kurzschlüsse auf beiden Seiten zu beseitigen. Dass Emrichs Verständnis dieses Verhältnisses den im Folgenden kurz beschriebenen Missverständnissen nicht auf den Leim geht, kennzeichnet ex negativo seine Position und macht ihn aus der Riege der hervorragenden Neurowissenschaftler zu einem besonders wichtigen Gesprächspartner für die ZuI-Philosophie. Mindestens fünf solcher Missverständnisse in Bezug auf Verbindung oder Differenz zwischen Philosophie und Neurowissenschaften lassen sich in der Literatur zum Thema finden. Im Folgenden spreche ich zunächst jeweils das Missverständnis an und werde sodann zu jeder der Thesen kurz Stellung nehmen. Die fünf folgenden Thesen entnehme ich wörtlich dem Buch des Neurowissenschaftlers Maxwell R. Bennett und des Philosophen Peter M. S. Hacker Philosophical Foundations of Neuroscience (2003: Kap. 14). Zugleich beziehe ich mich auf die Diskussion der Positionen der beiden Autoren Bennett und Hacker mit den Auffassungen Daniel Dennetts und John Searles in dem Buch Neuroscience and Philosophy. Brain, Mind, and Language (Bennett et. al. 2007). Allerdings unterscheide ich mich teilweise deutlich von den Positionen, die Bennett / Hacker gegenüber den zu erörternden Missverständnissen und neurowissenschaftlichen Thesen beziehen. Insbesondere plädiere ich im Unterschied zu ihnen explizit dafür, dass Philosophie und, wie bereits in Abschnitt 1 hervorgehoben, insbesondere die ZuI-Philosophie keine Strategie der Immunisierung gegenüber den Wissenschaften verfolgen sollte. Täte die ZuI-Philosophie dies, würde sie den gleichen Fehler begehen, wie er für den heute als Mainstream auftretenden materialistischen neurowissenschaftlichen Reduktionismus kennzeichnend ist. An diesem Punkt bin ich dezidiert auch anderer Auffassung als
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Michael Dummett, der in seinem Buch The Nature and Future of Philosophy (2010) ähnlich wie Bennett / Hacker die Philosophie weitgehend mit ‚conceptual analysis‘ gleichsetzt, einen Input aus der Erfahrung für irrelevant hält und für eine klare sowie immunisierende Trennung der Philosophie von den Wissenschaften plädiert. Dies ist erklärtermaßen nicht meine und nicht die Position der ZuIPhilosophie. Auch hier wiederum verstehe ich mich, wie schon so oft betont, in gewisser Weise als Aristoteliker sowie in der Linie von Aristoteles, Leibniz, Kant, Cassirer und Putnam, die alle stets und sehr zu Recht die inneren Verbindungen zwischen Philosophie und Wissenschaften mit im Fokus ihrer Aufmerksamkeit hatten. Es ist höchste Zeit, dass wir uns aus dem Würgegriff der skizzierten Entgegensetzung befreien. Ich bin daher keineswegs der Auffassung, dass die ZuIPhilosophie sich einzig auf das Geschäft einer ‚conceptual analysis‘ beschränken sollte. Dementsprechend fallen meine Antworten auf die im Folgenden diskutierten Thesen teils erheblich anders aus als die von Bennett / Hacker in ihrem Buch gegebenen. Darüber hinaus sei angemerkt, dass sich – ohne dies hier im einzelnen ausführen zu wollen – meine Überlegungen zum Verhältnis von Bewusstsein, Sprache und Natur deutlich auch von den Auffassungen von Daniel Dennett und von John Searle unterscheiden, wie diese in dem genannten Diskussions-Band zu den Foundations of Neuroscience vorgebracht werden. Keineswegs teile ich die Ansicht von Dennett und Searle, dass neurowissenschaftliche Durchbrüche in Sachen menschlicher Geist die Philosophie gleichsam in den Ruhestand versetzen werden („superannuate“). Hier kommen die bei Bennett / Hacker formulierten und von prominenten Vertretern der gegenwärtigen Neurowissenschaften (wie Edelman, Crick, Tononi, Zeki, Glynn und vielen anderen) vorgebrachten Thesen sowie jeweils kurze Kommentare zu den Thesen: These 1: Die Philosophie „is simply irrelevant to the concerns of neuroscience“ (Bennett / Hacker 2003: 397). Kommentar: Zunächst ist zu verdeutlichen, was es heißt, Philosophie zu treiben. Hier sind vor allem drei Aspekte herauszustellen: (a) Philosophie liefert (darin stimme ich mit Bennett / Hacker’s These, die sich durch ihr ganzes Buch zieht und in Foundations noch einmal bilanzierend betont wird, überein) grundbegriffliche Klärungen der jeweils in Frage stehenden Begriffe, Theorien und Hypothesen. Zweck solcher Klärungen ist die Vermeidung von Begriffsverwirrungen und methodologischen Unklarheiten. Philosophie steht darin für die Anstrengung „to point out when the bounds of sense are transgressed“ (Bennett / Hacker 2003: 405). Die Philosophie liefert keine direkten empirischen Forschungsresultate. Beispiel: wenn die Hirnforscherin an einer neurowissenschaftlichen Erklärung für zum Beispiel Bewusstsein, Wahrneh-
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mung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder Denken interessiert ist, dann unterstellt sie natürlich, dass sie weiß, woran genau sie interessiert ist und wonach genau sie sucht. Das aber heißt, dass sie, und hier stimme ich Bennett / Hacker (2003: 402 f.) nachdrücklich zu, die begrifflichen ebenso wie die phänomenalen Unterschiede zwischen Bewusstsein, Wahrnehmung, Gedächtnis und Denken möglichst klar vor Augen haben sollte. Anderenfalls wüsste sie ja nicht, wonach sie eigentlich sucht, auf welche Fragen ihre Ergebnisse Antworten sind und wie sie ihre Resultate einordnen soll. Im neurowissenschaftlichen Forschen selbst ist mithin längst schon der Sinn, die Bedeutung und die Interpretation solcher Grundbegriffe, ihrer Verwandtschaften wie ihrer Unterschiede (implizit oder explizit) vorausgesetzt. Ist das aber der Fall, dann ist These 1, dass die Philosophie für die Neurowissenschaften irrelevant ist, schlicht falsch. (b) In der Philosophie und zumal in der ZuI-Philosophie sind wir nicht (und auch hier stimme ich mit Bennett / Hacker überein) auf die neuro-chemischen Prozesse in neuronalen Assemblies konzentriert. Unser Fokus liegt auf Fragen der Art: ‚Wie funktioniert der menschliche Geist?‘ und ‚Worauf beruht die Geltung einer Regel?‘ (z. B. die Geltung der arithmetischen Regel, der zufolge 2+2 = 4 ist). Diese Art von Fragestellung ist implizit bereits vorausgesetzt, wenn die Neurowissenschaftlerin ihre Hypothesen, Theorien und Begriffe für sinnvoll und ihre empirischen Resultate für gültig hält. In diesem Sinne setzen die Neurowissenschaften genuin philosophische Aspekte und des näheren, sofern es darin um Zeichen und deren Interpretationen geht, genuin ZuI-philosophische Aspekte stets bereits voraus und nehmen diese in Anspruch, um überhaupt als rationale Neurowissenschaften und methodisch geordnet arbeiten zu können. (c) In der Philosophie sind wir in Erweiterung der Arbeit an der ‚conceptual analysis‘ auch an der Phänomenalität und an den Qualitäten unserer Erfahrungen und Intuitionen interessiert. Ja, in aller Regel nehmen wir diese sogar als die Ausgangspunkte für unsere Reflexionen. Die genuin philosophische Methode besteht im Unterschied zu einer rein szientifischen Methode meines Erachtens vornehmlich auch (aber nicht nur) darin, das tiefsitzende Geflecht unserer Intuitionen, phänomenalen und qualitativen Erfahrungen zu beschreiben, zu verdeutlichen, zu klären und diese in gegebenen Grenzen des Sinns kritisch, kohärenzbezogen und skepsisresistent auf den Prüfstand zu stellen. Die Phänomenalitäten, Qualitäten und Intuitionen eliminieren oder sie auch nur als ‚Illusionen‘ brandmarken zu wollen, wie dies seitens der Neurowissenschaften nicht selten erfolgt, liefe letztlich auf eine Leugnung unserer Erfahrung hinaus und wäre in diesem Sinne selbst-destruktiv. Zudem müsste eine zufriedenstellende Neurowissenschaft erklären, wie es überhaupt zur Ausbildung und zu der signifikanten Rolle dieser doch unter dem Gesichtspunkt rein materialistischer Neurowissenschaft eigentlich überflüssigen ‚Illusionen‘ hat kommen
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können und wie es zu denken sei, dass diese sich so hartnäckig und argumentativ so erfolgreich (in Form z. B. von Diskussionen, Vorträgen, Büchern) gegen ihre neurowissenschaftliche Elimination zur Wehr setzen. Auch in dieser Hinsicht erweist sich die These 1 nicht als haltbar. These 2: Die „a priori methods of philosophy render its investigations into the nature of mind worthless“ (Bennett / Hacker 2003: 397). Kommentar: Die ZuI-Philosophie besteht, wie ich durchgehend in meinen Arbeiten und auch in den Repliken im vorliegenden Band betont habe, (a) keineswegs bloß aus strikt apriorischen (das heißt gänzlich empiriefreien, rein logisch-analytischen) Untersuchungen. Zugleich führt die ZuI-Philosophie (b) ihre grundbegrifflichen Klärungen und anderen Untersuchungen kohärentistisch stets unter Einschluss auch der Frage nach deren empirischer Gültigkeit durch. Standard der Gültigkeit ist nicht bloß die formale Konsistenz, sondern die sinnkritische Kohärenz in den triangulären Verhältnissen von Ich-Wir-Welt, unter Einschluss natürlich, Kantisch gesprochen, der Anforderungen des sinnlich-anschaulichen und empirischen Denkens. Um ein Beispiel zu geben: in puncto semantische Merkmale bzw. Charakterisierung eines Wortes, z. B. des Wortes ‚Tomate‘, geht es in der ZuI-Philosophie nicht bloß um die analytische Bedeutung des Wortes. Es geht externalisiert um den öffentlichen Gebrauch des Wortes ‚Tomate‘ in einer Sprach- und Interpretations-Gemeinschaft, um den Gebrauch durch andere Sprecher / Hörer außerhalb meines Kopfes und außerhalb meines Gehirns und darin zugleich um die materielle Beschaffenheit roter Tomaten in der Welt, zum Beispiel auf dem Tisch vor mir. Dem entsprechend wird in der ZuI-Philosophie das, was wir menschlichen Geist nennen, nicht im Innenraum des menschlichen Kopfes, gar bloß im Gehirn, sondern in den triangulären Verhältnissen von Ich, anderen Personen und Welt, von Ich-Wir-Welt, lokalisiert. Bewusstsein und Geist können dieser Auffassung zufolge als emergente Zustände dieser Triangulation adressiert werden. Dann aber sind die Untersuchungen zur Natur des menschlichen Geistes seitens einer ZuI-Philosophie des Geistes nicht nur nicht „worthless“. Vielmehr können sie in Bezug auf Bewusstsein und Geist einen genuinen und aufschlussreichen Beitrag leisten – wie übrigens auch im Blick auf ein verändertes Design neuer neurowissenschaftlicher Experimente (welch letzteren Punkt Bennett / Hacker ebenso wie Dummett vehement bestreiten). These 3: Kognitive Neurowissenschaftler „see themselves as being concerned with the very same problems as philosophers“ (Bennett / Hacker 2003: 397). Kommentar: Philosophie und Neurowissenschaften beschäftigen sich nicht mit denselben Problemen. Zwischen den beiden Disziplinen handelt es sich (wie Bennett / Hacker mit Recht betonen) nicht um ein Verhältnis der Identität, sondern um eines der Komplementarität. „The neuroscientific investigations of
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consciousness, for example, are complementary, but not identical.“ (Bennett / Hacker 2003: 403) So geht, am Beispiel der Frage nach dem Bewusstsein, der Neurowissenschaftler z. B. der Frage nach, wo Bewusstsein im Gehirn seinen neuronalen Auftritt hat. In der Philosophie dagegen fragen wir unter anderem danach, worin genau der Unterschied zwischen Bewusstsein und Wahrnehmung liegt und worauf genau beider Geltungsansprüche gründen. An dieser Stelle sei ein weiterer Aspekt zugunsten der ZuI-Philosophie betont, der nicht mit den Instrumenten der Neurowissenschaften oder der neurobiologischen Kognitionswissenschaften beschrieben oder gar geklärt werden kann. Auf diesen Punkt hat mich Hilary Putnam im Gespräch aufmerksam gemacht. Menschen können kontrafaktische Konditional-Sätze und -Gedanken formulieren und verstehen. Wir können solchen Sätzen und Gedanken sogar Welten zuordnen, in denen diese wahr oder falsch sind. Man denke an Sätze wie: „Wenn Onkel Paul den pinkfarbenen Golf nicht gekauft hätte, würde Tante Martha ihren Geburtstag nächstes Jahr noch feiern können“. Aufgefordert, eine logische Analyse dieses Satzes zu geben, wäre es witz- und sinnlos zu verlangen, die neuro-chemischen Prozesse anzugeben, die beim Formulieren, Verwenden und Verstehen dieses Satzes aktiviert sind. Und es wäre ein sinnlogischer Fauxpas allererster Güte zu behaupten, die logische Form des angeführten kontrafaktischen Konditionalsatzes und die Muster der bio-chemischen Prozesse im Gehirn der diesen Satz formulierenden Person seien identisch. These 4: Aus der Philosophie könnten Vorschläge kommen „about how the brain works“ (Bennett / Hacker 2003: 398). Kommentar: In der Philosophie betreiben wir keine Hirnforschung, wir fragen zum Beispiel nicht nach den bio-chemischen Prozessen im Gehirn. In den Neurowissenschaften dagegen wird nach dem Aufbau und der Funktionsweise des zentralen Nervensystems gefragt. Dieser grundlegende Unterschied hinsichtlich der jeweils kardinalen Fragen ist wichtig. Hier stimme ich mit Bennett / Hacker überein. Gleichwohl jedoch verteidige ich und im Unterschied zu ihnen ein Kooperations-Modell in Bezug auf das Verhältnis von Philosophie und Neurowissenschaften, freilich eines, das beide Partner auf Augenhöhe sieht, weder also die Philosophie bloß in der Rolle einer ‚junior partnership‘ noch die Neurowissenschaften als Empirie-Lieferanten missversteht. Ich gebe ein Beispiel für die Art von Kooperation, die ich mir idealerweise vorstelle und die ich vor einiger Zeit im Zuge eines gemeinsamen Kolloquiums von Neurowissenschaftlern, Philosophen und Kunstwissenschaftlern ansatzweise selbst erfahren durfte. Das Beispiel weist zugleich eine Verbindung mit Hinderk M. Emrichs Forschungsfeld der Wahrnehmung stereoskopischer Invertbilder auf. Geht es um die Erforschung der Mechanismen der Farb- und Formwahrnehmung, so verweist die Neurowissenschaftlerin unter anderem sogleich auf die
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Hirn-Areale V4 (für die Wahrnehmung von Farben), V5 (für die visuelle Diskrimination von Bewegung) und auf die Kombination von V4 und V3 (für die visuelle Wahrnehmung von Form). In dieses Szenario lassen sich bestimmte Aspekte aus der ZuI-Philosophie im Sinne forschungsorientierender Gesichtspunkte überzeugend ins Spiel bringen. Zu nennen wäre zum Beispiel der Aspekt, dass Wahrnehmung nicht einfach nur ein Prozess unter unserer Schädeldecke ist und nicht einfach im Gehirn lokalisiert werden kann. Vielmehr ist Wahrnehmung in dem Sinne auch ein externalisierter Prozess, dass andere Personen ebenso wie die äußeren Objekte der Wahrnehmung gleichermaßen an dem beteiligt sind, was als meine und was als unsere gemeinsam geteilte Wahrnehmung gilt. Der Witz an der Sache ist: Sobald es um ein problem-orientiertes transdisziplinäres Forschen in puncto Farb- oder Bewegungswahrnehmung geht, muss man auch die Frage zulassen, welches veränderte Design ein zufriedenstellendes Experiment annehmen müsste, sofern die genuin ZuI-philosophische Komponente in eine umfängliche Untersuchung des Phänomens der Farb- und Bewegungserfahrung Eingang findet. An diesem Punkt unterscheide ich mich grundlegend von der Position von Bennett / Hacker (2003: 408), die diese Frage erst gar nicht als legitim zulassen. Bennett / Hacker blockieren diese Frage erneut mit ihrem meines Erachtens bei weitem zu eng geschnürten Verständnis der Aufgaben von Philosophie als grundbegrifflicher Analyse und der damit verbundenen weiteren Aspekte (welche, wie bereits betont, zwar zentral, aber nicht die einzige legitime Aufgabe von Philosophie ist). Im Beispiel könnte die Kooperation von ZuI-Philosophie und Neurowissenschaften zu einer Veränderung in den Instrumenten und Hinsichten der bisherigen neurowissenschaftlichen Forschung in dem Sinne führen, dass nicht nur in den neuronalen Arealen des Gehirns gemessen, sondern die anderen Personen außerhalb des Gehirns ebenso einbezogen werden wie die materiellen Objekte und Ereignisse der äußeren Wahrnehmung. Und umgekehrt ist auf Seiten der Philosophie die Bereitschaft erforderlich, aufgrund der Resultate neurowissenschaftlicher Forschung gegebenenfalls mit neuen und auch begrifflichen Problemen konfrontiert zu sein – welcher Herausforderung sich die ZuIPhilosophie erklärtermaßen stellt. Dies ist ein Beispiel für den Typus von Kooperation zwischen ZuI-Philosophie und Neurowissenschaften, wie ich sie mir vorstelle und bei der die Philosophie nichts von ihrem genuinen Charakter preisgeben müsste. These 5: Die „great problems of philosophy will be solved by neuroscience“ (Bennett / Hacker 2003: 398). Kommentar: Da sich die Neurowissenschaften (und auch hier stimme ich Bennett / Hacker zu) in dem skizzierten Sinne gar nicht mit Kernproblemen der Philosophie beschäftigen, können die Probleme der Philosophie auch nicht durch die Neurowissenschaften gelöst werden. „PET and fMRI can scan brains, but not
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concepts and their articulation.“ (Bennett / Hacker 2003: 405) Die Neurowissenschaften müssten sich zu diesem Zwecke mit genuin philosophischen Fragen befassen, wie z. B. der Frage nach dem Verhältnis von Meinen, Glauben und Wissen (vgl. zu diesem Punkt ZdW Kap. 10.3 und Bennett / Hacker 2003: 406), nach der Geltung von z. B. arithmetischen und/oder sprachlichen Regeln oder – vielleicht die herausfordernste Frage seitens der Philosophie – nach der Geltung und Verbindlichkeit ethischer Normen. In Bezug auf rein kognitive Leistungen sei etwa auf die Frage nach der Geltung des von Kurt Gödel formulierten Satzes der Unentscheidbarkeit verwiesen. Selbst das bestmögliche EEG oder fMRT von Kurt Gödel just im Moment der Formulierung des Unentscheidbarkeits-Theorems würde uns keine Gründe dafür liefern, den Satz der Unentscheidbarkeit als rational zwingend anzusehen. Und ein Blick in Einsteins Gehirn würde uns keine Gründe dafür sichtbar machen, dass und warum die spezielle Relativitätstheorie zu Recht Geltung besitzt. Den EEG-Streifen von Kurt Gödel könnten wir noch so lange anstarren: er würde uns nichts über die Gültigkeit des Gödel-Satzes sagen oder zeigen. Ebenso könnte ich in Bezug auf eine ethische Entscheidung, bei der viel auf dem Spiel steht und es um Leben oder Tod einer anderen Person auf der Intensivstation geht, meinen EEG-Streifen noch so lange anstarren: ich würde keine Antwort auf meine Frage erhalten, was ich nun tun soll. Wie aber sollten die Neurowissenschaften dann in der Lage sein, solche und vergleichbare Fragen, die für die Philosophie kennzeichnend sind, zu beantworten?! Das wäre, und hier stimme ich Bennett / Hacker wiederum entschieden zu, „neuro-mythology“! (Bennett / Hacker 2003: 409)
3 Aspekte möglicher Kooperation von ZuI-Philosophie, Wissensforschung und Psychiatrie Die ZuI-Philosophie arbeitet mit dem (vor allem in Iw, SZI und ZdW ausführlich beschriebenen) heuristischen 3-Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse. Zur abkürzenden Erinnerung und mit beispielhaft illustrierendem Bezug auf die Sprache und psychische Zustände kann dieses Modell wie folgt beschrieben werden: Auf der ZuI3-Stufe geht es beispielsweise um die semantischen Merkmale (Bedeutung, Referenz, Erfüllungsbedingungen) von Zeichen, Wörtern, Gedanken, Handlungen und psychischen Zuständen seitens der Sprecher, Personen, Akteure und Erlebnissubjekte. Auf diese Ebene gehören unter anderem auch unsere Theorien über die entsprechenden Phänomene, Prozesse, Zustände und Sachverhalte. Treten auf dieser ZuI3-Stufe Störungen in der Form auf, dass nach den
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semantischen Merkmalen der bis dato fraglos funktionierenden und anschlussfähigen Zeichen in einer Sprache oder eines psychischen Zustands gefragt wird, dann geben wir Antworten auf diese Fragen in der Regel dadurch, dass wir reflektierend auf die üblicherweise flüssig funktionierenden, in Praktiken verankerten und anschlussfähigen Gewohnheiten, Habitualisierungen, Verhaltensformen und Konventionen, kurz: dass wir auf die ZuI2-Stufe zurückgreifen. In den Beispielen bedeutet dieser Rückgang in die ZuI2-Stufe, dass wir in die Ebene der selbst im Störfall stets bereits noch vorausgesetzten und gegebenen Sprache (zum Beispiel des Deutschen) oder auf das jeweils vorausgesetzte fragile psychische Geflecht erlebnismäßiger, habitueller, verhaltensbestimmender und konventioneller psychischer Systeme zurückgreifen, um den Störfall zu beseitigen. In vielen Fällen können Störungen auf der ZuI3-Ebene durch einen derartigen Rückgang in die Verfasstheiten, habituell gewordenen, erlebnis-stabilisierenden, konventionellen Systeme behoben werden. Dabei heißt ‚beheben‘ so viel wie: erneut flüssig, anschlussfähig, stör- und leidensfrei erlebbar und gleichgewichtig fortsetzen zu können. Die Lösung der Störung merkt man, mit Wittgensteins schöner Figur gesprochen, an ihrer Auf-lösung im Sinne ihres Verschwindens unter Angabe sprachlicher oder psychischer Präsupposition derjenigen Bedingungen, bei deren Erfülltsein die Störung oder das Problem erst gar nicht oder nicht mehr auftreten kann. Gelingt es jedoch auch dem Rekurs auf diese ZuI2-Stufe nicht, die Störung des flüssigen Vollzugs sowie der anschlussfähigen und in relativ stabilen Gleichgewichten bestehenden Handlungen zu beseitigen, so greifen wir, weiter reflektierend, auf die ZuI1-Stufe und die für diese kennzeichnenden, nicht hintergehbaren oder suspendierbaren Muster, Dispositionen und Gestaltungen unseres gesamten In-der-Welt-seins (Heidegger) hinsichtlich der triangulären Verhältnisse von Ich-Wir-Welt zurück, in welcher Triangulation sich unser Leben nun einmal so vollzieht, wie es sich vor-theoretisch und vor-signifikativ vollzieht, ohne damit auch schon in feste ZuI3-Formen auskristallisiert worden zu sein, mithin vor-theoretisch und vor-signifikativ im Sinne der semantischen Merkmale der ZuI2+3-Ebenen. In den angeführten Beispielen heißt dies unter anderem, dass wir auf die Sprachlichkeit unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses ebenso zurückzugehen versuchen wie in das Reich der funktionellen Dispositionen zu psychischen Prozessen, Phänomenen und Zuständen. Der Rekurs auf die Beschaffenheit, Dispositionen und Funktionalitäten dieser ZuI1-Ebene ist ein Rückgang in die primordialen Formen der Generierung von Bedeutsamkeit (significance) unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Erlebens, die deutlich vor den Bedeutungen (meaning) unserer Zeichen auf der ZuI3-Ebene liegt. Auf der ZuI1Ebene sind natürlich auch die diese Prozesse der Generierung von Bedeutsamkeit und Bedeutung formierenden Muster und Gestaltbildungen angesiedelt, wie sie
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sich in Form der Individuation, der Organisation, der zeitlichen Dynamik, des Wechsels und Wandels, der Klassifikation und der raum-zeitlichen Lokalisierung der zunächst unbestimmten und fortschreitend weniger vage und zunehmend konkreter werdenden Erfahrungsgehalte und Bedeutungserfahrungen manifestieren. In Bezug auf die Störungen in diesem zunächst noch ungegliederten und dann zunehmend bestimmter werdenden ZuI1-Geflecht kann die Situation wie folgt beschrieben werden. Zunächst versuchen wir, uns in diesem fortschreitenden Rückgang von der ZuI3- in die ZuI2- und von dort weiter in die primordiale ZuI1Ebene Störungen überhaupt erst einmal verständlich zu machen. Und sodann versuchen wir diese Störungen, im glücklichen Falle, um der erneut flüssigen, anschlussfähigen und psychosomatisch als gleichgewichtig erlebbaren Lebensvollzüge willen zu beheben oder sie doch zumindest ein wenig erträglicher zu machen. Vor dem skizzierten Hintergrund braucht nicht eigens erwähnt zu werden, von welch hoher Wichtigkeit die Störungen und deren Analyse sowie, in glücklichen Fällen, deren Beseitigung auf den unterschiedlichen ZuI-Ebenen ist. Es sind die Störungen, die in dem oben erwähnten Prinzip der Humanität der ZuIPhilosophie eine ausgezeichnete Rolle spielen. Und die erfolgreiche Beseitigung einer Störung in unseren Lebensvollzügen zeigt auf besonders aufschlussreiche Weise etwas von dem normalerweise nicht ins vorstellende Denken zu ziehenden und noch ungegliederten Zusammenhängen, die unser Leben ausmachen. Dass diese Dimension stärker in der Wirkung von Kunstwerken (als zum Beispiel in wissenschaftlichen Theorien) präsent ist, scheint mir auf der Hand zu liegen. Der Tiefenwirkung von Kunstwerken kommt daher auch in der ZuI-Philosophie unter dem Titel der ZuI-Ästhetik eine besondere Relevanz zu. In den letzten Jahren habe ich dieses zugleich vertikale und horizontale ZuIModell (das top-down ebenso wie bottom-up und von der ZuI-Logik über die ZuIEthik zur ZuI-Ästhetik gelesen und eingesetzt werden kann) um das weitere horizontale Modell der Wissensforschung ergänzt (vgl. vor allem ZdW und Abel 2012). Die beiden Modelle sind komplementär und miteinander verzahnt. Im Modell der Wissensforschung geht es um die vielfältigen und bislang so gut wie nicht verstandenen Wechsel- und Zusammenspiele der unterschiedlichen Wissensformen, deren kardinale Rolle in unserem Alltag ebenso wie in den Wissenschaften und in den Künsten in den Fokus der Aufmerksamkeit gebracht wird. Ein einschlägiges Beispiel für die Art von Wissensforschung, die mir vor Augen steht, lieferte einmal die Frage an einen Neurochirurgen, worauf er sich denn verlasse, wenn er eine Operation am offenen Gehirn durchführt. Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Er verlasse sich auf seine Augen, die auf den Monitor gerichtet sind. Denn er möchte ja mit dem Laserskalpell den Hirntumor und nicht das Sprachzentrum treffen. Diese Form des Wissens nenne ich piktoriales und perzeptionales Wissen. Er verlasse sich zugleich auf die Geschick-
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lichkeit seiner Hände beim Führen des Laserskalpells, eine Fähigkeit, die ich taktiles und praktisches Wissen und Können nennen möchte. Er verlasse sich auf seine Erfahrung, die darin bestehe, dass er schon viele neurochirurgische Eingriffe der in Frage stehenden Art durchgeführt habe. Diese Form des Wissens können wir als Erfahrungswissen bezeichnen. Und schließlich verlasse er sich natürlich auch auf seine Ausbildung, mithin auf sein theoretisches Hörsaal- und Lehrbuchwissen. Offenkundig ist der Operationssaal einer Klinik ein ausgezeichnetes Beispiel für das flüssig funktionierende Zusammenspiel unterschiedlicher Wissensformen. Analoges gilt zum Beispiel für das erfolgreiche Steuern eines Automobils, erfolgreiches Tennisspiel, die erfolgreiche Durchführung eines Experiments in einem Physik-Laboratorium oder für die erfolgreiche Aufführung eines LigetiStücks durch eine Cellistin. Zugleich sind eine Reihe weiterer und anderer Wissensformen in den genannten Zusammenhängen einschlägig, so etwa explizites und implizites Wissen, distribuiertes und integriertes Wissen, Knowing-how und Knowing-that, begriffliches und nicht-begriffliches Wissen, wissenschaftliches Wissen, theoretisches, praktisches und technisches Wissen, psychologisches / psychiatrisches Wissen, ästhetisches Wissen oder auch ethisches Wissen. Kurz: Bestens sind wir mit den uns noch nicht verständlichen Mechanismen der Interaktion und Interpenetration der unterschiedlichen Wissensformen vertraut. Diesen so selbstverständlichen und selbstevidenten Mechanismen auf die Schliche zu kommen, sie auszubuchstabieren und auf kreative Weise zur Generierung neuen Wissens in unterschiedlichen Bereichen einzusetzen, dies ist das Desiderat der Forschung und das erklärte Programm der Systematischen Wissensforschung, wie es am Innovationszentrum Wissensforschung (IZW) / Berlin Center for Knowledge Research und in der dem Zentrum zugeordneten internationalen Publikationsreihe Berlin Studies in Knowledge Research (Abel / Conant 2012 ff.) verfolgt wird. Vor dem skizzierten Hintergrund der beiden Modelle (ZuI-Modell, Modell der Wissensformen) und deren Zusammenwirken kommt hier eine zugegebenermaßen sehr einfache Vorstellung in Bezug auf eine mögliche und projektbezogene Kooperation zwischen ZuI-Philosophie, systematischer Wissensforschung und Psychiatrie. Solange wir es in den beiden Modellen bzw. Modellierungen mit flüssig funktionierenden und anschlussfähigen Prozessen, Phänomenen und Zuständen zu tun haben, ist störungsfrei gleichsam alles in Ordnung. Die sich flüssig und in ihren Komponenten gleichgewichtsstabil vollziehenden Funktionalitäten können im Rekurs auf die Figur des gleichtaktigen Zusammenspiels der ZuI-Ebenen ebenso angemessen beschrieben werden wie im Rekurs auf das korrelierte effektive Zusammenspiel der beteiligten Wissensformen. Die beiden Modelle intensivieren einander wechselwirkend. Von besonderer Relevanz ist zu-
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gleich, dass sich mit Hilfe der beiden Modelle und ihres Zusammenwirkens nicht zuletzt auch die Störungen in den funktionellen, syntaktischen, semantischen, pragmatischen und existenziellen Prozessen unseres Lebens phänomenologisch beschreiben, analysieren und möglicherweise sogar therapieren lassen. Störungen können eben als Störungen des gleichtaktigen Zusammenspiels der ZuI-Ebenen sowie der mit diesen korrelierten unterschiedlichen Wissensformen beschrieben und analysiert werden. Nicht überraschend dürfte sein, dass in der ZuI-Philosophie ein Bild von psychischen und psychiatrischen Erkrankungen sowie des psychisch-leiblichen Leidens zugrunde liegt, das vornehmlich Störungen in den normalerweise flüssigen und anschlussfähigen Funktionalitäten sieht. Psychische Erkrankungen haben in der ZuI-Philosophie ihren Sitz weder einfach unter der Schädeldecke im Gehirn noch in einem mysteriösen Reich verborgener psychischer Entitäten. Sie könnten vielleicht als Dysfunktionalitäten, Inkohärenzen, funktionelle Störungen und Abwesenheiten von stabilen Gleichgewichten und Stimmigkeiten in den unser Leben ausmachenden ZuI-Prozessen beschrieben und analysiert werden. Es entspricht der holistischen Natur der ZuIPhilosophie, dass sie in dem fraglichen Themenfeld psychischer Erkrankungen ihre Betrachtung gleichsam diesseits der reduktionistischen Zweiteilung von Gehirn und Psyche ansiedeln möchte (welche Unterscheidung sie als eine retrospektive und heuristische ansieht). Dispositionen zu psychischen Erkrankungen sowie diese dann selbst haben ihren Sitz nicht einfach im Gehirn oder in einem vermeintlichen Raum des Psychischen, sondern vornehmlich in den triangulären Verhältnissen von Ich-Wir-Welt. Entsprechend manifestieren sich psychische Erkrankungen vor allem im eigenen psychisch-leiblichen Erleben bzw. im Verhältnis einer Person zu sich selbst, in den Beziehungen zu den anderen Personen und im Verhältnis zur Welt da draußen und um uns herum. Im Zuge des Verlustes der stabilen somato-psychischen Gleichgewichtslagen stellt sich schnell ein psychisch-leiblicher Leidensdruck ein. Ist dies der Fall, dann könnte in therapeutischer Einstellung ein Versuch gemacht werden, die Störungen in diesen Zuständen, Phänomenen und Prozessen unter komplementärem Einsatz der beiden Modelle zunächst zu beschreiben und sodann einer Auflösung in dem Sinne zuzuführen, dass es, im glücklichen Falle, zu einer Wiederherstellung-auf-Zeit des flüssigen, anschlussfähigen, kohärenten und erlebnismäßig relativ stabilen Charakters des fragilen Geflechts leiblich-psychischen Erlebens und Verhaltens kommt – bis auf weiteres. Aber alle diese Überlegungen stellen lediglich einen Ausblick dar auf mögliche gemeinsame Projekte der ZuI-Philosophie, der systematischen Wissensforschung und der Psychiatrie.
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Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2012: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52. Abel, Günter / Conant, James (Hg.) 2012 ff.: Berlin Studies in Knowledge Research, Berlin / Boston. Bennett, Maxwell R. / Hacker, Peter M. S. 2003: Philosophical Foundations of Neuroscience, Oxford. Bennett, Maxwell R. et. al. 2007: Neuroscience and Philosophy. Brain, Mind, and Language, New York. Dummett, Michael 2010: The Nature and Future of Philosophy, New York. Emrich, Hinderk M. 2008: Psychiatrische Anthropologie. Therapeutische Bedeutung von Phantasiesystemen, Bd. 1, Würzburg. Wittgenstein, Ludwig 1984: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., S. 225 – 580; [PU].
Denis Thouard
Tempo rubato Abstract: Time as consequentiality makes the most general condition of our world interpretations. But the use of time as a common convention is also a shared interpretation that determines the success of our interactions. Shared time is time within a praxis. It requests the agreement on one general convention (interpretation2). In this, variation can occur as well as regularity. In this frame, tempo rubato denotes the possibility of a personal accentuation of temporality, as it is tolerated in a musical execution. The inner articulation of the three temporal dimensions of rule, written text, performance, and individual variation brings more light to temporality than the classical opposition between physical and psychological time. The present meditation focuses on a neglected aspect of temporality. It is mostly an attempt of a philosophical heuristic, an essay, searching through language and music to grasp the very dimension of time that seems to resist our understanding. In the first part, I will focus on the rule of time: that it never can be overcome nor recovered. Nevertheless, there always remain some spots of time as if they were frozen to stone. How is such an experience thinkable and what does it say about time? In order to organize our thoughts on this matter we are then driven to sketch what I call the articulation of times.
Immer gehen Türen auf und zu, und alles sieht aus, als ob es nie in Ordnung käme. Plötzlich aber ist alles licht und rein, und du hast keine Ahnung, daß eine lange dumpfe Nacht war. Peter Altenberg
1 L’altérité du temps „Ohne Interpretativität1 würde gar nichts für uns geschehen.“ (SZI 56)
« Notre monde de l’expérience est un monde temporellement ordonné. » (SZI 51 ; tr. fr. 45) A ce titre la dimension temporelle est une composante principale de l’interprétation ainsi que de la philosophie qui se pense comme interprétation. En termes kantiens, notre perspective sur le monde est une synthèse temporelle. L’imagination fabrique une mise en ordre des impressions. Le temps est la forme du sens interne. Notre participation même à la condition temporelle conditionne https://doi.org/10.1515/9783110522280-024
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notre appréhension du monde comme un monde interprété, temporellement interprété. Le secret du schématisme enfoui dans la nature ne permet pas de remonter au-delà. Le temps lui-même par quoi nous appréhendons le monde échappe à notre appréhension. Nous ne savons pas ce que c’est, ne pouvons rien dire de son « existence ». Nous n’observons que ses effets. Comme pour la « chose », comme pour le « moi », il n’y a pas de connaissance du temps, car aucune connaissance n’est hors du temps. Ainsi « le » « temps » est-il toujours à l’œuvre, toujours à la manœuvre, et cependant insaisissable. Dans le cadre courant de notre expérience, le monde se présente à nous comme ordonné, temporellement ordonné. Il se répartit en effet entre un avant et un après, il distingue ce qui demeure en soi et ce qui change, il les distingue même l’un par l’autre, qui sont également soumis à son appréhension temporalisante (selon la deuxième analogie de l’expérience, KrV B 232 sq.). La temporalisation du divers l’ordonne. Une des thèses de la philosophie de l’interprétation est que cette mise en ordre temporelle n’est pas tant le fait d’un entendement schématisant ses catégories que, plus profondément, d’une activité interprétative fondamentale. Le temps comme temporalisation résulte d’une interprétation. La succession chaotique des impressions en nous prend forme dans une opération interprétative où le temps inter-vient. La temporalisation n’est pas l’effet de notre synthèse subjective, elle n’est pas un événement qui nous transcenderait (pour le coup de façon complètement irrationnelle, c’est-à-dire inintelligible pour nous), mais s’organiserait à partir de la relation interprétative fondamentale qui nous rapporte au monde, qui fait qu’il y a monde pour nous. Il s’agit d’expliciter au niveau de l’interprétation3 ce qui est d’emblée pratiqué et appréhendé en interprétation1. « Chaque fois qu’un monde temporellement réglé est donné, les activités de l’interprétation1, qui catégorisent et schématisent, sont déjà présupposées et revendiquées » (SZI 54 ; 48). La priorité de l’interprétation vaut également de la relation de causalité (55 ; 48). La règle qui détermine la succession temporelle relève d’une relation interprétative première, codée1, qui commande la construction de notre image du monde, à commencer par sa mise en ordre. Or la relation de ce qui arrive à celui pour qui cela arrive, le « für uns » invoqué dans l’épigraphe ici choisie, n’est pas sans difficulté. De quel « nous » peut-il être ici question ? Dans quelle mesure le « nous » dont il s’agit est-il indexé à cette première interprétativité ? La thèse de « l’altérité interne », qui pose que ce qui existe « pourrait-être autrement » (65 ; 57), dit-elle quelque chose du temps ? Le temps est ordinairement vu comme facteur d’altération, ne seraitce qu’à travers la vieillesse qu’il inscrit sur nos vies, non moins que comme
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facteur d’ordre, organisation schématisante de l’expérience. Il y a deux aspects du temps, qui sont traditionnellement représentée par la figure de Janus, le Dieu romain aux deux visages, qui regarde dans deux directions à la fois. Le temps fait et défait. Il est principe d’ordre non moins que de désordre. La philosophie de l’interprétation, qui n’insiste pas particulièrement sur le temps ¹, tend à privilégier la part constructive de l’interprétation de l’ordre temporel. Mais ce qui nous advient, pour lié que ce soit au travail premier de l’interprétativité1, relayé par les élaborations successives de l’ordre practico-théorique, est traversé de la contingence fondamentale que rappelle le théorème de l’altérité interne. Le temps de la philosophie de l’interprétation est un temps qui ordonne le monde, mais qui peut aussi être autre qu’il n’est. La méditation qui suit cherche à s’engouffrer dans ce temps qui résiste et qui échappe, qui est facteur de désordre et de trouble. Elle formule à travers sa progression des questions en retour, Rückfragen, à la philosophie de l’interprétation, en délaissant expressément le terrain de la philosophie de la connaissance pour hasarder, en s’appuyant sur les ressources de la pensée et de la pratique musicale, un itinéraire d’exploration philosophique. L’inspiration n’en est pas phénoménologique, mais d’un Descartes égaré dans la forêt qu’il ne sait plus traverser d’une traite, et qui aurait rencontré en chemin un groupe de musiciens faisant route pour Brême. Une interprétativité peut-être exagérée ou inconnue aura eu ici sa part, et va à la rencontre, par ses détours choisis, de la philosophie de l’interprétation, et avant tout, du « pour nous » auquel « quelque chose arrive ». La présente méditation s’adresse à une dimension négligée de la temporalité. Elle confesse son caractère purement exploratoire. C’est l’essai d’une heuristique philosophique, qui s’appuie sur le langage et sur la musique pour chercher à cerner ce qui notoirement échappe à notre emprise – comme si tout temps se dérobait à notre chasse conceptuelle. La forme en est peu académique. La pensée progresse par exemples, en luttant contre le langage, mais parfois en s’appuyant sur lui. Pour compenser ces inconvénients ou du moins pour les atténuer autant qu’il se peut et prendre en considération le lecteur qui s’attendrait à la mise en place d’une démonstration, on reprend vers la fin les apports, les hypothèses et les analyses les plus marquantes de la méditation. Le lecteur peut s’y porter directement.
Elle se distingue en cela aussi de la philosophie du signe de Josef Simon (1989). Voir cependant le passage important consacré au passé dans Interpretationswelten (Iw 127 sq.), sur lequel il sera revenu à la fin.
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2 Le thème : du temps soustrait au temps La question qui se pose quant au passé est de savoir où il est passé ? Quel type d’être pouvons-nous attribuer à ce qui « était » bien de son « présent » et semble maintenant n’être plus ? Dans ce passé, des possibles sont demeurés irréalisés. Quelle serait la description exacte de leur temporalité ? Comment penser un temps qui n’a pas pu être ? Le temps soustrait par effraction serait un temps qui n’a pas passé comme il aurait pu, déployant après coup un univers de possibilités définitivement clos. Le temps qui a été distrait de notre emprise et qui, pourtant, était bien notre temps. Si le temps est fondamentalement l’ouverture sur une possibilité d’action, le temps passé vient enregistrer ce qui a été fait ou non. Mais le temps qui nous fut soustrait, dérobé, par quelque contingence qui ne « dépendait pas de nous », est devenu le tombeau des actions inaccomplies, aussi bien que des aspirations inassouvies. Le désir de ce temps-là contient une force qui résiste à son enfouissement dans l’oubli. Il est devenu, du fait d’avoir été non seulement perdu, mais bien soustrait par la machination d’une contingence aveugle. Il s’est constitué en poche de résistance.
I Le temps et sa règle 3 La règle du temps L’éternité recueille ces poches de temps volé, ces trésors. Leur présence fantôme nous accompagne dans la poursuite du temps unique que nous accomplissons autant qu’il nous accomplit. « Autant » signifie qu’il est indiscernablement la dimension dernière de notre expérience dont il ne saurait être fait abstraction, qu’il nous pousse à être, et en même temps qu’il est « nous-mêmes ». Il nous est rigoureusement impossible de discerner notre temps, d’y poser le moindre instant, le moindre point d’arrêt. L’impression qu’un instant « chasse » l’autre est une façon de parler qui présuppose une place unique occupée successivement par deux « instants », alors qu’il n’est bien sûr rien de tel, il n’est rien que le temps lui-même qui nous fait être et qui déjà est nous-mêmes. Peut-être un observateur pourrait-il s’aider de l’idée d’instants pour s’orienter après coup dans le temps, ou pour organiser celui dans lequel il se projettera. Mais ces instants n’ont pas été et ne seront jamais que des facilités de langage, des conventions, des signes que nous nous donnons pour couvrir notre méconnaissance profonde du « temps ». Nous avons dit « après coup » et un peu avant « en même temps ». A l’instant même nous avons dit « un peu avant » … Parler du temps est s’empêtrer
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dans une pauvreté de dénomination comptées et comptantes qui ont envahi le vocabulaire de nos dénominations. Il y sera toujours question d’une histoire émergeant entre un avant et un après, dont les instants viendront scander le déroulement et fixer les étapes que l’on souhaitera retenir. L’évocation du temps lisse qui ne se distingue pas entre ces instants est la plus délicate des choses, aussi parce qu’elle contrevient à la forme de notre entendement qui, dans la narration comme dans le raisonnement argumenté, repose précisément sur l’extraposition de moments temporels. Or le temps volé n’est pas atteignable de cette façon. Le temps, avons-nous dit, est « autant » ce que nous faisons que ce qui nous fait. Cet « autant » pouvait être redéfini comme un « en même temps ». Il est ce qui nous fait, sans qu’on s’y soit préparé, car il ne nous attend pas, nous condamnant, pour assouplir notre condition temporelle, à le retenir par différentes astuces de souvenir et de mémoire, à l’imaginer par des projections et des plans sur la comète. Mais ce temps qui n’attend pas est-il bien notre temps ? N’est-il pas déjà question du temps « vu des autres » et de leur impatience ? Si nous pouvons rater un train, cela n’est aucunement dû à notre temps, au temps qui nous fait être et que nous apprenons à habiter, mais bien au temps des autres, à des conventions qui immanquablement reposent sur des fixations purement arbitraires, en ce cas sur celles d’un horaire. De nous-mêmes, nous ne manquons jamais ou ne faisons jamais défaut à notre temps. Nous ne sommes jamais en avance et jamais en retard. Nous suivons l’invite du temps qui nous fait être. Quelle que soit la façon dont nous « remplissons » ou « occupons » notre temps, il est toujours aussi plein de nous, il s’adapte à notre conduite. C’est ainsi que le temps ne nous contraint en rien. Il nous laisse libre à nous-mêmes. Il ne nous laisse simplement pas la liberté de n’être pas non « dans le temps », mais « du temps », à la fois comme origine, chacun étant sans doute « fils de son temps », et comme « être », disons comme cette chose que nous sommes. La moindre cellule qui nous constitue aurait ainsi son temps propre, puisque nous sommes du temps, d’un seul tenant. C’est que le temps est unique, et cela dans son double office de temps qui nous accomplit / que nous accomplissons, lequel constitue notre façon de passer sur le monde. Il n’est pas unique parce qu’il coulerait vers notre fin comme les fleuves à la mer, car en lui-même rien n’annonce un si funeste destin. Il nous accomplit jusqu’au moment sans doute où cet accomplissement cessera, ce qui vulgairement est désigné comme ce qui sera notre décès. Mais à ne considérer le temps que depuis le point virtuel où il cessera d’être notre temps et de nous prêter l’accomplissement qu’il nous a toujours accordé, on perd le seul temps qui soit, le temps essentiel qui s’impose à nous autant qu’il est à notre disposition. On se projette sur un point encore intérieur et pourtant déjà extérieur au par-
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cours que nous sommes. On commence à se regarder de loin. On a quitté, par la considération de la mort, la continuité du temps. L’unicité dont notre mort vient sceller notre vie pour l’étaler d’un seul coup en une destinée accomplie est plus déterminée que le « savoir » que nous avons de l’unité du temps qui nous fait, dont on ne sait vers où il nous pousse. Cette unicité est extérieure. Elle ne recouvre pas l’être-temps que nous sommes et qui nous fait, que nous accomplissons et qui nous accomplit. L’unicité indéterminée de notre temps signe « notre façon de passer sur le monde ». Nous y balayons par les sens des flux d’impressions, odeurs des lieux et des gens, couleurs des habits et des paysages, bruits chaotiques ou compositions sonores. Ce que nous éprouvons en différents lieux, en différentes personnes de notre monde fondamentalement humain, c’est, une fois rassemblée la multiplicité des lieux, un fil unique et fragile d’expériences temporelles. Aux masses que chaque jour vient y ajouter et que, peut-être, chaque nuit aide à assembler aux expériences passées, se joint la mise en cohérence, aussi limitée fût-elle, que nous y apportons avec plus ou moins d’insistance selon les domaines d’expérience. Dans le temps d’une suite ininterrompue d’expériences nous tissons des ensembles qui dessinent un monde, notre monde. Ces réseaux intimes sont ce que nous avons à traduire dans un langage à peu près commun pour être « du monde » et partager, échanger, entretisser notre temps à celui des autres, s’entendre avec eux sur des mesures communes. Notre temps est compté, non : il ne le sera qu’après coup. C’est un détour inutile qui le ferait prendre pour tel. En nous-mêmes, rien ne compte. Mais nos cellules ont leur horloge, et notre vie, qui est aussi une dimension de notre êtretemps, s’arrêtera bien un jour. Ceux-là sont les représentants d’un temps du monde qui nous accompagne et nous inscrit dans le cours terrestre. Nous sommes aussi cela. Nous sommes des animaux temporels qui pouvons être fatigués. Dans la fatigue, c’est la présence physique du monde qui se rappelle à nous. Présence du monde dont nous sommes. Dans la maladie, le temps qui nous accomplit se fait pesanteur. Les conflits sont fréquents entre le temps qui nous fait et celui qui nous défait, et, en nous défaisant, dégage aussi le monde possible du temps volé. Les moments où le temps du monde nous oblige à compter le temps, nous plaçant comme à rebours du temps, à rebours du glissement calme et émerveillé qui effleure le monde dans l’expérience des sens, contraignent l’évidence d’être « en même temps ». Une résistance s’opère, contre nous, puis de nous contre elle, à double entrée.
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4 L’impossible anticipation Pouvons-nous être « en avance » sur notre temps ? Aucunement. Il est peut-être en lui-même différemment tempéré, il suit et donc nous fait suivre différents tempi, il est rythmé. Mais il ne peut s’anticiper lui-même. Notre avance aussi bien que notre retard sont l’effet du rapport aux autres temps, au temps des autres. Nous avançons dans notre temps comme un voyageur dans la tempête de neige, créant à chaque pas une progression improbable, et bien sûr, poussé irrésistiblement en avant. Il est pour penser cette marche dans le temps une règle qui dit beaucoup. C’est la règle de « l’en-avant », qui détermine la physionomie du jeu de rugby, plus encore que l’usage des mains ou la forme ovale du ballon. Elle stipule, dans mon souvenir, que, lors de la progression d’une équipe en direction de la ligne de but adverse, la portée du ballon vers l’autre camp se fait de la main à la main, mais que cet échange ne peut se faire qu’en arrière. Comme il y a peu de probabilité qu’un joueur puisse s’engager seul à traverser tout le terrain pour y porter le cuir ovale jusqu’à l’en-but opposé sans être autrement perturbé dans ses mouvements, il doit à un certain « moment » se débarrasser du ballon. Sauf à le perdre, il doit le passer, c’est-à-dire en continuant de progresser le donner derrière lui. C’est que l’avancée ne peut se faire par aucun lancer de l’un à l’autre, mais uniquement par la portée laborieuse d’un bout à l’autre du terrain. Balancer du pied la balle dans l’autre direction est sans doute une option, mais c’est s’abandonner au hasard des rebonds et d’une certaine façon renoncer à l’esprit fin du jeu. La progression véritable qui unit une équipe est la ligne de passes arrière qui concilie la progression d’ensemble avec le respect de la non transgression de l’en-avant. L’avancée se fait sans qu’on regarde en arrière, mais sans que l’on puisse se projeter au-devant. C’est le temps qui unit les joueurs. Ils inventent une progression dans le temps où il est ainsi impossible de se précéder soi-même, où la portée et donc le contact à soi du témoin ovale est une condition, proximité qui peut se partager dans l’unité d’un mouvement. Comme Orphée, le joueur ne peut retourner sur ses pas, il passe sans voir après lui, car il s’agit d’avancer ; lui aussi un grand vent souffle sur ses ailes. Telle est la règle du temps.
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II Les usages du temps 5 L’interprétation du temps. L’ordre musical Tempo rubato est en usage chez les musiciens quand ils se permettent un rattrapage, une syncope, une accélération, une manœuvre non prévue, mais non pour cela radicalement honnie. Il introduit du « jeu » dans le jeu de l’interprète. Il permet l’individualisation d’une interprétation. Il concerne parfois seulement l’accentuation, qui varie, mais peut impliquer une véritable modification du tempo. Le recours à la licence du temps dérobé permet d’intégrer au déroulement de l’interprétation musicale une temporalité épaisse, qui intègre ses phases de rétention et de protension. La ligne mélodique s’anticipe elle-même et se remémore en soi. Le tempo rubato est ainsi un opérateur herméneutique essentiel en ce qu’il laisse place à la pratique dans la restitution d’une écriture. La partition est respectée, mais la variation temporelle interne est accueillie comme le moment de réflexion de l’œuvre en elle-même. Dans le partage de l’œuvre musicale qu’est son interprétation, la possibilité d’en souligner les dimensions temporelles dessine la place en creux d’une actualisation dans le jeu. L’interprète sert le compositeur, qu’il « joue », mais il se sert non moins de lui, il se glisse en son discours et y dépose, grâce à cet usage du temps, sa propre subjectivité. L’interprète glisse dans la différence interne des temps de la musique qu’il joue sa propre subjectivité. En la jouant, il fait signe que l’œuvre qu’il actualise l’est dans sa propre actualité, sans cesser pour autant d’être pleinement intemporelle, jouable à volonté par tout autre, en tout autre lieu. La relation de l’inactualité musicale et de son actualisation interprétative produit une rencontre. Quand elle « fonctionne » bien, l’interprétation réunit en effet le présent de l’actualisation à l’intemporel de l’écriture. Sans la souplesse du tempo rubato, cette rencontre ne se produirait pas, l’extériorité relative de l’interprète et du texte demeurerait. Les signes musicaux, les notes marquées sur la partition, ne seraient repris dans aucune perspective. Comme un livre qui n’est pas lu, ils n’auraient aucune signification. Les signes resteraient dépourvus de direction. Le temps dérobé accomplit l’interprétation en entrant dans la temporalité de l’œuvre pour en marquer, selon une lecture singulière, une signification possible. Mais à côté de la justification herméneutique de ce temps soustrait, il y a sa dimension esthétique : le jeu sur le temps permet une exploration phénoménologique des strates de la temporalité. Le basculement de l’accent, les retards ou les syncopes, non seulement donnent une face concrète à l’œuvre écrite, mais ils engagent une expérience de la temporalité observable dans l’image sonore qui s’expose. L’intemporalité virtuelle de l’œuvre la rend,
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par son incomplétude même, le lieu d’une expérience des temps mêlés. Le temps musical n’est pas une flèche, il n’est pas circulaire, mais indéfiniment sinueux, qualitativement différencié. Il offre un paysage en relief. C’est dans ce temps que nous habitons. Tempo rubato ? Un tel vol est toléré. Comme on peut faire durer le plaisir, il est recommandé d’abréger la souffrance. Ce sont toujours des usages du temps. Or il n’est pas donné de faire tenir indéfiniment l’état de plaisir, qui se nourrit de sa gradation, non plus que l’on ne saurait à volonté écourter ce qui s’engage en nous et fait souffrir. Ne dit-on pas par-là que c’est une même chose que d’imposer l’attente et de soumettre à une douleur ? Le temps ne nous travaille-t-il pas cruellement en ces occasions, comme on le dit aussi d’une façon non moins parlante ? Et quoi, si la plus grande attente ou souffrance devait être ces temps perdus en chemin, ces temps arrêtés, immobilisés et pourtant, comme des bulles dans l’océan retenues dans la glace ou dans l’ambre, en gésine d’autres futurs ? Le temps rattrapé ou ralenti du musicien l’est par rapport au temps interne de la musique, qui a ses propres exigences, mais aussi ses propres tolérances. L’entrave aux règles du temps successif qu’elle permet tout en étant l’art de la succession est dû à son caractère absolu. La musique pose son temps. L’interprète la fait être, sans doute, bien qu’elle soit, pour toujours, dans sa singularité, inscrite dans la mémoire du monde.
6 Poches de temps Un bloc d’ambre luit dans le temps comme le signal d’un arrêt : un moment s’est fixé, emprisonnant parfois en sa bulle ce qui est pour nous l’image même de l’éphémère et du fugace. L’insecte piégé a vu sa dégradation arrêtée soudain, il s’est mis en bordure du temps. La corruption n’a plus prise sur lui, pas plus que la génération. Il semble soustrait à l’ordre commun – et pourtant il existe bien. Les glaces du permafrost lâchent parfois des fragments de vie qui excèdent notre mémoire, d’un temps sans hommes, et nos savants en prélèvent les formules et les codes. Le temps a été court-circuité, notre impatience d’y voyager instantanément inopinément satisfaite. L’ubiquité nous met en ces occasions en contact apparent avec le temps le plus lointain que notre vue humaine permette d’imaginer. Sur mon bureau se côtoient deux fragments de forêts pétrifiées, l’un trouvé dans le Sahara algérien, l’autre en Chine, acheté dans une rue de Xi’an. Une même densité, une même couleur presque verte, une même impassibilité les accouple. Quelle patience leur a-t-il fallu pour passer de l’expansion tranquille
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du bois innervé de sève au recueillement mat et lisse de cette concentration extrême ? Est-il des pierres si parlantes que celles secrétées par d’antiques forêts ? Elles ne rappellent pas la violence des tourments géologiques de la terre, ne disent rien du feu de lave projeté par un volcan, n’ont pas participé à l’érection des montagnes. Leur beauté n’a aussi rien de spectaculaire. Elles sont l’abri d’une durée ramassée. Elles sont de la matière qui est du temps – le contraire même de l’idée qu’on se fait de la matière, de l’idée qu’on se fait du temps. Elles donnent un sens palpable à l’expression d’une temporalité matérielle. J’ai le temps dans la main. Ce n’est pas l’infinité, mais l’éternité qui prend place dans la paume du rêveur de William Blake (1805 : 585) – « Hold Infinity in the palm of your hand / And Eternity in an hour ». Ce n’est pas non plus l’éternité, mais le temps volé par la matière qui est ainsi recueilli. Ces poches de temps soustraites à l’inéluctable élan de la flèche ne renvoient pas nécessairement à une utopie, comme une pensée de l’émancipation l’a poursuivie au vingtième siècle, y cherchant un futur dans le passé. Le futur est du temps qui n’est pas. Alors que ce temps soustrait et mis en réserve continue d’être, même quand il est inaperçu. Il peut ressurgir, provoquer une résurrection ou une renaissance, ou demeurer indéfiniment dans les limbes de l’attente. Son caractère spectral interdit d’y voir plutôt l’amorce d’un matin qui chante que le retour de vieux démons. Il est neutre au regard de toute nostalgie, comme de toute eschatologie. Il n’est une promesse qu’autant que celui qui le découvrira l’y verra. Le temps de la promesse messianique est encore le temps des attentes, comme le temps des peurs et des hantises reste la radiographie des projections présentes. Tous ces usages du temps une fois découverts, dépendant du temps de la découverte même, des intérêts qui guident celle-ci, des espoirs ou des craintes qui animent la génération présente. Le temps perdu dans sa poche en est indemne. Le temps oublié ne va nulle part, et ne sert peut être à rien. Il s’offre à notre méditation comme une complication délaissée par la pensée du temps.
7 La complication musicale. Pour une pluralité temporelle L’abréviation comme la syncope sont des figures du temps qui prennent sens dans la confrontation de deux temps au moins. La musique permet de déployer cette temporalité qualitativement différenciée en rendant visible la trace des différents parcours, qui se croisent ou se fuient, se rencontrent à nouveau ou se perdent à jamais. Le déplacement dans l’espace est le mode le plus ordinaire, mais aussi le plus efficace, pour éprouver la différence des temporalités entre les communautés humaines. La variation des modes en donne une image superfi-
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cielle, mais suffisante. Le temps laissé en chemin (qui définit le temps « soustrait » du tempo rubato) est la dispersion d’une quantité de « pierres d’attente » sur le parcours du temps fléché. Il indique précisément d’autres directions que celle finalement suivie par le main stream. Après tout, l’activité commune des hommes d’un espace singulier n’a pas forcément à suivre la voie qui peut parfaitement convenir à d’autres espaces, pour d’autres hommes. Mais l’unification des activités et des modes de vie des hommes de toute la planète va à l’encontre de cette diversité essentielle. La normalisation des activités humaines, à commencer par celle du travail, est opérée en termes d’heures et de journées. On vise de plus en plus la productivité maximale : que, dans un laps de temps aussi réduit que possible, soient composés le plus grand nombre de denrées dans les conditions qui définissent leur qualité de produit. Le travail est l’activité humaine qui est ici concernée. Mais le travail est-il autre chose qu’un rapport au temps, qu’une expérience de l’avant et de l’après, qu’une exposition à la passivité même de l’opération que l’on a mis en œuvre ? Le travail implique une durée. Il implique les plus souvent un accord aux autres, une concordance. La concordance des temps du travail résiste mal à l’unification de ses formes et des catégories qui le définissent. La réduction des délais et l’universalisation des transports transforment le travail en l’ordonnant à une temporalité unique. La communauté humaine se rapproche de ce fait de l’esprit instantané, qui n’en est plus un. A l’étalement des temporalités, le temps laissé en chemin résiste et creuse encore des marques de singularité. Mais où encore ?
8 L’enregistrement du temps Les musiques s’oublient et les airs populaires s’effacent quand ils ne sont plus joués, meurent même d’être sauvés par les techniques d’enregistrement qui prennent la relève d’une pratique motivée. Plus de fêtes au village, plus besoin de frotter l’archet contre la corde étrangement accordée, la musique emmagasinée est reproductible à loisir. Elle envahit le loisir et emplit les espaces de recueillement. Elle remplace la musique des villages qui migre, sauvée sur des supports magnétiques, dans quelques archives, dans quelque musée. La musique a disparu comme pratique de vie. C’est surtout la musique d’improvisation, dont l’image populaire est pour nous la musique des tsiganes, voleurs de temps autant que de poules, qui meurt irréversiblement d’être sauvée, d’être inscrite. Ailleurs, des musiques plus savantes, composées pour être écrites, sont retrouvées par des chercheurs, puis réinventées, jouées enfin. Une création de temps nouveau accompagne la résurrection de musiques anciennes, qui semblaient en attente d’être aperçues enfin. Par rapport au temps de la musique, ces dispari-
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tions comme ces résurrections plaident pour une conception de l’élasticité du temps qui parfois se contracte et parfois se distend, où l’on ne sait jamais si l’on peut perdre vraiment ou retrouver ce qui a fuit. Tempus fugit, mais si nous sommes partie prenante de cette fuite, si nous fuyons aussi en lui, si nous nous y enfouissons, que nous importe ? Le temps volé se réfugie dans ces asiles (hôpitaux ou cimetières, qui sait ?) où l’on conserve à tout hasard les fruits des activités passées. Bibliothèques, musées, aires cérémoniales, dont le nombre se multiplie comme par un sourd pressentiment que quelque chose est irrémédiablement en train de se perdre d’un autre côté, sans que l’on sache exactement quoi, ni si ces momifications en sauveront quelque chose. Il est a parier que ce ne sera pas le cas, et moins encore de la momification géante de la numérisation. Plus nous disposons de ces « ressources » et plus immédiatement elles paraissent disponibles, plus vite elles pourront s’évanouir. Le mouvement contemporain de création de musées a quelque chose de désespéré : il est habité de la mélancolie inconsolable de ne plus avoir l’usage de tous ces trésors. Comme un vieux microsillon retrouvé au hasard d’une brocante peut encore faire s’élever une voix chevrotante, manipulé comme il convient, et comme un livre peut, si l’on trouve son lecteur, réparer un monde, les musées, les villes, les patrimoines contiennent eux aussi du temps soustrait, mais avec cette différence qu’il est soustrait à sa propre contingence et à l’oubli qui peut-être l’aurait sauvé. La politique patrimoniale du temps passé trahit une angoisse indéterminée. Elle paraît manifestement incapable de se confronter à la question. La solution de mettre en boite les restes du passé, dans l’absence de toute discrimination, n’est que l’envers d’un désintérêt profond pour le passé en réserve. On veut avoir quelque chose à montrer. On ne discute pas le bien fondé d’une « numérisation » généralisée, qui devrait nous dédouaner technicologiquement de notre incapacité à savoir que faire de ces trésors. On reconstitue des bibliothèques d’Alexandrie, faisant les mêmes erreurs. Du temps passé et des neiges d’antant, nul ne sait plus exactement que faire. Encore moins du temps dérobé, en réserve pourtant de nos inspirations possibles.
9 Possession et dépossession du temps Chaque vie a sa part de temps soustrait. En ce sens, chacun interprète sa vie en plaçant les accents, les temps d’arrêt, les pauses et les accélérations. Et chacun garde le secret de possibilités d’action non réalisées. Le temps nous pousse, nous fait être, nous constitue, autant qu’il nous permet d’agir. Mais quand il arrive une disproportion de ces deux aspects du même temps qui nous fait,
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quand le temps ne fait plus que nous pousser en avant sans plus nous donner la possibilité d’agir car quelque accident aura interrompu notre pouvoir, comment comprendre cette accumulation de temps qui ne peut plus s’épandre dans une activité, ou si peu ? Que faire de l’asymétrie qui désaccorde notre temps, quand à la poussée ne répond plus l’avancée ? Que faire d’une durée qui se mue en virtualité ? Le temps virtuel des occasions perdues est-il susceptible de ces reprises, de ces rattrapages que promet le tempo rubato ? Le temps perdu semble n’être l’objet d’aucune sollicitude particulière de la part de ceux qui sont dans le temps plein de l’activité. Il est aussi difficile d’entrer dans le temps d’autrui et de mesurer ce qui y est virtualité ou non. Pourtant, ces temps inaccomplis auraient changé, se fussent-ils réalisés, la face du monde. L’altérité interne fait surgir une fêlure dans les attentes les plus fondées, sur l’horizon temporel qui s’ordonnait en ensemble de possibilités d’action. L’horizon s’effondre et le temps impose à notre pratique le renversement d’un désordre. La sagesse pratique nous engage à faire place à ce temps dérobé en sorte que, dans sa discordance, il s’ajointe cependant au sol interprétatif1 que nous déployons afin d’espérer nous orienter dans le temps.
10 La concordance des temps Le temps comme loi de succession est la condition très générale de nos interprétations du monde, qui toutes sont placées sous la perspective temporelle. Mais l’usage du temps comme convention commune n’est pas moins une interprétation partagée, de moindre ampleur, plus changeante, mais également contraignante, car d’elle dépend la réussite de nos interactions (Iw 363). Le temps partagé d’emblée est celui d’une pratique déterminée. Il suppose l’accord sur une convention générale (interprétation2) à laquelle nous donnons crédit en nous engageant dans une interaction particulière. Dans ce partage du temps commun, des différenciations peuvent se faire jour, des variations individuelles, comme en musique, sans que la mesure commune soit pour autant négligée. L’appropriation du temps propre se joue alors dans l’inflexion singulière que l’on apporte à notre usage du temps. C’est à ce niveau que se développe l’interprétation musicale dans son accentuation particulière, que signale l’expression de tempo rubato. La musique suppose sans doute la succession des sons, elle se déploie sur la convention d’une temporalité commune, au croisement de la partition et de son exécution, que reconnaissent les membres de l’orchestre ou de la pluralité qui joue. Mais elle tolère la touche unique qui rend l’interprétation si précieuse, en tant que l’artiste peut mettre en scène la nécessité de l’appro-
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priation personnelle du temps. L’imbrication des trois modes d’interprétation du temps nous éclaire davantage que la traditionnelle opposition d’un temps physique formé sur le mouvement des astres et d’un temps psychologique qui serait interne. En dégageant le phénomène du temps comme virtualité inaccomplie, pierre d’attente objective, j’ai cherché à isoler un aspect essentiel, ni objectif, ni subjectif, de notre rapport au temps. Une durée qui se soustrait à l’écoulement continu et qui se met comme en réserve.
11 Coda La méditation porte sur le temps laissé en chemin, non réalisé, que nous n’avons plus. Ce temps n’a pas pour autant disparu, mais il est resté, comme réifié, matérialisé parfois dans des bornes ou des pierres d’attente. C’est un temps hors de la succession, soustrait à l’enchainement des faits, mais qui pourrait y retourner. Qu’il y ait ce temps des attentes déçues et des projets reportés, qu’il y ait ce temps de possibles laissés en chemin, est ce qu’il importait de faire accepter en premier lieu. Deux grandes séquences cherchent à articuler d’une part la règle du temps, d’autre part les usages du temps. La règle du temps est le temps dans sa dimension de contrainte commune, tant physique que sociale, qui pousse en avant ceux qu’elle contraint, leur ouvrant les possibles de l’action. Il s’agit d’analyser ici l’être dans le temps, l’être-temps et le faire-temps. Le fait, autrement dit, que notre monde ne se constitue que depuis une telle perspective temporelle (interprétation1), comment nous adhérons forcément à notre temps et ne pouvons aucunement l’anticiper (interprétation2). A ces deux dimensions générales, ici grossièrement esquissées, il importe de joindre une troisième, celle des usages du temps (interprétation3). Par une observation du traitement musical du temps, on peut suggérer la complexité intrinsèque du temps. La pratique de l’interprétation autorise une marge d’appropriation, qui est signifiée ici par l’expression de tempo rubato. En étendant ou abrégeant la valeur de certaines notes pour rétablir aussitôt après l’équilibre, l’interprète produit une individualisation de ce qu’il joue, quand bien même ce serait fixé une fois pour toute dans le texte de la partition. Il actualise et individualise l’œuvre en mêlant son temps au temps de l’œuvre, ainsi que, dans la performance, au temps social et au temps du monde. Les thèmes de l’oubli et de la résistance du temps individualisé qui s’est déposé en une virtualité sont abordés dans cette fin. Ils font contraster l’expérience de la perte irrémédiable avec les phénomènes de persistance insoupçonnée, qui nous
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confrontent soudain avec une durée issue d’un monde révolu, inconnu, préhumain. Mais ces poches de temps mis en réserve accompagnent toute existence humaine, dont elles rappellent des virtualités négligées. Le retour au motif musical du temps volé est l’occasion d’insister sur la nécessaire prise en compte de la pluralité des temporalités, alors que le mouvement actuel de mondialisation multiplie les confrontations brutales entre les temporalités comme entre les époques. Contre une mise au pas qui menace, il convient de rappeler cette diversité des temporalités, qui sont également des temporalisations, tant individuelles que collectives. L’entreprise d’enregistrement généralisé constitue la contrepartie de la disparition progressive des différents temps. Les collectivités sont dépossédées de la mémoire qu’on voudrait pourtant mettre à l’honneur, comme les individus, si souvent, mais parfois de façon radicale, sont privés d’une part de leurs virtualités. En ce cas, le temps n’offre plus l’ouverture à des possibilités d’agir, mais devient essentiellement enfouissement, contrainte de la marche en avant. Entre la règle du temps et les usages du temps, une forte tension existe. Elle rend compte des situations de crise, de danger, de disparition irréversible qui suscitent ici certaines considérations mélancoliques. En même temps, elle caractérise notre situation d’êtres-temps, d’entre-temps. Sans la force de la règle qui nous produit, point d’appropriation, point d’individualisation. La méditation débouche ainsi sur l’esquisse d’une concordance des temps, qui reprend les différents paliers d’interprétation constitutifs de nos mondes. Comment replacer les poches de temps délaissées, ce temps perdu en chemin dont j’ai cherché à restituer ici la qualité ? La virtualité de ces fragments de temps ne se laisse pas reprendre par aucune récapitulation. Pourtant, elle demeure avec nous, comme un fantôme. La philosophie de l’interprétation accomplit jusqu’au bout le tournant critique de la philosophie en subordonnant ce qui « est » à ses conditions d’apparition « pour nous », qui se distribuent fondamentalement en trois niveaux d’interprétativité. La résistance du temps est abordée sous l’espèce de la connaissance du passé, en réponse aux objections sceptiques. Qu’en est-il de l’ontologie du passé ? D’un côté il est clair que le passé n’est pas « pour nous » hors de notre interprétation, au sens où le fait qu’il y ait pour nous un passé renvoie à notre capacité de nous projeter vers lui.² De l’autre, le « pour nous » qui trace les limites entre les différents paliers de l’interprétativité n’est-il pas à son tour affecté de quelque façon par le passé, étant entendu qu’il ne saurait se réfugier
„Auch die Vergangenheit liegt nicht als etwas Interpretation1-Transzendentes vorfabriziert fertig da und wartet darauf, repräsentiert zu werden.“ (Iw 129)
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dans aucun lieu extra- ou supra-temporel (Iw 132) ? Le passé n’est accessible, y compris en tant que passé, que par l’interprétation1, sans être pour cela un simple produit de l’imagination (133). La frontière où se meut la philosophie de l’interprétation est de reconnaître en un sens que le passé est « donné » au sens où il ne nous est plus possible d’intervenir sur lui, mais qu’il n’est jamais « purement donné », c’est-à-dire indépendamment d’une perspective interprétative. Or si cela peut valoir de la connaissance du passé, pour lequel on ne saurait sans dogmatisme prétendre énoncer une vérité unique, cela reste autrement problématique dans l’ordre pratique, et jusque dans l’expérience même du passé soustrait qui a été abordée ici. Les catégorisations du temps, de la distinction élémentaire d’instants successifs aux chronotypes les plus complexes, renvoient à une activité, plus ou moins élaborée, d’un sujet « interprétationniste », sans que les effets en retours sur la structure interprétante elle-même au sein de laquelle il s’oriente et inter-vient soient autrement spécifiés. Quel serait l’effet en retour du temps sur « l’interprétationniste » ?
Bibliographie Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Francfort-sur-le-Main; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Francfort-sur-le-Main; tr. fr. L. Sosoe : Langage, signes et interprétation, Paris 2011; [SZI]. Blake, William 1805: The Pickering Manuscript – Auguries of Innocence, The Poems of William Blake, éd. W. H. Stevenson, London 1971. Kant, Immanuel 1781/87: Kritik der reinen Vernunft, éd. W. Weischedel, 2 tomes, Francfort-sur-le-Main 1974; [KrV]. Simon, Josef 1989: Philosophie des Zeichens, Berlin.
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Zeitordnung und Erfahrungswirklichkeit Replik zum Beitrag von Denis Thouard Der Beitrag von Denis Thouard betrifft die Funktion der Zeit und der Zeitlichkeit in den Prozessen der Interpretation und in dem zugehörigen Typus von Philosophie, der prozessualen Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuIPhilosophie]. Thouard sieht sehr richtig, dass die Zeit eine „composante principale“ (Thouard-Beitrag, Kap. 1) in beiden Hinsichten darstellt. Dies steht im Einklang mit der ebenso kennzeichnenden wie herausfordernden These der ZuIPhilosophie, dass sich der Rekurs auf die Ebene der primordialen Interpretativität1-Prozesse nicht nur im Horizont der Zeitlichkeit versteht, sondern ZuI1-Prozesse noch hinter der Zeitlichkeits-Dimension wirksam sind und diese daraus gleichsam selbst erst aktualisiert und hervorgebracht wird. Selbstverständlich entwickelt die ZuI-Philosophie diese Zeit-These nicht in der Absicht, sich selbst letztlich in einer Metaphysik und Ontologie einer vermeintlich absoluten Zeit zu gründen. Unter kritischem Vorzeichen versteht sie ihre These vielmehr als einen Versuch, Ernst zu machen mit der Einsicht, dass wir aufgrund unserer epistemischen Situation als Menschen von dieser Möglichkeit systematisch abgeschnitten sind. Vor solchem Hintergrund zitiert Thouard mit Recht meine zugespitzte Formulierung: „Ohne Interpretativität1 würde gar nichts für uns geschehen.“ (SZI 56) Und, wie ich an derselben Stelle weiter formulierte, umgekehrt: Da etwas geschieht und Stillstand nicht gegeben ist, ist sinnkritisch vorauszusetzen, dass Interpretativität1-Prozesse bereits ihr Bestimmtheit und Individuation generierendes bzw. zeitigendes Werk getan haben müssen, sobald wir Wechsel, Wandel und Veränderung wahrnehmen. Dieser Befund betrifft die subjektive (gelebte und empfundene) ebenso wie die objektive (durch strukturierende Zeitordnungen bestimmte) Zeit. In letzterem Falle ist zu beachten, dass es die Regeln der Bestimmung der Zeitfolge sind, welche die objektive Gültigkeit unserer empirischen und sich auf die Reihe und das Netz der Wahrnehmungen beziehenden Urteile, mithin unsere empirischen Wahrheiten begründen. In diesem Sinne hält die ZuIPhilosophie das Konzept der absoluten Zeit im Sinne eines absoluten Koordinatensystems (ebenso wie etwa auch das Konzept der absoluten Bewegung) für sinnlogisch nicht explizierbar. Jedoch hält sie die Konzepte der subjektiven und der objektiven Zeit für sinnkritisch unverzichtbar, um die Individuiertheit und Bestimmtheit unseres Empfindens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns überhaupt verständlich zu finden. Unsere menschlichen Handlungen,
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Erfahrungen und Welten sind prozessual-zeitlich verfasst. Ohne Interpretativität1 und ohne Zeit keine Handlungen, Erfahrungen und Welten. Meine Replik auf Thouards Beitrag besteht aus den folgenden drei Teilen: In einem ersten Schritt (1) möchte ich stenogrammartig die wichtigsten Aspekte des Zusammenhangs von Zeitordnung und Erfahrungswelt in Erinnerung rufen, den Thouard trefflich adressiert. In einem zweiten Schritt (2) möchte ich dann darlegen, in welchem Sinne die Prozess-Interpretativität1 selbst noch der Zeitlichkeit vorausliegt und in welchem Sinne letztere in erstere aufschlussreich verstrickt ist. In einem dritten Schritt (3) möchte ich einige Aspekte der ZuI-Philosophie erörtern, in denen es um gelebte Zeit, mithin um subjektive, qualitative und individuelle Aspekte der Zeitlichkeit gehen soll. In diesem Rahmen werde ich auch die von Denis Thouard unter der aus dem Bereich der Musik stammenden Bezeichnung ‚tempo rubato‘ ins Spiel gebrachten Aspekte der temporalen ‚désordres‘, Brüche und Diskontinuitäten in das Gesamtbild der ZuI-Philosophie zu integrieren versuchen.
1 Zeitordnung der Erfahrungswelt Der basale Status und die große Reichweite der ZuI-Verhältnisse lassen sich vornehmlich auch an der zeitlichen Geordnetheit unserer Erfahrungswelt verdeutlichen.¹ Die Ordnung der Erfahrungswelt manifestiert sich auch darin, dass wir es mit Zeitverhältnissen des Wechsels und Wandels, der Dauer, des Nacheinanders und des Zugleichseins zu tun haben. Dass dies so ist, zeigt sich nicht nur in unserer Alltagswelt. Es zeigt sich auch etwa in den Wissenschaften, zum Beispiel angesichts der dort zentralen Rolle der Kausalität (d. h. der zeitlichen Folge im Sinne des ‚x verursacht y‘ bzw. ‚x hat y zur Folge‘). Ohne solche zeitstrukturierten Komponenten wären unsere Welt und Erfahrung nicht die geordnete Welt und Erfahrung, die sie für uns sind. Wir hätten es vielmehr mit einem diffusen und unbestimmten Fluss des Geschehens und einem ungestalteten Zustand diffuser Sinneseindrücke zu tun. Der Interpretation1-Charakter einer jeden Handlung und Erfahrung sowie jeden Welthabens und Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses lässt sich mittels der Kantischen Frage in den Fokus der Aufmerksamkeit bringen: Was ist bereits kraft primordialer ZuI-Handlungen in das zunächst diffuse sinnliche Material ‚eingearbeitet‘, sofern wir es mit Objekten der Außen- wie der Innenwelt und der zeitlich geordneten menschlichen (und des näheren der alltäglichen, wissenschaftlichen und künstlerischen) Handlungs-
Im Folgenden greife ich auf die detaillierteren Ausführungen in (SZI 51 ff.) teils wörtlich zurück.
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und Erfahrungswelt zu tun haben? Die ZuI-philosophische Antwort auf diese Frage lautet: Der Weg von der subjektiv-beliebigen Sukzession des Wahrgenommenen zur Geordnetheit einer Erfahrungswelt kann als eine Genealogie kohärierender Bildungen von ZuI-Konstrukten modelliert und rekonstruiert werden. Durch ZuI-Bildungen wird der zunächst auch in Sachen Zeit und Zeitlichkeit noch ungegliederte, nicht-diskrete, nicht-distinkte und nicht-disjunkte Prozess direkten, kontinuierlichen und gleichsam zeit-losen Erlebens zu einer gegliederten, beschreibbaren und in Berichten mitteilbaren Erfahrungswelt. In solchen noch ungegliederten und gleichsam zeit-losen Zuständen bewegt sich etwa ein spielendes Kleinkind, das sein Tun noch nicht in die Zeitmodi des Vergangenen, Späteren, Gegenwärtigen, Zugleichseins, der Dauer, des Wechsels und Wandels zergliedert hat. Die Vorstellung, dass ein solches Spielen eines Kindes so zu verstehen sei, dass das Kind zunächst das noch ungegliederte Prozesskontinuum in Konstituenten zerlegt, um sodann aus diesen das aufzubauen, was wir das Spielen des Kindes nennen, ginge phänomenologisch wie begrifflich gänzlich an dem vorbei, was wir das in sich versunkene, direkte und ganz bei sich seiende Spielen eines Kindes nennen. Konstituenten-Analyse, Beschreibung, Bericht, Kommunikation und intentionale Kooperation spielen hier initial oder konditional keine Rolle. Sie kommen überhaupt erst dann ‚ins Spiel‘, wenn sich Störungen, Unterbrechungen, Turbulenzen oder Destabilisierungen einstellen, das heißt wenn das Spiel nicht mehr aus sich selbst heraus flüssig und anschlussfähig fortgesetzt werden kann. Und am Ende kommt es dann zu der überaus aufschlussreichen Frage, was die Störungen denn bedeuten und wie wir den vormals geradezu paradiesischen Zustand flüssigen, direkten und anschlussfähigen Funktionierens wiederherstellen können. Solches Wiederherstellen bezieht sich in puncto Zeit und Zeitlichkeit auch darauf, eventuelle Brüche, Unordnungen, Unterbrechungen, Dissonanzen und Diskontinuitäten entweder aufheben oder einfach stehenlassen zu können. Doch wie genau soll man sich den Prozess der Bildung zeitlich geordneter Erfahrungswelten des näheren vorstellen? Der Schlüsselgedanke, den die ZuIPhilosophie mit der Kantischen Philosophie teilt, besteht darin, dass wir dann, wenn wir Zeitverhältnisse (d. h. Verhältnisse eines Früher, Später oder Zugleichseins) zuschreiben, immer schon eine Zeitordnung eingebracht und ins sinnliche Material ‚eingearbeitet‘ haben. Der Akzent liegt hier vor allem auf der Rede vom ‚immer schon‘. Denn es wäre ein irreführendes Bild, davon auszugehen, dass wir da zunächst die diffuse Sinnenwelt vor uns liegen haben und diese dann in einem zweiten Schritt und sekundär zeitlich sowie unter Einsatz von Mustern und Gestalten allererst organisieren. Faktisch haben wir es stets bereits und a-dualistisch mit bestimmten und das heißt mit individuierten, raum-zeitlich lokalisierten und sortalen Erfahrungswirklichkeiten zu tun.Wir hätten es gar nicht mit einer zeitlich
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geordneten Erfahrungswelt zu tun, wenn wir, so ist ZuI-philosophisch zu akzentuieren, die genannten ZuI-Gesichtspunkte des Früher, des Später und des Zugleichseins sowie der Dauer, der Beharrlichkeit und des Wechsels nicht längst schon in das Sinnenmaterial eingearbeitet hätten. Die Unterscheidung von Sinnenwelt und Verstandeswelt bzw. Verstandeshandlungen ist eine bloß heuristische und zu Zwecken nachträglicher Reflexion eingeführte. Sie ist keine theoretische Unterscheidung, keine Unterscheidung, mit der behauptet würde, dass es sich essentialiter um zwei getrennte Welten handle. Sie ist erklärtermaßen keine Zweiweltenlehre. Wenn wir Zeitverhältnisse konstatieren – und das tun wir –, dann können wir das überhaupt nur deshalb, weil wir die ZuI1-Gesichtspunkte des Früher, des Später, des Zugleichseins sowie des Beharrlichen, des Wechsels und Wandels der Erscheinungen immer schon wirksam im Einsatz haben. In diesem Sinne verdankt sich unsere Handlungs- und Erfahrungswelt in ihrer zeitlichen Geordnetheit einem formierenden Interpretation1-Horizont, einer Interpretation1Praxis und dem mit beiden Aktivitäten verbundenen Setzen von Interpretation1Grenzen bzw. -Differenzen, in denen die genannten Gesichtspunkte stets bereits in individuierender, kategorialisierender und schematisierender Funktion eingesetzt sind. Unsere zeitlich geordnete Welt ist in diesem fundamentalen und ebenso offenkundigen Sinne Interpretationswelt. Unsere zeitlich individuierte Welt ist eine von der Interpretativität1, mithin eine von bestimmenden, individuierenden, raum-zeitlich lokalisierenden und prozessualen ZuI1-Prozessen bestimmte Welt.
2 Prozess-Interpretativität1 und Zeitlichkeit Ich füge hier die noch weitergehende These hinzu: Ohne Interpretativität1 hätten wir es auch gar nicht mit Zeitverhältnissen, mithin gar nicht mit Zeit und Zeitlichkeit zu tun. Denn ohne dass etwas geschieht, gäbe es für uns auch keine Zeit. Wir hätten es dann mit einem zeitlosen, in sich veränderungslosen und stabilen, letztlich toten und nicht-lebendigen Zustand geschehens- bzw. zeitloser Stabilität zu tun. Doch das ist offenkundig nicht der Fall. Fortwährend geschieht etwas, haben wir es mit merklichen oder unmerklichen Veränderungen, mit Übergängen und Passagen von Prozessen und Zuständen in andere Prozesse und Zustände, mit Wechsel und Wandel der Wirklichkeiten und eben nicht mit zeitlosen Gleichgewichtszuständen zu tun. Dass wir nicht einfach bei einem einmal gegebenen Zustand stehenbleiben können, kann geradezu als eine Art Lebenstrieb, als ein Conatus angesehen werden, in eine Veränderung, in einen nächsten Zustand zu drängen. Diese Übergänge von einem Zustand in einen nächsten, mithin die zeichen- und interpretations-verfasste Prozessualität wird in der ZuI-Philosophie als Quelle der Zeit und Zeitlichkeit angesehen. Eine Grundbedingung dafür, dass
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es überhaupt zu Veränderungen, zu Wechsel und Wandel der Zustände der triangulären Relationen von Ich-Wir-Welt sowie der inneren wie äußeren Zustände kommen kann, besteht darin, dass wir es nicht mit stabilen, sondern instabilen Zuständen zu tun haben. Wir haben es mit Zusammenhängen zu tun, die dadurch gekennzeichnet sind, dass Grenzen gezogen, Negationen praktiziert und Differenzen sowie individuierende Schnitte in zunächst ungegliederte und kontinuierliche Zustände gelegt werden. Diese Grenzziehungen, Differenzen, Schnitte und Ungleichgewichte werden in der ZuI-Philosophie erklärtermaßen als primordiale ZuI-Grenzen, ZuI-Differenzen, ZuI-Schnitte und ZuI-Ungleichgewichte charakterisiert. Es sind diese ZuI-Prozesse, die den Wechsel und Wandel der Zustände, Erscheinungen und Vorstellungen allererst auslösen und hervorbringen. In Hinsicht auf die in diese primordialen Prozesse involvierte Zeit und Zeitlichkeit und deren internen Zusammenhang mit der Interpretativität1+2+3 könnten wir auch sagen: kraft der ZuI1-Aktivitäten zeitigen die Prozesse, Zustände und Phänomene ihren Wechsel und Wandel ebenso wie ihre Dauer und Beharrlichkeit – ‚zeitigen‘ hier in dem einfachen Gebrauch dieses Wortes verstanden, wie wir es problemlos in Formulierungen wie ‚Erfolge zeitigen‘ verwenden und damit schlicht, aber philosophisch grundlegend ausdrücken, dass sich Erfolge einstellen und damit wirklich werden. Zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass die Interpretativität und des näheren die Interpretation1+2+3-Prozesse und -Handlungen des Menschen ihre Zeit nicht einfach bloß positivistisch vorfinden, sondern in dem skizzierten Sinne zugleich auch erst schaffen. Dies meint keineswegs, dass Zeit ein bloßes Produkt unserer Imagination, Phantasie oder Einbildungskraft ist. Eine solche Position beginge einen psychologistischen Fehlschluss. Akzentuieren wir jedoch in den ZuI-Prozessen die Dimension der menschlichen Handlungen, so kann man durchaus sagen, dass die Zeitstrukturen des Menschen vor allem auf dessen ZuIbestimmten Handlungsstrukturen, mithin auf ZuI-Handlungen beruhen und durch diese eben darin als bestimmte Zeitstrukturen auch erst geschaffen werden. In Kantischer Sicht könnte man sagen: ‚Zeit‘ ist – wie ‚Existenz‘ – kein reales Prädikat. Anderenfalls müssten wir die irreführende Voraussetzung machen, dass der Mensch gänzlich ZuI-frei/-los und mithin auch handlungs-frei/-los in der Welt und mit anderen Personen und mit sich selbst sei. Das aber wäre ein hölzernes Eisen und ist gerade nicht der Fall. Von einer solchen Voraussetzung können wir offenkundig nicht ausgehen. Sie bezöge sich auf eine Welt und Erfahrung, die nicht unsere Welt und Erfahrung ist und auf die wir uns weder im Handeln noch im Erkennen verstehen würden. Auch hier zeigt sich ein Aristotelisches Moment der ZuI-Philosophie. Denn Aristoteles war durchaus der Auffassung, dass sich das
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Leben seine Zeit – und ich möchte präzisierend hinzufügen, sich die ZuI-Prozesse und ZuI-Handlungen ihre Zeit – schaffen. Meines Erachtens ist es kein gutes Bild, sich die Zeit als ein Gefäß ununterbrochenen Verfließens vorzustellen, innerhalb dessen dann die ZuI-Prozesse und vornehmlich auch unsere Handlungen ihren Ort, ihre Raum-Zeit-Stellen erhalten. Man denke hier auch an das berühmte Bild Newtons (das in der ZuI-Philosophie erklärtermaßen nicht geteilt wird), dem zufolge die absolute Zeit ohne Beziehung auf andere Gegenstände und ihrer Natur nach gleichförmig verfließe. Demgegenüber ist die Zeit, wie schon Augustinus und auf andere Weise später Kant betonten und wie in der ZuI-Philosophie nachdrücklich herausgestellt wird, keine Eigenschaft der Welt. Vielmehr wird die Zeit in der ZuI-Philosophie, Kantisch gesprochen, als eine Form der Anschauung der menschlichen Subjekte und des näheren als Form des inneren Sinns verstanden. Ohne diese Anschauungsform wären wir gar nicht in der Lage, den Wechsel und Wandel der Vorstellungen und Erscheinungen im inneren Sinn, mithin den Fluss der Erlebnisse im Strom des Bewusstseins und auch die Existenz der Dinge im Raume außer mir identifizieren und individuieren zu können. Auf die an dieser Stelle in den Blick geratende und nicht-psychologistische Dimension der erlebten bzw. gelebten Zeit (aufgefasst als die subjektive, qualitative und individuelle Zeit) werde ich in Abschnitt 3 zurückkommen. Wichtig ist mir aber bereits hier zu betonen, dass ich weder einen Dualismus noch gar einen Gegensatz zwischen der so ins Thema gerückten ‚subjektiven‘ und der oben im Rahmen der Zeitordnung der Erfahrungswelt (bis hin zur Zeitordnung der physikalischen Welt) vorrangig thematisierten ‚objektiven‘ Zeit sehe oder gar verteidigen möchte. Beide, objektive und subjektive Zeit, verstehe ich vielmehr als komplementär ineinander verschränkte Weisen von Zeitlichkeit. Sie werden von uns nur in heuristischer Perspektive und Zwecksetzung getrennt. In der Sache jedoch können wir sie nicht dualistisch gegeneinander isolieren oder gar ausspielen. Subjektive und objektive Zeit bleiben Strukturmomente eines einheitlichen und holistischen Zusammenhangs unseres ZuI-verfassten Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses, so wie es sich in den triangulären Relationen von Ich-WirWelt vollzieht, zeitigt. Dieser Befund gilt unabhängig von der Einsicht, dass sich die Zeit selbst unseren Verstandesbegriffen entzieht, elusiv und geradezu unerforschlich genannt werden kann. Komplementär zu diesem Bild heißt das natürlich auch, dass systemische ebenso wie handlungs-, erfahrungs- und erlebnisbasierte Instabilitäten, Alteritäten und Ungleichgewichtszustände nicht nur nicht eliminierbar, sondern systematisch jederzeit möglich sind und bleiben. Das holistische und fragile Geflecht von Instabilitäten (einschließlich der im Gegenzug dazu aufgebotenen und für unser Leben so überaus wichtigen Stabilitäts-Konstrukte-auf-Zeit und Invarian-
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ten-auf-Zeit) wäre nur um den Preis absoluten bzw. zeit- und mithin ZuI-losen Stillstands zu erkaufen. Doch habe ich bereits betont, dass ein solcher Zustand ein toter Zustand wäre, in dem, aus dem heraus und auf den hin nichts geschähe. Doch offenkundig ist das nicht unser Zustand. Und außerdem, nicht einmal ein solches Nichts würde es rein positivistisch ganz bei sich allein aushalten und auf Dauer stabil sein können. Ganz im Sinne der operativen Unterscheidung zu Beginn der Hegelschen Wissenschaft der Logik könnte man am Ende gar sagen, dass dann, wenn das Nichts und das Sein dasselbe wären, wir mit dem Denken nicht einfach bei dieser Feststellung stehenbleiben und aufhören könnten. Vielmehr wird unser Denken, noch im Hegelschen Bild gesprochen, in die Prozesse fortschreitender Gestaltungen genötigt, die auch aus dem Umstand entspringen, dass sowohl das anfängliche Nichts als auch das anfängliche Sein instabil sind. Im Ausgang von der oben zur Verdeutlichung des Zeitcharakters der ZuIProzesse verwendeten Formulierung ‚Erfolge zeitigen‘ möchte ich in puncto Zeit und Zeitlichkeit der Interpretationen auf einen kleinen, aber wichtigen Unterschied hinweisen, den es zu beachten gilt. Wenn in der ZuI-Philosophie des Öfteren davon die Rede ist, dass Zeichen und Interpretationen ‚ihre Zeit‘ haben, dann ist es überaus wichtig, sich über den genauen Sinn solcher Rede klar zu sein. Ich meine mit der genannten Formulierung nicht, dass Zeichen und Interpretationen in ihren semantischen, pragmatischen oder anderen Merkmalen von einem vorfabrizierten Ort ‚in‘ der Zeit abhängig sind. In der Regel wird die Zeit in solcher Rede als das Gefäß oder Koordinatensystem aufgefasst und dann behauptet, Zeichen und Interpretationen kämen an bestimmten und vorab fertigen Zeitstellen vor und hätten in diesem Sinne ‚ihre Zeit‘. Diesem Bild bin ich nicht verpflichtet. Ich halte es für irreführend. Entsprechend bin ich auch nicht einfach der Auffassung, dass die Zeit „la condition très générale de nos interprétations du monde“ (Kap. 10) ist. Ein solches Bild geht letztlich von so etwas wie einer absoluten Zeit im Sinne eines Behälters oder Koordinatensystems von vorab feststehenden Raum-Zeit-Stellen aus. Ein solches Konzept lässt sich jedoch aus einer Reihe von Gründen nicht explizieren. Diese können hier nicht im Einzelnen erörtert werden. Sie alle haben im Kern mit der nicht-hintergehbaren und grundbegrifflichen Relativität der Zeit zu tun, im Unterschied zu einem nicht-explizierbaren Relativismus der Zeit, der in der ZuI-Philosophie erklärtermaßen nicht vertreten wird. Ginge man übrigens von der Annahme aus, dass die ZuI1-Prozessualität einen endlichen Anfang in der Zeit gehabt hätte, so würden wir allen Grund haben, auch von einem endlichen Anfang der Zeit selbst zu sprechen, ebenso wie von deren Ende. Die Zeit selbst (die kein Gegenstand unseres Erkennens sein kann, da sie, wie Kant sich ausdrückt, nicht auf Verstandesbegriffe gebracht und selbst nicht wahrgenommen werden kann) hätte dann sowohl einen Anfang als auch ein
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Ende. Wobei freilich nachdrücklich zu betonen ist, dass dies eine begriffliche Bemerkung, keine physikalische, nicht etwa eine astrophysikalische Bemerkung ist. In der physikalischen Perspektive hätte die Zeit selbst gleichsam einen physikalischen Anfang, einen Anfang in der Physis, etwa im Urknall. Entsprechend wird dann auch ein physikalisches Ende des Universums ebenso wie der Zeit selbst (im Kältetod des Universums) angenommen. Würden sich ZuI1-Prozesse dagegen schon von Unendlichkeit her und auch nach vorn in Unendlichkeit hinein vollziehen, so hätte als Konsequenz dieses Bildes auch die Zeit weder einen Anfang noch ein Ende. Doch wohlgemerkt: keines dieser beiden Bilder (die ich hier nicht weiter analysieren und erörtern möchte) führt zu dem älteren metaphysischen Bild der Zeit als eines Behälters oder absoluten Koordinatensystems, innerhalb dessen sich alle Handlungs- und Erfahrungswirklichkeiten ereignen bzw. zeitigen und welche Zeit dadurch gekennzeichnet wäre, dass sie kontinuierlich verfließt, gleichsam ausläuft und so irgendwann einmal zu ihrem eigenen Ende kommen könnte. Im Zuge der ZuI-These, der zufolge die Interpretativität1 selbst noch hinter die Zeit und Zeitlichkeit greift, wird der Sinn der Rede deutlich, dass Zeichen und Interpretationen ‚ihre Zeit‘ haben. Es geht darum, dass Zeichen und Interpretationen sich prozessual, mithin als zeitlich verfasste Zeichen und Interpretationen manifestieren und sich im Sinne eines sowohl transitiven als auch intransitiven Hervortretens zeitigen. Ich meine die Figur, dass Zeichen und Interpretationen ‚ihre Zeit‘ haben also nicht im Sinne des bekannten Slogans des Alten Testaments und des darin als vorgeordnet gedachten Zeitsystems, innerhalb dessen, wie es dann heißt, alle Dinge ihre Zeit haben. Den ZuI-philosophisch zentralen Punkt kann ich auch wie folgt formulieren: Die Zeit der Interpretation ist die Zeit der Interpretation in dem doppelten Sinne, dass die Interpretation überhaupt erst kraft ihrer zeitlichen Verfassung diejenige Interpretation ist, die sie aktual ist, und dass im Zuge dieser Aktualität der Interpretation auch überhaupt erst die Modi der Zeitbestimmungen (Früher, Später, Zugleichsein; Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) hervortreten. Zeit und Zeitlichkeit werden auf diese schleifenförmige Weise in ihrer internen und notwendigen Beziehung zu den Handlungen des Verwendens und Verstehens von Zeichen und Interpretationen gedacht. Diese Überlegungen zur Rede von ‚ihre Zeit haben‘ treffen mutatis mutandis natürlich auch auf die Rede von ‚ZuI-Philosophie‘ zu. Diese Philosophie hat jetzt und bis auf weiteres, so diagnostiziere ich, ‚ihre Zeit‘, von der ich hoffe, das ihr, bis auf weiteres, auch ein wenig Zukunft zufällt. Ich nenne vier Aspekte zur Stützung dieser Hoffnung. Zunächst (a) rückt die ZuI-Philosophie den grundlegenden Punkt in den Fokus der Aufmerksamkeit und des Selbstverständnisses des Philosophierens, dass
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jedes Welt-, Fremd- und Selbstverständnis/-verhältnis (sei es alltäglicher, wissenschaftlicher, künstlerischer oder anderer Art) als im Kern zeichen-verfasst und interpretations-bestimmt angesehen werden kann. Entsprechend können unsere Handlungs- und Erfahrungswirklichkeiten als ZuI-Wirklichkeiten bzw. als ZuIWelten beschrieben, analysiert und gestaltet werden. Sodann (b) scheint mir genau diese systematische Charakterisierung der triangulären Verhältnisse von Ich-Wir-Welt auch ein Resultat wichtiger Entwicklungen der Geschichte der Philosophie zu verkörpern. Innerhalb dieser Geschichte hat die Frage nach der Rolle von ZuI-Prozessen für unser Welt-, Fremdund Selbstverständnis eine bemerkenswerte Karriere hingelegt und sachlich zunehmend an Relevanz gewonnen, zumal in der Moderne. Freilich meine ich damit, wie ich an vielen Stellen nachdrücklich betont habe, nicht die unter dem Titel der Postmoderne segelnden Relativismen. Schließlich (c) bedeutet der Übergang in die systematische ZuI-Philosophie auch den Versuch, sich der zur Zeit besonders dringlichen Herausforderung des Philosophierens zu stellen, der Frage nämlich: Was es unter den Bedingungen des gegenwärtigen Denkens heißt, die Natur der menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverständnisse zu erkunden und unsere Welt als Welt der Zeichen und Interpretationen zu adressieren? Und was heißt es unter den Bedingungen vielfältiger Fragmentierungen für die Philosophie heute, Hegels berühmte Formulierung aufnehmend, ‚ihre Zeit in Gedanken zu erfassen‘? Für die ZuI-Philosophie stehen beide Herausforderungen und entsprechend auch die möglichen Antworten unter dem Vorzeichen, dass kritisches Philosophieren heute ein Philosophieren nach dem Zusammenbruch der großen metaphysischen Systemphilosophien und nach der Verengung der Themenstellungen in der Analytischen Philosophie (vor allem auf Fragen der logischen Analyse und des wissenschaftlichen Realismus) ist. Schließlich (d) verwende ich des Öfteren (so auch oben) die Zusatzformulierung ‚bis auf weiteres‘. Damit möchte ich eine doppelte Aufforderung verbinden. Zum einen die für jedes Philosophieren selbstverständliche Aufforderung, in kritischer Perspektive die Freiheit des Denkens ohne Wenn und Aber zu praktizieren. Alles andere wäre, wie seit den Anfängen des Philosophierens in der Antike betont wurde, der Tod des Philosophierens, auch der Tod des ZuI-Philosophierens. Zum anderen enthält die ZuI-Philosophie die Aufforderung, explizit nach neuen kritischen und skeptischen Argumenten zu suchen, die auch in der Lage sein können, die gegenwärtige Relevanz der ZuI-Philosophie in Frage zu stellen. Solange ein solcher Nachweis jedoch unter sinnkritischem Vorzeichen nicht gelungen ist, bleibt die ZuI-Philosophie ein ‚bis auf weiteres‘ legitimer Vertreter des kritischen Philosophierens und damit ein Platzhalter einer kritischen
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Vernunft.² Die ZuI-Philosophie schließt sich selbst in den von ihr so sehr in den Fokus gerückten ZuI-Charakter eines jeden Sprechens, Denkens und Handelns ein. Nicht zuletzt auf diesem Selbsteinschluss beruht ein nicht unerheblicher Teil ihrer Leistungsfähigkeit.
3 Subjektive Zeit und Interpretativität In meinen bisherigen Arbeiten zur ZuI-Philosophie habe ich in Sachen Zeit und Zeitlichkeit den Akzent vor allem auf die Frage der oben skizzierten Zeitordnungen unserer Erfahrungswelten gelegt. Die Replik auf den Beitrag von Denis Thouard bietet gute Gelegenheit, näher auch auf das Verhältnis von ZuI-Philosophie und subjektiver Zeit in ihrer überaus hohen Relevanz für unser Leben einzugehen. Unter der subjektiven Zeit verstehe ich dabei den qualitativen, individuellen und gelebten Charakter der menschlichen Zeiterfahrung und Zeitgestaltung. Im Zuge dieser Analysen kann ich auch den beiden Aspekten Rechnung tragen, die in dem Beitrag von Thouard betont werden. Erstens (a) der nicht eliminierbaren Alterität der Zeit (der zufolge die Zustände, Prozesse und Phänomene des Zeiterlebens und der Zeiterfahrung jederzeit auch anders ausfallen könnten, als sie dies in der üblichen Ordnung unserer Erfahrungswelt tun). Aus der oben skizzierten grundlegenden Stellung der Interpretativität1, aus deren Prozessen Zeiterfahrung und Zeitordnung überhaupt erst entstehen, ergibt sich, dass Alterität auch in puncto Zeitorganisation jederzeit gegeben bleibt und nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch offen gehalten wird. Zweitens (b) betont Denis Thouard mit Rückgriff auf den musikalischen Titel des ‚tempo rubato‘ mit Recht den Aspekt, dass Zeit sich durch den doppelten Charakter auszeichnet, sowohl Ordnungen zu stiften als auch Unordnungen auszulösen. „Le temps fait et défait. Il est principe d’ordre non moins que de désordre.“ (Kap. 1) Zunächst möchte ich zu diesem zweiten Aspekt mit zwei Bemerkungen Stellung nehmen. Zum einen (i) sind für mich aufgrund des skizzierten ZuI-Charakters der Zeitordnungen Ordnung und Unordnung („désordre“) zwei nach Art siamesischer Zwillinge zusammenhängende Prozesscharakteristika. Auch Unordnung ist phänomenal wie begrifflich immer schon auf Zeit und Zeitlichkeit bezogen und aus deren Horizont gedacht, ist eben gerade kein zeitfreies und damit intern auch kein
Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Text von Tim Koehne zum Verhältnis des Philosophischen Skeptizismus und der ZuI-Philosophie sowie meine Replik auf Koehnes Beitrag im vorliegenden Band.
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zeichen- und interpretationsfreies Geschehen. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass ich Thouards Perspektive teile, der zufolge selbst noch mit vergangener Zeit sowie mit dem Absinken gegenwärtiger Zeit ins Vergangene (in der Musik zum Beispiel im Verklingen eines expressiven musikalischen Klangs) virtuelle Möglichkeiten zwar abgesunken, nicht aber im Sinne einer metaphysischen Annihilation definitiv gestorben sind. Auch das Vergangene (zum Beispiel die bisherige Lebensgeschichte einer Person oder die zurückliegende Expressivität einer Musikpassage) enthält virtuelle Möglichkeiten, die unter veränderten Bedingungen wieder aktualisiert werden können. In seiner Meditation spricht Thouard dieses Merkmal der Zeit als eine „virtualité inaccomplie“ (Kap. 10) an. Damit sei eine wichtige Dimension der Zeit bezeichnet, die „se soustrait à l’écoulement continue et qui se met comme en réserve“ (ebd.). Diese Virtualitäten „accompagnent toute existence humaine“ (Kap. 11). Mit dieser Vorstellung ist bei Thouard die andere verbunden, dass wir nicht nur auf so etwas wie Der-Einen-Zeit im metaphysischen Singular, sondern vor allem auf einer „pluralité“ und „diversité“ (Kap. 11) von Zeitlichkeiten individueller wie kollektiver ebenso wie unterschiedlich kultureller Art insistieren sollten. Auch dieser Sichtweise schließt sich die ZuI-Philosophie auf ganz selbstverständliche Weise an. Der ZuI-Philosophie zufolge geht es hier darum, die Pluralität und Diversität der Horizonte und Praktiken der ZuI1+2+3-Prozesse in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, zu erweitern und sie zugleich auch gegen drohende eindimensionale, unifizierende und dogmatische Verengungen jedweder Art zu verteidigen (wie zum Beispiel die Annahme, dass monopolistisch allein die physikalisch gemessene Zeit wirkliche Zeit sei). Bestandteil der skizzierten Sichtweise ist auch, die sich im Markieren der ZuIAbhängigkeit von Zeit und Zeitlichkeit zugleich manifestierende Widerständigkeit der Zeit („la résistance du temps“ (Kap. 11)) mit im Spiel zu halten. Die Widerständigkeit besteht darin, dass Zeit und Zeitlichkeit sich weder in Verstandesbegriffe noch in ein für allemal feststehende Phänomene und Zustände zwingen lassen. Doch meint dies, es sei erneut betont, nicht eine externe Realität der Zeit. Vielmehr wird auch in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit schlicht auf die den ZuI1+2+3-Prozessen selbst stets bereits innewohnenden Widerständigkeiten gelenkt. Diese manifestieren sich (im ZuI-Modell gesprochen) des näheren darin, dass sie sich dem (auf der theoretisierenden Ebene 3 der ZuI-Verhältnisse angesiedelten) intellektuellen und positivierenden Zugriff auf eigentümliche Weise entziehen (also keine ZuI3 in Sachen Zeit behaupten könnten, sie erfassten alles, was es in puncto Zeit überhaupt zu erfassen gäbe). Die Widerständigkeiten der Zeit ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass die ZuI1+2+3-Prozesse sowohl für unsere Erfahrungswirklichkeiten als auch für unser existenzielles Zeiterleben basal, konditional und unverzichtbar sind. Denn, es sei wiederholt, ohne die
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ZuI1+2+3-Prozesse gäbe es gar keine individuierte Erfahrung, keine individuierte Welt und keine individuierten Handlungen und eben auch keine Zeit und Zeitlichkeit. Zum anderen (ii) möchte ich in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit auch auf eine Frage lenken, die Denis Thouard nicht anspricht, die mir aber im Blick auf die existenzielle Rolle der gelebten Zeit für unser Leben, zumal für unser psychisches Leben, von hoher Relevanz scheint. Was in uns will eigentlich auf Ordnung und nicht auf Unordnung hinaus? Warum geben wir in der Regel der zeitlichen Geordnetheit einen Vorrang vor Unordnung und Ungewissheit? Diese Frage und ihre Beantwortung sind auch deshalb so relevant, weil die Grundverfassung unserer Wirklichkeiten gerade nicht durch eine metaphysische Wohlgeordnetheit, sondern durch primordiale Ungewissheiten (uncertainties), nicht durch das ausgezeichnet ist, was Nietzsche den ‚metaphysischen Comfort‘ genannt hatte. Diese Fragen möchte ich hier lediglich aufrufen, jedoch nicht näher verfolgen. Gleichwohl gehören sie auch zum Hintergrund der folgenden Überlegungen zur subjektiven Zeit. Mit der Rede von subjektiver (des näheren qualitativer, individueller, erlebter und gelebter) Zeit seien für unsere Zwecke einfach diejenigen Zeit-erfahrungen und -erlebnisse adressiert, die im Subjekt bzw. in der Subjektivität fundiert sind. Hinzugefügt sei von vornherein, dass solche Subjektivität (aufgrund der öffentlichen Natur der ZuI-Verhältnisse) stets bereits zugleich auf Intersubjektivität, d. h. auf die konstitutive Einbeziehung anderer Personen im Triangel von Ich, Wir und Welt bezogen ist. In der Rede von der subjektiven Zeit spielen im Folgenden daher Komponenten eine Rolle wie zum Beispiel die Welt-, Fremd- und Selbstaffektion oder das direkte innere Zeiterleben und auch der bereits von Kant betonte wichtige Punkt, dass im Zuge der Beobachtung der inneren Zustände sich diese selbst verändern. In der Sprache Kants geht es hier um die Prozesse des ‚inneren Sinns‘, als dessen Form Kant die Zeit ausgezeichnet hat. In der Sprache Husserls geht es um die Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. In beiden Sichtweisen und Vokabularen sowie in beiden methodischen Zugriffen (dem transzendentalphilosophischen wie dem phänomenologischen) und im Blick auf die in diesen adressierten Phänomene, Zustände und Prozesse handelt es sich aus meiner Sicht um ZuI-Verhältnisse. Aus diesen ZuI-Verhältnissen heraus und auf sie hin können, so die These, die subjektiven Zeitstrukturen in ihrer Genese ebenso wie in ihrer lebensweltlichen und existenziellen Funktion verständlich gemacht werden. Mithin verstehe ich sowohl Kants als auch Husserls Welten erklärtermaßen als ZuI-Welten. Im Blick auf Kant bezieht sich dieser Befund auf die Welten des Wechsels und Wandels der Vorstellungen und Erscheinungen im inneren Sinn, mit der Zeit als deren konstitutiver Form der Anschauung. Im Blick auf Husserl
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bezieht sich dieser Befund auf die (von ihm am Beispiel des Hörens einer Melodie verdeutlichten) Welten des inneren Zeitbewusstseins und deren durch Protention (Vorgreifen), Präsentation (augenblicklicher Eindruck) und Retention (Festhalten im Verklingen) charakterisierten Aktivitäten der Organisation innerer zeitlicher Erfahrung. Dabei verstehe ich Husserls so schönen und trefflichen Ausdruck der ‚passiven Synthesis‘ als einen Grenzwert von Aktivität. Somit manifestiert sich der ZuI-Charakter der von Husserl beschriebenen Prozesse selbst noch bis ins passivisch mir Widerfahrende subjektiver Zeiterlebnisse. Wichtig ist der ZuI-Philosophie bei alledem zu betonen, dass auch in der inneren subjektiven Zeiterfahrung Zeit nicht einfach vorfabriziert fertig daliegt und im Zeiterleben bloß vorgefunden wird.Vielmehr ist zu betonen, dass Zeit und Zeitlichkeit überhaupt erst mit, durch und kraft der als zeichen-interpretativ charakterisierten Aktivitäten als die bestimmten und individuierten Zeitzustände eintreten und sich in diesem Sinne auch selbst erst zeitigen. Als solche Aktivitäten hatte ich auch im Blick auf die objektive Zeit bereits angeführt: das Unterscheiden, das Markieren von Differenzen, Grenzen, Schnitten, Negationen, Brüchen und Diskontinuitäten sowie das Schaffen von Relationen, Kohärenzen und Affektionen. Ohne solche subjektiven ZuI-Handlungen und ZuI-Synthesen hätten wir es gar nicht mit bestimmten und individuierten subjektiven Zeiterlebnissen zu tun. Und ohne diese ZuI-Verhältnisse hätten wir es eben auch nicht mit den fragilen Zeitgeflechten und den im Sinne der Alterität jederzeit möglichen und lebensweltlich sowie existenziell oftmals so folgenreichen Störungen, Diskontinuitäten, Brüchen, Dissonanzen und auch nicht mit den bis dato nicht bemerkten, dann aber jäh und plötzlich aufbrechenden Inkohärenzen und Unordnungen zu tun. Wie ich an vielen Stellen betont habe, sind für die ZuI-Philosophie Störungen besonders aufschlussreiche Ereignisse. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf das, was bislang so selbstverständlich, fraglos, flüssig und anschlussfähig funktioniert hat. Und das Selbstverständliche ist das, was wir so schwer verstehen, weil, mit dem Bild Wittgensteins gesprochen, es uns so nah vor Augen liegt, dass wir es nicht sehen. Zugleich lenken Störungen die Aufmerksamkeit darauf, dass wir – dem Humanitätsprinzip der ZuI-Philosophie entsprechend – in der Philosophie und vor allem auch in der Psychologie und Psychiatrie daran interessiert sind, den betroffenen Personen oder Gruppen Instrumente an die Hand zu geben, mit deren Hilfe die Störfälle beseitigt, d. h. unsere Welt-, Fremd- und Selbstvollzüge in den triangulären Ich-Wir-Welt-Verhältnissen erneut flüssig funktionieren und fortgesetzt werden können. In Bezug auf die subjektiven und intersubjektiven Zeitstrukturen sind es nicht zuletzt die Störfälle (wie z. B. plötzlich und unverhofft eintretende Ereignisse, etwa ein Unfall) die uns überhaupt erst in eine Positionierung nötigen, in der nach einem zeitlichen Früher, Später, Gleichzeitig und Zukünftig unterschieden wird.
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Und ganz offenkundig kann dann natürlich auch jeder Versuch, die unterschiedenen Zeitmodi zu einer einheitlichen Zeiterfahrung zusammenzujochen, als eine ZuI-Operation angesprochen werden. An der Einheit der Zeiterfahrung sind wir als lebendige Personen schon allein aus identitäts-sicherndem Interesse ebenso vital interessiert wie als kognitive Subjekte an der Kohärenz unserer zeitlich strukturieren Erfahrungswelt. Am risikobereitesten und experimentellsten sind wir hinsichtlich der Einheit der Zeit als ästhetische Subjekte. Hier ist die Risikobereitschaft in puncto ZuIErlebniswelten stärker ausgeprägt als in unseren alltäglichen und dann vor allem in unseren methodisch geregelten wissenschaftlichen Aktivitäten. Aber machen wir uns gleichwohl nichts vor: Unsere alltäglichen Praktiken ebenso wie unsere wissenschaftlichen Strategien können durchaus als Reaktionen auf die basalen Unsicherheiten, Ungewissheiten und Uncertainties verstanden werden. Das jedenfalls ist die Sicht der ZuI-Philosophie. Sein Leben zu führen heißt in ZuIphilosophischer Hinsicht auch, eine, wie Goethe so trefflich formulierte, Form gegenüber drohender Diffundierung im Herakliteischen Fluss aller Dinge zu verteidigen, auch gegenüber der mitunter (und vor allem dann, wenn sich unser Leben nicht mehr als ein, mit Nietzsche gesprochen, aus sich selbst heraus rollendes Rad vollzieht) als unerbittlich empfundenen Zeit. Wenn das Erleben subjektiver Zeitstrukturen im Leben einer Person nicht mehr flüssig und anschlussfähig gegeben ist, dann haben wir es mit Störungen (Diskontinuitäten, Brüchen, Turbulenzen, Orientierungslosigkeiten) in dem so entscheidenden triangulären Geflecht der Ich-Wir-Welt-Beziehungen zu tun. Solche Störungen können sehr unterschiedliche Hinsichten betreffen und sehr unterschiedliche Konsequenzen nach sich ziehen. Es können (inner-subjektive sowie inter-subjektive) Störungen eintreten etwa in bislang fraglos und selbstverständlich vollzogene Handlungen, im Erlebnis- und Bewusstseinsstrom, in puncto Orientierung, in Gewohnheiten, in Habitualisierungen, in sinnbezogenen, praktischen, ethischen oder ästhetischen Einstellungen. Es scheint mir auf der Hand zu liegen, dass die angeführten und hier ZuIphilosophisch beschriebenen Störungen auch gut zusammengehen mit der Beschreibung, die in der Psychologie und Psychiatrie von psychischen und psychiatrischen Erkrankungen anzutreffen ist. Diese Verbindung gilt aus meiner Sicht insbesondere im Blick auf die phänomenologische Psychiatrie, wie diese gegenwärtig vor allem von Thomas Fuchs und in der jüngeren Vergangenheit von einer Reihe von Psychologen und Psychiatern wie etwa auch von Wolfgang Blankenburg vertreten wird. Blankenburg zum Beispiel hat die psychische Erkrankung der Schizophrenie in seinem Buch Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeiten (Blankenburg 1971) auf eine Weise thematisiert, die ich für sehr verbindungsfähig mit dem ZuI-philosophischen Ansatz halte. Thomas Fuchs hat
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unter anderem in dem Aufsatz ‚Psychopathologie der subjektiven und intersubjektiven Zeitlichkeit‘ psychische Erkrankungen auf sehr aufschlussreiche Weise im Rahmen dessen erörtert, was er „Zeitpsychopathologie“ nennt (vgl. Fuchs 2014: 128). Hier scheint mir ein überaus fruchtbarer und zukunftsfähiger Verbindungspunkt von ZuI-Philosophie und phänomenologischer Psychiatrie zu liegen, den ich gern auch in einem eigenen Forschungsprojekt vertiefen möchte. Aus Sicht der ZuI-Philosophie ginge es unter anderem darum, mit Rekurs auf die (subjektiven und intersubjektiven) ZuI-Zeitstrukturen und ZuI-Selbstverständlichkeiten die Idee des gelingenden Lebens als flüssige und anschlussfähige Vollzüge unserer Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse in den Fokus der Betrachtung zu rücken, zu beschreiben, zu analysieren und sich im Falle von signifikanten Störungen im Sinne des ZuI-Prinzips der Humanität auch an der Beseitigung von Störungen zu beteiligen. (Zur Kooperation von ZuI-Philosophie und Psychiatrie vgl. auch meine Replik auf Hinderk Emrichs Beitrag im vorliegenden Band, wo neben dem 3-Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse auch das epistemologische Modell des flüssigen Zusammenspiels unterschiedlicher Wissensformen in diesen möglichen Dialog von Philosophie und Psychiatrie eingebracht wird.)
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Blankenburg, Wolfgang 1971: Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit – Ein Beitrag zur Psychopathologie symptomarmer Schizophrenien, 2. Aufl. 2012, Berlin. Fuchs, Thomas 2014: Psychopathologie der subjektiven und intersubjektiven Zeitlichkeit, in: Fuchs, Thomas / Breyer, Thiemo / Micali, Stefano / Wandruszka, Boris (Hg.): Das leidende Subjekt: Phänomenologie als Wissenschaft der Psyche, Freiburg, S. 128 – 163.
Kapitel 6: Wissensformen
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The Epistemic Normativity of Knowing-How Abstract: Knowing how to ride a bicycle, prove a theorem, tie a necktie, or play chess is, at least in part, an epistemic accomplishment. It is some sort of knowing. Abel (2012) argues that knowing how is irreducible to knowing that. No collection of knowings-that, however extensive, enables a person to play chess. I agree. He concludes that knowing how is therefore inscrutable. I argue that knowing how is akin to Aristotelian virtue – a matter of having a propensity to do the right thing at the right time for the right reason. The norm of the practice has been internalized, becoming second nature. I argue that rather than conforming to expressly stated rules, we model our behavior on exemplars – publicly available instances that manifest the features we seek to emulate. Since the exemplars are public, knowing-how is scrutable.
Knowing how to ride a bicycle, prove a theorem, tie a necktie, or play chess is, at least in part, an epistemic accomplishment. It is some sort of knowing. In Knowing-How: Indispensable but Inscrutable, Günter Abel argues that knowing how is irreducible to knowing that. No collection of knowings-that, however extensive, enables a person to play chess. But so long as he has the fine motor control to manipulate the pieces, if he knows how, he can play chess (Abel 2012). I agree. Abel’s concerns in that paper are to distinguish knowing how from knowing that and to argue that knowing how must underlie knowing that. He acknowledges but does not discuss the difference between the epistemic norms of knowing how and those of knowing that. Here I explore the epistemic norms of knowing how. I argue that although knowing how does not reduce to propositional knowledge, it is not inscrutable, for inquiring into the truth values of propositions is not our only way of scrutinizing. My discussion concerns Abel’s Knowing How exclusively. I cannot here attempt to do justice to the full theory of interpretation that he has developed over the course of his career.
1 Habits and Dispositions Even asking about norms of knowing how might seem out of place. If Jon knows how to ride a bicycle, he has a cluster of habits and dispositions that enable him to reliably ride a bicycle – the capacity to peddle, steer, keep his balance, maneuver in traffic, accommodate himself to rough terrain, and so forth. Perhaps https://doi.org/10.1515/9783110522280-026
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knowing how is simply a matter of dispositions or habits. To evaluate this suggestion, we need to draw some distinctions. A disposition is not just an ability. If Sam has the ability to speak French, he can speak French. But that ability might be one he exercises only under duress. If, on the other hand, he is disposed to speak French, he is prone to speak French on suitable occasions. A disposition is a readiness or propensity to behave or respond in certain ways in certain circumstances. Objects as well as agents have dispositions. Malleability is a disposition to deform under compression; brittleness, a disposition to shatter when sharply struck. Optimism is a disposition to expect things to work out well; pessimism a disposition to expect them to work out badly. The propensities that qualify as dispositions need not inevitably lead to the behavior in question. Salt has the disposition of solubility even though it will not dissolve in a solution that is already salt saturated. Dispositions give rise to behavior only ceteris paribus. Material objects can acquire dispositions, but they do not form habits. Although plastic becomes brittle with age, it does not acquire the habit of brittleness. Only agents form habits; and the habits they form are to some extent under their control. Procrastination is the habit of postponing tedious or unpleasant tasks; promptness, the habit of being on time. A habit evidently is an acquired disposition of an agent. It is a disposition that she need not have acquired and one that she is to some extent responsible for having as well as for exercising. Ryle (1949) contends that knowing how is entirely a matter of habits and dispositions. To know how to ride a bicycle, he believes, is just to be disposed to behave (or to be in the habit of behaving) in certain ways while astride a bicycle. Obviously knowing how to ride a bicycle does not consist in a disposition to engage in a single specific behavior. Knowing how to ride a bicycle is not like a propensity to dissolve in water or to shatter when struck. Ryle construes knowing how to do something as a multi-track disposition, “consisting of more or less dissimilar exercises” (Ryle 1949: 56). Knowing how, he believes, is a propensity to perform any of a variety of systematically linked but distinct acts in a range of diverse but not wholly unanticipated circumstances. Since circumstances vary, sensitivity to circumstances gives rise to a cluster of available responses. A standard objection to Ryle is that his theory of mind is excessively behaviorist. He explicates virtually every mental predicate as a disposition to overtly behave somehow or other (Carr 1979). But we need not accept Ryle’s entire theory of mind to accept (or adapt) his explication of knowing how. Nor need we hold that all the habits and dispositions involved in knowing how are habits and dispositions to overt behavior. A dispositional account can recognize that knowing how often involves dispositions not only to behave, but also to think, notice,
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infer and/or feel; to ignore, marginalize, emphasize, and/or find salient. To construe knowing how dispositionally is to characterize it in terms of propensities, or readinesses, or reluctances to do various things in various circumstances. It may involve propensities to think certain things, to represent things mentally in certain ways, to feel certain emotions, and to refrain from thinking, representing or feeling others. No commitment to behaviorism is required for a dispositional account of knowing how. Whether or not Ryle is correct to identify knowing how to do something with a multi-track disposition, knowing how clearly involves multi-track habits and dispositions. A person does not know how to ride a bicycle unless she is disposed to peddle, steer, and keep her balance on a bike. And in different circumstances (when the surface is slippery, in traffic, on steep hills, over rough terrain, etc.) different fine-grained behaviors are required to peddle, steer, keep one’s balance, and so forth. Even so, knowing how is not a mere multi-track disposition. Knowing how is an achievement. It involves doing something well, or rightly, or correctly. An adequate explication should do justice to this normative character. Some habits are bad; some are neutral. Some dispositions are benign; some lead us astray. If a tennis player habitually steps on the base line while serving, he does not know how to serve. If he habitually wipes his brow before serving, that habit is irrelevant to whether he knows how to serve. If he is disposed to hit the ball into the net, he does not know how to serve. If, on the other hand, he reliably serves into to the diagonally opposite square, rarely double faults, and occasionally aces, he knows how to serve. What is missing from Ryle’s account is the normative element. But what sort of normativity is at issue here? Abel characterizes knowing how as rule-following: actions take place within practices; and the rules of the practices supply the norms that govern the actions those practices embed. Whereas bad habits and dispositions are propensities to flout relevant rules, and neutral habits and dispositions are uninfluenced by the rules, knowing how consists in a propensity to follow the rules. If Jim knows how to play chess, his chess playing behavior typically follows the rules of chess. If Jane knows how to play tennis, her tennis playing behavior typically follows the rules of tennis. This seems almost trivial. But it raises a number of questions. One is whether all knowing how is a matter of following the rules of a practice. Games like tennis and chess are plainly rule-governed. So are practices like standing on line and paying one’s taxes. Participants have a pretty good idea what the rules are and what it is to follow them. Because Abel believes all human behavior is embedded in practices, it is unsurprising that he takes the rule-following formula to apply generally.
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But even if Abel is right about the ubiquity of practice, it is not clear that all knowing how is keyed to the norms of a practice. Consider knowing how to swim (by which I mean no more than to propel oneself through deep water so as not to drown). Dogs know how to swim. They do not follow the rules of a practice. Why should we think that our basic ability to propel ourselves through water is different from a dog’s? If a child learned to swim by mimicking the motions of her dog, would we say that she did not know how to swim? Or consider tying a necktie. (This is Abel’s example). Suppose someone regularly engages in a variety of deviant contortions that reliably result in a perfect Windsor knot. Should we say that he does not know how to tie the necktie simply because he fails to follow the rules for necktie tying that are canonical in his society? Or should we say, “If it works, it works”? Whether or not they take place within a practice, some actions seem straightforwardly consequentialist. The standard for performing them correctly seems to be no more than reliably producing the desired result. For such actions, evidently, the end justifies the means. Beyond the rules that govern all actions within a given practice (such as “don’t kill anyone while doing it”), the rationale for the motions that constitute a straightforwardly consequentialist action seems to be justified by the ends they seek to promote, not by rules of the practices (if any) they belong to. It is not obvious then that knowing how to perform straightforwardly consequentialist actions is properly explicated as rule-following.
2 The Roles of Rules A practice is a form of activity specified by rules or conventions which define offices, roles, moves, penalties, defenses, and the like, where those rules or conventions give the activity its structure. (Rawls 1999: 20) Practices are plainly rule-governed. The rules may be codified, as the laws of a state and the rules of games typically are; or they may be uncodified, as the conventions about standing on line or shaking hands are. Often, they are partly codified. Rules typically govern against a background of tacitly assumed conventions. (For example, although this is nowhere specifically stated, a team that is losing a football match ought not phone in a bomb-threat to get the game canceled.) Regulative rules govern activities within a practice. They can be obeyed or flouted. The rule that a player must remain behind the base line while serving is a regulative rule of tennis. Constitutive rules play a more fundamental role. They structure the practice, making certain sorts of action possible. Outside tennis, there is no such thing as double fault; outside chess, no such thing as castling. Only in the context of the games do certain behaviors qualify as actions of
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these kinds. The constitutive rules specify what it takes to instantiate categories the practice defines. Some constitutive rules set parameters: a chess board is to consist of 64 squares, eight rows and eight columns in alternating colors. Others define objectives: the goal of chess is checkmate – capturing the opponent’s king. Yet others define roles within the practice: a bishop can move any number of squares along any diagonal; it is not permitted to move vertically or horizontally. Constitutive rules set the criteria for performing the actions that the practice defines. They make it possible to move a rook rather than just displace a piece of wood; to hit a home run rather than just smack a spherical object; to keep a promise rather than just do what you predicted you would do. Such rules define positions (rook, second baseman, administrative judge), and set out their distinctive functions and responsibilities. They specify constraints that participants playing the different roles are to follow, and the ranges of opportunity open to them. By prescribing the rules of correct play, the rules make it possible to play incorrectly. They constitute a context within which errors can be committed and corrected, excuses and defenses offered, conduct rewarded or punished. Outside tennis, there is no such thing as a double fault. No matter where the balls land, that error is impossible unless one is playing the game. Nor, outside the game, can someone hit an ace. Only within the game are certain sorts of excellences and incompetences possible. Constitutive rules make it possible to devise strategies, tactics, and rules of thumb. The constitutive rules of chess endow different pieces with different powers. In light of them it is a good idea, should the opportunity arise, to capture the opposing queen. Refraining from capturing the queen when in a position to do so is not a failure to follow the rules. But it is apt to be a poor move. Constitutive rules frame activities, thereby creating opportunities and incentives. They do not mandate capitalizing on those opportunities or availing oneself of those incentives. Constitutive rules are normative, not (or not primarily) descriptive. They may determine the telos of the practice – the goals toward which it aims. The constitutive rules of a game determine what it takes to win. Those of a tax code determine how to calculate what you owe. If the rules were descriptive regularities, they would simply characterize what is typically done. But even if most people pay the taxes they owe and most tennis players serve from behind the baseline, such an interpretation would misconstrue the function of the rules. They retain their force even when flouted. No matter how many people fail to pay the taxes they owe, such behavior is an infraction. No matter how many tennis players step on the baseline while serving, a foot fault is a mistake (Elgin 1996).
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3 Rule-Following What is it to follow a rule? A seemingly plausible answer is that to follow a rule is to intentionally regulate one’s behavior by reference to the rule. The novice chess player mutters to herself, “The bishop moves diagonally”, then moves her bishop along a diagonal. As a general account, this will not do. First, it apparently sets off an infinite regress. If language is itself a rule-governed practice, the novice would have to invoke rules for interpreting her muttering, and rules for interpreting those rules, and so forth. We cannot do this indefinitely. Nor can we plausibly maintain that there is a self-interpreting level of discourse where the regress ends. Second, it is no accident that my example concerns what a novice chess player might do. An experienced player – someone who knows how to play chess – does no such thing. In Wittgenstein’s terms, she acts blindly. (Wittgenstein 1953: § 219) Although she may deliberate about strategy and tactics, she has so internalized the rules governing ways the various pieces can move, that they have become second nature to her. For her, to be a chess bishop is to be able to move only along a diagonal. Once she recognizes a chess piece as a bishop, how it can move is settled. No inference need be drawn, no rules consulted. The capacity to act blindly while being subject to norms requires an explanation. Abel distinguishes between rules, which evidently govern from the outside, and regularities which are internal to the practices themselves. He says, “The rule-following characteristic of knowing-how is internal to the practices themselves. It cannot be described as a criteria-governed application of external rules” (Abel 2012: 254). He goes on to say, “the practice-internal regularity of […] executions is absorbed and incorporated. It becomes quasi-organic and organizes experience.” (Abel 2012: 255) More needs to be said. For not all regularities – indeed not all quasi-organic regularities – constitute knowing how. Nor are they all matters of habit, disposition, or skill. Not every ability required to participate in a practice is a matter of knowing how. Speaking requires the ability to breathe. Anyone who cannot breathe cannot speak. But we do not say that ordinary speakers know how to breathe. Normal, healthy terrestrial animals breathe automatically. Nor is every acquired ability of participants in a practice an instance of knowing how. Some acquired abilities are products of normal development. At around the age of two, children start to walk. If Piaget is right, they proceed stepwise to recognize the conservation of magnitudes under various transformations. Once they have crossed a threshold, they can do things they could not previously do, and can participate in practices that require the ability to do those things. But the regularities they
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exhibit are, arguably at least, not matters of knowing how. They are regularities acquired in the process of normal human development. They are aptitudes that normal members of our species after a certain age display. Unlike tying a necktie or riding a bicycle, they are not learned. But, Abel says, “the skills and capabilities [that qualify as knowings how] need to be learned and practiced” (2012: 255). If knowing how is internally related to learning how, then regularities that are not products of learning how are not instances of knowing how. Finally, there are normatively neutral behavioral regularities. Suppose Mike regularly opens doors with his right hand. This is a behavioral regularity; whenever he goes to open a door, he uses his right hand unless it is very inconvenient to do so. But if no rules or conventions constrain the choice, we would not think that his favoring one hand over the other is a matter of knowing how. He would know just as well how to open a door if he standardly did it with his left hand or alternated hands to suit his convenience. Moreover, this would be so even if most members of his society typically open doors with their right hands. So long as there is no pressure to conform, door opening behavior is not answerable to a norm about which hand to use. The few left-handed door openers know equally well how to open doors. Behavioral regularities that are not constrained by norms seem not to be candidates for knowing how. Breathing is automatic; the ability to walk is automatically developed. Opening doors with one hand or the other is arbitrary. Where we speak of abilities, capacities or competences as knowings how, it seems, we recognize that they are acquired, that they might fail to be acquired, perhaps that learning is involved in their acquisition, and that they are subject to normative assessment. But if, as Wittgenstein and Abel maintain, we act blindly when we exercise know how, what role do the norms play? We evidently do not consult them or intentionally regulate our behavior by reference to them. Once we know how to do something, doing it in appropriate circumstances is second nature to us. It might seem then that knowing how is simply a matter of automatically, unthinkingly behaving in accord with the norms of a practice. This will not do. For knowing how is sensitive to why we automatically, unthinkingly behave as we do. Consider the following case: Except in New York City, drivers in the US are permitted to turn right at a red light unless “No Turn on Red” is posted at the intersection. In New York City, right turns on red are never permitted. Drivers from out of town tend to be unaware that New York is an exception to the general rule. Suppose Meg, a denizen of Kansas, is driving in New York. Unsurprisingly she finds the experience harrowing. She stops at every red light, not because she is aware of or sensitive to the law, but because she considers New York drivers and pedestrians reckless and wildly
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unpredictable. She considers it safer to proceed only when the light is green. She acts in accord with the law, but not on account of it. The regularity in her behavior is not an instance of following the traffic law. Although it may be an instance of knowing how to drive safely, it is not an instance of knowing how to drive legally in New York. Acting in accord with the law is not the same as acting on account of the law (see Kant 1785). And only acting on account of the law qualifies as knowing how.
4 Virtue Again we face the tension: On the one hand, knowing how to follow the rules of a practice seems to require us to be cognizant of those rules; on the other, we act blindly. How is it possible to do both? Here it pays to turn to Aristotle. The virtuous person, Aristotle says, does the right thing, in the right way, at the right time, for the right reason; and he does so from a firm and stable character (Aristotle 1985: NE II, 1105 a 30). But he does not, and need not, deliberate about what to do. He need not even be conscious or expressly aware of why he does what he does. For being virtuous, he has internalized the rules. Doing the right thing in the right way, at the right time, for the right reason has become second nature to him. Aristotle likens virtues to crafts (NE II, 1103 b). Anything that can be done can be done well or badly. And to do something well – not accidentally, but as a result of a stable, acquired disposition – is to do it with a trait that is, or is at least analogous to, a virtue. A good harp player knows how to play the harp and normally displays that knowledge when playing the harp; a good builder knows how to build well and normally displays that knowledge when building. I suggest that, being sensitive to norms, Abel’s regularities are closely analogous to Aristotelian virtues. Although Aristotle restricts the term ‘virtue’ to characteristics that make the actions of certain agents morally or intellectually good, I shall use it in a broader sense. Virtues are what make the actions of certain agents (those who standardly do the right things in the right way at the right time for the right reasons), good of their kind. The virtues integral to a practice are various, and some are matters of degree. The propensity to follow the rules of chess at all is real, but minimal virtue in a chess player. The propensity to devise and execute complicated strategies effectively is a greater chess playing virtue, for it makes one a better chess player. What are rules for the novice become virtues when they are internalized so that they automatically, unthinkingly guide practice. The attractive element in Ryle’s account of multi-track dispositions is that it accommodates sensitivity
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to circumstances. What Abel and Aristotle add is that the sensitivity in question is not just to the physical, material, or sociological circumstances, but also to the normative circumstances. Human behavior is circumscribed by norms. To be duly sensitive to circumstances involves being sensitive to the norms of the practices one takes part in. Such sensitivity is a part of knowing how to participate in those practices, for the norms govern what may be done, what must be done, and what must not be done within the practice. If this sensitivity has become second nature, we need not deliberate, and may not be able to articulate the norms that constrain and guide us. Still, our behavior is responsive to those norms. Dispositions have a counterfactual dimension. To ascribe a disposition is to indicate something not only about what does happen, but also about what would happen had circumstances been different. The glass that never is struck and never breaks nonetheless has the disposition of brittleness if it would break if it were struck. Similarly, I suggest for dispositions that involve norms. Someone who has internalized the rules of the road automatically and unthinkingly follows them. She does the right thing. But given that her behavior is automatic, what makes it the case that she does it for the right reason? The answer depends on what counterfactuals are true of her. Meg is not only ignorant of the law pertaining to right turns in New York, she is also indifferent to it. She would not turn right on red in New York no matter what the law said. Although Mark, like Meg, stops at every red light in the city, he would often turn right on red if the law allowed. His driving behavior is constrained by the law in a way that hers is not. His propensity to modulate driving to the local laws is evidence that he knows how to drive in New York. His disposition is, as hers is not, sensitive to the normative structure of the New York City traffic laws. Displaying that sensitivity constitutes acting for the right reason. Internalizing the norms of a practice does not just engender a disposition to behave, but a normative disposition – a disposition to hold oneself accountable. Someone who has internalized the norms of a practice considers herself subject to criticism if she violates those norms. She may flinch, or blush, or correct herself, or glance furtively around to see if anyone noticed. She may resolve to do better next time. She may also consider herself entitled to disapprove of, criticize or correct other participants in the practice who violate its norms, and perhaps to praise or admire those who observe the norms. A fluent speaker of a language typically follows its grammatical rules automatically. She may be unable to articulate the rules she follows. She may even harbor doubts about the correctness of the rules a knowledgeable grammarian proposes. When asked what is wrong with a particular construction, she might have nothing more helpful to say than that it sounds funny. This is surely an instance of following the rules blindly. But a fluent speaker is not a flawless speak-
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er. Occasionally she says something odd. Some odd utterances are simply unexpected. In a discussion of reverberations, a speaker says, “A duck’s quack does not echo”. Although her claim is surprising, there is nothing untoward about her utterance. Not considering it problematic, she is not embarrassed about having uttered it, and is not inclined to correct it. Nor are other speakers of the language apt to take her to task. Other utterances are factually incorrect. These may go uncorrected because the speaker is unaware of the error. If she realizes her error, she is likely to rescind or correct her claim. But to become aware she needs either to acquire new information or to be reminded about information she already has. Then she admits, “I was wrong to say that Peoria is in Indiana; it is in Illinois”. Her correction has a different semantic content from her original claim. Yet other utterances are grammatically flawed. Here, the error may be obvious to the speaker as soon as the words leave her mouth. Perhaps she says, “The data demonstrates that the ice caps are melting.” She immediately recognizes that ‘data’ is a plural noun and requires a plural verb. The correction she makes is to simply change the verb form. The substantive semantic content of the claim remains the same. If she fails to recognize her error, other speakers – even those who know nothing about what the data are or show – can correct her mistake. The recognition of a need for correction shows that the agent takes herself to be answerable to a norm. The kind of correction she makes indicates what norm she takes herself to be accountable to. What may be articulable as the rules and conventions that, from the outside, constitute an agent’s rule-following behavior, function as quasi-Aristotelian virtues in the agent’s own sense of what he is doing. Once he knows how to play chess, ride a bicycle, tie a necktie, or speak grammatically, he does the right things at the right times for the right reasons, and does so from a steady disposition. The regularities that characterize his behavior have become second nature. And the right reasons are internalized norms. Abel maintains that knowing how is more fundamental than knowing that. If so, the model provided by the novice chess player is misleading. She internalized antecedently articulated rules. And she was expressly aware of the rules before she internalizes them. To be sure, this sometimes happens. But, Abel maintains, often no articulated rules are available. A speaker learns her native language by being brought up in a community where it is spoken. She models her utterances on those of other speakers, and subjects her linguistic behavior to correction from them. She counts as fluent when, in the opinion of her compatriots, she speaks like a native. That is all it takes. The process can occur without explicit instruction in the rules of grammar. Indeed, it could occur in a linguistic community whose grammar had never been codified. Unlike chess, where the constitutive rules are prior to the practice, grammatical rules precipitate out
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of the practice. What makes a construction grammatical is that fluent speakers treat it as such. They understand it and do not think it needs correction. Rather than saying that the language learner internalizes the rules, it would be more accurate to say that the linguist externalizes the linguistic virtues of competent speakers. This sheds light on how to resolve Wittgenstein’s worry about rule-following (Wittgenstein 1953; Kripke 1982). Ginsborg, like Abel, recognizes that not all norms are reducible to rules (Ginsborg 2010). To evade the skeptical puzzle Kripke identifies as arising from the absence of rules, she argues that some norms are primitive. When asked what comes next in a series, or what the sum of 68 and 57 is, she maintains, there is an answer that we primitively ought to give. That answer is right: other answers are wrong. This is so even though it is possible to articulate a rule that a ‘deviant’ answer would conform to. Ginsborg characterizes primitive normativity negatively. It is “normativity which does not depend on conformity to an antecedently recognized rule” (Ginsborg 2010: 233). She evidently assumes that either normativity is grounded in rules or it is sui generis. If there are virtues that are not the internalization of antecedently recognized rules, they are, on her view, primitively normative. We ought to act on them, but there is just no saying why. This seems wrong. Even if, for example, there is no way to state precisely what proper intonation is, so no way to give content to the requirement that bassoonists should play with proper intonation, it seems plain that proper intonation is a musical virtue. It is not, however, primitive. What makes it a virtue is the way it figures in good musical practice. Knowing how to play a wind instrument involves knowing how to play with proper intonation, because without proper intonation one cannot play well. Some actions, I suggested earlier, are straightforwardly consequentialist. Their success is determined by their outcomes. What makes the behavior of an agent who knows how to perform such an action virtuous is that that behavior stems from a steady disposition to reliably produce the desired outcome. Practice-based virtues require a different explanation. In my academic building, when the stairs are crowded, people walk on the right. Nothing favors walking on the right over walking on the left. But safety and efficiency favor having everyone going the same direction walk on the same side of the staircase. A simple practice has emerged that achieves that end. Because that practice is in effect, habitually walking on the right is a virtue. Those who know how to participate in the practice unthinkingly stay to the right, and are apt to glower at those who walk on the left. Practices that promote goods thus endow component actions with normative status. Rather than holding that there is just no saying what makes walking on the right normatively correct, we can first explain what makes
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the practice good and then explain how its component actions derive their normative status from their role in the practice. The practice is good because it promotes safety and efficiency. To be sure, a practice in which everyone walked on the left would be equally safe and efficient. So there is no reason to think that walking on the right is intrinsically preferable to walking on the left. But given that the practice of walking on the right is in effect, conforming one’s behavior to it is a virtue. For doing so contributes to the achievement of the good the practice promotes (see Rawls 1999). Practices are public; performers learn to conform to their norms, and are subject to criticism and correction if they fail to conform. Knowing how is, as Abel says, a product of “triangular relations of subject, other subjects or agents, and the world” (2012: 248). A four year old child is given the first numbers in the sequence ‘1, 2, 3’ asked what comes next. She might answer ‘4, 5, 6’, or she might construe the sequence as a Fibonacci series and answer ‘5, 8, 13’. If she does the latter, her answer is mathematically impeccable. 5, 8, 13 are the next numbers in the Fibonacci series. Still, we want to say, her answer is incorrect. If correctness turns entirely on the rules of mathematics, we have no grounds for criticizing her answer. But if correctness turns on attuning herself not just to the rules of mathematics, but to the practice she is participating in, things are different. Given the practice in effect in her pre-school classroom, she has reason to give and prefer the standard answer. Assuming that the class is not studying arcane mathematical sequences, the immediately subsequent integers are standard. Because Abel recognizes the importance of other agents, he has the resources to assess practices, and assess particular behaviors within practices from a perspective that Ginsborg, who looks only at the agent, her past intentions, and her current mindset cannot. Abel can say, as Ginsborg cannot, that what makes an action correct is that it is required (or permitted) by a practice, and that practice promotes something that the members of a given community regard as worth achieving. He can look outward to the public good that the norms achieve, rather than exclusively inward to what the agent thinks she is trying to do. We are brought up in practices, and often learn from examples. So unlike the chess novice, we may never have learned the ‘rules’ of practices we participate in. Indeed, such practices may have few articulable rules. We were simply socialized to model our behavior on the behavior of adept practitioners. This is why native speakers fail to recognize, much less be able to state, the grammatical rules of their language. Outsiders – perhaps linguists or anthropologists – may formalize the normative regularities that they find in the practice. But practices proceed without expressly formulated rules. The fact that practitioners not only typically conform to certain regularities, but teach others to conform, and correct or disparage the behavior of non-conformists makes it manifest that norms are
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operative. Normatively informed behavior then is more extensive than explicitly rule governed behavior.
5 Learning How The novice tennis player hits hundreds of balls in learning how to serve. The novice cellist saws away for untold hours in learning how to bow. Abel insists learning by doing is typically needed to acquire know how. Aristotle agrees. One becomes just by doing just acts. But Aristotle emphasizes that “the sources and means that develop each virtue also ruin it” (Aristotle 1985: NE II, 1103 b 9). What the novice does repeatedly can be repeatedly done well or repeatedly done badly, or intermittently done well and done badly. Only if it is done well will repetition lead to the development of a virtue. Rote repetition will not do. The novice’s actions must be monitored (by himself or others), and encouraged or corrected as appropriate. This means that the student and/or his teacher needs standards by which to judge. But if the actions are ones for which there is no adequate articulable rule, where do they find the standards? They appeal to exemplars – telling instances – where the action is manifestly well done. With or without the aid of a mentor, the novice models his behavior on the behavior of those who already know how to perform the actions he seeks to master. Still there is a problem. In the course of exercising his expertise, someone who already knows how to play chess or tie a necktie or play the cello displays a vast array of epistemically accessible features. Which should be modeled? Goodman (1968) supplies the answer. An exemplar, Goodman says, serves as a symbol that exemplifies some, but not all, of its own properties. A commercial paint sample is helpful in choosing paint because it exemplifies its color and sheen. It points up its color, thereby providing epistemic access to it. An example worked out in a logic text affords epistemic access to the logical form of its argument by exemplifying modus ponens. In construing an item as an exemplar, we treat it as a symbol. The paint sample symbolizes the paint that matches it. An exemplar thus not only instantiates, it also refers. Moreover, exemplification is selective. An exemplar highlights or emphasizes some of its properties by overshadowing or downplaying others. The paint sample does not make reference to its age or distance from Detroit, although it instantiates those properties as well as its color and sheen. An exemplar typifies the members of the class of items that share the exemplified properties. By pointing up their shared property, it enables us to recognize them as relevantly alike. This is why looking at paint sam-
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ples is helpful. If we know how to interpret the sample, we know what color paint we are buying. Being symbols, exemplars require interpretation. To interpret an exemplar correctly, we have to be able to tell which of its features it refers to. Multiple exemplars may exemplify the same feature; and in different contexts a single exemplar may exemplify a variety of different features. So interpretation is not always easy or automatic. Actions as well as objects can exemplify. In showing someone how to do something, I perform an action that exemplifies the features his performance should replicate. If we want to model our behavior on an exemplary performance, we want to replicate the exemplified features and bring it about that our behavior is in the class it typifies. Some systems of exemplification are standardized. Tailor’s swatches belong to regimented systems under which they exemplify their fabric, texture, color and weave. Others are ad hoc. A naturalist points to a bird, and announces that it is an example of a brown headed cowbird. If his interlocutor is ornithologically sophisticated, she may already have a good idea along what dimensions the specimen exemplifies; if not, the naturalist may have to spell them out. “Look at the shape of the tail, the eye markings, the juxtaposition of the black body and the brown head,” he might say. If his teaching is successful, he will equip his interlocutor to recognize other brown headed cowbirds when she encounters them. Exemplars show. They highlight, illustrate, or display the features they refer to. This is why they are useful in teaching. A trombone teacher can show her student how to play a glissando. A father can show his son how to tie a necktie. Because the exemplars embody the success they seek to convey, they are apt to be more effective than verbal descriptions of successful practice. A baseball coach readily shows a batter how to make minute adjustments in his stance that enable him to hit the ball further. Such an illustration is normally preferable to telling the batter to hold the bat a millimeter higher, crouch a two centimeters lower, and bend is left leg forward just slightly, while twisting three degrees to the left. Maybe such instructions would work. But “Try this!” followed by an illustration is a more promising strategy. Exemplars are often more fine-grained than verbal descriptions. We regularly show one another how to do things that we cannot quite capture in words. A cellist who models his performance of Elgar’s Cello Concerto on that of Jacqueline du Pré interprets her performance as exemplifying a cluster of subtle, nuanced expressive properties – musical properties that he cannot express in propositions. He attempts to realize those properties in his performance and monitors his own efforts to see whether he improves, where improvement is measured in terms of approximations to the features he finds exemplified by du Pré. He
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subjects his efforts to criticism, taking her exemplary performance, as he interprets it, as a standard against which to judge. To the extent he succeeds, he comes to know how to play the concerto as du Pré does. What does recognizing the role of exemplification add to Abel’s position? Abel argues that knowing how is ubiquitous. It underlies knowing that, and interpenetrates our practices. But because it is not reducible to knowing that and is not expressible in propositions, he concludes that it is indispensable but inscrutable. I agree that it is indispensable. But if we recognize that exemplification is a mode of reference, that we can and do learn to interpret and use exemplars to display and convey what we know how to do, then knowing how is not inscrutable. It simply involves a different mode of symbolization from that involved in knowing that. This is a result that Abel should find congenial.
6 Conclusion I have argued that the epistemic norms of knowing how are quasi-Aristotelian virtues; they are goods realized in action and may be uncharacterizable apart from the practices they belong to or the ends they promote. When this is so, it is impossible to state exactly what knowing how involves. But this does not make knowing how epistemically inaccessible, or learning how mysterious. A student can learn how to perform the action by modeling exemplary performances of it. Once his behavior accords with his exemplar, he knows how to do the action in question. Knowing how then is not inscrutable so long as we have the resources to identify and interpret exemplary instances.
Bibliography Abel, Günter 2012: Knowing-How: Indispensable but Inscrutable, in: Tolksdorf, Stefan (ed.): Conceptions of Knowledge, Berlin / Boston, (Berlin Studies in Knowledge Research, vol. 4), 245 – 267. Aristotle 1985: Nicomachean Ethics, tr. T. Irwin, Indianapolis. Carr, David 1979: The Logic of Knowing How and Ability, in: Mind 88, 394 – 409. Elgin, Catherine 1996: Knowledge by Consensus, in: id.: Considered Judgment, Princeton, 60 – 100. Ginsborg, Hannah 2010: Primitive Normativity and Skepticism about Rules, in: Journal of Philosophy 108, 227 – 254. Goodman, Nelson 1968: Languages of Art, Indianapolis. Kant, Immanuel 1785: Grounding for the Metaphysics of Morals, tr. J. W. Ellington, Indianapolis 1981.
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Kripke, Saul 1982: Wittgenstein on Rules and Private Language, Cambridge. Rawls, John 1999: Two Concepts of Rules, in: Freeman, Samuel (ed.): Collected Papers, Cambridge, 20 – 46. Ryle, Gilbert 1949: The Concept of Mind, New York. Wittgenstein, Ludwig 1953: Philosophical Investigations, tr. G. E. M. Anscombe, Oxford.
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Die praxis-interne Normativität des Sprechens, Denkens und Handelns Replik zum Beitrag von Catherine Z. Elgin Die luzide Behandlung meiner Auffassung von Knowing-How durch Catherine Z. Elgin trifft meine diesbezüglichen Grundanliegen sehr gut. Zugleich liefert Elgin wichtige Erweiterungen der Betrachtung, denen ich nur zustimmen kann. Hervorheben möchte ich vor allem die folgenden vier Punkte. Erstens (i) ordnet Elgin meine Ausführungen (mit Konzentration auf Abel 2012) überzeugend in die Tradition der Überlegungen von Gilbert Ryle ein. Sie tut dies vor allem dadurch, dass sie die für Ryles Auffassung von Knowing-How wichtigen Aspekte der Gewohnheit und der Disposition rekonstruiert (Elgin-Beitrag, Kap. 1). Zweitens (ii) bringt Elgin meine Überlegungen zur praxis-internen Regularität des Knowing-How in eine Verbindung mit Aristoteles’ Konzeption der Tugend („virtue“) (Kap. 4 u. 6). Mit Recht sieht Elgin die Attraktivität der Ryleschen Konzeption von Knowing-How vor allem darin, dass Ryle „accommodates sensitivity to circumstances“ (Kap. 4). Und sie fährt fort: „What Abel and Aristotle add is that the sensitivity in question is not just to the physical, material, or sociological circumstances, but also to normative circumstances.“ (Ebd.) Drittens (iii) akzentuiert Elgin den auch mir wichtigen Zusammenhang zwischen Knowing-How und Epistemischer Normativität. Trefflich formuliert sie den Titel ihres Beitrags als „The Epistemic Normativity of Knowing-How“. Viertens (iv) betont Elgin mit Recht, dass wir es in Fällen von Knowing-How (beispielsweise beim Cellospiel, beim Binden einer Krawatte oder beim Walzer Tanzen) mit „a vast array of epistemically accessible features“ (Kap. 5) zu tun haben. In Bezug auf diese Vielfalt entsteht schnell die Frage, welche dieser Merkmale es sinnvollerweise zu modellieren gilt. Zur Beantwortung dieser Frage greift Elgin auf Nelson Goodmans Lehre der ‚Exemplifikation‘ zurück (s. Kap. 5). In die von Catherine Elgin auf diese Weise angebotene Fortsetzung des Dialogs trete ich gern ein. Im weiteren Verlauf meiner Replik konzentriere ich mich auf die folgenden drei Punkte: 1.Vollzugs-interne Normativität des Knowing-How; 2. Knowing-How als Zeigen; 3. Relevanz von Beispielen. Bevor ich jedoch in die Behandlung dieser drei Punkte eintrete, sei eine klärende Bemerkung zum Titel meines oben genannten Aufsatzes ‚Knowing-How: Indispensable but Inscrutable‘ (Abel 2012) erlaubt. Catherine Elgin betont, dass sie meiner Rede von ‚indispensable‘ zustimmt, Knowing-How aber nicht für ‚inhttps://doi.org/10.1515/9783110522280-027
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scrutable‘ (unergründlich) hält (vor Kap. 1; Kap. 5 u. 6). Obwohl das Wort ‚inscrutable‘ im Titel auftaucht, muss ich den Kontext doch ein wenig erläutern, um zu verdeutlichen, dass und warum ich mit Elgins Bemerkung ganz einverstanden bin. Die von mir selbst vorgenommenen Charakterisierungen und Unterscheidungen in puncto Knowing-How zeigen, dass auch ich das Knowing-How nicht für unergründlich halte. Den Ausdruck „inscrutable“ verwende ich noch innerhalb des älteren Schemas der Opposition von Knowing-How und Knowing-That, demzufolge als ergründlich letztlich nur gilt, was in einem sprachlich-propositionalen Dass-Satz artikuliert und mit Wahrheitswerten verbunden werden kann. Nur innerhalb dieses älteren Schemas, das ich erklärtermaßen zurücklassen möchte, erscheint Knowing-How „inscrutable“. Im neuen Schema dagegen, das dem Knowing-How eine eigenständige Rolle im Haus der Epistemologie zuspricht, spreche ich diesem Merkmale zu, die sehr wohl der Beschreibung, Analyse und Modellierung zugänglich sind. In der Systematischen Wissensforschung und deren Betonung der Wechselspiele unterschiedlicher Wissensformen ebenso wie in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] und deren Akzent auf der Vielfalt von ZuI-Praxen geht es gerade nicht um eine Mythisierung des Knowing-How. Zum Mythos droht Knowing-How vielmehr im älteren Schema zu werden. Vielleicht hätte ich in der englischen Version des Textes besser ein Fragezeichen an das Ende des Titels setzen sollen. In der deutschen Fassung jedenfalls habe ich die präzisierende Formulierung verwendet: „Knowing-How. Eine scheinbar unergründliche Wissensform“ (Abel 2010). Ganz in meinem Sinne erlaubt es diese Formulierung, nach Weisen des Ergründens des Knowing-How zu fragen.¹
1 Vollzugs-interne Normativität des Knowing-How Catherine Elgin teilt meine Auffassung, dass es sich unter dem Titel Knowing-How um unterschiedliche Praxen, Prozesse und Prozeduren in unterschiedlichen Hinsichten und auf unterschiedlichen Ebenen handelt. In meinem Aufsatz (Abel 2012) habe ich verschiedene Weisen von Knowing-How beschrieben und analysiert. Das ist hier nicht zu wiederholen. Aufrufen darf ich lediglich einige der Grundbegriffe, entlang derer ich diese Vielfalt thematisiert habe, wie etwa: Knowing-How als Fertigkeit (z. B. des Radfahrens), als Kompetenz (z. B. des Sprechens), als Fähigkeit (z. B. des Handelns), als Könnerschaft (z. B. des Cellospiels), als Gewohnheit (z. B. automatisierter Routinen) und grundsätzlich als
Siehe auch den Beitrag von Hans J. Schneider sowie meine Replik darauf.
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Praxiswissen, als Regelfolgen-Können, als praxis-interne Regularität und als praktische Vollzugs-Fähigkeiten. Erinnert sei auch an die drei Varianten der Knowing-How-Frage (die im Beitrag von Føllesdal wichtig sind): (a) wissen, wie etwas funktioniert (z. B. meine Kaffee-Maschine); (b) wissen, wie man etwas macht (z. B. Kaffee kocht); und (c) wissen, wie es ist, etwas zu sein (z. B. ein passionierter Kaffee-Trinker). Die Ausführungen von Catherine Elgin betreffen vor allem den zweiten dieser letztgenannten drei Bereiche. Im Folgenden möchte ich in einem ersten Schritt (1.1) die Verbindung, die Elgin herstellt zwischen meinem Konzept der epistemischen sowie praktischen Regularität und der Aristotelischen Konzeption der Tugend (‚virtue‘) kurz vertiefen. In einem zweiten Schritt (1.2) möchte ich dann eine Erweiterung meines bislang 2-stufigen Modells (Regel, Regularität) in ein 3-stufiges Modell vornehmen von: Regel, Regularität der Regel und konkreter Vollzugs-Normativität. Diese Erweiterung wird mir erlauben, sowohl Verbindungen als auch Unterschiede zu Positionen Catherine Elgins zu verdeutlichen.
1.1 Normativität des Knowing-How als Tugend Angesichts der Schleifenbildungen zwischen der Struktur der Praxis-Vollzüge und deren praxis-interner Regularität greife ich Elgins Vorschlag positiv auf, demzufolge meine „regularities are closely analogous to Aristotelian virtues“ (Kap. 4). In solcher Rede geht es vor allem um die formale Struktur der Beziehungen zwischen den Praxis-Vollzügen (von beispielsweise Radfahren oder Cello Spielen) und den sich darin manifestierenden konkreten Vollzugs-Normativitäten. Es geht bei diesem Vorschlag also nicht um die Aristotelische Tugendlehre in ihrem engeren ethischen Sinne, demzufolge eine tugendhafte Person als eine solche beschrieben wird, die das Richtige auf richtige Weise zur rechten Zeit und aus richtigen Gründen tut.Wenn einer tugendhaften Person diese Spitzenleistung gelingt, dann hat sie (ohne sich dessen bewusst sein oder gar darüber diskursiv beraten zu müssen) aus dem lebensweltlich-gelebten Ethos heraus, in das sie eingelassen ist, gehandelt. Die Spitzenleistung beruht darauf, dass das Knowing-How-Handeln in Gleichklang mit den seiner Praxis zugrundeliegenden internen Regularitäten erfolgt. „For being virtuous, he has internalized the rules“ (ebd.), die im Spiele sind, sobald etwas nicht einfach nur so getan wird, sondern es faktiv richtig bzw. gut getan wird. Diese in sich zurücklaufenden Schleifenbildungen sind uns im Alltag (beispielsweise im gelingenden Tennis-Spiel) ebenso bestens vertraut wie in den Wissenschaften (beispielsweise in der Durchführung eines Experiments) und in den Künsten (beispielsweise des Cellospiels). Catherine Elgin betont daher sehr zu
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Recht, dass es um „virtues integral to a practice“ (Kap. 4) geht. „To be duly sensitive to circumstances involves being sensitive to the norms of the practices one takes part in.“ In dieser Beschreibung Elgins fühle ich mich bestens verstanden. Die Sensitivität für Normen kann dann gleichsam zu unserer „second nature“ (ebd.) werden. Gleichwohl scheint es mir so, als habe Catherine Elgin doch noch das Bild rest-externer Sollens-Regeln vor Augen und noch nicht die Normativität der Praxis-Vollzüge selbst. Das zeigt sich etwa an dem von ihr verwendeten Beispiel des Schachspiels: „What are rules for the novice becomes virtues when they are internalized so that they automatically, unthinkingly guide practice.“ (Kap. 3) Solche Formulierungen klingen noch nach Regeln im Sinne von Kriterien und Sollensvorschriften. Dieses Bild jedoch möchte ich erklärtermaßen distanzieren. Denn es setzt bereits die Annahme einer grundlegenderen Regularität und Normativität voraus, derjenigen nämlich, die Regeln überhaupt als Regeln ansehen, internalisieren und dann auch leitend werden lassen zu können. Und es ist mir wichtig, diese immanente und des Näheren praxis- bzw. vollzugs-interne Normativität des Knowing-How in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Einfache Beispiele gelingender praxis-interner Vollzüge sind etwa: flüssige Vollzüge des Radfahrens, Cello Spielens, Walzer Tanzens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens. Auf dieser Ebene geht es um jene deutungs- und propositions-freien Normativitäten, die mit dem konkreten Vollzug der Praxen, Prozesse und Fähigkeiten selbst verbunden sind. Erfolgreiche Knowing-How-Praxen verkörpern und realisieren diejenigen Normativitäten, die ihnen als gelingende Knowing-How-Praxen in ihren Vollzügen selbst eigentümlich sind.
1.2 Regeln, Regularitäten und Vollzugs-Normativitäten Vor dem skizzierten Hintergrund plädiere ich für ein 3-stufiges Modell, bestehend aus: der Stufe der ‚Regeln‘ (beispielsweise in arithmetischen Operationen); der Stufe der ‚Regularität der Regeln‘ (beispielsweise der Regeln zweiter Stufe wie in der Physik etwa die Geltung des Energieerhaltungssatzes oder wie in der Ethik des Grundsatzes, stets das Richtige zu tun); und der Stufe der ‚Vollzugs-Normativität‘. Dieses Modell sei das 3-Stufenmodell normativer Anforderungen genannt. Es trifft auch auf die Knowing-How-Praxen und ‐Prozesse zu. Mit dem Unterschied zwischen Regel und Vollzugs-Normativität sind wir bestens vertraut. Ich möchte ihn anhand eines einfachen Beispiels verdeutlichen, dem Knowing-How des Fußballspielens. Die Regeln des Fußballspiels muss jeder Spieler kennen. Zu ihnen zählen beispielsweise: Abseitsregelung, kein Handspiel, Begrenzung des Spielfeldes, Elfmeter-Regelung, Ball nicht außerhalb des Spiel-
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felds, kein Foulspiel. Von einer Person, die diese Regeln internalisiert hat, sagen wir, dass sie weiß, wie man Fußballspielen oder zumindest Novize darin sein kann. Aber sie ist dadurch natürlich noch kein richtiger und noch nicht ein guter Fußballspieler. Die bestmögliche Kenntnis und Internalisierung der Regeln macht offenkundig noch keinen guten Spieler und noch kein gutes Team. Die Pointe dieses wenig überraschenden Befundes ist offensichtlich. Ein guter Fußballspieler (wie in unseren Tagen etwa der Argentinier Lionel Messi) verfügt beispielsweise über Künste des Kurzpass-Spiels, des Dribblings, des Zuspiels in die Tiefe, der kreativen Spieleröffnung, der eleganten Ballführung, der angetäuschten Körperbewegungen und vieler anderer spielrelevanter Fähigkeiten, die keine Fälle von kriterialem Regelfolgen, sondern Manifestationen von Vollzugs-Kreativitäten und von Anforderungen im Sinne der Vollzugs-Normativitäten selbst sind. Das Spiel muss sich flüssig, in seinem Verlauf anschlussfähig, kreativ, aber erforderlichenfalls auch mit Brüchen gegenüber bisher eingeübten Spielvarianten und, im glücklichen Falle, quasi selbstverständlich vollziehen. Solch gelingender Vollzug steht intern unter der Bedingung, dass die ihn kennzeichnenden VollzugsNormativitäten erfüllt sind. Versteht Lionel Messi sich in einem bestimmten Spiel nicht auf diese konkreten, immanenten und spielerischen Normativitäten, dann sagen wir etwa, dass er „heute nicht ins Spiel finde“. Mit der Rede von VollzugsNormativitäten sind mithin nicht bloß die externen Regeln und auch nicht bloß die Regeln zweiter Stufe, sondern die internen Anforderungen gelingenden Spiels selbst adressiert. Dieser Zusammenhang lässt sich leicht anhand weiterer vertrauter Beispiele verdeutlichen. Beispielsweise sei erinnert an eine treffliche Ballett-Bewegung (und die in dieser inkorporierte Vollzugs-Bewegung selbst); an die Intonation eines musikalischen Klangs (und die in diesem manifeste musikalische Stimmigkeit selbst); an die sinnlich-anschauliche Präsenz eines Gemäldes (und die in diesem vorliegenden Farb- und Form-Vollzüge); oder an einen Volley im Tennisspiel (der in der gelingenden Schlagbewegung ganz sein eigener Vollzug ist). Vollzugs-Normativität kann daher auch als gebotene Einstimmigkeit derjenigen Bedingungen mit sich selbst verstanden werden, bei deren Erfüllung die Vollzüge gelingen und erfolgreich sind. Entscheidend sind hier wie in jedem Knowing-How die Erfüllungsbedingungen und Richtigkeitswerte, nicht die im Knowing-That relevanten Wahrheitsbedingungen und Wahrheitswerte. Die mit den Vollzügen intern verbundenen Vollzugs-Normativitäten können als basale Normativitäten angesehen werden. Beispielsweise ist hier auch zu denken an die gelingende Praxis eines Cellospiels, an gelingende Verhältnisse flüssiger Kommunikation, an gelingende Kooperation (auf dem Spektrum vom einfachen Handwerk bis hin zu modernsten Technologien).
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Die Vollzugs-Normativitäten können wir auch die immanenten und konkreten Normativitäten in dem Sinne nennen, dass die in ihr verkörperten und leitenden normativen Vollzugs-Anforderungen keiner Begründung mittels externer Regeln und Regularitäten bedürfen und einer solchen auch nicht zugänglich wären. Die Vollzugs-Normativität hat ihr Dasein und ihre Geltung allein im und durch die Anforderungen des gelingenden Vollzugs selbst. Diese Normativität kann mithin nicht mehr als eine externe oder metaethische Sollensregel verstanden werden, deren Sollenswerte dann zu ihrer Begründung eingesetzt werden könnten. Sie ist vielmehr prozess-interne, immanente und konkrete Normativität. Innerhalb des 3-Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse, welches an anderen Stellen als eine der Grundlagen der ZuI-Philosophie entwickelt wurde (siehe z. B. ZdW Einleitung), verorte ich die Aristotelische Tugendlehre und mithin auch Catherine Elgins Position auf der ZuI2-Ebene habitueller Gewohnheiten und Konventionen. Die Vollzugs-Normativität selbst dagegen verorte ich auf der grundlegenderen ZuI1-Ebene. Ich möchte nachdrücklich hervorheben, dass ich die beiden Staffelungen (Stufenmodell des Regelfolgens, Stufenmodell der ZuI-Philosophie) zum einen (a) als heuristische Modelle und nicht als theoretische oder ontologische Unterstellungen ansehe. Zum anderen (b) verstehe ich beide Modellierungen nicht als Ausdruck des Hinaufreflektierens auf einen höchsten metaphysischen Punkt. Ich verstehe sie vielmehr im Sinne eines Hineinreflektierens in unsere lebensweltlichpraktischen Regularitäten und Vollzugs-Normativitäten selbst. Die praxis-internen Normativitäten, die ich mit solcher Rede adressieren möchte, betreffen, anders als Catherine Elgin vermutet, nicht einfach nur ‚internalisierte‘ äußere Regeln (beispielsweise des Radfahrens oder Schwimmens), die dann zu quasi automatisierten Routinen geworden sind. Die vollzugs-internen Normativitäten betreffen nicht bloß die Applikation von vorab und anderswo festgelegten Regeln, wie tief diese auch immer internalisiert sein mögen. Sie betreffen vielmehr, wie zu sehen war, die Gelingensanforderungen der Vollzüge erfolgreicher Praxis, Prozesse, Prozeduren, Zeichen und Interpretationen selbst. Daher lässt sich der Sinn der Rede von Vollzugs-Normativität leicht auch am Beispiel des Sprechens und der Sprachspiele verdeutlichen. Wichtig ist auch hier, mit der Betrachtung auf die Innenseite der Sprachspiel-Vollzüge selbst zu gelangen. Im tatsächlichen Vollzug von gelingenden Sprachspielen verstehen wir uns auf das Sprechen und die Sprachspiele von diesen selbst her. Dieser Punkt kann nicht so beschrieben werden, als besäßen wir zunächst die Regeln, griffen dann in ein Reservoir von Ausdrücken und kombinierten diese sodann nach vorgegebenen Sollensvorschriften. Eine solche Sichtweise unterstellte, dass wir die Regeln, denen wir im tatsächlichen Sprechen folgen, vorab vor uns hinstellen, vergegenständlichen und wählen könnten. Genau dies jedoch ist nicht der Fall.
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„Wenn ich“, wie Wittgenstein formuliert, „der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind.“ (PU 219) Praktisch erfolgreiches Regelfolgen ist, im Sinne Wittgensteins gesprochen, weder von einem vorgängigen theoretischen Wissen abhängig noch von einer Erkenntnis, einer Intuition oder einer Inspiration. Wir machen das im Sprechen (und auch im Erleben, Wahrnehmen, Denken, Handeln und Gestalten) eben so, wie wir es machen. Die philosophische Herausforderung besteht nicht darin, Missverständnisse zu korrigieren. Sie besteht vielmehr darin, das flüssige, anschlussfähige und zumeist selbstverständliche Funktionieren des Sprechens zu verstehen. Und genau das ist so schwer zu verstehen, zumal in seinen Normativitäten.
2 Knowing-How als Zeigen Knowing-How kann auch als ein Zeigen ausgezeichnet werden. Des Näheren meint Zeigen bzw. Sich-Zeigen hier so viel wie sinnlich-anschauliches Präsentieren, Vormachen, Manifestieren, Sichtbarmachen, Beispiele Geben, Exemplifizieren. In der ZuI-Philosophie und auch in der Systematischen Wissensforschung spielen die Prozesse des Sich-Zeigens eine wichtige Rolle.² Catherine Elgin hat die Verbindung zwischen Knowing-How und Zeigen klar gesehen und eine spezifische Weise des Zeigens, die von Nelson Goodman herausgearbeitete ‚Exemplifikation‘ nämlich, aufschlussreich herangezogen. Diesem Versuch und der entsprechenden These Elgins stimme ich nachdrücklich zu. Sehr zu Recht betont sie, dass Knowing-How einen spezifischen „mode of symbolization“ (Kap. 5) verkörpert, der vom Modus des sprachlich-propositionalen Knowing-That deutlich unterschieden ist. Im Rekurs auf die Exemplifikation „we can and do learn to interpret and use exemplars to display and convey what we know how to do“ (ebd.). Sehr schön heißt es dann: „This is a result that Abel should find congenial“ (ebd.). Genau das tue ich. In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Themenfelder in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken (die zugleich sowohl für die ZuI-Philosophie als auch für die Wissensforschung von hoher Relevanz sind): Knowing-How als Zeigen im Sinne der Exemplifikation (2.1); Knowing-How und weitere Weisen des Zeigens (2.2).
In dem Text ‚Sagen und Zeigen‘ (SZI Kap. 8) habe ich dies näher entfaltet und mehr als ein Dutzend verschiedener Weisen des Zeigens unterschieden und beschrieben.
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2.1 Knowing-How als Zeigen im Sinne der Exemplifikation Catherine Elgin beschreibt (Kap. 5) die von Goodman konzipierte Weise des Symbolisierens, die dieser ‚Exemplifikation‘ nennt (siehe Goodman 1968: Kap. II). Meine folgenden Rekonstruktionen dieses Themenfeldes verstehe ich ausdrücklich im Sinne einer Unterstützung des Elginschen Vorschlags.³ Exemplifikation ist auch im Hinblick auf das Verhältnis von Sagen und Zeigen sowie, wie Elgin mit Recht betont, von Knowing-That und Knowing-How wichtig. Während die Denotation eines Zeichens oder Symbols darin besteht, extensional auf diejenigen Gegenstände zu referieren, auf die das Zeichen symbolisierend Bezug nimmt, geht es in der Exemplifikation (beispielsweise des Radfahrens oder Cellospiels) darum, dass ein Zeichen auf Eigenschaften seiner selbst Bezug nimmt und diese präsentiert. Genau das ist auch beim Knowing-How der Fall. Merkmale (etwa des gelingenden Radfahrens) werden gleichsam vorgeführt, ausgestellt, hervorgekehrt, präsentiert und in der Präsentation wird auf die adressierten Merkmale zugleich Bezug genommen. In der Exemplifikation funktioniert das symbolisierende Zeichen als eine ‚Probe (sample)‘, als ein Exemplar derjenigen Eigenschaften, die es selbst besitzt und auf die es Bezug nimmt. Goodmans Beispiel: Die Stoffprobe eines Schneiders exemplifiziert bestimmte Eigenschaften eines Stoffes, zum Beispiel seine Farbe und seine Musterung, nicht aber seine Größe oder sein Gewicht. Vor diesem Hintergrund kann auch die Differenz von Knowing-That und Knowing-How symboltheoretisch gefasst und verdeutlicht werden. Eine KnowingHow-Praxis (beispielsweise seitens eines Tennis-Trainers oder Tennis-Spielers) zeigt resp. exemplifiziert bestimmte ihrer Merkmale (etwa die flüssige Armbewegung beim Aufschlag oder beim Volley). Selbst eine noch so feinkörnige sprachliche Beschreibung mit Hilfe von noch so vielen Dass-Sätzen, Adjektiven und Adverbien wäre nicht in der Lage, die gelingende Aufschlagbewegung seitens des Trainers (und dann auch des Spielers selbst) in den Blick zu bringen.Vielmehr zeigt die Aufschlag-Bewegung bzw. -Praxis selbst, was ihre Trefflichkeit ausmacht. Knowing-How-Zeigen ist eine Praxis, keine Theorie. Kaum eigens betont zu werden braucht, dass Exemplifikation keineswegs ein seltener Ausnahmefall ist, etwa der von Schneidern und Tennis-Spielern. Vielmehr ist sie in nahezu allen lebensweltlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Bereichen und deren unterschiedlichen Weisen von Knowing-How anzutreffen. Mit Proben, Beispielen, Exemplaren und paradigmatischen Fällen sind wir bestens vertraut. Sie spielen nicht nur in den Künsten wie etwa in Musik, Tanz
Ich greife dabei auf Materialien aus ‚Sagen und Zeigen‘ (SZI Kap. 8) zurück.
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oder Skulptur, sondern auch in Lehr- und Lernsituationen eine überaus wichtige Rolle. Wissen, wann und in welchem Sinne etwas als eine Probe oder als ein exemplifizierendes Zeichen und als eine gelingende Praxis gilt, heißt wissen, welches seine Funktion, Relevanz und sein Sinn ist. In den Naturwissenschaften ist dies etwa entlang der Frage wichtig, wie ein bestimmtes Experiment zu verstehen ist und wie dessen Resultate einzuordnen sind. Exemplifikation kann hier durchaus als der Kern des Bestätigungs- oder Falsifizierungscharakters eines Experiments angesehen werden. Ein Experiment zeigt, fördert zutage, exemplifiziert (oder exemplifiziert nicht) diejenigen Annahmen, Regularitäten und Gesetzmäßigkeiten, die in den Wissenschaften wichtig sind und unsere Modellierungen wie auch unsere Wissensbestände erweitern, modifizieren oder korrigieren. In der exemplifizierenden oder zeigenden Wirkung von Zeichen ist stets bereits eine eingespielte ZuI-Praxis und des Näheren auch eine Knowing-How-Praxis in Anspruch genommen. Zu den in diesem Zusammenhang wichtigsten Aspekten, die alle auch für Knowing-How-Praxen kennzeichnend sind, gehören die folgenden vier: (a) Exemplifikation ist eine selbst-referenziale Beziehung und alle referenzialen Funktionen eines Zeichens, seiner Praxis und Situiertheit, können als zeichen-verfasst und interpretations-bestimmt, als ZuI-Funktionen modelliert werden. (b) Welche Merkmale in einem spezifischen Knowing-How-Prozess instantiiert, exemplifiziert oder ausgedrückt werden, hängt auch von dem ZuISystem ab, das in Kraft ist. (c) Ein symbolisierendes Zeichen instantiiert unbegrenzt viele seiner Eigenschaften. Aber nicht alle instantiierten Eigenschaften werden auch exemplifiziert. Dieser Punkt ist auch für Knowing-How-Praxen kennzeichnend. Als ein Beispiel sei angeführt, dass das Knowing-How des Radfahrens etwa das Gleichgewichthalten beim Radfahren exemplifiziert, nicht aber das Gewicht des Fahrrades. (d) Den exemplifizierenden Zeichen und Praxen, mithin auch jeder spezifischen Knowing-How-Praxis, sind stets bereits obere Reichweiten sowie untere Grenzen des Exemplifizierens gezogen, sobald ein Zeichen aus der Überfülle instantiierter Eigenschaften einige Eigenschaften exemplifiziert und andere nicht. Im exemplifizierenden Zeigen und konkret etwa in einem Knowing-How-Vollzug manifestiert resp. zeigt sich die Form der zugrunde liegenden ZuI-Praxis selbst.
2.2 Knowing-How und weitere Weisen des Zeigens Stenogrammartig möchte ich noch einige weitere Weisen des Zeigens ansprechen, die auch in puncto Knowing-How aufschlussreich und wichtig sind.
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(a) Hinsichtlich des Verhältnisses von Knowing-How-Praxis und Wirklichkeit besteht eine Pointe darin, dass die Trefflichkeit der Knowing-How-Praxis nicht ihrerseits noch einmal in einer davon separierten Meta-Praxis dargestellt und auch nicht in einem sprachlich-propositionalen Satz gesagt und entschieden werden kann. Man versuche es einmal. Es wird nicht gelingen. Trefflichkeit, Passgenauigkeit und Angemessenheit zeigen resp. manifestieren sich in der flüssig funktionierenden Weise der Knowing-How-Praxis selbst. Die KnowingHow-Praxis überzeugt sinnlich-anschaulich sowie praktisch direkt, oder eben nicht. (b) In puncto Semantik kann man nicht in einer sprachlichen Proposition sagen, was genau die Bedeutung einer konkret gelingenden Knowing-How-Praxis (beispielsweise des konkreten Aufschlags in einem Tennis-Spiel) ist. Die Bedeutung zeigt resp. manifestiert sich im gelingenden (oder nicht gelingenden) Vollzug des Aufschlags selbst. (c) Wie wichtig der praxis-interne Zeigecharakter des Knowing-How ist, zeigt sich auch, sobald Störfall-Beseitigung angesagt ist. Ein Störfall besteht etwa darin, dass eine bislang flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich funktionierende Praxis (beispielsweise des Steuerns eines Flugzeugs durch den Piloten) nicht mehr flüssig funktioniert und eine Folgepraxis erforderlich ist. Der Störfall zeigt sich als Störung. Und die zu deren Beseitigung eingesetzte Maßnahme zeigt und bewährt sich an ihrem Erfolg oder Misserfolg. Auch in solchen Situationen manifestiert sich die grundlegende Stellung, Relevanz und Bedeutung des Knowing-How. Im Beispiel erwarten wir vom Piloten und seiner Crew ein exquisites Knowing-How. (d) Die basale Rolle der Knowing-How-Praxis kann man selbst noch hinter den von Wittgenstein so genannten ‚Grammatischen Sätzen‘ ausmachen. Solche Sätze (wie etwa, Wittgensteins Beispiel, „Der Befehl befiehlt seine Befolgung“) sind nicht von der Art, dass sie durch einen Check gegen eine sprach- und zeichen-unabhängige Welt verifiziert oder falsifiziert werden könnten. Auch in den grammatischen Sätzen zeigt bzw. manifestiert sich das zugrunde liegende Knowing-How im Sinne der Kompetenz und Praxis des Gebrauchs der Wörter und Sätze auf eindrucksvolle Weise. Selbst die grammatischen Sätze setzen (i) den Zeige-Charakter und (ii) die in diesem vorausgesetzte und in Anspruch genommene Form der ZuI-Praxis und mithin eine Weise des Knowing-How voraus und nehmen diese stets bereits in Anspruch. (e) Knowing-How ist wesentlich mit Wahrnehmung und sinnlicher Anschauung verknüpft. Im Knowing-How geht es nicht um intellektualistische Konstruktbildungen, sondern um perzeptiv-praktisches Präsentieren und Durchführen. Auch im Sinne dieser inneren Verknüpfung mit Wahrnehmung und Anschauung ist Knowing-How ein Zeigen, kein sprachlich-propositionales Sagen. Das gilt für das
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Knowing-How des Alltags (z. B. der Zubereitung einer leckeren Speise) ebenso wie der Künste (z. B. der Komposition und Aufführung eines Musikstücks) und der Wissenschaften (z. B. beim Erstellen und Lesen eines MRT-Bildes).
3 Relevanz von Beispielen Im Knowing-How spielt auch das Geben und Nehmen von Beispielen eine wichtige Rolle. Besonders interessant sind die exemplifizierenden und exemplarischen Beispiele. Worin aber genau besteht der eigentümliche Status von Beispielen? Sind sie jeweils lediglich Illustrationen einer allgemeinen Regel oder kommt ihnen auch eine Eigenwertigkeit zu, der wir möglicherweise sogar eine subversive Kraft gegenüber einem schlechthin Allgemeinen zusprechen können?⁴ Im Folgenden mache ich mir Überlegungen in puncto Beispiele aus der Sprachphilosophie vor allem Wittgensteins zunutze und setze diese im Blick auf Knowing-How-Praxen ein.⁵ In den Augen von intellektualistischen Knowing-ThatProtagonisten hat der Eigenwert von praktischen Knowing-How-Beispielen keine gute Presse. Beispiele dienen, so ist oftmals zu hören, lediglich der Illustration eines Allgemeinen. Diese Auffassung teile ich keineswegs. Stenogrammartig möchte ich nur einige wenige Merkmale von Beispielen anführen, die mir im Rahmen des Knowing-How wichtig erscheinen. (a) Passende, erhellende und exemplarische Beispiele (solche also, die, wie wir dann sagen, einschlägig sind) verfügen über die bemerkenswerte Kraft, nicht bloß Illustrationen oder subsumierte Einzelfälle eines schlechthin Allgemeinen zu sein, sondern, wie Wittgenstein einmal sehr schön sagte, das Allgemeine überhaupt erst „interessant“ zu machen (vgl. Wittgenstein 1974: 301). Beispiele ziehen sowohl in ihrem Eigenwert als Exemplare als auch in ihrer Konkretheit unser Interesse und unsere epistemische sowie praktische Aufmerksamkeit auf sich. Genau darin machen sie auch das Allgemeine erst interessant. (b) Aufmerksamkeit zieht ein Beispiel vor allem dann auf sich, wenn durch das Beispiel (etwa des Radfahrens, Cello Spielens, Kuchenbackens, Beweisführens) eine Verbindung zwischen einer ‚Regel‘ und der ‚Anwendung der Regel‘ gestiftet wird. Ohne den Einsatz von Beispielen lägen die Regeln und die Anwendungen der Regeln nicht nur im Bereich des Knowing-How, sondern generell verbindungslos, abstrakt und letztlich unlebendig, gleichsam tot nebeneinander.
Im Folgenden greife ich auch zurück auf Teile meines Aufsatzes ‚Sammlungen als epistemische Objekte und Manifestationen von Ordnungen des Wissens‘ (Abel 2014: III). Was Wittgensteins Auffassung angeht, so möchte ich nachdrücklich auf (Kroß 1999) verweisen.
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Mit dem Einsatz von Beispielen jedoch wird zum einen (i) ein Verständnis der Regel, der Regularität der Regel und der Vollzugs-Normativität sowie des Zusammenhangs dieser drei Dimensionen (in dem oben in Abschnitt 1 skizzierten Sinne) überhaupt erst transparent. Zum anderen (ii) können wir im Rekurs auf Beispiele tiefliegende Komponenten verdeutlichen und ins Thema heben, die uns mit Rekurs bloß auf ein schlechthin Allgemeines gar nicht zugänglich wären. In Beispielen steckt mehr, als sie buchstäblich denotieren. Treffliche, direkt überzeugende und, wie man dann sagt, die Augen und den Verstand öffnende Beispiele können darüber hinaus auch Instanzen der Kritik an abwegigen Regeln und schlechten Allgemeinheiten sein. Nachweislich können treffliche Gegenbeispiele ganze Theorien zum Einsturz bringen. Beispiele und Gegenbeispiele können irritieren, aber eben auch intellektuell aufwecken. Ein Begriff reicht, mit Wittgenstein gesprochen, „soweit die Beispiele gehen“ (Wittgenstein 1969: 112). In diesem Sinne liegen die Beispiele (und vor allem die im Bereich des Knowing-How) gleichsam vor der Theorie und vor dem Knowing-That. Lässt eine Theorie das Interesse an Beispielen fallen und versteigt sich in blutleere Abstraktion, dann sprechen wir zu Recht von leeren Begriffsgehäusen. Ihnen fehlt die Kopplung an Beispiele und praktische Erfahrungen, die Bodenhaftung. (c) Besonders freuen wir uns natürlich über paradigmatische Beispiele.Worin aber besteht das Paradigmatische eines Beispiels? Ein Beispiel ist, so der Vorschlag, genau dann ein paradigmatisches, wenn in/an ihm diejenigen Regeln manifest werden, die zum einen (i) ein Knowing-How (beispielsweise in puncto Radfahren, Tanzen oder Cello Spielen) im Kern charakterisieren und die zum anderen (ii) ihrerseits die Norm bilden für das Suchen und Finden weiterer Beispiele. Es handelt sich dann um diejenigen Beispiele, an denen sich die zugrunde liegende, oben thematisierte trianguläre Beziehung von Regel, Regularität und Normativität exemplifiziert. Es ist die Exemplarität und die exemplifikatorische Struktur eines Exemplars, in der seine epistemisch und praktisch basale Rolle gründet.
Literatur Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2010: Knowing-How. Eine scheinbar unergründliche Wissensform, in: Bromand, Joachim / Kreis, Guido (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin, S. 319 – 340. Abel, Günter 2012: Knowing-How: Indispensable but Inscrutable, in: Tolksdorf, Stefan (Hg.): Conceptions of Knowledge, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 4), Berlin / Boston, S. 245 – 267.
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Abel, Günter 2014: Sammlungen als epistemische Objekte und Manifestationen von Ordnungen des Wissens, in: Hassler, Uta / Meyer, Torsten (Hg.): Kategorien des Wissens. Die Sammlung als epistemisches Objekt, Zürich, S. 109 – 132. Goodman, Nelson 1968: Languages of Art: An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis / Cambridge. Kroß, Matthias 1999: Philosophieren in Beispielen. Wittgensteins Umdenken des Allgemeinen, in: Schneider, Hans Julius / Kroß, Matthias (Hg.): Mit Sprache spielen. Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein, Berlin, S. 169 – 187. Wittgenstein, Ludwig 1984: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., S. 225 – 580; [PU]. Wittgenstein, Ludwig 1969: Philosophische Grammatik, (Schriften, Bd. 4), Frankfurt a. M. Wittgenstein, Ludwig 1974: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, (Schriften, Bd. 6), Frankfurt a. M.
Hans J. Schneider
Ist das Können eine ‚unergründliche Wissensform‘? Sprachanalyse und Modellbildung in der Philosophie Abstract. The paper takes Abel’s discussion of Knowing How as an occasion to explore the relation between philosophical attempts to clarify concepts as means for detailed and consistent descriptions, and the scientific endeavor to build models and theories that are empirically refutable. For example, it urges to distinguish cases in which speaking of a ‘mental apparatus’ and its ‘components’ is meant as an unproblematic metaphor (like in ‘he made use of his extraordinary capacity to memorize texts for impressing his professor’) from cases in which it is meant to refer to a hypothetical entity the workings of which are hidden from us. It suggests that with this distinction in place our Knowing How no longer appears to be enigmatic. So the paper on the one hand endorses Abel’s intention to cross borders between disciplines, but on the other it insists that for the sake of doing so in a perspicuous way, some quite radical suggestions put forward by the later Wittgenstein should be heeded.
1 Im Folgenden soll am Beispiel von Günter Abels Überlegungen zum Knowing How die Frage erörtert werden, ob sich die Aufgabe der Philosophie auf begriffliche Analysen im Sinne des späten Ludwig Wittgenstein (1953) beschränken sollte oder ob sie, darüber hinausgehend, Modelle oder gar falsifizierbare Theorien entwickeln kann, die ihr einen theoretischen Charakter geben würden, der dem der empirischen Naturwissenschaften vergleichbar wäre. Dabei geht es auch um die Frage, ob sich diese beiden Konzeptionen so klar trennen lassen, wie die gerade benutzte Formulierung unterstellt, oder ob die begriffliche Arbeit in die wissenschaftliche Modellbildung übergeht. Ich möchte vorausschicken, dass ich für viele der Zielsetzungen und viele der Ausgangspunkte des Denkens von Abel große Sympathie empfinde. Die im Folgenden formulierten Anfragen sollen in diesem Kontext klären helfen, wie weit unsere Übereinstimmung tatsächlich reicht und wo sich größere oder kleinere
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Hans J. Schneider
Differenzen auftun.¹ Dahinter steht die Hoffnung, dadurch werde die gemeinsame Sache vorangetrieben. Mein bisheriger Eindruck ist ambivalent. An vielen Stellen kann ich vorbehaltlos zustimmen, andererseits habe ich immer wieder den Eindruck, Abel sei zu wenig konsequent, wenn es darum geht, Einsichten, die wir dem späten Wittgenstein verdanken (auf den er sich wiederholt beruft), ernst zu nehmen. So wird es hier u. a. darum gehen, wie wir Wittgenstein zu verstehen haben und ob er in manchen seiner auch heute noch als radikal vom Üblichen abweichend empfundenen Ansichten im Recht ist oder nicht. Dies betrifft insbesondere seine Zweifel an der unter Philosophen verbreiteten Tendenz, von bildlichen Redeweisen des Alltags bruchlos zu Theorien über einen seelischen Apparat überzugehen. Ist das Können also eine „unergründliche Wissensform“ (Abel 2010b: 319)? Legt man das übliche Verständnis der Bedeutungsdifferenz zwischen den Worten ‚anscheinend‘ und ‚scheinbar‘ zugrunde, würde Abels Antwort, soweit sie im Titel des hier behandelten Aufsatzes (Abel 2010b) signalisiert ist, lauten: Nein, es scheint nur so. Manche halten das Können zwar für unergründlich, aber zu Unrecht. Wenn diese Lesart richtig ist, ist es legitim, von Abels Überlegungen einen Beitrag zu einer solchen Ergründung zu erwarten, bereits an dieser Stelle stellt sich aber die Frage, was gemeint ist, wenn man von der Wissensform des Könnens spricht und sie unergründlich nennt: Sind wir nicht zutiefst damit vertraut, dass wir allerlei können? Haben wir es hier mit einer unnötigen Mystifikation zu tun? Wonach sucht ein Philosoph, wenn er das Können ergründen will? (Vgl. Schneider 2008.) Wer um Nüchternheit bemüht ist, wird an dieser Stelle feststellen, dass es im behandelten Bereich offene Fragen gibt, dass sich über das Können Einiges klärend sagen lässt und dass man mit dem Ziel des Ergründens nichts anderes im Auge hat als eine Beantwortung solcher Fragen. Zum Beispiel lässt sich in Zweifel ziehen, ob wir das Können überhaupt als eine Form des Wissens ansehen sollten. Mir selbst scheint es (anders als Abel) empfehlenswert, dasjenige Können, das er im genannten Aufsatz hauptsächlich im Auge hat, von vornherein vom Wissen auch durch die Wortwahl deutlich zu unterscheiden, und dies, obwohl die Ausdrücke ‚wissen wie‘ und ‚knowing how‘ im Umlauf sind (vgl. Schneider 2002, 2012a); die alltäglichen Redeweisen deuten ja nicht immer in die richtige Richtung. Als Begründung für eine solche, von Abels Sprachgebrauch abweichende terminologische Festlegung möchte ich anführen, dass wir z. B. Kindern, die gerade den aufrechten Gang erlernt haben, zwar ein Können zuschreiben, von diesem aber nicht sagen würden, es beruhe auf einem Wissen. Es klingt unange-
Vgl. dazu (Abel 2010a), sowie meine Antwort darauf im selben Band (512– 514).
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messen, zu sagen, das Kind ‚wisse wie‘ man aufrecht geht. Wenn also der Ausdruck ‚Wissen‘ an dieser Stelle vermieden würde, wäre diese Art des Könnens (um deren Besonderheit es Abel ja gerade geht) von vornherein von Kompetenzen unterschieden wie z. B. derjenigen, ein Brettspiel zu spielen, wenn der Weg zu dieser zweiten Fähigkeit bei dem betroffenen Spieler darin bestand, dem im Laden erworbenen Karton das Regelverzeichnis zu entnehmen und die Regeln auswendig zu lernen, um dann auf dieser Basis (im Streitfall unter Berufung auf die gedruckten Regelformulierungen²) dazu überzugehen, das Spiel mit anderen Kindern nun auch tatsächlich zu spielen. Hier beruht die Fähigkeit zu spielen auf einem Wissen, so dass es in diesem zweiten Fall (anders als beim aufrechten Gang) auf der Seite des Handelnden tatsächlich ein dem Können zugeordnetes Wissen gibt, das (wie wir es von einem Wissen verlangen) abfragbar ist. Überlegungen dieser Art sind begrifflich und sie sind zugleich normativ (eine Tatsache, die in Erörterungen über Wittgenstein immer wieder übersehen wird), denn sie haben unweigerlich mit der Frage zu tun, welche von mehreren möglichen Redeweisen aus welchen Gründen vorzuziehen ist. Es ist richtig, dass man Begriffsnetze auf mehr als eine Weise anlegen kann und in erster Linie darauf achten sollte, dass die Unterscheidungen, die man zu treffen vorschlägt, klar sind. So könnte man z. B. das Fremdwort ‚Kompetenz‘ als Oberbegriff verwenden wollen, zu dem die Ausdrücke ‚Können‘ (für eine praktische Fähigkeit in Abels Sinn) und ‚Wissen‘ (für eine sprachgebundene Fähigkeit) Unterbegriffe wären. Bei dieser terminologischen Festlegung wäre das vorsprachliche Können (im Einklang mit meinem eigenen terminologischen Vorschlag) keine Wissensform. – Statt von ‚Kompetenzen‘ zu sprechen, kann man aber auch (wie Abel es tut) das Wort ‚Wissensformen‘ als Oberbegriff verwenden, so dass das praktische Können als eine dieser Formen verbucht würde, woran Abel aus Gründen, die mir nicht deutlich geworden sind, anscheinend sehr viel liegt. Welcher der hier möglichen Wege letztlich vorzuziehen ist, lässt sich erst entscheiden, wenn die terminologischen Systeme hinreichend komplex sind, um einen Vergleich zu ermöglichen, der feststellt, welches von ihnen besser geeignet ist, uns vor Denkfehlern zu schützen, als ein anderes.
Zur Relevanz der Unterscheidung zwischen Regeln und Regelformulierungen vgl. (Schneider 2003, 2012b).
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2 Worin könnte nun aber der Versuch bestehen, das Können (über die eben beispielhaft erörterte Begriffsklärung hinaus) modellhaft oder mit Hilfe einer (philosophischen?) Theorie zu ergründen? Um diese Frage ein Stück weit zu klären, möchte ich mich direkt auf Formulierungen Abels beziehen, die anzudeuten scheinen, wohin die Reise nach seiner Auffassung zu gehen hätte.³ Im einleitenden Teil seines Aufsatzes schreibt Abel mit Bezug auf ein Können von der Art des Radfahren-Könnens: „Im erfolgreichen Falle funktioniert unser Knowing-How so selbstverständlich, dass wir nicht eigens auf es achten und auch nicht darüber nachdenken, welche unterschiedlichen Komponenten in ihm auf welche Weise zusammenspielen.“ (320) Hier erscheint das Können als ein komplexes inneres Werkzeug, das der Akteur einsetzt, es erscheint als ein Gegenstand, der aus Teilen besteht, die für das Gelingen der zugehörigen Handlungen auf ähnliche Weise ineinandergreifen oder zusammenspielen müssen, wie das bei Teilen einer Maschine oder bei den anatomischen Bestandteilen des menschlichen Arms der Fall ist. Dem entspricht eine alltagssprachliche Formulierung wie ‚sein Können zum Einsatz bringen‘. Wenn wir die negative Aussage jetzt auf ein Rad fahrendes Kind beziehen und sagen, es würde nicht auf das Zusammenspiel von Komponenten in einem ihm innerlich präsenten Komplex ‚Radfahrenkönnen‘ achten, ist dies sicher richtig. Abel macht aber darüber hinausgehend die Unterstellung, dass es da etwas gebe (das Zusammenspiel der Teile eines Werkzeugs), worauf das Kind nicht achtet. Wenn wir das sprachliche Bild wörtlich nehmen wollen, müssen wir selbst folglich sagen können, was wir meinen, wenn wir von dem sprechen, worauf das Kind nicht geachtet habe: Für uns Erwachsene muss es etwas geben, von dem auch das Kind, wenn es einmal älter ist, etwas wissen kann. Was also wissen wir selbst von dem in uns schlummernden komplexen Gegenstand, von unserer eigenen Fähigkeit, Fahrrad zu fahren? Könnten wir beim Radfahren auf das Zusammenspiel der Komponenten dieses inneren Gegenstandes achten? Auf welchem Wege sind uns die von Abel unterstellten Komponenten und ihr Zusammenspiel zugänglich? Was hat er uns über sie zu sagen? Betrachten wir den Fall genauer, der hier im Hintergrund zu stehen scheint: Wenn wir von jemandem sagen, er hätte, als er den Ball auffing, nicht auf das Zusammenspiel von Elle und Speiche und auf die Bewegungen der vielen einzelnen Knochen und Muskeln seiner Hand geachtet, dann wissen wir sehr wohl, was dasjenige ist, worauf er (wenn die Aussage korrekt ist) nicht geachtet hat. Alle Zitate, die allein durch eine Seitenzahl ausgewiesen sind, sind aus (Abel 2010b).
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Jeder Sportarzt kann in diesem Fall einen Komplex von Komponenten nennen und ihn z. B. an anatomischen Tafeln oder Präparaten aufweisen; er kann erklären, auf welche Weise die Teile ineinandergreifen müssen, damit die Handlung erfolgreich vollzogen werden kann, auch wenn der Handelnde von ihnen nichts zu wissen braucht und sie nicht beachten muss. In diesem Fall ist es also klar, was es heißen würde, von ihnen etwas zu wissen. Und zumindest einige Knochen und Muskeln unserer Hand können wir sogar selbst zu ertasten und zu benennen lernen. Einen entsprechenden körperlichen Komplex von Komponenten gibt es auch beim Radfahren. Diesen hat Abel aber nicht im Auge, vielmehr scheint es bei ihm um einen ‚seelischen Apparat‘ zu gehen, dessen psychische Komponenten aber offenbar so ähnlich zusammenspielen können wie die anatomischen Teile unseres Greifapparats. Wenig später heißt es vom Radfahrenkönnen, es sei „ein praktisches und prozedurales Wissen, ein in Fähigkeiten, Fertigkeiten und Geschicklichkeiten bestehendes Können, das sich (soweit es um mich als Akteur in der Ersten-PersonPerspektive geht) auf eigentümliche und scheinbar unergründliche Weise der propositionalen Artikulation und Analyse entzieht“ (320). Hier ergeben sich mehrere Fragen: (a) Sollen die aufgezählten Fähigkeiten, Fertigkeiten und Geschicklichkeiten die vorher angesprochenen Komponenten des Könnens sein, oder was sonst wären im Fall des Könnens die Bestandteile, die zusammenspielen müssen? Da Abel sagt, das Wissen bestehe in (nicht: aus) Fähigkeiten etc., muss er wohl meinen, es zeige sich in ihnen, und nicht, es sei aus ihnen zusammengesetzt. (b) Was aber sind stattdessen die oben angesprochenen Komponenten? Wäre ihre Aufzählung und die Darstellung der Weise ihres Zusammenspiels in einem Können die gesuchte ‚Ergründung‘ dieses Könnens? (c) Ist die Tatsache, dass eine Nennung von Komponenten dem Handelnden schwer fällt, nun doch ein Beleg für die Unergründlichkeit des Könnens? – Aber vielleicht ist die Nennung von Komponenten nicht die einzige mögliche Art einer Aufklärung. Auch eine Aussage über die verschiedenen Weisen, auf die sich ein Können zeigen kann, könnte ein Beitrag zu seiner ‚Ergründung‘ sein. Wenn die Frage demgemäß lautet ‚woran zeigt sich ein Können‘, dann ist (erstens) die von manchen vermutete Unergründlichkeit verschwunden und wir scheinen uns (zweitens) mit den Antworten wieder im Bereich von begrifflichen Untersuchungen zu befinden, denn diese Antworten wären kein Teil einer Theorie über einen seelischen Apparat, sondern Auskünfte zur Verwendung des Ausdrucks ‚Können‘: Was sind Kriterien für die Zuschreibung ‚sie kann Radfahren‘? (d) Schließlich ist zu fragen, ob das Ergründungsziel leichter zu erreichen wäre, wenn man die Perspektive der ersten Person aufgeben würde zu Gunsten der Frage, worin das Können (auch) eines anderen Menschen bestehe (‚er kann et-
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was‘). Warum entsteht ein besonderes Problem bei der Einnahme der Perspektive der ersten Person (‚ich kann etwas‘)? Rechnet Abel mit der Möglichkeit einer ‚Introspektion‘ oder nicht? Mir scheint, dass der Eindruck des Geheimnisses (den Abel ja als einen falschen Schein erweisen will) im Fall der Perspektive der ersten Person bei ihm dadurch entsteht, dass er das Radfahrenkönnen als eine Form des Wissens behandelt. Denn nur, wenn wir jemandem ein Wissen zuschreiben, kann die (im Fall des Radfahrens enttäuschte) Erwartung berechtigt erscheinen, dass er es auch artikulieren kann. Ein Prüfungskandidat kann nur dann beanspruchen etwas zu wissen, wenn er sein Wissen zur Sprache bringen kann.⁴ Zu dieser Artikulationsfähigkeit eines echten Wissens gehört auch die Fähigkeit, die dabei benutzten Begriffe zu anderen Begriffen in Beziehung zu setzen, also das artikulierte Wissen in diesem Sinne (wie Abel sagt) zu analysieren. Wenn man aber (wie ich vorschlage) den Ausdruck ‚Wissen‘ für nicht sprachbasierte Fähigkeiten vermeidet und bei ihnen konsequent von einem Können spricht, dann ist es offenbar unsinnig zu erwarten, dass ein Akteur in allen Fällen, in denen er etwas kann, auch in der Lage ist, dies Können zu artikulieren. Das Wort ‚unsinnig‘ signalisiert hier, dass die Unartikulierbarkeit nicht aufgrund einer besonderen Schwäche auf der Seite des Akteurs besteht, auch nicht aufgrund einer besonderen Schwierigkeit dieser speziellen Aufgabe, sondern deshalb, weil gar nicht klar ist, was es (bezogen auf eine beliebige praktische Fähigkeit) überhaupt heißen soll, sie zu artikulieren. Für mich ist die Tatsache, dass das Wort ‚artikulieren‘ seinen etablierten Sinn verliert, wenn man es auf ein Können bezieht, das nicht auf einem Wissen beruht, ein Argument dafür, den entsprechenden Könnensbereich terminologisch nicht als Form des Wissens zu fassen. Damit scheint mir auch für die systematische Stoßrichtung von Abels Aufsatz etwas gewonnen zu sein, denn er stellt ja diese nicht wissensbasierte Form des Könnens in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und verteidigt ihre Möglichkeit und Eigenständigkeit mit Recht gegen Versuche, sie intellektualistisch zu deuten, als müsse es bei ihnen innere Regelverzeichnisse geben, die der Akteur unbewusst konsultiert. Mein Vorschlag, an dieser Stelle das Können vom Wissen deutlich zu trennen, um Anschlussfragen auszuschließen, deren Sinn unklar ist, ist ein begrifflicher: Wenn man das nicht wissensbasierte Können vom Wissen im eigentlichen Sinne deutlich unterscheidet, dann erscheint die Tatsache nicht mehr rätselhaft, dass der Akteur sein Können nicht artikulieren kann. Abel spricht von einem rätsel-
Dieses Zur-Sprache-Bringen besteht aber nicht in einem introspektiven Akt des Nachschlagens in einem inneren Verzeichnis des vom Akteur Gewussten und ist in diesem Sinne nicht introspektiv.
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haften Charakter nur beim Fall der Perspektive der ersten Person, und wir können jetzt ergänzen: Denn nur dann kann überhaupt der Anschein entstehen, der Akteur müsse (wie im Fall eines Wissens, das er zu haben beansprucht) auch sein Knowing-How in Worte fassen, d. h. artikulieren können. Betrachten wir dagegen eine andere Person, dann ist es zwar uns selbst als Handlungspartnern möglich, über sie und ihr Können allerlei Aussagen zu machen, diese Aussagen würden wir aber nicht als ‚Artikulationen‘ eines (vermeintlichen) Wissens bezeichnen, das diese Person selbst (wenn sie das Können besitzt) notwendigerweise haben müsse. Die Person braucht kein Wissen zu haben, das aus ihrem ‚Inneren‘ mit Hilfe von Wörtern nach ‚außen‘ gelangen kann und das zu ihrem Können in einer besonderen (internen) Beziehung stehen würde, der gemäß man sagen könnte, das Können bestehe aus dem, was in einer zugehörigen Artikulation zur Sprache komme. Bleiben wir also bei der von vornherein weniger geheimnisvollen Perspektive der dritten Person und kehren wir zu der Frage zurück, ob es bei den hier nötigen Klärungsbemühungen um eine Theorie gehe. Es finden sich immer wieder Passagen in Abels Aufsatz, die dafür sprechen, dass er auf dem Weg philosophischen Nachdenkens zu einer Theorie über einen seelischen Apparat kommen möchte. Dieser soll aus zusammenwirkenden Teilen bestehen, und das angestrebte Ergründen des Könnens soll darin bestehen, unser Verständnis des Zusammenwirkens dieser Teile zu verbessern, die wir (wie wir jetzt annehmen wollen) im Prinzip auch durch das Studium der Handlungsweisen anderer Menschen erkennen können. Ein solcher Passus setzt beim Begriff der Erfahrung an und bezieht ihn auf den Bereich des Könnens: „Erfahrung kann als eine Gemengelage unterschiedlicher Komponenten angesehen werden, in der unter anderem Informationen und Fähigkeiten nicht isoliert, sondern zusammen erworben und in ihrem Wechselspiel gemeinsam angetroffen werden.“ (322) Wieder fällt auf, dass von Komponenten, also von Teilen gesprochen wird, die entweder bloß gemischt sind (‚Gemengelage‘: Gemisch von Steinen in einer geologischen Schicht) oder die in einem strukturierten Wechselspiel stehen, das wohl von der Art sein soll, wie es oben für die anatomischen Teile von Arm und Hand betrachtet wurde. Aber wie ist eine Wechselwirkung zwischen Informationen und Fähigkeiten (oder zwischen „Überzeugungen und Knowing-How“, 326) zu denken? Die aufzuklärende Beziehung kann wohl kaum eine kausale Beziehung im Sinne der Naturwissenschaften sein. Wenn mich die Information erreicht, ich hätte im Lotto gewonnen, und ich daraufhin ein Restaurant der Spitzenklasse aufsuche, dann ist das Verhältnis von Information und Handlung kein kausales. Vielmehr kann die schlagartige Verbesserung meiner finanziellen Verhältnisse für mich ein Grund sein, in das bessere Lokal zu gehen. Dann aber wären wir in der Handlungswelt, in der ein Akteur eine Handlungsweise verständlich macht, und nicht im Bereich von Mechanis-
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men. Grundsätzlicher gefragt: Was für Arten von Beziehungen können in einer Theorie eines seelischen Apparats überhaupt vorkommen? Um an eine positive Formulierung Abels anzuknüpfen: Was wäre „eine vereinheitlichte Theorie von Perzeption, Kognition und Handlung“ (337), von der er sagt, sie könne „einzig als ein holistisches Geflecht und nicht mehr in den isolierten Strängen von Perzeptions-, Kognitions- und Handlungstheorie durchgeführt werden“ (ibd.)? Die Verwendung des in der Philosophie geläufigen Ausdrucks ‚Handlungstheorie‘ legt nahe, dass Abels Ziel vielleicht doch in einer Begriffsklärung besteht, denn von einer philosophischen Handlungstheorie hat man noch nie gehört, sie sei empirisch widerlegt worden. Eine ‚Theorie‘ in diesem auf die Philosophie eingeschränkten Sinne wäre aber nichts anderes als ein weit reichendes und gut begründetes Begriffssystem, das Widersprüche und unsinnige Anschlussfragen so gut es geht ausschließt und unser Reden über Handlungen, Beweggründe, bloße Verhaltensweisen etc. zu ordnen geeignet ist. Aber kann es in diesem Sinne neben der Handlungstheorie auch philosophische Perzeptions- und Kognitionstheorien geben? Wären auch diese ‚Theorien‘ für Abel Begriffssysteme oder strebt er eine umfassende philosophische Theorie an, die als ganze empirisch, also falsifizierbar sein soll? Der Ausdruck „holistisches Geflecht“ signalisiert für mein Verständnis den begrüßenswerten Vorsatz, auf diesen Feldern eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den einschlägigen Fachwissenschaften anzustreben. Die Art des Zusammengehens der (empirischen und nicht empirischen) Theorieteile bleibt an dieser Stelle aber ebenso dunkel wie oben die Art der Beziehung zwischen den Komponenten des Könnens. Wenn Abel an anderer Stelle Zustände wie die „der Heiterkeit, der Traurigkeit, des Verliebtseins oder der Eifersucht“ (321) erwähnt, geschieht dies zwar, um zu sagen, sie lägen nicht im Zentrum seiner Untersuchung. Wenn er aber in diesem Zusammenhang von einem Wissen spricht, „wie es sich anfühlt, solche Zustände zu erleben, bzw. in ihnen zu sein“ und ihnen „Phänomene, Zustände und Prozesse“ zuordnet (321), dann bewegt er sich einerseits im Rahmen weithin üblicher Ausdrucksweisen, auf der anderen Seite ist im hier behandelten philosophischen Kontext aber zu befürchten, dass gerade der zuletzt genannte Schritt in diejenige Vergegenständlichung führt, vor der uns Wittgenstein (wie ich meine, mit Recht) warnt. Wittgenstein schreibt: „Wie kommt es nur zum Problem der seelischen Vorgänge und Zustände und des Behaviourism? – Der erste Schritt ist der ganz unauffällige. Wir reden von Vorgängen und Zuständen, und lassen ihre Natur unentschieden! Wir werden vielleicht einmal mehr über sie wissen – meinen wir. Aber eben dadurch haben wir uns auf eine bestimmte Betrachtungsweise festgelegt. Denn wir haben einen bestimmten Begriff davon, was es heißt: einen Vorgang näher kennen zu lernen. (Der entscheidende Schritt im Taschenspielerkunststück ist getan, und gerade er schien uns unschuldig.)“ (1953: Teil I, § 308)
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Wittgenstein zieht also in Zweifel, dass die Betrachtungsweise, die sich in der Terminologie der ‚Vorgänge und Zustände‘ zeigt, der Sache angemessen ist. Heute führt sie diejenigen, die sie benutzen, meistens direkt zu den Vorgängen im Zentralnervensystem, was für Abel dankenswerterweise nicht gilt. Mir scheint aber, dass sie mit Bezug auf einen seelischen Apparat ebenfalls noch mehr Aufklärung verlangt, als Abel uns gibt (vgl. Schneider 2005). Zustände und Prozesse erscheinen also bei Abel als Kandidaten für die gesuchten ‚Komponenten‘, die in einem seelischen Apparat so zusammenspielen, dass eine Handlung resultiert. So heißt es bei ihm: „Wir treffen im sensorischen Wahrnehmen sowie im Bereich praktischen alltäglichen Verhaltens ebenso wie im emotionalen Erleben auf Prozesse vor-begrifflichen, vor-theoretischen, vorpropositionalen (z. B. sinnlich-phänomenalen) Diskriminierens, Individuierens, Verknüpfens, Abgrenzens, Tilgens, Einschließens, Präferenzierens, Vergleichens, Anordnens und senso-praktischen Klassifizierens. Sensorisch-phänomenale ebenso wie praktikeninterne Muster, Szenarien, Schemata und Gehalte werden zugleich aktivisch eingesetzt und passivisch erfahren.“ (334 f.) Hier wird ein seelischer Apparat geschildert, in dem einerseits (wie bei einem laufenden Motor) allerlei geschieht: Wir treffen auf Prozesse, die wir offenbar wie die Bestandteile des Nervensystems vorfinden. Das ‚Wir‘, von dem hier die Rede ist, scheint der Wissenschaftler zu sein, oder ist es der Akteur, der diese Prozesse (wie eine Hitzewallung oder ein Herzrasen) an sich (‚introspektiv‘) wahrnimmt? Oder sind die fraglichen Prozesse beiden zugänglich? – Andererseits kann der Akteur diese Komponenten des seelischen Apparats auch aktiv handhaben, er kann z. B. ein ihm bekanntes Muster einsetzen. Abel legt nun Wert auf die These, dass die Leistungen, die der Apparat erbringt, nicht nur von uns als analog zu unseren sprachbezogenen (begrifflichen) Leistungen behandelt werden, die wir als unsere eigenen ansehen. Die Leistungen des Apparats „können vielmehr als genuine primordiale Organisations-Leistungen angesehen werden. Sie präfigurieren unser Welt-, Fremd- und Selbstverhältnis lange bevor es zu einer expliziten Organisation dieses unseres basalen Triangel-Verhältnisses in und kraft explizit begrifflichen Wissens im engeren Sinne (z. B. zu Regelformulierungen, zu Regelwissen, zu begrifflichen Klassifikationen, Theorien, Evaluationen und Beurteilungen) kommt.“ (335) Wenn es hier darum geht, das Ineinandergreifen von Prozessen (letztlich auch leiblicher Art?) und Handlungen zu verstehen und die Betrachtung der Prozesse als handlungsartig zu rechtfertigen, dann muss man sich vor den Fallen des Leib/ Seele-Problems hüten, vor der „Schwierigkeit, verständlich machen zu müssen, wie denn diese beiden analogen Bereiche zusammenhängen und auf welche Weise Brücken zwischen ihnen geschlagen werden könnten“ (335). Um diesen Schwierigkeiten zu entgehen, zieht Abel die Rede von den „Komponenten“ des
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seelischen Apparats ein Stück weit zurück: „Denn in den tatsächlichen sensokognitiven Vollzügen handelt es sich nicht um Brückenschläge.Vielmehr vollzieht sich und funktioniert die Praxis des tatsächlichen Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns offenkundig so, dass die darin wirksamen (und lediglich in heuristischer Hinsicht und im nachhinein isolierten) einzelnen Komponenten immer schon fusioniert ineinander liegen und in einem holistischen Sinne zusammenspielen und wechselwirken.“ (335) Diese Aussagen können als Lösung des Problems aber nicht befriedigen: Auf der einen Seite soll es wirksame einzelne Komponenten geben, die zusammenspielen. So liegen die Dinge auch bei einem Automotor und bei der Anatomie der menschlichen Hand. Die Aufgabe bestand dem entsprechend darin zu erklären, von welcher Art die angesprochene Wechselwirkung ist. Beim Motor muss dem Lehrling erklärt werden, wie das Zusammenspiel z. B. von explodierendem Treibstoffgemisch, Keilriemen, Zahnrädern, Stangen etc. dazu führen kann, dass eine kontinuierliche Drehbewegung entsteht. Entsprechendes gilt für den Medizinstudenten. Wenn sich eine solche Erklärung im Fall des seelischen Apparats nicht leicht formulieren lässt, dann kann die Lösung hier nicht in der Aussage bestehen, die Komponenten würden „immer schon fusioniert ineinanderliegen“ und holistisch zusammenspielen. Jeder Laie, der ein Auto vorfahren sieht und dann den Motorraum öffnet, wird beiden Aussagen zustimmen können: Da das Auto die erwartete Leistung erbracht hat, müssen seine Teile offenbar holistisch ‚als Fahrzeug‘ zusammengespielt haben, und ein Motor sieht aus wie ein kompakter Block aus vielen ineinanderliegenden Teilen. Dies bedeutet aber nicht, dass mit diesen beiden Feststellungen bereits ergründet wäre, wieso das Auto die erwünschte Leistung erbringt. Auch die Aussage, die Komponenten seien „lediglich in heuristischer Hinsicht und im nachhinein“ isoliert worden, hilft, wenn es um das Können geht, nicht weiter, denn die Aufgabe besteht an dieser Stelle nicht darin, bereits identifizierte Komponenten eines seelischen Apparats zu isolieren (ein einzelnes Zahnrad auszubauen, einen bestimmten Knochen des Handgelenks zu präparieren), sondern sie besteht in der Beantwortung der systematisch vorhergehenden Frage, ob die Rede von den Komponenten (und also die Rede von deren Identifizierung) überhaupt verständlich ist oder ob die Vorstellung von einem seelischen Apparat, in dem Komponenten zusammenwirken, entweder auf grundsätzlichere Weise revisionsbedürftig ist oder (was offenbar die Meinung Wittgensteins gewesen ist) nur als Teil einer bildlichen Beschreibung von Handlungsweisen gelesen werden sollte, so dass es unsinnig wäre, deshalb nach realen Teilen eines seelischen Apparats zu suchen, weil unsere metaphorische Beschreibung die Rede von Teilen enthält. Entscheidend scheint mir zu sein, ob wir hier wirklich über einen schwer zugänglichen Gegenstand sprechen, über einen seelischen Apparat, über den wir
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falsifizierbare Hypothesen aufstellen, oder ob auch diejenigen Überlegungen Abels, die sich so anhören, als täten wir dies, bei Licht besehen besser als begriffliche Untersuchungen formuliert und verstanden werden sollten, – möglicherweise auch gegen die Intentionen ihres Autors. Im zweiten Fall wäre unser Thema nicht ein verborgener Apparat, dessen Funktionieren uns verständlich machen soll, wie es zu den Leistungen kommt, bei deren Vorliegen wir sagen, jemand könne etwas, sondern unser Thema wären unsere Redeweisen. Auf den zuletzt betrachteten Fall bezogen ginge es nicht um die Frage, ob es Prozesse des Diskriminierens, Individuierens etc. gibt, die (wie wir auf empirischem Wege herausfinden) analog zu manchen unserer bewussten Handlungen (wie ‚einen Unterschied machen‘) funktionieren. Sondern unser Thema wäre die Frage, ob wir berechtigt sind, unsere vertraute Handlungssprache metaphorisch auf Lebensvorgänge auszudehnen, die im strikten, wörtlichen Sinne einer am Mechanismus orientierten Biologie üblicherweise so nicht bezeichnet werden. Dürfen wir z. B. von einer Pflanze sagen, sie trinke, von einer Katze, sie wisse, wo sich die Maus versteckt habe, und von einem weißen Blutkörperchen, es würde einen Eindringling angreifen? Die Analogie, von der Abel spricht, wäre in diesem Fall keine empirisch feststellbare und möglicherweise evolutionstheoretisch erklärbare strukturelle Ähnlichkeit zwischen zwei vorfindbaren ‚Mechanismen‘, sondern sie bestünde im Reiche der Begriffe. Wir sprächen über Lebensprozesse in einer Sprache, die solche Prozesse als analog zum Bereich unserer Handlungen behandelt. Wissenschaftstheoretisch stünde die Legitimität dieser übertragenen Sprechweise zur Debatte. Es ginge dann nicht um einen unmittelbaren Zugriff auf Eigenschaften von Gegenständen aus verschiedenen Bereichen, es ginge um die Angemessenheit von Begriffen in verschiedenen Forschungsprogrammen (vgl. Schneider 1989, 2004, 2012a). Um für diese Möglichkeit eine Brücke zu Abels Text zu bauen, möchte ich darauf hinweisen, dass er selbst wiederholt von „Bildern“ spricht, wenn er die Berechtigung einer Sehweise erörtert (325, 335 f.). Und wenn er am Ende daran geht, seine eigene Sicht zu umreißen, schreibt er, er würde „für ein anderes Modell plädieren“ (336); auch spricht er von seiner „Zeichen- und Interpretations-Topologie“ (338). Alle diese Ausdrücke können als Indizien dafür gelesen werden, dass es bei den von ihm behandelten Problemen auf der bisher erreichten Stufe eigentlich um die Legitimität von Redeweisen geht, nicht um empirisch feststellbare Fakten. Freilich gibt es hier einen Zusammenhang: Metaphern lassen sich manchmal zu komplexen Bildern ausbauen, die sich als (meist eingeschränkte, nur bestimmte Aspekte berücksichtigende) Modelle verstehen lassen, die dann wiederum als Keimzellen von Theorien fungieren können. Es wäre gewiss lohnend, diese Zusammenhänge für den von Abel erörterten Bereich detailliert
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auszuarbeiten. Aber mir scheint, dass hier auf zwei Dinge mit größter Sorgfalt zu achten ist: Erstens müssen wir (streng genommen bei allen, insbesondere aber) bei allen übertragenen Ausdrucksweisen damit rechnen, dass manche der sprachlichen Anschluss-Züge, die sich nahe legen, in die Irre führen. Nur einige der Weisen, z. B. an kreative Metaphern anzuschließen, führen weiter, indem sie Aspekte des erörterten Bereichs erschließen, die wir vorher übersehen hatten. Als Beispiel dafür, dass sich auch Irrwege anbieten, hatte ich oben den Ausdruck ‚Wissensform‘ genannt, wenn er für ein nicht wissensbasiertes Können verwendet wird, weil er zur Frage nach der Artikulation des Könnens einlädt, die hier keinen Sinn hat. So entsteht der falsche Eindruck der Unergründlichkeit. Große Teile der Philosophie des späten Wittgenstein bestehen darin, uns für diesen Unterschied zu sensibilisieren, den Unterschied zwischen Fällen, in denen die Sprache arbeitet und solchen in denen sie feiert (1953: Teil I, § 38). Und zweitens: Wir müssen klar im Auge behalten, welche der aufgeworfenen Fragen sich auf unser Darstellungsmittel beziehen und welche Fragen es (bildlich gesprochen: durch das Darstellungsmittel hindurch) mit der besprochenen Sache zu tun haben. Eine drastische und witzige Erinnerung an diese Unterscheidung verdanken wir den Wittgenstein-Kennern Gordon Baker und Peter Hacker, die mit Bezug auf eine psychologische Untersuchung über die Geschwindigkeit, in der verschiedene Versuchspersonen das Bild eines räumlichen Gegenstandes ‚im Geiste‘ drehen können, die ironische Anregung gaben, bei weiteren Versuchen dieser Art möge man doch auch den Luftwiderstand berücksichtigen, den die Drehbewegung des Bildes überwinden müsse (Baker / Hacker 1982). Man kann sich gut einen Kontext vorstellen, in dem auf legitime Weise von einer Drehung eines erinnerten Bildes ‚im Geiste‘ die Rede ist, aber nicht alle sprachlichen Anschlussmöglichkeiten an diese Ausdrucksweise bleiben im Bereich des Sinnvollen. Wie ich hier zu zeigen versucht habe, ist schon die Rede von den ‚Komponenten‘ einer Fähigkeit aufklärungsbedürftig, dasselbe gilt m. E. für Wörter wie ‚Schema‘, ‚Muster‘, ‚Gehalt‘, aber auch für ‚Mechanismus‘ und ‚Prozess‘. Solche Ausdrücke müssen daraufhin befragt werden, ob sie ihre Bedeutung verändern, wenn sie im hier betrachteten philosophischen Kontext benutzt werden, und welche der sich bei ihnen anbietenden Fortsetzungen unsinnig sind. Mir scheint, dass die erste Aufgabe des Philosophen an dieser Stelle darin besteht, eine Begrifflichkeit zu erarbeiten, die solche Bedeutungsmodifikationen berücksichtigt und Sinn von Unsinn zu trennen hilft. Erst dann lassen sich (von den Einzelwissenschaften) Hypothesen über sprachextern vorliegende Gegenstände aufstellen und empirisch überprüfen.
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Diesen Punkt möchte ich abermals an Formulierungen in Abels Text illustrieren. Er plädiert für „das Modell […] einer Kontinuität und Genealogie des explizit begrifflichen und propositional-sprachlichen Wissens aus dem Bereich praktischer und senso-phänomenaler perzeptueller Diskriminationen und Individuationen“ (336) und äußert als These, es gehe „um die kognitive und epistemische Kraft der senso-perzeptuellen und praktischen Fähigkeiten selbst“ (336). Er spricht im selben Zusammenhang von „höherstufigen Mechanismen“ (336) und vom begrifflichen Wissen, das „seine genuine Eigenlogik entfaltet“ (337). Haben wir hier eine Faktenfrage vor uns (wie sehen vorgefundene Mechanismen aus?) oder eine Frage nach dem Nutzen und der Legitimität einer bestimmten Darstellungsweise? Konkret: Soll hier die empirische Hypothese aufgestellt werden, das begriffliche Wissen habe sich im Laufe der Evolution aus der Fähigkeit, in der Wahrnehmung Unterschiede festzustellen, auf wissenschaftlich nachvollziehbare und an den betreffenden Organen ablesbare Weise entwickelt, oder plädiert Abel dafür, den Begriff der perzeptuellen Diskrimination auch bei seiner Anwendung auf nicht-sprachfähige Lebewesen (und/oder auf Teile von Organismen) so zu fassen, dass wir ihn (bewusst und gewollt) im Lichte dessen verstehen, was wir von uns selbst kennen, wenn wir z. B. sagen, wir würden als unserer selbst bewusste und handelnde Wesen ‚einen Unterschied machen‘? Noch einmal anders gefragt: Ist die Analogie, von der bei Abel die Rede ist, eine strukturelle Gleichheit oder Verwandtschaft von Gegenständen oder ist sie eine (wie ich meine: wissenschaftstheoretisch durchaus zu rechtfertigende) Eigenschaft der von uns gewählten Darstellungsweise? Im zweiten Fall würden wir die vorsprachlichen Lebensformen begrifflich analog behandeln zu unseren eigenen Handlungsformen, und hier ließe sich dann auch von einem ‚Wissen im übertragenen Sinn‘ sprechen.⁵ Wie eine solche Behandlung des einen Bereichs im Lichte eines anderen im Detail aussehen muss, ist im Einzelfall zu prüfen. Eine anthropomorphe Redeweise ist nicht grundsätzlich unzulässig, mir scheint vielmehr, dass es für sie in vielen Fällen gute Gründe gibt. Aber wir sollten wissen, was wir tun, und unsere Karten offen auf den Tisch legen, was insbesondere heißt, den begrifflichen Teil
Ich habe in diesem Sinne vorgeschlagen, drei Bereiche zu unterscheiden: das nicht wissensbasierte Können, das Wissen im eigentlichen Sinne und das Wissen im übertragenen Sinn (Schneider 2012a). Zum ‚Wissen im eigentlichen Sinne‘ zähle ich auch das, was sich früh im Spracherwerb als die Fähigkeit zeigt, einfache Fragen der Form ‚was ist das‘ korrekt zu beantworten. Anders als Abels (2012: 2) „narrow concept of knowledge“ sind dafür keine „methodgoverned procedures“ erforderlich. Manches von dem, was Abel zum „broad concept of knowledge“ zählt, fällt bei mir unter Wissen im übertragenen Sinn. Meine Terminologie soll daran erinnern, dass es in philosophischen und theoretischen Kontexten (anders als im Alltag) oft nötig ist, den fraglichen Übertragungsschritt ausdrücklich zu machen und zu legitimieren.
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der Überlegungen deutlich von dem zu unterscheiden, was als empirisch widerlegbarer Theorie-Ansatz gemeint ist.
3 Rückblickend möchte ich festhalten, dass ich in einigen Grundorientierungen dem Ansatz Abels ausdrücklich zustimme: Es ist zu begrüßen, dass er naturwissenschaftlich orientierten Versuchen, menschliches Handeln reduktionistisch zu verstehen, ausdrücklich widerspricht und die sonst vielfach anzutreffenden orakelhaft-unbestimmten Bezüge auf das menschliche Gehirn ganz unterlässt. Ich finde sein Programm, für die hier erörterten Fragen beim Zeichenbegriff anzusetzen, vielversprechend und stimme ihm zu, wenn er, als Tenor des erörterten Textes, die Eigenständigkeit des praktischen Knowing How in den Vordergrund stellt. Dies kann ich würdigen, auch wenn es mir weniger irreführend erscheint, hier terminologisch von der Eigenständigkeit desjenigen Könnens zu sprechen, das sich keinem expliziten Wissen verdankt, und Ausdrücke, die das Gegenteil nahe legen (wie Tacit Knowledge und Knowing How), in diesem Bereich ganz zu vermeiden oder deutlich als übertragene Redeweisen kenntlich zu machen. Ich finde den Zug, sowohl von Zeichen-Handlungen als auch von ZeichenProzessen zu sprechen, als Ausdruck eines Programms überzeugend, vermisse aber wissenschaftstheoretische Erörterungen über die Frage, ob, wie und in welchen Bereichen sich eine Übertragung unserer Handlungsterminologie auf den Bereich leiblicher Prozesse (oder auch in die Sphäre tierischen Verhaltens) rechtfertigen lässt und wie sich eine solche Übertragung auf unser Verständnis der Lebenswissenschaften auswirken würde. Hier wäre eine Auskunft darüber nötig, wie wir auf diesem Wege einen Mittelweg plausibel machen können, der einen naiven Anthropomorphismus ebenso vermeiden würde wie einen reduktionistischen Naturalismus. Ich würde mir wünschen, dass Abel deutlicher macht, an welchen Stellen er Sprachanalyse betreibt, also untersucht, wie wir uns im Bereich menschlichen Handelns (und dann im übertragenen Sinne in einem weiter gefassten Bereich des Lebendigen) terminologisch bewegen sollten, und an welchen Stellen er an Modellen und Theorien arbeitet, die einen Brückenschlag zu empirischen Fragestellungen erlauben sollen. Zum ersten Aufgabenbereich gehört die Klärung der Frage, bei welchen alltäglich gebräuchlichen und in diesem Gebrauch harmlosen Redeweisen wir uns auch dann auf der Ebene der bloßen Beschreibung befinden, wenn wir dabei bildhaft von Werkzeugen, Apparaten oder Mustern sprechen. In diesem Fall wird das Handeln (ganz untheoretisch) so beschrieben, als ob der Handelnde innerlich mit Dingen hantieren würde (‚hier setzte er seine diploma-
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tische Kompetenz ein‘, ‚hier griff er auf sein phänomenales Gedächtnis zurück‘). Wittgenstein warnt uns aber davor, in solchen bildlichen Ausdrücken mehr zu sehen, als was ihr alltäglicher Gebrauch erkennen lässt; insbesondere wendet er sich sowohl gegen den traditionellen philosophischen Intentionalismus (der einen inneren Menschen unterstellt, der all das schon kann, was der Philosoph mit Bezug auf den ‚äußeren‘ Menschen zu erklären versucht) als auch gegen naturwissenschaftliche Reduktionen (bei ihm: die Leugnung des geistigen Bereichs).⁶ Hier finde ich, wie ausgeführt, Abel immer wieder einmal unentschieden. Er möchte, wie mir scheint, nicht auf der Ebene der bildlichen Beschreibung stehen bleiben, sondern er zielt auf eine (psychologische oder philosophische?) Theorie, die über einen umfassenden und gut begründeten terminologischen Vorschlag hinausgeht. Wie das im Einzelnen innerhalb seines zeichenbezogenen Ansatzes erreicht werden soll, wie dann der Zusammenhang zwischen Metapher, Modell und Theorie im Bereich des menschlichen Könnens und Handelns hergestellt wird und was daraus schließlich für eine wissenschaftstheoretische Behandlung von Psychologie und Biologie folgt, – darüber wünschen wir in Zukunft von Günter Abel noch Erhellendes zu lesen!
Literatur Abel, Günter 2010a: Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte, in: Tolksdorf, Stefan / Tetens, Holm (Hg.): In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können, Berlin, S. 127 – 156. Abel, Günter 2010b: Knowing-How. Eine scheinbar unergründliche Wissensform, in: Bromand, Joachim / Kreis, Guido (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin, S. 319 – 340. Abel, Günter 2012: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, Berlin / Boston, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), S. 1 – 52. Baker, Gordon / Hacker, Peter M. S. 1982: The Grammar of Psychology: Wittgenstein’s ‚Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie‘, in: Language and Communication 2, S. 227 – 244. Schneider, Hans Julius 1989: Anthropomorphes versus anthropozentrisches Denken. Zur ethischen und wissenschaftstheoretischen Bedeutung einer Unterscheidung, in: Gatzemeier, Matthias (Hg.): Verantwortung in Wissenschaft und Technik, Mannheim, S. 34 – 45. Schneider, Hans Julius 2002: Beruht das Sprechenkönnen auf einem Sprachwissen? In: Krämer, Sibylle / König, Ekkehard (Hg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? Frankfurt a. M., S. 129 – 150.
Vgl. (Schneider 2012a).
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Hans J. Schneider
Schneider, Hans Julius 2003: Konstitutive Regeln und Normativität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51, S. 81 – 97. Schneider, Hans Julius 2004: Erfahrung und Erlebnis. Ein Plädoyer für die Legitimität interaktiver Erfahrungen in den Naturwissenschaften, in: Esterbauer, Reinhold / Pernkopf, Elisabeth / Schönhart, Mario (Hg.): Spiel mit der Wirklichkeit. Zum Erfahrungsbegriff in den Naturwissenschaften, Würzburg, S. 231 – 248. Schneider, Hans Julius 2005: Reden über Inneres. Ein Blick mit Ludwig Wittgenstein auf Gerhard Roth, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, S. 743 – 759. Schneider, Hans Julius 2008: Ein ‚Rätsel des Bewusstseins‘ – für wen? In: Cramm, Wolf-Jürgen / Keil, Geert (Hg.): Der Ort der Vernunft in einer natürlichen Welt, Weilerswist, S. 88 – 102. Schneider, Hans Julius 2010: Stellungnahmen, in: Tolksdorf, Stefan / Tetens, Holm (Hg.): In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können, Berlin, S. 493 – 559. Schneider, Hans Julius 2012a: Können, Wissen, Zuschreibung. Begriffliche Vorschläge im Ausgang von Wittgenstein, in: Loenhoff, Jens (Hg.): Implizites Wissen. Epistemologische und handlungstheoretische Perspektiven, Weilerswist, S. 67 – 90. Schneider, Hans Julius 2012b: Was ist eine Regel? In: Duschek, Stefan / Gaitanides, Michael / Matiaske, Wenzel / Ortmann, Günther (Hg.): Organisationen regeln. Die Wirkmacht kooperativer Akteure, Wiesbaden, S. 17 – 28. Wittgenstein, Ludwig 1953: Philosophische Untersuchungen / Philosophical Investigations, New York.
Günter Abel
Wissensformen und praktische Fähigkeiten Replik zum Beitrag von Hans Julius Schneider Der Beitrag von Hans J. Schneider liefert eine gründliche Erörterung sowohl meiner Konzeption des Knowing-How als auch einiger der damit verbundenen Aufgaben der Philosophie insgesamt. Schneider hat „große Sympathie“ (Schneider-Beitrag, Kap. 1) für viele der Punkte, Ziele und Orientierungen des Ansatzes, denen er ausdrücklich zustimmt. Als Beispiele nennt er, dass das Programm der Zeichenund Interpretationsphilosophie [im folgenden: ZuI-Philosophie] beim „Zeichenbegriff“ ansetzt und sowohl von „Zeichen-Handlungen“ als auch von „Zeichen-Prozessen“ ausgeht (Kap. 3). Des Näheren liegen Übereinstimmungen vor in der Behandlung basaler Fragen (a) zur Aufgabe der Philosophie, (b) zur Eigenständigkeit des Knowing-How, (c) zur Rolle grundbegrifflicher Analysen sowie (d) zu möglichen Verbindungen zwischen der ZuI-Philosophie und den empirischen Wissenschaften. Zugleich nennt Schneider einige Aspekte, zu denen er sich von mir weitere Präzisierungen wünscht. In meiner Replik konzentriere ich mich auf die folgenden vier Themenfelder: 1. Jenseits von Internalismus und Externalismus. 2. Wissen und Können. 3. Darstellungsmittel und Darstellungsebenen. 4. Knowing-How als Sprach- und Zeichen-Kompetenz.
1 Jenseits von Internalismus und Externalismus Unter den Punkten, die Schneider in seinem Beitrag thematisiert, sind zunächst einige, die ich, obzwar große Fragefelder betreffend, schnell und einfach beantworten kann. Zu diesen Fragen gehören vor allem die folgenden: (a) ob ich bei uns Menschen von einer isolierbaren psychischen Innenwelt ausgehe; (b) ob ich so etwas wie einen psychischen bzw. ‚seelischen Apparat’ unterstelle; (c) ob ich auf ‚Introspektion‘ bzw. auf einen mentalistischen Reduktionismus oder korrelierend (d) auf einen naturwissenschaftlichen Reduktionismus oder (e) auf einen ‚Intentionalismus‘ verpflichtet bin. Diese fünf Fragen kann ich mit einem klaren „Nein!“ beantworten. Die diesbezüglichen Argumente habe ich an verschiedenen Stellen der ZuI-Philosophie sowie der Systematischen Wissensforschung entwickelt. Sie sollen hier nicht wiederholt werden. Zur Illustration des fünffachen Neins möchte ich allerdings kurz skizzieren, dass und in welchem Sinne unser erfolgreiches Sprechen (ebenso wie unser https://doi.org/10.1515/9783110522280-029
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Wahrnehmen, Denken, Handeln und Gestalten) nicht angemessen innerhalb des Dualismus von mentalem Internalismus und kausalem Externalismus thematisiert werden kann. Aus Sicht der ZuI-Philosophie ist vielmehr der Übergang in die Ebene der triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen geboten. In diesem Triangel bilden und vollziehen sich unsere Erfahrungswirklichkeiten. Meine Position jenseits des Würgegriffs der Dichotomie von Internalismus und Externalismus kann ich entlang der Frage nach der Bedeutung sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen erläutern. Die Frage, woher die Zeichen (beispielsweise das Wort ‚Tomate‘ oder eine Körper-Geste) ihre Bedeutungen haben, wenn ihnen diese weder vorab eingebaut sind noch nachträglich durch Deutungen erst zugesprochen werden, kann als die Grundfrage zeitgenössischer Sprachphilosophie angesehen werden. Die diesbezüglichen Debatten sind in der Regel durch die Gegenüberstellung geprägt, der zufolge die Festlegung der Bedeutung entweder in unseren Köpfen oder außerhalb dieser erfolgt, von Seiten der Welt und/oder der Gesellschaft. Die erstgenannte These sei die Kopf-These genannt (mit Vertretern wie Mill, Russell, Searle). Sie ist die These des Internalismus bzw. Mentalismus der Bedeutung. Die zweitgenannte These sei die Welt-These genannt (mit Vertretern wie Fodor, Field, Putnam, Kripke). Sie ist die These des Externalismus bzw. des externen Kausalismus der Bedeutung. Der Kopf-These zufolge werden Bedeutung und Referenz eines Zeichens im Kopf, des Näheren durch einen mentalen Zustand oder im Sinne des Intentionalismus durch das Erfassen des intentionalen Gehaltes eines auftretenden Zeichens festgelegt. Die prominenteste Version der Welt-These ist die Kausaltheorie der Bedeutung. Ihr zufolge werden Bedeutung und Referenz durch die materielle Beschaffenheit ihrer Gegenstände, beispielsweise die Bedeutung und Referenz des Wortes ‚Wasser‘ durch den Stoff festgelegt, der seiner chemischen Struktur nach als ‚H2O‘ bestimmt wird. Nach Stand der gegenwärtigen Diskussion dieses Themenfeldes können beide Pole der Dichotomie (Internalismus und Externalismus) und damit die ganze Dichotomie selbst als gescheitert gelten. Die diesbezüglichen Argumentationen sollen hier nicht wiederholt werden (vgl. zusammenfassend ZdW Kap. 1). Die ZuI-Philosophie hat eine Antwort auf die Frage ins Spiel gebracht, wie jenseits der Dichotomie von Internalismus und Externalismus mit der Frage nach der Bedeutung sprachlicher sowie nicht-sprachlicher Zeichen angemessen umzugehen sei. Der Vorschlag geht von der Einsicht aus, dass in jedem gelingenden Sprechen und Verstehen einer Sprache eine Interpretation dieser Sprache intern stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen ist. Die Bedeutung der Zeichen hängt, so die These der ZuI-Philosophie, von der öffentlichen, mit anderen Personen geteilten Praxis der angemessenen Interpretation der Zeichen ab. Des Näheren ist Bedeutung an die im erfolgreichen Falle mehr oder weniger
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fraglos, flüssig, anschlussfähig und zumeist selbstverständlich funktionierende ZuI-Praxis gebunden. In solcher Rede bezieht sich der Ausdruck ‚angemessen‘ letztlich auf das flüssige Funktionieren der Praxis des Gebrauchs der Zeichen und Interpretationen in den triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen. Und diese Praxis der Interpretation der Zeichen besteht der ZuI-Philosophie zufolge, so möchte ich Hans Julius Schneider gegenüber betonen, weder im Funktionieren eines inneren ‚seelischen Apparats‘ (von dem Schneider spricht und den er mit Recht kritisiert sehen möchte) noch in Kausal-Wirkungen seitens der materiellen Objekte und Ereignisse der äußeren Welt. Die Bedeutung natürlich-sprachlicher Zeichen hängt von den triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen ab, wird von diesen her und auf sie hin umgrenzt. Vor diesem Hintergrund laufen die oben genannten Anfragen Schneiders im Blick auf die ZuI-Philosophie und die Systematische Wissensforschung gleichsam ins Leere. Oder anders formuliert: ich stehe ganz auf Seiten der von Schneider befürworteten Positionen.
2 Wissen und Können Hans Julius Schneider spricht in seinem Beitrag eine Reihe von Themen an, die näherer Erörterung bedürfen. Zu ihnen zählt aus meiner Sicht vor allem die Frage des Sinns und Werts einer Trennung von Wissen und Können. In diesem Zusammenhang möchte ich zunächst meine Unterscheidung zwischen einem engen und einem weiten Begriff von Wissen erläutern. In meinem Verständnis schließt der weite Begriff von Wissen auch das Können mit ein. An diesem Punkt besteht eine Differenz zur Position Schneiders.
2.1 Enger und weiter Begriff von Wissen Vorab ist eine knappe Charakterisierung des Konzepts der Systematischen Wissensforschung erforderlich. Wissensforschung geht von einer irreduziblen Vielfalt unterschiedlicher Typen von Wissen aus (wie zum Beispiel dem sprachlichen, begrifflichen, bildlichen, theoretischen, praktischen, expliziten, impliziten, technischen, ästhetischen oder ethischen Wissen). Im Zentrum steht die Erforschung der Schnittstellen, Wechselspiele und Dynamiken dieser unterschiedli-
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chen Wissensformen in Alltag, Wissenschaften, Technologien und Künsten. Zu diesen Wissensformen gehört wichtig auch das Knowing-How.¹ Wissen spielt eine grundlegende Rolle in allen Prozessen des menschlichen Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens. Bei näherem Hinsehen fällt zunächst auf, wie vielfältig und weit gespannt die Bedeutung des Wortes ‚Wissen‘ ist. Das Wort ist über den Bereich der Wissenschaften, der Technologien, der Philosophie und der Künste hinaus in lebensweltlichen sowie erlebnis- und erfahrungsmäßigen Zusammenhängen und in unterschiedlichen Kontexten anzutreffen. Man denke etwa an Wendungen wie: ‚Bescheid wissen‘, ‚einzuschätzen wissen‘, ‚sich zu helfen wissen‘, ‚weder ein noch aus wissen‘, ‚wissen, wie der Hase läuft‘, ‚wissen, was zu tun ist‘, ‚wissen, wie man einen Volley im Tennis spielt‘, ‚wissen, was als ein Argument zählt‘, ‚wissen, wann und wo ein Fußballspiel stattfindet‘ – und vieles mehr. Zunächst (a) ist hervorzuheben, dass wir es mit einem Spektrum unterschiedlicher Wissensformen mit je eigenen Weisen der Evidenz zu tun haben. Dieses reicht von alltäglichem und lebensweltlichem Wissen (z. B. wissen, wie man eine Haustür öffnet) bis hin zu erlebnismäßigem und künstlerischem Wissen (z. B. wissen, wie sich ein Zustand der Heiterkeit von innen anfühlt, oder wissen, wie man etwas zum Ausdruck bringt, etwa in Musik, Tanz oder Malerei) und zu szientifischem und technischem Wissen (z. B. wissen, wie man ein Experiment methodisch geordnet durchführt, und wissen, wie technische Maschinen funktionieren und wie sie bedient und eingesetzt werden können). Sodann (b) macht es guten Sinn, heuristisch zwischen einem engen und einem weiten Begriff von Wissen zu unterscheiden. Der enge Begriff von Wissen meint Erkenntnis, die an geordnete Verfahren sowie an Bewusstheit, Begründung, Wahrheit, Rechtfertigung und Beweisbarkeit gebunden ist. Von diesem Wissen gilt, dass man sich seiner bewusst ist, über es sprechen können muss und dass es mitteilbar, tradierbar, intersubjektiv überprüfbar und salva veritate substituierbar ist. Dieser Begriff von Wissen ist für den Bereich der Wissenschaften kennzeichnend. Er ist jedoch nicht auf diese begrenzt. Der weite Begriff von Wissen meint zum einen die Fähigkeiten, angemessen zu erfassen, worum es jeweils geht und wovon etwas (beispielsweise eine Geste, ein Bild oder ein Wort) handelt. Zum anderen adressiert der weite Begriff den Bereich des menschlichen Könnens, menschlicher Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Praktiken und Kenntnisse.
Im Folgenden greife ich auf Materialien zurück, die ich an anderer Stelle ausführlicher entwickelt habe (Abel 2012; deutsche Version: Abel 2015a; als Kurzfassung Abel 2015b).
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Im weiten Sinne des Ausdrucks ist Wissen nicht-suspendierbarer Bestandteil der Faktizität des menschlichen Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Könnens, Handelns und Gestaltens. Dieser basale Sinn von Wissen gehört zur Seinsweise von uns Menschen. Mit ihm sind wir nicht nur im Alltag (z. B. in alltäglichen Praktiken und im Gewusst-wie), sondern auch in den Wissenschaften und in den Künsten bestens vertraut. In Bezug beispielsweise auf die Physik ist in solch weiter Rede von Wissen etwa auch die Kompetenz und Fähigkeit gemeint, eine wissenschaftliche Beobachtung durchführen, eine Experimentalanordnung bewerkstelligen, einen mathematischen Formalismus verwenden und ihn auf die Welt der physikalischen Objekte und Ereignisse anwenden zu können. Ohne die Einbeziehung dieses weiten Sinns von Wissen scheint es nicht möglich, eine umfängliche und zufriedenstellende Epistemologie, d. h. eine umfassende Theorie menschlichen Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Könnens, Handelns, Erkennens und Gestaltens, zu entwickeln. Schließlich (c) können in heuristischer Einstellung Formen von Wissen unterschieden werden, wie beispielsweise: alltägliches Wissen (wissen, wo der nächste Briefkasten ist); theoretisches Wissen (wissen, dass 2 + 2 = 4 ist); Handlungswissen (wissen, wie man ein Automobil steuert); Orientierungswissen (wissen, was man in einer gegebenen Situation zu tun oder zu unterlassen hat). In der Regel verstehen wir uns direkt auf unterschiedliche Formen von Wissen. Die Eigenprofile, Wechselspiele und Dynamiken der Formen von Wissen zu klären, ist Gegenstand dessen, was ich ‚Systematische und reflektierte Wissensforschung‘ genannt habe. Mit ihr sind erklärtermaßen auch Erweiterungen und Neuorientierungen der traditionellen wie der gegenwärtigen Epistemologie verbunden. Denn bevor in epistemologischer Einstellung Fragen nach der Geltung, der Begründung und den Grenzen von Wissen sinnvoll gestellt werden können, müssen wir bereits eine Vorstellung davon haben, um welche Wissensformen und Wechselspiele es sich jeweils handelt. In diesem Sinne liegt die systematische Wissensforschung der klassischen Epistemologie bereits im Rücken. Da Wissen in seinem engen wie in seinem weiten Sinne an die Artikulation in Zeichen geknüpft ist, besteht eine interne Verbindung zwischen der Epistemologie der Wissensforschung und der allgemeinen ZuI-Philosophie. Diese Verbindung kann hier nicht im Einzelnen entfaltet werden (siehe dazu ZdW und SZI). Vielmehr möchte ich vor dem skizzierten Hintergrund im Folgenden die These verteidigen, dass es keinen guten Sinn macht, Wissen im weiten Sinne des Ausdrucks und Können voneinander zu trennen (was Hans Schneider nahelegt).
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2.2 Verbindungen von Wissen und Können Schneider begrenzt seinen Gebrauch des Ausdrucks ‚Wissen‘ offenkundig auf den Bereich (a) des skizziert engen Sinns von Wissen, (b) des begrifflichen Wissens, (c) des expliziten Wissens und (d) des bewussten Wissens. Dieser Auflistung korrespondierend vertrete ich: (a) neben dem engen auch den dargestellt weiten Sinn der Rede von Wissen; (b) neben der Relevanz des sprachlich-begrifflichen auch die Wichtigkeit des nicht-sprachlichen und nichtpropositionalen Wissens; (c) neben der Bedeutung des expliziten auch die des impliziten Wissens; und (d) neben dem Wert des bewussten auch den des vorbewussten, des nicht unbedingt ins Bewusstsein tretenden sowie des sub-semantischen Wissens. Alle vier Formen von Wissen manifestieren sich prägend in der Faktizität unserer tatsächlichen Lebensvollzüge und triangulären Ich-WirWelt-Beziehungen. Begrenzungen der von Hans J. Schneider vorgeschlagenen Art kann man natürlich vornehmen. Das ist ganz in Ordnung. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass sie stets nur heuristische Begrenzungen zu bestimmten Zwecken sind. Einteilungen und Klassifikationen unterliegen ihrerseits kognitivem, historischem und kulturellem Wandel. Sie bleiben kontingent und könnten jederzeit auch anders ausfallen. Auch in Bezug auf meine eigenen Unterscheidungen und Modellierungen habe ich stets betont, dass es sich dabei um heuristische Unterscheidungen und Modelle handelt, nicht um theoretische und nicht um ontologische Unterscheidungen der Sachprozesse selbst. Hier geht es jedoch darum, ob, in welcher Hinsicht und in welchem Maße Begriffsbestimmungen, Unterscheidungen und Modellierungen leistungsfähig sind oder nicht. Mit dem heuristischen Charakter der Unterscheidung des engen und weiten Sinns von Wissen ist mithin auch die Möglichkeit verbunden, diese Unterscheidung zu modifizieren oder am Ende gar aufzugeben – unter der Bedingung freilich, dass jemand mit einem leistungsfähigeren Vokabular und Begriffsarsenal aufwartet. Aber das sehe ich in Bezug auf die Unterscheidung zwischen engem und weitem Sinn von Wissen bislang nicht. In Bezug auf die angeführte Unterscheidung und Erweiterung des Wissensbegriffs gehe ich davon aus, dass diese leistungsfähig sind, da: (a) er in der Regel direkt verstanden wird; (b) wir intuitiv erfassen, was mit dem weiten Sinn der Rede von Wissen gemeint ist; (c) uns dieser Gebrauch des Ausdrucks bestens vertraut ist; (d) er sowohl auf der Ebene der begrifflichen und phänomenologischen Arbeit des Analysierens und Beschreibens als auch auf der intendierten Sachebene der Prozesse selbst welt- und sinn-erschließend, mithin organisierend, orientierend und ordnend wirkt; und wir (e) hinsichtlich der zu erfassenden Phänomene und Erfahrungswirklichkeiten ebenso wie (f) hinsichtlich der bislang
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erfolgreichen Verwendungen gute Erfahrung mit der skizzierten Erweiterung gemacht haben; (g) der erweiterte Sinn von Wissen zur ZuI-Faktizität unserer Lebensformen zählt; er (h) sich nicht in einer Kasuistik isolierter Vermögen und Fertigkeiten verliert; (i) vereinheitlichende, explanatorische und gestalterische Perspektivierungen freigibt; und (j) nicht zuletzt auch in der Lage ist, die normativen und prediktiven Dimensionen von Wissen im weiten Sinne zu markieren. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an so triviale Aspekte wie die beiden folgenden: dass erstens der Ausdruck ‚Wissen‘ in seinem weiten Sinne kein fremdartiger Kunstausdruck oder intellektualistischer Neologismus ist; und dass zweitens in meiner Verwendung die Rede von ‚Wissen‘ Gattung und die Rede von ‚Können‘ Art ist, nicht umgekehrt. Können kann als eine Spezies von Wissen konzipiert werden, Wissen aber nicht als eine Spezies von Können. Wollten wir Letzteres versuchen, so müssten wir den begrenzteren Begriff als den umfänglicheren ausgeben. Das scheiterte bereits an der Reichhaltigkeit der Phänomene, die als ‚Wissen im weiten Sinne‘ des Ausdrucks, nicht jedoch als ein ‚Können‘ adressiert werden. So haben wir es beispielsweise im Knowing-How mit unterschiedlichen Weisen des weiten Sinns von Wissen zu tun, etwa mit: wissen wie etwas (z. B. eine Maschine) funktioniert; oder wie es ist, etwas zu tun (z. B. Radfahren); oder wissen wie es ist, etwas zu haben (z. B. eine Emotion). Hinzu treten weitere Aspekte. Wir sprechen sinnvoll etwa vom ‚Erfahrungswissen‘ beispielsweise eines Chirurgen. Auch etwa sagen wir „Peter weiß mit Tante Martha umzugehen“. In solchen Fällen ist die Rede von Können deutlich enger als die von Wissen. Oftmals ist ‚Können‘ weniger gut geeignet, die vielfältigen Phänomene, Zustände, Handlungen, Einstellungen und Prozesse einzufangen, die wir im Rekurs auf ‚Wissen im weiten Sinne‘ erfolgreich erfassen. Mit der Rede vom Können allein droht zudem auch eine praktizistische, gar technizistische Verkürzung. So fehlen im Können oftmals Einstellungs-, Normativitäts-, Relevanz- und Sinn-Konstituenten, die im weiten Sinn der Rede von Wissen mitkonzipiert sind. Wenn Peter weiß, wie es ist, eifersüchtig zu sein, dann können wir dieses Wissen schwerlich mit Hilfe der Formulierung angemessen ausdrücken „Peter kann eifersüchtig sein“ (‚kann‘ hier weder im Sinne von ‚ist dazu in der Lage‘ noch im modalen Sinne verstanden, dass es ihm möglich ist). Beide Male wäre etwas anderes gemeint als das, was von uns in der Rede von „Peter weiß, wie es ist, eifersüchtig zu sein“ adressiert wird. Ein wenig überraschend ist übrigens, dass Hans Schneider seinerseits gegen Ende seines Beitrags zwei unterschiedliche Formen von Wissen vorschlägt, die, letztlich und mit nur kleineren Modifikationen, meiner Unterscheidung von engem und weitem Wissenskonzept weitgehend entsprechen. Im Fazit seiner Überlegungen schlägt Schneider vor, drei Bereiche zu unterscheiden: „das nicht wissensbasierte Können“, „Wissen im eigentlichen Sinne“, und „das Wissen im
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übertragenen Sinn“ (Kap. 2, Anm. 5). Schneider führt zwei Differenzen zu meiner Unterscheidung eines engen und eines weiten Konzepts von Wissen ins Feld. Im engen Sinn des Konzepts von Wissen seien seiner Meinung nach methodisch geordnete Verfahren nicht erforderlich. Zudem zählt er zu diesem engen Sinn auch die früh entwickelte Fähigkeit, Fragen des einfachen Typs „Was ist das?“ beantworten zu können. Wer auf diese Frage etwa mit „Das ist ein Tisch“ antwortet, der besitzt offenkundig ein entsprechendes Wissen. Zu letzterem Aspekt kann ich nur sagen, dass ich eine solche Erweiterung des engen Sinns der Rede von Wissen begrüße und gern aufnehme. Zu ersterem Aspekt sei lediglich angemerkt, dass Wissen im engen wie im weiten Sinne stets mit Funktionen des Organisierens, Ordnens und Orientierens gekoppelt ist. Ausdrücklich betont Hans Julius Schneider, dass manches von dem, was ich zum „broad concept of knowledge“ zähle, bei ihm unter „Wissen im übertragenen Sinn“ falle (Kap. 2, Anm. 5). Er meint, dass es sich in denjenigen Fällen um ein übertragenes Wissen handelt, in denen wir den Ausdruck ‚Wissen‘ aus seinem engen Terrain in andere Bereiche transferieren, ihn mithin metaphorisch verwenden. In diesem Zusammenhang möchte ich zwei Punkte hervorheben. Zum einen ist festzuhalten, dass der übertragene Wissensausdruck in seinem neuen Terrain offenbar funktioniert und vermutlich sogar aufschlussreiche und bislang nicht beachtete Aspekte auch im Blick auf das Können ans Licht bringt, die anderenfalls gar nicht in den Blick träten. Zum anderen habe ich kein Problem damit, auch diesen ‚übertragenen‘ Sinn von Wissen in meine Rede von Wissen im weiten Sinne aufzunehmen. Freilich ist dies keineswegs so zu verstehen, als decke das Konzept der Übertragung den gesamten Bereich des weiten Sinns von Wissen ab. Das ist offenkundig nicht der Fall. Der weite Sinn erstreckt sich bei mir auf die wissensmäßige Verfasstheit der Faktizität unserer Lebensvollzüge und -prozesse, unseres In-der-Welt-seins selbst, nicht bloß auf Fälle eines übertragenen sprachlichen Sinns. Unterstützen möchte ich aber Schneiders Forderung, dass in den Fällen expliziter Übertragung der jeweilige Übertragungsschritt „ausdrücklich zu machen und zu legitimieren“ ist (ebd.). Allerdings hebe ich nachdrücklich hervor, dass der weite Sinn von Wissen keineswegs bloß eine übertragene Redeweise ist. Letztlich ist auch hier die explanatorische, organisierende, orientierende, ordnende und prognostische Leistungsfähigkeit solcher Übertragungen entscheidend.
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3 Darstellungsmittel und Darstellungsebenen In Bezug auf die Aufgaben der Philosophie, speziell der ZuI-Philosophie, auf die Hans J. Schneider die Aufmerksamkeit lenkt, möchte ich auf meine Replik auf Hans Lenk im vorliegenden Band verweisen. Diesbezüglich betone ich in meinen Texten durchgängig die folgenden Aspekte. Für die ZuI-Philosophie ist kennzeichnend, dass sie: (a) grundbegriffliche Analyse betreibt; (b) Beschreibungen, Analysen und Modellierungen der Phänomene und Erfahrungswirklichkeiten anstrebt; (c) in ihrem Kern nicht bloß Theorie und Methodologie, sondern Arbeit der Reflexion auf die im Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten präsupponierten Annahmen des Sinns und der Relevanz ist; (d) nicht bloß metatheoretisch und nicht bloß epistemologisch, sondern von objektbestimmter Sachbezogenheit ist; (e) für ein kooperatives Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften, speziell empirischen Naturwissenschaften, plädiert (siehe dazu mit Bezug auf die Neurowissenschaften meine Replik auf Hinderk Emrich); und (f) eine Kooperation zwischen begrifflicher Arbeit und wissenschaftlicher Modellbildung für erforderlich und geboten hält. Bei der Lektüre der Texte der ZuI-Philosophie ist aus meiner Sicht darauf zu achten, mit welchen Darstellungsmitteln auf welcher Ebene, in welcher epistemischen und normativen Perspektive und unter welchem Sachaspekt jeweils gesprochen und gedacht wird. Dabei ist die Unterscheidung von Ebenen, Einstellungen, Perspektiven und Sachbezügen eine heuristische sowie eine Unterscheidung auf der Ebene der Darstellungsmittel und ihres Verhältnisses zur dargestellten Sache. Wenn ich also beispielsweise von ‚Komponenten‘, ‚Mechanismen‘, ‚Schema‘, ‚Muster‘, ‚Modell‘ oder ‚Theorie‘ auch in Bezug auf Tiere, „nicht-sprachfähige Lebewesen (und/oder auf Teile von Organismen)“ (Kap. 2) spreche, dann begehe ich damit keinen naturalistischen oder szientistischen Fehlschluss. Das ist auch dann nicht der Fall, wenn ich von dem Verhältnis zwischen physio-leiblichen Zuständen (siehe dazu meine Replik auf Jesús Conill im vorliegenden Band) und unserem menschlichen Vermögen des Handelns, Imaginierens, Denkens und Gestaltens spreche und zwischen beiden Bereichen eine Kontinuität behaupte. Vielmehr mache ich ernst mit der Herausforderung, dass wir einerseits die Darstellungsmittel und Darstellungsebenen keineswegs mit der adressierten Sache identisch setzen können, dass wir andererseits jedoch die avisierte Sache und Erfahrungswirklichkeit ohne ZuI-Aktivitäten (basalen Diskriminierens, Individuierens und Erfassens) gar nicht in den Blick, geschweige denn zu fassen bekämen. Das ist, wenn man so will, die Tragik der Darstellungsmittel: Sie sind nicht die
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Sache selbst; aber ohne sie könnten wir nicht einmal von der Sache sprechen, denken und mit ihr umgehen. In Zusammenhängen der angesprochenen Art scheue ich erklärtermaßen nicht davor zurück, mich sachbezogen auch eines wissenschaftlichen Vokabulars zu bedienen und dieses zur Beschreibung beispielsweise des Verhaltens von Tieren oder auch in Themenfeldern der Lebenswissenschaften, etwa der Biologie, sowie vorsprachlicher Lebensformen einzusetzen. Stets aber ist mir bewusst, auf welcher Ebene, in welchem Terrain und in welcher epistemischen und normativen Perspektivierung ich mich damit bewege. Entsprechend deutlich unterscheide ich zwischen dem Teil reflektierender, begrifflicher und phänomenologischer Arbeit auf der einen Seite und der wissenschaftlichen bzw. empirisch widerlegbaren Theorie auf der anderen Seite. Freilich finden alle diese intellektuell wichtigen Unterscheidungen innerhalb von ZuI-Horizonten, ZuI-Praxen und ZuI-Prozessen, nicht jedoch außerhalb dieser statt. Sie sind interne, keine externen Unterscheidungen. Sehr zu Recht betont Schneider den für mich wichtigen Punkt, das Wissen, wie es sich auch im Vollzug der Knowing-How-Prozesse manifestiert bzw. zeigt, „bestehe in (nicht: aus)“ Fähigkeiten, Fertigkeiten und Geschicklichkeiten (Kap. 2). Entsprechend ist für mich auch nicht das Bild leitend, praktische Vollzüge (wie Radfahren, Cellospielen, Beweisführen) ‚beruhten auf‘ einem entsprechend vorausgesetzten Wissen. Vielmehr bevorzuge ich im Blick auf das Knowing-How die Redeweise, dass sich die Vollzüge als Wissen im dargelegt weiten Sinne vollziehen und sich im Gelingen oder Fehlschlagen der Vollzüge zeigen. In meiner Replik auf Catherine Z. Elgin habe ich dargelegt, dass und in welchem Sinne das Sich-Zeigen im Hinblick auf die Frage zentral ist, wo und woran sich gelingendes und erfolgreiches Knowing-How zeigt. Die Antwort ist einfach. Es zeigt sich in den gelingenden und erfolgreichen Knowing-How-Vollzügen selbst und daran, dass die Prozesse und Handlungen flüssig, anschlussfähig, fraglos und quasi selbstverständlich vollzogen und fortgesetzt werden. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang, dass wir es auch in puncto Knowing-How mit dem weiten Sinn von Wissen zu tun haben. Von Wissen im weiten Sinne des Ausdrucks beispielsweise der Radfahr-Vollzüge zu sprechen, schließt, anders als Schneider vermutet, gerade nicht ein, dass eine Person, der wir das fragliche Knowing-How zuschreiben, auch in der Lage sein müsste, die sich im Radfahren manifestierende Form des Wissens „artikulieren“ (Kap. 2) zu können. Das ist erklärtermaßen nicht meine Position, und ich halte eine solche Sichtweise auch weder begrifflich noch Phänomen-bezogen für plausibel. Aufschlussreich schreibt Schneider: „Ein Prüfungskandidat kann nur dann beanspruchen etwas zu wissen, wenn er sein Wissen zur Sprache bringen kann.“ (Ebd.) Diese Bemerkung kann sich nur auf den skizziert engen Begriff von Wissen be-
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ziehen. Doch dieser steht in den Knowing-How-Praxen selbst gar nicht zur Debatte. Damit würde eine Anforderung aufgestellt, der ein Radfahrer ebenso wenig nachkommen könnte, wie ein Ingenieur oder Informatiker. Sobald diese aufgefordert würden, ihr Knowing-by-doing und ihr implizites Wissen in sprachlichpropositionalen Sätzen zu artikulieren, würden sie letztlich wohl den Vollzug erneut vorführen. Auf diese Weise zeigt sich das im Spiel befindliche Wissen im weiten Sinne des Ausdrucks – begleitet vielleicht von dem Kommentar: „Sieh hin, so läuft das!“
4 Knowing-How als Sprach- und Zeichen-Kompetenz Hans Julius Schneider zufolge ist die Sprachanalyse Wittgensteinscher Prägung für die Philosophie besonders wichtig. Angesichts dieser Einstellung möchte ich die Relevanz des Knowing-How auch an der Sprach- und Zeichen-Kompetenz verdeutlichen.
4.1 Sprach-, Zeichen- und Interpretations-Kompetenz Wenn eine Person eine Sprache und Zeichen zu verwenden und zu verstehen weiß, dann sagen wir mit Recht von ihr, dass sie über die dazu erforderliche Sprach-, Zeichen- und Interpretations-Kompetenz verfügt. Doch was genau ist das für eine Kompetenz und was für ein Wissen? Ist es ein propositionales Wissen, ein Knowledge-That, oder ist es eher ein Knowing-How, ein Wissen, das kraft Fähigkeiten, Fertigkeiten, erlernten Gewohnheiten, Konventionen, Geschicklichkeiten und eingeübten Praxen gegeben ist? Erklärtermaßen vertrete ich letztere Position und plädiere für die Erforschung der Wechselspiele zwischen Knowing-How und Knowing-That, sehe beide also keineswegs in einer sich wechselseitig ausschließenden Opposition. Aber in der Betonung der Relevanz des Knowing-How verstehe ich mich in der Reihe derjenigen Autoren in der Sprachphilosophie (wie Hilary Putnam oder Michael Devitt), welche die These vertreten, dass die semantische, syntaktische und pragmatische Kompetenz eines Sprechers und Hörers kein propositionales Knowledge-That, sondern eine Kompetenz zur Praxis des Gebrauchs einer Sprache, mithin Knowing-How ist (siehe Putnam 1996; Devitt 2006). Wie in den Fällen des Radfahrens oder Walzer-Tanzens geht es auch im Falle der Sprach- und Zeichen-Kompetenz nicht um eine Relation der Sprecher/Hörer zu einem Reich der
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Propositionen. Es geht vielmehr um die normative Verbindung zu der tatsächlich ausgeführten Sprach- und Zeichen-Handlung, mithin um Knowing-How-Fähigkeiten. Es geht um das Wissen, wie wir eine Sprache flüssig und anschlussfähig sprechen und Zeichen erfolgreich verwenden und verstehen können.
4.2 Semantisches, syntaktisches und pragmatisches Knowing-How Die Ausdrücke einer Sprache verwenden und verstehen zu können heißt, über die entsprechende Kompetenz und das korrelierte Anwendungswissen zu verfügen. Es heißt nicht, zunächst einen theoretischen Einblick in ein Platonistisches Reich propositionalen Wissens oder Russellscher Propositionen, Fregescher Gedanken oder eines Sets möglicher Welten zu haben, um sodann die dort vorab festgelegten semantischen Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen) unserer Wörter, Zeichen, Sätze und Diskurse einzusehen und aufgrund dieser Einsicht dann in der Lage zu sein, jeden möglichen Satz der entsprechenden Sprache bilden und verstehen zu können. Das Verwenden- und Verstehen-Können einer Sprache ist vielmehr eine Fähigkeit, eine Fertigkeit, eine Geschicklichkeit, die in einer Sprach- und Zeichengemeinschaft erworben sein will. Wer behauptet, die Kompetenz eines Sprechers einer Sprache bestehe darin, dass dieser ein Knowledge-That der Regeln der Sprache besitzt, das es ihm erlaube, alle in dieser Sprache möglichen Sätze zu bilden und zu verstehen, der lädt sich Beweislasten auf, die entweder in einen vitiösen Zirkel oder in einen unendlichen Regress führen. Bezogen auf das Knowledge-That in puncto Regeln hat Gilbert Harman die missliche Lage überzeugend formuliert (vgl. Harman 1967). Wenn der Sprecher ein Wissen-dass um die Regeln der Sprache haben muss, dann müsste die Sprache diese Regeln repräsentieren, was selbst wiederum in einer Sprache, vermutlich in einer basaleren Sprache, erfolgen müsste. Was aber heißt es dann, in dieser Sprache kompetent zu sein? Repräsentierte die Originalsprache zugleich ihre eigenen grundlegenden Regeln, dann bewegten wir uns in einem Zirkel. Ist die basale und Regel-repräsentierende Sprache eine andere Sprache (etwa das ‚Mentalesische‘), dann müssten auch deren Regeln wiederum repräsentiert werden. Damit wären wir in einem unendlichen Regress. Ich stimme Harman und Devitt zu, wenn sie den einzigen Ausweg aus dem vitiösen Zirkel und aus dem unendlichen Regress in der Annahme sehen, „that we can be competent in at least one language directly, without representing its rules. Why not then allow this of the original language, the one spoken?“ (Devitt 2006: 92)
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Diese Sprach-, Zeichen- und Interpretations-Kompetenz zeigt sich übrigens auch an der Fähigkeit des Sprechers/Hörers, noch unabhängig vom jeweiligen semantischen Gehalt, korrekt gebildete Sätze von unkorrekt gebildeten Sätzen auf Anhieb unterscheiden zu können. Der Besitz dieser Fähigkeit eines kompetenten Sprach- und Zeichennutzers setzt offenkundig nicht voraus, dass der Sprecher ein propositionales Knowledge-That der semantischen Gehalte der Wörter und Zeichen besitzen muss. Ein Muttersprachler kann vielmehr aufgrund seines intuitiven und praxis-erfahrenen Sprach-Knowing-How schon beim ersten Reinhören in einen deutschsprachigen Satz sicher sagen, ob es sich um einen korrekt gebildeten Satz der deutschen Sprache handelt. Aufgefordert, diese seine Fähigkeit in Worte und Propositionen zu fassen, wird der kompetente Sprecher stets auf seine Situation als Muttersprachler und auf die damit intern korrelierten praktischen Sprach-, Zeichen- und Interpretations-Fähigkeiten rekurrieren. In der ZuI-Philosophie und des Näheren in der Systematischen Wissensforschung wird dieses ‚Ende‘ als ein pragmatisches und nicht als propositional metaphysisches Ende verstanden. ZuI-Philosophie und Wissensforschung verteidigen die These, dass es unsere lebensbasierte Praxis des Gebrauchs der Zeichen und Wörter ist, die den pragmatischen Abschluss bewerkstelligt, welcher erforderlich ist, um überhaupt in Verständigungs- und Handlungsverhältnisse eintreten und diese flüssig fortsetzen zu können. Das sich in diesen Vollzügen manifestierende Wissen ist ein praxis-basiertes ZuI-Wissen, nicht jedoch theoretisch-propositionales Knowledge-That. Jedes theoretische und propositionale Wissen-dass müsste stets wiederum ein Interpretations- und Applikationswissen voraussetzen und in Anspruch nehmen. Sowohl der vitiöse Zirkel als auch der unendliche Regress der Knowledge-That-Hypothese lassen sich schlicht dadurch vermeiden, dass wir die interne und praktische, Fähigkeiten-basierte Regularität und Normativität der Praxis der Interpretation der Wörter und Zeichen als ein basales Praxis-Knowing-How des erfolgreichen Sprach- und Zeichengebrauchs ansetzen. Das erfolgreiche Verwenden, Verstehen und Einsetzen von Wörtern, Sätzen und Zeichen setzt stets bereits solches Knowing-How praxis-interner Regularität und Normativität voraus (vgl. ausführlich meine Replik auf Catherine Z. Elgin, Kap. 1).
4.3 Knowing-How, linguistische Information und linguistischer Kognitivismus Wäre der Besitz linguistischer Information hinreichend für Knowing-How, dann dürfte es keine Fälle geben, in denen die linguistische Information von der praktischen Knowing-How-Fähigkeit getrennt werden kann und muss. Ich greife
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hier das einleuchtende Beispiel auf, das Charles Wallis zur Illustration dieses Punktes anführt. Wallis verweist auf die Unterschiede, die im Hinblick auf Kurt Gödels Unvollständigkeitstheorem evidenter Weise bestehen, wenn (a) ein LogikProfessor das Theorem vorträgt, (b) ein Logik-Novize das Gödel-Theorem nacherzählt, (c) ein Theater-Student ohne irgendeine Kenntnis in formaler Logik das Gödel-Theorem wie die Zeilen aus einem Theaterstück auswendig lernt und (d) ein Theater-Schauspieler ohne spezifische Logik-Kenntnis sich das Gödel-Theorem in einer Fremdsprache, z. B. im Spanischen, phonetisch einprägt und in einem spanisch-sprachigen Theaterstück vorträgt (Wallis 2008). Offenkundig würde niemand von uns ernsthaft behaupten wollen, dass der Logik-Anfänger, der Theater-Student oder der Theater-Schauspieler das KnowingHow besitzen, das man benötigt, um Gödels Theorem der Unvollständigkeit in der Sache wie in der Form zu verstehen und zu entwickeln. Dies müsste man aber behaupten, wäre der Nexus zwischen der linguistischen Information und dem tatsächlich erforderlichen Knowing-How so unzertrennlich, wie es diejenigen glauben mögen, die zur Überschätzung des Status linguistischer Information neigen. Vor diesem Hintergrund ist wohl kaum überraschend zu hören, dass ich nicht die These Noam Chomskys teile, der zufolge die Sprachkompetenz, mithin die Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen und zu verstehen, nicht auf sprach-praktischem Knowing-How, sondern auf einem kognitiven System beruht. Chomsky zufolge handelt es sich bei den Regeln erfolgreichen Sprachgebrauchs um angeborene Regeln, die von uns in unserem Geiste als ein Knowledge-That gewusst werden müssen, wenn es überhaupt zu einem erfolgreichen Verwenden und Verstehen der Sprache kommen können soll (Chomsky 1988: 10). Die Kritik an Chomskys Position lässt sich entlang der drei Beispiele formulieren, die dieser selbst zur Stützung seiner These anführt.² Die drei Beispiele fokussieren auf: (a) die Unterschiede, die in puncto Sprachfähigkeit zwischen verschiedenen Rednern bestehen, die an einem Training für öffentliches Reden teilnehmen; (b) die Unterschiede in puncto Sprachfähigkeit zwischen einem Dichter und Sprachnutzern, die in Klischees sprechen; und (c) Fälle, in denen die Sprachfähigkeit einer Person Schaden nehmen kann bis hin zum Verlust des Sprechenkönnens etwa im Zuge einer Gehirnverletzung, die Person aber ihre Fähigkeit zu sprechen und zu verstehen zurückgewinnen kann. Aus Chomskys Sicht sind diese Beispiele Belege für seine Auffassung, dass unser Sprachwissen ein „cognitive system of the mind/brain“ ist (Chomsky 1988: 10).
Im Folgenden schließe ich mich den Positionen an, die Devitt gegen Chomskys Auffassung formuliert hat (Devitt 2006: 92 f.).
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Zu (a): Dass ein Kurs zur Verbesserung des Redens in der Öffentlichkeit die Fähigkeiten eines Sprechers trainieren und erweitern kann, steht außer Frage. Doch dieser Befund geht, hier stimme ich Devitt zu, an dem in puncto SprachKnowing-How zentralen Punkt vorbei. „The know-how for public speaking requires ordinary linguistic know-how but is different from that know-how“ (Devitt 2006: 92 f.). Wer seine Fähigkeiten zur öffentlichen Rede verbessern möchte (wie z. B. ein Politiker, der einen entsprechenden Kurs besucht, um seine Performance im Parlament oder vor der Kamera zu verbessern), der muss längst schon über die gewöhnliche linguistische Kompetenz verfügen. Nichts an diesem Beispiel zeigt also, dass Sprachkompetenzen nicht als sprach-praktische Knowing-How-Fähigkeiten konzipiert werden können. Zu (b): Niemand würde die Differenz in puncto Sprachgebrauch leugnen, die zwischen einem Dichter und einem klischeehaften Normalsprecher besteht. Aber, und auch hier stimme ich Devitt zu, „the difference is in another knowhow – presumably, largely, a difference in thought – and does not show that knowledge of a language is not know-how“ (Devitt 2006: 93). Ein Dichter besitzt offenkundig eine Reihe zusätzlicher Sprach-Fähigkeiten. Die Knowing-How-These ist übrigens keineswegs auf die Annahme verpflichtet, dass ins Sprachverwenden und Sprachverstehen nicht auch weitere und auch kognitive Fähigkeiten, Geschicklichkeiten und Praktiken involviert sind. Allerdings setzen ZuI-Philosophie und Wissensforschung die Knowing-How-Fähigkeiten basal. Zu (c): Es kann durchaus sein, dass eine Person etwa in Folge einer Gehirnverletzung zwar ihre praktische Sprachfähigkeit einbüßt, ihr Sprachwissen aber beibehalten kann.³ Dass das Sprachwissen nicht unbedingt mitverschwinden müsse, zeigt sich Chomsky zufolge vor allem dann, wenn die fragliche Verletzung zurückgehe und Sprachkompetenz sich wieder bemerkbar mache. Chomskys These lautet dann: „What was retained was a system of knowledge, a cognitive system of the mind/brain.“ (Chomsky 1988: 10) Aber selbst wenn diese These zutreffend sein sollte, so folgt aus ihr nicht, dass die Sprachfähigkeit, einschließlich des darin unterstellten Sprachwissens, nicht Knowing-How-Wissen ist.
Was diesen Aspekt angeht, so möchte ich auch auf den Beitrag von Dagfinn Føllesdal und meine diesbezügliche Replik verweisen.
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Dagfinn Føllesdal
Günter Abel on Knowing How and Knowing That Abstract: Ever since Gilbert Ryle in his Presidential Address to the Aristotelian Society in 1945 focused attention on the distinction between knowing-how and knowing-that there has been a lively discussion of this topic. While Ryle argued that knowing-that and knowing-how are two distinct kinds of knowledge, there have been attempts to refute Ryle by showing that all knowledge is knowingthat, or that all knowledge is knowing-how. Also, several intermediate positions have been proposed. Often one discusses only a few uses of these expressions and thinks that these uses are representative of all uses. A main strength of Abel’s contributions is that he avoids these facile generalizations by considering a very wide range of examples. Abel also create some order in this immense multitude of various constructions. I am not discussing his classifications here, but consider only a few selected issues that seem to me to be of particular importance in connection with knowing-how.
As part of his big project on Forms of Knowledge Günter Abel has taken up the notion of knowing-how. He has discussed these issues in (Abel 2008, 2010, 2012a and 2012b) and he is continuing this work as part of a forthcoming monograph. Ever since Ryle in his Presidential Address to the Aristotelian Society in 1945 (Ryle 1946) focused attention on the distinction between knowing-how and knowing-that there has been a lively discussion of this topic. While Ryle argued that knowing-that and knowing-how are two distinct kinds of knowledge, there have been attempts to refute Ryle by showing that all knowledge is knowingthat, or that all knowledge is knowing-how. Also, several intermediate positions have been proposed. Many of these go against intuitions that are broadly shared and have therefore received more attention than their arguments warrant. Most often one focuses on just a few uses of knowing-how and thinks that these uses are representative of all uses. A main strength of Abel’s contributions is that he avoids these facile generalizations by considering a very wide range of examples. Abel also draws a large number of distinctions in order to create some order in this immense multitude of various constructions. I shall not discuss his classifications here, but will consider only a few selected issues that seem to me to be of particular importance in connection with knowing-how.
https://doi.org/10.1515/9783110522280-030
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Three main kinds of knowing-how constructions First, it is often taken for granted that although there may be many differences between knowing-how constructions, they are all different from knowing-that constructions. However, this is far from obvious. “Tom knows how the planets move” seems to be very similar in kind to knows-that constructions like “Tom knows that the planets move in ellipses”. In fact, the latter could be a way of making the first statement more precise. Thus, it seems that we can conclude that some uses of knowing-how are variants of knowing-that. So, the thesis that knowing-how and knowing-that form two separate classes seems false. Abel is well aware of this, and he divides knows-how constructions into three main groups: First there is the kind I just mentioned, knowing-how something works (1). The other two kinds of knowing-how are the main reason why it is common to think of knowing-how as very different from knowing-that, and they are therefore those that traditionally have received most attention and led many to believe that all knowing-how constructions are radically different from knowing-that. These two kinds of knowing-how are: (2) knowing-how to do something and (3) knowing-how it is to be or to have something. Almost all the discussion of knowing-how has concentrated on the second kind, and let us briefly consider this kind before we turn to the third kind of knowing-how, which I think throws light on issues that lie at the core of the discussion concerning knowing-how. Kind 2 of knowing-how, knowing-how to do things, has been discussed in hundreds of articles and books. Much of this discussion turns on how one analyzes doing, that is acting and other activities. It has been argued, for example by David Carr in a couple of relatively early papers (1979, 1981), that knowing-how consists in following certain rules of the game. He gives knowing how to play football as an example. It requires conscious awareness of explicit representations of procedural knowledge: “[…] knowing how in the strong sense to play football is knowing the rules of the game […]”. However, Carr still insists that knowing-how is different from knowing-that: “[…] a statement of the rules of the game is not a theoretical statement but a description of a set of rules of practice, and mastery of the rules brings with it an understanding of an activity rather than a theory.” (Carr 1981: 60 f.) Carr’s view has been criticized, especially by Charles Wallis in several articles. Wallis’ criticism consists, like much other criticism in this field, in pointing to examples of knowing-how that do not fit into Carr’s scheme. While “John knows how to bake a cake”, like “John knows how to play football”, may perhaps require John to know and follow a recipe that states “the rules of the
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game”, other examples of knowing-how, like “John knows how to walk” or “Mary knows how to swim”, do not seem to involve following a rule, and particularly not a rule one knows or is even conscious of. Clearly, bodily activities and actions involve using the body and its various muscles in a specific way. However, it is rare that knowing-how requires a recipe that one follows for doing this. There may be some such cases. However, imitation and repeated practice and not detailed knowledge of muscle fibres and nerve firings is a very common characteristic of how one acquires know-how. In the discussion of know-how it is often mentioned how thinking about the way one uses individual muscles or about other details in the execution of an action disturbs the performance. Abel mentions the millipede syndrome: “Once the millipede is asked to demonstrate explicitly how it manages to keep all of its feet moving smoothly, it instantly gets tangled up. The ballerina who, in the midst of her refined motions, begins to reflect on how she manages to make these motions successfully instantly loses her grace. The threat of paralysis through analysis arises.” (Abel 2012a: 246) When one is training in order to acquire know-how, reflecting on the achievement may often be more common and more useful than reflecting on the process. A child learning to bicycle may notice that concentrating on not losing the balance helps more towards keeping the balance than thinking about how to move its various muscles, a high-jumper may find that concentrating on getting across the list instead of on the movements makes the results better. This may be of help in trying to sort out the kind of exercises that enhance the performance. But again, too much reflection often hampers the execution. Hubert Dreyfus began early to draw attention to the non-cognitive aspects of skill acquisition, and this work has been followed up by many of his students. See, for example, (Dreyfus 2007) and Sean Kelly’s contribution to the volume in honor of Dreyfus (Kelly 2000) and many later contributions by Dreyfus, Kelly, Noë and others. Clearly, knowing-how is a disposition, one knows how to play a piano even while one is not playing, but doing other things. What about a great pianist who loses the ability to play, for example because of arthritis? We would still say that he knows how to play the piano. However, we would not say that he has the ability to play the piano. This shows that we should not move too quickly between knowing-how to do something and having the ability to do it. Ability depends on more factors than just knowing-how. All these issues have been discussed at length. The literature on knowinghow to do something is enormous and is growing fast. There is much repetition, and even a non-specialist can see that many journals do not use referees who are able to judge what is new and what is old. Even people who work in the same institution or nearby institutions do not always read one another.
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Kind 3 of knowing-how, knowing how it is to be or to have something, has recently begun to receive much attention, largely because of its connection with the philosophy of mind. In 1982 Frank Jackson proposed a thought experiment, “Mary’s room” (1982, see also his 1986): Mary, who specializes in the neurophysiology of vision acquires, let us suppose, all the physical information there is to obtain about what goes on when we see ripe tomatoes and other red things. However, she has lived all her life in a black and white room from where she observes the world via a black and white television monitor. When she is let out of her room or is given a color television monitor and sees red for the first time, does she then learn anything? If so, there seems to be something more to know about the world than facts about physics, and this seems to be an argument against physicalism – this was the purpose of Jackson’s thought experiment. There is hence a close connection between our analysis if this third kind of knowing-how and our stand towards physicalism. If knowing-how it is to be or to have something, for example knowing-how it is to experience red, cannot be analyzed in terms of pure knowing-that statements, then physicalists will be hard pressed and will have some explanation to do if they are going to stick to their physicalism. My Stanford colleague John Perry has given a brief and insightful analysis of knowing-how, which deserves to be better known. In Knowledge, Possibility, and Consciousness (2001) he presents an account of knowing-how as part of a general perspective on knowledge and consciousness. He argues that “[…] knowing what it is like to have an experience and knowing how to do something are both special cases of knowing-that. They are special in that they involve special kinds of representations, Humean ideas in the one case, executable schemas in the other.” (Perry 2001: 158) The key idea in Perry’s approach to knowing-how is that our analysis of knowing-that has much to learn from our study of knowing-how. In particular, knowing-how involves ways of perceiving and ways of actions, and has to be studied within a broad perspective on consciousness and the world that comprises both perception and action. Perry gives a careful analysis of knowing-how within this broader perspective and says about his analysis that it “exalts knowing how” (158). However, through Perry’s treatment knowing-that becomes even more exalted. Perry does not try to force knowing-how into an impoverished notion of knowing-that, as has been usual in attempts to assimilate knowing-how to knowing-that. Instead, Perry develops a rich idea of knowing-how and shows that knowing-that shares this abundance. One final remark: I think that the study of knowing-how, like much else in philosophy, has much to gain from empirical work in psychology, neurophysiol-
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ogy and brain science. Thus, for example, there is much evidence that learning and preserving knowing-how uses other mechanisms than learning and preserving knowing-that. An example is the studies that were carried out on H. M. (as he was known to the world) who after tragic experimental brain surgery became unable to form new memories. However, he preserved and was able to develop various kinds of knowing-how (Desimone et al. 2012). This may indicate that knowing-how, or at least some kinds of knowing how, do not depend upon knowingthat. In any case it shows that the relationship is not as straightforward as many philosophers tend to believe. This and many other scientific experiments and observations provide boundary conditions for philosophical work and also pointers to new ways of looking at philosophical issues.
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Günter Abel
Knowing-How als irreduzible Wissensform Replik zum Beitrag von Dagfinn Føllesdal Mit Bezug auf die Systematische Wissensforschung und deren Betonung der irreduziblen Vielfalt der Wissensformen lenkt Dagfinn Føllesdal die Aufmerksamkeit auf das Knowing-How als einer spezifischen Form von Wissen (so wie ich diese näher beschrieben und analysiert habe in Abel 2008; 2010; 2012a und 2012b). Føllesdal tut dies, wie stets, auf eine höchst kenntnisreiche sowie auf zentrale Punkte konzentrierte Weise. In meiner Replik möchte ich die drei folgenden Themenfelder behandeln: 1. Unterschiedliche Weisen und Stufen von Knowing-How; 2. Knowing-How und empirische Wissenschaften; 3. Formen des Wissens und Formen der Repräsentation.
1 Unterschiedliche Weisen und Stufen von Knowing-How Trefflich ist zunächst, dass Føllesdal meine Ausführungen zum Knowing-How nicht als Beschreibung eines isolierten Typus von Wissen ansieht, sondern im Rahmen des Netzwerks von Wissensformen verortet. Knowing-How steht darin nicht nur für sich allein und es ist nicht nur durch seinen Unterschied zum Knowing-That charakterisiert. Diese Perspektive verhindert zu schnelle und zu einfache Generalisierungen in puncto Knowing-How. Zudem erweist sich das Knowing-How bei näherem Hinsehen keineswegs als eine monolithische, sondern als eine variantenreiche Wissensform, deren Konzeption eine Reihe von Unterscheidungen, Staffelungen und Stufungen verlangt. Später (1.2) werde ich diese Vielfalt der Weisen von Knowing-How auch im 3-Stufenmodell der Zeichenund Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] formulieren und präzisieren.
1.1 Unterschiedliche Weisen von Knowing-How Die Frage nach dem Knowing-How kann nicht bloß auf dessen Verhältnis zum Knowing-That begrenzt werden (wie dies in der Literatur seit Gilbert Ryles berühmter Behandlung des Themas zumeist geschieht).Wichtig sind darüber hinaus (a) die unterschiedlichen Weisen von Knowing-How und (b) deren unterschiedhttps://doi.org/10.1515/9783110522280-031
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liche Wechselspiele mit anderen Wissensformen. Ich denke hier beispielsweise an das Verhältnis zwischen Knowing-How und begrifflichen ebenso wie nichtbegrifflichen und nicht-sprachlich-propositionalen Formen von Wissen. Zu letzteren Formen von Wissen zählen unter anderem Wahrnehmungswissen, Farbund Klangwissen, Erinnerungswissen, Erfahrungswissen, Erlebniswissen, einschließlich der jeweils unterschiedlichen Kompetenzen und etwa auch der körperlichen und motorischen Fähigkeiten, aufrecht gehen, Arme und Beine bewegen zu können oder andere Gewusst-Wie-Aktivitäten. Knowing-How ist zunächst bloß als Wort eine Einheit. Die tatsächlichen Weisen und Phänomene dagegen sind vielfältig und unterschiedlich. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an Michael Polanyis bekanntes Beispiel des Einschlagens eines Nagels in eine Wand mithilfe eines Hammers. Bei näherer Analyse dieses Vorgangs zeigt sich, dass nicht nur generell KnowingHow, sondern eine Vielfalt unterschiedlicher Weisen von Knowing-How involviert sind. Als ein weiteres Beispiel denke man an die unterschiedlichen Weisen von Knowing-How, die in die Bewegungen einer Ballerina oder in das Spiel einer Cellistin stets bereits eingegangen sind. Wichtig ist also, die Betrachtung aus der Engführung des Knowing-How auf seinen vermeintlichen Opponenten, das Knowing-That, herauszuführen. Diese Sichtweise unterscheidet sich grundlegend von der die Diskussionen weitgehend beherrschenden Strategie der Assimilation oder gar der Reduktion entweder des Knowing-How auf das Knowing-That oder des Knowing-That auf das KnowingHow. Ich möchte diese ganze Bipolarität zurücklassen und jenseits ihrer die irreduzible Vielfalt von Wissensformen in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Mit Bezug auf John Perry betont Føllesdal daher zu Recht, dass es nicht darauf ankomme, „to force knowing-how into an impoverished notion of knowing-that“.¹ Der Horizont der mit der Frage nach dem Knowing-How als Wissensform verbundenen Herausforderungen ist erheblich weiter zu stecken. Neben der Betonung der vielfältigen Weisen von Knowing-How sind mir zwei weitere Punkte wichtig, die Dagfinn Føllesdal mir implizit zuschreibt. Zunächst (a) gehe ich, wie betont, nicht von einer je isolierten Existenz der einzelnen Wissensformen aus, die dann erst in einem sekundären Brückenschlag miteinander verbunden werden. Grundlegend sind für mich von vornherein die Wechsel- und Zusammenspiele unterschiedlicher Wissensformen. Zugleich ist wichtig zu sehen, dass die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Wissensformen und deren Wechselspielen eine heuristische, keine theoretisch-on-
Zitierte und als solche ohne weiteren Stellenvermerk versehene Passagen von D. Føllesdal entstammen sämtlich dem Føllesdal-Beitrag, auf den hier repliziert wird [Anm. d. Hg.].
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tologische ist. Wenn in der nächsten Stunde jemand mit guten Gründen plausibel machen kann, dass (phänomen-bezogen und konzeptionell) die Unterscheidung von beispielsweise Knowing-How und Knowing-That besser preisgegeben werden solle, so wäre auch das ganz in Ordnung. Wer wollte schon an einer Konzeption und Unterscheidung festhalten, nachdem er eingesehen hat, dass sie nicht zu halten ist. Sodann (b) geht es mir erklärtermaßen weder darum, die unterschiedlichen Wissensformen in Oppositionen zueinander zu bringen, noch darum, sie aufeinander oder auf ein Drittes (tertium datur) zu reduzieren. Wissensforschung verfährt nicht reduktionistisch. Der Witz ist vielmehr, dass unterschiedliche Wissensformen sich gerade nicht mehr wechselseitig ausstechen, sondern in gelingenden Lebens- und Erfahrungswirklichkeiten flüssig, anschlussfähig, integrativ und zumeist selbstverständlich wechselwirken, zusammenspielen, stets bereits fusionierte Wissensformen sind. Unter den verschiedenen meiner Unterscheidungen von Typen und Klassifikationen in puncto Knowing-How hebt Føllesdal mit Recht die folgende Unterscheidung dreier Gruppierungen hervor: (1) „knowing-how something works“ (im Sinne von „Tom knows how the planets move“); (2) „knowing-how to do something“ (im Sinne von „knowing how to play football“, ein Beispiel von David Carr); und (3) „knowing-how it is to be or to have something“ (im Sinne von wissen, wie es ist, eine Farbempfindung zu haben oder eifersüchtig zu sein). In dem skizzierten Sinne verkörpern diese drei Gruppen unterschiedliche Weisen von Knowing-How. Mit Recht merkt Føllesdal an, dass dem zweiten der drei Typen in der Literatur zum Thema Knowing-How der Löwenanteil an Publikationen gewidmet ist. Auf diese zweite Gruppe bezogen möchte ich mit Føllesdal und in der Linie Gilbert Ryles auch nachdrücklich hervorheben, dass Knowing-How eine „disposition“ ist.² Knowing-How ist keine uns in irgendwelche naturwüchsigen Mechanismen zwingende Naturrealität. Føllesdals Beispiel ist schlagend: „one knows how to play a piano even while one is not playing, but doing other things.“ In diesem Zusammenhang weist er auch mit Recht auf den wichtigen Punkt hin, dass wir mit der Gleichsetzung von ‚Knowing-How‘ und ‚Fähigkeit‘ vorsichtig sein sollten. Der Pianist, der aufgrund von Arthritis nicht mehr über die Fähigkeit verfügt, Klavier zu spielen, wird von uns gleichwohl als jemand angesehen, der weiß, wie man Klavier spielt. Ganz einverstanden also bin ich mit der Feststellung Føllesdals, dass ‚Fähigkeit‘ „depends on more factors than just knowing-how“.
Zum dispositiven Charakter des Knowing-How siehe des Näheren den Beitrag von Catherine Z. Elgin, Abschnitt 1: ‚Habits and Dispositions‘, sowie meine Replik auf Elgin.
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Føllesdal findet die dritte Art des Knowing-How („knowing-how it is to be or to have something“) besonders aufschlussreich. Mit ihr sieht er Aspekte verbunden, die von grundsätzlicher Bedeutung in puncto Knowing-How sind. Zunächst betont er mit Recht die in dieser dritten Art relevante Verbindung zwischen Knowing-How-Fragen und Fragen im Bereich der Philosophy of Mind. Er erinnert an das bekannte Gedankenexperiment von Frank Jackson (1982, 1986): „Mary’s room“. Mary sei die beste Physikerin ihrer Zeit und sie verfüge über alle physikalischen Informationen. Doch ihr gesamtes bisheriges Leben verbrachte sie in einem Zimmer, in dem nur schwarze oder weiße Gegenstände und Bilder vorkamen. Lernt Mary etwas Neues hinzu, sobald sie ihr Zimmer verlässt und zum ersten Mal rote Tomaten oder den blauen Himmel sieht? Jackson benutzt sein Gedankenexperiment bekanntlich zur kritischen Begrenzung des Anspruchs eines Physikalismus, demzufolge alles, was überhaupt erfahrbar ist, physikalisch und mit Hilfe von Knowing-That-Statements artikulierbar und darstellbar ist. Wenn nun aber eine Farb- und des Näheren beispielsweise eine Rot-Empfindung eine neue Erfahrung verkörpert, die nicht in reinen Knowing-That-Statements analysiert werden kann, dann hat zum einen (a) der Physikalismus ein Problem und zum anderen (b) wird die dritte Art von Knowing-How in ihrer Verbindung mit und Relevanz für den Bereich der Philosophy of Mind deutlich. Im Lichte der Vielfalt von Wissensformen werden auch entlang der unterschiedlichen Bereiche unterschiedliche Weisen von Knowing-How deutlich. Diese Bereiche sind: (a) Knowing‐How und Handlung (Handlungstheorie); (b) KnowingHow und mentale sowie sinnlich-anschauliche Erfahrungen (Philosophy of Mind); und, wie ich in der Replik auf Hans Julius Schneider gezeigt habe, (c) Knowing-How als Sprach- und Zeichenkompetenz (Sprach- und Zeichenphilosophie). Diesen Tripel-Schauplatz in seinen Elementen sowie in deren triangulärem Zusammenspiel in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, halte ich in puncto Knowing-How für überaus wichtig. Die Spannung zwischen Knowing-How-Wissen und Physikalismus näher zu erörtern, fände ich überaus wichtig. Doch möchte ich auf diese Thematik hier nicht näher eingehen. Eingehen möchte ich dagegen kurz auf die Frage, was John Perrys Sicht des Knowing-How in der Perspektive Føllesdals zur Analyse des Knowing-How beitragen kann. Føllesdal sieht Perrys Schlüsselidee in puncto Knowing-How darin, „that our analysis of knowing-that has much to learn from our study of knowing-how“. Diesen Satz unterschreibe ich nachdrücklich. Der Befund ist vor allem deshalb naheliegend, weil Knowing-How Wahrnehmen und Handeln einschließt, mithin „within a broad perspective on consciousness and the world“ studiert werden muss. Diese Erweiterung der Perspektive teile ich ausdrücklich und habe sie in den Konzepten der Systematischen Wissensforschung im Blick auf die Wechselspiele der unterschiedlichen Wissensformen
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sowie insgesamt in der ZuI-Philosophie immer wieder betont. Besonders gefällt mir Perrys (von Føllesdal zitierte) Formulierung, dass seine Analyse „exalts knowing how“ (Perry 2001: 158). Dass komplementär auch das Knowing-That gepriesen wird, ist aus meiner Sicht ganz in Ordnung. Freilich muss es durchgehend bei der auch für Perry und Føllesdal grundlegenden Idee der Reichhaltigkeit beider bleiben. In der Wissensforschung ebenso wie in der ZuI-Philosophie wird der Akzent darüber hinaus auf beider Zusammenspiele im Konzert der anderen Wissensformen gesetzt. Wir sollten uns nicht länger im Würgegriff einer vermeintlichen und ausschließlichen Opposition von Knowing-How und KnowingThat gefangen halten lassen.
1.2 Weisen des Knowing-How und das 3-Stufenmodell der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Neben der Betonung der unterschiedlichen Weisen von Knowing-How möchte ich die Aufmerksamkeit ausdrücklich auch auf die unterschiedlichen Stufen von Knowing-How lenken und letztere innerhalb des 3-Stufenmodells der ZuI-Philosophie verorten. Die Überlegung ist einfach. Ich gehe in dem skizzierten Sinne nicht nur von drei Arten von Knowing-How aus, die horizontal nebeneinander in einer Ebene liegen. In heuristischer Einstellung stufe ich die Weisen des Knowing-How zugleich auch in vertikaler Hinsicht. Mit Stufen-Indizes versehen möchte ich sprechen von Knowing-How3 (beispielsweise des Wissens, wie sich die Planeten bewegen), von Knowing-How2 (beispielsweise des Wissens, wie Fußball gespielt, Rad gefahren, eine Sprache gesprochen wird) und von Knowing-How1 (beispielsweise des Wissens, wie es ist, sich in Ich-Wir-Welt-Beziehungen zu befinden, traurig zu sein oder eine Farbempfindung zu haben). Es wird wenig überraschend sein zu hören, dass ich diese vertikalen Stufungen auch in das 3-Stufenmodell der ZuI-Philosophie eintrage und von diesem her adressiere. Auch dieser Schritt ist einfach und naheliegend. Wissen, wie sich die Planeten bewegen (Knowing-How3), gehört im 3-Stufenmodell offensichtlich auf die ZuI3-Ebene (auf der unter anderem wissenschaftliche Hypothesen, Theorien und Modelle angesiedelt sind). Wissen, wie man Fußball, Tennis oder Cello spielt (Knowing-How2), gehört offensichtlich auf die ZuI2-Ebene (auf der zum Beispiel auch übliche und konventionalisierte Praktiken, Kontexte, Situiertheiten, praktische Vollzüge und habitualisierte Gewohnheiten angesiedelt sind). Wissen, wie es ist, in Beziehung zu anderen Personen, zu einem selbst und zur Welt zu stehen (Knowing-How1), gehört offensichtlich auf die ZuI1-Ebene (auf der unser ursprüngliches Fremd-, Selbst- und Weltverständnis/-verhältnis ebenso angesie-
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delt ist wie die Generierung von Räumen der Bedeutsamkeit, der Relevanz und des Sinns). Am Rande sei erwähnt, dass auch im Rekurs auf das Stufenmodell der ZuIPhilosophie deutlich wird, dass Knowing-How nicht einfach auf Knowing-That reduziert oder aus diesem abgeleitet werden kann. Knowing-That (wie im Beispiel das Wissen, dass sich die Planeten auf eine bestimmte Weise bewegen) hat seinen Sitz innerhalb des 3-Stufenmodells auf der ZuI3-Ebene und des Knowing-How3. Knowing-How2 und Knowing-How1 (und die entsprechenden ZuI-Ebenen) sind in ihren Verfasstheiten nicht auf Knowing-That-Prozesse reduzierbar. Hinzu tritt, dass die ZuI3-Ebene, mithin auch das Knowing-How3, stets bereits und konstitutiv eingebettet und verankert ist in der ZuI2- und ZuI1-Ebene.
2 Knowing-How und empirische Wissenschaften Mit Føllesdal treffe ich mich auch in dem Punkt, dass Philosophie und empirische Wissenschaften gut daran tun, miteinander zu kooperieren.Verschiedentlich (wie beispielsweise in meiner Replik auf Hinderk Emrich in Bezug auf das Verhältnis von Philosophie und Neurowissenschaften) habe ich mich deutlich gegen eine Strategie der Isolierung der Philosophie von den Wissenschaften ausgesprochen, wie diese von einigen Philosophen propagiert wird (wie beispielsweise von Michael Dummett 2010). Hier verstehe ich Wissensforschung und ZuI-Philosophie in der Linie derjenigen Autoren, die seit den Anfängen der Philosophie den Zusammenhang von Philosophie und Wissenschaft betont haben. Gleichwohl möchte ich in Bezug auf das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften zwei Punkte nachdrücklich betonen. Zum einen (a) muss es ein Geschäft auf Gegenseitigkeit sein und nicht einfach eine Subsumption der Philosophie unter die Wissenschaften. Philosophie sollte meines Erachtens nicht bloß als die, mit Quine gesprochen, Wissenschaft mit den umfänglichsten Kategorien aufgefasst werden. Zum anderen (b) sollte das szientifische Wissen der Wissenschaften als eine zweifelsohne überaus wichtige Wissensform im Konzert mit anderen Wissensformen, nicht jedoch als die metaphysisch einzig seriöse angesehen werden. Mit diesen Kautelen versehen ist der Weg für Kooperationen von Philosophie und Wissenschaften nicht nur offen, sondern auch geboten. Diese Kooperation wird von Føllesdal auch zwischen einer Philosophie des Knowing-How und empirischen Wissenschaften angemahnt (vor allem mit Psychologie, Neurophysiologie und Gehirnwissenschaften). Føllesdal erinnert an den berühmt gewordenen Patienten Henry Gustav Molaison, der unter der Bezeichnung ‚Patient H. M.‘ der Forschungswelt bekannt ist, an einer neuralen Schädigung seines Gehirns litt, daraufhin sein Erinnerungsvermögen verloren hatte und
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bis zu seinem Tode 2008 intensiv studiert wurde. Føllesdal verweist in diesem Zusammenhang auf den Artikel ‚Remembering H. M.‘ (Desimone et al. 2012). Der aufschlussreiche Punkt im Rahmen der Frage nach Status und Eigencharakter des Knowing-How ist, dass H. M. zwar keine neuen Erinnerungen und in diesem Sinne keine neuen Knowing-Thats formieren und erlernen konnte. Aber sehr wohl war er in der Lage, neue neurale Knowing-Hows (wie beispielsweise motorische Fähigkeiten) zu erlernen. Sein motorisches Lernen und damit sein Gedächtnis von Knowing-How-Fähigkeiten funktionierten. Er konnte neue Knowing-How-Bahnungen realisieren, die jedoch auf anderen neuralen Strukturen beruhten als Knowing-That-Konstruktionen im Sinne der Erinnerung an Erlebnisse und an Tatsachen. Føllesdal zieht anhand dieses Beispiels die Konsequenz, dass „there is much evidence that learning and preserving knowing-how uses other mechanisms than learning and preserving knowing-that“. Dies mag anzeigen, „that knowing-how, or at least some kinds of knowing how, do not depend upon knowing-that“. Auf diese Weise wird die philosophische These der genuinen Eigenständigkeit des Knowing-How als einer Wissensform, die nicht auf ein Knowing-That zurückgeführt werden kann, auch von Seiten empirischer Neurowissenschaften flankierend gestützt. An diesen Befund möchte ich zwei weiterführende Überlegungen anschließen. Die erste (a) betrifft hier involvierte Möglichkeiten medizinisch orientierten Lernens und Wiedererlernens von Knowing-How-Fähigkeiten und -Praktiken nach beispielsweise schweren Unfällen. Die zweite (b) Überlegung betrifft den von Føllesdal (mit Bezug auf Perry) am Rande erwähnten Punkt, dass KnowingHow und Knowing-That mit unterschiedlichen Arten der Repräsentation verknüpft sind. Letzterer Punkt ist in der Systematischen Wissensforschung explizit als das Verhältnis von Formen des Wissens und Formen der Repräsentation adressiert worden (siehe Abel 2012a: II.5.; deutsch Abel 2015: 425 – 429). Ersterer Punkt zeigt die hohe praktische Relevanz des Knowing-How beispielsweise im Rahmen von medizinischen Reha-Maßnahmen oder in Praktiken der Physiotherapie. Den ersten der beiden Aspekte präzisiere ich im Folgenden nur kurz. Den zweiten Aspekt möchte ich als Teil 3 meiner Replik etwas ausführlicher behandeln. Zu (a): Knowing-How-Praktiken, -Gedächtnisse und -Bahnungen zu befördern, einzuüben, zu trainieren und effektiv zu machen, kann nicht nur in Fällen früher Bewegungsmuster, sondern vor allem auch in Prozessen der physischkinetischen Rehabilitation überaus hilfreich sein. In einer Physiotherapie beispielsweise geht es im Kern um Praktiken, Übungen und Bewegungstraining, mithin um eine Praxis, nicht um Theorie, um Knowing-How, nicht um Knowing-
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That. Auf diese Weise liefern die unterschiedlichen Weisen von Knowing-How unterschiedliche praktische Beiträge zum Humanum. Denn im Mittelpunkt aller Knowing-How-Prozesse steht der Mensch.
3 Formen des Wissens und Formen der Repräsentation Die unterschiedlichen Formen und Stufen von Wissen sind jeweils mit unterschiedlichen Formen und Stufen der Repräsentation korreliert.³ Bilder bzw. bildliches Wissen repräsentieren auf eine andere Weise als sprachliche Ausdrücke bzw. sprachlich-propositionales Wissen oder als musikalische Klänge bzw. musikalisches Wissen. Erstere repräsentieren kraft ihrer piktorialen Eigenschaften, zweitere kraft ihrer sprachlichen und letztere kraft ihrer musikalischen Eigenschaften. Entsprechend repräsentiert Knowing-How auf eine andere Weise als Knowing-That. Letzteres repräsentiert kraft propositionaler Eigenschaften, ersteres kraft praktischer Dispositionen, trainierter Praktiken und aktiver Gestaltungen. Zugleich haben wir es sowohl mit horizontalen Korrelationen zwischen Repräsentationsformen und Wissensformen (zum Beispiel dem Verhältnis von sprachlicher Repräsentation und sprachlichem Wissen) als auch mit vertikal gestuften Verhältnissen zu tun (wie beispielsweise dem Verhältnis zwischen objektsprachlichen und metasprachlichen Sätzen). Es ist eine der Aufgaben der Wissensforschung, sowohl diese horizontalen als auch die vertikal gestuften Korrelationen in ihren spezifischen Eigenprofilen und in ihren wechselwirkenden Mechanismen zu beschreiben, zu analysieren und zu modellieren. Erklärtermaßen gehe ich im Blick auf diese Strukturen nicht von einem Repräsentationalismus traditioneller Prägung aus. Für diesen ist eine dualistische Auffassung von Repräsentation kennzeichnend, in der die Leistung der Repräsentation im Rückgriff auf die Schlüsselbegriffe ‚Kopie‘, ‚Abbild‘, ‚Spiegelung‘, ‚Imitation‘ oder ‚Stellvertretung‘ gefasst wird. Innerhalb der Wissensforschung und der ZuI-Philosophie besteht demgegenüber das Desiderat einer nicht-repräsentationalistischen Theorie der Repräsentation. Der ältere Repräsentationalismus ist zudem durch die Position gekennzeichnet, dass wir innerhalb der triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen sowie in Bezug auf das Triangel von
Im Folgenden greife ich teils wörtlich auch auf Materialien zurück, die ich ausführlicher entfaltet habe in (Abel 2012a; in deutscher Version in Abel 2015: 425 – 429).
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Kommunikation, Welt und Handlung jeweils erst noch Brückenschläge zu den anderen Personen und zur Welt bewerkstelligen müssten. Dass dieses Bild in puncto Repräsentation ebenso Schiffbruch erleidet wie das Bild als ‚Kopie‘, ‚Abbild‘, ‚Spiegelung‘, ‚Imitation‘ oder ‚Stellvertretung‘, darf uns jedoch nicht zu der ebenfalls irreführenden, aber in der modernen Philosophie oftmals vertretenen Annahme führen, dass die Frage der Repräsentation überhaupt obsolet geworden sei. Das ist sie keineswegs. Auch hier dürfen wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Denn offenkundig sind auch die adualistischen Weisen von Wissen (wie beispielsweise die des Knowing-How) intern mit Aspekten eines ebenfalls adualistisch zu konzipierenden Präsentierens und Repräsentierens verbunden. In Sachen Repräsentationalismus sind oftmals zwei Fehleinschätzungen anzutreffen, die wir mutatis mutandis auch in puncto Wissensformen finden. Die beiden Fehleinschätzungen sind: (a) ein verkürztes Verständnis von Repräsentation und entsprechend von Wissensform als Kopie und Abbild einer vorfabriziert fertigen Welt, und (b) Repräsentation und entsprechend Wissensform als eine Art mentales Vermittlungsstück aufzufassen, das zwischen die Welt und unsere Handlungen, Gedanken und Gestaltungen geschaltet sei. Ein solcher Repräsentationalismus führt jedoch bestenfalls in einen unendlichen Regress von Zwischenstück über Zwischenstück über… (mit unbegrenzt vielen Zwischenstücken), die uns immer weiter von der Praxis der erfolgreichen und effektiven Repräsentation entfernen, statt uns dieser näherzubringen. Strenggenommen blockiert ein so verstandener Repräsentationalismus den direkten Zugang zu unserer Welt, zu den anderen Personen und zu unseren Erfahrungswirklichkeiten ebenso wie den Eintritt ins tatsächliche Handeln und Gestalten. Repräsentationstheorien und Wissenstheorien, die im Würgegriff dieser Bilder von Repräsentation stehen und sie fortschreiben, lassen sich unter kritischem Vorzeichen nicht verteidigen. Und wichtiger noch: beide genannten Annahmen (Kopie und Vermittlungsstücke) gehen im Kern an dem flüssigen, anschlussfähigen und zumeist selbstverständlichen Funktionieren des Repräsentierens in unseren Ich-Wir-Welt-Beziehungen sowie an der internen Verbindung zwischen Kommunikation, Weltbezug, Handlung und Gestaltung vorbei. Beide Annahmen sollten daher nicht subtilisiert, sondern verabschiedet werden. Demgegenüber ist Repräsentation in einem neuen Verständnis sowie in interner Kopplung an die unterschiedlichen Wissensformen adualistisch perspektivierender Art. Perspektivierende Repräsentation erfolgt, so die These der ZuIPhilosophie, kraft Zeichen und Interpretation. Des Näheren erfolgt sie nicht in abbildenden oder spiegelnden Stellvertreter-Zeichen, sondern kraft primordial diskriminierender und individuierender ZuI-Prozesse (auf allen Ebenen des 3Stufenmodells der ZuI-Philosophie). Repräsentationen sind nicht-eliminierbar
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zeichen-interpretativ hinsichtlich dessen verfasst, was überhaupt als eine individuierte Welt, als ein spezifischer Gegenstand und als ein bestimmter Gehalt des Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens gelten kann. So kann unter ZuI-kritischem Vorzeichen weder von einer zur Repräsentation oder zur Erfassung in einer Wissensform vorfabriziert fertig daliegenden Welt noch von einem unschuldigen Repräsentations- oder Wissens-Auge ausgegangen werden. Unterschiedliche Wissensformen und die ihnen korrelierten unterschiedlichen Repräsentationsformen (wie beispielsweise die Knowing-Howmäßigen Repräsentationsformen) spielen in einem neuen Repräsentations-Modell eine wichtige Rolle, in menschlich-natürlichen ebenso wie in künstlich-maschinellen Systemen. Mit unterschiedlichen Formen der Repräsentation nicht-abbildender und nicht-intermediärer Art sind wir bestens ebenso vertraut wie mit unterschiedlichen Formen von Wissen. Das trifft im lebensweltlichen Alltag, in den Wissenschaften und in den Künsten zu. Landkarten, Fotos, Dax-Kurven oder Fahrpläne sind hier ebenso Beispiele wie die numerische Messung biologischer Blutwerte durch deren Abbildung in reellen Zahlen oder die Repräsentation geometrischer Größen wie Punkten, Geraden, Kurven durch algebraische Ausdrücke. Entsprechendes trifft auch auf Knowing-How-Praktiken zu. Beide, Repräsentation und Wissen, sind jedoch nicht einfach schon mit den materiellen Eigenschaften der Zeichen (z. B. nicht mit der physischen Beschaffenheit einer Kugelschreiberlinie auf einem Stück Papier) gegeben. Damit etwas überhaupt als ein repräsentierendes und epistemisch sowie praktisch signifikantes Zeichen fungieren kann (sei dies ein Bild, ein Wort, eine Geste, ein Diagramm, ein mathematischer Formalismus, eine Handlung oder eine Praktik), muss es zuvor zum Zeichen, des näheren zum epistemischen und repräsentierenden Zeichen geworden sein. Die Pointe eines epistemischen und repräsentierenden Zeichens besteht im Sinne eines triadischen Zeichenmodells (Peirce) darin, dass das Zeichen etwas für einen Interpreten/Interpretanden darstellt, das es selbst nicht ist (vgl. Peirce 1931– 1935: 1.541, 2.228, 2.2247 ff., 2.307). Die Schlüsselfrage ist dann, wie dem Zeichen dies gelingt und was genau in einer epistemischen und repräsentierenden Zeichenfunktion dargestellt, übertragen und erhalten wird und werden kann. Die Klärung dieser Frage ist von hoher Wichtigkeit für eine umfängliche Beantwortung der Frage nach den Dynamiken und Mechanismen der Wechselspiele der Wissensformen. In diesem Sinne bildet die wiederentdeckte Repräsentationsproblematik eine Schlüsselproblematik der ZuI-Philosophie und des Näheren auch der systematischen Wissensforschung. In Bezug auf das neue Verständnis von Repräsentation und deren interner Korrelation zu Wissensformen sind mit Akzent auf Repräsentation (sowie deren zeichen-interpretativer Verfasstheiten) die folgenden Aspekte zu betonen:
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(a) Korreliert zu den unterschiedlichen Formen von Wissen können wir unterschiedliche Formen von Repräsentation (z. B. sprachliche, bildliche, gestische oder Knowing-How-Repräsentationen) und Typen von Repräsentationstheorien (z. B. kausale, funktionale, ähnlichkeits-basierte, teleofunktionale, modell-basierte, strukturale Repräsentationstheorien) unterscheiden. (b) Korreliert mit den Staffelungen und Stufungen von Wissensformen können wir Stufen von Repräsentationen unterscheiden (auf einer Skala beispielsweise von den elementaren Repräsentationen kraft unseres visuellen Systems über die Repräsentationen, die durch unsere Knowing-How-Aktivitäten bestimmt werden, des näheren solche, die mit intentionalen Handlungen verbunden sind, bis hin zu meta- und höherstufigen Repräsentationen auf der Ebene von Regeln, Standards und Normen). Diese Stufungen können an die Stufen eines ZuI-Modells gekoppelt werden. (c) Wir können, korreliert mit den Dynamiken der Wissensformen, den dynamischen Charakter des Repräsentierens (d. h. dessen Modifikationen, Transformationen, Temporalitäten, Übertragungen und Revisionen) beschreiben, analysieren und modellieren. Entsprechend kann die Frage „Was zeichnet eine gute Repräsentation aus?“ nicht mehr bloß darauf zielen, nur diejenigen Fakten im Sinne des Knowing-That zu repräsentieren, mittels derer die komplexe Semantik einer Welt auf ein einfaches geschlossenes System reduziert werden soll. Das Anforderungsprofil für eine ‚gute‘ Repräsentation muss vielmehr seinerseits mehrdimensional und gestuft sein. Stenogrammartig möchte ich die folgenden Anforderungen anführen, deren Mechanismen zu klären Desiderate der systematischen und reflektierten Wissensforschung ebenso wie der umfänglichen ZuI-Philosophie sind. Eine gute Repräsentation muss: (a) das trianguläre Verhältnis unserer Ich–Wir–Welt-Beziehungen (des näheren von Subjekt/Akteur, anderen Subjekten/Akteuren, erschlossener und erfahrener Welt sowie Erfahrungswirklichkeiten) flüssig fortzusetzen und anschlussfähig zu halten erlauben; (b) Orientierung in Praxis und Theorie bereitstellen; mithin (c) zweck-, problem-, handlungsbezogen sein; und in diesem Sinne (d) von praktischem und epistemischem Nutzen sein; (e) Zuordnungen zwischen Gegenstandsbereichen (beispielsweise zwischen physikalischen Prozessen und deren Darstellung in reellen Zahlen) ermöglichen; (f) Informationen darstellen und verarbeitbar machen; (g) überschüssige Komplexität des zu repräsentierenden Bereichs reduzieren (beispielsweise geometrische Punkte durch Zahlentupel darstellen); (h) neue Komplexität in den zu repräsentierenden Bereich einführen (beispielsweise physikalische Relationen durch reelle Zahlen darstellen, die ihrerseits in einem komplexen mathematischen Rahmen stehen, der zwar keine direkte Entsprechung im Bereich der physikalischen Relationen hat, mit deren Hilfe wir jedoch zu neuem Wissen auch über die physikalischen Relationen kommen können); (i) den Unterschied zwischen Gehalt und Gerich-
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tetheit einer Relation auszubuchstabieren erlauben (durch welche Differenz die wichtige Unterscheidung zwischen korrekter und nicht-korrekter Repräsentation, zwischen gelingender Repräsentation und Fehlrepräsentation plausibel gemacht werden kann); (j) mit formalem Feedback sowie mit Bedingungen der empirischen Gültigkeit korreliert werden können; (k) strukturerhaltend und strukturübertragend sein (im Blick auf das Verhältnis zwischen dem repräsentierenden und dem repräsentierten System); (l) nicht nur weltenzuordnend, sondern auch weltengestaltend sein; und sie muss (m) in der Lage sein, den spezifischen Charakter der Repräsentation zu erfassen und zu modellieren, wie diese in KnowingHow-Repräsentationen vorliegt und gefordert ist. Knowing-How-Repräsentationen unterscheiden sich von Knowing-That-Repräsentationen in dem Sinne, dass es in Knowing-How-Repräsentationen nicht um theoretische, sondern um praktische, um Repräsentationen im Modus praxis-basierten, praxis-orientierten und -orientierenden Lernens, Einübens, Trainierens und aktiven Gestaltens geht.
Literatur Abel, Günter 2008: Forms of Knowledge: Problems, Projects, Perspectives, in: Meusburger, Peter / Welker, Michael / Wunder, Edgar (Hg.): Clashes of Knowledge. Orthodoxies and Heterodoxies in Science and Religion, (Knowledge and Space, Bd. 1), Dordrecht, S. 11 – 33. Abel, Günter 2010: Knowing How. Eine scheinbar unergründliche Wissensform, in: Bromand, Joachim / Kreis, Guido (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das nicht-begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin, S. 319 – 340. Abel, Günter 2012a: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52. Abel, Günter 2012b: Knowing-How: Indispensable but Inscrutable, in: Tolksdorf, Stefan (Hg.): Conceptions of Knowledge, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 4), Berlin / Boston, S. 245 – 267. Abel, Günter 2015: Wissensforschung – Erweiterungen und Revisionen der Epistemologie, in: Koppelberg, Dirk / Tolksdorf, Stefan (Hg.): Erkenntnistheorie – Wie und Wozu?, Münster, S. 385 – 434. Desimone, Robert et al. 2012: „Remembering H. M.“, in: Bulletin of the American Academy of Arts and Sciences, LXV, No. 4, S. 18 – 26. Dummett, Michael 2010: The Nature and Future of Philosophy, New York. Jackson, Frank Cameron 1982: Epiphenomenal Qualia, in: Philosophical Quarterly, Vol. 32, No. 127, S. 127 – 136 Jackson, Frank Cameron 1986: What Mary Didn’t Know, in: Journal of Philosophy, Vol. 83, No. 5, S. 291 – 295. Peirce, Charles Sanders 1931 – 1935: Collected Papers of Charles Sanders Peirce, vols. 1 – 6, hg. v. C. Hartshorne u. P. Weiss, vols. 7 – 8 hg. v. A. W. Burks, Cambridge, MA, 1958. Perry, John 2001: Knowledge, Possibility, and Consciousness, Cambridge, MA.
Kapitel 7: Epistemische Dinge und technische Artefakte
Hans-Jörg Rheinberger
Über epistemische Dinge¹
Abstract: The paper proceeds from a perspective on scientific objects – epistemic things – that is grounded in an approach to characterize the dynamics of the empirical sciences centered on experimental systems. Accordingly, the paper begins with a brief characterization of the concept of ‘experimental system’ and its basic features. It includes an exposition of the notion of ‘epistemic thing’ and its counterpart, the ‘technical object.’ The second part of the paper concentrates on the relation between epistemic things and scientific concepts. They can be addressed, first, from the perspective of the problem of reference, and second, the problem of embodiment.
Die hier vorgestellte Perspektive auf epistemische Dinge ist eng verknüpft mit einem historisch-epistemologischen Zugang zu den empirischen Wissenschaften, den man kurz gefasst als Experimentalsystem-Zugang bezeichnen kann. Am Anfang steht eine knappe Charakterisierung des Begriffs ‚Experimentalsystem‘ sowie der Sicht, die er auf die Dynamik der modernen Wissenschaften öffnet. Nach dieser kurzen Exposition, die auch eine erste Positionierung dessen einschließt, was unter epistemischen Dingen zu verstehen ist, soll dann im zweiten Teil etwas ausführlicher auf den Begriff ‚epistemisches Ding‘, einige seiner Charakteristika sowie das Verhältnis von epistemischen Dingen zu und ihre Wechselwirkung mit technischen Objekten eingegangen werden.
1 Experimentalsysteme Wie in meinem Buch über Experimentalsysteme und epistemische Dinge im Detail dargelegt – das kann hier nur kurz zusammengefasst werden – muss man im Zusammenhang mit solchen Systemen vier besondere Aspekte unterscheiden (vgl. Rheinberger 2006b). Erstens kann man in Experimentalsystemen so etwas wie die kleinsten integralen Arbeitseinheiten der empirischen Forschung sehen. In ihrem Inneren herrscht eine besondere Konstellation zwischen epistemischen
Überarbeitete, deutsche Version von Epistemic objects / Technical objects (Rheinberger 2009a). Der Text ist im Rahmen einer Kooperation mit Günter Abel entstanden. Er sei ihm aus gegebenem Anlass zugeeignet. https://doi.org/10.1515/9783110522280-032
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Hans-Jörg Rheinberger
Dingen und technischen Objekten – das heißt, den technischen Bedingungen der Hervorbringung wissenschaftlicher Objekte. Beide hängen von einander ab und bedingen einander. Sie sind derart miteinander verzahnt, dass eins nicht ohne das andere in einem solchen Zusammenhang existieren kann. Das ist auch genau der Grund, warum ich lieber von epistemischen Dingen als von wissenschaftlichen spreche. Der Begriff des Epistemischen verweist auf den fundamentalen Sachverhalt, dass diese Dinge nicht unabhängig von den Mitteln und Medien gedacht werden können, denen sie ihre Manifestation letztlich verdanken. Das ist auch der Grund, warum Gaston Bachelard für diesen Sachverhalt den Begriff der ‚Phänomenotechnik‘ geprägt hat (Bachelard 1931/32). Die erste der beiden Entitäten, das epistemische Ding, ist jenes schwer zu definierende Etwas, das den Einsatz eines bestimmten experimentellen Forschungsunternehmens darstellt. Paradox gesagt verkörpert es – und zwar in einer Form, die experimentell gehandhabt werden kann – eben dasjenige, was man noch nicht genau kennt, worüber man aber gerne mehr wissen möchte. Epistemische Dinge sind demnach chronisch unterdeterminiert; sie sind, wenn man so will, per definitionem unter-definiert. Es sind ‚vage‘ Dinge, um hier einen Ausdruck des französischen Physiologen Claude Bernard aus dem 19. Jahrhundert aufzugreifen. „C’est le vague qui mène le monde“, hat er einmal in Bezug auf die wissenschaftliche Forschung gesagt (Bernard 1954: 26). Genau das aber ist auch der Grund, warum hier von epistemischen ‚Dingen‘ und nicht von epistemischen ‚Objekten‘ die Rede ist. Mit Objekten konnotiert man eher scharfe Konturen, während der Begriff des ‚Dings‘ etwas von jener Unbestimmtheit transportiert, die epistemische Entitäten in ihrem Kern betrifft, die einen also auch überraschen können. „Das ist ja ein Ding!“, sagt man dann ja auch in solchen Momenten der Überraschung. Im Gegensatz dazu sind die technischen Objekte, die ein Experimentalsystem konstituieren, auf je charakteristische Weise bestimmt und definiert. Es sind die Instrumente, die Apparaturen und sonstigen Vorrichtungen, einschließlich der in den biologischen Wissenschaften besonders wichtigen Modellorganismen, die epistemische Dinge ermöglichen und sie zur gleichen Zeit binden und einfassen. Technische Objekte müssen mit einer bestimmten Rigidität und Spezifität ausgestattet sein, und zwar genau um die Vagheit der epistemischen Dinge in einem hypokritischen Zustand zu halten. Ohne eine solche Spezifität der technischen Objekte, ohne solche Rahmenbedingungen würden die epistemischen Dinge nicht geformt und überformt werden können, sie würden vielmehr unter den Händen der Forscher dissipieren. Innerhalb eines bestimmten Forschungsprozesses jedoch können epistemische Dinge gegebenenfalls auch spezifiziert und damit in technische Objekte verwandelt werden. In dieser Form werden sie dann in der Regel selbst zu Bestandteilen der technischen Bedingungen des betreffenden Experimentalsystems.
Über epistemische Dinge
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Umgekehrt aber können die technischen Teile eines Experimentalsystems auch wieder epistemischen Status erlangen und so wieder zu Forschungsdingen werden. Eine solche fortgesetzte Dialektik zwischen Epistemizität und Technizität macht das Zentrum produktiver Experimentalsysteme aus; sie ist ihre treibende Kraft. Experimentalsysteme sind also Forschungskörper, die den epistemischen Dingen, die in ihnen verhandelt werden, zu materieller Gestalt verhelfen, gleichzeitig aber auch die Grenzen ihrer begrifflichen Apprehension festlegen. Es gibt drei weitere Charakteristika von Experimentalsystemen, die hier kurz angesprochen werden sollen. Experimentalsysteme müssen differentiell reproduzierbar sein, wenn sie Arrangements bleiben sollen, in denen Wissen generiert wird, vor allem Wissen, das jenseits dessen liegt, was man sich hat vorstellen und antizipieren können. Sie fungieren dann, mit einem Wort des Molekularbiologen Mahlon Hoagland, als ‚Forschungsgeneratoren‘ (Hoagland 1990: xvii), oder, um mit dem Pasteurianer François Jacob zu sprechen, als ‚Maschinen zur Hervorbringung von Zukunft‘ (Jacob 1988: 12). Differenz und Reproduktion sind die beiden untrennbaren Seiten einer Münze. Ihr Spiel bestimmt die Verzögerungen und Durchbrüche im Verlauf eines Forschungsprozesses. Um es zugespitzt auszudrücken: Experimentalsysteme müssen, um produktiv zu bleiben, so angelegt sein und so geführt werden, dass die Erzeugung von Differenzen zur reproduktiven Triebkraft der ganzen Maschinerie wird. Es sind in diesem Sinne Differenzmaschinen. Aber um nicht zu dissipieren, müssen ihre technischen Komponenten ständig instand gehalten werden. Differentielle Reproduktion verleiht Experimentalsystemen eine besondere Art von Historizität. Sie können, um es mit Ian Hacking zu sagen, ein ‚Eigenleben‘ entfalten (Hacking 1983: 150). Sie sind Einheiten, die sich in der Zeit erstrecken: Sie entstehen, wuchern und können auch wieder verschwinden. Das macht ihre Eigenzeit aus. Drittens sind Experimentalsysteme jene Einheiten, in denen die materiellen Bedeutungsträger des Wissens hergestellt werden. Sie beginnen ihr Leben zunächst als Spuren, als graphematische Entitäten der einen oder anderen Art und können, in der einen oder anderen Form auf Dauer gestellt, die Gestalt von Daten annehmen, um sich dann zu dem zu verfestigen, was man als Modelle und schließlich als Fakten bezeichnet (vgl. Rheinberger 2011). Den Horizont ihrer möglichen Bedeutung erhalten solche Grapheme in Repräsentationsräumen, in denen materielle Spuren und Einschreibungen aufgezeichnet, verknüpft, verschoben, verstärkt, an den Rand gedrängt und ersetzt werden. Forscher ‚denken‘ in den Grenzen solcher Repräsentationsräume – in der Regel sind es Räume der Visualisierung –, im opportunistischen und hybriden Kontext der zuhandenen Repräsentationsmaschinerie, aus der die technischen Bedingungen eines Experimentalsystems bestehen (vgl. Rheinberger 2009b).
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Viertens schließlich können Konjunkturen und Verzweigungen von Experimentalsystemen zu ganzen Ensembles solcher Systeme oder zu Experimentalkulturen führen (Rheinberger 2017). Konjunkturen und Verzweigungen sind selbst in der Regel das Ergebnis von nicht vorwegnehmbaren Ereignissen in Experimentalsystemen. Es sind Experimentalereignisse, die sich oft der Einführung neuer Darstellungstechnologien verdanken. In letzter Instanz bestimmen solche Experimentalkulturen die Umrisse wissenschaftlicher Disziplinen, ihre Entstehung wie auch ihr historisches Vergehen. Der Begriff der Experimentalkultur als eines artikulierten Ensembles von Experimentalsystemen erlaubt es auch, die Geschichte von Forschungsfeldern frei von der Bürde der Disziplinengeschichte zu schreiben. Das ist jedoch nicht nur eine historiographische Angelegenheit. Das grundsätzlichere Argument besteht darin, dass die experimentellen Wissenschaften des 20. Jahrhunderts ihre Dynamik immer weniger von der Ziehung disziplinärer Grenzen und deren sozialer Zementierung beziehen und immer mehr von den Digressionen und den Transgressionen kleinerer Einheiten unterhalb der Ebene von Disziplinen, in denen das Wissen noch nicht etikettiert und klassifiziert ist und in denen neue Wissensformen Gestalt annehmen können. Aus dieser kurzen Charakterisierung von Experimentalsystemen als den nächstliegenden Forschungsumgebungen, in denen epistemische Dinge wurzeln, kann ein entscheidender Schluss in Bezug auf eben die Dinge gezogen werden, die hier auftauchen und Gestalt annehmen. Vor allem sind epistemische Dinge keine Endprodukte der Forschung. In der ihnen charakteristischen Unbestimmtheit sind sie eher die Triebkräfte, die Edukte sozusagen, der Forschung. Als solche sind sie eminent historische Entitäten. Zu ihrer Charakterisierung bedarf es der Zeitachse, denn ihr Hauptaspekt liegt ja gerade in ihrer Transformation. Ich will hier nur kurz ein Beispiel aus den biologischen Wissenschaften des 20. Jahrhunderts heranziehen (vgl. Rheinberger 2006a: Kap. 8). In ihnen haben Gene als epistemische Dinge eine prominente Rolle gespielt. Um sie herum entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine ganze neue Experimentalkultur der Vererbungsforschung, die dann im Verlauf des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der beständigen Umformung ihrer zentralen Entitäten ganz unterschiedliche Gestalt annahm. Es war eine Kultur, die in die gesamten Biowissenschaften ausstrahlte – bekanntlich nicht nur in die Wissenschaften. Der klassischen Genetik, deren Lebenszyklus sich ungefähr über die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts erstreckte, korrespondierte ein Gen, das als ein Faktor operationalisiert werden konnte, ein Etwas, das den Unterschieden in der Erscheinung bestimmter Varietäten von Organismen und ihrer hybriden Nachkommen zugrunde lag und sie bedingte. Im Kontext des Experimentalregimes der klassischen Genetik, also dem Kreuzungsexperiment, war weder eine chemische noch eine physikalische Dar-
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stellung dieser Faktoren möglich. Eine solche Darstellung war aber in diesem Zusammenhang auch gar nicht nötig. Dann, im Kontext der Molekularbiologie der ersten drei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurden die Gene zu Makromolekülen mit speziellen stereochemischen Charakteristika, die es erlaubten, sie zugleich als Träger genetischer Information anzusehen. Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant festzuhalten, dass diese Makromoleküle in den Experimentalsystemen, in die sie eingebettet waren, ebenfalls so etwas wie ein Hybridisierungsregime ermöglichten. Waren in der klassischen Genetik ganze Organismen hybridisiert worden, so wurde die Hybridisierung von Nukleinsäure-Molekülen zu Doppelsträngen nicht nur Grundlage aller Sequenzanalysen, sondern auch der Gentechnologie und des genetic engineering. Im Ergebnis wurden die Gene im Zusammenhang mit der sich seit den 1980er Jahren entwickelnden Genomik und Postgenomik noch einmal rekontextualisiert – diesmal als flexible molekulare Ressourcen einerseits für organismische Entwicklungsvorgänge, die sich als immer komplexere Kaskaden darstellten, und andererseits für eine Biotechnologie, die heute zunehmend als synthetische Biologie angesprochen wird. Hier ließe sich noch beträchtlich ins Detail gehen, insbesondere im Hinblick auf die Dynamik zwischen epistemischen und technischen Genen. Es genügt, sich die PCR, die Polymerase-Kettenreaktion, als ein Beispiel für das technische Gen vor Augen zu führen (vgl. Rabinow 1996). Als eine DNS-Amplifizierungsmaschine kann sie dazu benützt werden, um genetisches Material im Prinzip ausgehend von einem einzigen Molekül beliebig zu vervielfachen. Diese Bemerkungen mögen hier ausreichen, um das Argument stark zu machen, dass epistemische Dinge auf der einen Seite zu technischen Objekten führen können und auf der anderen Seite immer in der für sie charakteristischen Historizität, in ihrer epistemischen Proliferation gesehen werden müssen. Man könnte sie also durchaus als charakterisiert sehen durch etwas, das man im Sinne Edgar Winds und im Nachgang zu seiner Schrift über Das Experiment und die Metaphysik als ‚immanente Transzendenz‘ bezeichnen könnte (Wind 1934). Epistemische Dinge proliferieren – entweder in neue epistemische Dinge oder in technische Objekte. Als technische Objekte aber verlieren sie ihre Qualität der Behaftung mit immanenter Transzendenz.
2 Epistemische Dinge und Begriffe Im zweiten Teil dieser Ausführungen soll es nun noch etwas ausführlicher um zwei Punkte gehen. Beide haben mit dem Problem des Verhältnisses zwischen Begriff und Gegenstand zu tun und hängen mit der Sicht auf epistemische Dinge
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zusammen, wie sie hier entwickelt sind. Den ersten Punkt kann man auch als das Problem der Referenz bezeichnen. Aus der Perspektive von Experimentalsystemen ist die Besonderheit – und auch die Prekarität – des Verhältnisses zwischen den Begriffen und den Dingen, für die sie im Forschungsprozess zu stehen angenommen werden, eben genau durch den Tatbestand bedingt, dass sich diese Dinge in einem Zustand befinden, in dem wir ganz einfach nicht auf sie zeigen können. Könnten wir auf sie zeigen, so hätten sie bereits ihre Dringlichkeit und ihren wesentlichen epistemischen Wert für uns verloren. Also können epistemisch interessante Beziehungen zwischen Begriffen und Gegenständen gerade nicht die simple Form einer Ostension annehmen; auf epistemische Objekte, so wie ich sie beschrieben habe, kann man (noch) nicht zeigen. Sie haben also im alltäglichen Sinne des Wortes keine Referenz.Wenn es hier so etwas wie Referenz gibt, dann ist sie immer unterstellt; und sie muss ohne präzise Bedeutung bleiben. Mit Hans Blumenberg könnte man sagen, dass wir es hier mit der wissenschaftlichen Inkarnation dessen zu tun haben, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, nämlich „auf räumliche und zeitliche Entfernung“ zu handeln. In der Forschung handelt man vorzugsweise „an Gegenständen, die [man] nicht wahrnimmt“. Insofern müssen die Begriffe, die ein solches Handeln begleiten, „genügend Unbestimmtheit besitzen, um solche herankommenden Erfahrungen […] erfassen zu können“. Der Begriff „benötigt einen Spielraum für all das Konkrete, was seiner Klassifikation unterliegen soll“ (Blumenberg 2007: 10 ff.). Wenn Blumenberg zufolge die Falle als „dinglich gewordene Erwartung“ den „ersten Triumph des Begriffs“ in der Geschichte der Menschheit darstellt (14), könnten wir sagen, dass Experimentalsysteme so etwas wie einen späten Triumph der wissenschaftlichen Vernunft darstellen. Es gibt zwei mögliche Lösungen für diese unerlässliche Spannung, und beide kommen im Forschungsprozess immer wieder vor. Die erste besteht darin, wie bereits beschrieben, dass ein epistemisches Objekt in ein technisches Objekt transformiert wird, das heißt in einen Zustand und Status, in dem die Beziehung zwischen Begriff und Gegenstand nicht länger problematisch ist. Das bedeutet, dass der Gegenstand in den Grenzen der jeweils akzeptierten Standards in Bezug auf den Begriff, der auf ihn verweist, transparent geworden ist, oder, um mit Ian Hacking zu sprechen, die Objekte sind real geworden, weil wir sie sprayen können: „So far as I’m concerned, if you can spray them then they are real“ (Hacking 1983: 23). Die zweite Lösung besteht darin, dass die angenommene Lösung selbst zu einem Problem wird, das heißt, die angenommene Referenz wechselt ihre Position: Sie wird zum Ausgangspunkt einer neuen Suche um ein epistemisches Objekt. Der zweite Punkt dreht sich ebenfalls um die Beziehung zwischen Begriffen und epistemischen Objekten. David Bloor hat den Begriff der ‚Verkörperung‘ –
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embodiment – kritisiert, den ich verwendet habe, um über die Bedeutung von epistemischen Dingen zu sprechen (Bloor 2005, vgl. auch Rheinberger 2005). Bloor meint, um es etwas salopp auszudrücken, dass Geist und Materie hier klarer voneinander getrennt werden sollten – der Geist auf der Seite der cartesischen Welt des Denkens, die Materie auf der Seite der ausgedehnten Dinge. Er zieht deshalb auch die Rede einer ‚Anwendung‘ von Begriffen auf Dinge der Vorstellung einer ‚Verkörperung‘ von Begriffen durch Dinge vor und steht damit gewiss nicht allein. Das ist auch keine periphere Frage. Ganz im Gegenteil: Sie scheint zentral zu sein für die Unterschiede im Verständnis wissenschaftlicher Tätigkeit, die mit diesen Charakterisierungen einhergehen. Nach diesen Ausführungen sind epistemische Dinge als Dinge anzusehen, in die Bedeutung investiert wurde, sie sind nicht einfach Dinge, denen man einen Namen gegeben, die man ‚benannt‘ hat. Wenn wir sagen, der Begriff des ‚Gens‘ werde auf ein Viruspartikel angewandt, bleiben wir im Reich der Benennung. Wenn wir sagen, er verkörpere sich in einem Virus, dann positionieren wir uns in der Welt des Experimentierens, in der Dinge wie Viren behandelt und bearbeitet werden gemäß dessen, was sie angenommener Weise verkörpern – gemäß dessen also, was sie angenommener Weise bedeuten. In der Welt des Experimentierens kann das Hantieren mit epistemischen Objekten die Form einer Modellierungsaktivität annehmen. Als Modelle nehmen epistemische Dinge teil an dem Spiel des Medienwechsels. In der Regel weist das Modell eine andere Form der Materialität auf als das Ding, wofür es zu stehen angenommen wird. Und als Modelle, um es mit Georges Canguilhem zu sagen, leben sie von der Spannung, dass sie etwas zu wünschen übrig lassen (Canguilhem 1968). Aber Modelle sind nicht die einzige Form, die epistemische Dinge annehmen können. Präparate sind eine weitere (vgl. Rheinberger 2006a: Kap. 12). Für diese ist der Vorgang der Verstärkung, eines enhancement, zentral, es gibt aber keinen klaren Wechsel von einem Materialitätsregime zu einem anderen. Eine Typologie epistemischer Dinge entlang solcher Unterscheidungen ist bisher noch nicht erstellt worden. Die obigen zwei Beispiele sind nur ein zaghafter Beginn. Ich möchte an dieser Stelle noch ein Wort zu Günter Abels Konzeption „epistemischer Objekte“ einflechten. Mir scheint, wir treffen uns an zwei entscheidenden Punkten. Der eine liegt in dem zentralen Bemühen zu betonen, dass bezüglich epistemischer Objekte „in der Sache gilt, dass Objektaspekt und Epistemikaspekt intern so miteinander verschränkt sind, dass sie zwei Seiten ein und derselben Medaille bilden“ (Abel 2010: 129). Der andere ist der, um es mit Abel wiederum zu sagen, „kreativ Wirklichkeits-erschließende und -eröffnende Charakter epistemischer Objekte“ (Abel 2010: 152). Es liegt aber an unserer jeweiligen déformation professionnelle, dass wir bezüglich der genannten zwei Aspekte die Akzente unterschiedlich setzen. Der Philosoph nähert sich den epistemischen
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Objekten aus einer zeichen- und interpretationstheoretischen Perspektive, allerdings mit einem sehr weit gefassten Zeichenbegriff, der auch nichtsprachliche Zeichen einschließt. Der Wissenschaftler und Wissenschaftshistoriker ist bemüht, die Materialität und die daraus resultierende Dynamik epistemischer Objekte zu verstehen, wobei Materialität durchaus ebenfalls in einem weiten Sinn zu fassen ist. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass beide an der Hybridität von epistemischen Objekten, ihrer untrennbar zugleich semiotischen und objektalen Verfasstheit festhalten. Das ganze Gewicht des Arguments liegt bei der hier eingenommenen Perspektive in der Annahme, dass die primäre Aktivität des Symbolisierens im Bereich der wissenschaftlichen Tätigkeit selbst ein materieller Prozess ist und kein linguistischer, jedenfalls nicht an seinem Ausgangspunkt. Die epistemische Semiose ist eine, die sich zwischen den materiellen Spuren bewegt, die im Experiment erzeugt werden und die auf die eine oder andere Weise mit unsichtbaren Entitäten in Beziehung gesetzt werden, und nicht eine zwischen Namen und Dingen. Ein Virus im Reagenzglas als ein Gen zu behandeln, das heißt, als das Modell eines Gens im Organismus, kann zum Beispiel die experimentelle Form des Versuchs annehmen, die Bausteine seiner Nukleinsäure zu mutieren, indem man sie Röntgenstrahlen aussetzt. Das hängt natürlich davon ab, was man zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt unter einem Gen versteht, um auf meine vorherigen Bemerkungen über das wechselvolle Schicksal der Gene als epistemische Dinge im Verlauf des 20. Jahrhunderts zurückzukommen. Ein Virus beispielsweise als ein chemisches Molekül zu behandeln, kann die Form des Versuchs annehmen, es zu kristallisieren. Alle diese materiellen Investitionen können im Gegenzug dazu führen – und tun es in der Regel auch – zu verändern, was unter einem Virus verstanden wird. So ist der sich wandelnde Begriff in die materielle Exploration der epistemischen Dinge selbst verwickelt, er stellt einen wesentlichen Teil des experimentellen Engagements dar. Das Beispiel zeigt aber auch, dass es keine a priori festgelegte Beziehung zwischen Begriff und Referenz gibt. Eine Nukleinsäure zum Beispiel kann als eine organische Säure manipuliert und untersucht werden; sie kann aber auch als die Instantiierung eines Polyanions untersucht und entsprechend manipuliert werden; oder sie kann als ein Erbmolekül manipuliert und untersucht werden, das heißt als der materielle Träger genetischer Information. Entsprechend können ganz unterschiedliche Aspekte der materiell manipulierten Entität in den Vordergrund rücken: ihre elektrostatischen Eigenschaften; ihre Fähigkeit, Wasserstoffbrücken zu bilden; oder die Sequenz ihrer Bausteine; und entsprechend kann die Untersuchung in ganz unterschiedliche Richtungen führen. Hierin ist einer der tieferen Gründe meines Plädoyers für einen wissenschaftlichen Pluralismus und die wohltätigen Wirkungen einer Fragmentierung der Welt zu finden, die mit jeder Einrichtung
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eines Experimentalsystems einhergehen. Die inhärente potentielle Polysemie epistemischer Dinge, die sich damit verbindet, ist, so die Behauptung, kein abträglicher Wirrwarr eines Turms zu Babel. Sie ist vielmehr so etwas wie ein Motor der Erkenntnisgewinnung. In der Folge kann jeder gewählte Forschungspfad an einer bestimmten Stelle Konsequenzen für einen anderen an einer anderen Stelle haben. Insgesamt läuft das Argument darauf hinaus, dass die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, um Ludwik Flecks berühmten Buchtitel hier zu bemühen (Fleck 1935), weder eine Frage der bloßen Konvention noch der bloßen Konstruktion ist. Das bedeutet aber auch, dass sie am Ende eben nicht reduzierbar ist auf eine Beziehung zwischen Subjekten; sie resultiert aber auch nicht aus einer Beziehung zwischen Subjekten und Objekten; vielmehr ergibt sie sich aus jenem „Handeln auf Distanz“, von dem Blumenberg spricht. Auf eine Weise, die nur schwer ganz durchsichtig zu beschreiben und zu erklären ist, geht es dabei um eine Beziehung zwischen Dingen untereinander: zwischen Instrumenten und Materiefragmenten; zwischen den sich aus dieser Interaktion ergebenden Spuren, die man als noch materielle Anfänge von Begriffen ansehen kann, und den sich entziehenden Dingen, für deren Spuren man sie hält. Dieses Argument provoziert üblicher Weise den Vorwurf eines gewissen Strukturalismus, eines Versuchs, die Akteure loszuwerden. Worum es jedoch geht, ist ein Versuch, die Adäquanz-Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, Begriff und Ding zu ersetzen durch eine Art Beziehung gegenseitigen Trimmens, die ihre Stärke aus dem experimentellen Erkenntnisspiel selbst bezieht, ohne je in Selbstreferentialität zu verfallen. Stattdessen ist davon auszugehen, dass Epistemizität einer der Modi ist, durch die wir Menschen in eine bestimmte Beziehung zu der uns umgebenden materiellen Welt treten. Diese Beziehung ist von einer Art, bei welcher der Akt der Nennung, vielleicht auch der Konstruktion, delegiert wird an Teile der materiellen Welt selbst. Eine epistemische Beziehung ist also, wie dargelegt, eine Beziehung zwischen zwei Arten von Dingen, nämlich technischen Objekten und epistemischen Dingen. Die technischen Objekte sind sozusagen die sedimentierten Produkte früherer epistemischer Aktivität. Sie können selbst, zumindest für eine Weile, um es mit Edmund Husserl auszudrücken, zu so etwas wie „historischen Aprioris“ werden und als solche wirken (Husserl 1976). So ist denn am Ende die epistemische Haltung zur Welt in all ihrer Materialität auch zutiefst sozial. Sie ist sozial in dem Sinne, dass sie eine Haltung zur Welt darstellt, die zur Deponierung und zur Sedimentation von Wissen in einer Form führt, derer sich viele bedienen können. Zur gleichen Zeit aber ist sie eine ganz besondere soziale Beziehung, die sie von anderen Weisen der Beziehung auf die Welt um uns in ihrer Ausgestaltung
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unterscheidet und die letztlich auf die von Blumenberg beschriebene Distanznahme zurück bezogen werden kann.
Literatur Abel, Günter 2010: Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte, in: Tolksdorf, Stefan / Tetens, Holm (Hg.): In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt, Berlin / New York, S. 127 – 156. Bachelard, Gaston 1931/32: Noumène et microphysique, in: ders.: Études, Paris 1970, S. 12 – 22. Bernard, Claude 1954: Philosophie, hg. v. J. Chevalier, Paris. Bloor, David 2005: Toward a sociology of epistemic things, in: Perspectives on Science 13, S. 285 – 312. Blumenberg, Hans 2007: Theorie der Unbegrifflichkeit, Frankfurt a. M. Canguilhem, Georges 1968: Modèles et analogies dans la découverte en biologie, in: ders.: Etudes d’histoire et de philosophie des sciences, Paris, S. 305 – 318. Fleck, Ludwik 1935: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1980. Hacking, Ian 1983: Representing and Intervening, Cambridge. Hoagland, Mahlon B. 1990: Toward the Habit of Truth. A Life in Science, New York / London. Husserl, Edmund 1976: Der Ursprung der Geometrie, in: ders.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werle, Bd. VI, hg. v. W. Biemel, 2. Aufl. Den Haag, S. 365 – 386. Jacob, François 1988: Die innere Statue, Zürich. Rabinow, Paul 1996: Making PCR. A Story of Biotechnology, Chicago. Rheinberger, Hans-Jörg 2005: A reply to David Bloor: „Toward a sociology of epistemic things“, in: Perspectives on Science 13, S. 406 – 410. Rheinberger, Hans-Jörg 2006a: Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a. M. Rheinberger, Hans-Jörg 2006b: Experimentalsysteme und Epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Frankfurt a. M. Rheinberger, Hans-Jörg 2009a: Epistemic objects / Technical objects. in: Feest, Uljana / Rheinberger, Hans-Jörg / Abel, Günter (Hg.): Epistemic Objects, (Preprint des Max Planck Instituts für Wissenschaftsgeschichte 374), Berlin, S. 93 – 98. Rheinberger, Hans-Jörg 2009b: Sichtbar Machen – Visualisierung in den Naturwissenschaften, in: Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, Frankfurt a. M., S. 127 – 145. Rheinberger, Hans-Jörg 2011: Infra-Experimentality. From traces to data, from data to patterning facts, in: History of Science 49, S. 337 – 348. Rheinberger, Hans-Jörg 2017: Experimental cultures, in: Chemla, Karine / Fox Keller, Evelyn (Hg.): Cultures without Culturalism, Durham / London, S. 278 – 295. Wind, Edgar 1934: Das Experiment und die Metaphysik. Zur Auflösung der kosmologischen Antinomien, Frankfurt a. M. 2001.
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Epistemologie epistemischer Objekte Replik zum Beitrag von Hans-Jörg Rheinberger Der Beitrag von Hans-Jörg Rheinberger besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil betont die grundlegende Rolle der ‚Experimentalsysteme‘ in den empirischen Wissenschaften. Der zweite Teil konzentriert sich auf die besondere Natur ‚epistemischer Dinge‘ in eben diesen wissenschaftlichen Forschungen. Es ist ein Verdienst von Rheinberger, die basale Rolle der Experimentalsysteme und damit zugleich die tatsächliche Praxis des Forschens vor allem in den biologischen Erfahrungswissenschaften in den Fokus der Wissenschaftsgeschichte und der Wissenschaften selbst gerückt zu haben. Erinnert sei vor allem an sein Buch Experimentalsysteme und epistemische Dinge: Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas (2001). Die wichtigsten Ergebnisse dieses Buches hat Rheinberger im ersten Teil des vorliegenden Beitrags pointiert zusammengefasst. Der von Rheinberger gelieferten Beschreibung der vier Merkmale von Experimentalsystemen stimme ich nachdrücklich zu. Experimentalsysteme sind: (a) die „kleinsten integralen Arbeitseinheiten“ der empirischen Forschung; (b) durch „differentielle Reproduktion“ gekennzeichnet (die diesen Systemen zugleich eine spezifische Art der „Historizität“ verleiht); (c) diejenigen Einheiten, in denen die „materiellen Bedeutungsträger des Wissens“ der empirischen Wissenschaften „hergestellt“ werden; und (d) können Experimentalsysteme zu „Ensembles“ solcher Systeme und zu ganzen „Experimentalkulturen“ führen (Rheinberger-Beitrag, Kap. 1). Auf diesen ersten Teil des Beitrags von Rheinberger möchte ich im Folgenden nicht näher eingehen. Hervorheben möchte ich an dieser Stelle allerdings, dass es aus der Sicht der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuIPhilosophie] möglich und geboten ist, die für die empirischen Erfahrungswissenschaften so grundlegenden Experimentalsysteme als Zeichen- und Interpretationssysteme, des näheren eben als wissenschaftliche ZuI-Systeme zu beschreiben, zu analysieren und zu modellieren. Als einen Schritt in diese Richtung darf ich auf Kapitel 6 des Buches Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI) zur Interpretationistischen Wissenschaftsphilosophie verweisen. Im Zentrum meiner Replik soll jedoch das stehen, was Rheinberger zum Thema ‚epistemische Dinge‘ ausführt. Deren spezifische Rolle in Forschungsprozessen ist auch in der ZuI-Philosophie von grundlegender Bedeutung. Offenkundig bestehen gemeinsame Interessen und Schnittstellen zwischen Rheinbergers diesbezüglichen und meinen eigenen Auffassungen. Aus meiner Sicht https://doi.org/10.1515/9783110522280-033
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handelt es sich des näheren um Schnittstellen zwischen einer Wissenschaftsgeschichte der Experimentalsysteme, den Grundpositionen der ZuI-Philosophie und einer neuen Epistemologie im Sinne der systematischen Wissensforschung. Gern also nehme ich den Dialog mit Rheinberger nicht nur auf. Ich möchte ihn vor allem in dem Sinne weiterführen, dass ich die ZuI-philosophische Konzeption der epistemischen Objekte, die ich als ZuI-Konstrukte entwickelt habe, in ihrem Verhältnis zu Rheinbergers ‚epistemischen Dingen‘ zu klären versuche. Ich tue dies im Rekurs auch auf die Positionen zur Thematik, die ich detailliert vor allem in der Abhandlung Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte entwickelt habe (Abel 2010). (Im Folgenden greife ich auch auf dort entfaltete Materialien zurück.) Meine Replik auf Rheinberger erfolgt unter den folgenden drei Themenstellungen: 1. Epistemische Objekte – was sind sie und was macht sie so wertvoll? 2. Epistemische Objekte als ZuI-Konstrukte. 3. Die ZuIWurzeln der Entdeckung von Neuem kraft epistemischer Objekte.
1 Epistemische Objekte – was sind sie und was macht sie so wertvoll? Bevor ich in Einzelheiten der Thematik eintrete, möchte ich die drei Aspekte von grundsätzlicher Relevanz hervorheben. Erstens betont Rheinberger sehr zu Recht vor allem die Gemeinsamkeiten zwischen seiner eigenen wissenschafts-epistemologischen und meiner ZuI-philosophischen Auffassung in Sachen ‚epistemische Objekte‘.¹ Er betont die Gemeinsamkeiten vor allem in zwei Hinsichten. Zum einen hebt er hervor, dass ich die innere Zusammengehörigkeit von Objektaspekt und Epistemikaspekt als zwei Seiten ein und derselben Medaille entfaltet habe. Zum anderen betont er, dass ich die kreative Rolle der epistemischen Objekte in den Prozessen der Entdeckung von Neuem genauer beschrieben habe. Zweitens möchte ich ausdrücklich auf die Erweiterung der Perspektive insgesamt hinweisen, die darin besteht, dass ich nicht nur die Rolle der epistemischen Dinge innerhalb der Wissenschaften und der Wissenschaftsgeschichte Rheinberger wählt den Ausdruck ‚epistemische Dinge‘ und nicht, wie ich, den Ausdruck ‚epistemische Objekte‘. Er möchte mit der Rede von ‚Dingen‘ dem Aspekt der von ihm stark betonten vagen und opaken Natur der epistemischen Gegenstände Rechnung tragen. Ich teile diese Wortwahl nicht, und zwar aus Gründen, die im Folgenden deutlich hervortreten werden.Vielmehr möchte ich vor allem den ZuI-Konstruktcharakter auch bereits der epistemischen Objekte selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken, nicht erst die spätere Funktion epistemischer Objekte in einem Forschungsprozess. Letztlich aber ändert die unterschiedliche Wortwahl nichts an den Gemeinsamkeiten beider Epistemologien.
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adressiere. Die ZuI-philosophische Beschreibung und Analyse der Rolle und des Status epistemischer Objekte ist weit umfänglicher. Sie erstreckt sich über die Wissenschaften im engeren Sinne hinaus auch auf epistemische Gegenstände in den Künsten, in der Philosophie und in unserer alltäglichen Lebenswelt, mithin insgesamt auf ihre Rolle in Praxis, Theorie und Erfahrungswirklichkeit. So können wir nicht nur von wissenschaftlichen epistemischen Objekten (wie zum Beispiel von Elementarteilchen, Molekülen, Genen, Hirnmechanismen oder astrophysikalischen Galaxien) ausgehen. Wir müssen darüber hinaus auch diejenigen epistemischen Objekte in die Betrachtung einbeziehen, die ich als ‚QuerWelt-ein-Objekte‘ bezeichnet habe. Diese ziehen sich nicht nur durch bloß eine der wissenschaftlichen Disziplinen. Sie betreffen vielmehr sowohl verschiedene Wissenschaften als auch die Philosophie, die Künste und die alltäglichen Lebenswelten. Epistemische Quer-Welt-ein-Objekte dieser Art sind beispielsweise: Farben, Bewegung, Gestalt, Fähigkeit oder Identität. Farben zum Beispiel sind gleichermaßen legitime Gegenstände der Physik, der Psychologie, der Wahrnehmungsforschung, der Sprachforschung, des Alltagswissens, der Künste, der Ästhetik und der Philosophie. Auch in Sachen epistemische Objekte scheint es einen Vorteil des ZuI-philosophischen Ansatzes zu geben. Aus einem Monismus der ZuI-Verhältnisse heraus vermag dieser Ansatz den jeweils unterschiedlichen Typen von epistemischen Objekten angemessen Rechnung zu tragen. Selbstverständlich schließt dies ein, dass den naturwissenschaftlichen epistemischen Objekten im Rahmen des spezifischen Typus von wissenschaftlichem Forschen und Wissen ihre genuin wichtige Rolle zugesprochen werden kann, ohne damit andere Typen des Forschens und Wissens (wie zum Beispiel das künstlerische) in eine weniger wichtige Rolle bringen zu müssen. Indem im ZuI-Ansatz (und des näheren im 3-StufenModell der ZuI-Verhältnisse) den unterschiedlichen Typen epistemischer Objekte und epistemischer Perspektivität in ihren jeweils spezifischen Leistungen Rechnung getragen wird, erweist der ZuI-Ansatz seine hohe sortierende, organisierende und orientierende Kraft auch in Sachen epistemische Objekte. Diese Kraft erstreckt sich auch auf den nicht unwichtigen Punkt, mögliche Spannungsverhältnisse zwischen epistemischen Objekten entzerren zu können, indem die unterschiedlichen Aspekte auf unterschiedliche ZuI-Ebenen und in verschiedenen ZuI-Hinsichten erörtert werden. So können wir zum Beispiel das epistemische Objekt ‚Farben‘ entspannt zugleich etwa in physikalischer, in psychologischer, in kulturspezifischer und in erlebnis-phänomenaler Hinsicht betrachten. Im ZuIEbenen- und ZuI-Hinsichten-Modell kann es nicht mehr darum gehen, dass ein einziger Aspekt die anderen, gleichermaßen legitimen Aspekte und Hinsichten ausstechen müsste. Unter ZuI-verändertem Vorzeichen würde sich zum Beispiel auch die berühmte Goethe-Newton-Debatte in Sachen Farbenlehre anders lesen
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lassen. Konsequenterweise ist diese Debatte nicht mehr nur in bloß einer einzigen Ebene (zugleich rein physikalischer und rein phänomenaler Erfahrung) zu führen. In der ZuI-Philosophie bietet das 3-Stufen-Modell (Deutungen, Konventionen, ursprüngliche Form- und Gestaltgebung) ebenso wie das 3-Hinsichten-Modell (Logik, Ästhetik, Ethik) eine veränderte Architektur des Themenfeldes selbst an. Drittens und anders als Rheinberger sehe ich die Unterschiede unser beider Zugangsweisen nicht einfach nur darin, dass sich die Philosophie eines Zugangs über die Themenfelder Sprache, Zeichen und Interpretation bedient, während der Wissenschaftler und Wissenschaftshistoriker „bemüht (ist), die Materialität und die daraus resultierende Dynamik epistemischer Objekte zu verstehen“ (Kap. 2). Meines Erachtens handelt es sich hier nicht einfach nur um zwei unterschiedliche Zugangsweisen. Vielmehr gehe ich davon aus, dass jede Wissenschaft und darüber hinaus auch jede andere Weise des Wissens (auch zum Beispiel das Wissen nicht-szientifischer, praktischer, alltäglicher, künstlerischer, technischer Art) an eine Artikulation in Zeichen gebunden ist. In diese ZuI-Gebundenheit eines jeden Wissens möchte ich also über den wissenschaftlichen Typus von Wissen hinaus ausdrücklich auch die anderen Weisen von Wissen einbeziehen. Beispielsweise denke ich hier auch an das auf tiefsitzenden Vertrautheiten und Einstellungen basierende handlungsorientierte ebenso wie an das sinnlich-phänomenale, das gestische, das verhaltensmäßige Wissen oder auch an das Wissen der Praktiker, das sich auf aufschlussreiche Weise der Artikulation in der sprachlich-propositionalen Erkenntnisform entzieht. Sprachgebundenheit ist nicht in allen diesen Fällen und Hinsichten gegeben. Doch sind alle Weisen des Wissens nicht überspringbar in Zeichen verstrickt. In diesem Sinne möchte ich für die ZuI-Philosophie durchaus reklamieren, dass ihr ein gewisser Grundlagencharakter für alle Wissenschaften und alle anderen Typen von Wissen zugesprochen werden kann. In einem umfänglichen Sinne adressiert die ZuI-Philosophie die zeichen- und interpretationsbestimmten Grundlagen der Verständigung, des Weltbezugs und des Handelns in Lebenswelt, Wissenschaft, Kunst und Ethik. Und insofern sich alle Wissenschaften, Künste, Handlungen und alltäglichen Lebenswelten in (sprachlichen und/oder nichtsprachlichen) Zeichen und Interpretationen vollziehen und darstellen, mithin immer schon auf ZuI-Prozesse bezogen sind, lässt sich der Ansatz der ZuI-Philosophie nicht nur in den Wissenschaften, sondern in allen anderen Bereichen unserer Lebens- und Erfahrungswirklichkeiten zur Beschreibung und Analyse von deren Grundlagen einsetzen. Mit diesen drei Aspekten im Rücken (Gemeinsamkeiten, Erweiterung der Betrachtung, Grundlagencharakter der ZuI-Prozesse) möchte ich im Folgenden detaillierter in das Themenfeld ‚epistemische Objekte‘ einsteigen. Was sind ‚epistemische Objekte‘ und was macht sie so wertvoll? Sie sind offenkundig das,
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so lautet die Antwort in erster Näherung, worauf sich in den Wissenschaften, in der Philosophie, in den Künsten und in unseren Lebenswelten unsere epistemische, das heißt unsere wissens-basierte und wissens-orientierte Neugierde richtet. In den Wissenschaften ist dies der Fall auf dem ganzen Spektrum der bereits angeführten Objekte von z. B. Elementarteilchen bis hin zu Galaxien. In der Philosophie reicht die Bandbreite von z. B. Sinnesempfindungen, über Vorstellungen, Wahrnehmungen, Bedeutungen und Referenzen bis hin zu Verstandes- und Vernunftkonstrukten (wie etwa Kausalität, Freiheit oder Gerechtigkeit). In Sachen epistemische Objekte denken wir zunächst an die Objektseite des Ausdrucks, also bei ‚Viren‘ an tatsächliche Viren, bei ‚Elementarteilchen‘ an tatsächliche Elementarteilchen oder bei ‚Wahrnehmungen‘ an reale Wahrnehmungen. Aber offenkundig beschränkt sich die Rede von epistemischen Objekten nicht auf diese Seite. Wichtig ist zunächst in heuristischer Einstellung, zwischen dem Objektaspekt und dem Epistemikaspekt zu unterscheiden. Beide Aspekte sind intern so miteinander verschränkt, dass sie, wie auch Rheinberger zustimmend betont, zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Aber vornehmlich im Epistemikaspekt werden wir direkt auf die zentrale Funktion der Zeichen, Sprachen und Interpretationen aufmerksam. Jedes epistemische Objekt und jede Konzeption der Wirklichkeit ist auch von den Regeln der verwendeten und perspektivierend wirkenden ZuI-Funktionen, von der dominanten ZuI-Perspektivität abhängig. Das, was jeweils als ein Gegenstand unserer Aufmerksamkeit und Neugierde zählt, ist, trivialerweise, stets bereits Gegenstand in der Aufmerksamkeit, in der Neugierde, in Wissen und in der Erfahrung. In diesem Sinne kann jede individuierte, geformte und gestaltete Welt als eine ZuIWelt angesehen werden. Und in den mit ihr gegebenen Horizonten der Erfahrungswirklichkeiten spielen epistemische Objekte die betont wichtige Rolle. Hervorheben möchte ich auch, dass epistemische Objekte (wie z. B. Viren, Elementarteilchen, Gene, Hirnmechanismen) keine idealistischen Konstrukte im Sinne bloß sprachlich-gedanklicher Bedeutungen und Referenzen sind. Unter einem Idealisten in puncto ‚epistemische Objekte‘ verstehe ich jemanden, der auf die Frage „Wovon handelt und worauf bezieht sich die Rede von epistemischen Objekten, z. B. von ‚Elementarteilchen‘ oder ‚Galaxie‘?“ antwortet: „Auf die Idee bzw. Proposition ‚Elementarteilchen‘ oder ‚Galaxie‘ als Bedeutung und Referenz des Wortes bzw. des Einwortsatzes“. Doch offenkundig ist diese Antwort nicht nur nicht zufriedenstellend. Sie geht vielmehr an dem entscheidenden Punkt vorbei. Die Rede vom epistemischen Objekt ‚Elementarteilchen‘ beispielsweise handelt von und bezieht sich auf materielle Elementarteilchen, nicht auf die Proposition ‚Elementarteilchen‘ als Bedeutung des Satzes oder Ausdrucks. Und dass es Elementarteilchen gibt, ist eine Erfüllungsbedingung der erfolgreichen Rede vom epistemischen Objekt ‚Elementarteilchen‘, egal wie unscharf und vage auch im-
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mer die exakte Bestimmung von ‚Elementarteilchen‘ ausfallen mag. Auf letzteren Aspekt einer gewissen Vagheit und Opakheit des Ausdrucks ‚Gen‘ weist Hans-Jörg Rheinberger öfters und in einem weit stärkeren Sinne hin, als ich das, wie noch zu sehen sein wird, für geboten halte. Gegen die skizzierte Idealismus-Unterstellung spricht auch, dass wir, und darin stimme ich mit Rheinberger überein, hinsichtlich szientifischer Objekte heute nicht mehr allein nur darauf zu achten haben, dass diese allgemein in Theorien konstituiert werden. In vielen Bereichen geht es vor allem auch darum, wie speziell durch den Einsatz von Methodendesign, Fachsprachen, Mathematisierung und gegenwärtig zunehmend durch den Einsatz von Computern und technischen Artefakten auf die Objekt/Ereignis-Umgrenzung, die Objekt/EreignisIndividuation und die provozierte Objekt/Ereignis-Phänomenalität Einfluss genommen wird. Das CERN liefert dafür besonders eindrucksvolle Belege. Der Sache nach gilt dieser Zusammenhang in den Wissenschaften nahezu flächendeckend. Hinzu kommt der Gesichtspunkt, dass in den modernen Wissenschaften vornehmlich diejenigen epistemischen Objekte von besonderer Relevanz sind, die nicht in unsere direkte sinnliche Wahrnehmung fallen, sondern nur über komplizierte Zeichen- und Interpretationsvorgänge detektiert werden können. Man denke exemplarisch an die Bereiche Mikrophysik, Nanotechnik oder Molekulargenetik. So denotiert, beschreibt und artikuliert zum Beispiel ein mathematischer Formalismus die Zustände eines physikalischen Systems kraft Zeichen, im Beispiel kraft mathematischer Größen, etwa durch Vektoren. Darüber hinaus noch trennscharf zwischen den Zeichenfunktionen einerseits und zeichen- und interpretations-unabhängigen Zuständen, Ereignissen und Prozessen andererseits unterscheiden zu wollen, führt in bekannte Schwierigkeiten. Das alles läuft auf eine adualistische ZuI-Philosophie epistemischer Objekte hinaus, die sich erklärtermaßen jenseits bzw. diesseits der inzwischen steril gewordenen Dichotomie von konstruktionalistischem Idealismus und metaphysischem Realismus bewegt.
2 Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte Bislang sind epistemische Objekte, die gänzlich ohne Zeichen und Interpretation auskämen, nicht bekannt. Ins Positive formuliert heißt dies: wir haben epistemische Objekte nur kraft der sie jeweils verkörpernden Zeichen und Interpretationen. Dieser Zusammenhang zwischen epistemischen Objekten und ZuI-Prozessen ist interner, nicht externer Art. Er ist bereits in den Prozessen des
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phänomenalen Diskriminierens und Individuierens auf der Ebene vor-sprachlicher und vor-propositionaler Muster-, Form- und Gestaltbildungen wirksam. Und er setzt sich dann fort in den Prozessen und Resultaten des Wahrnehmens, Erlebens, Sprechens, Denkens, Gestaltens und Handelns. Sowohl die Profilierung epistemischer Objekte als auch die Artikulation und Kommunikation der Resultate der unter ihrem Einsatz zustande gebrachten wissenschaftlichen Forschung sind konditional an ZuI-Prozesse gebunden. Keineswegs also begleiten die Zeichen-, Sprach- und Interpretations-Prozesse die Wissensgenerierung und die Wissenskommunikation in einem lediglich äußeren, sekundären, instrumentellen und quasi epiphänomenalen Sinne. Vielmehr sind ZuI-Prozesse stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen in den Prozessen des szientifischen Diskriminierens, Individuierens, Spezifizierens, Organisierens, Kommunizierens und Kooperierens, wie sie für die Prozesse des Forschens charakteristisch sind. In diesem Sinne haben ZuI-Systeme und innerhalb dieser wiederum die epistemischen Objekte einen wesentlichen Einfluss auf die Art und Weise und auf die epistemischen Perspektivierungen, in denen geforscht wird, Wissen zustande kommt, artikuliert, organisiert, erworben, kommuniziert, gelehrt und verwendet wird. Beispielsweise sei erneut an die Rolle der mathematischen Notation in den Naturwissenschaften oder an die Relation zwischen Sprache und Bild in den Wissenschaften (wie z. B. im Falle des Magnetic Resonance Imaging (MRI)) erinnert. Offenkundig verdienen die Wechselspiele unterschiedlicher ZuI-Systeme bei weitem größere Aufmerksamkeit, als dies in den letzten Jahrzehnten der Fall war (siehe dazu Abel 2012 und 2015). Zu nennen wäre etwa der wichtige und von Rheinberger betonte Einfluss auf die tatsächliche Forschungspraxis, der gegeben ist durch die zeichen- und interpretations-basierten Werkzeuge wie etwa chemische Formeln, Klassifikationstafeln, MR-imaging, Computergraphiken, Computersimulationen, Computer als symbolische Maschinen und all die anderen technischen und wirklichkeits-erschließenden Artefakte. Diese Werkzeuge sind aus den gegenwärtigen Prozessen des wissenschaftlichen Forschens nicht mehr wegzudenken. Wissen haben, Erfahrungen machen, Wissenschaft treiben, Gestalten und Sachverhalte schaffen – alle diese Aktivitäten sind offenkundig ohne den Einsatz von ZuI-Verfahren gar nicht möglich. Die Weisen der zeichen- und interpretationsbasierten sowie der ZuI-erfindenden Symbolisierungen und Kulturtechniken in den Wissenschaften (z. B. in Theorien, Modellen, Hypothesen, Bildern, Graphen, Diagrammen, Datenbanken, Sammlungen, Simulationen) differieren auf signifikante Weise im Laufe der Zeit sowie zwischen den Kulturen. Ihre Prozessualität, Temporalität und Historizität ist offenkundig. Durch diese Prozesse des Wandels in der ZuI-Verwendung, mithin durch die ZuI-Praxen hindurch bleibt jedoch ein überaus wichtiger Punkt festzuhalten: Gänzlich ZuI-freies menschliches Wissen
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oder ZuI-freies wissenschaftliches Forschen kann es ebenso wenig geben wie gänzlich ZuI-freie bzw. von jeglicher epistemischen Perspektivität freie epistemische Objekte. Oder zugespitzt und im älteren Schema pointiert: selbst die Götter könnten nicht ZuI-frei denken und handeln. Vor diesem Hintergrund möchte ich die epistemischen Objekte schlicht und einfach als ZuI-Konstrukte spezifischer Relevanz adressieren. Wie aber genau bildet sich ein epistemisches Objekt und wie der darin zugleich intern korrelierte Begriff des Objekts heraus (sofern in jede Objekt- und Epistemikkonstruktion auch begriffliche Aspekte involviert sind)? Rheinberger überschreibt den zweiten Teil seines Beitrags mit Epistemische Dinge und Begriffe (Kap. 2).Weit weniger stark als Rheinberger bin ich ein Anhänger einer Theorie der ‚Unbegrifflichkeit‘ (Hans Blumenberg), bei der Rheinberger einige Anleihen auch für seine Rede von ‚epistemischen Dingen‘ macht. Mich interessiert vielmehr das interne Verhältnis von Gegenstandskonstitution und Begriffskonstitution. Wie genau hängen beide zusammen? Mit dieser Frage verbinde ich keineswegs die Vorstellung, das Begriffliche sei das letztlich entscheidende Element in den Formgebungen und Gestaltbildungen unserer Erfahrungswirklichkeiten, unserer ZuI-Welten. Meine Repliken auf Horst Bredekamp und Helga de la Motte und überhaupt mein dort und an anderen Stellen vorgetragenes Plädoyer für einen im Blick auf unsere Erfahrungswirklichkeiten zu verzeichnenden Vorrang der sinnlich-sensorischen Organisationskräfte vor rein intellektualistischen Verstandeskonstrukten darf ich hier als Zeugen für meine Position in Erinnerung rufen. Gleichwohl jedoch möchte ich betonen, dass epistemische Objekte gänzlich ohne begriffliche Aspekte weder wirklichkeits-erschließende noch empirisch gehaltvolle Gebilde sind. Epistemische Objekte können, so die These, als Verkörperungen beider Komponenten angesehen werden und nur in dieser nicht gegeneinander isolierbaren doppelten Aspekthaftigkeit sind sie in der Lage, ihre forschungs-relevanten und wirklichkeits-erschließenden Potentiale zu entfalten. Die hier relevante zeichen- und interpretations-konstruktionale Seite tritt schlagartig in den Blick, sobald wir Begriffe nicht mehr als mentale Entitäten ansehen (deren wir auf dem Wege einer introspektiven Schau ansichtig werden könnten) noch als dasjenige verstehen, was durch eine Auflistung von Prädikatoren (wie z. B. ‚hartschalig‘ etc. für den Begriff ‚Haselnuss‘) gebildet wird. Begriffe können vielmehr, mit Hilary Putnam (1981: 18 ff.) gesprochen, als Zeichen angesehen werden, die auf eine bestimmte Weise verwendet werden, nämlich: situationsgerecht und regelgemäß – und im Blick auf epistemische Objekte füge ich hinzu: in wirklichkeits-erschließender Weise – eingesetzt werden. Über einen Begriff verfügen wir dieser Auffassung zufolge dann, wenn wir die volle Bedeutung des entsprechenden Wortes kennen, und dies ist der Fall, wenn wir das
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Zeichen situationsgerecht und regelgemäß zu verwenden und zu verstehen wissen. In diesem Sinne ist sowohl die Rede von epistemischen Objekten als auch die damit korrelierte Rede vom Begriff des Gegenstandes zeichen- und interpretations-abhängig, denn aus Sicht der ZuI-Philosophie heißt ‚die Bedeutung eines Zeichens angeben‘, die angemessene Interpretations-Praxis bzw. die angemessene Interpretation des Zeichens angeben zu können. Diese Sichtweise erstreckt sich konsequenterweise auch auf die begrifflichen Aspekte der Rede und Funktion von epistemischen Objekten, unter deren Einsatz wir den Bereich sinnlichempirischer Erfahrungswirklichkeit adressieren, ihn jedoch nicht gänzlich unbegrifflich entfalten können. Offenkundig werden epistemische Objekte nicht vorfabriziert fertig in der Welt vorgefunden, und sie warten nicht einfach nur darauf, von uns instrumentell eingesetzt zu werden. Vielmehr haben sie in dem dargelegten Sinne stets bereits eine ZuI-Genealogie und eine ZuI-Konstruktionsgeschichte hinter sich. Zugleich haben sie ihre Entwicklung und Zukunft, gleichsam ihr ‚Schicksal‘, noch vor sich. Epistemische Objekte sind nicht ready made da. Im skizzierten Sinne entstehen sie vielmehr als verkörperte ZuI-Konstrukte aus einem Geflecht von sinnlich-empirischen, theoretisch-begrifflichen, praktischen und anschaulichästhetischen Interessen, im Zuge von phänomenalen und begrifflichen Auffälligkeiten sowie aus sensorischen, perzeptuellen, verstandes- und handlungsmäßigen ZuI-Netzen heraus und auf diese hin. Daher auch können epistemische Objekte alt werden. Sie können ihre bis dato unsere Aufmerksamkeits-, Wissensund Erkenntnisanstrengungen motivierende und orientierende Kraft verlieren. Epistemische Objekte können, wie betont, sterben. Die Wissenschaftsgeschichte ist auch eine Art Museum solcher Sterbefälle. Manche der epistemischen Objekte besitzen eine lange Lebensdauer. Andere dagegen sind eher kurzlebiger Art und nicht selten auch bloß Eintagsfliegen modischer Natur. Stets sind sie epistemische Objekte-auf-Zeit bzw. bis auf weiteres. Dass in der ZuI-Philosophie die epistemischen Objekte grundlegender sind als die Theorie darüber, ‚was es gibt‘, mithin grundlegender als die Ontologie, lässt sich vor allem unter zwei Aspekten verdeutlichen. Zum einen liegt jedem epistemischen Objekt eine ZuI-Genealogie im skizzierten Sinne stets bereits im Rücken. Epistemische Objekte können daher als ZuI-Konstrukte angesehen werden. Zum anderen rekurrieren epistemische Rechtfertigungen im Sinne des drehtürartigen Passens von geistigem Epistemikaspekt und materiellem Objektaspekt nicht auf überzeitliche und/oder ideale Entitäten, Standards und Normen. In beiden Hinsichten setzt die traditionelle Ontologie implizit stets bereits auch ZuI-Prozesse voraus. Entsprechend liegt die Theorie epistemischer Objekte innerhalb der allgemeinen ZuI-Philosophie, nicht außerhalb dieser. Jene können auf dem Boden dieser modelliert werden, nicht umgekehrt. Das ist ein in epistemi-
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scher, epistemologischer und auch in ontologischer Hinsicht wichtiges Resultat. Denn auf diese Weise wird deutlich, dass sowohl die Rede von einer vollblütigen Ontologie als auch die Rede von epistemischen Objekten sowie die mit letzterer intern verbundene Rede von epistemischer Perspektivierung und Perspektivität innerhalb der ZuI-Philosophie liegen, Ontologie und Theorie epistemischer Objekte gleichsam Zweige der ZuI-Philosophie sind, nicht umgekehrt.
3 Die zeichen-interpretationalen Wurzeln der Entdeckung von Neuem kraft epistemischer Objekte Die Rolle epistemischer Objekte in den Prozessen der Entdeckung von Neuem, mithin der Kreativität lässt sich zeichen- und interpretationsphilosophisch reformulieren. Im Folgenden möchte ich vier zeichen-interpretationale Wurzeln des forschenden Entdeckens von Neuem kraft epistemischer Objekte beschreiben. Entdeckung von Neuem: (a) kraft Standpunkt-Überschreitung, (b) kraft BegriffsÜberschreitung, (c) kraft Determiniertheits-Überschreitung und (d) kraft nichteliminierbarer Unterbestimmtheit. Vornehmlich im Zuge dieser ZuI-bestimmten Mechanismen tragen epistemische Objekte der genannten Art zu den Forschungsprozessen und des näheren zum Entdecken von Neuem bei.² (a) Standpunkt-Überschreitung: – Epistemische Objekte sind standpunkt-abhängige ZuI-Gebilde. Im Zuge ihres erfolgreichen (weil wirklichkeits-erschließenden praktischen und theoretischen) Einsatzes und im Rekurs auf ihr explanatorisches sowie prognostisches Potential verfügen sie über die höchst bemerkenswerte und wertvolle Eigenschaft, zugleich auch standpunkt-modifizierend und standpunkt-überschreitend zu wirken. Neben Überschreitungen kommt es in der Regel auch zu unerwarteten neuen Allianzen und Kooperationen, die dann ihrerseits das Auftreten neuer Phänomene, Zustände und Prozesse herbeiführen können, uns über unseren bisherigen Standpunkt bzw. unser bisheriges Ensemble von Standpunkten im buchstäblichen Sinne hinaus bewegen können. Forschung motivierende und darin lebendige epistemische Objekte sind keine statischen, sondern dynamische Objekte. Sie sind Epistemische-Objekte-inBewegung-und-auf-Zeit. Sie bewegen uns über einen zu einer Zeit gegebenen Standpunkt hinaus, geben uns in diesem Sinne (wissenschaftlich, philosophisch,
Zur Frage der Kreativität in diesen Zusammenhängen vgl. (Abel 2005 und 2009) und meine Replik auf Chung-ying Cheng im vorliegenden Band
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künstlerisch, lebensweltlich, phänomenologisch und technisch) zu denken und führen, im gelingenden Falle, zur Entdeckung von Neuem, zu neuem Wissen. (b) Begriffs-Überschreitung: – Epistemische Objekte sind, was ihre Leistungen der epistemischen Perspektivierung angeht, in dem oben skizzierten Sinne auch begriffs-abhängige Objekte. An der Umgrenzung, Individuierung und Aspektivierung seitens epistemischer Objekte sind stets auch begriffliche Komponenten beteiligt. Offenkundig sind in epistemischen Objekten wie zum Beispiel in ‚Elementarteilchen‘, ‚Gehirn‘ oder ‚Viren‘ bereits auch begriffliche Elemente involviert. Im Zuge des praktischen wie theoretischen Einsatzes und vor allem auch in Interaktionen mit anderen begrifflichen und nicht-begrifflichen Komponenten kann es zu unerwartet neuen Phänomenen, Prozessen, Zuständen und Erfahrungswirklichkeiten kommen (siehe dazu Abel 2015 und 2016). In der Forschungspraxis geschieht genau dies tatsächlich sehr oft, in den Wissenschaften ebenso wie in den Künsten, der Philosophie und im lebensweltlichen Alltag. Man denke etwa an folgendes Beispiel aus den Wissenschaften. In der Forschungspraxis in puncto Elementarteilchen-Physik beginnt der Physiker zunächst etwa mit einem physikalischen Begriff von Teilchen und Eigenschaften. Sodann wird dieses physikalische Setting in eine Verbindung mit einem mathematischen Formalismus gebracht. Und diese Interaktion zwischen dem physikalischen Begriff und dem mathematischen Formalismus kann zu aufschlussreichen neuen Entdeckungen, am Ende gar zur Entdeckung neuer Elementarteilchen führen. In solcher Interaktion lädt auch umgekehrt der Mathematiker den Physiker gleichsam ein, in Experimenten nachzuschauen, ob er das mathematisch-geforderte neue Elementarteilchen auch tatsächlich in der empirischen Erfahrung findet. Jüngst war die Suche nach dem Higgs-Teilchen mit Hilfe des Großbeschleunigers am CERN ein eindrucksvolles Beispiel für solche Zusammenhänge. All diese Vorgänge lebendiger Forschungspraxis wären ohne den skizzierten Einsatz epistemischer Objekte gar nicht möglich. In diesem Sinne steckt in jedem epistemischen Objekt das Potential zu Unerwartetem, zu Neuem, das begrifflich ebenso wie empirisch so zunächst nicht in Sicht war. In der tatsächlichen Praxis dessen, was wir wissenschaftliches, künstlerisches, philosophisches und lebensweltliches Forschen nennen, gehen wir über die jeweils bis dato leitenden Begriffe hinaus.³ Darin kann man einen Teil des kreativ wirklichkeits-erschließenden und erfahrungs-eröffnenden Charakters epistemischer Objekte sehen. Dieser begriffs-modifizierende und begriffs-überschreitende Charakter kann sich natürlich auch erschöpfen. So können episte-
In Bezug auf die Natur von Forschungsprozessen siehe zu diesem Punkt auch meine Replik auf Robert Schwartz im vorliegenden Band
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mische Objekte zum einen in den festen Bestand einer Wissenschaft, einer Kunst, einer Alltagspraxis übergehen. Oder sie können zum anderen aus der Gruppe der bislang attraktiven epistemischen Objekte aussortiert werden, ihre epistemische Attraktivität verlieren. Ein schlagendes Beispiel für letzteres Phänomen ist das prominent gewordene Phlogiston, das im 17. und 18. Jahrhundert als eine entscheidende Substanz bei chemischen Verbrennungen angenommen wurde und später ganz aus dem Arsenal sinnvoller epistemischer Objekte gestrichen wurde. Analoges gilt beispielsweise auch für die Hysterie, die als psychiatrisch-neurotische Störung ebenfalls eine prominente Karriere hinlegte, heute jedoch in der internationalen Klassifikation psychiatrischer Erkrankungen nicht mehr geführt wird. In diesem Sinne ist es jederzeit möglich, dass alte epistemische Objekte sterben und dass neue zu den Objekten unserer wissenschaftlichen und intellektuellen Begierde aufsteigen. Hier wäre etwa auch an neue epistemische Objekte zu denken, die mit der gegenwärtigen Tieferlegung der gesamten medizinischen Betrachtung auf die Ebene der Nano-Prozesse entstehen werden und bereits auch entstanden sind. Man denke in diesen Zusammenhängen aber auch an die Vorgänge, in denen eine bislang dominante Perspektivierung seitens eines epistemischen Objekts, sagen wir, Rheinbergers Beispiel, des ‚Gens‘, verschoben wird, im genannten Fall von der Perspektive der Vererbungslehre auf die Perspektive der molekularbiologischen Betrachtung. (c) Determiniertheits-Überschreitung: – Epistemische Objekte sind als ZuIKonstrukte und hinsichtlich ihrer semantischen Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen) durch die ‚Unerforschlichkeit (inscrutability)‘ ihrer Referenz (Quine) und in diesem Sinne durch ihre Indeterminiertheit gekennzeichnet.⁴ Die semantischen Merkmale der Ausdrücke epistemischer Objekte, z. B. von ‚Atom‘, ‚Gen‘ oder ‚Bruttosozialprodukt‘, sind zwar nicht einfach nur unscharf und nicht einfach ungeregelt, nicht ohne Regeln der Anwendung. Aber sie sind eben auch nicht durch exakte Grenzen definitiv bestimmt, gar analytisch definiert. Die Ränder und Grenzen der semantischen Merkmale epistemischer Ausdrücke sind nicht ein für alle Mal fixiert. Sie sind auch nicht, wie die Definitionen in Mathematik und Logik, über Prädikatoren eingeführt und für alle möglichen Situationen, Kontexte und Zeiten festgelegt. Und der für uns im Augenblick wichtigste Punkt, den Rheinberger mit Recht betont, ist: Diese Indeterminiertheit ist keineswegs ein Hindernis der Forschung, das es zu überwinden
Zu den Indeterminiertheiten, die in der ZuI-Philosophie eine grundlegende Rolle spielen, siehe auch meine Replik auf Chung-ying Cheng im vorliegenden Band; und zum Folgenden siehe auch (Abel 1994).
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gälte, sondern vielmehr gerade eine Kondition für das wissenschaftliche, künstlerische und philosophische Forschen ebenso wie für das lebensweltlich-alltägliche Forschen der Praktiker. Diese Indeterminiertheit möchte ich die semantischepistemische Indeterminiertheit epistemischer Ausdrücke nennen. Sie ist konditional für das, was wir das auf reale Objekte und Ereignisse in der Welt bezogene Forschen und Reflektieren in Wissenschaften, Philosophie und anderen Künsten nennen. Im Unterschied dazu ist Forschung in Mathematik und Logik erklärtermaßen nicht an die Determiniertheits-Überschreitung gebunden. Forschung bewegt sich dort – darin von natürlichen Sprachen, Zeichen- und InterpretationsPraktiken unterschieden – auf dem Boden von klar umgrenzenden Definitionen und vorab geregelten Konstruktionen. Wenn epistemische Indeterminiertheit in Bezug auf die Grenzen der semantischen Merkmale gegeben ist, dann ist Indeterminiertheit aufgrund der dargelegten internen Zusammengehörigkeit von Epistemikaspekt und Objektaspekt intern auch hinsichtlich der Relationen zwischen epistemischen Objekten und den diesen korrelierten materiellen Objekten selbst gegeben. Dies ist der Fall, da eine der Voraussetzungen des Auf- und Erfassens von materiellen Objekten und Erfahrungswirklichkeiten darin besteht, dass wir uns immer schon auf eine Weise des Adressierens, mithin auf ZuI-Funktionen verstanden haben müssen und dass wir es erst dadurch und in dem betont adualistischen und nicht-idealistischen Sinne mit den zugehörigen Gegenständen zu tun haben – nicht umgekehrt. Das Umgekehrte behaupten zu wollen hieße, die Nachweise führen zu müssen, (i) dass wir gänzlich nicht-epistemisch und zeichen- und interpretations-frei von Gegenständen sprechen könnten, (ii) dass die Natur sich selbst in Gegenstände, Gattungen und Arten einteilte und (iii) dass die Natur ihr eigener Epistemiker sei – was ein offenkundig selbstdestruktiver naturalistischer Fehlschluss wäre. Die epistemische Indeterminiertheit ist nicht eine empirische Unbestimmtheit. Das habe ich von Quine gelernt. Sie kann nicht durch das Streben nach empirischer Vollständigkeit eliminiert werden. Sie ist eine logische Indeterminiertheit, betrifft also alle möglichen epistemischen Objekte in allen möglichen semantischen Zusammenhängen. Die Situation ist hier analog zu der der Geschichtlichkeit und der Zeitlichkeit epistemischer Objekte. Oftmals neigen wir zu der nicht explizierbaren Auffassung, im Laufe der Zeit (sic!) bzw. ‚in the long run‘ (Peirce) würden sowohl die Indeterminiertheit als auch die Zeitbedingtheit und die Historizität epistemischer Objekte zu einem Ende kommen. Diese Hoffnung jedoch ist ein quasi eschatologischer Traum – nicht mehr. Auch hier trifft sich die Auffassung einer zeitgemäßen Epistemologie, wie sie in der ZuI-Philosophie vertreten und dann in dem ZuI-bestimmten Programm der Wissensforschung / Knowledge Research entwickelt wurde (siehe dazu Abel 2012, 2015a und 2015b), mit Auffassungen Rheinbergers.
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(d) Systematische Unterbestimmtheit: – Epistemische Objekte, aufgefasst als ZuI-Konstrukte, sind systematisch durch ‚Unterbestimmtheit (underdetermination)‘ (Quine) gekennzeichnet. Mit dieser Formulierung ist die systematische Differenz bzw. ein systematisches Gefälle adressiert zwischen (mit dem Bild Quines gesprochen) ‚the meager (empirical) input of data‘ für eine Theorie und ‚the torrential output‘ in der Konstruktion von Theorien, deren Reichweite der beanspruchten Gültigkeit weit über die jeweilige Datenbasis hinausschießt (und sich z. B. im Falle der Astrophysik auf die Geschichte des ganzen Universums erstreckt). Ich möchte diese Unterbestimmtheit die epistemische Unterbestimmtheit epistemischer Perspektivierungen, Objekte, Hypothesen, Modelle und Theorien nennen. Offenkundig ist diese Unterbestimmtheit zunächst empirischer Natur. Aber sie ist, ebenso wenig wie die unter Punkt (c) erörterte Indeterminiertheit, nicht durch eine erhoffte empirische Vollständigkeit eliminierbar. Auch die Unterbestimmtheit bleibt hinsichtlich aller möglichen empirischen Fakten gegeben, die ein zeichen-interpretational funktionierender epistemischer Ausdruck verifikationistisch instantiieren kann. Auch dies ein Punkt, den ich von Quine gelernt habe. Die vier erörterten Charakteristika epistemischer Objekte (Standpunkt-Überschreitung, Begriffs-Überschreitung, epistemische Indeterminiertheit und epistemische Unterbestimmtheit) eröffnen einen Möglichkeits-Raum dreifacher Hinsicht. Sie tragen dazu bei: dass es (i) zu wissenschaftlichem, philosophischem, künstlerischem und alltäglichem Forschen kommt; dass es (ii) zur Entdeckung von radikal Neuem kommen kann; und dass (iii) unser Forschen und Reflektieren aus systematischen Gründen nicht zu einem in der Sache definitiven und für alle (möglichen) Personen allgemein verbindlichen Abschluss, nicht zu einem ultimativen Ende kommen kann.
Literatur Abel, Günter 1994: Indeterminacy and Interpretation, in: Inquiry 37, (Vorträge des Quine-Symposiums, Oslo 1993, hg. v. D. Føllesdal), S. 403 – 419. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter (Hg.) 2005: Kreativität. Sektions-Vorträge des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie, TU-Berlin, September 2005, Berlin, 2 Bde., 1850 S. Abel, Günter 2009: The Riddle of Creativity: Philosophy’s View, in: Meusburger, Peter / Funke, Joachim / Wunder, Edgar (Hg.): Milieus of creativity, (Proceedings of the 2nd International Symposium on Knowledge and Space, Heidelberg 2006), Dordrecht, S. 53 – 72. Abel, Günter 2010: Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte, in: Tolksdorf, Stefan / Tetens, Holm (Hg.): In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt, Berlin / New York, S. 127 – 156.
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Abel, Günter 2012: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, , Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52. Abel, Günter 2015a: Formen des Wissens im Wechselspiel, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 40/2 – 3, S. 143 – 160. Abel, Günter 2015b: Wissensforschung – Erweiterungen und Revisionen der Epistemologie, in: Koppelberg, Dirk / Tolksdorf, Stefan (Hg.): Erkenntnistheorie – Wie und Wozu?, Münster, S. 385 – 434. Abel, Günter 2016: Distributed Types of Knowledge, Epistemic Perspectives, and Creativity, in: Abel, Günter / Plümacher, Martina (Hg.): The Power of Distributed Perspectives, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 10), Berlin / Boston, S. 35 – 60. Putnam, Hilary 1981: Reason, Truth and History, Cambridge. Rheinberger, Hans-Jörg 2001: Experimentalsysteme und epistemische Dinge: Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen.
Hans Poser
Ontologie technischer Artefakte Abstract: Ontology is still an important area of metaphysics, but an ontology of technological artifacts is missing up to now. Technological artifacts are essentially connected with at least five processes: The process of its creation, development and realization, the process of use, and the process of depletion. In their processes, these objects follow completely different laws or law-like regularities, namely causality; biological rules of growing and replication; formal syntactical rules and social rules. So we need a very rich ontology. Therefor that one of Nicolai Hartmann will be helpful, because it depends on categories and uses not only a bottom up structure from matter up to spirit, but also an essential top town transformation, namely finality, comparable with Popper’s ‘downward causation’.
1 Einleitung Einer der wenigen Bereiche klassischer Metaphysik, der bis heute seine Bedeutung nicht verloren hat, ist die Ontologie. Sie fragt danach, was existiert und wie das Existierende kategorial zu einander in Relation steht. Eine spezielle Ontologie bezieht das auf einen jeweiligen Objektbereich. Doch bislang gilt, was Beth Preston (2008) in seiner Rezension eines der wenigen einschlägigen Werke zur Ontologie technischer Artefakte anmerkt: „artifacts have been virtually nonexistent as a subject matter in western philosophy“. Nun wird der Ontologie selbst durchaus Beachtung geschenkt; so stehen Weiterführungen traditioneller Sichtweisen neben spannungsvollen Diskussionen um die Frage, welche ontischen Kategorien zugrunde liegen, ob einer Dingontologie oder einer Prozessontologie der Vorrang gebührt, bis hin zum Verhältnis von Sprache und Ontologie – womit zugleich das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Ontologie ins Zentrum rückt. An dieser Schnittstelle ist die frühe Abhandlung Einzelding- und EreignisOntologie Günter Abels angesiedelt. Darin werden sehr klar zwei Thesen vertreten. Die erste bringt die Bedeutung einer Prozess-Ontologie zum Ausdruck: Der „Vollbegriff des Werdens als Werden, das sich nicht nur von feststehender Positivität, sondern auch von abstraktem Wesen und bloßer Veränderung unterscheidet, ist nicht mit Begriffsbildungen und Argumenten des Ding-Typus aus der Welt des ‚Seins‘, vielmehr allein mit solchen des Ereignis-Typus einzuholen und darzustellen.“ (Abel 1984: 44) Die zweite These besagt, dass es für uns „Wirklichkeit als Wirklichkeit immer nur innerhalb, nie außerhalb der Vollzüge des https://doi.org/10.1515/9783110522280-034
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welt-erschließenden Schemas gibt. Dessen interne Funktionen […] bestimmen die Auslegung dessen, was als seiend gilt.“ (44) Das aber bedeutet, hierin ein Interpretationsschema sehen zu müssen, sodass alles, was uns als Realität gilt, als Wirklichkeitsauslegung mit einer Interpretation verbunden ist. Damit ist keine neuerliche Idealismusthese gemeint, sondern ganz im Gegenteil ein Brückenschlag, der die begriffliche Seite letztlich mit der Praxis im tatsächlichen Sprechen und Verstehen versöhnt. Ebenso ist Abels Betonung des Werdens nicht als Ereignisontologie im Gegensatz zu einer Dingontologie zu verstehen, sondern als Forderung einer Ereignis-Sprache (neben der Ding-Sprache) mit einer zugehörigen Interpretationspraxis (SZI 40 f). Deshalb gilt: „Was für eine Ontologie man hat, ist eine Angelegenheit des Sprach-, Denk- und allgemein des Zeichen- und Interpretationssystems, das verwendet wird, sowie der damit verbundenen ontologischen Festlegungen.“ (ZdW 242) Beide Thesen Abels werden für das Folgende in zweierlei Hinsicht von Bedeutung sein. Zum einen geht es bei einer Ontologie technischer Artefakte immer auch um die mit ihnen verbundenen Prozesse, sodass Elemente einer Prozessontologie zu integrieren sind, ohne sie deshalb als einzig zulässige Form anzusehen. Zum anderen verbürgt Abels Sicht der Ontologie die Möglichkeit, an die Stelle rigider Realismus-Positionen, idealistischer Absolutsetzungen oder auch einer Auflösung in Beliebigkeit eine an Denkformen, Handlungs- und Sprachpraxis orientierte Ontologie zu entfalten, die es gestattet, dort metaphysische Voraussetzungen zuzulassen, wo dieses unverzichtbar ist. Dabei wird im Folgenden unter einer metaphysischen Aussage eine Aussage verstanden, die weder auf Empirie noch auf formale Strukturen gegründet ist; sie hat deshalb den hypothetischen Anspruch eines Ordnungs- und Orientierungsangebots. Technische Artefakte und Prozesse stellen, wie sich zeigen wird, einen eigenständigen Typ von Objekten dar. Ihre Behandlung in einer speziellen Ontologie verlangt deren Besonderheiten herauszuarbeiten. Technik kann dabei auf Elemente einer Prozessontologie nicht verzichten, weil jedes technische Artefakt auf einem Entstehungsprozess und auf einem Anwendungsprozess beruht, der schließlich in einem Alterungsprozess bis zur Unbrauchbarkeit führt. Deshalb muss eine Artefakt-Ontologie überaus vielschichtig sein, denn jedes Artefakt ist einerseits ein materieller Gegenstand, der kausalen Prozessen gehorcht, andererseits eine materialisierte Idee, was materialisiertes Wissen, materialisiertes Können und materialisierte Werte einschließt: Erst hierauf lassen sich Intentionen des Erfinders, Herstellers und Nutzers gründen, erst hiermit lässt sich dem technischen Artefakt als Mittel zum Erreichen eines Ziels eine (gegebenenfalls nur intendierte) Funktion interpretierend zuschreiben. Nun haben Prozessontologien eine lange Tradition, die von Aristoteles über Leibniz und Whitehead bis zu Rescher führt; doch von Abel wird eine veränderte
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Sicht vorgeschlagen, weil nicht mehr der Anspruch erhoben werden kann, in der Ontologie einen absoluten Grund aufzuweisen, sondern eine uns jeweils als belangvoll erscheinende Deutung als Wirklichkeit auszumitteln. Im Blick auf die Naturwissenschaften hat sich dies vielfach als fruchtbar erwiesen, nicht zuletzt, weil der Anspruch auf eine endgültige und unüberholbare Lösung fallen gelassen ist. Wie aber steht es um eine Ontologie technischer Artefakte? Dort zeigen sich ganz neue Fragestellungen, weil die alte Schichtenlehre von Aristoteles bis zu Nicolai Hartmann erweitert und dabei deren prozessuale Seite ergänzt werden muss: Ein technisches Artefakt wird erfunden, geplant, hergestellt, gebraucht und zeigt dabei eine Alterung – alles Prozesse höchst unterschiedlicher Art, die das gedankliche Ringen um eine Problemlösung, dessen Verwirklichung im Handeln, den Einsatz als Mittel für ein intendiertes Ziel und den nichtintendierten, aber unvermeidlichen Verschleiß betreffen. So sind durchgängig Prozesse des Herstellens, also des Handelns, involviert – und von Handlungen hat Hans Lenk (1979) gezeigt, dass ihnen ein Interpretationsschema zugrunde liegt. All dieses belegt, dass Technik, die schon in ihrer Entwicklung intentional voran getrieben wird, um intentional eingesetzt zu werden, in einer nicht einfach zu erfassenden Weise mit Zielen und Zwecken verbunden ist, dergestalt, dass die intendierten Objekte und Prozesse von uns als quasi-teleologisch ablaufend gesehen werden. Der Müll allerdings ist nicht intendiert, sondern wie die Technikdynamik ein Folgephänomen. Der Artefaktbegriff ist also zu differenzieren: Er muss reale Objekte geradeso einbeziehen wie Prozesse, er hat zu unterscheiden zwischen quasi-teleologischen Elementen, deren Hervorbringung oder deren Einsatz durch Intentionalität zu kennzeichnen ist, um kausale Prozesse in Dienst zu nehmen, und solche Elemente, die zwar menschliche technogene Hervorbringungen sind, aber dennoch allenfalls in Kauf genommen werden. Als ein weiteres zentrales Element tritt die gesellschaftliche Seite hinzu, denn Technik ist ohne Gesellschaftsbezug unvorstellbar. Noch schwieriger wird die Lage bei Kunstwerken, die heute technisch hervorgebracht sind (vgl. Thomasson 2004 u. 2010); denn was unterscheidet Jean Tinguelys skurrile mobile Skulpturen, aus Maschinenschrott zusammengeschweißt, von wirklichen Maschinen, oder eine documenta-Installation aus Dutzenden flimmernder Bildschirme von der eigenen Flimmerkiste daheim? An dieser Stelle ist eine Abgrenzung von künstlerischen gegenüber technischen Artefakten und weiter von intendierten gegenüber nichtintendierten Artefakten erforderlich. Man könnte es sich einfach machen und als technische Artefakte einfach diejenigen sehen, die von Ingenieuren hervorgebracht werden; aber dann würde beispielsweise Watts Dampfmaschine nicht dazu zählen. So wird es nötig sein, die Abgrenzung über Ziele und Funktionen vorzunehmen. Setzt man Intentionalität voraus, so scheiden nichtintendierte menschliche Hervor-
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bringungen aus; dieser engere Artefaktbegriff sei hier im Folgenden zugrunde gelegt. Dies ist insofern berechtigt, als etwa der Müll nur noch als Material gesehen wird, nicht mehr aber als zweckbestimmtes Artefakt. Weiter richtet sich die Intention bei technischen Artefakten auf eine äußere Veränderung, bei künstlerischen hingegen auf eine existentielle Einsicht des Betrachters. Oder um es mit Günter Abel zu sagen: „Kunstwerke und technische Produkte unterscheiden sich darin, dass erstere nicht unter funktionalen und zweckrationalen, sondern unter symbolischen und ästhetischen Gesichtspunkten hervorgebracht, nicht im Lichte funktionaler Objektivität gesehen werden.“ (Abel 2008: 82) Diese Abgrenzungen sind keineswegs scharf, sie erlauben aber eine erste Fokussierung. Die philosophische Herausforderung besteht also darin, einen angemessenen Artefaktbegriff zu entwickeln. Die dargestellte Problemlage zeigt, dass ein Zugang von einer Ding-Ontologie nicht ausreicht; doch auch eine reine Prozessontologie wird der Lage nicht gerecht, weil dreierlei seinen Ort finden muss: – Technik wird von uns geschaffen; das bedeutet, dass eine voraufgegangene Idee von einer Möglichkeit am Ende verwirklicht wird. Weder Ideen noch Möglichkeiten sind reale Dinge oder Prozesse – die stehen erst am Ende. Dennoch müssen sie als Artefakt in einer Artefakt-Ontologie ihren Platz finden. – Was vorausgesetzt werden muss, ist die Verwirklichbarkeit der Möglichkeit – wiederum ein Modalbegriff, der sich wie alle Modalbegriffe einer Rückführbarkeit auf eine modalitätenfreie Kennzeichnung entzieht. – Geschaffen wird etwas, um in einem Prozess als Mittel zu einem Zweck zu fungieren; Technik ist also gar nicht denkbar ohne eine Intention. – Jede so im Hinblick auf einen Zweck verwirklichte Möglichkeit ist essentiell auf dieses Telos, dieses Ziel bezogen. Eine Technik – Prozess wie Artefakt – zu verstehen kann nur bedeuten, den Zweck zu verstehen, den sie erfüllen soll. Diese Zwecke schlagen sich in Funktionen nieder. – Da Funktionen nur in einem Mittel-Zweck-Zusammenhang denkbar sind und da für das Artefakt die Funktionserfüllung essentielle Bedingung ist, liegt dem Artefakt eine Finalität zugrunde. – Genutzt wird Technik in einem soziokulturellen Zusammenhang, der insbesondere Werte und deren Verwirklichung umfasst; dieser Werthorizont liegt schon der Zielbestimmung in der Erfindungs- und Entwicklungsphase zugrunde. In diesem Sinne muss eine Ontologie der Technik Platz haben für Möglichkeit und Wirklichkeit, für Mittel und Zwecke, für Intentionen und Werte, für eine neue Teleologie und für Interpretation als Rahmenbedingung. Dabei müssen erstens
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nicht nur technische Prozesse ihren Ort finden, sondern natürlich auch Artefakte, also dingliche Objekte und ihre Eigenschaften. Zweitens unterscheiden sich technische Prozesse in einem entscheidenden Punkt ganz fundamental von Naturprozessen: Zwar laufen sie wie diese kausal ab, aber als Folge einer zukunftgerichteten Planung; sie haben also eine teleologische Struktur. Soll drittens überdies der von Abel betonte Interpretationscharakter eines solchen prozessualen Deutungsschemas ernst genommen werden, muss dieses zugleich so geschehen, dass daraus kein anything goes erwächst, sondern ganz im Gegenteil eine einsichtige Deutung der Wirklichkeit. Am einfachsten ist der Umgang mit dem ersten Punkt. Dingliche Objekte werden keineswegs aufgegeben, sondern als das Resultat eines Prozesses verstanden. Es wird also durchaus von Artefakten gesprochen werden. Der zweite Punkt stellt die Herausforderung dar, um die es gehen wird; insbesondere wird sich zeigen, dass metaphysische Voraussetzungen dabei unverzichtbar sein werden. Das zeigt sich bereits an jenen Untersuchungen, die Handlungen einbeziehen: Diese sind auf Zukunft gerichtet, beruhen also auf „antizipativen Momenten innerhalb der Zielstrukturen“ (Sohst 2009: 533), die planendes Vorstellen und Denken ermöglichen: Genau dieser Prozess geht in der Entwicklungsphase eines Artefakts vor sich. Das verlangt, diese Zukunft-Gerichtetheit als Teleologie zu sehen. Der dritte Punkt lässt zwar jeden naiven Realismus hinter sich, verlangt aber zugleich die Sicherung des Vorgehens methodisch geleiteter Interpretation.
2 Existenz – von Platon bis Quine Die Ontologie fragt nach dem Seienden als etwas Existierendem, um die Eigenschaften der Gegenstände und Prozesse eines Dingbereiches umreißen zu können. So beginnen die Schwierigkeiten bereits beim Begriff der Existenz. In puristischen Ansätzen wird Existenz und Wirklichkeit so eingeschränkt, dass nur raumzeitliche Wirklichkeit und mit ihr ein empirischer Zugang als allein zulässig erscheinen. Diese Sicht hat eine lange Tradition, die bei Occam beginnt und in der empiristischen, der positivistischen und pragmatistischen Tradition zu einer Einengung geführt hat, die gar einen empirical turn in der Technikphilosophie als Gewinn sieht (vgl. Kroes / Meijers 2000; Achterhuis 2001). Damit aber bleibt eine adäquate Ontologie technischer Artefakte unerreichbar, falls nicht ein weiter Begriff von Empirie zugrunde gelegt wird, der etwa Denken, Kreativität, Zielvorstellungen und Wertungen einbezieht. Die Problematik der Begründung einer Ontologie ist nicht erst seit Kant geläufig, aber er hat die begriffliche Schwierigkeit mit aller Klarheit auf den Punkt gebracht:
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„Sein ist offenbar kein reales Prädicat, d. i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst.“ (Kant 1781/87: B 626) „Wenn ich also ein Ding, durch welche und wie viel Prädicate ich will, (selbst in der durchgängigen Bestimmung) denke, so kommt dadurch, daß ich noch hinzusetze: dieses Ding ist, nicht das mindeste zu dem Dinge hinzu. Denn sonst würde nicht eben dasselbe, sondern mehr existiren, als ich im Begriffe gedacht hatte, und ich könnte nicht sagen, daß gerade der Gegenstand meines Begriffs existire.“ (B 268) „Hundert wirkliche Thaler enthalten [dem Begriffe nach] nicht das Mindeste mehr, als hundert mögliche.“ (B 627) Kant ist allerdings nicht willens, dem Begriff der Existenz außerhalb der raum-zeitlichen Wirklichkeit einen Sinn zu geben – was wiederum das Erfordernis verdeutlicht, den Bereich dessen als ontologisch gegeben zu umreißen, über den es zu verhandeln gilt. Tatsächlich hatte Kants Einschränkung zur Folge, dass die ontologische Fragestellung nur noch sekundär und in Abhängigkeit von den Erkenntnisbedingungen behandelt wurde. Das spiegelt sich sogar bei Quine, auch wenn dessen Thesen der empiristischen Tradition entsprungen sind. Sein Leitgedanke war, Ontologie als bereichsspezifische Ontologie wohlgegründeter Erfahrungswissenschaften bestimmen zu können; denn wenn deren Aussagen in der Sprache der Prädikatenlogik der 1. Stufe formuliert sind, lässt sich Existenz bündig erfassen in seinem sogenannten Kriterium des ontologischen Kommitments: To be is to be the value of a bound variable. Durch eine Begrenzung auf empirisch erfassbare Gegenstände hat sich hierauf aufbauend eine sich als realistisch verstehende Ontologie entwickelt. Das allerdings führt selbst bei der Beschränkung auf etablierte Erfahrungswissenschaften nicht weiter, weil deren Terminologien disziplinspezifisch sind, wie Barry Smith (2003: 157), der Begründer und Leiter des National Center for Ontological Research an der University at Buffalo hervorhebt. Das würde auch für die Technikwissenschaften gelten. Doch mehr noch: Zu unserer Leitfrage nach einer Ontologie technischer Artefakte ergäbe sich keinerlei Antwort.
3 Ansätze einer Artefakt-Ontologie Im Laufe der letzten Jahre sind unterschiedliche Ansätze verfolgt worden, eine Ontologie technischer Artefakte zu entwickeln. Barry Smith sieht die Aufgabe der Ontologie in einer vollständigen Klassifikation aller Entitäten als Beantwortung der Frage: „Welche Klasse von Entitäten ist für eine vollständige Beschreibung und Erklärung aller Vorgänge im Universum erforderlich?“ (Smith 2003: 155) Das
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allerdings reicht nicht, denn für die Beschreibung von Vorgängen muss gesagt werden, worin die struktur- und prozessbildenden verknüpfenden Eigenschaften des Objektbereiches bestehen. Letztlich geht es Smith nicht um Ontologie im alten, übergreifenden Sinn, sondern um eine terminologische Zusammenführung der Erfahrungswissenschaften. So zielen seine Untersuchungen zum Ontological Realism auf eine begriffliche Klassifikation, die insbesondere im biologischen und biomedizinischen Bereich ermöglichen soll, bislang unverbundene Theorien aufeinander zu beziehen (vgl. Smith / Ceusters 2010). Man könnte meinen, eine breite Ontology Technology sei doch in den letzten Jahren entwickelt worden. Doch betrachtet man die Ansätze, stellt sich heraus, dass es dort gar nicht um Ontologie, sondern um Begriffs- und Wissensstrukturen geht. So zielen beispielsweise Peter Mika und Hans Akkermans in Towards a New Synthesis of Ontology Technology and Knowledge Management auf einen klassifikatorischen Rahmen, der wirtschaftsorientierte Simulationen erlaubt (Mika / Akkermans 2004). Es geht hier wie in den Fällen von Formal Ontology, Computing Ontology oder auch Ontology Engineering um „computerable structures and processes“, genauer um die Computer-Modellierung von Informationssystemen (Borgo / Vieu 2009). Im Zentrum steht also die Beschreibung von Wissensbereichen mit einer standardisierten Terminologie als Problem der Informatik. Das birgt gewiss ein interessantes erkenntnistheoretisches Problem, weil die Lösung darauf abzielt, auch die Semantik als maschinengerechte Semantik in Regeln zu erfassen – aber der Begriff der Ontologie ist wohl irreführend, denn es geht nicht um Sein und Seiendes, um Existenz oder Wirklichkeit, sondern einzig um eine formale Existenz von Zeichen und Zeichenverknüpfungen. Genauer gesagt bleibt auch die Sinnzuschreibung durch Semantik letztlich auf Seiten des PC-Nutzers: Erst in der semantischen Interpretation gelingt die Bezugnahme auf begriffliches Wissen und dessen Management, nicht jedoch die Klärung der Beziehung zwischen den formalen Existenzvoraussetzungen und deren Objektbezug: Semantik, das zeigte Kants Taler-Beispiel, garantiert nie und nimmer Existenz. Nun ist nicht zu bezweifeln, dass sich angesichts heutiger Medientechnik und Informationstechnologien die ontologisch bedeutsame Frage auftut, welchen Status deren Inhalte haben. Dem sind Philip Faulkner und Jochen Runde nachgegangen (Faulkner / Runde 2011). In einer ‚Theorie nicht-materieller technischer Objekte’ suchen sie als Antwort eine Brücke zwischen Materiellem und Sozialem zu schlagen, indem sie solche immateriellen Objekte von ihren ‚Trägern’ unterscheiden. Anders als materielle Artefakte, die eine physische Form besitzen, sind immaterielle Objekte allein durch die Struktur ihrer Teile gekennzeichnet, die die Erfüllung der Funktion sichert. Damit ist eine bedeutende Erweiterung der Ontologie gegeben. Doch daneben zeigt sich eine Begrenzung, denn die immateriellen Objekte sind nicht etwa einfach auf die Gesellschaft zu beziehen, sondern
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auf den denkenden und interpretierenden Menschen: Ohne vorausgegangene Ideen kommt es nicht zur Verwirklichung solcher immateriellen Artefakte; dabei können sie nur einer formalen Syntax folgend Gestalt annehmen, während die Sinnzuschreibung, die Semantik der Zeichensysteme, die Interpretation der Zeichenreihen, die Zuschreibung von Zwecken und Werten – die letztlich die conditio sine qua non ihrer Existenz sind – gänzlich ausgeklammert bleiben. Mit dem oben erwähnten empirical turn ist in der analytisch orientierten Technikphilosophie insbesondere von Anthonie Meijers ein Ansatz eingebracht worden, der sich nicht nur auf die Forderung stützt, technikphilosophische Reflexionen „sollten gegründet sein auf eine empirisch adäquate Beschreibung der Technik“. In der Ontologie der Technik ist seine Leitthese, Technik sei eine „relationale Entität“, weil den Artefakten nicht nur ihre physische Struktur zukommt, sondern ihr breiter ingenieurmäßiger und sozialer Kontext: Wollen wir sagen, was ein Artefakt ist, müssen wir nicht nur seine materielle Struktur darlegen, sondern ebenso seine Praxis des Entwerfens und Gebrauchs (Meijers 2000). Um die Interdependenz beider Seiten zu erfassen, stehen für Meijers Funktionen als relationale Eigenschaften im Zentrum; herausragende Bedeutung kommt dabei der Intention des Ingenieurs wie des Nutzers zu, weil sie nicht nur auf die Funktionen des Artefakts gerichtet ist, sondern weil deren Intentionalität die Voraussetzung ist, überhaupt von einer technischen Funktion sprechen zu können: Deshalb sind technische Funktionen – und das ist der tragende Grundgedanke – nicht auf die materiale oder auf die gesellschaftliche Seite reduzierbar. So mündet der bedeutsame und einflussreiche Ansatz in der kritisierten These, technische Artefakte gehörten zu derselben ontologischen Kategorie wie gesellschaftliche Artefakte. Dennoch zeigen sich darin zwei Beschränkungen, die die vorgeschlagene Ontologie als zu arm erscheinen lassen: Erstens greifen Funktionen zu kurz, weil sie auf der einen Seite abgekoppelt sind von Werten und Zielen des Entwicklers, auf der anderen Seite vom einzelnen Artefakt-Typ, zu schweigen von einmaligen Artefakten, da Funktionsbegriffe universell sind: Die Funktion, uns die Uhrzeit anzuzeigen, hat eine Sonnenuhr geradeso wie eine Pendel- oder Quarzuhr. Zum zweiten ist die Kategorie ‚Gesellschaft‘ zu allgemein – eine Gesellschaft besteht aus Individuen, und die sind es, die das technische Artefakt erfinden, entwickeln, produzieren und nutzen. Nicht, dass Meijers diese Elemente nicht nennt, aber sie verlangen eine Verbreiterung der Ontologie. Breiter ist dagegen das Anliegen von Clive Lawson, der Ansätze der Social Ontology und das Transformation Model of Social Activity für eine Ontologie der Technik heranzieht, um die materielle Seite der Technik mit der sozialen zu verknüpfen (Lawson 2007). So lautet seine Zentralthese, dass technische Objekte eine „dual constitution“ haben, denn sie seien wie für Meijers nicht nur materiell, sondern zugleich irreduzibel gesellschaftlich (Lawson 2008). In seiner Zugehens-
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weise bleibt er jedoch dem Critical Realism verhaftet – ablesbar etwa an der These, technische Objekte könnten einzig anhand der verschiedenen Aktivitäten verstanden werden, die bei ihrem Design, ihrer Herstellung oder ihrem Gebrauch eine Rolle spielen. So gelangt er zu der für seine Charakterisierung von Technik zentralen Auffassung, dass technische Objekte darauf abzielen, die menschlichen Fähigkeiten zu erweitern. Dass es hierbei um Wissen und Können, um Zwecke, Ziele, Mittel und Werte geht, bleibt jedoch weitgehend ausgeklammert. Er schreibt, es seien nicht Werte, Intentionen etc., die in technischen Artefakten konkrete Gestalt annehmen, sondern die sozialen Beziehungen, die materialisiert werden. Daneben stehen die Schriften von Amie L. Thomasson, die in dieser Hinsicht einen Schritt weiter führen. Sie betont die Eigenständigkeit künstlerischer und technischer Artefakte gegenüber Naturdingen und tritt insbesondere dafür ein, dass Artefakte auf Intentionen beruhen, weil diese ein Wissen von der Natur voraussetzen, das zu einer viel engeren Beziehung zwischen dem Herstellenden – also dem Subjekt – und dem Artefakt führt als zu Naturgegenständen (Thomasson 2007: 53). Damit wird – ohne dies so auszusprechen – zugleich der Bereich des Individuums und des Geistes einbezogen. Allerdings bleibt dieser Ansatz bei aller Fruchtbarkeit immer noch an eine Ding-Ontologie und eine Konzeptualisierung der Objekte gebunden. So steht bei Thomasson stets die begriffliche Referenz auf das Artefakt und seine intentionalen Voraussetzungen im Zentrum. Ihr gelingt es dank der Betonung intentionaler Elemente des Artefakts, den engen Realitätsund Objektbegriff der meisten analytischen Technikphilosophie-Ansätze zu überwinden, doch fragt sie nicht nach originären ontologischen Kategorien. Nun hat Thomasson ihre Position später erweitert, wenn sie schreibt, offensichtlich seien Artefakte „mind-dependent“, um dann zu präzisieren, dieses sei keine kausale, sondern eine „existenzielle“ Abhängigkeit im Sinne einer metaphysischen Notwendigkeit, dass es intentionales menschliches Handeln gibt (Thomasson 2009: 194). Letztlich hält sie aber daran fest, dass technische Artefakte über die Kategorien Intention und Funktion allein erfasst werden können. Das jedoch stößt auf Schwierigkeiten: – Intentionen sind das Resultat einer Reflexion über ein Mittel, um ein wertbesetztes Ziel zu erreichen. Die vorgängigen Prozesse von der Kreativität über die Werthaltung und Mittelsuche bleiben also ausgeblendet, obwohl sie die eigentlich konstitutiven Momente sind, die zur Ausformung und Nutzung des Artefakts in einem Herstellungs- oder Handlungsprozess führen. Dass ein Artefakt einen Wert im Sinne einer Wertzuschreibung materialisiert, kann ebenso nicht zum Ausdruck kommen. – Funktionen fassen gänzlich unterschiedliche Mittel, ein Ziel zu erreichen, begrifflich zusammen – sie ignorieren damit die Materialseite (Holzbrücken,
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Steinbrücken, Stahlbrücken haben alle die Funktion, einen Übergang zu schaffen) und mit ihr die gänzlich unterschiedlichen Technologien, die dabei zur Anwendung kommen. Sie ignorieren ebenso das je spezifische Wissen und Können, ohne die das Artefakt nicht verwirklicht werden kann. Damit bleibt die kulturelle und geschichtliche Seite ausgeblendet. Darüber hinaus gibt es multifunktionale Artefakte und solche, deren Charakteristikum gerade darin besteht, für eine Vielzahl von Funktionsmöglichkeiten offen zu stehen (das ist die Grundeigenschaft eines PC, der viele Programme und Nutzungsmöglichkeiten zulässt). Schließlich beruhen entscheidende Schritte in der Technikentwicklung auf der gänzlich neuen Anwendung eines gegebenen Artefakttyps für neue Zwecke und damit für neue Funktionen (ein Kraftwagen war zunächst ein Herrensportgerät, erst später ein Transportgerät). Intentionen ebenso wie Funktionen sind keineswegs beobachtbar, wie die Vertreter eines Realismus zu glauben scheinen, sondern beruhen auf einer interpretierenden Deutung im Blick auf Ziele, die ebenfalls nicht beobachtbar sind, sondern unserm Verständnis von Handlungen entspringen. Vor allem aber sind beide auch in ihrer Interpretation prozessualer Natur: Die Intention zielt auf eine Handlung oder Veränderung, die Funktion bezeichnet das Mittel für eine kausale Transformation einer Sachlage A in eine Sachlage B. Kategorien einer Prozessontologie sind also unverzichtbar.
Damit erweisen sich die derzeit vorliegenden Ansätze einer Ontologie der Technik als Schritte auf dem Weg, jedoch als noch zu eng, dem gesuchten weiten Rahmen gerecht zu werden.
4 Ontologie der Wirklichkeit: Nicolai Hartmann Um einen weiteren Rahmen für eine Ontologie technischer Artefakte entwickeln zu können, empfiehlt es sich, auf eine ungleich reichere, zu Unrecht kaum mehr beachtete Ontologie des 20. Jahrhunderts zurückzugreifen, diejenige Nicolai Hartmanns, weil sich mit ihr ein sehr viel weiterer Problemhorizont erschließt. Hartmann (1931: 7 f.) geht es um „das dingliche und das menschliche Sein, die Wirklichkeit der materiellen und die der geistigen Welt“. Diesen erweiterten Wirklichkeitsbegriff gilt es aufzugreifen – heute mehr denn zu Nicolai Hartmanns Zeiten, weil wir angesichts der Technik auf etwas treffen, das sich auf beide Seiten bezieht, auf die dingliche wie die geistige Welt. Verschärfend stehen wir heute als Folge der Informationstechnologie vor gänzlich neuen Phänomenen, die der Bewältigung bedürfen.
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Nun sind Existenzvoraussetzungen zwingend, damit es überhaupt eine Erkenntnis zu geben vermag. Dabei geht es, wie Hartmann in seiner späten Zusammenfassung Neue Wege der Ontologie hervorhebt, nicht um Erkenntnis, sondern um deren Gegenstand – und entsprechend um die Bedingung der Möglichkeit solcher Gegenstände. Solche Bedingungen können jedoch nach seiner Auffassung nicht a priori gewonnen werden, wie Kant dies für die Erkenntniskategorien als Bedingung der Ontologie sah. So lautet Hartmanns „Grundthese“: „die Seinskategorien sind keine apriorischen Prinzipien“, sondern solche, die „Zug um Zug den Realitätsverhältnissen abgelauscht“ werden (Hartmann 1942: 13). Hartmann sucht also erstens einen Bezug zur Empirie, um zweitens davon ausgehend ein Kategoriensystem zu entwickeln. Der erste Punkt beinhaltet die Abwehr einer apriorischen Seinsmetaphysik zugunsten einer sehr weit verstandenen Realität; der zweite dagegen entwirft eine Begrifflichkeit, die jede Dingoder Ereignisontologie hinter sich lässt zugunsten einer umfassenden Kategorisierung: Die Kategorien kennzeichnen Schichten des Seins, an denen Objekte (Dinge wie Prozesse) teilhaben. Zu solchen ‚Realitätsverhältnissen‘ gehören etwa von Anbeginn Möglichkeiten, Empfindungen und Intentionen, denn sie sind uns aus der Realität unseres Denkens und Handelns wohlvertraut. Damit aber ist ein gänzlich anderer als der traditionelle Zugang vonnöten, weil weder von Seiten Gottes wie bei Leibniz, noch mit Kant vom Erkenntnissubjekt ausgegangen wird, sondern vom Objekt – natürlich wie es uns in der Erkenntnis gegeben ist, aber a posteriori und nicht mit einem universellen, sondern einem hypothetischen Anspruch: Genau das macht Hartmanns Methode interessant und brauchbar für die Analyse neuer Phänomene, wie sie gerade gestreift wurden. Insbesondere bereitet es keine Schwierigkeiten, Intentionen als Voraussetzung der Entwicklung und der Verwendung eines Artefakts in der Ontologie einen Platz zuzuweisen, statt darüber zu streiten, ob Intentionen ‚real’ seien. Wichtig ist hierbei, dass – wie Hartmann betont – der „Geist nicht außerhalb der realen Welt“ steht, denn beide haben „dieselbe Zeitlichkeit, dasselbe Entstehen und Vergehen“, während die wesentlich weniger fundamentale Räumlichkeit allein Dingen und Lebewesen zukommt (21 u. 22). Doch sei jetzt schon angedeutet, dass daran festgehalten werden soll, dass dieses ‚Realitätsverhältnis’ nicht eigentlich in einem Ablauschen vergegenwärtigt wird, sondern im Sinne Abels unaufhebbar mit einer interpretierenden Deutung gekoppelt ist: Hier wird der Anknüpfungspunkt für die Überbrückung von Materialem, Individuellem, Sozialem und Geistigem zu sehen sein, weil die jeweiligen Interpretationskonstrukte ein geistiges Element sind, das sozial vermittelt und zugleich materialbezogen ist. Da Nicolai Hartmanns Schichtenlehre für die zu verfolgenden Fragen hilfreich ist, soll ihr Grundgedanke kurz skizziert werden. Danach besteht der Aufbau der realen Welt wie schon bei Aristoteles aus vier Schichten, der anorganischen, der
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organischen, der seelischen und der geistigen Schicht (Hartmann 1940: 197 f.). Sie sind klar geschieden, bauen aber aufeinander auf – und zwar auf dem Weg vom Materiellen zum Organischen in einem „Überformungsverhältnis“ (Hartmann 1942: 63), wobei von den Gebilden der niedrigeren Schicht in der höheren nichts verloren geht, doch dergestalt, dass die neuen Strukturen oder Gebilde nicht auf die untere Schicht rückführbar sind: Genau hierin besteht der weit über Aristoteles hinausgehende Schritt. Ähnlich setzt die seelische Schicht des Bewusstseins Materie und Organismus voraus, doch nicht als Überformung, sondern in einem „Überbauungsverhältnis“ (ibid.), bei dem zwar einige Kategorien der unteren Schichten erhalten bleiben (etwa Kausalität, Wechselwirkung, Zustand, Prozess, Zeit); doch das gilt nicht für alle Kategorien. Was hinzukommt, das Novum, ist Unräumlichkeit, Individualität und die Innerlichkeit der seelischen Inhalte. Das Geistige – wiederum eine Überformung – hebt sich davon durch „Überindividualität“ ab: Es ist etwas Gemeinsames wie beispielsweise die Sprache, die moralischen Gesetze oder die Religion einer Kultur. So bildet das Geistige einen Zusammenhang, der von Generation zu Generation übernommen und weitergegeben wird. Rückblickend betrachtet können sich höhere Formen einer Einheit – etwa der Mensch oder die Gesellschaft – nur auf dem Gesamt der jeweils darunter liegenden Schichten entwickeln. Wirklich oder existent ist alles, was in den vier Schichten seinen Ort findet. Auch dieses Grundverständnis des Zusammenhangs der Schichten bei gleichzeitiger grundsätzlicher Verschiedenheit ist heute ganz gegenwärtig, nur wird es anders bezeichnet, nämlich als Emergenz – im Gegensatz zu reduktionistischen Ontologien, welche die Existenz auf Materielles allein zu beschränken trachten. Schließlich formuliert Hartmann Kennzeichnungen der einzelnen Schichten, also elementare Eigenschaften, dazu Gesetze, die die Schichtungsverhältnisse zum Ausdruck bringen. Die Modalkategorien – also Notwendigkeit / Wirklichkeit / Möglichkeit – gehen für ihn als Fundamentalkategorien durch alle Schichten hindurch. Zusammenfassend sei dies schematisch wiedergegeben in Abb. 1. Eines gilt es dabei festzuhalten: Diese Schichten sind kategorial bestimmt und wohl zu unterscheiden von der „Stufenleiter der Gebilde, vertreten etwa durch Ding, Pflanze, Tier, Mensch, Gemeinschaft, die sich mit der Schichtenfolge nicht deckt, sondern überschneidet.“ (Hartmann 1942: 84) Die Gebilde sind vielmehr geschichtete Einheiten. Genau dieses ist es, was Hartmanns Ontologie für Artefakte fruchtbar werden lässt.
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Abb. 1: Aufbau der realen Welt nach N. Hartmann
5 Ontologie der Artefakte 5.1 Nicolai Hartmann und die Technik Nun kommt es darauf an, wie Technik unterzubringen sei. Nicolai Hartmann geht nur gelegentlich darauf ein; doch seine Bemerkungen reichen aus zu sehen, wie er sie einordnet: „Mensch, Gemeinschaft und Geschichtsprozeß sind Gebilde, die durch alle vier Schichten hindurchgehen. Sie sind, wenigstens in der Art ihres
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inneren Aufbauprinzipes, Abbilder der ganzen Welt.Was von der Welt als Ganzem gilt – dass sie nämlich nicht aus der Einheit eines einzigen Prinzips erklärt werden kann, sondern auf einem komplizierten Ineinandergreifen von Kategorien beruht –, das gilt auch für den Menschen, von der Gemeinschaft und vom Geschichtsprozeß, insofern z. B., als sich die kausale Determination kombiniert mit der Finaldetermination, die immer nur vom Menschen ausgeht, von jedem politischen Plan, von jeder technischen Erfindung.“ (Hartmann 1949: 126) Bemerkenswert ist nicht nur die Erwähnung von Technik, sondern auch die Aufnahme von Prozessen. Doch mehr noch – eine entscheidende Ausweitung besteht in der Einführung einer Finaldetermination, die vom Menschen ausgeht, doch damit zugleich auch „von jeder technischen Erfindung“. Diese ist die unverzichtbare Bedingung einer angemessenen Ontologie technischer Artefakte. Damit ist von Hartmann eine entscheidende Weichenstellung vorgenommen. Es wäre gänzlich verfehlt, materielle Artefakte als technische Erfindungen einfach der Schicht der Materie zuzuordnen, oder Biofakte (also geplante und technisch modifizierte oder erzeugte Lebewesen) allein der Schicht der Organismen; es genügt auch nicht, Elemente einer Sozialontologie einzubeziehen, wie sie von John Searle (2007) vorgeschlagen und von Lawson aufgegriffen wurde. Vielmehr gehen Artefakte ontologisch betrachtet durch alle Schichten hindurch. Ihre Wirklichkeit, ihre Existenz erweist sich von Anbeginn als überaus vielschichtig, weil alle von Hartmann herausgearbeiteten Kategorien aller Schichten einfließen. So und nur so werden Artefakte und Prozesse bis hin zu den überaus komplexen Existenzformen der neuen Medien fassbar. Technische Artefakte verlangen den bewusst planenden, konstruierenden und die entworfene Möglichkeit verwirklichenden Menschen – überdies in einer Gesellschaft, ohne deren Bereitstellung von Material, Energie und Information dieses alles nicht gelingen könnte. Hinter den technischen Artefakten steht stets die für den Bereich des Seelischen und Geistigen maßgebliche Kategorie der „Zwecktätigkeit“ (Hartmann 1942: 43) und damit ein Finalnexus. „Der Finalnexus ist nicht die einfache Umkehrung des Kausalnexus. Sein Bau ist beträchtlich komplizierter. Man kann ihn in drei Etappen zerlegen: das VorSetzen des Zweckes, die Wahl der Mittel und die Verwirklichung des Zweckes durch die Mittel. Die beiden ersten spielen im Bewusstsein, die dritte ist ein in der Außenwelt verlaufender Realprozeß, die mittlere ist das eigentlich charakteristische Glied, denn die Wahl der Mittel geht vom gesetzten Zweck aus rückwärts bis zum ersten Gliede, mit dem die Verwirklichung beginnt. Diese Rückdetermination der Mittel macht es aus, dass der Finalprozeß vom Ende (dem Zweck) her bestimmt ist.“ (58) Genau dieser Zusammenhang wird im praktischen Syllogismus durchsichtig, der die Begründungsstruktur auch allen Entwerfens ist.
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Aus dem menschlichen geistgeleiteten Eingriff in die Natur folgt keineswegs, dass die Kategorien der obersten Schicht die der unteren ändern, denn deren Strukturen und Gesetzmäßigkeiten werden durchaus nicht gewandelt oder aufgehoben; darüber hat der Mensch „keine Macht“ (81): Nur weil die Dingwelt kausal im Sinne einer Aufwärtskausalität und in Grenzen determiniert ist, kann der Mensch sie Ziele setzend für seine Zwecke durch eine „überhöhende Determinationsform“ lenken (105). Letzteres wird später von Karl Popper (1978), Donald I. Campbell (1974) aufnehmend, ‚Abwärtskausalität’ genannt. So ist der Finalnexus die unverzichtbare metaphysische Voraussetzung nicht nur zielgerichteten Handelns, sondern auch jeder Entwicklung und Nutzung technischer Artefakte. Mehr noch, Artefakte sind kategorial zwingend neben dem Kausalnexus in den Finalnexus einbezogen.
5.2 Technische Artefakte als Materialisierung von Zielen, Werten, Wissen, Können und Kreativität Nun wird es erforderlich, das Gewonnene weiterzuführen. Begonnen sei wiederum bei raumzeitlichen Artefakten und Prozessen wie der Maschine. Sie sind dinglicher Natur, sie scheinen der untersten Hartmannschen Schicht anzugehören, sind also kausal determiniert. Das gilt jedoch auch, wenn die Maschine beispielsweise statt Schrauben zu scheiden nur Abfall produziert – ganz kausal, aber doch gänzlich gegen unsere Intention. Also kommen wir nicht umhin, den Zweck der Maschine mitzudenken – und mit ihr eine teleologische Wesensbestimmung. Ob eine defekte Maschine immer noch eine Maschine ist oder nicht nur eine war, machen wir davon abhängig, ob sie sich durch eine Reparatur, also durch eine Wieder-Herstellung, re-parare, der Zweckerfüllung wieder zuführen lässt. Zwecke gibt es jedoch nicht in der untersten Schicht – als allgemeine Zwecke entstammen sie der obersten, der Schicht des Geistes. Daran ändert sich nichts, wenn man einwendet, es handele sich bei technischen Artefakten nicht um Zwecke, sondern um Mittel für einen von uns intendierten Zweck, weil auch Mittel in der Natur nicht vorkommen. Selbst wenn Biologen manchmal von Zwecken und Mitteln und nachfolgend von Funktionen etwa in Bezug auf Organe sprechen, so ist das eine technomorphe Projektion, denn Mittel sind im Blick auf eine Zweckerfüllung von uns, vom Menschen, gesucht und im Sinne einer zu erfüllenden Funktion gewählt. In vielen Ansätzen der Technikphilosophie wird ‚Funktion‘ wie ein rein deskriptiver, soziale Bedingungen beschreibender Begriff behandelt und bezogen auf technische Artefakte an ein materielles Mittel gebunden (so Meijers 2000; Kroes / Meijers 2006; Kroes 2010); das aber vernachlässigt das Wesentliche des Funktionsbegriffes, allererst im Zusammenhang mit
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Mitteln und Zwecken einen Sinn zu haben. Der vorliegende Sachverhalt lässt sich also nur so sehen, dass sich der Entwurf und der Bau eines jeden Artefakts ebenso wie seine Anwendung allein mit der Kategorie der Finalität erschließt. Artefakte werden immer teleologisch gesehen. Sie gehen darum auch ontologisch keineswegs in der untersten Schicht auf. Ein Zweites kommt hinzu: Um ein Artefakt zu schaffen, bedarf es nicht nur einer Ziel-Mittel-Verknüpfung, sondern auch des Wissens und Könnens in einem viel breiteren Sinne: Wissen ist Voraussetzung seines Entwurfs und seiner Verwirklichung. Ein Artefakt lässt sich deshalb kennzeichnen als materialisiertes Wissen. Das scheint eine griffige Formel zu sein; doch wie kann ein Wissen, das doch ganz der vierten Schicht oder Poppers Welt 3 angehört, und ein materialisiertes Können, das als Handlungswissen der dritten Schicht zuzurechnen ist, materialisiert sein? Nun, genau in der Weise, wie wir dies von einem Schriftstück zu sagen pflegen: Die darin verwendeten Zeichen symbolisieren im Verbund syntaktischer und semantischer Regeln einen geistigen Inhalt und beruhen in ihrer Gegenständlichkeit auf einem Können als Handlungsvermögen. Um ein Artefakt als Mittel für seinen Zweck und als Ausdruck des Wissens und Könnens zu verstehen, bedarf es einer Interpretation, die ihrerseits Wissen um Zwecke und ein Wissen um das Können als geistige Inhalte voraussetzt. Diese Inhalte haben dabei wegen ihrer Begrifflichkeit den Status der Existenz von Symbolen im Sinne der leibnizschen Auffassung, dass alle menschliche Erkenntnis stets eine cognitio symbolica ist: Nur in Zeichen und Zeichenverknüpfungen vermögen wir zu denken. Wäre dieser Zusammenhang von Artefakt und Wissen nicht gegeben, könnte es Archäologen nicht gelingen, aus einem Fund wie dem Mechanismus von Antikythera weitreichendste Folgerungen über beides, theoretisches und praktisches Wissen, abzuleiten. Ein dritter Punkt muss aufgenommen werden – die Kreativität. Denn die entscheidende Differenz zwischen Natur-Fakten und Artefakten besteht genau darin, dass letztere kreative Hervorbringungen des Menschen sind: Kreativität ist Bedingung ihrer Existenz. Nun hat zwar Alfred North Whitehead (1928) in der Kreativität der Natur die Grundkategorie allen Seins gesehen; dennoch besteht ein Unterschied zwischen dem Neuen in der Natur, das in einem Prozess der Evolution hervorgebracht ist, und dem künstlerischen wie technischen Neuen: Die kreative Hervorbringung ist nicht einem Evolutionsprozess zu verdanken, sondern einer Intention und Intuition im Blick auf ein zu lösendes Problem. Ein entscheidend wichtiger vierter Punkt verlangt noch aufgenommen zu werden: Alles Handeln ist wertorientiert – der Zweck, das Ziel, beruht auf der Auszeichnung des zu Erreichenden als besser oder wertvoller oder geboten im Rahmen der normativen Prämisse des praktischen Syllogismus. Entsprechend unterliegt auch die Mittelwahl einer Wertung. Das aber gilt geradeso für jedes
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Artefakt: Es ist Materialisierung von Werten. Damit ist nicht der Tauschwert oder der Warenpreis gemeint, sondern eine ganz spezifische Ausrichtung technischer Artefakte: An erster Stelle steht die Erfüllung des Wertes, der hinter dem angestrebten Ziel steht, also Zweckerfüllung. Das wiederum setzt einwandfreies Funktionieren voraus, was ebenfalls ein Wert ist. Geradeso finden heute Werte wie Sicherheit, Gesundheit, Umweltschutz als gesellschaftliche Forderung Eingang. Natürlich können auch individuelle oder gesellschaftliche Werte ganz anderer Art einfließen – bei den Pyramiden der Wunsch des Pharaos nach ewigem Leben, bei den Moskauer Metrostationen die Verherrlichung des Stalinismus, bei CERN der wissenschaftliche Ehrgeiz. Doch in jedem Falle zeigt sich die Wertverhaftetheit des Artefakts.
5.3 Das Artefakt als eine Ganzheit Ein Letztes muss als fünfter Punkt noch hinzutreten: Alle eben genannten Eigenschaften müssen sich zu einem Ganzen zusammenschließen: Ein Artefakt ist nicht ein zufälliges Konglomerat von Wissenselementen, Können beliebiger Art, zielloser Kreativität und zusammengewürfelten Werten, denn all diese Elemente müssen sich dem finalen Zweck ein- und unterordnen. Wenn an einer Maschine ein Teil fehlt, der für ihre Funktionsfähigkeit notwendig ist, ist sie in aller Regel unbrauchbar und wertlos. Damit aber verschärft sich die Spannung, denn auf der einen Seite stehen Materiekonfigurationen, auf der anderen gänzlich immaterielle Zwecke, zwischen denen die Mittelsuche und Mittelverwirklichung liegt. Doch weder sind Zwecke absolut fixiert – es gibt immer äquivalente Zwecke und Mittel im Blick auf höherrangige Ziele –, noch sind die Werte festliegend, weil sie von persönlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen und deren dynamischen Veränderungen abhängen. Schließlich ist das Ganze des Artefakts oder des Artefaktsystems heute vielfach nicht mehr so geschlossen wie bei einer Maschine oder eine Fabrikanlage; dennoch bildet auch ein Informationsnetzwerk bei allen ständigen Veränderungen als offenes System eine Ganzheit, nur eben auf einer viel weniger materiell aufweisbaren Ebene, sondern als Strukturzusammenhang. Wäre dem nicht so, könnten nicht ganze Netzwerkportale Gegenstände des Börsenhandels sein. Die Kategorie der Ganzheit ist also in ihrer Bindung an die Funktionserfüllung in dieser bedingten Form unumgänglich. An die Ganzheitsbedingung lässt sich nun noch eine weitere charakteristische Eigenschaft anknüpfen: Artefakte lassen sich in ihrer komplexen, schichtenübergreifenden Struktur als Quasi-Individuen verstehen, die für eine bestimmte Zeit existieren. Einmaligkeit besteht in der Tat für fast alle Brücken, Staudämme, Tunnel ebenso wie für ganze komplexe Industrieanlagen. Im klas-
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Abb. 2: Artefakt entsprechend den Hartmannschen Ebenen
sischen Fall sind Artefakte räumlich lokalisierbar, während sich die Räumlichkeit bei Netzwerken in ständigem Wandel befindet. Zeitlich gesehen ist es berechtigt von ihrer ‚Lebensdauer’ zu sprechen, die abhängt von der Dauer ihrer Zweckerfüllung. So schlägt Richard Grandy (2007: 32) sogar vor, ein unbrauchbares Artefakt etwa für die Zeit seiner Reparatur als nichtexistent anzusehen, sodass technische Artefakte eine diskontinuierliche Existenz besitzen. Doch muss das jeweils Ganze solcher Quasi-Individuen selbst wieder eingebettet sein nicht nur in eine materielle Umgebung oder als Biofakt in eine biotische Umwelt, sondern vor allem in eine kulturell geprägte Gesellschaft, weil diese die Grundlage und der Träger der Wertvorstellungen ist, die ihrerseits hinter den Zwecken stehen, die das Wesen des jeweiligen Artefakts ausmachen: Ein Artefakt ist deshalb materialisierte Kultur in ihrer Geschichtlichkeit.
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6 Zusammenfassung Damit lässt sich festhalten: Artefakte gleich welcher Art sind ontologisch gesehen individuelle Ganzheiten, geprägt durch die Kategorien aller Schichten. Da es aber nicht nur von Schicht zu Schicht Neues gibt, sondern auch Neues in Gestalt neuer Ideen, neuer Denkformen und Vorstellungen, die in der Schicht des Geistes kreativ hervorgebracht werden, kommt es dank der Überformung und Überbauung gerade im Falle der Artefakte zu Neustrukturierungen von oben ‚nach unten‘ (Abb. 2). Damit ist ein weiter und ausbaufähiger Rahmen für eine sachgerechte Ontologie technischer Artefakte entworfen. Natürlich gilt hierbei, was einleitend von Günter Abel zitiert wurde: „Was für eine Ontologie man hat, ist eine Angelegenheit des Sprach-, Denk- und allgemein des Zeichen- und Interpretationssystems, das verwendet wird, sowie der damit verbundenen ontologischen Festlegungen.“ (ZdW 242)
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Günter Abel
Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Technik Replik zum Beitrag von Hans Poser Der Beitrag von Hans Poser lenkt die Aufmerksamkeit auf den Bereich der Technik, des näheren der technischen Artefakte und deren spezieller Ontologie. Als Rahmen für seinen Entwurf greift Poser auch auf Aspekte der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] zurück und bringt diese im Blick auf die Technikphilosophie zur Anwendung. Den Dialog von Technikphilosophie und ZuI-Philosophie nehme ich gern auf. Dieses Themenfeld ist gut geeignet, zum einen die hohe Bedeutung der Technikphilosophie im gegenwärtigen Zeitalter zu unterstreichen, zum anderen bestimmte Aspekte der ZuIPhilosophie näher zu profilieren und in ihrer Relevanz angesichts der Herausforderungen unserer Zeit entlang des Verhältnisses von Technik und Lebenswelt zu markieren. Für Poser ist der Rückgriff auf Aspekte der ZuI-Philosophie vor allem in zwei Hinsichten wichtig. Zum einen (a) greift er auf das mit der ZuI-Philosophie verbundene Prozess-Modell, des näheren auf Aspekte einer ZuI-bestimmten Prozessim Unterschied zu einer Ding-Ontologie zurück. Zum anderen (b) betont er, dass ZuI-Konstrukte in der Technikphilosophie und in einer speziellen Ontologie technischer Artefakte eine grundlegende Rolle spielen. Den Dialog mit Posers Technikphilosophie möchte ich unter den folgenden Gesichtspunkten führen: 1. Prozess-Modell und Technikphilosophie. 2. Ontologische Argumente als ZuI-abhängige Argumente. 3. ZuI-Philosophie der Technik. 4. Wechselwirkungen von Technik und Lebenswelt.
1 Prozess-Modell und Technikphilosophie In Sachen Prozess-Modell stellt Poser in positiver Aufnahme zwei Aspekte meiner diesbezüglichen Auffassungen heraus (mit Bezug auf Abel 1985 und SZI). Erstens (a) betont er die Fokussierung auf Prozesse (und weniger auf Dinge, ohne letztere freilich auszuschließen). Zweitens (b) schließt er sich der Grundauffassung an, dass alles, was uns als Realität und Wirklichkeit gilt, stets bereits ein ordnendes, perspektivierendes und organisierendes ZuI-Schema in Anspruch genommen hat. Kraft dessen ist es jeweils überhaupt erst zu einer individuierten und spezifischen So-und-so-Realität/-Wirklichkeit gekommen. Sehr trefflich sieht Poser drei der für https://doi.org/10.1515/9783110522280-035
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die ZuI-Philosophie in diesem Zusammenhang wichtigen Punkte: (i) dass mit dieser Sichtweise keineswegs eine „neuerliche Idealismusthese“ (Poser-Beitrag, Kap. 1) gemeint ist; (ii) dass die ganze Betrachtung auf der Ebene der Sprach-, Zeichen- und Interpretationssysteme angesiedelt ist, ich mithin an einer ‚Prozess‘Sprache (neben einer ‚Ding‘-Sprache) sowie an der zugehörigen ‚Interpretationspraxis‘ interessiert bin; und (iii) dass auf diese Weise auch die Frage der Ontologie zu einer Angelegenheit des verwendeten ZuI-Systems, der diesem zugrundeliegenden ZuI-Praxis und der mit diesen verbundenen ontologischen Festlegungen wird. Dass technische Artefakte von den ihnen korrelierten Prozessen nicht isoliert werden können, unterstreicht Poser nachdrücklich. Jedes technische Artefakt beruht auf einem „Entstehungsprozess“ und einem „Anwendungsprozess“, der in einen „Alterungsprozess“ bis hin zur schließlichen „Unbrauchbarkeit“ führt (Kap. 1). Daher macht eine Technikphilosophie ohne Prozessphilosophie keinen Sinn. Technische und überhaupt Artefakte (auch zum Beispiel künstlerische Gestaltungen) werden imaginiert, intendiert, geplant, konstruiert, erfunden, verwirklicht, hergestellt, getestet, gebraucht und zur Anwendung gebracht – alles Vorgänge, die ohne Rekurs auf Prozesse nicht angemessen beschrieben und konzipiert werden können. Über Posers Sichtweise hinausgehend möchte ich prononciert hinzufügen: Das alles sind Vorgänge, die im Kern als Typen und Gestalten von ZuI-Konstruktbildungen beschrieben, analysiert, verstanden, kommuniziert und modelliert werden können. Als materielle Resultate dieser ZuIAktivitäten haben wir es dann mit den technischen Artefakten, Verfahren und Prozessen zu tun. Aus meiner Sicht sind technische Artefakte und Prozesse ausgezeichnete Beispiele für ZuI-Konstruktbildungen. Zugespitzt möchte ich sagen, dass Technikphilosophie als ein spezieller und in modernen Gesellschaften besonders relevanter Zweig der ZuI-Philosophie konzipiert werden kann. In diesem Zweig (ganz ähnlich übrigens wie in den Prozessen aktiven Produzierens und Gestaltens in den Künsten) manifestieren sich kreative, formgebende, gestaltbildende, artefakt- und arteprozess-herstellende Komponenten auf buchstäblich handfeste, weil materielle und materialisierte Art. Diese Position geht über die Sichtweise von Hans Poser in dem Sinne noch hinaus, dass ZuIVerhältnisse hier nicht einfach bloß als quasi-hermeneutische Rahmenbedingungen im Sinne verstehender Auslegung und Aneignung von Technik und Technologien im Spiele sind. Vielmehr werden die welt- und wirklichkeits-erschließenden und die Artefakte-generierenden ZuI-Aktivitäten in einem umfänglicheren und konstitutiveren Sinne in der Erzeugung, Funktionalität und Anwendung von technischen Artefakten und Prozessen selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Der Einsatz perspektivierender, ordnender und organisierend konstruktionaler Zeichen und Interpretationen spielt in der Hervor-
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bringung, Anwendung und Funktionalität technischer Artefakte und Prozesse eine ursprünglich produktive und nicht eine bloß nachträglich deutende Rolle. Daher lässt sich vornehmlich anhand von Technik und Technologie deutlich vor Augen führen, dass die ZuI-Philosophie nicht als eine Variante der auslegenden Hermeneutik missverstanden werden darf.¹
2 Ontologische Argumente als Zeichen- und Interpretations-abhängige Argumente In puncto ontologische Festlegungen betont und teilt Hans Poser zwei Überlegungen, die mir sehr wichtig sind. Er sieht meine diesbezügliche Position in ihrem Unterschied zur klassischen Tradition der Ontologie, die er von Aristoteles über Leibniz zu Whitehead und Nicolai Hartmann sowie heute etwa bis zu Nicolas Rescher und Barry Smith wirksam sieht. Ein erster Unterschied besteht darin, dass „nicht mehr der Anspruch erhoben“ werden kann, „in der Ontologie einen absoluten Grund aufzuweisen“ (Kap. 1; Kursivsetzung G. A.). Der zweite seitens der ZuI-Philosophie betonte Unterschied besteht darin, ontologische Fragen nicht mehr als Fragen einer entitativen Ontologie metaphysisch-festen Seins, sondern im Sinne ontologischer Festlegungen als Angelegenheit des Sprach-, Denk-, Handlungs- und allgemein des verwendeten ZuI-Systems sowie der zugrundeliegenden ZuI-Praxis zu behandeln.² Diesen Punkt möchte ich etwas näher erläutern. Poser selbst knüpft an eine modifizierte Version von Nicolai Hartmanns „Schichtenmodell“ des Aufbaus der realen Welt und der Ontologie an (Anorganisches; Organisches; Seelisches; Geistiges). Zwar sieht er deutlich, dass die ZuIPhilosophie sich von Hartmanns Modell bereits dadurch grundlegend unterscheidet, dass Realitätsverhältnisse in dem von mir erläuterten Sinne „unaufhebbar“ an ZuI-Verhältnissse „gekoppelt“ sind (Kap. 4). Aber ich möchte doch über diese Feststellung hinaus hervorheben, dass das ZuI-Modell erklärtermaßen kein ontologisches Schichtenmodell ist. Es handelt sich vielmehr um ein Reflexionsmodell in dem Sinn, dass im Ausgang sei es von Störfällen im flüssigen Funktionieren oder vom konkreten Erleben,Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln auf der ZuI3-Ebene nach den darin bereits als erfüllt vorausgesetzten und in Anspruch genommenen Verhältnissen der ZuI2+1 -Ebenen zurückgefragt wird
Siehe zu diesem grundlegenden Unterschied meine Repliken auf Emil Angehrn, Andrzej Przylebski, Marco Brusotti und Riccardo Dottori. Siehe zu diesem Unterschied auch meine Replik auf Chung-ying Cheng.
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und diese im Stufenmodell der ZuI-Philosophie genealogisch gestaffelten Verhältnisse beschrieben, analysiert und modelliert werden. Der ZuI-Philosophie zufolge haben wir es unter kritischem Vorzeichen überall und zu allen Zeiten nicht mit Dingen-an-sich, sondern stets nur mit Zeichen und Interpretationen, genauer noch: mit Erscheinungszeichen und ‐interpretationen zu tun. In diesem Sinne möchte ich die ZuI-Philosophie als eine auf die ZuIProzesse fokussierte Verschärfung von Kants Restringierung der Ontologie auf Erscheinungsdinge ansehen. Jedes ontologische Argument hat eine sprach-, zeichen- und interpretations-theoretische sowie in der zugehörigen ZuI-Praxis fundierte Grundlage (vgl. SZI Kap. 2 und ZdW 242– 247). Das, was es gibt, und die Weise, wie es ist, können nicht unabhängig von den Funktionsweisen derjenigen Sprach-, Zeichen- und Interpretations-Praxis konzipiert werden, in deren Vollzug etwas überhaupt erst zu einem individuierten So-und-so-Etwas für uns oder als ein ontologisches Etwas, Wirklichkeit als Wirklichkeit, erschlossen wird. Hans Poser zitiert meine aus diesem Befund gezogene Konsequenz, dass ontologische Festlegungen auf diese Weise zu einer Angelegenheit des verwendeten ZuI-Systems sowie der zugrundeliegenden ZuI-Praxis werden. Im Ausgang von diesem Befund habe ich in Zeichen der Wirklichkeit (ZdW) detailliert dargelegt, dass diese ZuI-philosophische Position keineswegs in einen Idealismus oder gar in einen Irrealismus führt, sondern vor allem unsere So-und-so-Erfahrungswirklichkeiten ins Zentrum der philosophischen Betrachtung rückt. Diese Sichtweise der ZuIPhilosophie schließt ontologische Festlegungen nicht aus, macht sie jedoch zugleich und sinnkritisch in ihrer nicht-hintergehbaren Abhängigkeit von ZuI-Systemen und vor allem von ZuI-Praxen deutlich. Vor diesem Hintergrund wird zugleich deutlich, dass es in der ZuI-Philosophie selbstverständlich nicht um eine Ontologie der Zeichen und Interpretationen selbst geht. Zu sagen, dass nicht mehr von gänzlich zeichen- und interpretationsunabhängigen ontologischen Entitäten ausgegangen werden kann, heißt nicht sagen, dass es Zeichen und Interpretationen im Sinne der traditionellen Ontologie ‚gibt‘, heißt nicht, dass jetzt die Zeichen und Interpretationen die vormalige Funktionsstelle ontologischer Entitäten und absoluter Gründe besetzen. Vielmehr wird die Funktionsstelle selbst verändert, im skizzierten Sinne um-interpretiert und neu-signiert. Die ontologie-kritische Funktion des ZuI-Ansatzes erstreckt sich mithin auch auf den Status der Zeichen und Interpretationen selbst. Und keineswegs ist es so, dass die ZuI-Philosophie in einem ersten Schritt die traditionellen Ontologien als Schein-Ontologien entlarven möchte, um dann in einem zweiten Schritt mit einem eigenen neuen und vermeintlich ultimativen Ontologismus aufzuwarten, demzufolge die Zeichen und Interpretationen die eigentlichen Ontologeme sind. Das wäre ein selbst-zerstörerischer Fehlschluss der ZuI-Philosophie.
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Dass die ZuI-Philosophie sich selbst unter die in ihr artikulierten und verwendeten Standards kritischen Denkens stellt, führt jedoch nach der anderen Seite keineswegs in einen Relativismus (siehe Abel 2011 und 2015a).Vielmehr geht es um eine Position, in der die ganze ältere Dichotomie von ontologischem Essentialismus und subjektivistischem Relativismus zurückgelassen wird. Die ZuIPhilosophie versteht sich jenseits des Würgegriffs dieser Dichotomie.
3 Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Technik Oben habe ich bereits herausgestellt, dass die wichtigsten Merkmale technischer Artefakte und Prozesse als ZuI-Konstrukte charakterisiert, analysiert und modelliert werden können, wie zum Beispiel das Imaginieren, Antizipieren, Entwerfen, auf Ziele Orientieren, Konstruieren, Handeln, Entwickeln, Testen und Anwenden. Bereits an diesen Grundvorgängen technischen Konstruierens und Handelns wurde deutlich, dass und in welchem Sinne Technikphilosophie als ein besonderer Zweig der ZuI-Philosophie verstanden werden kann. Darüber hinaus möchte ich im Folgenden kurz die Liste derjenigen Herausforderungen ZuI-philosophisch adressieren, die Hans Poser als Schlüsselherausforderungen für einen „angemessenen Artefaktbegriff“ (Kap. 1) und in dieser Hinsicht zugleich auch für eine angemessene Technikphilosophie generell formuliert hat. Insgesamt führt Poser sechs philosophische Herausforderungen an, denen ein angemessener Begriff technischer Artefakte zu genügen hat. Jede dieser Herausforderungen kann meines Erachtens in der Perspektive und im Vokabular der ZuI-Philosophie adressiert und formuliert werden. Freilich zeigen sich dabei auch zwei wichtige Erweiterungen gegenüber der Poserschen Sichtweise, die ich zunächst ansprechen möchte. Zum einen (a) thematisiert Poser technische Artefakte, Prozesse und Entwicklungen ganz im Horizont der Modalbegriffe ‚Möglichkeit‘ und ‚Wirklichkeit‘. Das betrifft einen grundlegenden Punkt. Es bedarf, so Posers an Leibniz geschulte Denkfigur, eines Reichs von Möglichkeiten, um aus diesem heraus dann zu einzelnen Verwirklichungen übergehen zu können. Ohne Möglichkeiten keine Verwirklichungen, so wäre zugespitzt zu formulieren. Woher aber die Möglichkeiten? In der Antwort auf diese Frage unterscheide ich mich von der Sichtweise Posers. Ich gehe nicht von einem vorab existierenden Reich von Möglichkeiten und entsprechend auch nicht von einem Arsenal möglicher Welten (weder von den Leibnizschen metaphysischen möglichen Welten noch von einer heutigen ‚possible worlds semantics‘) aus, aus welchen Reichen und Welten es dann zu Ver-
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wirklichungen einiger dieser Möglichkeiten kommt. Vielmehr sehe ich, überspitzt formuliert, das Verhältnis von Möglichkeiten und Wirklichkeiten eher so, dass erstere auch (wenngleich nicht nur) synkategorematisch zu letzteren sind. In diesem Sinne können bereits sogar die Modalbegriffe und die durch diese adressierten Bereiche des Möglichen und des Wirklichen als genealogisch abhängig von ZuI-Konstruktionalitäten angesehen werden.³ Gänzlich ohne ZuIKonstruktionalitäten und gänzlich ohne die einen Mehrwert induzierenden Modellierungen und Erfahrungswirklichkeiten sowie gänzlich ohne epistemische Perspektivierungen hätten wir es weder mit realen Möglichkeiten noch mit technischen Verwirklichungen zu tun. So werden zum Beispiel im Bereich der Wissenschaften Möglichkeiten auch erst im Zuge konkreter Forschungsprogramme sowie in Abhängigkeit von Technologie-Entwicklungen (zum Beispiel im Computer-Bereich oder in technologischen Großforschungsanlagen, etwa den technischen Konstrukten zur Teilchenbeschleunigung) hervorgebracht. Möglichkeiten liegen weder einfach im Denken noch fertig in der Welt herum. Auch sie werden ihrerseits erarbeitet, hervorgebracht, kreiert. So kann technischen Artefakten beispielsweise auch eine Möglichkeiten-erschließende Funktion zuwachsen. Das ist etwa der Fall im Rahmen von wissenschaftlichen Forschungsprogrammen und des näheren auch im Blick auf die darin leitenden epistemischen Objekte. Ich nenne drei Beispiele: (i) erst das Elektronenrastermikroskop eröffnet bestimmte Möglichkeiten der Erforschung von materiellen Körpern; (ii) erst die Artefakte der CERN-Forschungsanlage ermöglichten, dass das zunächst nur in theoretischer Perspektive postulierte epistemische Objekt ‚Higgs-Teilchen‘ detektiert werden konnte; und (iii) erst bestimmte Neuroimaging-Technologien (zum Beispiel das fMRT) eröffnen Möglichkeiten der Intervention ins Gehirn. Technische Artefakte werden in den Experimentalwissenschaften mithin nicht nur eingesetzt. Sie schaffen oftmals überhaupt erst die Möglichkeiten zur Durchführung von wissenschaftlichen Experimenten und ganzen Experimentalkulturen.⁴ Zum anderen (b) bringt die ZuI-Philosophie die perspektivierende, organisierende, ordnende, formgebende und gestaltende Kraft der Zeichen und Interpretationen nicht nur in dem bereits erwähnten (und von Poser positiv übernommenen) Sinne einer allgemeinen „Rahmenbedingung“ und eines umfänglichen „Deutungsschemas“ (Kap. 1) von Technik, technischen Artefakten und Prozessen ins Spiel. Entscheidend ist der ZuI-Philosophie zufolge und über
Siehe in diesem Sinne auch meine Replik auf Pirmin Stekeler-Weithofer. Zur Rolle der epistemischen Objekte in diesen Kontexten siehe meine Replik auf Hans-Jörg Rheinberger.
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die quasi-hermeneutische Dimension hinaus, dass, wie bereits betont, die Technologien, Artefakte, Prozesse und Entwicklungen selbst als ZuI-Konstruktbildungen beschrieben, analysiert und modelliert werden können. Diese Sichtweise geht deutlich über die von Poser betonte deutende Rolle der ZuI-Prozesse und ‐Resultate hinaus. Diesem Unterschied entsprechend möchte ich auch die Sichtweise verteidigen, dass sich die Frage nach den technischen Artefakten und Prozessen auf den unterschiedlichen Ebenen des 3-Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse unterschiedlich ausnimmt. Eine bestimmte Konstruktion, Deutung und Theoriebildung in Sachen Technik auf der ZuI3-Ebene (z. B. eines Smartphones) ist zu unterscheiden von den technischen Gewohnheiten und Automatisierungen auf der ZuI2-Ebene (z. B. des gewohnheitsmäßig verankerten Gebrauchs eines Smartphones). Und von beiden ZuI-Ebenen können wir die kategorialisierenden und etwa auf die Physik eines Smartphones bezogenen Komponenten der ZuI1-Ebene unterscheiden. Meines Erachtens liefert das 3-Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse ein effektives Modell zur Beschreibung der komplexen, gestaffelten und unterschiedlich dimensionierten und materialisierten Komponenten der Technik und Technologien. Die Leistungen des Modells erstrecken sich auch auf die technischen Artefakte und Prozesse in ihren kognitiven (Ebene 3), soziokulturellen (Ebene 2) und Wirklichkeiten-generierenden Funktionen (Ebene 1). In Abschnitt 4 werde ich später einige dieser Aspekte näher ausbuchstabieren. Zunächst aber möchte ich mich ganz auf die von Hans Poser so trefflich formulierten philosophischen Herausforderungen für einen angemessenen Begriff technischer Artefakte und Prozesse konzentrieren und die These entwickeln, dass diese Desiderate im Rekurs auch auf ZuI-Konstruktbildungen behandelt werden können. Erstens betont Poser, dass Technik „von uns geschaffen“ wird (Kap. 1). Er denkt dabei vorrangig an die Ideen von Menschen, die dann auch von Menschen (und nicht zum Beispiel von der Natur oder den Göttern) verwirklicht werden und im erfolgreichen Falle zur Herstellung realer Dinge und Prozesse führen. Ergänzt sei dieses Bild um die beiden ebenfalls von Poser betonten Gesichtspunkte, dass Technik in dem Sinne menschen-gemacht ist, dass sie offenkundig nicht ein Naturprodukt ist (wie dies etwa gedacht wird, wenn wir sagen, dass die Natur die Alpen geschaffen hat) und dass Technik ohne gesellschaftliche und soziokulturelle Kontexte gar nicht denkbar ist. Offenkundig können alle angeführten Faktoren und Konstituenten (das Finden von Ideen; das Spezifizieren von realen Möglichkeiten; die Verankerung in Gesellschaft und Kultur) als ZuI-Konstruktionen beschrieben, analysiert und realisiert werden. Technische Artefakte und Prozesse sind Produkte der Menschen als signo-interpretatorische und praktischgestaltende Wesen.
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Zweitens ist stets bereits die „Verwirklichbarkeit der Möglichkeit“ (Kap. 1) vorausgesetzt. Aus ZuI-philosophischer Perspektive kann zunächst (a) der Schritt in eine reale Möglichkeit (im Unterschied zu einer bloß rein imaginierten Möglichkeit) als ein zeichen-interpretatorischer Schritt gefasst werden. So kann ich beispielsweise die reale Möglichkeit auszeichnen, dass ich in Berlin am Nachmittag in einen Verkehrsstau geraten werde, im Unterschied zu der Möglichkeit, dass Onkel Paul gleich auf der Primzahl 7 Polka tanzend in mein Büro kommt. Sodann (b) könnten auch die näheren Schritte zur Verwirklichung der Möglichkeit (welche Schritte zur Herstellung eines technischen Artefakts führen) erst gar nicht in Gang gesetzt und ins Ziel gebracht werden, ohne darin vielfältige Typen von ZuI-Aktivitäten der angeführten Art bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen zu haben. Alle diese Prozesse lassen sich im Vokabular der ZuI-Philosophie beschreiben, analysieren und modellieren. Drittens wird etwas geschaffen, das als „Mittel“ zu einem Zweck fungieren soll. Damit ist gesetzt, dass Technik „gar nicht denkbar (ist) ohne eine Intention“ (Kap. 1). Intentionen aber, so füge ich hinzu, sind überaus treffliche Beispiele für ZuI-Konstruktbildungen und können als diese rekonstruiert werden. In ihren handlungs-bezogenen Vorstellungsbildern sind Intentionen offenkundig ZuIKonstruktbildungen. Eine Intention ist stets eine spezifische und spezifizierende So-und-so-Intention, die sich von anderen Intentionen unterscheidet und auch wirksam abgrenzt. Wir können mithin jederzeit die Frage nach ihrer Individuation, Spezifikation, antizipatorischen Ausrichtung, Präferenzierung, Abgrenzung gegenüber anderen Intentionen und Perspektivierungen, Zielsetzung sowie nach ihrer spezifischen sozialen, kulturtechnischen, kommunikativen und kooperativen Art, mithin die Frage nach den im Einsatz befindlichen ZuI-Grenzziehungen, ZuI-Gestaltungen und ZuI-Präferenzierungen stellen. Viertens ist zu betonen, dass Verwirklichungen stets bereits auf Zwecke und Ziele ausgerichtet und an diesen orientiert sind. Auf diese Weise ist in technischen Artefakten und Prozessen stets auch ein Telos, eine „Teleologie“ wirksam (Kap. 1). Aus Sicht der ZuI-Philosophie kann es sich dabei jedoch nicht mehr um die klassische Teleologie vorgegebener und in Natur, Welt und Sein vorab vorhandener Teleologie handeln. Es geht vielmehr, so möchte ich sagen, auch in Sachen technische Artefakte, Prozesse und Technologien nicht mehr um eine primordiale und essentialistische Teleologie. Es geht vielmehr um das, was ich eine ‘sekundäre Teleologie‘ nennen möchte, um jene Zweckmäßigkeiten und Zielsetzungen also, die vornehmlich im Horizont der technischen Möglichkeiten und Verwirklichungen orientierend sind. Es geht mithin nicht um vorgegebene, sondern um gemachte Teleologie, des näheren um technisch und technologisch gemachte Teleologie. Das aber heißt: es geht in puncto Ziel, Zweck und Telos der Technik um menschen- oder system-gemachte ZuI-Konstruktbildungen. Und of-
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fenkundig sind diese ZuI-Konstruktbildungen für unser individuelles sowie gesellschaftliches Leben von außerordentlicher, weil folgenreicher Relevanz in materieller ebenso wie in lebensweltlicher und vor allem auch moralisch-ethischer Hinsicht. Fünftens schlagen sich die Zwecke technischer Artefakte, Prozesse und Systeme in deren „Funktionen“ nieder, mithin „liegt dem Artefakt eine Finalität zugrunde“ (Kap. 1). Das aber heißt zugleich, dass (da Finalität stets erst gesetzt und nicht einfach vorgefunden wird, mithin als ZuI-Konstrukt angesprochen und behandelt werden kann) wir die Technik-Verhältnisse auch nach dieser Seite hin als ZuI-Verhältnisse beschreiben und modellieren können. Sechstens betont Poser sehr zu Recht, dass Technik stets auch auf „Werte“ bezogen ist, sofern Technik in einem „soziokulturellen Zusammenhang“ steht und genutzt wird. Der „Werthorizont“ (Kap. 1) ist mithin bereits von Anfang an in die Zielbestimmung von Techniken und Technologien eingegangen. Meines Erachtens bezieht sich diese Wertgebundenheit der Technik zum einen auf die wertvollen Leistungen technischer Artefakte und Prozesse in unseren lebensweltlichen Ich-Wir-Weltbeziehungen. Zum anderen bezieht sich der Wertbezug auch (und überaus wichtig) auf die Frage nach dem Wert der Technik selbst. In ersterer Hinsicht fragen wir nach dem Wert technischer Artefakte für das individuelle und soziokulturelle Leben (beispielsweise dem Wert einer Brille im Blick auf die visuelle Orientierung im Raum oder dem Wert einer Prothese für erfolgreiche Fortbewegung in der Welt). In zweiter Hinsicht steht Technik selbst auf dem Prüfstand, wird die Frage nach dem Wert der Technik selbst gestellt und nicht mehr von dem Bild ausgegangen, dass die Technik bzw. technische Funktionalität festlegt, was als wertvoll und erstrebenswert gilt. Mit dieser zweiten Dimension ist eine für das gegenwärtige Zeitalter und die Zukunft moderner Gesellschaften höchst bedeutsame Umkehrung des Fragehorizonts sowie der Wertfrage in Sachen Technik selbst verbunden. Werte sind keine realen Objekte, keine raum-zeitstellen-besetzende Körper und keine materiellen Artefakte. Gleichwohl sind sie in der Technik sowie in der Konstruktion und Anwendung technischer Artefakte stets bereits vorausgesetzt und als Orientierungsgrößen wirksam. Mit Rekurs auf Werte ziehen wir Grenzen (zum Beispiel in der Medizintechnik), sprechen Präferenzen zu und nehmen moralisch-ethische Bewertungen vor. Zwar werden Werte nicht einfach konstruiert, sondern vor allem in ihrer Geltung in gegebenen Lebenswelten angetroffen oder neu gesetzt. Aber es handelt sich doch stets – Offenbarungen theologischmetaphysischer Art außen vor gelassen – um menschen-gemachte Werte, Normen, Richtlinien, Standards, Regeln und Gesetze, die wir dann in konkreten Fällen und Situationen (wie zum Beispiel in der Medizinethik) anwenden und gegebenenfalls auch modifizieren und kritisieren können. Offenkundig können
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alle diese mit Werten und Normen im Zusammenhang der Entstehung und Anwendung von Technik verbundenen Annahmen, Standards, Regeln und Maßstäbe der Orientierung als ZuI-Konstruktbildungen angesehen, beschrieben, analysiert und realisiert werden. Siebtens müssen sich alle Eigenschaften von technischen Artefakten „zu einem Ganzen zusammenschließen“ (Kap. 5.3). Dadurch erst wird auch deutlich, dass es sich bei technischen Artefakten sowohl um einen eigenständigen Typus von Objekten als auch (was das materialisierte Wissen angeht) um einen eigenständigen Typus von Wissen handelt. In letzterer Hinsicht handelt es sich des näheren um funktional-praktisches Wissen im Sinne eines herstellenden Könnens. (Zu den unterschiedlichen Typen von Wissen und deren Wechselwirkungen im Alltag, in den Wissenschaften sowie in den Künsten siehe Abel 2015b und 2012.) In technischen Artefakten wird ein spezifisches Wissen mit einem praktischen Können und einer spezifischen Kreativität sowie mit bestimmten Werten zusammengeschlossen. Erst so entsteht das Ganze des technischen Artefakts. Diesen Zusammenhang möchte ich die Mereologie der ZuI-Verhältnisse in technicis nennen. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Aufsummierung der Teile zu einem Ensemble. Vielmehr ist, trivialerweise, auch hier das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Dieser Mehrwert des Zusammenschlusses zum Ganzen verkörpert einen ZuI-Vorgang, eben den des mereologischen Zusammenschlusses unter einer je bestimmten epistemischen, handlungs-praktischen und auf Problemlösungen ausgerichteten technischen Perspektivität und Normativität.
4 Wechselwirkungen von Technik und Lebenswelt Unter dem Titel einer ‚ZuI-Philosophie der Technik‘ verstehe ich neben den angeführten Punkten in einem umfänglichen Sinne vor allem auch die Frage des Verhältnisses von Technik und Lebenswelt. Posers Beitrag bietet (obzwar primär auf die Frage der Ontologie technischer Artefakte fokussiert) gute Gelegenheit, die diesbezüglichen Positionen der ZuI-Philosophie näher zu markieren.
4.1 Das Verhältnis von Technik, Wissenschaft und Lebenswelt. Vier epistemische und praktische Hinsichten Offenkundig üben Wissenschaft, Technik und Technologien einen starken Einfluss auf unsere Lebenswelt, unsere Lebenspraktiken und über diese auf unsere
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Lebensform und unser Weltbild aus.⁵ Wir leben in einer technisch-wissenschaftlichen Welt. Die modernen Wissenschaften und Technologien haben mit ihren Artefakten und Verfahren sowie mit ihrer Bereitstellung von Mitteln für intendierte Zwecke weit reichende Konsequenzen für unser individuelles und soziales Leben. Man denke heute etwa an die durchgreifende Rolle der Informations- und Kommunikationstechnologien, der Verkehrs-, der Medizin-, der Computertechnologie, der Mikrosystem-, der Bio-, der Nanotechnologie oder auch an Visionen wie DNS-Computer, intelligente Kleidung, bio-computationale Designermoleküle oder Gehirn-Computer-Schnittstellentechnologien. Nun sind unsere Lebenspraxis und Lebensformen keine überzeitlichen und kontext-unabhängigen rigiden Muster oder gar Matrizen. Sie sind vielmehr plastische Formen, die auf Einflüsse mit dynamischen Um- und Neuformungen reagieren und sich an veränderte Rahmenbedingungen anpassen. Diese Plastizität ist offenkundig auch hinsichtlich des Wechselverhältnisses von Lebenswelt, Technik und Wissenschaft gegeben. Um zu verdeutlichen, wie tief Lebenswelten und Technologien ineinander verstrickt sind, kann es hilfreich sein, Hinsichten der Wechselwirkungen zu unterscheiden. Die folgenden vier Hinsichten scheinen wichtig. Alle vier können als ZuI-Verhältnisse spezifischer Art gefasst, beschrieben und modelliert werden. Eine ZuI-Charakterisierung ist möglich entlang der Plastizität der im Folgenden beschriebenen Verhältnisse und des Befundes, dass es sich offenkundig um Prozesse vornehmlich des Grenzziehens, Abgrenzens, Präferenzierens, aktiven Gestaltens und kreativen Herstellens handelt. (a) Eine erste Hinsicht bilden Wissenschaft und Technik als kognitive und als materielle Systeme. In modernen Gesellschaften sind institutionalisierte Wissenschaften (z. B. Universitäten oder Forschungseinrichtungen) ebenso anzutreffen wie hoch entwickelte Techniksysteme (z. B. Produktions- und Verkehrssysteme). Diese Systeme sind nicht mehr wegzudenkende Bestandteile unserer soziokulturellen Lebenswelten. (b) Eine zweite Hinsicht ergibt sich aus der Perspektive der Lebenswelt und ihrer Wechselwirkungen mit Wissenschaft und Technik. Unter ‚Lebenswelt‘ verstehe ich dabei im Sinne Husserls die von Menschen in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen, in vor-theoretischen und vor-wissenschaftlichen Einstellungen und Erfahrungen gestaltete und begegnende praktische Umwelt. Offenkundig wirken ingenieurmäßig konstruierte Technologien (wie zum Beispiel Informations- und Kommunikationstechnologien oder Verkehrs- und Computer-
Im Folgenden greife ich auf Materialien zurück, die ich detaillierter entwickelt habe in (Abel 2007).
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technologien) nachhaltig auf die Mechanismen und Funktionen unserer alltäglichen wie institutionellen Lebenswelt. (c) Drittens ist die Hinsicht der Lebensformen und deren Zusammenhang mit Wissenschaft und Technik hervorzuheben. Unter ‚Lebensform‘ verstehe ich dabei, mit Wittgenstein, die interne Verflechtung von Kultur, Weltsicht, Sprache und Handlung – sowie in zunehmendem Maße eben auch von Wissenschaft und Technik. Des näheren sind in dieser Hinsicht sowohl die Regeln und Techniken unserer Handlungen und Sprachspiele als auch deren Vernetzung mit nichtsprachlichen Aktivitäten, Situationen und Kontexten zu nennen, wie diese in menschlichen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Gepflogenheiten, Sitten, Gebräuchen, Institutionen, Traditionen, Zeremonien und Riten verkörpert sind. (d) Eine vierte Hinsicht bilden die Weltbilder und das menschliche In-derWelt-sein sowie deren Verhältnis zu modernen Wissenschaften und Technologien. Dabei verstehe ich ‚Weltbild‘, mit Wittgenstein, als den „überkommenen Hintergrund“ (Wittgenstein 1984: Nr. 94), als das Fundament menschlichen Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns und in diesem Sinne als die Grundlage der jeweiligen menschlichen Kultur. Dieser Hintergrund umfasst propositionale Elemente (z. B. Überzeugungen und Meinungen) und nichtpropositionale Elemente (z. B. religiöse und mythische Einstellungen) ebenso wie sprachliche Komponenten (etwa Erzählungen oder Legenden) und nichtsprachliche Komponenten (z. B. Sitten, Gebräuche und Rituale). Das menschliche In-der-Welt-sein wird hier im Sinne Heideggers als Weise des menschlichen Daseins verstanden.⁶ Neben der Rede von einem wissenschaftlichen Weltbild ist es sinnvoll und zumal heute überaus geboten, auch von einem technischen/technologischen Weltbild zu sprechen. Die weltbild-erzeugende Macht der modernen Technologien ist nicht erst heute mit Händen zu greifen, allgegenwärtig. Dass und in welchem Sinne Wissenschaft und Technik Weltbilder generieren und prägen können, zeigt eindrucksvoll natürlich auch ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte. Vor diesem Hintergrund möchte ich die folgenden drei ZuI-philosophischen Thesen formulieren: (a) Der durchgreifende Einfluss von Wissenschaft, Technik und Technologie auf unser Leben ist logisch möglich und empirisch wirklich, da Wissenschaft und Technik zum einen lebenswelt-, lebensform- und weltbild-abhängig, zum anderen und vor allem jedoch ihrerseits lebenswelt-, lebensform- und weltbild-generierend sein können – und dies heute in einem in der Geschichte bislang nicht geahnten Ausmaße auch tatsächlich sind. Die angesprochene Plastizität der menschlichen
Zu Struktur, Rolle und Wirksamkeit von Weltbildern vgl. (ZdW Kap. 3).
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Lebenswelten, Lebensformen und Sinn-Interpretationen eröffnet Wissenschaft und Technik Möglichkeiten, in diese Lebensbereiche formatierend zurück- und einzuwirken. (b) Diese Einwirkung ist vor allem auch deshalb gegeben, weil unsere Lebenswelten und Lebensformen ihrerseits bereits durch praktische und poietische, auf das technische Modifizieren, Manipulieren, Gestalten und Hervorbringen bezogene Aspekte und Fähigkeiten charakterisiert sind. Zu diesen zählen elementare Fertigkeiten, Praktiken, Regeln und Techniken, wie z. B. das Beherrschen von poietischen Verfahren und Handlungsschemata. Letztere umfassen etwa auch Mnemo-, Verhaltens- oder Psychotechniken und viele andere. Diese Aktivitäten finden Fortsetzung und Ausdruck in der Ausbildung ganzer Kultursphären und Technologien des menschlichen Daseins sowie des bio-kognitiven Geistes (wie etwa der Wissenschaften, der Künste, der Moral, der Religionen und der Technologien im engeren Sinne des Ausdrucks). (c) Die in den Lebenspraktiken selbst wurzelnden Techniken können propositionaler und nicht-propositionaler, sprachlicher und nicht-sprachlicher, expliziter oder impliziter Natur sein. Entsprechend können in ihnen jeweils sehr unterschiedliche Elemente perspektivierend, ordnend, organisierend, dominierend und orientierend sein. Zu diesen Praktiken und Techniken zählen unter anderem kognitive Organisationsprozesse, Handlungen, Wahrnehmungen, Begriffe, Bilder, Diagramme, Gesten, Blicke und vieles andere mehr. Für alle diese Elemente und Aspekte sind zwei Merkmale kennzeichnend und im Blick auf das Verhältnis von Lebenswelten und Technologien besonders hervorzuheben. Zum einen vollziehen sich die angesprochenen Praktiken, Prozesse und Techniken in bzw. kraft Zeichen und Interpretationen, die ihrerseits intern mit je spezifischen ZuI-Techniken verbunden sind. Zum anderen handelt es sich darin auch um Manifestationen und Verkörperungen unterschiedlicher Typen von Wissen in Lebenswelten. Bei dem Versuch, diese Zusammenhänge auszubuchstabieren, tritt auch der in der ZuI-Philosophie überaus wichtige und enge Zusammenhang von Kunst und Technik in den Blick. Beide, Kunst und Technik, sind durch ihre kreative, gestalterische und konstruktionale Kraft charakterisiert. Kunstwerke und technische Produkte unterscheiden sich darin, dass erstere nicht unter funktionalen und zweckrationalen, sondern unter symbolischen und ästhetischen Gesichtspunkten hervorgebracht, mithin nicht im Lichte funktionaler Objektivität gesehen werden. Darin sind sie zugleich Ausdruck individueller Lebensformen. Ein treffliches Beispiel für das Ineinandergreifen von Kunst und Technik im Sinne der ‚téchne‘ ist seit der Antike über die Renaissance und bis heute die Architektur (siehe dazu Abel 2014 und 2016). Architektur ist eine Kunst und eine Technik zugleich.
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4.2 Technische Welten als Zeichen- und Interpretationswelten Technik, Wissenschaft, Kunst, Moral, Religion und Politik sind Kultursphären, die je eigene Kulturtechniken hervorgebracht haben und verkörpern. Dies kann natürlich im Einzelnen hier nicht beschrieben werden. Hervorheben möchte ich lediglich, dass in allen genannten Kultursphären, mithin auch in Wissenschaft und Technik, je eigenständige symbolisierende ZuI-Prozesse und Wissens-Typen grundlegend sind. Diese weder aufeinander noch auf ein gemeinsames Drittes reduzierbaren Prozesse und Typen sind des näheren auch mit je eigenen Evidenzweisen versehen. Und natürlich sind die ZuI-Prozesse keineswegs einfach bloß Vehikel oder Werkzeuge, welche die jeweilige Kultursphäre benötigt, um sich artikulieren, verständlich und mitteilbar machen zu können. Vielmehr vollziehen diese sich kraft jener. Ohne symbolisierende, verkörperte und materialisierte ZuIProzesse gäbe es gar keine artikulierten Kultursphären. In diesem Sinne sind Kultur-,Wissenschafts- und Technikwelten nicht bloß kontingenterweise, sondern in systematischer Hinsicht und nicht-eliminierbar ZuI-Welten. Im Rekurs auf unterschiedliche Weisen des ZuI-Gebrauchs lassen sich auch die Schnittstellen, Überlappungen und Unterschiede zwischen den einzelnen Kultursphären, z. B. zwischen Wissenschaft, Technik und Kunst formulieren. Dies erfolgt auf der Basis der in diesen Sphären jeweils unterschiedlichen ZuI-Prozesse und ZuI-Praxen. So handelt es sich im Falle zum Beispiel der Wissenschaften eher (obzwar nicht nur) um buchstäblich denotierende Theorie. In der Technik und in der ingenieurmäßigen Konstruktion sowie in der computer-gestützten Simulation eher (wenngleich keineswegs ausschließlich) um bildhaftes Denken, um ‚visual thinking‘ (die lingua franca heutiger Ingenieure). Und in den Künsten geht es eher (jedoch keineswegs nur) um expressive ZuI-Funktionen. In welchem Sinne aber genau, so ist zu fragen, sind ZuI-Prozesse im Einzelnen in den vier oben skizzierten epistemischen und praktischen Hinsichten unverzichtbar involviert? (a) Alle Wissenschaften und Techniken sind in ihren Theorie- und Konstruktbildungen an sprachliche oder nicht-sprachliche Zeichen gebunden. Dies ist der Fall bei Termini, Hypothesen, Theorien, Entwürfen, Konstruktionen, Simulationen, Deskriptionen und Dokumentationen – seien diese nun in natürlichsprachlicher Form, in mathematischen Formalismen, in diagrammatischen Zeichen oder in bildlichen Konstruktions-Simulationen des Ingenieurs gehalten. Zudem können alle Modellierungen in den Wissenschaften und Technologien als ZuI-Konstruktbildungen unter spezifischen Zwecken und Darstellungen verstanden werden (siehe dazu ausführlich ZdW Kap. 12). (b) In der ZuI-Philosophie werden auch die Prozesse der Lebenswelten als ZuIProzesse beschrieben. Dies gilt zunächst für das Feld des Wahrnehmens, sodann für den Bereich des vor-theoretischen praktischen Gestaltens der Umwelt und
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schließlich für alle Leistungen des menschlichen Denkens sowie der symbolischen Interaktionen zwischen Personen. Am Rande sei angemerkt, dass der Einsatz von Begriffen eine der avanciertesten und raffiniertesten Techniken des menschlichen Geistes verkörpert. Kurz: der Aufbau exakter Wissenschaften und funktionierender Techniken sowie Technologien, mithin der Aufbau der wissenschaftlich-technischen Welt, kann als Bildung von perspektivierenden, ordnenden, organisierenden und orientierenden ZuI-Konstrukten gefasst werden. (c) Die Bereiche und Aspekte, die im Rahmen der Rede von Lebensform angesprochen wurden (wie zum Beispiel die Gepflogenheiten, Sitten, Gebräuche, Traditionen, Riten, Zeremonien), bestehen überhaupt nur in und kraft der sie verkörpernden ZuI-Prozesse. Wollte man die ZuI-Prozesse aus zum Beispiel den Riten und Zeremonien heraussubtrahieren, so hätte man die Riten und Zeremonien zerstört. Lebensformen stehen in internem Zusammenhang mit SymbolWelten, mit ZuI-Welten, und sie manifestieren sich in unterschiedlichen Formen und Verkörperungen von ZuI-Praktiken. (d) Die zentrale Rolle der Weltbilder besteht darin, dass sie als Perspektivierungs-, Ordnungs-, Orientierungs- und Gewissheitsgaranten sowie als Handlungsstabilisatoren fungieren (siehe dazu detailliert ZdW Kap. 3, insbes. S. 136 ff.). In diesen Funktionen gründet ihre Macht. Diese Macht besteht des näheren vor allem darin, dass ein Weltbild denjenigen selbstverständlichen und nicht weiter begründbaren (weil die Standards von Selbstverständlichkeit und Begründung selbst überhaupt erst bereitstellenden) ZuI-Horizont verkörpert, kraft dessen die spezifischen ZuI-Praxen des Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns umgrenzt, festgelegt und situiert werden.
4.3 Ko-Evolution und Ko-Operation von Lebenswelten und Technologien Lebenswelten entwickeln sich, und in einem weit stärkeren und beschleunigteren Sinne tun dies auch Technologien. Beide sind in der Regel durch ihre gestalterische Kraft ausgezeichnet. Beide sind dynamischen Charakters. In Bezug auf beide darf man den Blick nicht nur – und auch hier stimme ich Hans Poser nachdrücklich zu – auf die fertigen Resultate bzw. technischen Artefakte, Geräte, Maschinen und Systeme richten. Wichtig sind zugleich die gestalterischen Prozesse, des näheren die Prozesse aktiven und dynamischen Entwerfens, Entwickelns, Hervorbringens und Anwendens. Technik ist schöpferisch. Offenkundig gehört sie zu den kreativen Leistungen des menschlichen Geistes und Gestaltens. Die Kunst, etwas Neues in die Welt zu bringen, ist das, was im Kern unter ‚Kreativität‘ verstanden wird (siehe in diesem
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Zusammenhang Abel 2006 und 2009). Des näheren betrifft das kreative Erfinden und Gestalten im Falle der Technik den Einsatz von Mathematik und Naturwissenschaften in den modernen Technologien, in der Kunst des ingenieurmäßigen Entwerfens und Konstruierens im engeren Sinne. Der schöpferische und kreativgestaltende Akt sowohl im technischen Denken als auch in den ausgeführten technischen Artefakten und Konstruktionen besteht in dem bereits angesprochenen Sinne vor allem darin, dass – und erneut stimme ich mit Hans Poser überein – etwas aus dem Bereich des Denkbaren im Sinne von Potentialität in den Bereich des Wirklichen überführt, verwirklicht wird. Vor diesem Hintergrund wird es nicht überraschen zu hören, dass es mir in puncto Modellierung des Verhältnisses von Lebenswelten und Technologien primär nicht um beider Konfrontation, weder um irgendwelche apokalyptischen noch auch um irgendwelche messianistischen Szenarien geht. Vielmehr geht es, so der Vorschlag, um ein ZuI-Modell komplementärer Ko-Evolution und Ko-Operation (siehe auch ZdW Kap. 9). In diesem Modell wird angenommen, dass die technologischen Entwicklungen (von Artefakten, Maschinen, Prozessen und Systemen) mit den körperlichen, psychischen, daseinsmäßigen, existenziellen, sozialen und interaktiven Prozessen und Bedürfnissen von vergesellschafteten Personen komplementär wechselwirken. Dies schließt ein, dass menschliches Verhalten sich im Zuge der Einwirkungen neuer Technologien ebenso verändern kann, wie umgekehrt neue Technikentwicklungen lebensweltlich bestimmt sein können. Als Beispiel denke man heute etwa an das Verhältnis von Lebenswelten und modernen Kommunikationstechnologien oder auch an die gegenwärtig unter dem Titel der Singularitäten thematischen wechselwirkenden Verhältnisse von Gehirn und Computer. In diesem Sinne ist das ko-evolutive Zusammenspiel von Eigendynamik und Wechselwirkung für das Verhältnis von Lebenswelten und Technologien charakteristisch. Zugleich hat das Modell der komplementären Ko-Evolution und Ko-Operation in normativer Hinsicht die überaus wichtige Konsequenz, dass Technik und Technologien nicht zum Selbstzweck werden sollten. Technik und Technologien können nicht auf eine begründete Weise einen Dominanz- oder gar Monopolstatus gegenüber anderen Kultursphären (Kunst, Religion, Moral) behaupten – was jedoch in der öffentlichen Diskussion faktisch nicht selten der Fall ist. Auch sind beide vernünftigerweise nicht berechtigt, die anderen Komponenten innerhalb des Ko-Evolutions- und Ko-Operations-Modells beiseite zu schieben. Das Modell besitzt also zugleich kritische, des näheren kultur- und technik-kritische Kraft. In ihm lässt sich auch die natürliche Widerständigkeit unserer Lebenswelt und Lebensform gegenüber bestimmten technologistischen Entwicklungen verständlich machen und gut begründen.
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In dem bislang skizzierten Horizont der Bestimmung der Technikwelten als ZuI-Welten ist es freilich eine durchaus offene Frage, welche Rolle zukünftig z. B. Bio-, Gen- und Nanotechnologien spielen werden, wie tief sie den menschlichen Körper und die menschliche Lebenswelt verändern werden. So ist es eine offene Frage, wie weit die realwissenschaftlichen und realtechnologischen Entwicklungen gehen werden. Es ist eine zur Zeit noch unentschiedene Frage, ob es zum Beispiel zu Androiden, Klonoiden, nicht nur zur Einpflanzung von Computerchips ins Gehirn, sondern zu intervenierenden Kopplungen von Gehirn und Computer, nicht nur zu einer Ausweitung der Organtransplantationen, sondern zu Ganzkörpertransplantationen kommen wird oder nicht. Sogenannte ‚Transhumanisten‘ sind heute bereits der Überzeugung, dass der Mensch dank technischer, insbesondere dank computer-, bio- und nanotechnologischer Entwicklungen seine biologischen Grenzen überschreiten wird (etwa durch den in Ansätzen heute bereits versuchten Zusammenschluss von Gehirn und Computer). Und in der Nanotechnologie haben wir es heute bereits mit einer Technologie zu tun, die auf der Ebene der einzelnen Moleküle und Atome Manipulationen, mithin Modifikationen an unseren kleinsten Strukturen selbst vorzunehmen vermag. In allen diesen Bereichen stehen die Grenzen nicht ein für alle Mal fest. Sie sind fließend und in unseren Tagen sowie im Lichte neuester technologischer Möglichkeiten zunehmend fließender geworden. Gegenwärtig verfügen wir nicht einmal verbindlich über eine Sicht, gar einen Begriff des Menschen, um in forschungs-praktischer und moralisch-ethischer Hinsicht überhaupt Grenzen ziehen zu können. Ohne Frage liegt hier eine der größten Herausforderungen unserer Zeit.
Literatur Abel, Günter 1985: Einzelding- und Ereignis-Ontologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39, S. 157 – 185. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2006: Die Kunst des Neuen. Kreativität als Problem der Philosophie, in: Abel, Günter (Hg.): Kreativität. Kolloquiums-Vorträge des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie, TU Berlin, September 2005, Hamburg, S. 1 – 21. Abel, Günter 2007: Technik als Lebensform?, in: Abel, Günter / Cristin, Renato / Hogrebe, Wolfram / Przylebski, Andrzej (Hg.): Lebenswelten und Technologien, Berlin, S. 81 – 105. Abel, Günter 2009: The Riddle of Creativity: Philosophy’s View, in: Meusburger, Peter / Funke, Joachim / Wunder, Edgar (Hg.): Milieus of creativity, (Knowledge and Space, Bd. 2), Dordrecht, S. 53 – 72.
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Abel, Günter 2011: Il rapporto interno tra linguaggio, comunicazione, mondo della vita e scienza, in: Dreon, Roberta / Paltrinieri, Gian Luigi / Perissinotto, Luigi (Hg.): Nelle parole del mondo. Scritti in onore di Mario Ruggenini, Milano, S. 181 – 201. Abel, Günter 2012: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, , Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52. Abel, Günter 2014: Die Wissensformen der Architektur, in: Eckert, Dieter (Hg.): Die Architektur der Theorie. Fünf Positionen zum Bauen und Denken, Berlin, S. 39 – 58. Abel, Günter 2015a: Interpretationswelten. Direkte und abgeleitete Wirklichkeiten, in: Fenomenologia 13, S. 69 – 87. Abel, Günter 2015b: Formen des Wissens im Wechselspiel, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 40/2 – 3, S. 143 – 160. Abel, Günter 2016: Distributed Types of Knowledge, Epistemic Perspectives, and Creativity, in: Abel, Günter / Plümacher, Martina (Hg.): The Power of Distributed Perspectives, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 10), Berlin / Boston, S. 35 – 60. Wittgenstein, Ludwig 1984: Über Gewißheit, in: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M.
Kapitel 8: Wissenschaft und Weltbild
Ludger Honnefelder
Wissenschaft als Interpretationsprozess Die Verwissenschaftlichung der Theologie und die Transformation des Wissenschaftsbegriffs im 13. Jahrhundert Abstract: The article starts from Abel’s thesis, that there is no type of knowledge which is independent from the applied system of interpretation and symbols. The thesis is questioned with regard to a historical constellation, i. e. the 13th century debate whether Christian theology can be understood as science (scientia). It is Albert the Great who uses the Aristotelian theory of science (episteme) as point of departure and shows that even knowledge based on faith can be understood as episteme if the Aristotelian framework is expanded. Thomas Aquinas applies the Aristotelian distinction between a sub- and a supraordinated science to theology. And John Duns Scotus uses the distinction between a science as such (scientia in se) and a science in us (scientia in nobis) as a differentiating tool and understands theology as a science of the second type. Scotus thus opens the Aristotelian system of sciences for the new type of a ‘Sinnwissenschaft’. This leads to the concluding question whether differentiations and changes in our understanding of (scientific) knowledge systems lead to Abel’s above mentioned sceptic position or even presuppose – as does an internal realism – the assumption of an ideal science.
Spätestens seit Thomas Kuhns The Structure of Scientific Revolutions (vgl. Kuhn 1996) ist der enge Zusammenhang zwischen einem als normativ verstandenen Begriff von Wissenschaft und dem geschichtlichen Kontext, in dem dieser Begriff seinen Ort hat, unübersehbar: Wissenschaft begegnet als eine unter verschiedenen Formen des Wissens und dies in einem Zusammenhang komplexer und sich wandelnder Bedingungsfaktoren. Dies mindert nicht ihren besonderen Geltungsanspruch; es macht ihn vielmehr in seiner Besonderheit allererst sichtbar. Denn um den spezifischen Anspruch von Wissen zu begreifen, ist es, wie Günter Abels Untersuchungen der Formen des Wissens deutlich gemacht haben (vgl. Iw; SZI; ZdW), sinnvoll und notwendig, ihn im Zusammenhang der komplexen Matrix zu verstehen, die den jeweiligen Begriff des Wissens mit den unterschiedlichen Formen des Wissens und die sie bestimmenden internen Unterscheidungen verbindet (vgl. ZdW 319 – 327). Betrachtet man die Theorien des Wissens, die diese Matrix reflektieren, so lässt sich nach Abel feststellen, dass diese Theorien stets auf eine Herausfordehttps://doi.org/10.1515/9783110522280-036
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rung antworten, die den Geltungsanspruch dieses Wissens in Frage stellen, weshalb sie in aller Regel mit der Frage nach dem epistemischen Status verbunden sind, den menschliches Wissen erreichen kann, und dies mit einer Untersuchung der Art und Weise von Wissen überhaupt verbinden. Erklären lässt sich dieser Zusammenhang nur – so Abels generelle These (vgl. Iw; SZI; ZdW) – wenn man davon ausgeht, dass es eine von Interpretations- und Zeichensystemen unabhängige Form des Wissens nicht geben kann, weil dem Menschen ein Wissen von einem ‚Gottesgesichtspunkt‘, d. h. einem absoluten, weil unabhängigen dritten Standpunkt nicht zugänglich ist. Folgt man der nicht nur von Thomas Kuhn vertretenen These, dass historische Konstellationen als Testfall für den jeweils zur Deutung herangezogenen theoretischen Rahmen zu betrachten sind, liegt es nahe, den skizzierten Deutungsrahmen Abels auf eine konkrete historische Konstellation zu beziehen, und zwar eine solche, die als besonders signifikant gelten kann, wie dies für die im 13. Jahrhundert sich ereignende Konstellation gilt, bei der der Wissensanspruch, den die christliche Offenbarungstheologie mit sich führt, auf das normative Verständnis von Wissenschaft stößt, das im Zuge der Rezeption der Zweiten Analytiken des Aristoteles im lateinischen Westen in den Blick tritt. Worin besteht in diesem Zusammenhang – so wäre am Leitfaden Abels zu fragen – die konkrete Herausforderung (1), in welcher Weise nötigt sie zu einer Differenzierung der Ebenen von Wissen (2) sowie zur Frage nach dem epistemischen Status menschlichen Wissens (3) und was folgt daraus für die Bestimmung des wissenschaftlichen Wissens, das die christliche Theologie beanspruchen kann (4)? Auf dem Hintergrund dieser Fragen kann dann in einem letzten Abschnitt Abels interpretationsphilosophische Grundthese wieder aufgenommen werden (5).
1 Der gegen Mitte des 13. Jahrhunderts virulent werdenden Herausforderung der christlichen Offenbarungstheologie durch die aristotelische Wissenschaftstheorie geht eine lange Vorgeschichte vorauf, ohne die die im 13. Jahrhundert sich ereignende Wende nicht verständlich ist.¹ Diese Vorgeschichte umfasst den der Bibel selbst entnommenen Anspruch, dass „Glauben (credere)“ als ein „vernünftiger Gehorsam (obsequium rationabile)“ (Röm 12,1) zu verstehen ist, gehört doch zum Selbstverständnis des christlichen Glaubens der in 1 Petr 3,15 artikulierte Impe-
Vgl. näher und mit Hinweisen auf die Literatur (Honnefelder 2005: 12 ff.).
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rativ, vor jedermann „Rechenschaft abzugeben von der Hoffnung, die uns beseelt“. Bei den Kirchenvätern führt dies zu dem Programm, „Einsicht in den Glauben (intellectus fidei)“ durch Indienstnahme allen verfügbaren Bildungswissens zu gewinnen. Dieser – schon zuvor im jüdischen Kontext von Philo von Alexandrien artikulierte – Anspruch kulminiert dann in Augustins These, dieses „Glaubensverständnis“ sei, weil aus göttlicher Quelle stammend, die „wahre Philosophie (vera philosophia)“ (vgl. Honnefelder 1989b: 65 f.), der als solcher nicht nur das Wissen der septem artes liberales, sondern auch die neuplatonische Metaphysik als Auslegungsmedium der Theologie zu integrieren ist. Der ‚Wille zur Rationalität‘ (vgl. Kluxen 1981: 278 – 293), der sich aus diesen Anfängen im 12. Jahrhundert im lateinischen Westen unter Indienstnahme der aus der Antike bekannten Logik und Hermeneutik entwickelt, führt bei Nikolaus von Amiens und Alanus ab Insulis sogar zu dem Versuch, die Offenbarungstheologie „more mathematicorum“ (vgl. näher Dreyer 1996: 142– 170), d. h. als deduktivaxiomatisch verfahrende Disziplin durchzuführen. Doch bleiben alle seit der karolingischen Renaissance unternommenen Versuche, die Offenbarungstheologie als rationale doctrina zu verstehen, von dem schon früh durch die sog. Antidialektiker (unter Berufung auf die Offenbarung) erhobenen Einspruch begleitet, dass der Glaube eine eigene, nicht auf Wissen zurückführbare Form der Überzeugung darstelle, die mehr und anderer Art sei als jenes Wissen, das der Mensch kraft seiner natürlichen Erkenntnisvermögen zu gewinnen vermag. Den Charakter einer Herausforderung nimmt die Auseinandersetzung um die der sacra doctrina eigene Art des Wissens an, als in einem um 1150 einsetzenden und Mitte des 13. Jahrhunderts kulminierenden Prozess die bis dato im lateinischen Westen unbekannten großen Werke des Aristoteles und seiner arabischen und hebräischen Interpreten rezipiert werden (vgl. Honnefelder et al. 2005). Die Aneignung dieser säkularen, auf Begriff und Argumentation gründenden und mit dem Anspruch von Wissenschaft auftretenden Erkenntnis der Welt geschieht in Stufen, und sie entwickelt sich – wie zuvor in der Aneignung der aristotelischen Philosophie und Wissenschaft durch die islamischen Autoren – am Leitfaden der aristotelischen Wissenschaftslehre. Es ist Dominicus Gundissalinus (ca. 1110 – 1181), der in Anlehnung an Alfarabis (870/72– 950) Schrift De ortu scientiarum das aristotelische Oeuvre als ein Netzwerk von unterschiedenen und zugleich einander zugeordneten Schriften versteht. Auf diesem Hintergrund entwickelt sich ein Verständnis der Zweiten Analytiken des Aristoteles, die der aristotelischen Schrift vor allem drei Gedanken entnimmt: der erste ist der, dass „Wissenschaft (episteme / scientia)“ ein Zusammenhang von Sätzen ist, der – so der zweite Gedanke – die Idealform einer „apodeiktischen Wissenschaft“, d. h. eines axiomatisch-deduktiven Zusammenhangs von Sätzen hat, und dass es – so der dritte Gedanke – nicht möglich ist, das wissenschaftliche Wissen in einem
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einzigen deduktiven Zusammenhang zu entfalten, sondern nur in Form einer geordneten Vielheit von Satzzusammenhängen, denen eine je eigene Hinsicht zugrunde liegt und die deshalb eine je eigene wissenschaftliche Disziplin bilden. Als um 1230 der von Averroes (1126 – 1198) verfasste Große Kommentar zu den aristotelischen Werken vollständig in lateinischer Sprache vorliegt und mit ihm die Bedeutung des skizzierten aristotelischen Wissenschaftsverständnisses über die volle Breite der von Aristoteles behandelten wissenschaftlichen Disziplinen zur Geltung kommt, wird die Herausforderung für die Autoren des lateinischen Westens unübersehbar: Kann die bis dato als sacra doctrina betriebene Theologie als „Wissenschaft (episteme / scientia)“ dieses neuen Typs überhaupt auftreten, und wenn ja, in welcher Form kann sie dann verstanden werden? Oder welchem Typ von Wissen muss sie im negativen Fall zugerechnet werden? Auf dem Spiel steht auf der einen Seite die Universalität des spezifischen Wahrheitsanspruchs der Theologie, handelt sie doch von dem das Ganze von Schöpfung und Geschichte bestimmenden Gott; auf der anderen Seite muss der Charakter ihrer Erkenntnisquelle in Form einer auf Glauben sich gründenden Offenbarung gewahrt werden. Besonderes Interesse im Blick auf die erwähnte Matrix Abels verdienen dabei die Konzepte der Theologie als Wissenschaft, mit denen Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus auf die Herausforderung reagieren.
2 Die Notwendigkeit der Stellungnahme zur Frage nach dem Charakter der Theologie ergibt sich für Albert den Großen (1200 – 1280) im Rahmen seines Kommentars zu den Sentenzen des Petrus Lombardus, die mit einer Bestimmung dessen beginnen, was unter der Theologie zu verstehen ist (zum Folgenden vgl. Albertus Magnus 2011: 380 – 395). Albert beginnt diese Stellungnahme mit der Feststellung, dass es nach Aristoteles notwendig ist, für eine jede Wissenschaft zu klären, von welchem „Zugrundeliegenden (subiectum)“ sie handelt und was sie von diesem Subjekt zu wissen beansprucht. Da nach Aristoteles die Existenz des Subjekts von der betreffenden Wissenschaft vorausgesetzt wird und die Forschung in der betreffenden Wissenschaft sich darauf bezieht, die Eigenschaften und Ursachen dieses Subjekts zu ermitteln, ist die traditionelle These Augustins, die Theologie erforsche die „Gegenstände und Zeichen (res et signa)“ nach Albert nicht weiterführend, es sei denn, man versteht die Theologie nicht als Wissenschaft (scientia), sondern als Lehre (doctrina), die nicht der Forschung, sondern der Vermittlung dient.
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Von der Theologie als Wissenschaft, so fährt Albert fort, könne man sagen, dass sie von Gott als dem vorzüglichsten Gegenstand handele. Doch könne selbst eine auf göttliche Offenbarung zurückgreifende Theologie – so der selbst gestellte Einwand – nicht in dieser absoluten Weise Gegenstand menschlichen Wissens sein; er ist dies nur, insofern er als Ursprung und Ziel in den Blick tritt. Versteht man die Theologie im eigentlichen Sinn als Wissenschaft, insoweit sie die Eigenschaften, Einteilungen und Prinzipien ihres Gegenstandes erforscht, dann ist Gegenstand der Theologie das zu Glaubende (credibile) bzw. das, was in den Glaubensartikeln (articula fidei), d. h. den Sätzen des Glaubensbekenntnisses enthalten ist. Wenn aber Gott nur unter dem Gesichtspunkt von Ursprung und Ziel Gegenstand einer zwar auf Offenbarungsglauben gründenden, aber von Menschen betriebenen Wissenschaft sein kann, dann kann die Theologie – so Albert – ihre Einheit als Wissenschaft nur von ihrem Ziel her gewinnen, nämlich dem geglückten Leben (eudaimonia) des Menschen. Sie ist deshalb – mit Aristoteles zu sprechen – weder eine theoretische noch eine praktische Wissenschaft, sondern eine dritte Form des Wissens, die Albert im Blick sowohl auf das anzueignende Subjekt als auch auf den aneignenden Menschen als eine „affektive Wissenschaft (scientia affectiva)“ bezeichnet. Man könnte in moderner Terminologie von einer weder primär auf theoretische Wahrheit noch primär auf gelungene moralische Praxis, sondern primär auf orientierenden Sinn abhebenden Wissenschaft sprechen. Die insgesamt knappen Ausführungen lassen deutlich die Konturen erkennen, mit denen Albert auf die Herausforderung reagiert: Es sind die Wissensformen, innerhalb deren Aristoteles das als Wissenschaft bezeichnete Wissen bestimmt, die Albert als Rahmen dienen, den epistemischen Status von Theologie zu bestimmen. Das Glaubenswissen wird über den Rekurs auf die Glaubensartikel als satzhaftes Wissen, freilich sui generis, bestimmt. Eine wichtige Rolle für die Qualifizierung der Theologie spielt die Reflexion auf die epistemischen Bedingungen, von denen her der Geltungsanspruch der Theologie kritisch bestimmt wird. Die Herausforderung führt zugleich dazu, den Rahmen der Wissensformen zu sprengen und mit der scientia affectiva eine Wissensform einzuführen, die man im Vorgriff auf die spätere Entwicklung als Vorform einer auf Sinn bezogenen Wissenschaft verstehen könnte.
3 Die Antwort, mit der Alberts Schüler Thomas von Aquin (1225 – 1274) bei der Bestimmung der Wissensform der Theologie auf die oben skizzierte Herausforde-
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rung reagiert, knüpft an Albert an, beschreitet aber zugleich signifikant neue Wege. Auch Thomas betrachtet die aristotelische Wissenschaftstheorie als den entscheidenden Rahmen und versteht Theologie als ein Satzsystem, in dem ein erstes subiectum hinsichtlich seiner Eigenschaften, Einteilungen und Prinzipien untersucht wird. Da das subiectum aufgrund von Offenbarung gegeben ist, durch welche die dem Menschen gezogenen epistemischen Grenzen nicht einfach aufgehoben sind, kann das subiectum der Theologie nicht Gott als Gott sein, sondern nur das durch Glauben von ihm Wissbare, das credibile (ST I q. 1 a. 1)². Und wie Albert betrachtet er dieses credibile als ein in Form der Glaubensartikel Gegebenes, das von der Theologie in Form von Schlussfolgerungen zu entfalten ist. In diesem Sinn kann Theologie im eigentlich aristotelischen Sinn als episteme, d. h. als Wissen durch Schlussfolgerung (scientia conclusionum) bzw. als Erkenntnis aus Prinzipien (cognitio ex principiis) aufgefasst werden. Allerdings bleibt in den Augen des Thomas ein erheblicher Einwand zu berücksichtigen, der sich bei dieser Anwendung der Wissensform der Wissenschaft (episteme) auf die Theologie stellt. Denn jede Wissenschaft setzt nach Aristoteles in ihrer Idealform als apodeiktische Wissenschaft voraus, dass die ersten Sätze, aus denen dann die weiteren Sätze abgeleitet werden, als durch Vorerkenntnis notwendig wahr vorausgesetzt werden können. Für die „Erste Philosophie“ sind diese ersten Sätze Prinzipien, die durch sich selbst, d. h. aufgrund der Vorerkenntnis von Subjekts- und Prädikatsbegriff als notwendig wahr oder – modern ausgedrückt – als analytisch wahr erkannt sind. Wie aber können Sätze in der Art der Glaubensartikel als Prinzipien dienen, wenn sie per definitionem nicht durch sich oder aus anderen durch sich bekannten Sätzen als notwendig wahr erkannt sind? Kann der Geltungsanspruch der Schlussfolgerungen unter diesen Dingen über einen hypothetischen Wahrheitsanspruch hinausgehen? Thomas ist sich dieser Schwierigkeit wohl bewusst. Denn er versucht seine These, Theologie sei episteme im aristotelischen Sinn, durch Rückgriff auf Aristoteles selbst zu rechtfertigen. Dazu knüpft er an eine Überlegung des Aristoteles an, die bereits Albert (vgl. Met. I tr. 2 c. 2)³ aufgefallen war, ohne dass dieser sie für die Bestimmung des Wissenschaftscharakters der Theologie genutzt hätte. Gemeint ist die Feststellung des Aristoteles (vgl. An. Post. I 2, 72a 14– 20)⁴, dass die Prinzipien einer Wissenschaft nicht in jedem Fall von Wissenschaft als evident wahr, sondern in manchen Fällen als durch Annahme (thesis) wahr erfasst werden, ohne dass dies die Wissenschaftlichkeit der betreffenden Disziplin in Frage Die Summa Theologiae des Thomas von Aquin wird im Folgenden gemäß (Thomas von Aquin 1888) zitiert. Die Metaphysik des Albertus Magnus wird gemäß (Albertus Magnus 1960) zitiert. Die Zweiten Analytiken des Aristoteles werden im Folgenden gemäß (Aristoteles 2011) zitiert.
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stellt. Denn die Prinzipien können aus einer anderen Disziplin stammen, wo sie als wahr bewiesen sind oder aber als faktisch oder vorläufig wahr unterstellt werden. An einer zweiten Stelle (vgl. An. Post. I 13, 78b 35 – 39) wird am Beispiel der Unterordnung einer Wissenschaft unter eine andere zwischen einem deduktiv (propter quid) als evident wahr erkannten Satz und einem faktisch (quia) als wahr erkannten Satz unterschieden. Was gemeint ist, wird von Aristoteles an dem Beispiel erläutert, dass die Wissenschaft der Optik unter der der Geometrie steht, weil sie aus ihr etwas als faktisch wahr übernimmt, was in der Geometrie als evident wahr erkannt wird. Schon in seinem Sentenzenkommentar (vgl. Super III Sent. d. 24 a. 2 q. 3)⁵ unterscheidet Thomas den Glauben als ein Wissen quia von der göttlichen Erkenntnis als einem Wissen propter quid. Doch erst in seinem Kommentar zu Boethius’ De trinitate (vgl. De trin. q. 2 a. 2 ad 5; q. 5 a. 1 ad 5)⁶ – und später dann in der Summa theologiae (vgl. ST I qq. 2, 3, 7) – wendet er das Modell einer Subalternation der einen unter eine andere Wissenschaft auf die Theologie an, wobei er unterscheidet zwischen der Weise der Unterordnung, in der eine Disziplin als integraler Teil einer anderen subsumiert ist (wie die Botanik der Naturwissenschaft), und einer Unterordnung im strengen Sinn der Unterordnung der einen unter die andere Disziplin (wie im Fall der Optik, die der Geometrie subalterniert ist). Im Sinn dieses zweiten Modells interpretiert Thomas die Glaubensartikel, die in der sacra doctrina durch Glauben als faktisch wahr vorausgesetzt werden, als Sätze, die in einer höheren Wissenschaft, nämlich der „Theologie der Seligen (theologia beatorum)“, in evidenter Weise als notwendig wahr erfasst werden und sieht darin die Rechtfertigung, die von uns betriebene Theologie als Wissenschaft (episteme) im aristotelischen Sinn zu verstehen. Was auf den ersten Blick wie ein bloßer Kunstgriff erscheint, ist bei näherem Zusehen die „Geltendmachung eben des Begriffs Wissenschaft“ (Chenu 2008: 123) für die im aristotelischen Netzwerk der Wissenschaften noch gar nicht vorkommende Theologie, insofern auch nach Aristoteles Wissenschaft einerseits unter dem Ideal der apodeiktischen Wissenschaft steht, auf der anderen Seite aber verschiedene Bewahrheitungssysteme umfasst und durchaus auch die Begründung des Wahrheitsanspruchs durch ‚Glauben‘ kennt, wie eben dann, wenn die Physik die Wahrheit der mathematischen Prinzipien ‚glaubt‘, die in der Mathematik bewiesen werden, wodurch ‚Glauben‘ und Rationalitätsanspruch kompatibel werden. In theologischer Hinsicht drückt sich dies für Thomas dadurch aus,
Thomas von Aquins Scriptum super Sententiis Magistri Petri Lombardi wird gemäß (Thomas von Aquin 1933) zitiert. Thomas von Aquins Super Boethium De Trinitate wird gemäß (Thomas von Aquin 1992) zitiert.
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dass das Subalternationsmodell den Glauben und die Theologie mit dem Wissen Gottes verbindet und so ihren Wahrheitsanspruch an ‚die erste Wahrheit‘ bindet. Der Glaube erhält auf diese Weise seinen Ort innerhalb der Formen des Wissens und den diesen Formen je eigenen Wahrheitsansprüchen; Theologie gewinnt den Anschluss an die Weisen der Wahrheitsvergewisserung im Modus der Wissenschaft (episteme) (vgl. Chenu 2008: 125). Dennoch hat das Modell unübersehbare Schwächen, die in der Diskussion des 13. Jahrhunderts auch prompt entsprechende Kritik auslösen (vgl. Köpf 1974: 149; Fidora 2007: 197– 200). So vermag die Subalternation nicht das Problem zu beseitigen, dass die Prinzipien der Theologie durch Glauben aus einer höheren Wissenschaft genommen werden, und dass diese übergeordnete Wissenschaft in Form der Theologie der Seligen aber dem Menschen unter seinen faktischen epistemischen Bedingungen unzugänglich ist und als solche nur unterstellt werden kann, ganz abgesehen von den Fragen, wie eine solche Theologie der Seligen zu denken ist und in welcher Weise Glaubensartikel, die letztlich der Heiligen Schrift entnommen sind, als Prinzipien gedacht werden können. Insgesamt erfolgt die Bestimmung des Wissenstyps der sacra doctrina als Wissenschaft der oben skizzierten Matrix Abels: Es erfolgt eine Einordnung unter die anderen Wissensformen, eine Charakterisierung des Geltungsanspruchs und eine Reflexion auf die epistemischen Grenzen. Zugleich erfährt die bei Aristoteles nur angedeutete Differenzierung dessen, was als Wissenschaft gelten kann, eine Ausweitung.Wissenschaft erscheint als ein Netzwerk verschiedener, je autonomer und doch aufeinander bezogener Wissenschaften.
4 Die in wissenschaftsphilosophischer Hinsicht interessanteste Antwort auf die skizzierte Herausforderung wird im 13. Jahrhundert in Kritik des thomanischen Ansatzes von Johannes Duns Scotus (ca.1264/65 – 1308) gegeben.⁷ Denn er verwendet die Unterscheidung zwischen einer „Wissenschaft in sich (scientia in se)“ und einer „Wissenschaft in uns (scientia in nobis)“ (Ord. Prol. p. 3 q. 1– 3, n. 141 u. ö.), verbindet sie mit der Unterscheidung zwischen zwei epistemischen Status sowie unterschiedlicher modaler Bedingungen des zu erkennenden Objekts, um so nicht nur den wissenschaftstheoretischen Status der Theologie, sondern auch den der Metaphysik zu bestimmen.
Bezüglich der Ausführungen zu „Wissenschaft in sich“ und „Wissenschaft in uns“ vgl. ausführlicher (Honnefelder 1994).
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Die Unterscheidung einer „Wissenschaft in sich“ und „in uns“ und ihre Anwendung auf die Theologie begegnet bereits vor Scotus bei Wilhelm von Ware (bezeugt zw. 1290 – 1305) (vgl. Super I Sent. prooem. sect. 1 n. 46)⁸, der darin von Petrus Aureoli kritisiert wird (ca. 1280 – 1322) (ibd. nn. 47– 52, 146 – 148) und zuvor bereits in ähnlicher Form in der Summa Halensis (Summa p. 1 inq. 1 tr. 5 sect. 1 q. un. nn. 163, 171)⁹. Im Hintergrund spielt dabei sicher die erwähnte Unterscheidung der aristotelischen Wissenschaftstheorie zwischen einer Wissenschaft im strengen und einer solchen im weniger strengen Sinn und die damit verbundenen Unterscheidungen zwischen einem Beweis propter quid und einem Beweis quia sowie die Unterscheidung zwischen dem an sich und dem für uns jeweils Früheren bzw. Späteren eine Rolle (vgl. An. Post. I 2, 71b 33 – 72a 5; I 13, 78a 22 – 79a 17; Met. V 11, 1018b 9 – 38)¹⁰, ferner wohl auch der aus der Verbindung von platonischer Ideenlehre und christlichem Schöpfungsbegriff hervorgehende Begriff einer Wissenschaft, wie sie der göttliche Verstand von allen Dingen vorweg zum kontingenten Akt der Schöpfung hat, sowie die trinitätstheologische Vorstellung von einer Erkenntnis, die das göttliche Wort von Ewigkeit her von allem besitzt (vgl. De Trinitate XV, 13, 15)¹¹. Auch spielt die in der augustinisch-franziskanischen Tradition besonders urgierte heilsgeschichtliche Unterscheidung verschiedener Status des Menschen eine Rolle. Scotus wendet die Unterscheidung zwischen einer „Wissenschaft in sich“ und „in uns“ im Rahmen der Gegenstandsbestimmung der Theologie an, um die Art der Erkenntnis „unserer Theologie“ von der „Theologie Gottes oder der Seligen“ zu unterscheiden¹², er benutzt sie auch zu einer eingehenden Bestimmung des Gegenstandes und der Wissenschaftlichkeit der Theologie; ferner zur Klärung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie sowie zur Beantwortung der (für das Verhältnis zur Theologie wichtigen) Frage nach Möglichkeit und Grenze der Metaphysik (vgl. dazu insgesamt Honnefelder 1989a: 1– 143). Bemerkenswert ist die Verbindung dieser Unterscheidung mit den beiden aristotelischen Begriffen „Subjekt einer Wissenschaft“ und „Objekt eines Vermögens“. Mit dem ersten Terminus bezieht sich Scotus auf den schon erwähnten aristotelischen Begriff von „Wissenschaft (episteme / scientia)“ (vgl. EN VI 3, 1139b
Das Scriptum Super Primum Sententiarum des Peter Aureoli wird gemäß (Petrus Aureoli 1952) zitiert. Vgl. dazu auch (Guelluy 1947: 67– 72). Die Summa Theologica des Alexander Halensis wird gemäß (Alexander von Hales 1924) zitiert. Die Metaphysik des Aristoteles wird im Folgenden gemäß (Aristoteles 1989) und (Aristoteles 2009) zitiert. Augustinus’ De Trinitate wird gemäß (Augustinus 1968) zitiert. Vgl. dazu Anm. 7.
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31– 35; An. Post. I 2, 71b 17– 22)¹³, insofern er einen bestimmten epistemischen Modus, nämlich den des Wissens, das der Vernunftsseele in Form einer habituellen Qualität zukommt, und ein sicheres Wissen von einem durch syllogistischen Beweis als notwendig wahr erkannten Satz darstellt (vgl. Met.VI q. 1 n. 39 f.)¹⁴. Mit subiectum fasst Scotus dabei zusammen, was Aristoteles in An. Post. I 28 u. ö. als Gattung einer Wissenschaft und in An. Post. I 7 und in Met. XI 4 als hypokeimenon einer Wissenschaft bezeichnet (vgl. An. Post. I 28, 87a 38 f.; Met. XI 4, 1061b 31). Je nachdem, ob die Ableitung des in Form von Wissenschaft gewussten Satzes darin besteht, ob die Zugehörigkeit des Prädikats zum Subjekt entweder in seinem Warum (propter quid) oder nur in seinem Dass (quia) erfasst wird, liegt eine „Wissenschaft in sich“ vor oder eine Wissenschaft, die diesen Zusammenhang nur so erfasst, wie er sich für uns darstellt, d. h. eine „Wissenschaft in uns“ (vgl. Duns Scotus 1927: 384). Mit Hilfe dieser epistemischen Bestimmung kann Scotus „Wissenschaft“ als einen bestimmten Satz- bzw. Begründungszusammenhang verstehen und diesen Satz- bzw. Begründungszusammenhang zugleich auf die Leistung des erkennenden Verstandes beziehen.Was auf diese Weise als Wissenschaft eines in seiner Erkenntnisleistung nicht eingeschränkten Verstandes, d. h. als Wissenschaft in sich erscheint, ist dann nichts anderes als der Satzzusammenhang, wie er sich als solcher darstellt. Damit kann Scotus Gegenstand und Einheit einer Wissenschaft vom satztheoretischen Zusammenhang her bestimmen, und zugleich diese Ordnung abheben von der Ordnung, wie sie sich für einen in seiner Erkenntnisleistung eingeschränkten Verstand zeigt. Gegenstand einer Wissenschaft, die mehr als nur einen Satz umfasst, ist daher das „erste Subjekt“ (subiectum primum), nämlich jenes Subjekt, dessen begriffliche, washeitliche Erkenntnis virtuell die Erkenntnis aller anderen Sätze dieser Wissenschaft enthält und aus dem ein in seiner Erkenntnisleistung nicht eingeschränkter Verstand die Prinzipien und Schlussfolgerungen der betreffenden Wissenschaft, kurz das gesamte zu ihr gehörige wissbare Wissen propter quid abzuleiten vermag. Die Einheit einer Wissenschaft ist die Einheit ihres ersten Subjekts, also die Einheit eines Satz- und Begründungszusammenhangs. Das aber bedeutet, dass ein in seiner Leistung eingeschränkter Verstand einzelne Sätze je für sich zu erkennen vermag, die dem satztheoretischen Zusammenhang nach, wie er sich an sich darstellt, zu ein und der gleichen Wissenschaft gehören.
Die Nikomachische Ethik des Aristoteles wird gemäß (Aristoteles 1985) zitiert. Die Quaestiones super libros metaphysicorum Aristotelis des Johannes Duns Scotus werden gemäß (Duns Scotus 1997) zitiert.
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Von dem (satzlogischen) Begriff des Subjekts unterscheidet Scotus den (vermögenspsychologischen Begriff) des Objekts (obiectum) eines Vermögens, das sich zum Vermögen (potentia) und zu dessen Habitus wie die Ursache zur Wirkung verhält.¹⁵ „Erstes Objekt“ in der Ordnung der Angemessenheit ist dann dasjenige Objekt, das dem Vermögen vollständig angemessen ist, insofern es in virtueller Kausalität alle Erkenntnisse zu verursachen vermag, zu denen das betreffende Vermögen fähig ist (vgl. Ord. prol. p. 3 q. 1– 3 n. 142)¹⁶. In der Wissenschaft, wie sie in sich wissbar ist, kann das erste Subjekt mit dem ersten Objekt zusammenfallen, nicht aber im Fall der Wissenschaft, wie sie für uns möglich ist. Hier zeichnen die Grenzen, in denen das erste Objekt des Vermögens erreicht werden kann, die Grenzen für das Subjekt der uns möglichen Wissenschaft vor. Oder anders ausgedrückt: In welchem Maß der Satzzusammenhang einer Wissenschaft von uns erkannt werden kann, hängt von der Bestimmung der Grenzen des Vermögens, also von der Kritik der Vernunft ab. In Bezug auf das Objekt eines Vermögens wie das des Verstandes unterscheidet Scotus, wie schon erwähnt, noch einmal zwischen verschiedenen Status in epistemischer Hinsicht. Das erste Objekt eines Vermögens kann nämlich entweder der Reichweite des Vermögens nach (ex ratione potentiae) oder aber dem derzeitigen Zustand nach (in aliquo statu) betrachtet werden, worunter eine stabilis permanentia zu verstehen ist (vgl. Ord. I d. 3 p. 1 q. 3 nn. 186 – 187), die in Folge der Erbsünde oder der zur Schöpfung gehörigen wechelseitigen Verwiesenheit der Vermögen wegen (vgl. Quodl. q. 14 n. 12 im Anschluss an Augustinus) besteht¹⁷, wie sie „der Natur der Vermögen für diesen Zustand“ entspricht (vgl. Ord. I d. 3 p. 1 q. 3 nn. 186 – 187). Nach der zweiten Deutung ist der faktische Status nicht der „unbedingt natürliche“ (vgl. ibd.), aber auch nicht ein willkürlicher, sondern ein der Möglichkeit der Vermögen entsprechendes Aufeinanderabgestimmtsein. Die Unterscheidung verschiedener Status gewinnt ihre maßgebliche Bedeutung durch die scotische These, dass die Vernunft (intellectus) als eine reine Vollkommenheit (perfectio simpliciter) und damit als ein Vermögen betrachtet werden muss, das als solches, d. h. seiner Natur nach, unter den verschiedensten Zustandsbedingungen identisch bleibt (vgl. Ord. I d. 3 p. 1 q. 3 n. 127). Betrifft der Status aber nur die Bedingungen, nicht die Natur des Vermögens, kann auch in Bezug auf das menschliche Erkennen sinnvoll zwischen einer der Sache nach
Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher (Honnefelder 1989a: 3 – 19; 55 – 143). Die Ordinatio des Johannes Duns Scotus wird im Folgenden gemäß (Duns Scotus 1950) und (Duns Scotus 1954) zitiert. Die Quaestiones quodlibetales des Duns Scotus werden im Folgenden gemäß (Duns Scotus 1895) zitiert.
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bestehenden Zuordnung von Vermögen und Erkenntnisgegenstand und einer solchen im gegenwärtigen Zustand unterschieden werden. Erst auf diesem epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Hintergrund kann die Frage nach dem Gegenstand der Theologie (wie auch der Metaphysik) bestimmt werden: Theologie, wie sie „in sich“ möglich ist, ist jenes Wissen, das nur ein dem Gegenstand der Theologie, nämlich Gott, angemessener Verstand zu erfassen vermag, also allein der göttliche Verstand, und dies betrifft sowohl die Theologie der notwendigen Wahrheiten wie die der kontingenten, nämlich der auf die frei-kontingenten Willensentschlüsse Gottes ad extra zurückgehenden Wahrheiten. Nur diese Theologie erfüllt den Idealbegriff von Wissenschaft, wie ihn die Zweiten Analytiken definieren, wenn sie – so Scotus – unter Wissenschaft (1) eine sichere Erkenntnis versteht, (2) die etwas Notwendiges zum Inhalt hat, (3) von einer Ursache hervorgerufen wird, die dem Verstand evident gegeben ist, und (4) dieses Notwendige als ein solches erfasst, das aus der evident erkannten Ursache durch syllogistischen Diskurs abgeleitet werden kann (vgl. Ord. prol. p. 4 q. 1– 2 n. 208). Einzig der Diskurs wird im Fall des göttlichen Wissens durch eine schauende Erkenntnis ersetzt. Die Theologie, wie sie uns möglich ist (theologia nostra), kann diesem Begriff von Wissenschaft nicht entsprechen. Denn sie kann aufgrund der epistemischen Begrenztheit des menschlichen Verstandes Gott nicht erkennen, wie er in sich ist, hat also kein „erstes Objekt“ im eigentlichen Sinn, sondern nur ein „erstes Subjekt“ im Sinn des Satzsubjekts, dem sie das zuzuschreiben vermag, was Gott aufgrund der in der hl. Schrift niedergelegten Offenbarung von sich faktisch zu erkennen gibt. Sie kann deshalb nach Scotus Wissenschaft nicht im strengen Sinn der Zweiten Analytiken, sondern nur im weiteren Sinn der Nikomachischen Ethik genannt werden, wenn dort unter „Wissenschaft“ der Habitus des Wissens verstanden wird, „durch den wir bestimmt das Wahre aussagen“ (vgl. EN VI 4, 1139b 15 – 18; Ord. prol. p. 4 q. 1– 2 n. 212). Was wir in Form von „Wissenschaft“ wissen können, so macht die scotische Gegenstandsbestimmung der „Theologie“ deutlich, hängt ganz und gar davon ab, was unser Erkenntnisvermögen seinem Vermögen nach sowie den gegenwärtigen Bedingungen nach zu erkennen vermag. Es ist die ‚Kritik der Vernunft‘, die Scotus in Form der Frage nach dem ersten dem menschlichen Verstand der Natur seines Vermögens nach angemessenen, alles Erkennbare umfassenden Objekt stellt, von der es abhängt, in welcher Weise es Theologie als eine Wissenschaft von Gott oder eine „Erste Philosophie“ bzw. Metaphysik als Wissenschaft vom Seienden als Seienden geben kann. Wie diese im Prolog seiner Sentenzenkommentierung von Scotus betriebene Kritik der Vernunft ergibt, ist weder das ausgezeichnete Seiende Gottes oder der Substanz möglicher Gegenstand einer von uns betriebenen Wissenschaft, noch das „Seiende als Seiendes“, insofern es alles Seiende in virtueller
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Kausalität umfasst. Was die „Erste Philosophie“ erkennen kann, ist der von allem Seienden aussagbare und damit die Kategorien „übersteigende (transcendens)“ Begriff des „Seienden“. Sie ist nicht möglich als Wissenschaft vom transzendenten Seienden (sei es Gott oder die Substanz), sondern nur von den allgemeinsten, selbst die Kategorien noch übersteigenden (transzendentalen) Begriffen wie „Seiendes (ens)“, weshalb Scotus sie auch die „übersteigende Wissenschaft (scientia transcendens)“ nennt. Im Horizont dieser Begriffe kann die „Erste Philosophie“ auch den Begriff eines „unendlichen Seienden (ens infinitum)“ bilden und durch einen aposteriorischen Beweis zeigen, dass dieser Begriff nicht leer ist. Es ist dann dieser Begriff des ens infinitum, den die Theologie als Begriff für ihr „erstes Subjekt“ benutzt – gleichsam stellvertretend für den ihr nicht zugänglichen Begriff „Gott“ –, um von ihm die Prädikate auszusagen, die der Offenbarungsglaube Gott zuschreibt. Da das „erste Subjekt“, das die Theologie auf diese Weise untersucht, nur angemessen erkannt ist, wenn es nicht nur als Gegenstand des Verstandes, sondern auch als Gegenstand des Willens (nämlich in Form der „Liebe (caritas)“) erfasst ist, ist die Theologie (im Unterschied zur Metaphysik) ihrem Gegenstand nach „praktische Wissenschaft“.
5 Kann auf der Basis eines Glaubens an eine in Sätzen sich niederschlagende göttliche Offenbarung ein Wissen gewonnen werden, das den Charakter nicht nur einer Lehre, sondern einer Wissenschaft hat? Wie die skizzierten Positionen zeigen, ist es die in dieser Frage enthaltene Herausforderung, die bei Albert dem Großen, Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus dazu führt, die bestehenden Theorien des Wissens in bestimmter Weise zu differenzieren und zu erweitern: – Es ist der Ausgang von Wissen in Form des Glaubens, der dazu nötigt, den Geltungsanspruch von solchen Sätzen zu reflektieren, die weder ein Ausdruck bloßer Meinung sind, noch den Charakter von selbstevidenten oder syllogistisch begründeten Sätzen haben. – Da als Ursprung der Wissensform des Glaubens ein ad extra frei und kontingent wollender Gott angenommen wird, verschärft sich die epistemologische Transzendenz: der ‚Gottesgesichtspunkt‘ ist nicht nur aufgrund der ontologischen, sondern auch der voluntativen Transzendenz Gottes dem Menschen entzogen. – Insofern die Vollkommenheit des sich offenbarenden Gottes ausschließt, dass sein kontingentes Wollen ad extra nicht seiner Einsicht folgt, muss von dem
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dem Menschen entzogenen Wissen Gottes angenommen werden, dass es gleichwohl als solches intelligibel ist. Der ‚Gottesgesichtspunkt‘ impliziert die Annahme einer durchgehenden Intelligibilität. Nicht nur dem durch Glaube an eine (satzhaft ergehende) Offenbarung gewonnenen Wissen, sondern auch dem Gott zugesprochenen Wissen wird ein satzhafter Charakter zugesprochen. Da von dem durch Glaube an Offenbarung gewonnenen Wissen angenommen wird, dass es Vorform eines den Menschen endgültig erfüllenden Wissens ist, stellt sich die Frage, ob dieses Wissen als theoretisch oder praktisch oder etwas Drittes zu bestimmen ist.
Die Antwort auf diese Herausforderung führt bei den drei Autoren zu verschiedenen Konsequenzen. Unter ihnen verdienen im Blick auf die Wissenschaftsphilosophie bestimmte Aspekte der besonderen Hervorhebung: – Um an der verschärften epistemischen Differenz, die den Glauben vom (apodiktischen) Wissen trennt, und an der zugleich konstatierten Intelligibilität Gottes und seines Handelns ad extra festhalten zu können, wird in einem ersten Entwicklungsschritt (Thomas von Aquin) die „Theologie Gottes“ bzw. die „Theologie der Seligen“ als Bezugsgröße eingeführt. Da dies auf das Wissen eines epistemisch nicht eingeschränkten Erkenntnisvermögens hinausläuft, folgt in einem zweiten Entwicklungsschritt (Duns Scotus) die Deutung dieser Theologie als einer „Wissenschaft in sich“. – Die Erklärung der zu unterscheidenden epistemischen Status durch heilsgeschichtlich orientierte Gründe wird zunehmend ersetzt durch Gründe, die in den naturalen Bedingungen liegen, denen das menschliche Erkenntnisvermögen unterliegt (Leibgebundenheit; Ausgang von der Sinneserfahrung). – Die Konstruktion der Art von Wissenschaft, die auf Wissen in Form von Glauben zurückgeht, wird zunächst (so Thomas von Aquin) im Rahmen des Begriffs von Wissenschaft gesucht, wie er sich in den Zweiten Analytiken findet, und dort mit dem einer Wissenschaft identifiziert, die einer anderen untergeordnet ist und ihre Prinzipien nur quia, nicht propter quid als wahr annimmt. Da diese Lösung (vgl. Lect. III d.24 q.un. nn.14– 22; 48 – 79¹⁸) die bleibende Verwiesenheit „unserer Theologie“ auf Glauben als Form der Annahme ihrer Prinzipien relativiert und zu Unrecht eine kausale Abhängigkeit „unserer Theologie“ von der „Theologie der Seligen“ unterstellt, kann die Wissenschaftlichkeit „unserer Theologie“ Scotus zufolge nicht nach dem
Vgl. dazu und zum Folgenden (Honnefelder 1989a: 17 ff.). – Die Lectura des Johannes Duns Scotus wird gemäß (Duns Scotus 2004) zitiert.
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strengen Wissenschaftsbegriff der Zweiten Analytiken aufgefasst werden, sondern muss als Wissenschaft in dem weiteren Sinn eines – wie Augustinus formuliert – „Wissens mit fester Zustimmung (notitia cum adhaesione firma)“ bzw. als jene episteme verstanden werden, die Aristoteles in NE VI 3 als einen Habitus bezeichnet, „durch den wir (zwar nicht aufgrund der Einsicht in die Termini, wohl aber aufgrund anderer Erkenntnisquellen) bestimmt das Wahre aussagen“. Nur so wahrt die Theologie nach Scotus die Eigenschaft, keiner anderen Wissenschaft subalterniert zu sein, noch eine andere sich selbst zu subalternieren. Bis hier hin folgt die dargestellte Diskussion in ihren Strukturen der von Abel in ihren Grundzügen beschriebenen Matrix der Wissenschaftsphilosophie. Doch bleibt die Frage, warum mit dem letzten Entwicklungsschritt (Scotus) die Einordnung in die Wissenschaftstheorie der Zweiten Analytiken aufgegeben, am Bezug auf eine „Wissenschaft in sich“ aber festgehalten wird. Wird damit eine – von Abel als unhaltbar angenommene – Position einer von Interpretations- und Zeichensystemen unabhängigen Form des Wissens unterstellt? Gegen die Vermutung, dass Scotus eine solche Unabhängigkeitsthese vertreten hat, könnte angeführt werden, dass er auch von der „Theologie in sich“ als einer Form der „Wissenschaft in sich“ annimmt, dass sie sich in Sätzen ausspricht, wobei dies angesichts der für Gott anzunehmenden immutabilitas keinen discursus, also keinen Erkenntniszuwachs nach vorherigem Erkenntnismangel einschließen kann, sondern als Ausdruck einer anschauenden Erkenntnis gedeutet werden muss. Auf der anderen Seite steht der Begriff der „Theologie in sich“ wie der der „Wissenschaft in sich“ offensichtlich für die Annahme, dass diese ideale, epistemisch uneingeschränkte Wissenschaft die erkannten Gehalte so erfasst, wie sie in sich sind, und nicht nur, wie sie sich epistemisch für uns darstellen. Was rechtfertigt aber die Annahme, dass es eine solche „Wissenschaft in sich“ gibt, wenn sie „für uns“ unzugänglich ist? Folgt man der Argumentation bei Scotus, muss ein als göttlich gedachter Verstand die von ihm erfassten Gehalte so erkennen, wie sie in sich sind, bringt er sie doch als schlechthin erste Ursache in das Intelligibelsein hervor. Das aber heißt, dass die göttliche Erkenntnis dieser Gehalte (im Gefolge Augustins) als eine Hervorbringung von „Ideen“ im göttlichen Verstand gedacht werden muss, als solche also eine durch ‚Zeichen‘ vermittelte Erkenntnis darstellt, dass diese Erkenntnis auf der anderen Seite nicht-epistemisch in dem Sinn ist, dass sie – anders als die menschliche Erkenntnis – keiner epistemischen Einschränkung unterliegt. Die Annahme eines uns unzugänglichen göttlichen (also uneingeschränkten) Verstandes liegt also für die mittelalterlichen Autoren nicht nur nahe, weil sie als
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Theologen von der Existenz Gottes ausgehen.Was sie zu dieser Annahme führt, ist die Tatsache, dass wir auch die „Wissenschaft für uns“ für Wissen halten, also mit einem Wahrheitsanspruch verbinden. So gehen wir dann, wenn wir vom Gegenstand (obiectum) unserer Theologie sprechen, davon aus, dass er mit dem Gegenstand (obiectum) der Theologie in sich identisch ist, auch wenn dieser Gegenstand, wie er in sich ist, für unseren Verstand unzugänglich bleibt, gäbe doch andernfalls unsere Theologie ihren Anspruch auf, ein wirkliches (wenn auch eingeschränktes) Wissen von diesem Gegenstand zu sein. Damit begegnen wir der Problemstellung, wie sie die jüngere Debatte um Realismus oder Anti-Realismus in der sprachanalytischen Philosophie kennzeichnet.¹⁹ Wie könnte – so der eine Pol in dieser Debatte – die in dem Wahrheitsanspruch von deklarativen Sätzen implizierte Übereinstimmung mit dem Sachverhalt im Sinn eines ‚externen Realismus‘ verstanden werden, ohne dass man damit die unhaltbare Annahme eines ‚Gottesgesichtspunkts‘ unterstellte? Wie aber könnte umgekehrt – so der andere Pol der Debatte – die (mit der Unzugänglichkeit eines ‚Gottesgesichtspunkts‘ begründete) Position eines ‚Antirealismus‘ in Bezug auf unsere deklarativen Sätze eingenommen werden, ohne die Differenz zwischen ‚für wahr gehalten werden‘ und ‚wahr sein‘ für irrelevant zu erklären und damit die Unterscheidung zwischen Meinen und Wissen aufzuheben? Ist aber diese Differenz mit dem Geltungsanspruch unserer in deklarativen Sätzen sich niederschlagenden Erkenntnis unaufgebbar verbunden und soll diese Erkenntnis trotz der eingeschränkten epistemischen Bedingungen zu Wissen führen, ist es verständlich, warum I. Kant ungeachtet der Betonung der epistemischen Einschränkung unseres Verstandes eine Bezugnahme auf einen uneingeschränkten göttlichen Verstand als intellectus archetypus für unverzichtbar hält und an dem Bezug der Erkenntnis der uns gegebenen Realität auf eine Realität an sich festhält (vgl. KU B 350 f.; KrV B 145, B 723). In ähnlicher Weise könnte man auf Ch. S. Peirce verweisen, wenn er in seiner theory of reality den Begriff der Realität als etwas bestimmt, das zwar nur in der Weise des semiotisch vermittelten Gedachtseins begegnet, aber gedacht wird als eine Weise der Nicht-Abhängigkeit vom Gedachtsein im je meinigen Denken.²⁰ Offensichtlich erreicht bereits die wissenschaftsphilosophische Entwicklung im 13. Jahrhundert in Antwort auf die skizzierte Herausforderung ein Konzept, das – Kant und Peirce vorwegnehmend – eine Art von internem Realismus darstellt, insofern ein Verweisungszusammenhang zwischen verschiedenen Formen
Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlicher (Honnefelder 1995). Vgl. dazu näher (Honnefelder 1990: 382– 402).
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bzw. Stufen des Wissens angenommen wird, der durch den Bezug auf ein Wissen in Form einer „Wissenschaft in sich“ den Bezug auf eine nicht-epistemische Wahrheit nach Art einer regulativen Idee festhält, wodurch der Realitäts- und Wahrheitsbezug gewahrt werden kann, der den transkategorialen Begriffen unseres Verstandes eigen ist, mit denen wir auf die Gegenstände der Welt Bezug nehmen, ohne dass dafür ein „Gottesgesichtspunkt“ in Anspruch genommen werden müsste. Bezogen auf die eingangs genannte Zentralthese in Abels Rekonstruktion der Wissenschaftsphilosophie läuft dies auf die Frage hinaus, ob und inwieweit eine durchgehende Interpretations- und Zeichenabhängigkeit unseres Wissens von Welt, um Wissen von Welt zu sein, nicht nur den internen Bezug auf nicht-epistemische Wahrheit nicht ausschließt, sondern vielmehr fordert – eine Frage, die zu ihrer Erörterung freilich mehr als nur philosophiehistorische Vergleiche erfordert.
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Albertus Magnus 1960: Metaphysica, (Opera Omnia, Editio Coloniensis, Bd. XVI), Münster. Albertus Magnus 2011: Super I Sententiarum d. 1, in: Möhle, Hannes et al. (Hg.): Albertus Magnus und sein System der Wissenschaften. Schlüsseltexte in Übersetzung, Münster, S. 378 – 397. Alexander von Hales 1924: Summa Theologica, t. 1, (Ed. B. Klumper), Quaracchi. Aristoteles 1985: Nikomachische Ethik, hg. v. G. Bien, 4. Aufl. Hamburg. Aristoteles 1989: Metaphysik I – VI, hg. v. H. Seidl, 3. Aufl. Hamburg. Aristoteles 2009: Metaphysik VII – XIV, hg. v. H. Seidl, 4. Aufl. Hamburg. Aristoteles 2011: Zweite Analytik, hg. v. W. Detel, Hamburg. Augustinus 1968: De trinitate libri XIII – XV, hg. v. W. J. Mountain u. F. Glorie, Turnhout (CCSL 50a). Chenu, Marie–Dominique 2008: Die Theologie als Wissenschaft im 13. Jahrhundert, Ostfildern. Dreyer, Mechthild 1996: More mathematicorum. Rezeption und Transformation der antiken Gestalten wissenschaftlichen Wissens im 12. Jahrhundert, Münster (BGPhThM, NF 47). Duns Scotus, Johannes 1895: Quaestiones Quodlibetales XIV – XXI, (Opera omnia, Ed. Vivès, Bd. XXVI), Paris. Duns Scotus, Johannes 1927: De cognitione Dei, in: Harris, Charles R. S.: Duns Scotus, Vol. II: The Philosophical Doctrines of Duns Scotus, Oxford (Nachdruck New York 1959), S. 379 – 398. Duns Scotus, Johannes 1950: Ordinatio prol., (Opera omnia, Ed. Vat., Bd. I), Civitas Vaticana. Duns Scotus, Johannes 1954: Ordinatio I d. 3, (Opera omnia, Ed. Vat., Bd. III), Civitas Vaticana. Duns Scotus, Johannes 1997: Quaestiones super libros metaphysicorum Aristotelis, VI – IX, hg. v. R. Andrews, G. Etzkorn et al., (Opera philosophica, Bd. IV), St. Bonaventure.
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Pluralität der Wissensformen und deren Realitätshaltigkeit Replik zum Beitrag von Ludger Honnefelder Ludger Honnefelder setzt in seinem Beitrag die in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] sowie der kritischen Wissensforschung entwickelten Deutungsrahmen und Instrumente zur Analyse einer konkreten historischen Konstellation ein. Dabei geht es nicht um irgendeine Konstellation. Es geht um die Konstellation gegen Mitte des 13. Jahrhunderts, die für die abendländische Entwicklung von Theologie, Wissenschaft und Philosophie sowie für die Entwicklung dessen, was wir als neuzeitliche Rationalität adressieren, von signifikanter Bedeutung war. Die ZuI-philosophischen Deutungsmuster werden eingesetzt zur Rekonstruktion und Analyse der mit den Namen Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus verbundenen großen theologischen sowie philosophischen und auf Aristoteles’ Konzeption von Wissenschaft bezogenen Debatten. Vor allem bei Duns Scotus geht es dabei zugleich, wie Hans Blumenberg betont hat, um den theoretischen Ursprung der neuzeitlichen Rationalität. Dieser Einsatz des Rahmens und der Werkzeuge der ZuI-Philosophie in sowohl historischer als auch systematischer Hinsicht ist für mich sehr spannend und aufschlussreich. Wie im Titel von Honnefelders Beitrag formuliert, tritt sowohl die Wissenschaft selbst als ein Zeichen- und Interpretationsprozess als auch die Verwissenschaftlichung der Theologie und die damit verbundene Transformation des Wissenschaftsbegriffs im 13. Jahrhundert plastisch vor Augen. Honnefelder testet den ZuI-philosophischen Ansatz auf seine Leistungsfähigkeit an dieser historisch exemplarischen und systematisch höchst signifikanten Stelle. Nach seinen eigenen Worten folgt die in seinem Beitrag „dargestellte Diskussion in ihren Strukturen“ der in der ZuI-Philosophie „in ihren Grundzügen beschriebenen Matrix der Wissenschaftsphilosophie“ (Honnefelder-Beitrag, Kap. 5). Honnefelders Beitrag führt an dem von ihm gewählten historischen Beispiel die folgenden und in der ZuI-Philosophie zentralen Punkte vor Augen: (a) dass Wissen und Wissenschaft als ZuI-Prozesse konzipiert werden können, (b) dass Wissens- und Wissenschafts-Entwicklungen als ZuI-Entwicklungen rekonstruiert werden können, (c) dass die Herausbildung und Entwicklung der jeweiligen kultur- und epochenspezifischen Begriffe des Wissens und der Wissenschaften in ihren jeweiligen Netzwerken mit unterschiedlichen Formen des Wissens und deren internen Unterscheidungen zu verorten sind, (d) dass alle vorgenannten https://doi.org/10.1515/9783110522280-037
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Punkte in die Fragen nach dem epistemischen und epistemologischen Status der Wissens- und Wissenschaftsformen verstrickt sind und (e) dass die Grundthese der ZuI-Philosophie (derzufolge uns als endlichen Geistern ein von Zeichen- und Interpretationssystemen gänzlich unabhängiges Wissen, ein Wissen nach Gottesmaß, unter kritischem Vorzeichen nicht zugänglich ist) auch im Blick auf die Mitte des 13. Jahrhunderts wichtige Frage nach dem Verhältnis zwischen dem normativen Verständnis von Wissenschaft und der christlichen Offenbarungstheologie von grundlegender Relevanz ist. Im letzten Teil seiner Ausführungen schließt Honnefelder eigene sytematische Überlegungen an, die an zwei Stellen den Kern des Programms der ZuIPhilosophie und der Wissensforschung betreffen: zum einen die Frage der Möglichkeit eines nicht-epistemischen Wissens und zum anderen die Frage des mit dem menschlichen Wissen verbundenen Realitäts- und Wahrheitsanspruchs. Auf beide Fragen muss die ZuI-Philosophie Antworten geben. Im Folgenden gehe ich nicht auf die Honnefelderschen Rekonstruktionen der Positionen der drei Autoren Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus ein. Hier ist Honnefelder die international bestens ausgewiesene Autorität. Vielmehr möchte ich kurz einige systematische Punkte in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und erörtern, die ich der Debatte entnehme und die im Blick auf das charakteristische Profil der ZuI-Philosophie und der Wissensforschung wichtig sind. Diese Punkte sind: 1. Die irreduzible Pluralität der Wissensformen. 2. Nicht-epistemisches Wissen. 3. Wissenschaft und Unsicherheit. 4. Realitätshaltigkeit der Interpretation und des Wissens.
1 Die irreduzible Pluralität der Wissensformen Verschiedentlich habe ich bereits betont, dass ich die ZuI-Philosophie stärker in der Linie der Aristotelischen (und von dort weiter dann der Leibnizschen und Kantischen) Philosophie als in der Linie des Platonismus sehe. Dieser Punkt wird vor allem dann deutlich, wenn es um das wissenschaftliche Denken und um Wissenschaft (episteme / scientia) geht. In dem von Honnefelder aufgerufenen Diskurs geht es vor allem um die Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Philosophie – mit der theoretischen Philosophie (wie sie sich mit ihrem Ideal der Wissenschaft als eines Systems deduktiv zusammenhängender Sätze manifestiert) ebenso wie der praktischen Philosophie (wie sie sich in Bezug auf das menschliche Handeln vornehmlich in den in der Nikomachischen Ethik beschriebenen, nicht axiomatisch-deduktiven Wissensformen zeigt). In der ZuI-Philosophie und der systematischen Wissensforschung wird von einer irreduziblen Pluralität der Wissensformen (z. B. des theoretischen, prakti-
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schen, technischen, ethischen, ästhetischen, alltäglichen, sprachlichen, bildhaften Wissens) ausgegangen. Dies zu sagen, heißt zunächst, die Platonistische Vorstellung von ‚Der Einen Höchsten Und Perfekten Wissensform‘ zugunsten der Pluralität zurückzulassen und in den Raum unterschiedlicher und gleichermaßen legitimer Formen des Wissens überzugehen. Innerhalb dieser Pluralität können dann die einzelnen Wissensformen sowie deren Verhältnisse untereinander bestimmt werden. Im Detail können diese Prozesse hier nicht dargelegt werden (vgl. dazu neben ZdW Teil III vor allem Abel 2012). Die auf diese Weise basal gesetzte Pluralität darf jedoch keineswegs mit einem Relativismus verwechselt werden (wenngleich wir nach der anderen Seite auch nicht gleich so weit gehen müssen wie Aristoteles, dessen Ideal in einer ‚apodeiktischen Wissenschaft‘ im Sinne eines axiomatisch-deduktiven Zusammenhangs von Sätzen besteht). Die Pluralität steht vielmehr unter Restriktionen. Was als Wissen gelten kann, unterliegt strengen Anforderungen. Wissensansprüche müssen sich nach der Seite der grundbegrifflichen Klärung ebenso behaupten wie nach der Seite der Kohärenzanforderungen im Rahmen unserer Erfahrungswirklichkeit, mithin im Zusammenhang mit anderen Personen, mit denen wir kommunizieren und kooperieren, und mit der Welt, in der wir leben und uns orientieren. Unser Interesse an Kommunikation, Kooperation und Kognition unterläuft die Möglichkeit des Relativismus. Es wird nicht überraschen zu hören, dass ich mit Blick auf die epistemische Situation des Menschen die von Honnefelder rekonstruierte Strategie von Albertus Magnus für aussichtslos halte, das Gesamtgeflecht der menschlichen Wissensformen sprengen und in Form einer „scientia affectiva“ eine neue Wissensform einführen zu wollen, um auf diese Weise dem „Glaubenswissen“ seine primordiale Stellung göttlichen und perfekten Wissens angesichts der Aristotelischen Herausforderung zurückzugewinnen (Kap. 2). Diese Kritik sei an einem Beispiel aus der historischen Debatte des 13. Jahrhunderts selbst erläutert. In der ZuI-Philosophie sind das physikalische und das mathematische Wissen zwei unterschiedliche Wissensformen, deren Unterschiede sich ausbuchstabieren lassen. Und auch ist es so, wie Aristoteles betont, dass eine Form des Wissens ihren Beweis nach Art eines „Subalternationsmodells“ (Kap. 3) aus einer anderen Wissenschaft ziehen kann. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn ein in der Mathematik bewiesenes Prinzip in der Physik zur Anwendung kommt. Aber aus diesem Modell folgt nicht der bei Thomas von Aquin entwickelte Gedanke, dass es dann unterschiedliche „Bewahrheitungssysteme“ gibt und dass damit „durchaus auch die Begründung des Wahrheitsanspruchs durch ‚Glauben‘“ möglich sei (ebd.). Natürlich ist auch diese Figur von Thomas vorwiegend angesichts der aus seiner Sicht ungeheuerlichen Herausforderung auf die Bahn gebracht worden, welche die Aristotelische Konzeption der Wissenschaft für die christliche Offen-
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barungstheologie darstellte. Nur im Lichte dieser Herausforderung und im Lichte des Anspruchs, theologisches Wissen als ein Wissen im Sinne von Wissenschaft ansehen zu wollen, ist für die Theologie das Verhältnis von christlicher Offenbarungstheologie und Aristotelischer Wissenschaft die Herausforderung, die sie gegen Mitte des 13. Jahrhunderts ist. In der Neuzeit und zumal in der Gegenwart, mithin auch in der ZuI-Philosophie, wird das Verhältnis von Glauben und Wissen entlang anders gearteter Figuren thematisch, zum Beispiel im Lichte der Einsicht, dass religiöse Erfahrungen und religiöses Wissen eine Form von Wissen nicht-vergegenständlichender und nicht-propositionaler Art ist. In einer umfänglichen ZuI-Philosophie ist religiöses Wissen eine Form von Wissen, deren genuine Merkmale im Verhältnis zu anderen Formen von Wissen verdeutlicht werden können. Aber unter kritischem Vorzeichen kann es nicht als diejenige Wissensform angesehen werden, die das Geflecht der vielen anderen Wissensformen insgesamt sprengt, um dann als ‚Das Eine und Göttliche Wissen‘ auftreten und im Grenzfall als normatives Wissen alle anderen Wissensformen regieren zu können. Weder ein theologisches noch ein metaphysisches Call Center könnten hier weiterhelfen. Denn selbst wenn jemand im Call Center tatsächlich definitive Antworten auf seine Fragen erhalten hätte, ist die Pointe, dass wir ihm dies angesichts der epistemischen Situation endlicher Geister und des öffentlichen Raums der Gründe nicht auch glauben müssten.
2 Nicht-epistemisches Wissen Wie Honnefelder rekonstruiert, führt die Frage, ob „auf der Basis eines Glaubens an eine in Sätzen sich niederschlagende göttliche Offenbarung ein Wissen gewonnen werden [kann], das den Charakter […] einer Wissenschaft hat“, bei den drei großen Autoren des 13. Jahrhunderts dazu, „die bestehenden Theorien des Wissens in bestimmter Weise zu differenzieren und zu erweitern“ (Kap. 5), – ich möchte sagen: einer Um- und Neu-Interpretation zu unterziehen. Solcherart Glaubenswissen würde zu einer „ideale[n], epistemisch uneingeschränkte[n] Wissenschaft“, die ihre „Gehalte so erfasst, wie sie in sich sind, und nicht nur, wie sie sich epistemisch für uns darstellen“ (Kap. 5). In der ZuI-Philosophie wird in diesem Zusammenhang der Akzent ganz auf den (der Position des Augustinus nicht fernen) Aspekt gelegt, dass jede Hervorbringung, Individuation und Durchführung welcher Wissensform auch immer nicht-eliminierbar und nicht-überspringbar an Zeichen- und Interpretationsprozesse gebunden ist. Dies schließt auch noch die Extrapolation auf einen Standpunkt ‚from nowhere‘ (Thomas Nagel) ein. Ohne Zeichen und Interpretationen können wir nicht nur
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nicht ‚denken‘, wie Peirce nachdrücklich betonte. Ohne sie gibt auch kein ‚Wissen‘ – ‚Wissen‘ hier auf dem ganzen Spektrum verstanden von seinem engen Verständnis als sprachlich-propositionales Wissen bis hin zu seinem weiten Verständnis als Fähigkeit, Fertigkeit und Kompetenz des Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns. Anderenfalls müssten wir so etwas wie sichselbst-identifizierende und sich-selbst-reidentifizierende Gegenstände und Gehalte annehmen. Doch diese Annahme ist unter kritischem Vorzeichen nicht verständlich zu machen. Sie ist eine metaphysische oder im Beispiel eine theologische Annahme. Ein in diesem Sinne nicht-epistemisches Wissen, mithin ein Wissen, das „keiner epistemischen Einschränkung unterliegt“ (Kap. 5) wäre göttliches, nicht menschen-mögliches Wissen. Wohlgemerkt: ich behaupte damit nicht die Nichtexistenz eines solchen Wissens. Denn wer wollte schon so verwegen sein, für Nichtexistenz einen Beweis führen zu wollen. Ich kenne gläubige Personen, die zugleich herausragende Wissenschaftler und Philosophen sind. Aber unter kritischem Vorzeichen und mit Bezug auf die für Menschen charakteristische epistemische Situation bestreite ich, dass sich die Annahme eines nicht-epistemischen Wissens inhärent aus dem Umstand ergibt, dass wir als Menschen, mithin als endliche und nicht als göttliche Geister, über Wissensformen verfügen, von denen wir einige, die wissenschaftlichen zum Beispiel, nachdrücklich und sehr zu Recht mit Wahrheitsansprüchen versehen.
3 Wissenschaft und Unsicherheit Das Aristotelische Bild der Wissenschaft ist durch eine Reihe tiefsitzender Überzeugungen gekennzeichnet. Zu ihnen zählt, dass Wissenschaft bzw. wissenschaftliches Wissen die Phänomene angemessen beschreiben und erklären; dass sie die wahre Natur der Dinge aufdecken können; dass sie von einem wohlgesicherten methodischen Fundament aus operieren; dass sie sichere Aussagen in sprachlichen Sätzen formulieren; dass sie diese Sätze in der Idealform einer ‚apodeiktischen Wissenschaft‘ im Sinne eines axiomatisch-deduktiven Zusammenhangs dieser Sätze formulieren; und dass sie unsere Orientierung in der Welt zu gewährleisten vermögen. So verstanden ist Wissenschaft eine vielversprechende und in ihrer Relevanz kaum hoch genug einzuschätzende Aktivität. Sie verkörpert, in dieser Weise gedacht, geradezu eine Art säkularisiertes Heilsversprechen. Nicht zuletzt dieses Bild macht die enorme Herausforderung deutlich, welche die Aristotelische Wissenschaft für das christliche Weltbild und das Glaubenswissen gegen Mitte des 13. Jahrhunderts darstellte. Wissenschaftliches Wissen
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versprach nicht nur Einsicht in die wahre Natur der Dinge. Sie versprach zugleich mittels ihrer Erkenntnisse kognitive und praktische Sicherheit, in theoretischer ebenso wie in lebensorientierender Hinsicht. In dieser Hinsicht war die Aristotelische Wissenschaft ein ernst zu nehmender Herausforderer des christlichen Offenbarungsglaubens in Bezug auf die Natur und das Ganze des Seienden. Herausforderer für die christliche Theologie ist Wissenschaft aber auch in einem noch anderen Sinne, von dem Moment an nämlich, wo das christliche Weltbild an orientierender Kraft zu verlieren drohte und Wissenschaft in die dadurch frei werdende Funktionsstelle einspringen konnte. Nietzsche hat diesen Punkt unübertroffen in die schöne Formulierung gebracht, dass „Wissenschaft entsteht, wenn die Götter nicht [mehr] gut gedacht werden“ (Nachlass 1875, 6[4], KGW 4/1, S. 173), wenn also die Sicherheit der Welt- und Lebens-Ordnung, wenn die Daseinsfürsorge nicht mehr durch ein theologisches, hier durch das christliche Weltbild garantiert wird. Hans Blumenberg hat den damit verbundenen Zustand der Weltfremdheit als eine Krise, des näheren als die ‚zweite Gnosis‘ beschrieben (nach der ersten, die er im Zusammenfall des griechischen Kosmos sah). Das christliche Mittelalter und seine Theologien bildeten Blumenberg zufolge die Überwindung der ersten, der hellenistischen Gnosis. Diese erste Überwindung war erfolgreich bis ins hohe und späte Mittelalter. Dann geriet, so Blumenbergs These, auch sie in eine Krise, unter anderem auch in Gestalt der Herausforderung, die mit der Frage des Verhältnisses von christlichem Offenbarungsglauben und Aristotelischer Wissenschaft dringlich geworden war. Blumenbergs bekannter These zufolge war es die neuzeitliche Rationalität mit ihrer Dominanz der Wissenschaften, welche eine Überwindung dieser zweiten Gnosis bewerkstelligte. Lassen wir einmal beiseite, dass die neuzeitliche Wissenschaft nicht einfach die Fortführung der Aristotelischen Wissenschaft mit anderen Mitteln war. Anstelle des Aristotelisch teleologischen Weltbildes tritt, um Blumenbergs Interpretament zu benutzen, die durch intransitive Selbsterhaltungs-Theoreme gekennzeichnete Wissenschaft eines Bruno, Galilei und Newton. Aber genau diese neuzeitliche Wissenschaft und Rationalität nimmt Blumenberg zufolge ihren theoretischen Ausgang in der Mitte des 13. Jahrhunderts und dort insbesondere bei Johannes Duns Scotus, den Ludger Honnefelder in seinem Beitrag besonders würdigt. In der ZuI-Philosophie wird nicht das robuste Aristotelische Bild der Wissenschaft im Sinne der Aufdeckerin der wahren Natur der Dinge vertreten. Wissenschaftliche Theorien werden (wie ich auch in der Replik auf den Beitrag von Robert Schwartz dargelegt habe) instrumentalistisch, des näheren als symbolische Instrumente aufgefasst. Sie dienen der wissenschaftlichen Beschreibung und Lösung konkreter Probleme, nicht der Aufdeckung einer letzten und an-sichseienden wahren Natur der Dinge. Theorien und Modelle sind pragmatische,
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keine metaphysischen und keine letztbegründenden Instrumente, keine passivischen Wiedergaben der definitiven Verfasstheit der Natur und Welt. Ihre Leistungsfähigkeit bemisst sich komparativisch an der Lösung wissenschaftlicher Fragen und Probleme. Standard ihres Gelingens ist ihr Erfolg. Sie sind auch nicht an methodischen Idealisierungen orientiert (wie in der Physik etwa an der Vorstellung reibungsfreier Oberflächen). Dies schließt ein, dass Theorien und Modelle scheitern können. Einem solchen Bild entspricht die Ansicht, dass Unsicherheiten und Ungewissheiten für die Wissenschaften durchaus charakteristisch sind. Dieser Befund lässt sich am Beispiel von Theorien und Modellen leicht verdeutlichen. So ist es im Falle wissenschaftlicher Theorien jederzeit möglich, dass die aus einer Hypothese und einer Theorie heraus formulierten Prognosen nicht mit den Beobachtungen übereinstimmen, konkurrierende (und im Grenzfall einander ausschließende) Theorien mithin jederzeit möglich bleiben. Die Erklärung für diese Sachlage hat Willard Van Quine in seiner berühmten These der ‚Unterbestimmtheit (underdetermination)‘ geliefert. Hypothesen und Theorien gehen in der Reichweite ihrer Ansprüche grundsätzlich und nicht-eliminierbar über die Datenmengen hinaus, im Rekurs auf die sie formuliert wurden: ‚meager input, torrential output‘ lautet eine Formulierung Quines. Dieser Befund liefert zugleich eines der Schlüsselargumente für die in der ZuI-Philosophie vertretene These, dass Hypothesen, Theorien und Modelle als ZuI-Konstrukte angesehen werden können. In puncto Unterbestimmtheit denke man hier sogleich an die Big Shots, an die Weltmodelle, zum Beispiel an die Urknall-Theorie oder die Schöpfungsmythen der Weltreligionen. Trotz der eindrucksvollen Datenmengen, die wir inzwischen über das Universum gesammelt haben, ist diese Sammlung im Vergleich zur Reichweite der Urknall-Theorie, die sich auf die Entstehung, die Entwicklung und das Ende des Universums erstreckt, doch bemerkenswert klein. Ähnlich ist die Situation im Falle von Modellen in den Wissenschaften. In Modellen werden gewisse Eigenschaften und Parameter präferiert und in den Vordergrund geschoben, andere dagegen nicht. Das gehört gleichsam zur Natur von Modellen. Es hat zur Folge, dass man mit passend gewählten Parametern ein Modell an nahezu alle Daten anpassen kann. In einer bekannten modell-theoretischen Argumentation hat Hilary Putnam im Blick auf das Verhältnis von Modell und Realität zudem den Nachweis geliefert, dass das Problem nicht darin besteht, die einzig mögliche richtige und metaphysisch seriöse Relation zwischen Modell und Realität herauszufinden, sondern darin, dass es zu viele gleichermaßen legitime Erfüllungsrelationen gibt. Egal wie eng man die Restriktionen formuliert, stets bleibt eine Pluralität gleichermaßen guter Relationen.
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Wissenschaft ist nicht Aufdeckerin der letzten wahren und notwendigen Natur der Dinge, die dann in einem axiomatisierten Satzsystem durch Syllogismen abgeleitet werden kann.Von solchen Möglichkeiten sind wir endliche Geister aufgrund unserer epistemischen Situation nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch abgeschnitten. In der ZuI-Philosophie wird Wissenschaft vielmehr als die für Menschen und nach Menschenmaß charakteristische Aktivität des vernünftigen Umgangs mit Unsicherheiten und Ungewissheiten angesehen. Auch in Sachen Wissenschaft ist es wichtig, die Messlatte nicht selbst-destruktiv hoch anzulegen. Weniger ist auch hier mehr. Doch wohlgemerkt: all diese Befunde führen keineswegs in einen terminalen Skeptizismus oder einen Relativismus der Beliebigkeit. Denn komparativisch sprechen wir mit Recht von besseren oder schlechteren Theorien, Hypothesen und Modellen. So wird eine Theorie zum Beispiel dann besser als eine andere eingestuft, wenn sie die Beobachtungen besser integriert und bislang disparate Elemente einer einfachen und kohärenten Neu-Organisation zuzuführen vermag. Das Fazit aus den skizzierten Überlegungen zum Status der Wissenschaften ist also nicht, dass wir in einem Skeptizismus oder Relativismus enden. Fazit ist vielmehr: an besseren Theorien, Hypothesen und Modellen zu arbeiten.
4 Realitätshaltigkeit der Interpretation und des Wissens Die zweite Frage (neben der nach der Möglichkeit eines nicht-epistemischen Wissens), mit der Honnefelder die ZuI-Philosophie im Schlussteil seines Beitrags konfrontiert, ist die Frage nach dem Realitäts- und Wahrheitsgehalt der ZuIProzesse, des näheren der ZuI-philosophisch konzipierten Wissenschaften und anderer Formen des Wissens. Zu diesem Zweck bringt er zum einen die jüngere Debatte um Realismus und Anti-Realismus, zum anderen den internen Realismus ins Spiel (welche letztere Position er bereits in der wissenschaftsphilosophischen Debatte im 13. Jahrhundert erreicht sieht). Diesen Punkten möchte ich mit den folgenden drei Überlegungen begegnen. (a) Die ZuI-Philosophie schlägt sich nicht auf eine der beiden Seiten in der Debatte um Realismus und Anti-Realismus. Vielmehr möchte sie diese Entgegensetzung, gar Dichotomie als ganze zurücklassen. Die Position des externen Realismus muss letztlich eine Version des Gegebenen und nicht-interpretierter, aber individuiert fertig daliegender Objekte des Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens in Anspruch nehmen. Eine solche Position und Sachlage lassen sich jedoch gänzlich ohne Zeichen und Interpretationen nicht
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einmal adressieren, da nicht klar ist, was überhaupt adressiert werden soll. Und die Position des Anti-Realismus muss die semantischen Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen) der sprachlichen (und anderer) Ausdrücke in Anspruch nehmen, die jedoch ohne Realitätshaltigkeit in der Luft hängen. Letzterer Analyse entsprechend verstehe ich wissenschaftliche und andere Theorien und Modelle gerade nicht in einer anti-realistischen Perspektive. Die ZuI-Philosophie ist eine Version des Pragmatismus. Sie darf in keinem Falle mit der Position des Anti-Realismus verwechselt werden. Diesen überaus wichtigen Punkt werde ich unten unter Punkt (c) entlang der Überlegung demonstrieren, dass die Realitätsannahmen in der ZuI-Philosophie stärker sind als in manch anderen Realismen, etwa im hypothetischen Realismus. (b) Den Hinweis auf den internen Realismus, den Honnefelder bereits in den Debatten des 13. Jahrhunderts erreicht sieht und der in der Gegenwart mit dem Namen von Hilary Putnam verbunden ist, greife ich gern und positiv auf. Diese positive Aufnahme bezieht sich zunächst auf den beiden Ansätzen (interner Realismus, ZuI-Philosophie) gemeinsamen und zentralen Punkt, dass das, was real ist und woraus die Welt ‚besteht‘, nicht unabhängig von dem verwendeten grundbegrifflichen System bzw. dem ZuI-System individuiert und konzipiert werden kann. Diese Sicht ist bekanntlich gegen den metaphysischen Realismus resp. gegen die externalistische Perspektive gerichtet, deren favorisierter Gesichtspunkt „a God’s Eye point of view“ ist (Putnam 1981: 49). Der metaphysische Realismus hält Thesen für sinnvoll, die unter kritischem Vorzeichen nicht expliziert werden können. Zu diesen Thesen zählen unter anderem die Auffassungen, dass unsere individuierte Welt gänzlich unabhängig von unseren geistigen, zeichen- und interpretations-bestimmten Aktivitäten ist; dass es die Welt selbst ist, die sich in Gegenstände, Gattungen und Arten einteilt; und dass trennscharf zwischen intrinsischen und bloß projizierten Eigenschaften unterschieden werden kann. In der Zurückweisung dieser Thesen sind sich interner Realismus und ZuI-Philosophie einig. Diese Übereinstimmung manifestiert sich unter anderem in den folgenden Thesen: dass jede individuierte So-und-so-Welt unter einer zeichen- und interpretations-gebundenen Deskription steht, deren Regeln sie instanziiert; dass die Analyse vager Sätze zeigt, dass strenge Bivalenz nicht durchgängig gegeben ist; dass die Korrespondenztheorie der Wahrheit daran scheitert, dass die Repräsentationsfunktion der Zeichen und Interpretationen nicht im Rekurs auf externe Übereinstimmung und/oder Ähnlichkeit geklärt werden kann; dass es viele Deskriptionen derselben Gegenstände gibt und dass dieselben Gegenstände als Modell für unterschiedliche Theorien fungieren können. (c) Die ZuI-Philosophie vertritt ein stärkeres Verständnis in puncto Realitätshaltigkeit erfolgreicher Zeichen- und Interpretationsprozesse, als dies im in-
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ternen Realismus der Fall ist. Der interne Realismus bewegt sich noch stark im älteren Bild der Trennung von Zeichen und Sachen/Welt (signa et res), von Schema und Gehalt. Seine Position lässt sich in etwa auch so beschreiben, dass immer dann, wenn die internen Abhängigkeiten vom grundbegrifflichen System erfüllt sind, Realismus gegeben ist, anderenfalls nicht. Die Trennung zwischen signa et res ist eine begriffliche Trennung, die eng mit der zugehörigen ontologischen These verbunden ist. Demgegenüber liegt der Hauptakzent der ZuI-Philosophie auf dem holistischen Prozesscharakter unserer triangulären Welt-, Fremd- und Selbsterfahrungen selbst, wie sie sich in den sie ausmachenden Zeichen- und Interpretationsprozessen vollziehen. In der ZuI-Philosophie hat der Akzent auf den ursprünglich einheitlichen Prozessen Vorrang vor der externen ebenso wie vor der internen Segmentierung und vor der Prüfung der Frage, ob die involvierten Erfüllungsbedingungen erfüllt sind oder nicht. Was als Erfüllungsbedingung gilt, hängt vielmehr stets bereits von den ZuI-Prozessen ab, nicht umgekehrt. Entsprechend setzt die ZuI-Philosophie nicht einfach das begriffliche Verhältnis von Idealismus und Realismus als gegeben voraus, und sie verortet sich entsprechend auch nicht einfach auf einem der beiden Pole dieser Entgegensetzung oder zwischen diesen. Vielmehr möchte ich bei dem schlichten Umstand ansetzen, dass Menschen empfindende, wahrnehmende, sprechende, denkende, handelnde und gestaltende Wesen sind. Der in Sachen Realitätshaltigkeit springende Punkt scheint mir dann zu sein, dass wir im Regelfall unserem Empfinden, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten ‚über den Weg trauen‘ und uns auf diese Prozesse und ihre Resultate ‚verlassen‘. Wir gehen im Regelfall nicht davon aus, dass es sich darin um bloß eingebildete, phantasierte, fiktive, illusionistische, gar halluzinierte Vorstellungen und Aktivitäten handelt. Gewiss, nachträglich kann sich herausstellen, dass wir uns getäuscht haben und einer Illusion oder Halluzination aufgesessen waren. Aber im zeichen- und interpretations-verfassten Vollzug der Empfindungs-, Wahrnehmungs-, Sprech-, Denk-, Handlungs- und Gestaltungsprozesse selbst sind solche misslichen Einsprüche gerade nicht konstitutiv und ihre Eliminierung nicht konditional. In der Regel funktionieren die Prozesse flüssig und anschlussfähig – bis auf weiteres und das heißt: bis ein Störfall eintritt. Einbildung, Fiktion, Illusion und Halluzination sind erklärungsbedürftige Phänomene. Sie und ihre dann erforderliche Überwindung sind jedoch nicht die konditionalen Ausgangspunkte unseres flüssigen und anschlussfähigen Verwendens und Verstehens von Zeichen und Interpretationen. Sofern wir aber den skizzierten Aktivitäten ‚über den Weg trauen‘ und uns auf sie ‚verlassen‘, heißt dies zugleich, dass wir gar nicht anders können, als deren Realitätshaltigkeit und Realitätsgebundenheit vorauszusetzen. In seinem Emp-
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finden, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten möchte (von Illusionskünstlern einmal abgesehen) niemand von uns als Irrealist dastehen. Und sobald wir an einigen Stellen eines Irrealismus überführt wurden, begeben wir uns sogleich daran, die deutlich gewordenen Defekte zu beseitigen und einen realistisch zu nennenden Zustand wiederherzustellen. In dem dargelegten Sinne haben wir es mithin in der ZuI-Philosophie mit starken Realitätsannahmen und Realitätsbindungen zu tun. Zwei Beispiele aus den Bereichen des Wahrnehmens und des Handelns mögen dies verdeutlichen. Wenn ich den Kugelschreiber auf dem Tisch vor mir sehe und den elementaren Satz ‚Ich sehe den Kugelschreiber‘ äußere, dann ist damit phänomen-bezogen die Realität des Kugelschreibers unterstellt und meine Wahrnehmungserfahrung mit einem Grad an Sicherheit verbunden, der, was den Vollzug des Sehens angeht, schwerlich zu überbieten ist. Wichtig ist in diesem Zusammenhang jedoch, ein gravierendes Missverständnis auszuschalten. Dieses besteht in der Ansicht, es könnte sich bei der in der Wahrnehmungserfahrung selbst erfolgenden Realitätsunterstellung um eine ‚Theorie‘ über bestimmte externe Daten, etwa gar um eine Theorie über Sinnesdaten handeln. Demgegenüber ist zu betonen, dass die Realitätsunterstellung im Sehen und Wahrnehmen gerade keine Theoriebildung über Daten ist. Wenn ich sehe, bilde ich keine Theorie, sondern nehme wahr. Die Realitätsannahme kann als eine in der Wahrnehmungserfahrung selbst vollzogene interne Präsupposition verstanden und adressiert werden. Das zweite Beispiel betrifft das Handeln und hier nicht zuletzt den überaus interessanten Punkt des Eintretens in eine Handlung, sagen wir: den Eintritt in die Handlung, drei Astronauten in eine Kapsel und Rakete zu setzen und sie zur internationalen Raumstation (ISS) zu schicken. Man denke auch an einen Neurochirurgen, der die Schädeldecke seines Patienten öffnet, um eine Operation am offenen Gehirn vorzunehmen. In solche und überhaupt in Handlungen einzutreten, setzt auf eine kaum zu überbietende Weise Realitätsannahmen und Realitätsbindungen voraus. Zugegeben, wir können mit unseren Handlungen grandios scheitern und es gibt Hasardeure. Aber offenkundig sind selbst bei ihnen noch Realitätsannahmen im Spiel. Ohne sie würde es gar nicht zu den Handlungen und deren Durchführung kommen. Im Handeln sind unsere Realitätsannahmen am stärksten. In diesem internen Sinne liefern unsere Handlungen ebenso wie unser Empfinden, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Gestalten gleichsam fortwährend ‚Realitätsbeweise‘. Gern erinnere ich mich in diesem Zusammenhang an ein Seminar des Kollegen Herbert Schnädelbach in Berlin zum Thema ‚Realismus‘. In einer Sitzung sollte mein Buch Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus (Iw) behandelt werden. Seminarleiter und Teilnehmer hatten die freundliche Idee, mich einfach zu der entsprechenden Sitzung
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einzuladen und mich zu bitten, die Grundthesen in Sachen Realismus vorzutragen. Im Seminar war man auf einen Idealisten, einen Anti-Realisten, gar einen Irrealisten eingestellt. Umso größer die Verwunderung, als ich begann, die ZuIPhilosophie in dem oben skizzierten Sinne als eine realistische Philosophie besonders robuster Art vorzustellen. Die Zeichen- und Interpretationswelten sind realistische Welten. Sie sind unsere Welten.
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2012: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52. Nietzsche, Friedrich 1967 ff.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, begr. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York; [KGW]. Putnam, Hilary 1981: Reason, Truth, and History, Cambridge Mass.
Erwin Sedlmayr
Welt – Universum – Kosmos
Entmythologisierung und Physikalisierung des Weltbilds Abstract: The interpretative character of the human understanding of the world becomes especially apparent in world interpretations and their historical change. Mythical theological world conceptions characterized world pictures and pictures of the world, as well as explanations from philosophy of nature directed at the entirety of the world. Cosmology, which has become a part of modern astrophysics, provides an incomparable gain of knowledge. Modern cosmology is, in epistemological respect, characterized by the fact that its scientific-mathematical methodical presuppositions and limits themselves are included in the reflection. In particular, it contrasts, in its perspective of interpretation, a concept of world as a whole based on the entirety of all ontological entities with a sharpened and scientifically approachable concept of universe and cosmos. At the same time, astrophysical cosmological knowledge provides a philosophically significant component not to be ignored when it comes to the question of the status of man in a dynamically evolving universe that spawned humankind.
„Der Herr dessen das Orakel zu Delphi ist, offenbart nicht und verbirgt nicht, sondern kündet in Zeichen.“ Heraklit
Es ist mir eine Ehre und Freude an diesem Buch zur Würdigung des Werks von Professor Günter Abel beitragen zu dürfen. Mich verbindet mit Günter Abel eine herzliche Beziehung, initiiert durch ein Triangel-Kolloquium der Guardini-Stiftung im Kloster Zangberg über „Wirklichkeit, Bild und Begriff“, wo er eine faszinierende philosophische Darlegung des Themas (Abel 1997) und seiner grundsätzlichen Voraussetzungen aus der Perspektive seines langjährigen Forschens dargestellt hat, vertieft durch den Besuch einiger seiner Vorlesungen und Teilnahme an dem einführenden Forschungsseminar über „Formen des Wissens“ an der Technischen Universität Berlin. Diese Veranstaltungen habe ich mit großem Gewinn für meine bis dahin hauptsächlich vom Denken der Naturwissenschaften, speziell von Physik und Astrophysik, geprägte wissenschaftliche Weltsicht in der Weise aufgenommen, dass mir insbesonders deren inhärent reduktiver naturwissenschaftlicher Blick auf die Welt deutlich wurde; so etwa in Bezug auf die im https://doi.org/10.1515/9783110522280-038
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physikalischen Arbeiten stets erforderlichen immanenten Projektionen in eine operative-operationale Ebene, auf der sich letztlich „physikalische Wirklichkeit“ in Gestalt geeigneter Begriffe, Theorien, Bilder und Modelle konstituiert. Die Beschäftigung mit dem Werk Günter Abels bedeutet für mich als Physiker also eine Bereicherung hinsichtlich der Aufweitung meines wissenschaftlichen Blicks auf ein Verstehen der Natur und der Welt, verbunden aber auch mit einer gewissen Ent-Täuschung über die damit einhergehende Relativierung der Möglichkeit einer umfassenden physikalischen Welterklärung und deren Wahrheitsanspruchs. Als Physiker, der dennoch lediglich nur eine periphere Kenntnis der Sprachund Zeichenphilosophie besitzt, fühle ich mich nicht in der Lage, im Licht der Abelschen Zeichen- und Interpretationsphilosophie im Blick auf die Physik oder Astrophysik eine fundierte Würdigung des physikalisch methodischen Denkens, des beobachtenden-experimentellen Forschens und der dadurch zu Tage gebrachten faszinierenden Erkenntnisse zu leisten. Aus diesem Grund möchte ich mich in meinem Beitrag auf ein zentrales Gebiet der Astrophysik – Kosmologie – beschränken, d. h. auf die in den unterschiedlichen Epochen herrschenden Weltbilder und Weltbeschreibungen, in welchen in spezifischer Weise die jeweilige Art der Zeichenzuschreibungen und der Interpretationen in den vielfältigen Formen des zeitgenössischen menschlichen Wissens zum Ausdruck kommen. Mein Anliegen zielt also hier nicht primär auf eine Darstellung der heutigen physikalischen Kosmologie mit ihren rätselhaften Erkenntnissen eines beschleunigt expandierenden Universums, getrieben von dunkler Energie und strukturell determiniert von dunkler Materie, in der unsere Substanz, die Materie aus der wir bestehen, nur einen, um es drastisch zu sagen, 3 % Dreckeffekt darstellt. Nach dem heutigen Stand unseres Wissens über das Universum handelt es sich bei dunkler Energie bzw. dunkler Materie um aus Beobachtungen und theoretischen Folgerungen deduktiv erschlossene Energieformen, für die zwar bisher keine direkten, durch entsprechende elementare Trägerteilchen manifeste Repräsentanten bekannt sind, die aber im Bau des Kosmos, in seiner Raumzeitdynamik und bei der Entfaltung der beobachteten materiellen Strukturen die dominierende Rolle spielen. Dunkle Energie und dunkle Materie sind also zwei sehr unterschiedlich wirksame substantielle Energieformen (expansiv bzw. attraktiv), von deren ubiquitärem Vorhandensein wir heute ausgehen müssen, um uns die Existenz, den Bau und die Dynamik der ‚Welt im Großen‘ qualitativ und quantitativ erklären zu können.
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1 Existenzielle Beziehungen zur Welt Immer müssen wir uns im Klaren sein: Alles, worüber wir sprechen, wird von unserer eigenen Wahrnehmung begrenzt. Da diese Grenzen in den Naturwissenschaften wesentlich von den jeweils verfügbaren Instrumenten abhängen, d. h. vom Stand der Technik gesetzt werden, aber gleicherweise auch vom Erklärungshorizont der vorhandenen Theorien, ist jede auf Vollständigkeit der Beschreibung und des Erkennens eines Sachgehalts gerichtete menschliche Bemühung vorläufig und unvollständig. Erinnern wir uns hier an die diesbezügliche Warnung Nikolaus von Kues′: „Weil alles, was gewusst wird, vollkommener und besser gewusst werden kann, wird nichts so gewusst, wie es wissbar ist“ (1964: Kap. 12). Dies gilt insbesonders auch im Hinblick auf die kosmologischen ‚Erkenntnisse‘, die durch die Zeitalter als Ursprungsmythen, Schöpfungsgeschichten, rational naturphilosophische Weltbilder und mathematisch-physikalische Weltmodelle die jeweiligen Weltvorstellungen beherrschten. Insbesonders, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es sich hierbei stets auch um das zeitlose Bemühen handelt, aus der begrenzten Position von Erdbewohnern, als ‚Teil eines Ganzen‘ – das sie ja auch hervorgebracht hat – auf das ‚Ganze‘ zu schließen. Als treibende Kräfte wirkten stets die Grundfragen denkender Menschen: ‒ die persönlichen: ‒ Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? ‒ die nach der Welt: ‒ Was ist die Welt?¹ ‒ Was sind ihre Existenzbedingungen? ‒ Was ist ihr innerer Zusammenhalt? ‒ Was ist der Raum? Was ist die Zeit? Was ist Materie? ‒ die nach dem Ursprung, d. h. der Kosmogonie der Welt, die nach dem Ende der Welt: ‒ Ist die Welt entstanden oder war sie immer da? ‒ Wird sie immer da sein? Wird sie enden? ‒ Wie alt ist sie? ‒ Ist sie noch jung oder schon alt? ‒ die nach unserem Standpunkt in der Welt: ‒ Wo ist unser Ort in der Welt? Wo im Raum, wo in der Zeit?
Unter Welt verstehen wir die ontologische Gesamtgegebenheit.
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die nach der menschlichen Beziehung zur Welt: ‒ Wie etwa bei Heisenberg: „Physik beschreibt ein Bild der menschlichen Beziehung zur Welt“ (Heisenberg 2011);
umgriffen von der Kantschen Grundfrage aus seiner Kritik der reinen Vernunft: „Was können wir wissen?“ Man könnte eine nicht endende Liste dieser menschlichen Fragen nach der Welt erstellen, die zugleich letztlich immer auch Fragen nach der Stellung des Menschen im Kosmos, seiner Vergangenheit und seiner Zukunft sind und die im Spannungsfeld von ‚Teil und Ganzem‘ stets auch zentral sein Selbstverständnis als Wesen, das in der Welt lebt und durch die Welt hervorgebracht worden ist, berühren. Astronomen, Physiker, Philosophen, aber auch Theologen, Priester, Schamanen und unzählige Weise aller Völker und Kulturen widmeten sich diesen Weltproblemen und versuchten für ihre Zeit, darauf überzeugende Antworten zu finden. So gab jedes Zeitalter der kulturellen Entwicklung seine ihm gemäßen Antworten: ‒ in mythischen Bildern und Erzählungen, ‒ in religiösen Schöpfungsgeschichten, ‒ in einer rationalen Naturphilosophie, ‒ in einer von der Theologie geleiteten, umfassenden Weltinterpretation, ‒ in mechanischen Planetarien ‒ und schließlich in den kosmologischen Weltmodellen unserer Zeit, welche wesentlich auf Physik gegründet sind,² um letztlich eine Antwort zu geben auf die Frage: „Wie ist alles gekommen, und wie ist es gewesen, dass es gerade so gekommen ist?“ Das charakteristische Merkmal der hier skizzierten historischen Abfolge ist der offensichtliche Wandel der die einzelnen Epochen beherrschenden Weltbilder, wie sie dem zeitgenössischen lokalen Stand der Kultur und der Technik der Völker entsprechen. Allein für die Entwicklung der astronomischen Weltbilder der letzten 200 Jahre, die wesentlich auf Astronomie, Physik und Astrophysik beruhen, bedeutet das zum Beispiel:
Alle heutigen Weltmodelle basieren auf der Annahme des sog. ‚Kosmologischen Prinzips‘ als notwendigem Generalisierungspostulat, welches grundsätzlich auch jenseits des physikalischen Horizonts der Nachprüfbarkeit als erfüllt angenommen wird. Diese prinzipiell nicht physikalische Annahme ist der Preis, der bezahlt werden muss, damit der Begriff ‚Weltall als Ganzes‘, eingeschlossen die Raumbereiche, die jenseits des Beobachtungshorizonts der Astronomie liegen, sinnvoll gedacht werden kann (s. Liebscher 1994).
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die Ablösung der mechanischen Astronomie durch die in den letzten hundert Jahren gereifte Erkenntnis, dass das Universum und seine Objekte ein komplexes zusammenhängendes System bilden, welches von der Erde aus mit physikalischen Methoden erforscht werden kann, dass also Astronomie in wesentlichen Bereichen zur Astrophysik geworden ist; das bedeutet aber auch die dadurch bewirkten Veränderungen unserer Perspektive der menschlichen Beziehung zum Weltall, die ungeahnte und unvorstellbare Erweiterung und Verschiebung der Grenzen, ermöglicht sowohl durch den Einsatz neuartiger Geräte und Techniken als auch durch die Herausbildung entsprechender theoretischer Modellvorstellungen und Konzepte; und das bedeutet schließlich im eigentlichen Sinne die vielleicht größte Erkenntnis des letzten Jahrhunderts, dass unser Universum nicht unveränderlich und ewig ist, sondern selbst in einem Urereignis entstanden und seither in einer vielschichtigen kosmischen Evolution befindlich ist.
Dieses Weltbild ist die Frucht vieltausendjähriger Bemühungen, welche von den Sternkundigen der alten Völker und ihren steinzeitlichen Observatorien bis zu den Astrophysikern unserer Tage mit ihren Großobservatorien und Satellitenteleskopen, aber auch ihren abstrakten physikalischen und mathematischen Theoriegebäuden, reichen.
2 Mythenwelten Sagenhaft und dunkel sind die Legenden vom Entstehen und vom Bau der Welt, die uns oft nur bruchstückhaft aus den frühen Zeitaltern der Menschen von den unterschiedlichsten Kulturen als ihre ‚Kosmogonie‘ und ‚Kosmologie‘ überliefert sind. Kern all dieser Welterklärungs- und Schöpfungsgeschichten sind Mythos und Theologie, wie man deutlich an den folgenden Beispielen erkennt, die ich sehr verkürzt aus Manfred Stöcklers faszinierender Sammlung Der Riese, das Wasser und die Flucht der Galaxien entnommen habe (Stöckler 1990): Ägypter – Das Urgewässer: Ich bin Atum, als ich im Urgewässer allein war. Ich bin Re bei seinem Erglänzen, als er begann zu beherrschen, was er geschaffen hatte. Ich bin der große Gott, der von selber entstand. (Aus dem Heliopolitanischen Totenbuch, Anfang 17. Kapitel.) Babylonier – Marduks Sieg: Als droben die Himmel nicht genannt waren, als unten die Erde keinen Namen hatte,
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als selbst Apsu, der Uranfängliche, der Erzeuger der Götter, Mummu Tiâmat, die sie alle gebar, ihre Wasser in eins vermischten. Als das abgestorbene Schilf sich noch nicht angehäuft hatte, Rohrdickicht nicht zu sehen war, als noch kein Gott erschienen, mit Namen nicht benannt, Geschick ihm nicht bestimmt war, da wurden die Götter aus dem Schoß von Apsu und Tiâmat geboren. Lachmu, Lachamu traten ins Dasein, wurden mit Namen benannt. Äonen wurden groß und erstreckten sich lang, Anschar, Kischar wurden geboren, sie überragten jene, die Tage wurden lang, die Jahre mehrten sich. (Auszüge aus dem Enuma Elisch, Tafel I und IV.) Inder – Der Ursprung der Welt: Nicht existierte Nichtseiendes, noch auch existierte Seiendes damals – nicht existierte der Raum, noch auch der Himmel jenseits davon. Nicht existierte der Tod, also auch nicht das Leben. Nicht existierte das Kennzeichen der Nacht (Mond und Sterne), des Tages (die Sonne). Es atmete windlos, durch eigene Kraft da ein Einziges. Nicht irgend etwas anderes hat jenseits von diesem existiert. Finsternis war verborgen durch Finsternis im Anfang. Kennzeichenlose Salzluft war dieses All. Der Keim, der von Leere bedeckt war, wurde geboren als Einziges durch die Macht einer Hitze. (Rig-Veda X 123 und 129, eine Sammlung von Gedichten, die ins 2. Jahrtausend v.Chr. zurückreicht und seit der Mitte des 1. Jahrtausends v.Chr. in Indien vorhanden ist.) Snorri Sturluson – Gylfaginning: Gangleri sagte: Was war der Anfang? Wie fing es an? Was gab es vorher? Hoch antwortete: Wie es in der Wöluspa heißt: Urzeit war es, da nichts noch war: Nicht war Sand noch See, noch Salzwogen, nicht Erde unten, noch oben Himmel, Gähnung grundlos, doch Gras nirgends. (Aus: Die jüngere Edda, Gylfis Verblendung.) Ona – Der Eisblock: Am Anfang schuf Kemaukel den Kenös. Damals waren Himmel und Erde eins. Alles bestand aus einem riesigen Eisblock. Kenös machte die Sonne, und die Sonne brachte das Eis außen zum Schmelzen. Es rannen Tropfen von dem Eisblock herunter und Bäche und Ströme, und so entstand das Meer. Was oben gewesen war, löste sich vom Eisblock, und so entstand der Himmel. Die Sonne aber schmolz immer mehr Eis zu Wasser, denn sie war damals viel heißer. Da schlug Kenös sie auseinander, und aus dem kleineren Teil machte er den Mond. Das Eis aber presste er so zusammen, dass daraus Felsen wurden, und wo er die Finger tief hineinpresste, entstanden Täler. Danach machte Kenös die Vögel. Sie wohnten zunächst im Himmel, aber sie wurden zu viele, und sie schrien zu laut, und so schickte sie Kenös auf
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die Erde herunter. Und er machte Fische und warf sie ins Meer, damit die Vögel etwas zu fressen fänden. Es waren aber da noch andere Vögel, die schrien nicht so laut, und diese durften weiter im Himmel wohnen und fressen. Aber oft flogen sie, um ihre Verwandten auf der Erde zu besuchen. Und in ihrem Kot waren Samenkörner von den Kräutern, Büschen und Bäumen, die im Himmel wuchsen. Und weil sie ihren Kot auf die Erde fallen ließen, kamen diese Samenkörner in die Welt, und es wuchsen auch hier unten Kräuter, Büsche und Bäume. (Ursprungserzählung der Feuerlandindianer) Es handelt sich also bei diesen ‚Berichten‘ vorwiegend um, aus der jeweiligen Umgebung und Naturerfahrung der betreffenden Völker entwickelte, Kosmosvorstellungen, die eng an die dort entwickelte Mythenwelt und Religion gebunden waren oder sind, ja oft erst deren wesentlichen Kern ausmachten. Es sind ihrer Art nach ‚lokale Kosmologien‘, die nicht globalisierungsfähig sind und die auch keinen universellen Erklärungsanspruch für sich reklamieren. Sie gelten somit in der Regel nur für den begrenzten Bereich der Kultur eines Stammes oder einer Gesellschaft. Deutlich unterschieden davon sind die diesbezüglichen Schöpfungsberichte der sog. Weltreligionen, die zwar auch einem lokal kulturellen Ursprung entstammen, die aber immer auch schon, wenn auch geo- und anthropozentriert, das Ganze der Welt im Blick haben; so z. B. die Bibel: Erstes Buch Mose – Genesis: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: „Es werde Licht!“ Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. Im Licht der modernen physikalischen Kosmologie nennen wir diesen Vorgang der Scheidung von Licht und Finsternis, der der Trennung von Licht und Materie entspricht, Rekombination. Wir sehen von diesem Prozess heute noch eine Strahlung, die als Mikrowellenhintergrund homogen und isotrop das ganze Universum erfüllt. Dieser Prozess der Abkopplung von Licht und Materie hat erst etwa 300.000 Jahre nach dem Urknall, dem tatsächlichen Anbeginn, stattgefunden. In unserem heutigen wissenschaftlichen Verstehen ist der Urknall somit nicht die Scheidung von Licht und Finsternis, sondern die Scheidung von Raum und Zeit, ein Prozess, dessen konsistente Formulierung noch aussteht. In ihrer Art erinnern letztlich all diese Erzählungen irgendwie an FantasyWelten, wo in vielen Geschichten mächtige Götter des Ursprungs, die als Urgrund des Anbeginns ihrer Welt gedacht werden, schöpferisch tätig sind, so etwa in Das Silmarillion (Tolkien 1978):
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Fantasy Dichtung – Die Musik der Ainur Eru war da, der Eine, der in Arda Ilüvatar heißt; und er schuf erstens die Ainur, die Heiligen, Sprösslinge seiner Gedanken; und sie waren bei ihm, bevor irgend andres erschaffen war. Und er sprach zu ihnen, sie Melodien lehrend, und sie sangen vor ihm, und er war froh. Lange aber sangen sie nur jeder für sich allein oder zu wenigen, während die andren lauschten, denn ein jeder verstand von Ilüvatars Gedanken nur jenen, aus dem er selber stammt, und nur langsam lernten sie auch ihre Brüder verstehen. Doch indem sie hörten, verstanden sie besser, und es wuchsen Einklang und Harmonie. … Da sagte Ilüvatar zu ihnen: „Aus dem Thema, das ich euch gewiesen, machet nun in Harmonie gemeinsam eine Große Musik.“ Es liegt mir fern, hier irgendeine Beziehung derartiger Fantasy-Mythologien zu historischen Schöpfungserzählungen bzw. religiösen Begründungsmythen zu suggerieren; aber dennoch erinnert das nicht entfernt an den Grundgedanken der Stringtheorien (s. z. B. Lüst 2011), wo harmonische Schwingungen und deren Anregungszustände als fundamental für die frühesten Zustände des Kosmos gedacht werden. Und noch zwei Aspekte: ‒ Fast immer sind es Schöpfungsvorstellungen, die ein polares Prinzip enthalten: ‒ Gott und Teufel, ‒ Ahuramazda und Ahriman, ‒ Eru und Melkor,
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oder heute: Gravitation (anziehend) und Dunkle Energie (abstoßend), die in den jeweiligen Vorstellungen das strukturierende Weltprinzip als Kraft und Gegenkraft darstellen, und deren Gegenspiel erst Existenz und Entwicklung ermöglicht. Alle Kosmologien, auch die physikalischen, sind im Grundsatz anthropozentrisch, sie sind vom Menschen gemacht, und sind Früchte seiner Bemühungen, die Welt ‚im Großen‘ zu deuten.
3 Altorientalische Hochkulturen Besser vertraut sind uns im Vergleich zu den mythischen Kosmologien die auf Astronomie gegründeten Vorstellungen der Völker des alten Orients, die in dieser Sicht stets auch Kosmologie und Kosmogonie waren: Dies liegt zum einem an den durch lange, archäologische Forschung zutage gebrachten Erkenntnissen, welche
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uns ein recht zuverlässiges Bild von den altorientalischen Hochkulturen, ihrem kulturellen und technischen Stand, ihrem Weltverständnis und ihrer Mythologie zu entwerfen erlauben, zum anderen aber auch an der Entwicklung unserer heutigen wissenschaftlich-technischen Kultur selbst, deren tiefste Wurzeln in der Welt und im Denken jener alten Kulturen verankert sind. In der Verbindung aus praktischem astronomischen Wissen und mythologisch-theologischer Deutung haben jene frühen Gesellschaften begonnen, ihr Bild vom Kosmos zu entwerfen, indem sie die Erscheinungen am Himmel ihrer Sicht gemäß geordnet und in den ihnen vertrauten Bildern einzufangen versucht haben. Diese Bilder waren – man denke nur an die Schöpfungsgeschichten der unterschiedlichsten Kulturen – theologischer und mythologischer Art. Sie hatten die Natur von Metaphern, durchwoben von Fabeln und Königsgeschichten, durch die sich der damalige Mensch das kosmische Geschehen, dem er sich ausgeliefert und von dem er sich beherrscht fühlte, verständlich machte und damit zu bannen versuchte. Die erkannte strenge Ordnung, die den Lauf der Himmelskörper bestimmt, die Möglichkeit, die Ereignisse am Firmament auf lange Zeit vorauszusagen, und damit die praktische Fähigkeit eines geordneten Zeitrechnungs- und Kalenderwesens, haben im Menschen, zugleich mit dem Vertrauen in die Kraft seines eigenen Denkens, eine staunende Bewunderung für die kosmischen Vorgänge erweckt. Wenngleich ihm die eigentliche Natur der Sterne und die Ursache ihrer regelhaften Bewegungen geheimnisvoll und rätselhaft waren – oder vielleicht gerade deswegen! – fühlte er sich in diese überirdischen Zusammenhänge einbezogen; denn wenn Tag und Nacht, Jahreszeiten und Vegetationszyklen vom Lauf der Gestirne abhingen, lag die Folgerung nahe, auch schicksalhafte Ereignisse – wie Geburt und Tod, Glück und Unglück – mit ihnen zu verbinden. Diese gewagte Verknüpfung ist letztlich die Wurzel der Astrologie, wo man sich bis auf den heutigen Tag jener archaischen Elemente bedient. Die hier skizzierte frühe Entwicklung der Astronomie bei den Völkern des alten Orients scheint universeller Natur zu sein. Sie findet sich in ihren grundsätzlichen Zügen ebenso in China und Indien, aber auch bei den indianischen Hochkulturen Mittel- und Südamerikas, überliefert durch Schöpfungsmythen und Kalendertabellen und am augenfälligsten durch ihre großartigen Monumentalbauten, deren astronomische Bestimmung von den Archäologen zweifelsfrei entschlüsselt worden ist.
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4 Der Schritt zur wissenschaftlichen Astronomie Die Erkenntnisse und Lehren der Hochkulturen des alten Orients sind auf Griechenland überkommen. Sie haben dort einen eigenen Ausdruck in einer Mythenund Bilderwelt gefunden, wie sie uns in den unvergänglichen Dichtungen von Homer und Hesiod als frühe Zeugnisse überliefert sind. Ursprünglich hatten also auch die Griechen ein mythisches Weltbild und eine ererbte Vorstellung vom Kosmos, dergestalt, dass sie ihn als einen die Erde umschließenden, von Göttern und übermenschlichen Wesen bevölkerten Raum verstanden. Anders als die Völker des alten Orients gaben sie sich aber nicht mit dieser Art von mythischer Welterklärung zufrieden. In diesem Seefahrervolk entwickelte sich das Bedürfnis nach einem rationalen Verstehen der Naturvorgänge, nach einer verstandesmäßig nachvollziehbaren Erklärung des kosmischen Geschehens im Rahmen einer Naturphilosophie, die auf eine vereinigende Sicht der Welt gerichtet war. Im mitreißenden Erfolg dieser neuen Denkweise, auf welche sich noch heute wesentliche Konzepte unseres modernen wissenschaftlichen Denkens gründen, erwachte ein neues Lebensgefühl, in dem sich der Mensch zunehmend seiner selbst als denkend bewusst wurde. Die in der Naturphilosophie vollzogene Trennung von Naturabläufen und theologisch-mythologischer Weltinterpretation befreite ihn von den Fesseln einer geschlossenen Mythenwelt und öffnete den Weg für eine neue, philosophisch, mathematisch und physikalisch begründete Sicht der Dinge. Basierend auf den Erkenntnissen der orientalischen Kulturen erfand Griechenland die euklidische Geometrie und wagte in einem kühnen Vorauswurf die Anwendung der dort formulierten abstrakten Gesetze auf die Vermessung der Erde und der nahen Himmelskörper. Damit waren die räumlichen Dimensionen im Kosmos durch trigonometrische Beziehungen erfassbar und durch irdische Maßstäbe quantitativ berechenbar geworden (s. z. B. Lelgemann 2010). Dies war der erste Schritt von der Sternkunde der alten Völker zur wissenschaftlichen Astronomie im heutigen Sinne, welche mit mathematischen und physikalischen Methoden versucht, das Universum zu enträtseln. So wusste schon Thales von Milet, dass die Mondphasen durch Sonnenbeleuchtung verursacht werden, lehrten Pythagoräer, dass sich die Erde dreht und Merkur und Venus um die Sonne laufen sowie Erde, Mond und Sonne Kugelgestalt besitzen, berechnete Erathostenes den Erdumfang mit einem Fehler von nur wenigen Prozent, versuchte Aristarch von Samos, welcher bereits das heliozentrische Weltsystem lehrte, die Entfernung Sonne-Erde und Erde-Mond in ein Zahlenverhältnis zu bringen, mit der Schlussfolgerung, dass die Fixsterne ungeheuer viel weiter entfernt sein müssen als die Planeten, und trug Hipparch die Daten zu einem
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Sternkatalog zusammen, welcher noch im 16. Jahrhundert an Genauigkeit unübertroffen war. Als ebenso beeindruckend und fruchtbar erwies sich die griechische Idee des Elementaren, die Lehre von elementaren Grundbausteinen, aus welchen alle materiellen Körper zusammengesetzt sind. Dies waren die vier Grundelemente – Feuer, Wasser, Luft, Erde – vorsokratischer Naturphilosophen, insbesondere bei Empedokles, Demokrits Atome und in der Geometrie die Elemente Gerade und Kreis. Der Kreis als Idealfigur mit seinem naturgegebenen Mittelpunkt spielt deshalb in der antiken Beschreibung der Planetenbewegung als einzig denkbare Grundform die zentrale Rolle. Diese großartigen astronomischen Leistungen waren eingebettet in die griechischen Vorstellungen vom Entstehen und dem Bau der Welt – ihrer Kosmologie – welche den großen Rahmen ihres Denkens und ihrer Welterkenntnis konstituierte. Kosmologie heißt die Lehre vom Kosmos und verweist in seinem griechischen Urwort κόσμος auf das ‚Weltganze‘. Sie umfasst in diesem Sinne nicht nur astronomische, physikalische und mathematische Kategorien, sondern insbesondere auch ästhetische Qualitäten wie Harmonie und Schönheit, welche noch heute für viele Menschen ein starkes Motiv darstellen, sich mit derartigen Fragen zu befassen. Gerade durch die von vielen empfundene ‚Schönheit‘ und ‚Einfachheit‘ der formalen mathematischen Beschreibung von Naturvorgängen gewinnt z. B. Physik jene besondere ästhetische Überzeugungskraft, welche von jeher Wissenschaft auf der Suche nach der Wirklichkeit begleitet hat. Kosmologie als Programm zielt also in ihrem Wesen über den engeren Bereich der Astronomie, d. h. des beobachtenden und interpretierenden Erforschens der astronomischen Objekte und ihres Zusammenhangs, hinaus und stellt die Idee des ‚Universums als Ganzes‘ ins Zentrum der menschlichen Fragestellung. Mit dieser Intention hatte Kosmologie zu allen Zeiten gleichermaßen naturwissenschaftlich-astronomische wie philosophische und theologische Aspekte, welche je nach dem herrschenden Paradigma des Weltverstehens mehr oder weniger in den Vordergrund traten. Am Anfang standen die Lehren der Vorsokratiker, beispielsweise der griechischen ‚Atomisten‘, die durch ihr grundlegendes Prinzip der ‚Reduktion des Vielfältigen auf das Einfache‘ ein frühes dem Intellekt zugängliches Weltbild entwarfen. In ihrer Vorstellung von ‚Fließen‘ und ‚Beständigkeit‘ war die Welt aufgebaut aus Körpern – zu denen auch alle lebenden Wesen gezählt wurden –, deren Struktur und Form durch eine Anhäufung elementarer unveränderlicher, in ewiger Bewegung befindlicher Grundbausteine, der ‚Atome‘, im sonst leeren Raum konstituiert werden. Das verschiedenartige Aussehen der Körper, ihre individuelle Gestalt, ihre Dauerhaftigkeit, aber auch ihr Werden und Vergehen erklärten sie durch einen Unterschied in der jeweiligen Zusammensetzung aus diesen Elementarbausteinen. Als Ursache für diese Vorgänge wurde eine ständige
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Bewegung der Atome angenommen, welche als diesen innewohnend aufgefasst wurde. Denken wir heute z. B. an die Wärmebewegung, die aller Materie eigen ist. Wenngleich solche Erklärungen noch keine kausalen, durch Kräfte vermittelten Wechselwirkungen in den Körpern und zwischen den Körpern enthalten, offenbaren sie einen verblüffend modernen Zug der heutigen physikalischen Weltbeschreibung, in der ebenfalls Elementarteilchen und ihre evolutionäre raum-zeitliche Organisation die zentrale Rolle spielen. Die Erklärungsversuche und Weltentwürfe dieser Denker waren vorwiegend naturphilosophischer Art. Mit Sokrates trat ein grundsätzlich anderer Ansatz des griechischen Denkens ins Licht, der den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt der philosophischen Untersuchung rückte. Nach Sokrates liegt der Ausgangspunkt jeder wirklichen Erkenntnis nicht nur im außen Vorfindbaren und Gegebenen, sondern letztlich im Inneren des Menschen selbst. Erkenntnis entsteht demnach durch einen Werdungsprozess der Vernunft, der durch stetes kritisches Hinterfragen angestoßen und befördert wird und so schließlich zur wirklichen Einsicht und zum richtigen Handeln führt. So faszinierend und fruchtbar sich diese sokratische Methode für die weitere Entwicklung der Philosophie und der menschlichen Bewusstwerdung erwies, wirkte sie sich nur dahingehend auf das kosmologische Weltbild aus, dass die Frage nach dem vernunftgemäßen Begreifen der Welt und der Verlässlichkeit ihrer Beantwortung neu gestellt wurde. Platon zeigte in seinem Höhlengleichnis, dass uns die Sinne, und im übertragenen Sinne die Messgeräte, prinzipiell keine unmittelbare Anschauung des äußeren Geschehens vermitteln, sondern nur innere Bilder davon entwerfen, vermöge derer wir die Wirklichkeit der Welt konstruieren. Er bezeichnete die diesem Konstruktionsprozess zugrunde liegenden elementaren Gegebenheiten als ‚Ideen‘, welche er als in die Erinnerung tretende ewige und unvergängliche immaterielle Grundbausteine der Welt dachte, die der sinnlichen Erfahrung entzogen sind. Die Ideen waren somit das der Sinnenwelt zugrunde liegende ewige Fundament, durch das diese begründet ist und ins menschliche Bewusstsein tritt. Eine große Rolle spielten hierbei die Erkenntnisse und Konstruktionen der Mathematik, insbesondere die Existenz der fünf in der Antike als ideal empfundenen geometrischen Körper – die regulären Polyeder: Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Dodekaeder, Ikosaeder, die alle von kongruenten ebenen Flächen begrenzt sind. Wegen ihrer logischen und ästhetischen Vollkommenheit betrachtete er sie neben der Kreisform und der Kugelgestalt als dem Bau des Kosmos zugrunde liegendes Konstruktionsprinzip, das in perfekter Weise sowohl dessen funktionale Architektur als auch die ihm innewohnende Harmonie ausdrückte. Die so postulierte Bedeutung von vollkommenen geometrischen Gebilden und mathematischen Proportionen, welche nach Platon inhärente Elemente der Natur und des Universums darstellen, spielte bei der Formulierung der Gesetze der Plane-
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tenbewegung am Beginn der Neuzeit durch Johannes Kepler eine zentrale Rolle und begleitet in übertragenem Sinne bis heute die moderne Physik, in deren Theorien abstrakte mathematische Formen und Zusammenhänge – z. B. Symmetrieeigenschaften – als fundamentale theoretische Beschreibungsebenen betrachtet werden (s. z. B. Genz 2000). Obgleich sich die Vorstellungen Platons für unsere heutige Wissenschaft als wichtig und folgenreich erwiesen, war es doch erst sein Schüler Aristoteles, der die formalen, konzeptionellen und logischen Grundlagen schuf, auf welche sich die moderne Wissenschaft auch heute noch wesentlich gründet. Anders als für Platon waren für Aristoteles, der die These von der Existenz an sich seiender Ideen als unbegründbar und wenig hilfreich verneinte, die äußeren Gegebenheiten und Sinneseindrücke die primären Quellen der Erkenntnis, durch welche die menschliche Vernunft gespeist wird. Alles, was wir an Gedanken und Ideen in uns tragen und das in unser Bewusstsein kommt, beruht demnach auf unserer angeborenen Verarbeitungsweise und logischen Interpretation der Sinneseindrücke, durch welche wir befähigt sind, die verwirrende Vielfalt der Welt und ihre komplizierten Zusammenhänge zu ordnen und zu verstehen. Im Sinne dieses Weltverständnisses entwarf Aristoteles eine Vorstellung vom Kosmos, dergemäß im Zentrum, wie beobachtet, die Erde ruht und die Sonne, der Mond, die Planeten und die Fixsterne, auf festen ewigen Bahnen geführt, um die Erde kreisen. Der Kosmos ist in der Vorstellung des Aristoteles also ein, in hierarchisch aufsteigenden Sphären (Sonne, Mond, Planeten, Fixsterne) gegliedertes, kugelförmiges materielles ‚Gefäß‘ endlicher Ausdehnung, in dessen Zentrum die Erde ruht und dessen Bewegung durch ein äußeres geistiges Prinzip gewährleistet wird. In diesem klaren Bauplan: ruhende Erde im Zentrum und Anordnung der Himmelssphären nach einem hierarchischen Prinzip, und in der Existenz eines abstrakten ersten Bewegers, der in einem theologischen Kontext unschwer mit Gott identifiziert werden konnte, lag die Attraktivität der aristotelischen Kosmologie für die biblischen Religionen. Sie begründete dieses Weltbild bis zum Ende des Mittelalters als das herrschende kosmologische Paradigma, sowohl für das Christentum als auch für die islamische Welt. Dreifach sind also die Leistungen der griechischen Astronomie, die als Früchte der Beobachtung der Himmelskörper und ihrer Bewegungen, als Vorstellungen ihres Weltbauplans und als dessen theoretische Interpretation von den unterschiedlichen philosophischen Schulen als Erbe der Nachwelt hinterlassen wurden. Allen gemeinsam war das Prinzip der Genauigkeit und der Einfachheit, wie es besonders in der Anwendung der Mathematik und in ihren mathematischen Modellen zum Ausdruck kam: Die griechischen Naturphilosophen entwickelten das physikalische Konzept elementarer Grundbausteine, die Theorie vom Bau der Materie, die Anwendung
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der Trigonometrie und in der Folge – als astronomischen Höhepunkt – das Bild eines heliozentrischen Weltsystems, wie es schon Aristarch von Samos im dritten vorchristlichen Jahrhundert entwarf. Platon schenkte uns den Begriff der Idee, die zeitlose, hinter allen Dingen und Empfindungen liegende abstrakte Grundebene, eine Vision, die besonders im vorigen Jahrhundert Physiker wie Werner Heisenberg auf der Suche nach einer umfassenden Theorie der Elementarteilchen geleitet hat. Aristoteles lehrte uns, neben zahlreichen physikalischen Vorstellungen (wie z. B. die Nichtexistenz des absolut Leeren oder die Vierelementenlehre), wesentliche Grundlagen und Arbeitsweisen der modernen Wissenschaft, das Primat der Beobachtung, die Rolle der Logik in der Theorienbildung, und hinterließ, in der kritischen Vollendung seines Weltsystems durch Claudius Ptolemäus, eine mathematische Beschreibung der Planetenbewegungen, welche, uns überliefert durch arabische Astronomen im Almagest, vierzehn Jahrhunderte lang bis zu den Arbeiten von Tycho Brahe und Johannes Kepler an Vollständigkeit und Genauigkeit unübertroffen war. Die Lehren Platons und Aristoteles’ – Idee und mathematische Denkweise einerseits, Einzelding und Empirie andererseits – stehen sich in ihren wesentlichen Voraussetzungen und Aussagen als vom Grund her unvereinbar gegenüber: Die Überwindung dieses Grabens strebte der Neuplatonismus an, als dessen hervorragender Vertreter Plotin gilt, der im dritten Jahrhundert das idealistischmathematische Element des Platonismus mit den philosophischen Auffassungen des Aristotelismus zu einer Synthese zusammenzuführen suchte. Mit diesem letzten bereits in das Aufkommen des christlichen Glaubens und Denkens fallenden Höhepunkt der hellenistischen Wissenschaft und Philosophie endete die unvergleichlich fruchtbare Periode, in der über neun Jahrhunderte lang die griechischen Denker die Weltbilder bestimmten, die sie nach dem Niedergang Athens und dem Fall Alexandrias in all ihren Ausprägungen als Erbe dem Abendland und der orientalischen Welt hinterließen.
5 Mittelalterliche Astronomie Mit der Verfestigung des Christentums und der Ausbreitung des Islams eroberten zwei monotheistische Weltreligionen das Abendland und den Orient, deren zentrales Seinsverständnis und Wertesystem nicht mehr durch das Denken über die Natur und den Menschen getragen waren, sondern durch in den heiligen Schriften aufgezeichnete unmittelbare Gottesoffenbarungen, in deren Licht die überkommenen Erkenntnisse und Lehren der antiken Denker beurteilt werden mussten. Primäre Erkenntnisquelle aller Naturwissenschaft konnte demnach
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nicht mehr philosophisch-theoretische Einsicht oder die unvoreingenommene Betrachtung der Naturvorgänge sein, mit dem Ziel, die darin wirksamen Naturgesetze aufzuspüren, sondern nur die von Gott geoffenbarte Heilige Schrift, mit deren Aussagen die naturwissenschaftlichen Erfahrungen und Interpretationen in Einklang zu bringen waren. Die frühchristliche und mittelalterliche Astronomie strebte nach einer Synthese von christlichen Glaubenswahrheiten, empirischen Befunden und antikem Gedankengut unter dem Primat einer theologischen Weltinterpretation. Nach Isodorius von Sevilla, der an der Wende zum siebten Jahrhundert als der größte Gelehrte seiner Zeit galt, ist der Kosmos „nach dem Bild der Kirche“ geschaffen und repräsentiert in seinem Bau das zentrale theologische Prinzip und die hierarchische göttliche Ordnung in vollkommener Weise. Dieser Vorstellung entsprach in seiner Architektur mit Gott als erstem Beweger offensichtlich der Kosmos von Aristoteles, der dadurch für das Mittelalter, man denke nur an dessen scharfsinnige theologische Interpretation und Rechtfertigung im 13. Jahrhundert durch Thomas von Aquin, als das herrschende Weltsystem etabliert wurde. In dem alle Lebens- und Naturbereiche umfassenden Totalitätsanspruch der mittelalterlichen Weltinterpretation lag ihre Größe und Faszination, aber auch eine immanente Unflexibilität und Geschlossenheit, welche es nicht zuließen, den theologischen Lehren scheinbar widersprechende Naturerkenntnisse vorurteilsfrei zu beurteilen oder diese gar in das System zu integrieren. Als Folge der Bindung der Naturwissenschaft an die Religion gewann jede Aussage über die Natur unmittelbare theologische Bedeutung und betraf damit die Kirche und deren Selbstverständnis. Um das Erreichte zu bewahren, stand im ausgehenden Mittelalter die Kirche neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und Beobachtungen häufig defensiv oder ablehnend gegenüber, oft mit tragischen Folgen für Leib und Leben der Betroffenen. Im Herbst des Mittelalters, um das treffende Bild Johan Huizingas zu verwenden, war das strenge logische System der Wissenschaft aus Scholastik und Alchemie, Astrologie und Astronomie in eine fundamentale geistige Krise, mit allen Tendenzen von Auflösungserscheinungen, Überspezialisierung und Grenzüberschreitungen, geraten, wie sie für jede Endzeit einer Epoche charakteristisch sind. Um sich dieses Amalgam aus visionären Ideen und unsicherem Lebensgefühl, naivem Glauben und intellektueller Spitzfindigkeit, aus Heilserwartung und Profitgier, aus Ketzerangst und Pestgefahr anschaulich vor Augen zu führen, stellen wir uns mit Leo Perutz die Hauptstadt Prag um 1600 vor (s. Perutz 1975), die Stadt Rudolfs II., das Prag Brahes und Keplers, der alten Universität, der Goldmacher und Gottsucher, des Wunderglaubens und der Sterndeuter, in deren Mikrokosmos der Zerfall des mittelalterlichen Weltbilds im Übergang zur beginnenden Neuzeit offen zutage tritt.
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6 Astronomisches Weltbild der Neuzeit Infolge der damit einhergehenden Auflösung dieses alle Lebensbereiche beherrschenden Denksystems, getragen von Aristotelismus und Scholastik, Alchemie und Astrologie, reifte am Ausgang des Mittelalters die Zeit heran, sich aus diesem starren Korsett zu befreien und mit neuen Augen – man denke nur an die Entdeckung Amerikas – die Welt zu betrachten. Die faszinierende Erkenntnis, dass man „nur zu sehen brauchte, wenn man wissen wollte“ (Hans Blumenberg), begründete ein neues Lebensgefühl und eroberte von da an die folgenden Jahrhunderte, die man deshalb im Folgenden als Neuzeit empfand. In diesem Zusammenhang ist der wissenschaftliche Paradigmenwechsel an ihrem Beginn von zentraler Bedeutung: die Ablösung der aristotelischen Zweckbestimmungen durch ein Kausalprinzip, die Anwendung mathematisch-theoretischer Methoden auf empirische Befunde im Rahmen von Theorien, aber auch die neue Funktion der Experimente, in deren Resultaten eine entscheidende Schlüsselrolle für die Überprüfbarkeit und letztliche Richtigkeit der theoretischen Vorhersagen erkannt wurde und die noch heute, z. B. in den Naturwissenschaften, wissenschaftliches Arbeiten im Kern charakterisieren. Für die Herausbildung des astronomischen Weltbilds in der Epoche des Übergangs zur Neuzeit waren insbesondere zwei Entwicklungen wesentlich: ‒ die Ablösung des geozentrischen Ptolemäischen Planetensystems durch das heliozentrische Modell von Nikolaus Kopernikus und ‒ die Überwindung des aristotelischen Kosmos durch die Auflösung seiner engen Grenzen und die Ausweitung des Weltraums in unvorstellbare Dimensionen. Die Geburtswehen waren schmerzhaft und überschattet von Inquisition, religiösen Glaubenskrisen und sozialen Konflikten. Nikolaus von Kues äußerte seine Gedanken nur sehr vorsichtig, Giordano Bruno wurde wegen seiner Lehren Vom unendlichen All und den Welten verbrannt, Kopernikus’ großes Werk De Revolutionibus Orbium Coelestium, mit dem das heliozentrische System neu begründet wurde, konnte erst nach seinem Tode veröffentlicht werden, Kepler und seine Mutter wurden von der Inquisition verfolgt, und den Fall Galilei – „und sie bewegt sich doch“ – kennt jeder. Dennoch war der Siegeszug der neuen Ideen nicht aufzuhalten und führte im 17. Jahrhundert durch Johannes Kepler, Galileo Galilei und Isaac Newton zur endgültigen abstrakten Formulierung und physikalischen Erklärung der Gesetze der Planetenbewegung, wie sie in den drei Keplerschen Gesetzen ausgedrückt sind:
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1. 2. 3.
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Die Planeten bewegen sich in Ellipsen um die Sonne, in deren einem Brennpunkt die Sonne ist. Die Verbindungslinie Planet-Sonne überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen. Die Quadrate der Umlaufzeiten der Planeten verhalten sich wie die dritten Potenzen ihrer großen Bahnhalbachsen.
Newton konnte diese Gesetze im Rahmen seiner Mechanik begründen, indem er postulierte, dass zwischen Sonne und Planet eine mit dem Abstand zum Quadrat abnehmende Kraft – die Gravitationskraft – herrscht. Die damit gegebene Beschreibung der Bewegungsgesetze der Planeten ist nicht nur befriedigender, da aus allgemeinen Prinzipien ableitbar, sondern erscheint uns auch einfacher als das Ptolemäische oder das Kopernikanische System mit ihren jeweils vielen ineinander geschachtelten Kreisen. Diese Einfachheit konnte allerdings nur dadurch erkauft werden, dass man die ideale Kreisform aufgab und Ellipsen als Bahnformen zuließ. Der Schritt vom Kreis zur Ellipse stellt einen in seiner Bedeutung nicht zu überschätzenden Bruch mit jahrtausendelang als unverbrüchlich und wahr gehaltenen Grundprinzipien des universellen Bauplans dar. Der Kreis mit seinem naturgegebenen Mittelpunkt war ja nicht nur die ideale geometrische Figur, sondern symbolisierte auch die göttliche Ordnung mit dem Menschen als Mittelpunkt der Welt und verkörperte nicht zuletzt die dadurch gesetzte hierarchische, politische Machtstruktur. Die Loslösung vom Kreis hat deshalb auch eminente theologische und politische Bedeutung. Newtons Postulat einer gegenseitigen Anziehungskraft – der Gravitation – zwischen den Himmelskörpern ermöglichte nicht nur, deren Bahnen zu berechnen, sondern begründete zwischen ihnen auch eine feste Beziehung, vermöge derer die Gestirne des Himmels physikalisch aufeinander einwirken: Unter dem Einfluss der auf sie wirkenden Kräfte bewegen sich alle Körper im Raum gemäß den Gesetzen der Newtonschen Mechanik auf berechenbaren Bahnen, welche somit quantitativ verstanden werden können. Damit ist zum ersten Mal ein universeller physikalischer Zusammenhang beschrieben, welcher es nahelegt, das ganze Universum als eine Einheit und das Geschehen im Universum aus dem kausalen Zusammenwirken seiner einzelnen Teile zu begreifen. Die Frucht dieser Bemühungen war ein rein mechanistisches Weltbild, das Universum als ‚Uhrwerk‘, wie es in seiner höchsten Blüte von Pierre Simon Laplace und seinen Mathematikerkollegen des späten 18. Jahrhunderts begeistert beschrieben wurde. Mit dieser Entwicklung ging die Ablösung des aristotelischen Kosmos durch die neue Raum-Zeit-Lehre Newtons einher, welche erst die Voraussetzungen für die Mechanisierung des Weltbilds schuf und den Schritt zu einem Universum er-
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möglichte, dessen Materieorganisation durch Gravitationswechselwirkung bestimmt wird. Die am Beginn der Neuzeit nicht mehr abzuweisenden Lehren von Nicolaus Cusanus, Thomas Digges, William Gilbert und insbesondere von Giordano Bruno verfestigten die Vorstellung, dass der Kosmos nicht mehr, wie aus Aristoteles entwickelt, als ein enges Gefäß, begrenzt von einer Fixsternsphäre, eingebettet in ein allumgebendes himmlisches Feuer aufgefasst werden kann, sondern dass es im Gegenteil keinerlei logische und insbesondere theologische Gründe gibt, irgendwelche räumlichen Beschränkungen für das als ewig gedachte Universum und die darin enthaltenen Sterne anzunehmen. Die Wurzeln dieser Ideen reichen einerseits tief in den Boden der antiken, atomistischen bzw. der epikureischen Weltvorstellung eines unendlich ausgedehnten, unermesslichen Raumes, in welchem die Erde und das sie umgebende Sternsystem inselgleich schwimmen, andererseits in die abstrakten Ebenen der scholastischen Gottesinterpretation, nach welcher Gottes Sein und Allmacht keinen räumlichen und zeitlichen Grenzen unterworfen sein könne. Newton gab diesen Vorstellungen den adäquaten wissenschaftlichen Ausdruck, indem er die grundlegenden Existenzformen der realen Welt – Raum und Zeit – in seinem Hauptwerk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) so definierte: Der absolute Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand stets gleich und unbeweglich. Die absolute wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgend einen äußeren Gegenstand. Sie wird mit dem Namen Dauer belegt. Raum und Zeit existieren also in Newtons Vorstellung als absolute Entitäten unabhängig voneinander und unbeeinflusst von den physikalischen Körpern, Feldern und Vorgängen: ‒ der Raum ist dreidimensional, unendlich ausgedehnt, homogen und isotrop, ‒ die Zeit, die den Fluss der Ereignisse markiert, ist eindimensional, unendlich ausgedehnt und verrinnt gleichförmig, unbeeinflussbar ohne Anfang und Ende. Damit war für die folgenden Jahrhunderte eine sichere Plattform definiert, auf welcher die physikalischen und astronomischen Vorgänge studiert und beschrieben werden konnten. In der hierbei vollzogenen Verknüpfung von physikalischen Erkenntnissen und astronomischen Beobachtungen wurden die methodischen Grundlagen gelegt, welche es heute erlauben, nicht nur die Natur der Himmelskörper und ihre gegenseitigen Beziehungen mit physikalischen Methoden zu beschreiben, sondern auch das Universum als Ganzes als ein physikalisches Objekt aufzufassen, dessen großräumiger Aufbau und dessen Geschichte
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und Evolution mit physikalischen Theorien und Begriffssystemen modellhaft beschrieben und nachvollzogen werden können. Damit liegt die Möglichkeit einer rein naturwissenschaftlichen Kosmologie vor, deren Aussagen grundsätzlich unabhängig von Nationalität, Rasse, politischer Einstellung und Religion sind. Die Ausweitung des physikalischen Zugriffs aus der Begrenztheit unseres irdischen Erfahrungsbereiches in die unvorstellbaren Weiten des Kosmos ist nur möglich, weil alle Systeme im Kosmos im Grundsatz einheitlicher Natur sind und Gesetzen unterliegen, welche auf einer sehr fundamentalen Ebene universell gültig sind. Carl Friedrich von Weizsäcker nannte diese wunderbare Tatsache die Einheit der Natur. Dem eine wissenschaftliche Grundlage zu geben, erforderte den Übergang zur Astrophysik, deren Erkenntnisse seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das astronomische Weltbild prägen. Der überwältigende Erfolg der dadurch eingeleiteten Entwicklung, welche einerseits Hand in Hand ging mit der Herausbildung der heute grundlegenden physikalischen Theorien – Thermodynamik, Hydrodynamik, Elektrodynamik, Quantentheorie, Atom- und Kernphysik, Relativitätstheorie usw. – und mit deren Anwendung auf die quantitative Beschreibung und Modellierung astronomischer Objekte und Prozesse und welche andererseits mit der rasanten technischen Entwicklung von immer leistungsfähigeren Teleskopen, hochempfindlichen Detektionsmöglichkeiten und subtilen Auswertemöglichkeiten, wie sie heute jeder Großsternwarte zur Verfügung stehen, einherging, etablierte Astrophysik als die Wissenschaft vom Universum, welche durch Anwendung physikalischer Methoden und Theorien die astronomischen Objekte und Prozesse beobachtend diagnostiziert und theoretisch modelliert, um sie in ihrem lokalen und globalen Zusammenhang quantitativ zu verstehen. Den Schlüssel hierzu fanden Josef von Fraunhofer durch die Entdeckung der nach ihm benannten Fraunhofer-Linien im Sonnenspektrum (1814) sowie Gustav Kirchhoff und Robert Bunsen durch die Anwendung der von ihnen entwickelten Spektralanalyse auf die Sonne und auf andere helle Sterne (1849). Die Aufklärung der Gesetze der Lichtausbreitung und der physikalischen Natur des Lichts und seiner Wechselwirkung mit der Materie im Rahmen der Quantentheorie in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zeigte, dass Licht kein homogenes Medium ist, sondern dass der Strom der von einem Objekt emittierten Lichtteilchen vielfältige Informationen enthält, welche, wie Fingerabdrücke, spezifische Rückschlüsse auf den physikalischen Zustand und die chemische Zusammensetzung dieses Objekts erlauben. Das bemerkenswerteste Ergebnis dieser Untersuchungen ist, dass die sichtbare Materie in allen Bereichen des Universums, die unseren Beobachtungen zugänglich sind, aus denselben chemischen Grundbausteinen aufgebaut ist, wie sie auch auf der Erde oder in der Sonne vorkommen. Alle Materie im Kosmos bildet daher eine Einheit, welche auf einen gemeinsamen
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Ursprung verweist, der mit dem großräumigen Bau des Universums und seiner Entwicklung, d. h. seiner Kosmologie zusammenhängen muss. Mit der Verfestigung dieser Erkenntnisse ist es nicht verwunderlich, dass heute Physik und Astrophysik – zu letzterer auch Astronomie als Disziplin methodisch und in ihren Zielen mehr und mehr geworden ist – also als die ‚Werkzeuge der Wahl‘ zum Erwerb kosmischer Erkenntnisse betrachtet werden müssen. Diese Überzeugung beruht auf der empirischen Detektion, der theoretischen Analyse und der physikalischen Interpretation das Lichts, das ausgesandt von Quellen aus den Tiefen des Weltalls uns erlaubt, mittels geeigneter physikalischer und mathematischer Theorien zuverlässige quantitative Schlüsse vom ‚Hier‘ und ‚Heute‘ der Lichtmessung auf das ‚Dort‘ und ‚Damals‘ der Lichtaussendung zu ziehen. Auf diese Weise bildet der beobachtbare Ausschnitt des Universums einen räumlich und zeitlich zusammenhängenden Informationsraum, der uns vermöge des Erweiterungspostulats „kosmologisches Prinzip“ (s. Fußnote 2) ermöglicht, die großskaligen Raumzeitstrukturen für das ‚Universum als Ganzes‘ mittels geeigneter Physik-Theorien zu berechnen und sogenannte ‚Weltmodelle‘ zu konstruieren. Aus diesem Grund sind notwendigerweise alle zeitgemäßen Weltmodelle von grundsätzlich physikalischer, d. h. rein quantitativer Natur, als Folge der Descarteschen Eliminierung alles Qualitativen (res extensa). Aus diesem Grund dürfen an diese Weltmodelle nur physik-kompatible Fragen gestellt und daher auch nur derartige Antworten erwartet werden.
7 Moderne Kosmologie und allgemein-relativistische Weltmodelle Moderne Kosmologie ist also in ihrem Wesen ausschließlich physikalischer Natur und befasst sich explizit nicht mit der umfassenden großräumigen Beschreibung und Modellierung der ontologischen Gegebenheit ‚Welt als Ganzes‘, sondern beschränkt ihren Erklärungsanspruch, dem reduktiven Charakter der Physik gemäß, grundsätzlich auf ihre aktuellen physikalisch fassbaren Eigenschaften, Zusammenhänge und Strukturen, deren Gesamtheit wir nach D.-E. Liebscher als Universum und das wissenschaftliche zeitgebundene Bild davon als Kosmos bezeichnen (s. Liebscher 1994). Anders als der ontologische Begriff ‚Welt‘ sind die physikalischen Entitäten ‚Universum‘ und ‚Kosmos‘ durch das jeweils aktuell verfügbare Erkenntnissystem Physik erzeugte Projektionen der Gegebenheit Welt in deren physikalisch-mathematischen Raum. Kosmologie stellt die Frage nach dem ‚Universum als Ganzes‘, seiner globalen Struktur, seinem Werden, seiner Zeitentwicklung und schließlich seinem finalen
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Schicksal. Im Rahmen der Physik ist eine solche Fragestellung nur sinnvoll, wenn nicht nur die Erscheinungsformen der Materie, sondern auch die fundamentalen Entitäten der realen Welt, Raum und Zeit, – etwa im Unterschied zu Anschauungsformen a priori bei Kant – selbst als physikalische Objekte begriffen werden können, deren lokale und globale Struktur durch physikalische Gesetze und Zusammenhänge bestimmt ist. Newtons Raum-Zeit-Vorstellung eines dreidimensionalen, unendlich ausgedehnten, ewig unveränderlichen, absoluten Raums und eines ewig gleichförmig fließenden, eindimensionalen Stroms der Zeit ohne Anfang und Ende konnte deshalb hierauf keine sinnvolle Antwort geben, da die wesentlichen Entitäten des Universums – Raum und Zeit – als Anschauungsformen a priori vorausgesetzt waren, also als vorgegebene Gefäße, in denen sich die materielle Welt konstituiert. Aus diesem Grund mussten auch bei Newton alle Fragen z. B. nach der Größe und dem Alter der Welt auch für die weiteren Jahrhunderte unbeantwortbar bleiben, was Eberhart Knobloch zu der provozierenden Bemerkung veranlasste: „Ohne Gott kamen die alle nicht aus“.³ Eine umfassende Behandlung der kosmologischen Frage erlaubte erst die von Albert Einstein geschaffene Allgemeine Relativitätstheorie (1916), in welcher die geometrische Struktur des Raumes und der Zeit durch die Materieverteilung im Universum und umgekehrt die globale Organisation der Materie durch die RaumZeit-Struktur bestimmt ist. Vor Einstein war das Universum quasi ‚zeitlos‘. Erst die vierdimensionale Beschreibung der allgemein relativistischen Kosmologie bringt als Dimension die Zeit ins Spiel, wie etwa mit den Begriffen ‚Anfang‘ oder ‚Evolution‘. Das einfachste der Modelle des Universums – die man heute als StandardWeltmodelle bezeichnet – erhält man vermöge der Annahme, dass der dreidimensionale Raum durchweg homogen und isotrop ist. Das bedeutet, dass alle Punkte und Richtungen gleichwertig sind und dass alle Orte die gleiche zeitliche Geschichte haben. Auf diesem als kosmologisches Prinzip bekannten Postulat (siehe Fußnote 2), welches auf einer physikalisch nicht begründbaren Generalisierung der großräumigen Beobachtungstatsachen beruht, basieren heute fast alle physikalisch konstruierten Weltmodelle, die die globale räumliche Struktur des Universums und seine zeitliche Entwicklung beschreiben. Ohne auf Details dieser Einstein-Friedmann-Kosmologien näher einzugehen, möchte ich hier zwei bemerkenswerte Eigenschaften dieser Modelle hervorheben: 1. Das Universum im Ganzen ist nicht statisch, sondern befindet sich in einer stetigen zeitlichen Entwicklung entlang eines wohldefinierten Zeitpfeils, welcher zu jedem Zeitpunkt Vergangenheit und Zukunft trennt. Hinreichend weit entfernte Objekte im Universum entfernen sich voneinander dadurch,
Diskussionsbemerkung in einer Ringvorlesung der TU Berlin, 2007.
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dass sich der Raum ausdehnt, indem sie mit der Raumexpansion mitschwimmen. Die Frage, ob diese Expansion des Kosmos ewig andauert oder sich in ferner Zukunft wieder in eine gegenläufige Kontraktion umkehrt, scheint heute dahingehend beantwortet werden zu müssen, dass alle Messungen darauf hindeuten, dass das Universum sich sogar in einer beschleunigten Expansion befindet. Alle derartigen Weltmodelle scheinen einen mathematisch wohldefinierten zeitlichen Anfangspunkt zu besitzen, von dem aus sich das Universum aus einem extrem kleinen Volumen heraus explosionsartig entwickelt haben muss. Dieser faszinierende Vorgang des ‚Anfangs der Welt‘, der in letzter Tiefe noch nicht verstanden werden kann, weil in diesem extremen Zustand der Gültigkeitsbereich unserer heutigen physikalischen Theorien endet, wird mit dem Begriff Urknall bezeichnet. In diesem Begriff berühren sich die großen Theorien der modernen Physik mit der mythenhaften menschlichen Urfrage nach der Schöpfung der Welt. Hier fließen notwendigerweise alle Theorien des Mikro- und Makrokosmos zusammen und bedürfen einer einheitlichen Beschreibung. Hierfür einen wissenschaftlichen Zugang gefunden zu haben, ist eine der großartigsten Leistungen der Physik des letzten Jahrhunderts mit noch unabsehbaren Konsequenzen nicht zuletzt auch für wichtige Teile von Erkenntnistheorie und Philosophie.
Ungeachtet dieser zur Zeit noch offenen Fragenkomplexe (beschleunigte kosmische Expansion und Anfangssingularität), welche tief in das Wesen der Kosmologie und in die Evolution der kosmischen Materie hineinführen, scheint Einigkeit zwischen den Wissenschaftlern darüber zu bestehen, dass ein umfassendes Verständnis für die Entwicklung unseres Universums und seiner sie dominierenden Materiefelder – 3 % normale Materie, 27 % Dunkle Materie und 70 % Dunkle Energie, wobei man für 97 % der Masse keine wirkliche Erklärung besitzt! – nur auf dem Boden zukünftiger naturwissenschaftlicher Vorstellungen und Theorien zu finden ist.
8 Fronttheorien Beide Resultate, das bezüglich der Expansionsdynamik des Universums und das bezüglich seines singulären Ursprungs, welche auf der allgemeinen Relativitätstheorie, dem kosmologischen Prinzip und auf der Annahme beruhen, dass das Universum ein einmaliges System ist, dessen Struktur und Dynamik im Großen durch ein homogen verteiltes Materiesubstrat beschrieben werden können (Weylsches Postulat), sind unerwartet und stellen eine herausragende Leistung der
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physikalischen Beschreibung der Welt und ihrer Raum-Zeit-Entwicklung dar. Sie sind für jeden Physiker ein überzeugender Ausweis der Leistungsfähigkeit der Physik im Blick auf die naturwissenschaftliche Modellierung des Universums und seiner evolutionären Materiestrukturen. Dennoch offenbaren diese Resultate auch ein immanentes, tiefes Unbehagen hinsichtlich der notwendigerweise existierenden, völlig unbekannten Energiekomponenten (mit einem Massenanteil von 97 %) und der prinzipiell außerhalb der Physik liegenden Anfangssingularität, was zeigt, dass das Projekt ‚Kosmologie‘ bisher zwar einen guten Schritt voran gekommen ist, aber letztlich doch noch weit entfernt von einem physikalisch und erkenntnismäßig befriedigenden Abschluss steht. Wegweisend zu seiner Lösung könnten hier z. B. die Visionen der Hochenergie- und Elementarteilchenphysiker sein, wo im Rahmen einer einheitlichen Darstellung der fundamentalen Grundkräfte versucht wird, die Entfaltung von Raum und Zeit in ihrem Zusammenwirken mit den Strahlungs- und Materiefeldern geschlossen zu beschreiben (s. Kiefer 2009). Um in dieser Richtung voranzukommen, scheint es erforderlich, die Probleme auf der grundlegendsten Modellebene (s. Sedlmayr 2001) grundsätzlich neu zu formulieren, um von dort aus einen adäquaten methodischen Zugang zur Auflösung der Schwierigkeiten der Standardweltmodelle zu suchen. Dabei stehen z. B. in Rede: die Dimensionalität und die topologische Struktur des Raums, die fundamentalen Koordinaten der Beschreibung, der Zeitbegriff, der Teilchenbegriff, die Multiversenstruktur etc. Hier hoffen wir – ermutigt durch die Weitsicht von Niels Bohr: „Es ist nicht die Frage, ob eine Theorie verrückt ist, sondern ob sie verrückt genug ist“ (zitiert nach Dyson 1958) – insbesondere auf spektakuläre theoretische Entwicklungen, wie etwa Quantengravitation, Stringtheorien und Supersymmetrie und Schleifengravitation, aber auch auf die in den letzten Dekaden erarbeiteten evolutionären Konzepte von Chaos und Ordnung, welche die Bildung von komplexen Strukturen behandeln, wie wir sie in den unterschiedlichsten Formen im Weltall vorfinden. Heute sind noch nicht einmal Ansätze zu einer derart grundlegenden Beschreibung, welche Astronomie, Physik, Chemie, Biologie, Mathematik im Lichte einer kritischen Philosophie umfasst, erkennbar. Ein langer mühsamer Weg liegt noch vor uns, an dessen glücklichen Abschnitten die Bausteine zu einem Bild von der Welt zusammengetragen werden müssen, in welchem schließlich nicht nur unsere Fragen nach dem Werden, dem Bau und der Entwicklung des Universums, sondern möglicherweise auch nach dem Leben und dem Sinn der menschlichen Existenz eine überzeugendere Antwort finden auf die lastende Grundfrage⁴:
Die ich zuerst bei Siger von Brabant 1281 im Handbuch Die Philosophie im lateinischen Mittelalter gefunden habe (Schulthess / Imbach 1996: 21).
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„Warum gibt es überhaupt etwas und nicht einfach nur nichts?“, die sicher anders ausfallen muss als Steven Hawkings geistreicher physikalischer Reflex „Weil das Nichts instabil ist.“
Literatur Abel, Günter 1997: Konstruktionen der Wirklichkeit, in: Sedlmayr, Erwin (Hg.): Schlüsselworte der Genesis II. Wirklichkeit – Bild – Begriff; Schöpfungsprinzipien: Polaritäten – Kräfte – Gleichgewichte, Berlin, (Schriftenreihe der Guardini Stiftung, Bd. 7), S. 68 – 81. Dyson, Freeman 1958: Innovation in physics, in: Scientific American 199/3 (Sept.), S. 74 – 82. Genz, Henning 2000: Symmetrie – Bauplan der Natur, München. Heisenberg, Werner 2011: Physik und Philosophie, 8. Aufl., Stuttgart. Kiefer, Claus 2009: Der Quantenkosmos. Von der zeitlosen Welt zum expandierenden Universum, Frankfurt a. M. Lelgemann, Dieter 2010: Die Erfindung der Messkunst. Angewandte Mathematik im antiken Griechenland, Darmstadt. Liebscher, Dierck-Ekkehard 1994: Kosmologie, Leipzig / Heidelberg. Lüst, Dieter 2011: Quantenfische. Die Stringtheorie und die Suche nach der Weltformel, München. Newton, Isaac 1687: Philosophiae Naturalis Principia Mathematica, London. Nikolaus von Kues 1964: De venatione sapientiae, in: ders.: Philosophisch-theologische Schriften, Bd. 1, lat./dt., hg. v. L. Gabriel, Wien. Perutz, Leo 1975: Nachts unter der steinernen Brücke, Wien / Hamburg. Schulthess, Peter / Imbach, Ruedi 1996: Die Philosophie im lateinischen Mittelalter. Ein Handbuch mit einem bio-bibliographischen Repertorium, Zürich / Düsseldorf. Sedlmayr, Erwin 2001: Modellbildung in Physik und Astronomie, in: Modellbildung in den Wissenschaften und ihre praktische Anwendung. Bericht zu einem fächerübergreifenden Workshop, veranstaltet vom „Treffpunkt der Wissenschaften“ an der Technischen Universität Berlin am 20. Januar 2001, hg. v. Präsident der TU Berlin, Berlin. Stöckler, Manfred 1990: Der Riese, das Wasser und die Flucht der Galaxien. Geschichten vom Anfang und Ende der Welt, Frankfurt a. M. Tolkien, John R. R. 1978: Das Silmarillion, Stuttgart.
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Zeichen-interpretative Wissenschaftsphilosophie Replik zum Beitrag von Erwin Sedlmayr Erwin Sedlmayrs Beitrag liefert am Beispiel der Astrophysik und des näheren der Kosmologie eine kompakte Geschichte der physikalischen Deutungen der Welt in ihren Verschränkungen mit den in den unterschiedlichen Epochen jeweils vorherrschenden Weltbildern und Weltbeschreibungen. Mit Recht betont Sedlmayr, dass es sich in diesen Beständen und Entwicklungen stets auch um jeweils kulturspezifische Arten der „Zeichenzuschreibungen und der Interpretationen in den vielfältigen Formen des zeitgenössischen menschlichen Wissens“ (SedlmayrBeitrag, vor Kap. 1) handelt. Sedlmayr diagnostiziert entlang der Geschichte der Begriffe ‚Welt‘, ‚Universum‘ und ‚Kosmos‘ eine „Entmythologisierung und Physikalisierung des Weltbilds“ (vgl. Titel des Beitrags). In solcher Formulierung steckt nicht nur die Anspielung auf den Übergang vom Mythos zum Logos bei den Griechen. In ihr manifestiert sich auch entlang der Geschichte der Naturwissenschaften, speziell der Physik und Astrophysik, deren „inhärent reduktiver naturwissenschaftlicher Blick auf die Welt“ (vor Kap. 1). Des näheren meint dies für Sedlmayr vor allem die Reduktion „auf die im physikalischen Arbeiten stets erforderlichen immanenten Projektionen in eine operativ-operationale Ebene, auf der sich letztlich ‚physikalische Wirklichkeit‘ in Gestalt geeigneter Begriffe, Theorien, Bilder und Modelle konstituiert“ (ebd.). Reduktion meint dabei durchaus mehr als nur den Prozess der Verwissenschaftlichung und die mit dieser Rationalisierung verbundene ‚Entzauberung‘ (Max Weber) der Welt. Sie meint in den Augen des von seinem Fach der Physik und insbesondere der theoretischen Astrophysik begeisterten Wissenschaftlers Erwin Sedlmayr durchaus auch Engführungen, Begrenzungen, verlustreiche Limitierungen, reduktive Verkürzungen, zu enge Blickwinkel und mitunter geschlossene Systeme, denen gegenüber er für eine Erweiterung der Horizonte in Hypothesen, Theorien und Modellen plädiert. In Abbreviatur und pointierter Kennerschaft beschreibt Sedlmayr die Merkmale und Prozesse der astronomischen und astrophysikalischen Theorien und physikalischen Weltmodelle von den Welten der okzidentalen und außereuropäischen Mythen über die altorientalischen Hochkulturen zur wissenschaftlichen Astronomie bei den Griechen, der mittelalterlichen Astronomie, dem astronomischen Weltbild der Neuzeit zur modernen Kosmologie und allgemein-relativistischen Weltmodellen bis hin zu gegenwärtigen „Fronttheorien“ (Kap. 8). https://doi.org/10.1515/9783110522280-039
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Ohne es eigens zu bemerken, spricht der Physiker Sedlmayr dabei so über astrophysikalische Theorien und Modelle, wie dies vornehmlich auch aus der Perspektive der Zeichen- und Interpretationsphilosophie angebracht ist. Im Folgenden möchte ich nicht auf die einzelnen Stationen der Beschreibungen Sedlmayrs eingehen.Vielmehr möchte ich vier Punkte adressieren, die für Sedlmayrs Argumentation von kardinaler Bedeutung sind, und ich möchte in Bezug auf jeden dieser Punkte eine zeichen- und interpretations-philosophische These vertreten und diese in Abbreviatur profilieren. Auf diese Weise gewinnt das Verhältnis von Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] und Wissenschaft (am Beispiel der physikalischen und astrophysikalischen Wissenschaft) an Profil. Die vier Punkte und Thesen sind die folgenden: 1. Geschichte und Dynamik der Wissenschaften und ihrer Weltmodelle als ZuIGeschichte und -Dynamik; 2. Interpretationistische Wissenschaftsphilosophie; 3. Weltbilder als pragmatische ZuI-Horizonte des Welterschließens; 4. Modelle als ZuI-Konstrukte.
1 Geschichte und Dynamik der Wissenschaften und ihrer Weltmodelle als Zeichen- und Interpretations-Geschichte und ‐Dynamik In der ZuI-Philosophie wird die Geschichte und Dynamik der Wissenschaften und ihrer jeweiligen Weltmodelle als eine ZuI-Geschichte und ZuI-Dynamik konzipiert. In dieser Sichtweise ist gesetzt, dass die Entwicklung der Wissenschaften weder als ein kausal noch als ein logisch determinierter und linear fortschreitender Prozess hin auf eine letzte und vollständige Beschreibung dessen, was in Wirklichkeit ist, angesehen werden kann. Dieses ältere Bild wird oftmals im Sinne einer asymptotischen Annäherung an eine letzte Wahrheit bzw. an die metaphysisch objektive Beschaffenheit der Realität der Welt verstanden. Bekannt ist die Formulierung von Charles S. Peirce, der zufolge wir ‚in the long run‘ genau dieses Ziel erreichen können und wohl auch erreichen werden. Demgegenüber wird in der ZuI-Philosophie die mit anderen Pragmatisten geteilte Auffassung vertreten, dass der Fortgang in den Wissenschaften nicht als eine lineare Progression deterministischer Art und auch nicht im Sinne einer Entwicklung zur Kongruenz zwischen den einzelnen Wissenschaften angesehen werden kann. Dafür, dass beides (lineare Progression und Kongruenz) nicht gegeben ist, liefert die Wissenschaftsgeschichte unzählige Belege. Jedoch heißt dies im Umkehrschluss keineswegs, dass die Fortgänge, Übergänge, Transitionen und Transgressionen in jeweils neue Phasen der Wissen-
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schaften ungeregelt oder gar dezisionistisch und am Ende gar, wie Paul Feyerabend irrtümlicherweise argwöhnte, im Sinne eines ‚anything goes‘ verlaufen. Das ist offenkundig nicht der Fall.Wäre dies der Fall, dann wären wir nicht einmal in der Lage, die Differenzen und Brüche zwischen den unterschiedlichen Wissenschaften und ihren Entwicklungen und Dynamiken identifizieren und sie als solche markieren zu können. Aber die Übergänge von einem Phasenzustand einer Wissenschaft bzw. einem Verbund mehrerer Wissenschaften (wie z. B. der Kognitionswissenschaften oder der Lebenswissenschaften) in einen nächsten und neuen sind durch einen Raum der Offenheit jeweils mehrerer möglicher und gleichermaßen legitimer Anschlüsse und Fortsetzungen gekennzeichnet. Jenseits des älteren und dichotomischen Würgegriffs von Determinismus und Relativismus kann die Geschichte der Wissenschaften ebenso wie die der anderen Formen von Wissen als eine Zeichen- und Interpretations-Geschichte konzipiert und entfaltet werden. Dieser Befund gilt für alle Wissenschaften und auch für alle anderen und nicht-szientifischen Formen von Wissen in Alltag, Wissenschaften, Technologien und Künsten, einschließlich der Verschränkungen der Mitglieder dieses Quadrupels untereinander sowie dessen Entwicklungen als ganzem. Der Befund gilt aber nicht nur für die inner-alltäglichen, die inner-wissenschaftlichen, inner-technologischen und inner-künstlerischen Strukturen und deren Entwicklungen. Er gilt auch und vor allem für die den einzelnen Wissenschaften und ihren Netzwerken stets bereits zugrunde liegenden und in Anspruch genommenen Weltmodelle. Das scheint mir offenkundig zu sein, egal, ob es sich um mythische, um wissenschaftliche oder andere Weltmodelle handelt, in denen etwas über den Ursprung, das Ziel oder die eigentümliche Verfassung der Welt als eines Ganzen in Wörtern und Erzählungen gesagt, in Bildern gezeigt oder in rituellen Praktiken verkörpert und dargestellt wird. Solcherart Weltmodelle (wie zum Beispiel Schöpfungsmythen und Welterklärungsgeschichten, von denen Sedlmayr mehrere anführt) stellen uns in einem tiefen und nicht-hintergehbaren Sinne Möglichkeiten und Instrumente bereit, uns auf unsere Welt zu verstehen und uns in ihr orientieren zu können. Weltmodelle zählen in diesem Sinne zu den am tiefsten sitzenden Zeichen- und Interpretationskonstrukten. Wer in ihnen, aus ihnen heraus und auf sie hin lebt, bemerkt nicht eigens, dass es sich überhaupt um kulturell bedingte und bis auf weiteres fraglos funktionierende ZuI-Konstrukte handelt. Die Subtilität der Wirkung von Weltmodellen besteht darin, dass sie in ihrem Funktionieren und in ihren Wirkungen so selbstverständlich wie irgend möglich sind. Dass dieser Befund selbst noch auf den engen Sinn von Modellierungen in den Wissenschaften zutrifft, werde ich später in Abschnitt 4 ausführen.
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2 Interpretationistische Wissenschaftsphilosophie Wissenschaft zu treiben heißt: methodisch geordnet vorzugehen; Beobachtungen zu machen; Hypothesen aufzustellen; Theorien und Modelle zu entwickeln; Experimente durchzuführen; kausale Erklärungen bereitzustellen sowie Evidenzen und Begründungen für in Urteilen erhobene Erkenntnis- und Wahrheitsansprüche zu liefern. Es leuchtet ein, dass alle diese Aktivitäten nicht einfach von Seiten der Natur selbst durchgeführt werden. Sie sind vielmehr als Leistungen des menschlichen Geistes zu verstehen. Wissenschaft zu treiben ist eine der herausragenden kognitiven Leistungen des menschlichen Geistes (neben zum Beispiel seinen Fähigkeiten, Musik oder Mathematik zu treiben, Literatur, Gemälde, ein Rechtssystem und viele andere Kulturleistungen ersten Ranges hervorzubringen). Soweit wir wissen, treiben Ziegelsteine, Pflanzen und Tiere keine Wissenschaften. Des näheren handelt es sich bei den Wissenschaften um perspektivische, kreative, konstruierende, projizierende, schematisierende, konjekturale, klassifizierende, experimentierende, auslegende und darin Erfahrung organisierende Aktivitäten, kurz um zeichen-bezogene und interpretative Verhältnisse und Aktivitäten unterschiedlicher Art. Alles Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Wissen und Handeln ebenso wie unsere alltägliche Welt, alle Wissenschaften und alle Künste vollziehen sich in sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen. Sie sind daher intern immer schon auf Zeichen- und Interpretationsprozesse bezogen und in diese verstrickt. So überrascht es nicht zu hören, dass wir auch die Aktivitäten der Wissenschaften einer zeichen- und interpretationsphilosophischen Betrachtung und Beschreibung unterziehen können. In der Art, wie Erwin Sedlmayr die Geschichte der kosmologischen Weltauffassungen bis hin zu den kosmologischen und astrophysikalischen Weltmodellen unserer Zeit beschreibt, liefert er, ohne sich explizit im ZuI-Vokabular zu bewegen, überzeugende Beispiele für das, was ich eine zeichen- und interpretationsphilosophische Wissenschaftsphilosophie nenne. Letztere möchte ich hier nur ganz knapp insoweit skizzieren, wie sie für eine zeichen- und interpretationsphilosophische Reformulierung von Sedlmayrs Argumentation von Belang sind.¹ (a) In den Wissenschaften spielt das Verhältnis von Theorie, Beobachtung und Wirklichkeit eine zentrale Rolle. Dieses Verhältnis ist für die Konzeption der
Vgl. zu den Details der folgenden Überlegungen ausführlicher (SZI Kap. 6), dessen Materialien ich hier explizit aufgreife.
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Erfahrungserkenntnis in den Wissenschaften von herausragender Bedeutung. Ich konzentriere mich im Folgenden auf Theorie und Beobachtung. Theorien können nicht als passive Wiedergabe, nicht als Spiegelungen einer vorfabriziert und individuiert fertig daliegenden Welt angesehen werden. In der ZuI-Philosophie werden Theorien als Instrumente angesehen, genauer gesagt als symbolische und interpretative Instrumente. Und die Nahtstelle zwischen Theorie und Wirklichkeit, die Beobachtung, kann ebenfalls nicht als eine rein passivische Spiegelung und neutrale Registratur angesehen werden. Sie erweist sich bei näherem Hinsehen als eine zweckorientierte, aktive, geschulte, von intendierten Handlungen beeinflusste, zeichendeutende, theoriegebundene, kurz ebenfalls als eine zeichen- und interpretationsabhängige Aktivität. In der Beobachtung steckt mehr, als man beobachtet. Angesichts dieser Befunde überrascht nicht zu hören, dass Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsphilosophie hier als Zweige der umfänglicheren ZuI-Philosophie angesehen werden, nicht umgekehrt. Theorien (innerhalb deren theoretische Terme vorkommen) und Theorienkonzeptionen (in denen Theorien im weiten Sinne als Netze verstanden werden) stellen, als symbolische und interpretative Instrumente aufgefasst, genuine Fälle von Zeichen- und Interpretationskonstrukten dar. Ihre Geltung bemisst sich nach ihrer Leistungsfähigkeit in Bezug auf wissenschaftliche Beschreibungen, Erklärungen und Prognosen. Der Zeichen- und Interpretationscharakter von Theorien manifestiert sich in unterschiedlichen Hinsichten. Dies ist vor allem in puncto Konstruktion (Individuation, Identifikation, Klassifikation) des Gegenstandsbereichs, der theoretischen Terme, der generellen Termini, der szientifischen Prädikate, der Hypothesen, der Modelle, der Gesetzmäßigkeiten, der paradigmatischen Fälle und allen voran der methodischen Standards der Fall. (b) Auch überrascht nicht, die Nahtstelle zwischen Theorie und Wirklichkeit, die Beobachtung, als Zeichen- und Interpretationskonstrukt zu konzipieren. Ihr ZuI-Charakter tritt nicht erst auf der Ebene des Beobachtungs-Berichts und der Beobachtungs-Deutung hervor. Auf dieser Ebene ist er mit Händen zu greifen, da Beobachtung nicht-eliminierbar an die Grammatik einer Sprache des Berichts und an die Muster der Auslegung und Validierung gebunden ist. Der ZuI-Charakter setzt bereits viel früher ein. Dort bereits nämlich, wo allererst umgrenzt wird, was überhaupt als ein Beobachtungs-Vorgang und was als ein Beobachtungs-Datum zählt und was nicht. Im Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse heißt dies, dass Beobachtung, die auf der Ebene 3 auf natürliche Weise oder durch Artefakte wie Messgeräte intensiviert erfolgt, längst bereits von Umgrenzungen und Festlegungen seitens der Ebene 2 (der Konventionen in Bezug auf das, was üblicherweise als eine Beobachtung zählt) und seitens der Ebene 1 (auf der mittels
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der Individuation etwas allererst als ein Beobachtungs-Datum individuiert und lokalisiert sein muss) umstellt und bestimmt ist. (c) In der Durchführung einer Beobachtung sind weitere ZuI-Aspekte am Werke. So muss es (i) einen Horizont geben, innerhalb dessen aufgepasst wird, was passiert; es muss (ii) eine Sprache gegeben sein, mittels derer eine Beschreibung und ein Bericht des Beobachteten formuliert werden kann; es muss (iii) eine Theorie gegeben sein, innerhalb deren die theoretischen Terme formuliert sind; es muss (iv) ein Hintergrundwissen (mithin elementare Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellung und Gewohnheiten), mithin ein Wissen (im weiten Sinne von Kompetenzen und Fertigkeiten) in Bezug darauf gegeben sein, wie man gewisse Sachen macht und wie die Dinge sich für gewöhnlich (und vor-intentional) verhalten; und es muss (v) in Fällen, in denen es sich nicht um sinnlich-direkte Beobachtung, sondern um Detektion und Messung mittels Artefakten handelt, die Technik des Beobachtungs- und Messgerätes, z. B. eines Photomultipliers oder eines Oszillographen, gegeben sein, bevor man überhaupt ans Beobachten gehen kann. Beobachtungs- und Messgeräte, deren hohe Bedeutung in der heutigen Forschung auch Erwin Sedlmayr nachdrücklich betont, sind unter Zweckgesichtspunkten hergestellte Artefakte. Sie können als poietische Zeichen- und Interpretationskonstrukte angesehen werden. An diesen vielfältigen Charakterisierungen der Beobachtung als eines spezifischen ZuI-Prozesses sieht man auch leicht, dass und in genau welchem Sinne die Rede von der Zeichen- und Interpretationsgeladenheit der Beobachtung hinter die Ebene der Theorieabhängigkeit (die lediglich einen bestimmten Aspekt auf der Ebene 3 fokussiert) zurückgreift und die Ebenen der ZuI2+1-Verhältnisse in ihrer fundamentalen Relevanz in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. (d) In systemischer Hinsicht ist der in der Quantenphysik vor Augen geführte und direkt zeichen- und interpretations-philosophisch relevante Aspekt zu beachten, dass zwischen beobachtetem / interpretiertem und beobachtendem / interpretierendem System eine wechselseitige Abhängigkeit besteht. Aus dieser Abhängigkeit können wir nicht heraustreten. Wir können jeweils nur ein weiteres Interpretationssystem zum Einsatz bringen. In diesem Sinne sind die quantenmechanisch beschriebenen, die ganz kleinen Welten, ebenso, wenngleich aus anderen Gründen, wie die zu ihnen bekanntlich komplementären ganz großen, die astrophysikalischen Welten, denen Sedlmayrs besonderes Interesse gilt, Zeichen- und Interpretationswelten par excellence.
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3 Weltbilder als pragmatische Zeichen- und Interpretations-Horizonte des Welterschließens In allen Wissenschaften und am offenkundigsten vielleicht in den kosmologischen und astrophysikalischen Weltmodellen spielen ‚Weltbilder‘ eine kardinale Rolle. Weltbilder können als pragmatische ZuI-Horizonte des Welterschließens angesehen werden. Aus ihnen heraus und auf sie hin vollzieht sich unser lebensweltlich-alltägliches, unser künstlerisches und nachdrücklich eben auch unser wissenschaftliches Leben so, wie es sich vollzieht. Der Beitrag von Erwin Sedlmayr führt dies anhand der astrophysikalischen Weltbilder eindringlich vor Augen. In diesem Zusammenhang unterscheidet die ZuI-Philosophie zwei Typen von Weltbildern (vgl. dazu und zum Folgenden ZdW Kap. 3). Zum einen sind die innerwissenschaftlichen bzw. inner-physikalischen Weltbilder zu nennen, wie z. B. die physikalischen Weltbilder von Aristoteles, Newton, Einstein oder heutigen Physikern, wie Sedlmayr diese in Abbreviatur sehr trefflich beschreibt. Diese wissenschaftlichen Weltbilder sind innerhalb der Wissenschaften, z. B. innerhalb der Physik und Astrophysik, von entscheidender Bedeutung, vor allem in Bezug auf das, was in der jeweiligen Wissenschaft als begründet und rational gilt, und was nicht. Trefflich skizziert Sedlmayrs Beitrag die Unterschiede der wissenschaftlichen Weltbilder in der Aristotelischen Welt natürlicher Körper, in der Newtonschen Welt eines Koordinatensystems des absoluten Raums und der absoluten Zeit bis hin zu der heutigen und auf die Einsteinsche Welt zurückgehenden Auffassung, der zufolge die Raum-Zeit abhängig gedacht wird von der Energie- und Materieverteilung im Weltall und alle Wechselwirkungen zwischen Partikeln der Welt auf die Struktur der Raum-Zeit zurückgeführt werden, – mit Sedlmayrs nachdrücklichem Hinweis auf die in der Tat konsternierende, wenngleich erfrischende Feststellung, dass wir (nach heutigem Stand bei einer Verteilung der dominierenden Materiefelder im Universum von 3 % Normaler Materie, 27 % Dunkler Materie und 70 % Dunkler Energie) „für 97 % der Masse keine wirkliche Erklärung besitzen!“ (Kap. 7) Zum anderen ist ein Typus von Weltbild im Spiel, der wesentlich umgreifender und tiefer liegender Art ist. Dieser Unterschied kann am Beispiel der Regeln und Standards erläutert werden, die im Spiele sind, sobald wir Hypothesen, Theorien oder Modelle der Welt formulieren, sie für gültig halten und auf ihre Passgenauigkeit mit Ausschnitten der Realität überprüfen. In den Wissenschaften, z. B. in Physik und Astrophysik, sind auf der Ebene des direkten Objektbezugs Regeln und Standards erster Stufe entscheidend (wie z. B. Regeln der Messung, der Beobachtung, der physikalischen Größen, der
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kausalen Erklärung, der experimentellen Reproduzierbarkeit, der Prognose). Geht es um die Rechtfertigung von physikalischen oder astrophysikalischen im Sinne von direkt objekt-bezogenen Hypothesen, Theorien und Modellen, dann greifen wir auf die Regeln und Standards dieser ersten Stufe zurück. Wird nun jedoch die Frage nach der Rechtfertigung und Geltung genau dieser Regeln und Standards erster Stufe gestellt, kommen zwangsläufig Regeln und Standards zweiter Stufe ins Spiel: Regeln der Regeln bzw. Standards der Standards. Ein Beispiel für solche Regeln zweiter Stufe wäre in der Astrophysik etwa, wie Erwin Sedlmayr in seinem Beitrag wiederholt nahelegt, das sogenannte „kosmologische Prinzip“ im Sinne eines „notwendigen Generalisierungspostulats“, das „grundsätzlich auch jenseits des physikalischen Horizonts der Nachprüfbarkeit [auf der direkt objekt-bezogenen physikalischen Ebene; Zusatz G.A.] als erfüllt angenommen wird.“ (Anm. 2) Stellen wir nun die auch über diese zweite Ebene der Regeln und Standards noch hinausgehende Frage, worauf denn die Rechtfertigung und Geltung solcher Regeln und Standards zweiter Stufe beruhen, so stoßen wir unweigerlich auf ein ‚Weltbild‘ im Sinne eines unhinterfragten und mit anderen geteilten Fundaments unseres auch wissenschaftlichen, mithin auch astrophysikalischen Sprechens, Denkens und Handelns, wie dieses einer gegebenen Kultur zu einer gegebenen Zeit und bei gegebenem state of the arts in der jeweiligen Wissenschaft, hier: in der Astrophysik, zugrunde liegt. Zu dem heutigen astrophysikalischen Weltbild zählen etwa die Annahmen, dass die Welt im ganzen (und der Übergang der Rede vom ‚Universum‘ auf die Rede von ‚Welt‘ signalisiert hier den Übergang vom engen in den weiten Sinn von Weltbild) einen singulären Anfang hat und dass sie sich naturgeschichtlich einem Endzustand zubewegt. In Aufnahme der Wittgensteinschen Auffassung (ÜG Nr. 93 ff.) wird auch in der ZuI-Philosophie ‚Weltbild‘ als der „überkommene Hintergrund“ verstanden, als das Fundament menschlichen Sprechens, Denkens und Handelns und in diesem Sinne als die Grundlage der jeweiligen menschlichen Kultur. Dieser Hintergrund umfasst propositionale Elemente (wie Überzeugungen und Meinungen) ebenso wie nicht-propositionale Komponenten (wie religiöse und mythische Einstellungen), sprachliche Teile (wie Erzählungen oder Legenden) ebenso wie nicht-sprachliche Elemente (wie Sitten, Gebräuche und Rituale). Innerhalb dieses weit gefassten und tief liegenden Sinns der Rede von Weltbild kann man dann auch den engeren Sinn solcher Rede ansiedeln. Wir sprechen dann von einem wissenschaftlichen Weltbild in dem skizzierten Sinne, in der Astrophysik etwa von einem heliozentrischen im Unterschied zu einem geozentrischen Weltbild. Obwohl ein wissenschaftliches Weltbild gegenüber dem Weltbild als dem „überkommenen Hintergrund“ enger gefasst und ersteres genealogisch von letzterem abhängig ist, schließt dies gleichwohl die Möglichkeit ein, dass Ergebnisse der Wissenschaften von so grundlegender Relevanz sein können, dass sie ihrer-
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seits ein bisheriges Weltbild im weiteren und tieferen Sinne dieses Ausdrucks modifizieren können. Dies ist zum Beispiel im Falle des Übergangs vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild, im Falle der Aufdeckung der Relativität von Raum und Zeit oder angesichts heutiger kosmologischer Befunde der Astrophysik oder der Entschlüsselung des menschlichen Genoms durch die Bioforschung oder Aspekten der Neurowissenschaften gegeben. Zusammenfassend sei betont, dass Weltbilder sowohl in ihrem engen als auch in ihrem weiten Sinne in sich und in ihren präformierenden Funktionen als zeichen- und interpretativ-verfasste Hintergrundannahmen und Stabilisatoren unseres Denkens und Handelns charakterisiert werden können. Auch und vornehmlich die wissenschaftlichen, im Beispiel Sedlmayrs die astrophysikalischen Welten können als Zeichen- und Interpretationswelten charakterisiert und beschrieben werden. Insofern hier der zeichen-verfasste und interpretative Charakter der Weltbilder selbst in den Blick tritt – Weltbilder manifestieren und vollziehen sich (im engen wie im skizziert weiten Sinne) in Zeichen und Interpretationen –, ist zugleich festzuhalten, dass Weltbild-Forschung ein Zweig der ZuI-Philosophie ist, nicht umgekehrt.
4 Modelle als Zeichen- und Interpretations-Konstrukte Weltmodelle, auch astrophysikalische Weltmodelle, sind Modelle. Daher können auch sie, wie Modelle generell, als ZuI-Konstrukte verstanden werden.² Auf diese Weise kann ein weiterer und wichtiger Aspekt des Verhältnisses von Wissenschaft und ZuI-Philosophie in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. Modellbildung ist in den Wissenschaften von kardinaler Bedeutung. In einem weiten Sinne verstehen wir unter Modellbildung die Re-Konstruktion zentraler Merkmale eines konkreten Objekts, Prozesses oder Systems, die dann Gegenstand weiterer Untersuchungen werden können. Des näheren lassen sich unterschiedliche Typen von Modellen unterscheiden, wie z. B. (einer Einteilung von D. BailerJones und St. Hartmann folgend) Skalenmodelle (Bsp.: Modelleisenbahn), Analogmodelle (Bsp.: Computer-Modell des menschlichen Geistes), Theoretische Modelle (Bsp.: das Urknall-Modell der Astrophysik), Mathematische Modellierungen (Bsp.: eine bestimmte mathematische Struktur erfüllt die Axiome der Gruppentheorie). Siehe zum Folgenden ausführlich (ZdW Kap. 12); im Folgenden greife ich teils wörtlich auf die dort erörterten Materialien zurück.
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Modelle werden zu unterschiedlichen Zwecken und Zielen gebildet und eingesetzt. Allein deshalb schon können sie als ZuI-Konstrukte angesprochen werden. Denn um bestimmten Zwecken und Zielen zu genügen und die auf diese bezogenen Validierungen zu überstehen, müssen die konkreten Modelle über spezifizierende, segmentierende und selektierende Merkmale und Grenzen verfügen. Modelle können als symbolische Instrumente und in diesem Sinne als heuristische und instrumentalistische (nicht als theoretische) Zeichen- und Interpretationskonstrukte zum Zwecke wissenschaftlich weiterführender Untersuchung von Objekten, Prozessen und Systemen verstanden werden. Sie dienen der Aufbereitung, der Organisation, der Einordnung und der Bewertung von Daten. Erwin Sedlmayr hat sich im vorliegenden Text ebenso wie in einer früheren Arbeit (Sedlmayr 2001) aufschlussreich mit der Modellbildung in Physik und Astronomie beschäftigt. Er hat Ebenen der Modellbildung unterschieden, die sich in ein Verhältnis zum Stufenmodell der ZuI-Philosophie setzen lassen. Diesen Punkt möchte ich im Folgenden aufgreifen und näher erläutern.³ Zunächst ist zu beachten, dass in der Rede von Modell und Modellbildung sehr unterschiedliche Aspekte im Vordergrund stehen können, je nachdem, um welche Ebene der Betrachtung es sich handelt. Sedlmayr hat solche Ebenen aufschlussreich herausgearbeitet. Mit Sedlmayr kann man die folgenden vier aufeinander aufbauenden Ebenen in puncto Modellbildung in der physikalischen und astronomischen Forschung unterscheiden: (a) die Ebene der Definition des generellen Rahmens der Betrachtung; (b) die Ebene der Auswahl eines geeigneten Theorieapparats; (c) die Stufe der Festlegung der Beschreibungsverfahren und der Grundgleichungssysteme; und (d) die Ebene der Konstruktion konkreter quantitativer Modelle, die sich für den Physiker und Astronomen aus den Lösungen der Grundgleichungssysteme der vorausliegenden Modellebene ergeben und in die Simulation eines Systems weitergeführt werden können. Ohne Frage können diese einzelnen Schritte und Festlegungen als ZuI-Schritte und ‐Festlegungen charakterisiert werden. Mittels ihrer werden instrumentelle Schnitte und Grenzen in zunächst kontinuierliche Zustände gelegt, die den Beginn, die Durchführung und selbst die als Output formulierbaren Resultate der entlang dieser Rahmungen und Stufungen erfolgenden wissenschaftlichen Forschung entscheidend präformieren. Werden Modelle als ZuI-Konstrukte aufgefasst, so ist damit auch gesagt, dass faktische Modellbildungen stets bereits in umfänglichere ZuI-Verhältnisse eingebettet sind und von diesen her sowie auf sie hin erfolgen und auch validiert
Dabei greife ich auf Materialien aus (ZdW Kap. 12, insb. 375 – 379) zurück.
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werden. In der ZuI-Philosophie werden diese Verhältnisse wiederum in dem dreistufigen ZuI-Modell vertikal wie folgt unterschieden. Die Modelle und Modellbildungen im engeren Sinne (ebenso wie wissenschaftliche Theorien, Hypothesen und Gesetzmäßigkeiten) haben im Sinne projektionaler, konstruktionaler und aneignender Deutung ihren Sitz auf der ZuI3Ebene. In dieser Sicht wäre auch das von Erwin Sedlmayr für Physik und Astronomie beschriebene System aufeinander folgender Modellebenen insgesamt auf dieser dritten Ebene der ZuI-Verhältnisse anzusiedeln. Freilich zeigen vor allem die ersten beiden der vier Stufen physikalischer und astronomischer Modellbildung zugleich, dass und in welchem Sinne die Modellbildungen der Physik sowohl in umfänglichere ZuI-Ebenen eingebettet sind als auch in der Lage sein können, auf die beiden vorausgehenden ZuI2+1-Ebenen einzuwirken und dort Veränderungen herbeizuführen. Denn sowohl die Festlegung des generellen Rahmens der Betrachtung als auch die Wahl des Theorieapparats erfolgen zweck-, zeichen- und interpretations-kontextuell. Zugleich können Betrachtungsrahmen und Theorieapparat, Erfolg vorausgesetzt, modifizierend auf die Ebene der ZuIMuster, -Praktiken und -Konventionen (also auf die ZuI2-Ebene) und am Ende sogar bis in die kategorialisierende Ebene (mithin in die ZuI1-Ebene) zurückwirken. Die Einsteinsche Theorie der Relativität von Raum und Zeit ebenso wie die astrophysikalische Theorie der Expansion des Kosmos sowie die in der Astrophysik mathematisch wohldefinierte zeitliche Anfangssingularität des Universums im Urknall sind (obwohl als Theorien zunächst auf der ZuI3-Ebene formuliert) Beispiele solcherart durchschlagender Wirkung bis in die Struktur unseres Weltbildes auf den Ebenen 2+1. Mit Hilfe des in seinem weiten Sinne zu verstehenden Gesamtmodells der ZuIVerhältnisse lässt sich auch der wichtige Aspekt rekonstruieren, dass jedes Modell im engeren Sinne bereits Voraussetzungen in Anspruch nimmt, die in ihm selbst nicht repräsentiert sind. Das von Erwin Sedlmayr erwähnte und in seiner Schlüsselstellung für das astronomische Weltmodell kaum zu überschätzende ‚kosmologische Prinzip‘ ist von dieser Art. Auf diesem Prinzip bzw. Postulat „basieren heute fast alle physikalisch konstruierten Weltmodelle“, das Prinzip bzw. Postulat selbst beruht jedoch „auf einer physikalisch nicht begründbaren“ Generalisierung der großräumigen Beobachtungstatsachen (Kap. 7). Darüber hinaus sind in jeder erfolgreichen Modellbildung und Modellapplikation stets bereits so fundamentale und im Kern zeichen-interpretative Prozesse in Anspruch genommen wie etwa (a) die Individuation von Objekten und Ereignissen, (b) die raum-zeitliche Lokalisierung von Objekten und Ereignissen, (c) die senso-perzeptiven Gestaltbildungen sinnlicher Weltorganisation und (d) die grundbegrifflichen Konzepte und sortalen Prädikate zur Organisation der Beobachtungen und Erfahrungen. Diese Prozesse sind vorausgesetzt, ohne dass sie
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ihrerseits in dem erfolgreichen Modell repräsentiert werden müssten. In Modellen steckt mehr, als man modelliert. In diesem Sinne sind ZuI-Verhältnisse (und nicht etwa eine vorfabriziert fertig daliegende Realität im Sinne von Dingen-an-sich oder Eigenschaften-an-sich) konditional für Modellbildungen und für Modellapplikationen, nicht umgekehrt. Modellbildungen und Modellanwendungen erfolgen aus einem projektional verfassten Netzwerk von zeichen- und interpretationsartigen Zwecken und Hintergrundannahmen. Sie funktionieren auf symbolisch instrumentelle Weise, und sie sind (wie die Objekte, Prozesse, Daten und Systeme, die sie bezeichnen und interpretieren) ihrerseits auf eine nicht-eliminierbare, mithin notwendige Weise zeichen- und interpretations-gebunden.
Literatur Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt am Main; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt am Main; [ZdW]. Sedlmayr, Erwin 2001: Modellbildung in Physik und Astronomie, in: Modellbildung in den Wissenschaften und ihre praktische Anwendung. Bericht zu einem fächerübergreifenden Workshop, veranstaltet vom „Treffpunkt der Wissenschaften“ an der Technischen Universität Berlin am 20. Januar 2001, hg. v. Präsident der TU Berlin, Berlin. Wittgenstein, Ludwig 1984: Über Gewißheit, in: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt am Main; [ÜG].
Teilband 2
Kapitel 9: Recht und Gesetz
Hans Jörg Sandkühler
Das Recht und die Grenzen der ‚Offenheit der Interpretation‘ Abstract: The paradigm ‘interpretation’ is of such universal application that – according to Günter Abel – the relations of world-reference, reference to others, and self-reference can be characterized as relations of interpretation. Precisely because one has to agree with this hypothesis, the question arises whether it reaches its limits when it comes to law. On the one hand, legal system and jurisdiction belong to the worlds formed by interpretation, in which authors and recipients of norms have convictions and possess knowledge that is viewed as justified. On the other hand, in a constitutional democracy there are bounds of interpretation: the constitution protects the essential area of fundamental rights justified by human rights due to the respect for human dignity, normalized in the basal legal proposition of article 1(1) of the constitution (Grundgesetz), from unlimited interpretation and assessment. Even though the pluralism of interests and interpretations is connected with factual relativism, this does not result in a legitimization of a normative legal relativism. The principle of granting every person the freedom of his interpretation meets, when it comes to law, boundaries that must not be crossed.
Günter Abel in freundschaftlicher Verbundenheit
Der philosophische Diskurs verdankt Günter Abel die Einführung von ‚Interpretation‘ als epistemologisches – und über die Epistemologie hinaus auch für Ethik und Politik fruchtbares – Paradigma. In Interpretationswelten hat er Interpretationen als Vorgänge charakterisiert, „in denen wir etwas als ein bestimmtes Etwas phänomenal diskriminieren, Identifikationen und Re-Identifikationen vornehmen, Prädikate und Kennzeichen applizieren, Zuschreibungen durchführen, Zusammenhänge konstruieren, durch Einteilungen klassifizieren und in Bezug auf so formierte Welten dann über Meinungen, Überzeugungen und auch über ein gerechtfertigtes Wissen verfügen. Unsere Welten können darum als Interpretationswelten qualifiziert und diese als jene behandelt werden“ (Iw 14). Dieses Paradigma beansprucht eine so universelle Geltung, „daß die Verhältnisse der Welt-, Fremd- und Selbstbezüglichkeit, in denen wir uns immer schon befinden, als Interpretationsverhältnisse charakterisiert werden können“ (SZI 11). https://doi.org/10.1515/9783110522280-040
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Im folgenden Beitrag sollen zunächst einige wesentliche Prämissen und Folgen des interpretationsphilosophischen Konzepts skizziert werden. Das Konzept soll dann mit der Frage konfrontiert werden, ob mit dem universellen Anspruch die Annahme von Grenzen der Interpretation verträglich ist. Die mich interessierende Frage lautet: Stößt die Interpretationsphilosophie im Recht an ihre Grenzen? Die Antwort wird lauten: Nein und Ja. ‚Nein‘ lautet sie, weil auch das Rechtssystem und die richterliche Rechtspraxis zu den durch Hermeneutik und Auslegung ‚formierten Welten‘ gehört, in denen Normautoren und Normadressaten über Überzeugungen und ein für gerechtfertigt gehaltenes Wissen verfügen. Das ‚Ja‘, mit dem die Frage nach Grenzen des Interpretierens zu beantworten ist, folgt daraus, dass die Verfassung des demokratischen Rechtsstaates den wesentlichen Bereich der menschenrechtlich begründeten Grundrechte und Grundfreiheiten aufgrund der im basalen Rechtssatz des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) normierten Achtung der Menschenwürde der ‚offenen‘ legislativen Interpretation und judikativen Abwägung entzieht: Gem. Art. 19 Abs. 2 GG darf in „keinem Falle […] ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden“.¹
1 ‚Interpretation‘ als epistemologisches Paradigma 1.1 Die Unmöglichkeit perfekten Wissens als Voraussetzung der Rechtsordnung Abels Konzeption hat eine wesentliche metaphysikkritische und antidogmatische wissens-, begründungs- und wahrheitstheoretische Prämisse, die er in Sprache, Zeichen, Interpretation so umrissen hat: „Mit dem Interpretationscharakter menschlichen Sprechens, Denkens und Handelns ist gesetzt, daß keiner von uns endlichen und darum interpretatorischen Geistern im Besitz von so etwas wie ‚Der Einen Metaphysischen Wahrheit‘ und/oder ‚Der Einen Definitiven und
Art. 79 Abs. 3 GG lautet: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Gem. Art. 93 Abs. 4a GG, entscheidet das Bundesverfassungsgericht „über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein“.
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Allgemein Verbindlichen Begründung‘ oder auch nur im Besitz einer privilegierten Strategie zu deren Erlangung ist.“ (SZI 348) Abel betont, „daß die epistemische Situation endlicher und fallibler Geister nicht übersprungen werden kann. Wir sind nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch von der Möglichkeit eines perfekten und definitiven Wissens abgeschnitten.“ (SZI 307) Hieraus ergibt sich die „Offenheit der Interpretationen“: „Der Vorgang Interpretation ist gekennzeichnet zum einen durch seinen perspektivischen und konstruktionalen, zum anderen durch seinen offenen und unabschließbaren (jeweils nur pragmatisch, d. h. nur unter situations-, kontext- und zeitbezogenen Bedingungen und Zwecken abschließbaren) Charakter. Interpretation ist in dem Sinne ‚offen‘, daß durch sie nicht definitiv und allgemein verbindlich festgelegt wird, welches die an sie anschließende, die auf sie folgende, die nächste Interpretation ist. Interpretations-Ketten und Interpretations-Netzwerke, wie sie in Verständigungs- und Handlungsverhältnissen vorliegen, können nicht als Determinations-Ketten oder Determinations-Netze beschrieben werden. Interpretationsvorgänge können in dem Sinne frei genannt werden, daß nicht vorab feststeht und nicht in einem Kalkül oder einem Algorithmus vorab geregelt ist, welches die an eine gegebene Interpretation anschließende nächste Interpretation ist.“ (SZI 358 f.) In diesem epistemologischen Horizont, der für ihn „in kritischer Einstellung nicht zu beklagen, sondern vielmehr zu begrüßen“ ist, formuliert Abel die für Ethik und Politik einschlägigen Folgen: „Anderenfalls wären Fanatismen philosophisch sanktionabel. Daß wir uns unter kritischem Vorzeichen (und zwar in theoretischer wie in praktischer Hinsicht) nicht in der Position befinden, eine Instanz als die metaphysisch einzig seriöse, definitive und allgemein verbindliche auszeichnen zu können, so daß andere Interpretations-Horizonte anderer Personen mit metaphysischer Legitimation unter diese gezwungen werden könnten, dies ist der tiefste Punkt der Interpretationsethik. Er markiert die Wende in eine Normativität, die sich intern, interpretations-analytisch und ohne externe Annahmen aus dem Interpretationsgedanken selbst ergibt. Eine Ethik der Interpretation ist dadurch gekennzeichnet, daß sie den anderen Personen ihre anderen Interpretationen, mir aber meine Interpretationen sowie auch meine Interpretationen der anderen Interpretationen beläßt. Indem die Interpretierenden sich dies wechselseitig zugestehen und sich einander in ihren Unterschiedenheiten, Eigenarten, Fremdheiten oder gar Gegensätzen anerkennen und von der Idee der Subsumption anderer fremder InterpretationsHorizonte unter die je eigenen absehen, sind sie gegeneinander frei.“ (SZI 348) Dass diese Freiheit nicht grenzenlos ist, stellt auch Abel fest: „Freilich müssen die offenen Interpretationen zugleich auch so an eine öffentliche Interpretations-Praxis des Sprechens und Handelns gebunden sein, daß andere
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Interpretationen und die Interpretationen anderer Personen daran anschließen können.“ (SZI 359) Damit erschließt sich die Dimension von „Universalisierung, Moral und Recht“. Die Ethik der Interpretationsverhältnisse führt in politischer Hinsicht dazu, „die freiheitliche, pluralistische und rechtsstaatliche Demokratie als die der allgemeinen Interpretationsphilosophie affine und wahlverwandte Form des politischen Systems verantworten zu können“ (SZI 21). In interpretationsethischer Perspektive können Gründe für eine Rechtsordnung angegeben werden, „die die Freiheit der Interpretationsverhältnisse gegenüber partikular sich aufspreizendem und moralisierendem Sollen sichert. Aus dem […] Gesichtspunkt der Freiheit und Gleichheit der Interpretierenden heraus ist eine solche Rechtsordnung auch legitimiert, Rechtszwang und autoritatives Gebot zur Aufrechterhaltung der freiheitlichen, gleichen und pluralen Interpretationsverhältnisse auszuüben.“ (SZI 367) Abel weiß, dass seine Konzeption „keine Garantie für Sittlichkeit ohne Dogmatismus und Fanatismus“ enthält, und angesichts „dieses Befundes wird die zentrale Rolle des Rechts deutlich. Das Recht darf zwingen, nicht aufgrund eines übernatürlichen Ursprungs (das wäre dogmatisches Recht), sondern in Konsequenz der Einsicht, daß wir von eben solchen übernatürlichen Quellen abgeschnitten sind, daß mithin niemand ein metaphysisches ‚Recht‘ haben kann, andere Personen, Gruppen und Institutionen, ‚notfalls‘ mit blutiger Gewalt, unter die eigene und dogmatische Optik zu zwingen.“ (SZI 361)
1.2 Systematische Gründe für die Anerkennung der Relationalität des Wissens Im Erkennen und Wissen werden nicht ‚Dinge, wie sie an sich selbst sind‘, in Form von Abbildern repräsentiert. Die metaphysisch-realistische Perspektive auf die Beziehung zwischen Welt und Wissen gründet in jenem falschen Streben nach Gewissheit, das John Dewey in The Quest for Certainty als den Irrtum der Abbildtheorie charakterisiert hat: Diese Theorie „ist den Vermutungen über das, was beim Akt des Sehens stattfindet, nachgebildet worden. […] Der wirkliche Gegenstand ist der Gegenstand, der in seiner königlichen Abgeschiedenheit so unverändert ist, daß er für jeden schauenden Geist, der auf ihn blickt, ein König ist. Das unvermeidliche Ergebnis ist eine Zuschauertheorie des Erkennens.“ (Dewey 1929: 27. Hervorh. H. J. S.) Ohne Präsentation sind die ‚wirklichen‘ Gegenstände amodal und bedeutungslos. Etwas wird präsent gemacht, indem ihm in Sprache, Zeichen und Bild innerhalb einer bestimmten Lebenswelt eine Bedeutung für diese Welt gegeben wird. Die Freiheitsgrade des Präsentierens-als erhöhen sich in dem Maße, wie es
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sich um Zeichen und Symbole handelt: „[Der] Begriff des Zeichens ermöglicht die Orientierung in der Welt als Orientierung an ,etwas‘, das zugleich freilässt. […] Das Zeichen bleibt gegenüber jeder Interpretation ,stehen‘ für andere Interpretationen, durch andere Personen und durch ,dieselbe‘ Person zu einer anderen Zeit.“ (Simon 1994: 12) In Interpretationen werden Wissenswelten so konstituiert, als ob sie Dingwelten wären. Interpretationen schaffen das, was Kant in seiner Kritik der Urteilskraft „Gegenstände für Begriffe“ nennt, „deren objective Realität (es sei durch reine Vernunft, oder durch Erfahrung und im ersteren Falle aus theoretischen oder praktischen Datis derselben, in allen Fällen aber vermittelst einer ihnen correspondirenden Anschauung) bewiesen werden kann“. Diese Gegenstände „sind (res facti) Thatsachen“ (Kant 1790: 468, KdU § 91). Dieses Prinzip, dass im Erkennen und Wissen Artefakte entstehen, wurde nach Kant wegweisend bis hin in die Philosophie der induktiven Wissenschaften. Für W. Whewell war klar: „Nature is the Book, and Man is the Interpreter.“ (Whewell 1847: 37) Auch J. S. Mill bekräftigte dieses Prinzip im 4. Buch seiner Logik: Dem „Anscheine nach“ sei zwar bei jeder Induktion die Bedingung erfüllt, „daß das, was man für beobachtet hält, auch wirklich beobachtet worden, daß es eine Beobachtung und nicht ein Schluß sei“. Dies ist aber nur scheinbar zutreffend. Denn was man für ein Ergebnis der Beobachtung ‚der Dinge‘ hält, ist eine brisante Mischung ‚aus zehn Prozent Beobachtung und neunzig Prozent Folgerungen‘.² Nietzsches Kritik am „Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt ‚es giebt nur Thatsachen‘“, bietet eine radikalisierte Variante dieses Themas: „nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen“ (Nachlass 1886/87, 7[60], KSA 12.315). Vergleichbar heißt es bei A. N. Whitehead: „[T]here are no brute, self-contained matters of fact, capable of being understood apart from interpretation as an element in a system. […] When thought comes upon the scene, it finds the interpretations as matters of practice.“ (Whitehead 1978: 14) Wiederum ähnlich argumentiert E. Cassirer, bezogen auf die Naturwissenschaften, mit P. Duhem: „Die Empirie scheint sich damit begnügen zu können, einzelne Fakta, wie sie sich der sinnlichen Beobachtung darbieten, zu erfassen und sie rein beschreibend aneinanderzureihen. […] Jedes Gesetz […] kommt nur dadurch zustande, daß an die Stelle der konkreten Data, die die Beobachtung liefert, symbolische Vorstellungen gesetzt werden, die ihnen auf Grund bestimmter theoretischer Voraussetzungen, die der Beobachter als wahr und gültig annimmt, entsprechen sollen. […] Die Bedeutung dieser Begriffe liegt nicht der unmittelbaren Empfindung offen, sondern kann erst durch einen höchst komplexen in-
(Mill 1843, Bd. 4: 2). Zur Geschichte des Problems des Zusammenhangs von Tatsachen, Theorien und Interpretationen siehe die ausführliche Darstellung in (Sandkühler 2003).
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tellektuellen Deutungsprozeß bestimmt und sichergestellt werden: und eben dieser Prozeß, eben diese gedankliche Interpretation ist es, die das Wesen der physikalischen Theorie ausmacht.“ (ECW 13: 24) Die Frage, ob wir uns Wissen zuschreiben und wahre Aussagen über etwas in der ‚Außenwelt‘ machen können, kann nicht mit dem ‚Ja‘ des Korrespondenztheoretikers und muss nicht mit dem ‚Nein‘ des Skeptikers beantwortet werden. Die sinnvolle Antwort lautet: „Das hängt davon ab“. Das Wahrsein von Wissen ist eine Wahrheits mit der Signatur des jeweiligen semantischen Kontextes. Es ist von Überzeugungen, Denkstilen, Denkgemeinschaften und Wissenskulturen nicht unabhängig.³ H. Putnam betont, wenn man von Tatsachen rede, „ohne die zu verwendende Sprache anzugeben“, spreche man von gar nichts (Putnam 1999: 21). Er ergänzt die Prinzipien des Tatsachenverständnisses im Pragmatismus um das Prinzip ,Interpretation‘: „Das Wissen von Fakten setzt ein Wissen von Interpretationen voraus.“ (Putnam 1995: 196) Die Vorstellung, Wissen sei der erfolgreiche Versuch, „eine einmalige, abgepackte, aber leider Gottes unentdeckbare Realität ausfindig zu machen, und von Wahrheit als der Übereinstimmung mit dieser unzugänglichen Realität“ (71), ist nicht haltbar. Ist Relativismus dann unausweichlich? Die Relationalität aller mit ,Ich weiß, dass p‘ beginnenden Sätze ist nicht zu umgehen. Die Gewissheit, die Personen haben und in Interaktionen mit Dritten erreichen können, ist weit entfernt von einer durch das Sein selbst garantierten Übereinstimmung zwischen Dingen und Aussagen. Gewissheiten stehen unter dem Vorbehalt, mit epistemisch-wissenskulturellen und praktischen Voraussetzungen, epistemischen und praktischen Bedürfnissen und Interessen sowie mit Einstellungen des Meinens, Glaubens und Überzeugtseins, des Wünschens und Befürchtens, ,geladen‘ zu sein. Sie stehen ferner unter dem Vorbehalt, dass Nichtwissen das Wissen überschattet. Deshalb handelt es sich bei der Aussage „Wissen ist gerechtfertigte wahre Überzeugung“ nicht um eine sinnvolle Definition, sondern um einen normativen Satz, der das Problem des Wissens so lange verschleiert, wie seine Normativität nicht verstanden wird. Die ‚Definition‘ klammert aus, dass die Entstehung, Funktion und Geltung von Wissen von bewussten Wahlen oder unbewussten Übernahmen von epistemologischen Profilen, Begriffsschemata, Rahmentheorien etc. beeinflusst ist, die mit Überzeugungen zusammenhängen bzw. Überzeugungen bilden. Die angestrebte Rechtfertigung von Überzeugungen ist abhängig von Überzeugungen. Mit dem Gütesiegel letzter Wahrheit kann sie nicht versehen werden. Interpretation steckt den epistemischen Raum und die historische Zeit als Möglichkeitsbedingungen (und Grenzen) des Wissen-Könnens ab. Das Ende aller
Siehe hierzu ausführlich (Sandkühler 2009).
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Gewissheit bedeutet sie nicht. Mit dem Plädoyer für einen moderaten Realismus und ein wahrheitstheoretisch bescheidenes philosophisches und wissenschaftliches Denken wird kein anything goes-Relativismus propagiert. Gesagt wird nur: Es gibt im menschlichen Wissen keine Sachverhalte (Dinge, Ereignisse etc.), die nicht interpretiert wären.
1.3 Relativismus und Demokratie Der Pluralismus voneinander abweichender Überzeugungen, Wahrheiten und Interpretationen führt zu dem faktisch zutreffenden Eindruck, dass im Denken und im Handeln vieles, wenn nicht alles möglich ist. Je selbstverständlicher epistemische Relativität ist, desto fließender werden die Grenzen praktischer Normalität. Wenn eine Überzeugung als meine Überzeugung gerechtfertigt ist, wenn die Welt meine Welt ist, wenn die Wahrheit meine Wahrheit ist, dann fällt der Schritt zur Annahme leicht, jemeinig sei auch das Recht. Verhaltensnormen werden aus Welt-Versionen abgeleitet, in denen auch Auffassungen des Guten, der Gerechtigkeit und zweckentsprechenden Handelns divergieren (können). Deshalb werden aus praktischen Gründen Interventionen im Namen einer Rationalität notwendig, die nicht zu Gewalt führt, sondern Alliierte der Menschenwürde ist. Wenn sich individuelle Freiheit ohne die Garantie der Freiheit aller selbst vernichtet, führt der Pluralismus zwangsläufig auf die Frage nach der ihm entsprechenden Ordnung; dies heißt vor allem: nach der Gerechtigkeit, dem Recht und dem Staat. Relativismus ist eine Alltagserfahrung. Zu ihr gehört aber auch, weder alles für möglich zu halten, noch alles zuzulassen, was möglich ist. Es gibt ein spontanes Bedürfnis nach wechselseitigem Schutz vor dem anything goes. Dem entspricht das Bedürfnis nach Sicherheit, wie sie das Recht bietet, und eine Zustimmung zur rechtlichen Sicherung der Freiheiten und vor Freiheiten. Der Relativismus wird relativiert: Er kann nicht absolut sein, sondern muss dadurch relativiert werden, dass er in Relation gesetzt wird zur Würde und zu den Freiheitsrechten aller. Niemand hat dies so früh so klar gesehen wie Gustav Radbruch. Er hat in Der Relativismus in der Rechtsphilosophie geltend gemacht, die Verfassung müsse „im Dienste der sozialen Ordnung und der Rechtssicherheit“ stehen und die Kraft entfalten, „den Kampf der Überzeugungen“ in Formen der Koexistenz konkurrierender Einstellungen und Interessen zu überführen. Die rechtsstaatliche Ordnung kann freilich die „Sicherheitsaufgabe nur unter der Voraussetzung erfüllen, daß [sie] nicht allein die Rechtsunterworfenen verpflichte, sondern auch den Gesetzgeber selbst. […] Die Gesetzgebung ist dem Gesetzgeber anvertraut nur unter der Bedingung, daß er sich selbst der Herrschaft des Gesetzes
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unterwerfe. Ein Staat, der sich seinem eigenen Gesetz unterworfen weiß, heißt […] Rechtsstaat. Der Relativismus fordert den Rechtsstaat.“⁴ Anders gesagt: Auch wenn die Pluralität von Interessen und Interpretationen, von Wissens- und Handlungskulturen, zu faktischem Relativismus führen muss, folgt daraus keine Ermächtigung zu normativem Rechtsrelativismus. ⁵ Wenn es unmöglich ist, ein für jeden einsichtiges System der Normen richtigen Verhaltens zu unterstellen, dann bedarf es einer Entscheidung darüber, was rechtlich gesollt ist: „Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was rechtens sein soll“, so Radbruch (1993: 162), der sich 1932 in seiner Rechtsphilosophie sowohl zum „Rationalismus“ als auch zum „Relativismus“ als den Prägungen seiner „Denkweise“ bekannte. Er betonte, dem Relativismus „eine noch größere Bedeutung“ beizumessen als zuvor: „Denn der Relativismus ist die gedankliche Voraussetzung der Demokratie. […] Der Relativismus mit seiner Lehre, daß keine politische Auffassung beweisbar, keine widerlegbar ist, ist geeignet, jener bei uns in politischen Kämpfen üblichen Selbstgerechtigkeit entgegenzuwirken, die beim Gegner nur Torheit oder Böswilligkeit sehen will“ (3 f.). Mit ‚Demokratie‘ ist das Zugeständnis an jenen Pluralismus und Relativismus verbunden, den das Recht zügelt. Demokratie wäre – so Hans Kelsen – ein hoffnungsloses Unterfangen, „wenn man von der Annahme ausgeht, daß eine Erkenntnis absoluter Wahrheit, daß eine Einsicht in absolute Werte möglich ist. Denn was kann es gegenüber der alles überragenden Autorität des Absolut-Guten anderes geben als den Gehorsam derer, denen es das Heil bringt, den bedingungslosen und dankbaren Gehorsam gegenüber demjenigen, der, im Besitz des Absolut-Guten, dieses weiß und will; ein Gehorsam, der freilich in demselben Maße nur auf dem Glauben darauf beruhen kann, daß die autoritäre Person des Gesetzgebers im Besitze des Absolut-Guten sei, als eine Erkenntnis desselben der großen Menge der Normunterworfenen versagt bleibt. An diesem Punkte“, fügt Kelsen hinzu, „an dem die Demokratie jede Aussicht auf Rechtfertigung verloren zu haben scheint, gerade an diesem Punkte muß ihre Verteidigung einsetzen.“⁶ Nicht anders sieht dies Abel: „Sobald Politik nicht mehr als ‚Werk der Wahrheit‘ angesehen werden kann, erscheint die Demokratie als Konsequenz des Relativismus im Bereich der politischen Herrschaftsordnung.“ (SZI 340 f.)
(Radbruch 1990: 19. Hervorh. H. J. S.). Vgl. zu Radbruch und Kelsen (Sandkühler 2002). Siehe hierzu (Sandkühler 2011). (Kelsen 1981: 100). Zum „Relativismus“, den „der demokratische Gedanke voraussetzt“, vgl. (101).
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2 Recht und Interpretation Der faktische Pluralismus und Relativismus muss in der rechtsstaatlich verfassten Demokratie mit Regeln und Verfahren vernünftigen Umgangs mit dem epistemischen Konflikt der Welt-Interpretationen, mit Wertkonflikten und mit dem praktischen Streit um die Befriedigung von Bedürfnissen und Interessen verbunden werden, und zwar so, dass alle zu Legalität und Normengehorsam verpflichtet sind, doch niemand über das Rechtsnormensystem hinaus zu Konsens gezwungen wird. Pluralismus erlaubt Interpretations- und Begründungsvielfalt. Die Verschiedenheit der Meinungen, Wertpräferenzen und Verhaltensweisen wird nicht totalitär denunziert. Autonomie kann freilich nur in menschenrechtlichen Grenzen respektiert werden. Aus der Anerkennung des Pluralismus folgen die Notwendigkeit des – freiwilligen oder durch Recht erzwungenen – Verzichts auf die Durchsetzung partikulärer Präferenzen und Weltinterpretationen und diesen gegenüber neutraler Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, der Gerechtigkeit und der Allgemeinheit des Rechts. Die eine Moral, die eine Ethik – sie eignen sich nicht zu allgemein verpflichtender Normenbegründung. Gegen die Annahme, Moralen und Ethiken könnten nicht nur theoretisch, sondern auch mit praktischer Wirkung die Grundlage von Rechtsnormen sein, sprechen zwei Gründe: Der erste Grund ergibt sich daraus, dass Menschen aufgrund ihrer Freiheit zum Guten und zum Bösen nicht nur nach Legalitätsmaßstäben handeln. Der zweite Grund ergibt sich daraus, dass in modernen Gesellschaften mit dem Pluralismus de facto nicht nur epistemischer, sondern auch praktischer Relativismus einhergeht. Der Relativismus kann nur in einem alle verpflichtenden und deshalb notwendigerweise gegenüber Moralen, Religionen und Weltanschauungen neutralen Rechtssystem in Schranken verwiesen werden. Hiermit sind auch Grenzen der ‚offenen‘ Interpretation des Rechts verbunden. Grenzen sind nicht allein der Interpretation und Abwägung der Menschen- und Grundrechte gesetzt, sondern auch dem freien Spiel möglicher Rechtsauslegung.
2.1 Zur juristischen Methoden- und Auslegungslehre Alle Rechtssätze und rechtlich relevanten Sachverhalte, Tatbestände und Texte sind interpretationsbedürftig (vgl. Alexy 1995: 71– 92). Doch weit stärker als im Rahmen kontrovers debattierter philosophischer und geisteswissenschaftlicher Auslegungslehren sind Juristen an die Regeln und Normen einer weitgehend
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anerkannten juristischen Methodenlehre⁷ bzw. Hermeneutik und so an Ordnungen gebunden, wie z. B. die Strafprozessordnung (StPO) die strafrechtliche Praxis bestimmt. Es werden in der Regel vier Auslegungsmethoden unterschieden: (i) die philologische Auslegung zur Feststellung des Wortsinns; (ii) die systematische Auslegung des Normenzusammenhangs; (iii) die historische Auslegung der Absichten des Gesetzgebers⁸ und (iv) die teleologische Auslegung der Zwecke des Gesetzes. In der Auslegung wird die Reichweite von Rechtsvorschriften abgesteckt, und bei Fehlen passender Normen werden Lücken durch Rechtsfortbildung geschlossen. Konkrete Lebenssachverhalte und Tatbestände können nicht immer eindeutig unter die abstrakt-generell gefasste Rechtsnorm subsumiert werden. Wenn eine Rechtsnorm unbestimmte Rechtsbegriffe oder gar Generalklauseln enthält, sind Umfang und Inhalt der verwendeten Rechtsbegriffe durch eine der Subsumtion vorausgehende Auslegung zu klären. Dabei darf aufgrund der Hierarchie der Rechtsnormen niederrangiges Recht höherrangigem Recht nicht widersprechen. Dies bestimmt insbesondere die Regel der verfassungskonformen Auslegung: Gibt es mehrere Auslegungsmöglichkeiten, so muss diejenige gewählt werden, die den Wertentscheidungen der Verfassung entspricht. Vor allem der naturrechts- und metaphysikkritische Rechtspositivismus hat der Interpretation von Rechtsnormen und Rechtstexten Grenzen gesetzt. Er verlangt (i) die Wahrung der Gewaltenteilung und ein gegen subjektive Willkür gerichtetes Rechtsschöpfungsverbot für die richterliche Gewalt, das allerdings die Fortbildung des Rechts durch verfassungs- und gesetzeskonforme Lückenergänzung nicht ausschließt,⁹ (ii) die Geschlossenheit (Vollständigkeit) der Rechtsord Vgl. u. a. (Zippelius 2006). Zur Rechtsvergleichung als fünfter Auslegungsmethode vgl. (Häberle 1989). Vgl. hierzu aber einschränkend BVerfGE 2 BvH 2/52 vom 21.5.1952 (53): „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können.“ Die Undurchführbarkeit des Rechtsschöpfungsverbots angesichts der Lückenhaftigkeit von Gesetzen und der Notwendigkeit subjektiver richterlicher Interpretation betonen (Kaufmann / Hassemer / Neumann 2010: 78 und 116). Karl Larenz stellt fest: „Auslegung des Gesetzes im engeren Sinn (bis zur Grenze des möglichen Wortsinnes) und Fortbildung des Rechts durch gesetzeskonforme Lückenergänzung und Konkretisierung der leitenden Prinzipien sind zwei ineinander übergehende Stufen desselben Verfahrens.“ (1974: 32).
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nung, in der es den nicht-justiziablen Fall nicht geben darf (kein Rechtsverweigerungsverbot für Richter), und (iii) den Verzicht darauf, die Rechtsauslegung von privaten Weltanschauungen und Moralen abhängig zu machen. Im Rechtssystem kommt neben der Legislative den Richtern eine zentrale Rolle zu. Die Rechtsprechung ist gem. Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG nur „an Gesetz und Recht gebunden“ und „unabhängig“. Dies bedeutet, dass sie bei der Anwendung von Gesetzen zugleich auf das Recht und den Grund des Rechts – den Schutz der Menschenwürde und die Gerechtigkeit¹⁰ – verpflichtet ist. Doch die Gründe und Begründungen¹¹ für bestimmte Entscheidungen können – mit Ausnahme des Vorliegens von Legaldefinitionen, mit denen der Gesetzgeber die Auslegung einer Norm selbst festlegt¹² – nicht den Gesetzen selbst entnommen werden. Deshalb enthält das Rechtssystem einerseits Regeln, um richterliche Entscheidungen von subjektiven Wertungen so weit wie möglich frei zu halten. Angesichts der Auslegungsbedürftigkeit der Normen hat aber andererseits das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erklärt: „Am Wortlaut einer Norm braucht der Richter aber nicht halt zu machen. Seine Bindung an das Gesetz […] bedeutet nicht Bindung an dessen Buchstaben mit dem Zwang zur wörtlichen Auslegung, sondern Gebundensein an Sinn und Zweck des Gesetzes. Die Interpretation ist Methode und Weg, auf dem der Richter den Inhalt einer Gesetzesbestimmung unter Berücksichtigung ihrer Einordnung in die gesamte Rechtsordnung erforscht, ohne durch den formalen Wortlaut begrenzt zu sein.“ Das BVerfG hat ferner festgestellt: „Zur Erfassung des Inhalts einer Norm darf sich der Richter der verschiedenen, insbesondere der systematischen und der teleologischen Ausle Das BVerfG hat mit Verweis auf Veränderungen von Gerechtigkeitsvorstellungen die Kompetenz der Richter zur ‚schöpferischen Rechtsfindung’ bejaht, selbst contra legem: „Das gilt besonders, wenn sich zwischen Entstehung und Anwendung eines Gesetzes die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen so tiefgreifend geändert haben wie in diesem Jahrhundert. Einem hiernach möglichen Konflikt der Norm mit den materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen einer gewandelten Gesellschaft kann sich der Richter nicht mit dem Hinweis auf den unverändert gebliebenen Gesetzeswortlaut entziehen; er ist zu freierer Handhabung der Rechtsnormen gezwungen, wenn er nicht seine Aufgabe, ‚Recht‘ zu sprechen, verfehlen will.“ (BVerfGE 1 BvR 112/65 vom 14. 2.1973 (42)). Zur juristischen Begründungslehre vgl. (Alexy et. al. 2003). Ein spezielles Problem stellt die ‚authentische Interpretation’ dar. Hierzu hat das BVerfG (1 BvR 2530/05 vom 21.7. 2010 (73)) erklärt, die in der Begründung eines Gesetzesentwurfs „in Anspruch genommene Befugnis des Gesetzgebers zur authentischen Interpretation“ sei „für die rechtsprechende Gewalt nicht verbindlich. Sie schränkt weder die Kontrollrechte und -pflichten der Fachgerichte und des Bundesverfassungsgerichtes ein noch relativiert sie die verfassungsrechtlichen Maßstäbe. Zur verbindlichen Auslegung einer Norm ist letztlich allein die rechtsprechende Gewalt berufen, die gemäß Art. 92 GG den Richtern anvertraut ist.“
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gungsmethoden gleichzeitig und nebeneinander bedienen. Sie stehen zur grammatischen Auslegung im Verhältnis gegenseitiger Ergänzung. Dabei kann gerade die systematische Stellung einer Vorschrift im Gesetz und ihr sachlich-logischer Zusammenhang mit anderen Vorschriften den Sinn und Zweck der Norm, also ihre wahre Bedeutung, freilegen.“¹³
2.2 Freie richterliche Überzeugung Von besonderer Tragweite ist im Kontext der Rechtsinterpretation das Problem der richterlichen Überzeugung:¹⁴ „Überzeugung ist die durch Überlegung erlangte Gewissheit. Freie richterliche Überzeugung ist die unabhängig von gesetzlichen Regeln erlangte richterliche Gewissheit, die einen solchen Grad erreicht haben muss, dass möglichen Zweifeln Schweigen geboten ist, ohne dass sie allerdings vollständig ausgeschlossen sein müssen.“ (Köbler 2005: 481) Dieses Prinzip gilt in Deutschland – mit Unterschieden z. B. im Straf-, Verwaltungs- und Zivilprozess – für alle Gerichte. Das BVerfG entscheidet „in geheimer Beratung nach seiner freien, aus dem Inhalt der Verhandlung und dem Ergebnis der Beweisaufnahme geschöpften Überzeugung“ (BVerfGG § 30 (1)). Für den Strafprozess gilt gem. § 261 StPO, über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheide „das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“. Die Bildung einer freien richterlichen Überzeugung ist freilich mit Problemen konfrontiert: Im Prozess verhalten sich die Täter, Opfer, Parteien und Zeugen als Interpreten. Die Wahrheit oder Unwahrheit ihrer Aussagen ‚ereignet‘ sich nicht. Obwohl unterstellt wird, dass Richter bei der Überzeugungbildung nur das verwenden, was Gegenstand der Verhandlung war, sind Einflüsse des privaten Wissens – unter Einschluss des gesamten persönlichen Überzeugungsystems: von sozialen u. a. Vorurteilen, religiösen und moralischen Glaubens-Überzeugungen und Werteinstellungen etc. – nicht auszuschließen; die Überzeugungbildung beginnt auch bei Richtern nicht im Gerichtssaal. Gefordert wird nicht, dass materielle Wahrheit im Sinne empirischer Rechtfertigung durch Tatsächlichkeit ‚festgestellt‘ wird; gefordert wird nur eine Entscheidung darüber, ob die Behauptung einer Tatsache (vgl. Rühl 1998) für wahr oder für nicht wahr zu erachten ist; diese Entscheidung setzt einen hohen Grad subjektiver Wahrscheinlichkeit (‚das Schweigen des Zweifels‘) voraus, der sich de facto häufig auf ein ‚Überwiegen der Wahrscheinlichkeit‘ reduziert. Indizienbeweise sind zugelassen. So-
BVerfGE 8, 210 (220 f.); vgl. 35, 263 (278 f.). Siehe hierzu (Sandkühler 2009: 130 – 156).
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fern es sich nicht um Strafprozesse handelt, müssen die zu würdigenden Beweise nicht in der Tatsächlichkeitsfeststellung eines Sachverhalts gründen: Als Methoden mittelbarer Beweisführung sind ‚Prima-facie-Beweise‘ und ‚tatsächliche Vermutungen‘ zugelassen; erwartet wird, dass der Beweisführer die ihm nach Treu und Glauben zumutbaren Mittel der Beweissicherung ausgeschöpft hat und der zu beweisende Sachverhalt in hohem Maße wahr-scheinlich ist. Beweise gelten dann als erbracht, wenn das Gericht den gesetzlich geforderten Grad an Überzeugung von der Richtigkeit der Beweisbehauptung gewonnen hat, also ‚volle Überzeugung‘, zumindest aber ‚Glaubhaftmachung‘. Die richterliche Überzeugungbildung – der Übergang von einer Vermutung oder Intuition zum Überzeugtsein von einer ‚Wahrheit‘ – ist in vielen Fällen von Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft und mangels hinreichender eigener Sachkenntnis von (konkurrierenden) Sachverständigengutachten beeinflusst. Justizfehler sind möglich; das in die freie Beweiswürdigung und in die richterliche Überzeugung gesetzte Vertrauen ist deshalb im Rechtswege-Staat zum einen durch Regeln, zum anderen – für den Fall des Regelverstoßes – durch Rechtsmittel (Berufung, Revision), sonstige Rechtsbehelfe, das Recht der Verfahrenswiederaufnahme und das Entschädigungsrecht abgefedert. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Kontext das von Hans Kelsen in seiner Reinen Rechtslehre betonte epistemologische und rechtswissenschaftliche Problem der Deutbarkeit einer Handlung unter einer Rechtsnorm: „Den spezifisch juristischen Sinn, seine eigentümliche rechtliche Bedeutung erhält der fragliche Sachverhalt durch eine Norm, die sich mit ihrem Inhalt auf ihn bezieht, der ihm die rechtliche Bedeutung verleiht, so dass der Akt nach dieser Norm gedeutet werden kann. Die Norm fungiert als Deutungsschema“ (Kelsen 1992: 3). Nimmt man die mit Überzeugungen allgemein verbundenen Probleme – vor allem das Rechtfertigungsproblem – ernst, dann kann auch für die richterliche Entscheidung nicht mehr vorausgesetzt werden als ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes, vernünftige Zweifel nicht zulassendes Maß an Sicherheit, verbunden mit der Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse, der Befolgung der Gesetze der Logik und der prozessualen Regeln. Im Gerichtsverfahren und in der Beweiswürdigung geht es de facto nicht um Korrespondenz-Wahrheit, sondern um so etwas wie eine nach strengen Regeln konsensuell gestützte KohärenzWahrheit. Es geht letztlich nicht darum, was Wahrheit ist, sondern was im geregelten Interpretationsrahmen als Wahrheit gelten kann.
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2.3 Menschenwürde, Menschenrechte und ius cogens als Grenzen der Interpretierbarkeit und Abwägbarkeit von Rechtsnormen 2.3.1 Die Menschenwürde ist nicht abwägbar Das Recht, das die Grundlage nicht nur der Legalität individuellen Handelns, sondern auch der Legitimität des Staates und des Handelns in internationalen Beziehungen ist, hat – gründend in der unbedingten Norm der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde – sein Fundament im System der positivierten bürgerlichen und politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Menschenrechte und in den ihnen entsprechenden bzw. aus ihnen weiter zu entwickelnden Grundrechten. Die Frage, ob diese Rechte universelle Geltung haben und ob ihre Geltung begründbar ist, stellt sich nicht. Ihre rechtliche Geltung gründet in dem, was in Menschenrechtspakten und -konventionen – vor allem der Vereinten Nationen – vertraglich ausgehandelt worden ist, und in den Normen des ius cogens, des erga omnes alle Staaten ‚zwingenden Rechts‘. Auch das Problem eines Konflikts zwischen Moral und Recht stellt sich im Rahmen dieser Rechte nicht. Die Normen des ius cogens und des Menschenrechte-Rechts sind die Moral, die in der gegenwärtigen Welt den Konsens eines juridischen Kosmopolitismus auf sich vereinigt. Wie jede Norm ist auch die Würdenorm ein Deutungsschema. Es kann deshalb nicht überraschen, dass es unübersehbar viele Interpretationen dazu gibt, was unter ‚Menschenwürde‘ verstanden werden soll. Sie sind abhängig von epistemischen und praktischen Interessen, von Menschen- und Weltbildern und vom Medium, in dem sie formuliert werden, etwa im Alltagsdiskurs, in der Politik oder in Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft sowie – zunehmend und fragwürdig – in lebenswissenschaftlichen, biotechnologischen und bioethischen Kontexten. In der Verfassungsrechtslehre besteht jedoch weitgehende Übereinstimmung hinsichtlich des wesentlichen Normgehalts: der Anerkennung und Achtung jedes Menschen als Subjekt und als zu eigener Entfaltung und verantwortlichem Handeln freiem Träger grundlegender Rechte sowie im Ausschluss von Entwürdigung und Instrumentalisierung nach Art eines beliebig verfügbaren Objekts.¹⁵ Mit dieser Übereinstimmung ist keine bestimmte Weltanschauung, kein
Bereits 1956 hat Günter Dürig die Frage, was den Schutz der Menschenwürde verlangt, aufgrund der Erfahrungen mit Unrechtssystemen im 20. Jahrhundert mit der ,Objektformel’ ex negativo beantwortet: „Die Menschenwürde ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“ (1956: 127)
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bestimmtes Menschenbild und keine aus ihnen abgeleitete Interpretation verbunden, drohte doch andernfalls eine „Besetzung“ des Art. 1 GG „mit partikulären ethischen Meinungen oder philosophischen Spekulationen“.¹⁶ Der von Philosophen oft erhobene „Einwand mangelnder normativer Letztbegründbarkeit“ ist irrelevant; aus ihm kann eine beliebige Interpretierbarkeit der Norm nicht abgeleitet werden: „Mag auch Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG bestimmte Prinzipien praktischer Philosophie in das Recht inkorporieren, so beruht diese Bestimmung doch auf einer Setzung durch den Verfassunggeber, die die Norm zu einem Bestandteil des geltenden positiven Rechts macht. Der Akt der Setzung könnte aus der praktisch philosophischen Perspektive als Abbruch eines infiniten Begründungsregresses in bezug auf praktische Entscheidungen durch eine Dezision gedeutet werden, verfassungstheoretisch […] betrachtet könnte die verfassunggeberische Grundentscheidung durch eine andere ersetzt werden, im Rahmen der geltenden positiven Verfassungsordnung jedoch ist die Menschenwürde nicht weiter begründet und auch, sofern der Akt der verfassunggeberischen Setzung als für das positive Verfassungsrecht geltungsbegründend akzeptiert wird, weiterer materialer Begründung nicht bedürftig“ (Hain 1999: 228). Der Rechtssatz über die Unantastbarkeit der Würde ist kein deskriptiver Satz. Dass die Menschenwürde unantastbar ist, entspricht der Form normativer Rechtssätze in Verfassungen: ‚Sollen‘ wird als ‚Sein‘ buchstabiert, und dies ist die stärkste Form von Normativität. Der Satz im GG über die ,Unantastbarkeit der Menschenwürde‘ ist ein unbedingt bindender Rechtssatz. Er beinhaltet als „unmittelbar verbindliche Norm des objektiven Verfassensrechts“¹⁷ die Basisnorm für die nachfolgenden, die Würdenorm insgesamt konkretisierenden Grundrechte. Vom Konflikt der Interpretationen bleibt er de jure unberührt; verfassungsrechtlich ist er durch die ‚Wesensgehaltssperre‘ der Art. 19 Abs. 2 und 79 Abs. 3 GG geschützt: Die Unbedingtheit der Garantie schließt den Zugriff der Legislative auf diese Rechtsnorm aus. Verfassungen vermeiden es, die Menschenwürde material zu definieren. Dies führt insofern nicht zu Problemen, als sich aus dem Gesamt der menschenrechtlich zu interpretierenden Grundrechtsnormen in Verbindung mit Urteilen des BVerfG¹⁸, des Europäischen Gerichtshofs¹⁹ und des Europäischen Gerichtshofs für
H. Dreier in (Dreier 2004: Art. 1 I, Rn. 168 f.). H. Dreier in (Dreier 2004: Art. 1 I, Rn. 42). Das BVerfG ist „als höchster Streitentscheider allen staatlichen Instanzen übergeordnet, und zwar sowohl der Legislative, Exekutive als auch der Judikative. Das Gericht hat das letzte Wort in allen Fragen der Interpretation des Grundgesetzes.“ (Limbach 1996: 1).
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Menschenrechte ergibt, was die basale Würdenorm intensional und extensional bedeutet. Es entlastet darüber hinaus von definitorischen Festlegungen, die zu weltanschaulichen Kontroversen geführt haben und weiterhin führen müssten. Verfassungsrechtlich werden im Rahmen der Wertordnung, in denen subjektive Rechte interpretiert und konkretisiert werden, Grenzen gezogen, von denen an eine Verletzung der Menschenwürde festgestellt werden kann.²⁰ In der verfassungsgerichtlichen Praxis wird ex negativo, d. h. ,vom Eingriff her‘, und in Prüfung des Einzelfalls definiert, was unter dem Schutz der Menschenwürde zu verstehen und inwiefern sie verletzt ist. Von Entscheidung zu Entscheidung der Verfassungsgerichtsbarkeit wird die Liste dessen vollständiger, was als Verstoß gegen die Menschenwürde zu verstehen ist; damit werden die Bedeutungsimplikationen des Rechtsbegriffs der Menschenwürde permanent erweitert. Für das BVerfG steht aufgrund der inneren Logik des Grundgesetzes, in dem alle Grundrechte aus der absoluten Menschenwürdegarantie folgen, außer Frage, dass die Würde, die keinen Grundrechtsschranken unterliegt, kein kollisionsfähiges Gut und aus normlogischen Gründen weder beliebig interpretierbar noch abwägbar ist: „[D]ie Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig“ (BVerfGE 93, 266 (116)). Dem hat Matthias Herdegen in seiner Neukommentierung des Art. 1 GG im Kommentar Maunz / Dürig widersprochen: „Im Gefüge der grundrechtlichen Wertordnung sichern die Position an der Spitze des Grundrechtsteils, die Erklärung zum ‚unantastbaren‘ Rechtsgut, die explizite Schutzpflicht (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) und die grundsätzliche Tabuisierung nach Art. 79 Abs. 3 GG eine herausgehobene Wertigkeit. Dieser besondere Rang ist aber nicht mit absoluter Dominanz gegenüber anderen Grundrechtswerten gleichzusetzen.“²¹ Als nivellierte Verfassungsnorm wird so die Menschenwürde – dieses Recht, bei dem eine Eingriffsrechtfertigung kategorisch ausgeschlossen ist – ohne klar definierte Grenzen für Abwägungen und Angemessenheitsgesichtspunkte geöffnet. „In der Logik der Abwägung liegt“ – so Bernhard Schlinck –, „dass sie alles und auch jedes Tabu verflüssigt und verflüchtigt. Eine Menschenwürdegewissheit festhalten heißt, sie der Logik der Abwägung zu entziehen.“ (2003: 54)
Im wegweisenden EuGH-Urteil v. 9.10. 2001 – RS C-377/98 zur Rechtmäßigkeit der ‚BiopatentRichtlinie‘ 98/44/EG wird die Menschenwürde als Bestandteil des primären Gemeinschaftsrechts anerkannt. Vgl. BVerfGE 30, 1 (25). M. Herdegen in (Maunz / Dürig 2003, Art. 1, Rn. 22).
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Welche Folgen eine interpretatorische Relativierung der Würdenorm hat, zeigt sich besonders ruinös an der Aufweichung der international²² und national normierten positivrechtlichen Notstandsfestigkeit des Folterverbots. So führt etwa die Argumentation Winfried Bruggers nahtlos von der Verneinung der Absolutheit der Menschenwürdenorm zur Verneinung der Absolutheit des Folterverbots: In seiner ‚Alternativsicht‘ ist „die Menschenwürde als leitendes objektives Verfassungsprinzip einzustufen, das in der Auslegung der konkreten Grundrechte zur Geltung zu bringen ist, im Rahmen der allgemeinen Schrankenlehre“, und dies nicht mit „unmittelbarer“, sondern nur „mittelbarer Bindung“ (Brugger 1999: 395. Hervorh. H. J. S.). Es sei manchmal „notwendig und legitim, im konkurrierenden öffentlichen oder privaten Interesse einen Grundrechtsträger in seine Schranken zu weisen, um die Grundrechte für alle zu effektivieren“ (396 f.). Diese ‚Alternativsicht‘ stellt die rechtstheoretische Grundlage der Forderung dar, das elementare Folterverbot nicht „zu expansiv“ (395) zu deuten. Brugger zufolge ist die Auffassung, Folter sei, „weil sie einen Eingriff in Art. 1 Abs. 1 darstellt, nie zu rechtfertigen“, „zweifelhaft, wenn man an den Fall denkt, in dem ein Mensch andere Menschen foltert und die Rettung der Gefolterten nur durch einen staatlichen Eingriff in die Würde des Folterers möglich ist – etwa durch eine Aussagenerpressung. Wenn Würde gegen Würde steht und eine Entscheidung getroffen werden muß, spricht mehr für als gegen einen Eingriff in die Würde des Rechtsbrechers, wenn nur dadurch das Leben und die Würde rechtstreuer Bürger gerettet werden können.“²³ Auch in der Philosophie gibt es Stimmen, die zwischen Folter und ,Folter‘, zwischen „Folter-in-Anführungszeichen“ bzw. „Aussageerzwingung zur Rettung von Menschenleben“, zu unterscheiden vorschlagen (Lenzen 2006: 7). Für W. Lenzen steht „gerade zur Debatte, ob in gewissen, klar umrissenen Ausnahmesituationen eine ‚Folter‘ zur Rettung von Menschenleben moralisch erlaubt bzw. sogar moralisch geboten ist und deshalb auch gesetzlich erlaubt werden dürfte bzw. eventuell sogar erlaubt werden müsste.“ (8) Diese sophistische Unterscheidung zwischen Folter und ‚Folter‘ ist ein Beispiel nicht nur für die verfassungsrechtliche Inkompetenz mancher Philosophen, sondern auch ein Argumentationsmuster von Ethikern, deren Rechtsbewusstsein getrübt und deren Interpretationssucht ungehemmt ist.
Siehe das ‚Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe‘ der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1984. (Brugger 1999: 393). Bruggers Bejahung der Frage „Darf der Staat ausnahmsweise foltern?“ schließt sich unmittelbar an seine Ausführungen zur ‚Alternativsicht‘ der Menschenwürdegarantie an, (vgl. 411– 428).
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2.3.2 Ius cogens Die mit den Kriegsverbrecherprozessen in Nürnberg und Tokio ausgelöste Rechtsrevolution hat das Völkergewohnheitsrecht als zwischenstaatliches, freiwillig ausgehandeltes und jederzeit veränderbares Vertragsrecht durch fundamentale Prinzipien des Internationalen Rechts, durch materielle, den Interessen der gesamten Menschheit entsprechende Normen des zwingenden, nicht zur Disposition der Staaten stehenden ius cogens und durch die aus ihnen folgenden Verpflichtungen erga omnes grundlegend verändert. Den Staaten sind durch peremptory norms of general international law Grenzen willkürlicher Auslegungen des Völkerrechts und ihres Handelns gesetzt, und sie sind unter Androhung von Sanktionen auf die Achtung und den Schutz grundlegender Menschenrechte verpflichtet.²⁴ Alle Staaten sind einem internationalen System des Rechts unterworfen, in dem bestimmte menschenrechtliche Normen unbedingt gelten; diese können weder durch Vorbehalte zu Menschenrechtskonventionen noch durch nationale Notstands-Regelungen relativiert werden. Während das Völkergewohnheitsrecht den Beitritt von Staaten zu Verträgen voraussetzte, dürfen peremptory norms unabhängig von der Zustimmung zu Verträgen von keinem Staat verletzt werden. Mit ihrer Resolution 56/83 vom 12. Dezember 2001 zur ‚Verantwortlichkeit der Staaten für völkerrechtswidrige Handlungen‘²⁵ hat die UN-Generalversammlung die 59 Draft Articles der UN-Völkerrechtskommission (ILC) zustimmend zur Kenntnis genommen.²⁶ Sie stellen basic rules des humanitären Völkerrechts und Bestandteile des ius cogens dar. Einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung des Internationalen Rechts stellt das ‚Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge‘²⁷ (1969, 1980 in Kraft getreten) dar. Es führt in Art. 53 die Unterscheidung zwischen zwingendem (ius cogens) und abwandlungsfähigem (ius dispositivum) Völkerrecht ein. Die zum ius cogens zählenden Normen genießen einen besonderen Bestandsschutz. Dieses höherrangige internationale Recht bricht nationales Recht, wenn dieses Rechts-
Eine allgemein akzeptierte Definition dessen, was im Unterschied zu anderen Menschenrechten ‚grundlegende‘ Menschenrechte sind, existiert nicht. Vorausgesetzt wird aber, dass nicht alle Menschenrechte zu den durch das ius cogens geschützten Rechten gehören. Das Verbot von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Angriffskriegen, Versklavung, Rassendiskriminierung und Apartheid sowie Folter stellt derzeit den Kernschutzbereich dar, der im Prozess der Konstitutionalisierung des Völkerrechts weiter auszugestalten bleibt. UN-Dokument A/56/589 und Corr. 1, Ziffer 10. Vgl. Official Records of the General Assembly, Fifty-sixth session, Supplement No. 589 (A/56/ 589 and Corr. 1). Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (BGBl. 1985 II S. 927).
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prinzipien widerspricht, die zur Werteordnung der Gesamtheit der Staaten gehören. Gem. Art. 53 des Wiener Übereinkommens ist jeder Vertrag, der eine ius-cogens-Norm verletzt, ex tunc (von Anbeginn) null und nichtig, „wenn er im Zeitpunkt seines Abschlusses im Widerspruch zu einer zwingenden Norm des allgemeinen Völkerrechts steht. Im Sinne dieses Übereinkommens ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.“ Darüber hinaus gilt gem. Art. 64: „Entsteht eine neue zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts, so wird jeder zu dieser Norm im Widerspruch stehende Vertrag nichtig und erlischt.“ Staaten sind nach Art. 41 Abs. 1 verpflichtet, der schwerwiegenden Verletzung einer Verpflichtung aus einer zwingenden Rechtsnorm kollektiv „mit rechtmäßigen Mitteln ein Ende zu setzen“. Nach Art. 41 Abs. 2 darf kein Staat einen Zustand, der durch eine schwerwiegende Verletzung im Sinne des Art. 40 herbeigeführt wurde, als rechtmäßig anerkennen. Das ius cogens verbietet Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Angriffskriege, Versklavung, Rassendiskriminierung und Apartheid sowie Folter; es gebietet Grundnormen des humanitären Völkerrechts und das Recht auf Selbstbestimmung.²⁸ Diese Verbots- und Gebotsliste ist nicht erschöpfend, sondern offen für weitergehende menschenrechtliche Normierung. Bezüglich Zivilpersonen gelten gem. Art. 147 des IV. Genfer Abkommens Verbote mit zwingendem Rechtscharakter: Verboten sind „vorsätzlicher Mord, Folterung oder unmenschliche Behandlung, einschliesslich biologischer Experimente, vorsätzliche Verursachung grosser Leiden oder schwere Beeinträchtigung der körperlichen Integrität der Gesundheit, ungesetzliche Deportation oder Versetzung, ungesetzliche Gefangenhaltung, Nötigung einer geschützten Person zur Dienstleistung in den bewaffneten Kräften der feindlichen Macht oder Entzug ihres Anrechts auf ein ordentliches und unparteiisches, den Vorschriften des vorliegenden Abkommens entsprechendes Gerichtsverfahren, das Nehmen von Geiseln sowie Zerstörung und Aneignung von Gut, die nicht durch militärische Erfordernisse gerechtfertigt sind und in grossem Ausmass auf unerlaubte und willkürliche Weise vorgenommen werden“. Die ILC hat bei der Formulierung von Art. 53 des Wiener Übereinkommens auf Beispiele für den sich aus ius-cogens-Normen ergebenden Schutzbereich verzichtet, die genannten Fälle aber in ihrem Kommentar zu Art. 50 des Entwurfs (jetzt Art. 53) genannt. (ILC, Kommentar zu Art. 50 WKV-E, Y.B. International Law Commission 1966, Vol. II, S. 247 ff.).
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3 Eine kurze Bilanz Die Fruchtbarkeit des Interpretations-Paradigmas erweist sich durchaus auch in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis. Auch Rechtsverhältnisse können als Interpretationsverhältnisse charakterisiert werden, und auch im Recht kann „die epistemische Situation endlicher und fallibler Geister nicht übersprungen werden“ (SZI 307). Und doch ist die Annahme Günter Abels, „Interpretations-Ketten und Interpretations-Netzwerke, wie sie in Verständigungs- und Handlungsverhältnissen vorliegen, könn[t]en nicht als Determinations-Ketten oder Determinations-Netze beschrieben werden“ (SZI 358 f.), für wesentliche Bereiche des Rechts nur eingeschränkt zutreffend. Was aus Art. 1 GG folgt, ist im ‚Determinations-Netz‘ der Verfassung so klar bestimmt, dass der Offenheit der Interpretation Grenzen gesetzt sind. Das von Abel zu Recht verteidigte Prinzip der Ethik der Interpretation, „daß sie den anderen Personen ihre anderen Interpretationen, mir aber meine Interpretationen sowie auch meine Interpretationen der anderen Interpretationen beläßt“ (SZI 348), ist in der Rechtstheorie unproblematisch, stößt aber sowohl in der Rechtsauslegung als auch in der Rechtspraxis auf Schranken, die nicht unterlaufen werden dürfen. Genau dies sieht freilich Abel wohl selbst, wenn er betont, „die offenen Interpretationen“ müssten „zugleich auch so an eine öffentliche Interpretations-Praxis des Sprechens und Handelns gebunden sein, daß andere Interpretationen und die Interpretationen anderer Personen daran anschließen können“ (SZI 359).
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Alexy, Robert 1995: Juristische Interpretation, in: ders.: Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie, Frankfurt a. M. Alexy, Robert et. al. 2003: Elemente einer juristischen Begründungslehre, Baden-Baden. Brugger, Winfried 1999: Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus. Studien zur Legitimation des Grundgesetzes, Baden-Baden. Cassirer, Ernst 1929: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, in: Gesammelte Werke, Bd. 13, hg. v. B. Recki, Hamburg 2002; [ECW 13]. Dewey, John 1929: Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, übers. v. M. Suhr, Frankfurt a. M. 1998. Dreier, Horst (Hg.) 2004: Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl. Tübingen (1. Aufl 1996 – 2000).
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Hans Jörg Sandkühler
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Günter Abel
Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Rechts und der Menschenrechte Replik zum Beitrag von Hans Jörg Sandkühler Der Beitrag von Hans Jörg Sandkühler konzentriert sich auf zwei Fragestellungen. Zum einen (a) geht es um die Frage, ob und in welchem Sinne das Paradigma der ‚Interpretation‘ über die Epistemologie im engeren Sinne hinaus auch für die Bereiche Ethik und Politik erfolgreich an- und eingesetzt werden kann. Zum anderen (b) geht es um die Frage, ob und in welchem Sinne der Interpretierbarkeit und Abwägbarkeit Grenzen gesetzt sind, sobald es um die Geltung, den Schutz und die Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte geht. In beiden Fragefeldern nimmt Sandkühler den Ansatz der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie], mit dem er bis in die Details bestens vertraut ist, nicht nur positiv auf. Er bringt die ZuI-Philosophie überzeugend und aufschlussreich im Felde der Rechts- und Staatstheorie zum Zuge, in welchem er die Menschenwürde als Basisnorm jenseits eines Kultur- und Rechtsrelativismus ansieht. Sandkühler verteidigt die ZuI-Philosophie und tritt in einen Dialog mit ihr ein, der über den Bereich der Ethik (vgl. dazu meine Replik auf Lukas K. Sosoe) hinaus in den der Politik sowie der Staats- und Verfassungslehre führt. Diesen Faden nehme ich überaus gern auf. Im Folgenden möchte ich den Dialog unter den folgenden vier Gesichtspunkten fortführen: 1. Interpretativität im Recht. 2. Offenheit und Grenzen der Interpretation in puncto Recht. 3. ZuI-Stufenmodell des Rechts. 4. ZuI-Philosophie der Menschenrechte.
1 Interpretativität im Recht Überaus kenntnisreich und argumentationssicher rekonstruiert Sandkühler im ersten Teil seines Beitrags die Interpretativität als „epistemologisches Paradigma“ von „universellem“ Rang (Sandkühler-Beitrag, vor Kap. 1). Die Rede von ‚universell‘ bezieht sich hier darauf, dass ich die spezifischen Verhältnisse menschlicher Welt-, Fremd- und Selbstbezüglichkeit, in denen wir uns als endliche Geister und Akteure immer schon befinden und bewegen, als Zeichen- und Interpretationsverhältnisse charakterisiert habe. Der ZuI-Philosophie zufolge kann Philosophie unter kritischem Vorzeichen stets nur Philosophie nach Menschenmaß, nicht https://doi.org/10.1515/9783110522280-041
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nach Gottesmaß sein, muss also jederzeit und nicht-hintergehbar an die epistemische Situation endlicher menschlicher Geister und Akteure gebunden bleiben. Sandkühler ist an der Frage interessiert, ob die Interpretationsphilosophie „im Recht an ihre Grenzen [stößt]?“ Seine Antwort lautet: „Nein und Ja“ (vor Kap. 1). Das ‚Nein‘ sei angesichts des Befundes geboten, dass auch die Rechtssysteme und die Rechtspraktiken als Interpretationssysteme und Interpretationspraktiken verstanden werden können. Eine Rechtsordnung zu etablieren und ihr Geltung zu verleihen, ist eine kulturelle und geschichtliche Leistung des Menschen, die (so möchte ich in Aufnahme der Aristotelischen Unterscheidung von Erster und Zweiter Natur sagen) zur Zweiten Natur, mithin nicht zur Ersten (physischen) Natur, sondern zur kulturellen Natur des Menschen gehört. Rechtsordnungen sind in diesem Sinne und offenkundig Interpretationsleistungen unbedingt schützenswerter, weil für das Zusammenleben von Menschen unverzichtbarer Art. Ihre Aufgabe besteht im Kern darin, das menschliche Zusammenleben unter Regeln, Pflichten und Rechten (wie Freiheits-, Grund- und Menschenrechten) flüssig funktionieren zu lassen. Das ‚Ja‘ in puncto Grenze der Interpretationsphilosophie sei angesichts des Befundes zu betonen, dass die „Verfassung des demokratischen Rechtsstaates“ den basalen Bereich der „menschenrechtlich begründeten Grundrechte und Grundfreiheiten“ einer „‚offenen‘ legislativen Interpretation und judikativen Abwägung entzieht“ (ebd.). Beide Komponenten dieser Antwort sind überaus wichtig. Sie führen im Felde der Rechts-, Staats- und Verfassungslehre auf einen der Kerne der ZuI-Philosophie. Was den ersten Teil der Antwort betrifft, so legt Sandkühler eindrucksvoll dar, dass und in welchem Sinne die Interpretativität im Rechtssystem und in der Rechtspraxis nicht nur anzutreffen, sondern für diese Bereiche konditional ist. Er tut dies am Leitfaden von Grundinterpretamenten der ZuI-Philosophie sowie mit Fokus auf (a) die „Unmöglichkeit perfekten Wissens als Voraussetzung der Rechtsordnung“ (Kap. 1.1), auf (b) die gebotene „Anerkennung der Relationalität des Wissens“ (Kap. 1.2) und auf (c) den epistemologischen und sinnlogischen Status der grundbegrifflichen Relativität und Pluralität eines jeden menschlichen Wissens (Kap. 1.3). Die ZuI-Befunde erstrecken sich des näheren auf die Theorie des Rechts und die Praxis der Rechtsprechung ebenso wie auf die juristische Methoden- und Auslegungslehre und bereits auch auf die juristische Tatsachenfeststellung, auf die Revisionsgerichtsbarkeit und die Rolle der „freien richterlichen Überzeugung“ in der konkreten Rechtsprechung (Kap. 2.2). Sie erstrecken sich, kurz gesagt, auf alle Sätze, Sachverhalte, Verfahren, Tatbestände und Texte einer Rechtsordnung und Rechtspraxis. Offenkundig sind in allen diesen Feldern Interpretations-Abhängigkeiten, Interpretations-Bedürftigkeiten und Interpretations-Methoden unterschiedlicher Art konstitutiv, unverzichtbar und nicht-eliminierbar voraus-
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gesetzt und in Anspruch genommen. Ohne sie hätten wir es gar nicht mit spezifischen Bereichen, Inhalten, Verfahren, Tätigkeiten, Rechtsprodukten und Rechtszeichen (wie z. B. Verkehrszeichen oder, höherstufig, z. B. der Straßenverkehrsordnung oder, noch höherstufiger, den Sätzen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, einschließlich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) zu tun. Auch im Hinblick auf die Rechts-, Staats- und Verfassungstheorie kann die ZuI-Philosophie auf ihr aufgefächertes und tiefengestaffeltes Verständnis von Zeichen und Interpretation zurückgreifen und dieses zum Einsatz bringen. Dieses Verständnis artikuliert sich in vertikaler Hinsicht vor allem in Form des Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse. Und es manifestiert sich in horizontaler Hinsicht vor allem in den drei Dimensionen (logisch, ethisch, ästhetisch) der ZuI-Prozesse. Im Rückgriff auf dieses methodologische Instrumentarium kann auch das Feld der Rechts-, Verfassungs- und Staatstheorie in zeichen-mäßiger und interpretationsbezogener Perspektive beschrieben und gestaltet werden. Diesen Versuch werde ich in Abschnitt 3 näher ausführen. Jedenfalls wird in der ZuI-Philosophie von dem nicht eliminierbaren zeichen- und interpretations-verfassten Charakter eines jeden Rechtssystems und einer jeden Rechtspraxis ausgegangen. Vor diesem Hintergrund stimme ich dem von Sandkühler betonten Punkt zu, dass es im Gerichtsverfahren und in der Beweisführung „de facto nicht um Korrespondenz-Wahrheit, sondern um so etwas wie eine nach strengen Regeln konsensuell gestützte Kohärenz-Wahrheit“ geht. Zugespitzt formuliert: in den Rechtsprozessen geht es „letztlich nicht darum, was Wahrheit ist, sondern was im geregelten Interpretationsrahmen als Wahrheit gelten kann“ (Kap. 2.2). Dies festzustellen tut der Verbindlichkeit von Rechtsentscheidungen nicht nur keinerlei Abbruch, im Gegenteil. Es ist vornehmlich dieses Verständnis von Recht als Recht nach Menschenmaß (und nicht nach Gottesmaß), das der Rechts-, Verfassungs- und Staatsordnung die Legitimation und Legalität ihrer Sätze, Zeichen und Festlegungen, ihr autoritatives Gebot, einschließlich der Ausübung von Zwang (z. B. der Verhängung einer Gefängnisstrafe) verleiht. Auch Gerichtsverfahren, Beweisführung und Urteilsbemessung stehen unter strengen Konsistenz- und Kohärenzanforderungen nach Menschenmaß. Und es sind genau diese Anforderungen, die für das flüssige Funktionieren von ZuIProzessen nicht nur im Recht und vor Gericht, sondern in einem jeden Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten Grundanforderungen sind. Diesen fundamentalen Punkt habe ich an mehreren Stellen im Detail sowie in einem Katalog von Kohärenzanforderungen im Blick auf flüssig funktionierende und anschlussfähige, kurz: erfolgreiche und gelingende ZuI-Verhältnisse dargelegt (vgl. dazu Abel 2004: 313 – 315; sowie Abel 2016).
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Die Kohärenzanforderungen weisen bei näherem Hinsehen in den unterschiedlichen Bereichen und Hinsichten unterschiedliche Profile auf. Zugleich sind sie stets bereits in Interpretations-Ordnungen und Interpretations-Kontexte eingebettet, wenn sie so funktionieren, wie sie funktionieren. In diesen Zusammenhang gehört auch Sandkühlers Hinweis (Kap. 2.1) auf die bekannten vier juristisch-hermeneutischen bzw. interpretativen Auslegungsmethoden (nämlich die philologische, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung, welche Auslegungen heute in der Regel um eine fünfte Methode ergänzt werden, die von Peter Häberle 1989 eingeführt wurde: die rechtsvergleichende Auslegung). Alle diese für juristische Texte, Sätze und Verfahren relevanten Methoden können als zeichen-verfasste und interpretativ-verfahrende Methoden charakterisiert und mit Hilfe des Instrumentariums der ZuI-Philosophie im einzelnen ausbuchstabiert werden. Das kann hier und jetzt natürlich nicht geleistet werden. Es würde den Rahmen der Replik sprengen. Gleichwohl seien zumindest zwei Aspekte kurz angesprochen. Zunächst möchte ich die Kohärenzanforderungen vor allem auch mit dem Ziel ansprechen, von vornherein dem Eindruck entgegenzutreten, die Betonung der Rolle der Interpretativität im Recht liefe darauf hinaus, einer unendlichen Interpretierbarkeit und einer unbegrenzten Abwägbarkeit der Normen des menschlichen Zusammenlebens das Wort zu reden, am Ende gar für ein ‚Anything goes‘ in Sachen Recht einzutreten. Gegen einen solchen (weder theoretisch noch praktisch explizierbaren) Relativismus und des näheren auch gegen einen Kulturrelativismus habe ich an vielen Stellen ausdrücklich argumentiert. Das muss hier nicht wiederholt werden. Eine solche Position ginge zudem grundlegend auch an dem vorbei, was den Kern einer Rechts-, Verfassungs- und Staatsordnung sowie die mit ihr gesetzte Geltung ihrer Rechtssätze ausmacht. Rechtssysteme sind Systeme, kraft derer konkrete Interpretationen legale und legitime Geltung besitzen. Dies schließt das Recht zur Ausübung legalen und legitimierten autoritativen Zwangs insbesondere gegenüber solchen Interpretationen ein, welche die irreduzible Pluralität und das freie Spiel der Interpretationen in puncto Personen und Sachen dogmatisch zu unterminieren oder mit Rekurs auf metaphysische Letztbegründung außer Kraft zu setzen trachten.
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2 Offenheit und Grenzen der Interpretation in puncto Recht Sandkühler zitiert (Kap. 1.1) ausführlich einen Passus, in dem ich unter anderem auch die Offenheit der Interpretationen hervorhebe. Im Blick auf seine Frage, ob das Paradigma der Interpretation im Recht an eine Grenze stößt, sind mir die folgenden Präzisierungen in Sachen ‚Offenheit der Interpretation‘ wichtig. (a) Zunächst ist zu beachten, dass sich die Rede von ‚Offenheit‘ primär und kritisch gegen die Vorstellung richtet, es gäbe im Vollzug von Zeichen, Interpretationen und Handlungen einen strengen syntaktischen, semantischen und praktischen Determinismus kausaler oder logischer sowie inferentieller Art hinsichtlich des Verhältnisses von Zeichen und Folgezeichen, von Satz und Anschluss-Satz, von Handlung und Anschlusshandlung.¹ (b) Diese Art von Offenheit im Sinne von Nicht-Determiniertheit trifft in dem oben erläuterten Sinne natürlich auch auf die Rechtssysteme und Rechtspraktiken zu. Aber – und das ist von entscheidender Relevanz – ‚Offenheit‘ der ZuIProzesse meint gerade nicht, dass wir es im faktischen ZuI-Gebrauch, im faktischen Interpretieren und zumal im faktischen Sich-zur-Geltung-bringen der Sätze eines Rechtssystems mit schlechten Unabschließbarkeiten, mit unbegrenzten Interpretierbarkeiten und Abwägbarkeiten sowie mit einer faktisch ‚unendlichen Semiose‘ (Peirce) zu tun hätten. Dass dies nicht der Fall ist, kann man einfach daran sehen, dass wir unter Ansetzung genau dieser Hypothese als konstitutiv niemals in das wirkliche Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten eintreten würden. Die Interpretierbarkeit muss ein Ende haben, um es überhaupt mit tatsächlichem und zeichen- sowie interpretations-verfasstem Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten zu tun zu haben. Freilich ist dieses Ende im Sinne der ZuI-Philosophie kein metaphysisches und kein theoretisch-eschatologisches. Es ist ein pragmatisches Ende, ein Ende nach Menschenmaß um der Möglichkeit erfolgreicher Kommunikation, Kooperation, Kognition und Weltgestaltung willen. (c) Das flüssige und anschlussfähige Funktionieren der ZuI-Praxis der Kommunikations-, Kooperations-, Kognitions- und Gestaltungsverhältnisse ergibt sich
Hier zeigt sich übrigens auch, dass und in genau welchem Sinne die ZuI-Philosophie nicht als ein Inferentialismus im Sinne etwa Robert Brandoms oder anderer gekennzeichnet werden kann. In der Tat gehe ich davon aus, dass der Inferentialismus nicht in der Lage ist, das flüssige und anschlussfähige Funktionieren der tatsächlichen menschlichen Kommunikations-, Handlungsund Kooperationsverhältnisse verständlich zu machen. Doch das ist ein Punkt, der hier nicht weiter verfolgt werden soll.
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nicht rein zufällig, nicht als ein Zufallstreffer im Prozess unabschließbarer und beliebiger Interpretationen. Es steht praktisch und pragmatisch vielmehr stets bereits unter genau denjenigen internen Restriktionen und Kohärenzanforderungen, die seine Flüssigkeit und Anschlussfähigkeit gewährleisten. Zwar ist die ZuI-Praxis in dem skizzierten Sinne offen und auch vieler nachträglicher Interpretationen zugänglich. Aber ihr Funktionieren hängt keineswegs davon ab, dass wir gleichsam würfeln und auf einen Zufallstreffer hoffen müssten. Da es sich nicht um einen (kausalen, logischen oder teleologischen) Determinismus handelt, haben wir allen Grund, uns über ein flüssiges Funktionieren und erfolgreiches Fortsetzenkönnen zu freuen – und das tun wir ja auch im Falle gelingender Kommunikation, Kooperation, Kognition und Gestaltung. Aber aus dieser Feststellung folgt eben keineswegs, dass das Gelingen und der Erfolg dieser Prozesse von den unabschließbaren Interpretierbarkeiten und Abwägbarkeiten abhängen. Die theoretischen möglichen Unabschließbarkeiten werden durch die praktischen, pragmatischen und sinnlogischen Erfordernisse unterlaufen. Konsequenter Weise gilt dieser Befund auch im Blick auf die Frage des Relativismus der Zeichen und Interpretationen. Der Relativismus einer Beliebigkeit und einer schlechten Unabschließbarkeit wird durch die grundbegriffliche und sortale Relativität der Zeichen und Interpretationen unterlaufen, die im flüssigen und anschlussfähigen Funktionieren der ZuI-Praxis nicht-hintergehbar gegeben ist. Die Relativität, des näheren unser Interesse an der Aufrechterhaltung und Erweiterung der flüssigen und anschlussfähigen ZuI-Praxis, rettet uns vor dem Relativismus. (d) Vor diesem Hintergrund möchte ich für den Unterschied zwischen einer ‚prinzipiellen Offenheit‘ der Interpretationen (im Sinne der skizzierten Nicht-Determiniertheit) und den ‚Grenzen der Spielräume der Interpretierbarkeit‘ der Zeichen und Interpretationen plädieren. Erstere ist nicht eliminierbar und nicht umgehbar. Letztere dagegen sind konditional für das flüssige und anschlussfähige Funktionieren der menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse selbst. Offenkundig sind die Spielräume der Interpretation nicht in allen Bereichen und Hinsichten gleich groß. Gegeben zum Beispiel die definitorische Einführung eines mathematischen oder formal-logischen Zeichens wie etwa ‚π‘ oder ‚∞‘ ist der Spielraum der Interpretation dieser Zeichen nicht mehr gegeben, gleich Null. ‚π‘ ist π, und ‚∞‘ ist ∞. Wer das bestreitet und wer die Zeichen einer ungehemmten und unbegrenzten Interpretierbarkeit aussetzen möchte, hat eben damit die Mathematik verlassen, die als ganze selbstverständlich eine bestimmte Version von ZuI-Praxis allein schon deshalb bleibt, weil in der formalen bzw. mathematischen Logik die Bedeutung der Zeichen durch ihre Interpretationsregel festgelegt ist. Sobald es um das flüssige und anschlussfähige Funktionieren unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens und im Beispiel der
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Mathematik etwa um das Führen eines Beweises in mathematischen Zeichen geht, sind die Spielräume der erfolgreichen ZuI-Praxis keineswegs beliebig und nicht unbegrenzt. Im Bereich des Rechts und des näheren im juridischen Auslegen des positiven Rechts haben wir es (in einem durchaus mit der Mathematik vergleichbaren Sinne) mit Rechtszeichen (z. B. Verkehrsampeln) und Rechtssätzen (z. B. Gesetzestexten) zu tun, die als interpretierende Zeichen und Sätze zwingend gleichsam mit Rechtszwang versehene und juridisch definitive Interpretationen darstellen. Wer das um unabschließbarer Interpretierbarkeiten und Abwägbarkeiten willen leugnet, verkennt den eigentümlichen Geltungs- und Zwangscharakter des positiven Rechts. Die Existenzweise des Rechts ist seine Geltung. Von hier aus stimme ich der Auffassung Sandkühlers zu, dass der Rechtspositivismus eine auch philosophisch sehr starke Position ist, nicht zuletzt auch aufgrund seines naturrechts- und metaphysik-kritischen Status. Dass dies nicht die Möglichkeit neuer und veränderter Rechtssätze ausschließt, ist selbstverständlich, gehört gleichsam zum positiven Recht selbst. (e) Die juridischen Setzungen sind Grenzsetzungen nicht externer, metaphysischer oder naturrechtlicher oder offenbarungsbasierter Art. Sie sind Setzungen, die von der Innenseite des Raums der ZuI-Verhältnisse und nach Menschenmaß erfolgen. Der ZuI-Philosophie zufolge bestehen die nobelsten Ziele juridischer Setzungen und Geltungen in den beiden folgenden Punkten: (i) darin, die Freiheit der in sich pluralen ZuI-Praxis aufrechtzuerhalten, zu garantieren und gegenüber all denjenigen Interpretationen unter Einsatz des Rechtszwangs zu verteidigen, die von sich behaupten, sie seien im Besitz letzter metapysischer und gleichsam apokalyptischer Wahrheit sowie Letztbegründung; und (ii) darin, diejenige kulturelle und geschichtliche Errungenschaft zu garantieren, die darin besteht, das Rechtssystem und die Rechtspraxis im Sinne des freiheitlichen und Pluralität sichernden Rechts-, Verfassungs-, Staats- und internationalen Völkerrechts zu sichern und weiter auszubauen. Das Recht ist, wie bereits betont, eine kulturelle Leistung der Zweiten Natur des Menschen, ist menschen-gemacht und zugleich als Institution so verfasst, dass es seine Legalität und Legitimität zur Ausübung von Rechtszwang ganz in den Dienst des Menschen, ganz in den Dienst der Humanität zu stellen hat. Diese kulturelle sowie geschichtliche (und in den unterschiedlichen Kulturen mit unterschiedlichen Akzenten anzutreffende) Errungenschaft gilt es gegen jederzeit mögliche Re-Barbarisierungen aktiv zu schützen. Und ohne Frage gehören Menschenwürde und Menschenrechte zu den Fundamenten des Hauses des Rechts, mit Bindewirkung zugleich für alle anderen Grund- und Freiheitsrechte. Welch grundlegenden Status die Menschenrechte haben, sieht man sofort auch daran,
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dass der Schutz von Leib, Leben und Würde des Menschen von vornherein und unverzichtbar zum Begriff und zur Definition des Rechts selbst gehört. (f) Die ZuI-Philosophie stellt die Sicherung der pluralen und freiheitlichen Verhältnisse der menschlichen ZuI-Praxis ins Zentrum der Aufgaben und Funktionen auch des Rechtssystems und der Rechtspraxis. Aufgrund dieser internen Kopplung ist die ZuI-Philosophie zugleich in der Lage, eine lebensweltliche Rechtfertigung und eine rationale Begründung der Pluralität und Freiheit ebenso wie der mit der Anerkennung dieser Pluralität und Freiheit intern mitgesetzten Verpflichtung auf Schutz und Ausbau der Menschenwürde und der Menschenrechte zu liefern. Diese Verpflichtung gilt sowohl für die reziproken Verhältnisse der einzelnen Rechtspersonen untereinander als auch für die grundlegenden Staatsziele und die internationale Rechtsordnung und das Völkerrecht. Offenkundig ist diese ZuI-philosophische Rechtfertigung und Begründung der Pluralität und Freiheit in den menschlichen Lebensverhältnissen stärker als die im Rechtspositivismus gedachte Rolle des gesetzten Rechts. Aus meiner Sicht verfügt die ZuI-Philosophie an diesem so fundamentalen und weitreichenden Punkt über die Instrumente, Recht und Moral in einer Weise zu verbinden, die nicht zu einer falschen Moralisierung des Rechts führt, welche Position ich deutlich ablehne. Vor diesem Hintergrund stimme ich nachdrücklich mit Hans Jörg Sandkühler in der Betonung der zentralen Stellung von Menschenwürde und Menschenrechten überein. Für eben diese grundlegende Stellung der Menschenwürde und der Menschenrechte glaube ich jedoch in dem soeben skizzierten Sinne im Rekurs auf die Implikationen einer flüssig funktionierenden und anschlussfähigen ZuI-Praxis philosophisch ein Stück stärkerer Rechtfertigung und Begründung liefern zu können. Als Implikation der ZuI-Verhältnisse selbst sowie der auf deren Sicherung bezogenen Rolle von Rechtssystem und Rechtspraxis ergibt sich intern die Verpflichtung des Schutzes und der Achtung der Menschenwürde und Menschenrechte. Diese Rechte kommen dem Menschen unveräußerlich zu, einfach deshalb schon, weil er Mensch und des näheren das zeichen- und interpretationen-verwendende Wesen ist, das er ist. Menschen haben diese Ansprüche, und die Rechts- und Staatsordnungen haben ihre Erfüllung zu gewähren und zu sichern. Anderenfalls würde es zur Selbstzerstörung der als ZuI-Verhältnisse konzipierten Lebensverhältnisse selbst kommen. Und vor allem: aus der recht verstandenen Natur der ZuI-Verhältnisse und der für ihr flüssiges und anschlussfähiges Funktionieren notwendigen Restriktionen der Spielräume der Interpretierbarkeit ergibt sich, dass die ZuI-Philosophie nicht nur nicht „im Recht an ihre Grenzen stößt“. Vielmehr ergibt sich darüber hinaus, dass die Grenzen der Spielräume der Interpretierbarkeit im Falle von Rechtszeichen und Rechtssätzen in den Bereichen der Rechts-, Staats-, Verfassungs- und Völkerrechtsordnungen
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keine Begrenzungen der Freiheit sind. Vielmehr könnte man in transzendentalphilosophischer Einstellung sagen, dass sie Bedingungen für die Möglichkeit von Freiheit und Pluralität sind. Diese Feststellung gilt für die ZuI-Verhältnisse zwischen den individuellen Rechtspersonen (die durch den Verzicht zum Beispiel auf das Verletzen und Töten der anderen Person ihrerseits die Sicherheit zur Entfaltung des eigenen Leib und Lebens gewinnen). Sie gilt auch in Bezug auf die Verpflichtungen seitens der Rechts-, Verfassungs- und Staatsordnung, einschließlich des internationalen Völkerrechts, gegenüber allen Menschen. In diesem Sinne sind die Grenzen der Spielräume der Interpretierbarkeit höchster Ausdruck der in sich freiheitlich, plural und rechtsstaatlich verfassten ZuI-Verhältnisse selbst. Sie sind darin zugleich auch Ausdruck von Autonomie, der Kraft nämlich, sich selbst ein positives Gesetz geben zu können. Diesen Punkt möchte ich noch weiter verdeutlichen, indem ich das ZuI-philosophische Stufenmodell im Blick auf das Recht zur Anwendung bringe.
3 Zeichen- und Interpretations-Stufenmodell des Rechts Der oben entfaltete Aspekt der konstitutiven Grenzen und Begrenzungen der Spielräume von Interpretationen um des flüssigen und anschlussfähigen Funktionierens der pluralen ZuI-Praxis selbst willen lässt sich leicht auch im Rekurs auf das Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse verdeutlichen. Illustrieren möchte ich dieses Modell zunächst an dem einfachen Beispiel der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke sowie nicht-sprachlicher Zeichen und generell der Verwendung von Sprache und Zeichen. Das heuristische ZuI-Modell unterscheidet drei Ebenen (die je nach Zweck und Fragestellung weiter untergliedert werden können). Auf der Ebene der alltäglichen Sprach- und Zeichenverwendung (Ebene 3 genannt) haben wir es mit ZuI-Verhältnissen zu tun, in denen die Sprecher-Bedeutung eines Wortes (z. B. des Wortes ‚Haselnuss‘ im individuellen Gebrauch seitens Peters) oder die AkteursBedeutung einer Zeichenhandlung (z. B. einer individuellen Zeigegeste Peters) wichtig ist. Diese Verhältnisse setzen jedoch ihrerseits stets bereits das Gegebensein einer Sprache oder einer habitualisierten Gestik voraus und nehmen diese in Anspruch. Insbesondere dann, wenn Störfälle auf der Ebene 3 auftreten (mithin das Wort oder die Geste nicht verstanden werden), möchten wir diese durch Rekurs auf die gegebene Sprache und Gestik beseitigen.Wir fragen dann vor allem danach, wie das Wort oder die Geste üblicherweise verstanden werden. Die Störfall-Beseitigung und die Wiederherstellung des flüssigen und anschlussfä-
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higen Funktionierens des Sprechens und Zeigens hängen davon ab, dass an die semantische Bedeutung des fraglich gewordenen Wortes auf der Ebene der gegebenen Sprache (Ebene 2 genannt), etwa des Deutschen, angedockt werden kann. Die Restriktionen der Spielräume der Interpretation auf der Ebene 2 sind mithin Bedingung für das flüssige und anschlussfähige Funktionieren der Wörter (sowie nicht-sprachlicher Zeichen und Handlungen) auf der Ebene 3. Damit aber sind innerhalb des Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse die Restriktionen auf der Ebene 2 konditional für das Funktionieren der Ebene 3 und dort auch immer schon in Anspruch genommen. Und auf dieser Ebene 3 selbst (mithin auf der Ebene z. B. der Sprecher- und der Akteurs-Bedeutung3) sind die Interpretationen3 gerade nicht durch unbegrenzte und unabschließbare Interpretierbarkeit charakterisiert. Die Bestimmtheit der Bedeutung von Wörtern, Zeichen und Handlungen speist sich aus den Grenzen ihrer Interpretierbarkeit, nicht aus deren Unabschließbarkeit und unbegrenzten Abwägbarkeiten. Die Regeln und Interpretationen zweiter Ordnung enthalten und setzen diejenigen Restriktionen voraus, die die Regeln und Interpretationen erster Ordnung flüssig funktionieren lassen. Die jeweils spätere Stufe lebt von den Restriktionen der jeweils vorausliegenden Stufe, im Beispiel: die Sprecher- und Akteurs-Bedeutung leben von der gegebenen Sprache und der in Gewohnheiten und Verhalten verankerten Grammatik einer Gestik. Mit Hilfe dieses Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse lassen sich auch die Rechtsverhältnisse, die Rechtsordnungen und die Rechtspraktiken beschreiben. Die positiven konkreten Rechtszeichen (z. B. Verkehrsampeln oder Schlagbäume an Staatsgrenzen), Rechtssätze (z. B. Gesetze und Verordnungen), Tatbestandsbeschreibungen, Texte und ganze Rechtstheorien haben ihren Sitz und ihre Funktionen auf der ZuI3-Ebene. Damit das Rechtssystem und die Rechtspraxis sowie die in diesen verkörperten juridischen Normen auf dieser Ebene 3 funktionieren, sind stets bereits juridische und ethische Normen auf der Ebene der gelebten Rechtswirklichkeiten und deren Regeln und Standards zweiter Stufe vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Dem Rechtszeichen, wie z. B. einer Verkehrsampel im Straßenverkehr auf der Ebene 3, liegen stets bereits die Regelungen und Normen der Straßenverkehrsordnung voraus, so wie sie auf der Ebene 2 formuliert sind. Liegt ein Verstoß gegen Regeln auf der Ebene 3 vor, werden diese im Sinne des Rechtszwangs mit Sanktionen bestraft, deren Regeln, Gesetze und Normen ihren Sitz auf der Ebene 2 haben. Und wenn nun jemand fragt, worauf denn die Regeln, Gesetze und Normen dieser zweiten Stufe beruhen, dann werden wir schließlich auf der kategorialisierenden Ebene 1 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) in Verbindung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
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(BVerfG) sowie unser Bild vom Recht, unser juridisches Weltbild, so ins Feld führen, dass die Regeln, Gesetze und Normen des GG und die Urteile des BVerfG in Verbindung mit Urteilen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in dem Sinne kategorialisierend wirken, dass sie zwingend und geltungs-begründend sind für die Regeln, Gesetze und Normen der Ebene 2 und von dort für die durch das positive konkrete Recht geleitete Ebene 3. Mit der Anwendung des heuristischen Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse auf das Recht und des näheren auf die Bereiche des Staats-, Verfassungs- und Völkerrechts lässt sich leicht verdeutlichen, was ich meine, wenn ich sage, dass die ZuI-Philosophie dazu dienen kann, das Rechtssystem und die Rechtspraxis als ZuI-System und als ZuI-Praxis zu beschreiben, die es als kulturelle Errungenschaft der Zweiten Natur des Menschen zu gewährleisten und zu erweitern gilt. Dies kann im Einzelnen hier natürlich nicht entfaltet werden. Es liefe auf eine ZuIphilosophische Rechts-,Verfassungs-, Staats- und Völkerrechtstheorie hinaus. Im Rahmen des Dialogs mit Hans Jörg Sandkühler führt mich der Rekurs auf das Stufenmodell der ZuI-Philosophie unter anderem zu den folgenden vier Punkten. Erstens (a) können alle von Sandkühler in seiner Rechts- und Staatstheorie² mit guten Gründen betonten Aspekte, und insbesondere die fundierende Rolle der Menschenrechte, unter Anwendung des Stufenmodells (i) als ZuI-Verhältnisse charakterisiert und (ii) in ihren vertikalen Stufungen sowie in ihren horizontalen Dimensionen beschrieben werden. Diese Beschreibungen zeigen zugleich die innere Verpflichtung der Rechts- und der ZuI-Verhältnisse auf die Freiheit und die Pluralität der alltäglichen, gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Lebenswelten der Menschen. In den oben vorgetragenen Überlegungen wurde zudem deutlich, dass die ZuI-philosophische Sicht des Staats-, Verfassungs- und Völkerrechts eine lebensweltliche Rechtfertigung und rationale Begründung bereitstellt, die über einen bloßen Rechtspositivismus hinausgeht, ohne damit erneut naturrechtlichen oder metaphysischen Verlockungen zu erliegen oder in eine neue Abhängigkeit des Rechts von der Moral zu geraten. Zweitens (b) macht die Anwendung des Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse zugleich deutlich, dass der zwingende Charakter des Rechts dem pluralen und freiheitlichen ZuI-Charakter der menschlichen Lebensverhältnisse nicht nur nicht im Wege steht, sondern vielmehr zu den Bedingungen des Lebens freier Personen in Gesellschaften gehört. Aufgabe des Rechts ist es, für Freiräume der Zeichenund Interpretationsverhältnisse und der Entfaltung ihrer Potenziale zu sorgen
Vgl. dazu neben dem Aufsatz im vorliegenden Band auch Sandkühlers Opus Magnum Recht und Staat nach menschlichem Maß. Einführung in die Rechts- und Staatstheorie in menschenrechtlicher Perspektive (2013).
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sowie diese gegenüber dogmatischen und fanatischen Interpretationen zu sichern, die behaupten, mit privilegiertem Zugang ausgestattet zu sein, über ‚Letzte Wahrheiten‘ zu verfügen und diese in gleichsam metaphysischer Mission durchsetzen zu müssen. Drittens (c) führt die Anwendung des Stufenmodells einen weiteren grundlegenden Aspekt vor Augen. Ich meine die von der Interpretationsstufe 3 über die Interpretationsstufe 2 zur Interpretationsstufe 1 jeweils zunehmenden Restriktionen und die damit einhergehende Abnahme der Spielräume der Interpretierund Abwägbarkeiten. In Sachen Recht manifestiert sich darin, dass das Erfordernis des Zwangscharakters des Rechts in der ZuI1+2+3-Praxis selbst verankert ist. Der ZuI-Charakter unserer Lebens- und Weltverhältnisse erfordert das Recht und liefert diesem zugleich seine lebensweltliche Rechtfertigung und rationale Begründung. In lebensweltlicher wie in rechtlicher Hinsicht manifestiert sich dies für uns vornehmlich in der fundierenden Norm der Menschenwürde und des Menschenrechts. Dass das Recht uns als Personen und freie Subjekte in unseren Interpretationen gegen Übergriffe seitens dogmatischer Interpretationen anderer Personen und Gruppen zu sichern hat, wird nicht erst auf der Ebene der reflektierten Einstellung des Verstandes in puncto Rechtssystem und Rechtspraxis deutlich. Die fragliche Dimension findet sich vielmehr bereits auf der Ebene des sinnlichen (vor-propositionalen) Empfindens und Wahrnehmens. Der Rechtsschutz setzt gewissermaßen schon auf der Ebene der Sinnlichkeit ein. So bezieht die Achtung vor der Unversehrtheit des menschlichen Leibes, mithin der wichtigste Teil der Menschenrechte, ihre direkte und keiner weiteren Begründung ethischer oder theologischer Art bedürftige Evidenz und Geltung schlicht aus dem Umstand, dass die gewaltsame Verletzung des Leibes einer anderen Person (etwa in der Folter) eine Verletzung des sinnlich erfahrbaren und erfahrenen Gefüges ‚menschlicher Leib‘ ist. In diesem Sinne muss man von Menschenwürde und Menschenrecht schon in der Wahrnehmung des anderen Leibes einer anderen Person sprechen. Und auf der Ebene der reflektierten Einstellung in puncto Schutz, Achtung und Ausbau der Menschenwürde und Menschenrechte ist dann umso deutlicher noch, dass keine Person und keine Institution eine (metaphysische oder irgendeine andere) Legitimation zur Verletzung des menschlichen Körpers eines anderen Menschen besitzt. Die Achtung und Schutzwürdigkeit der Menschenwürde und Menschenrechte sind auch in dieser Perspektive – nicht erst und nicht nur im Sinne der zwingenden Geltung des positiven Rechts – rationales und moralisches, rechtsmoralisches Gebot. Ein Beispiel ist das strikte Verbot der Folter. Aus Sicht der ZuI-Philosophie ist auf diese Weise eine Position und Haltung bezeichnet, die einen signifikanten Schritt über den bloßen Rechtspositivismus
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hinausgeht, ohne damit erneut in das Problem eines Konflikts zwischen Recht und Moral oder in eine Abhängigkeit des Rechts von der Moral zu geraten. Viertens (d) führt die Anwendung des Stufenmodells der ZuI-Philosophie zu einer weiteren und im Blick auf Sandkühlers Vermutung in puncto unabschließbare Interpretierbarkeit von Rechtssystem und Rechtspraxis wichtigen Einsicht. Zum einen (i) bewegen wir uns auch in Sachen Rechtssystem und Rechtspraxis durchgängig innerhalb der ZuI-Welten, denen wir nicht entspringen können. Zum anderen (ii) führen die Normen der ZuI1+2+3-Ebenen keineswegs in relativistische, unabschließbare und diffundierende Abwägbarkeiten. Vielmehr liefern die ZuI1+2+3-Normen gerade aufgrund ihrer Grenzziehungen überhaupt erst die Möglichkeiten auch der juridischen Individuation, Geltung und Verbindlichkeit. Im Blick auf die personalen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Rechts-, Verfassungs- und Staatsverhältnisse kommen der Menschenwürde und den Menschenrechten ein Status auf der ZuI1-Ebene zu. Dieser Status ist in puncto Normen und Rechte demjenigen vergleichbar, den wir in puncto materielle Welt der Raum-Zeit-Lokalisierung von Objekten und Ereignissen in individuierten Welten zusprechen: als Basisnorm, jedoch in genau dieser Funktion nicht zeichen-frei und nicht nicht-interpretativ.
4 Zeichen und Interpretationsphilosophie der Menschenrechte Weder das Rechtssystem noch die Rechtspraxis fallen aus der basalen und umfänglichen Interpretativität unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses als solcher heraus. Dieser Befund ist auch (und in Übereinstimmung mit Sandkühler) in puncto Menschenwürde zu beachten. Entsprechend ist zunächst zu konstatieren: „Wie jede Norm ist auch die Würdenorm ein Deutungsschema.“ Deshalb auch kann es nicht überraschen, dass es „unübersehbar viele Interpretationen dazu gibt, was unter ‚Menschenwürde‘ verstanden werden soll“ (Kap. 2.3.1). Diese Interpretationen sind abhängig von epistemischen und nicht-epistemischen (moralischen, gesellschaftlichen und politischen) Zielen, Zwecken und Interessen sowie von den diesen zugrunde liegenden Menschen- und Weltbildern. Dies zu konstatieren, heißt für mich jedoch keineswegs, dass das Recht auf diese Weise in einer letztinstanzlichen Abhängigkeit von der Moral gesehen oder in eine solche gebracht werden müsste. Geht es um die Rolle des Rechts in Gesellschaft und Staat, so habe ich mich an vielen Stellen klar dahingehend positioniert, dass ich es geradezu als die Kernaufgabe der Rechtsordnung ansehe, mit autoritativem Gebot zu verhindern, dass einzelne moralisierende Perspektiven
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und Standpunkte sich so über andere erheben könnten, dass sie zur Norm für alle anderen werden und moralisch legitimiert sein könnten, diese unter sich zu zwingen (vgl. etwa SZI 366 ff.). Selbstverständlich schließt diese Rolle des Rechts den Gesetzgeber und den Staat selbst mit ein. Es geht also in keiner Weise darum, dem Gesetzgeber und dem Staat einen Freibrief für unethische, dogmatische und am Ende menschenverachtende Vorschriften und Gesetze auszustellen. Denn das ist gerade nicht der Witz des positiven Rechts, wie er sich aus dem Verzicht auf materiale naturrechtliche, metaphysische oder offenbarungs-theologische Letztbegründungen ergibt. Auch der Staat selbst kann und muss vor Gericht gebracht werden können, was in Form von Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht ja auch praktiziert wird. Die öffentliche Akzeptanz einer Rechtsordnung und ihres zwingenden Charakters ist auf eine innere Verbindung des Rechts zum Ethos der gelebten Sittlichkeit angewiesen. Diese Verbindung wird vor allem in zwei Hinsichten deutlich. Erstens (a) ist bemerkenswert, dass wir auf Verletzungen der Menschenwürde und Menschenrechte nicht bloß mit Hinweis auf die staatlichen sowie internationalen und völkerrechtlichen Institutionen zur Bestrafung solcher Verletzungen reagieren. Wir reagieren auch aus unseren ethischen und moralischen Empfindungen, Überzeugungen und Ordnungen heraus. Verletzungen der Menschenwürde und Menschenrechte (wie der körperlichen Unversehrtheit, basalen Sicherheit und gewaltfreien Lebensumstände) treffen uns nicht nur in unserem Recht, sondern zugleich auch in unserer Moral und Ethik. Menschliche Würde meint eben im buchstäblichen Sinne Dignität eines jeden Menschen als Mensch. Offenkundig ist diese Dimension keine bloß staatlich-institutionelle Angelegenheit. Es handelt sich nicht bloß um ein staatlich-politisches und nicht bloß um ein Bürgerrecht. Es geht um Würde und Rechte, die jedem Menschen als Mensch unveräußerlich und unverletzlich zukommen, wodurch das Recht intern mit dem Ethos gelebter Sittlichkeit verbunden ist. Zweitens (b) zeigt sich die Verbindung von Recht und Ethos nicht zuletzt auch dann, wenn das Verhältnis zwischen Lebenssittlichkeit und Menschenwürde / Menschenrechten auseinanderklafft. In diesem Falle wird die vormals bindende Autorität und Kraft der Rechtssätze und der Rechtspraxis nicht mehr als lebensweltlich gerechtfertigt und nicht mehr als rational akzeptabel erfahren. Ist dies der Fall, dann stehen in Bezug auf konkrete positive Rechtssätze grundsätzliche Fragen der Korrektur oder im Grenzfall einer Neuordnung von Rechtssystem und Rechtspraxis ins Haus. Aus diesen beiden Verbindungen von Recht und Ethos ergibt sich jedoch keineswegs der Umkehrschluss, dass es vernünftig sei, das Recht von materialen
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Moralitäten abhängig zu machen. Hier ist der Unterschied zwischen Moralität (im Sinne eines moralisierenden Standpunkts) und Ethos (im Sinne gelebter Sittlichkeit) entscheidend. Zugespitzt formuliert scheint es mir vornehmlich unter dem Vorzeichen der Humanität bei weitem zu riskant, bestimmte kulturellrechtliche Errungenschaften, wie vor allem die Achtung und den Schutz der Menschenwürde und Menschenrechte sowie anderer im Gefolge dieser Basisrechte stehender Grundrechte, von materialen Moralitäten abhängig zu machen. In der ZuI-Philosophie ist dieser Punkt vor allem in der Perspektive unabdingbar, dass wir als endliche Geister und Akteure nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch von der Möglichkeit der Einsicht in so etwas wie eine letzte metaphysische Wahrheit und Richtigkeit, von Moral und Recht nach Gottesmaß, abgeschnitten sind. Stets habe ich in diesem Zusammenhang ein offenes Ohr für Blaise Pascals bekannte und warnende Formulierung gehabt: „Der Mensch ist weder Engel noch Tier; das Verhängnis aber will es, dass, wer den Engel spielen will, zum Tier wird.“ (Pascal 2016: Nr. 358) Bereits ein flüchtiger Blick ins weltpolitische Geschehen sowie in die Geschichte zeigt, dass der Allianz von Heiligem und Funktionär stets Gewalt und Unterdrückung auf dem Fuße folgten. Vor diesem Hintergrund stimme ich der Auffassung Sandkühlers zu, dass die Basisnorm der Menschenwürde ihr Fundament „im System der positivierten […] Menschenrechte“ (Kap. 2.3.1) hat, so wie diese durch die Vereinten Nationen ausgehandelt und als „zwingendes Recht“ im Sinne des „ius cogens et erga omnes“ allen Staaten zur rechtlichen und politischen Verpflichtung gemacht worden ist. Die „rechtliche“ Geltung der Menschenrechte „gründet“ in den Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen (ebd.). Diese rechtspositivistische Perspektive unterläuft in einem durchaus frei-setzenden Sinne die Frage danach, ob diese Rechte universelle Geltung haben oder nicht. Bei manchen Philosophen tritt dieser Punkt in Gestalt der beliebten (aber sachlich ablenkenden) Frage auf, ob die Menschenrechte einer normativen Letztbegründung überhaupt fähig seien oder nicht. Insofern die ZuI-Philosophie in dem erläuterten Sinne nicht eine Variante einer Philosophie metaphysischer Letztbegründung darstellt, gehören ihre Vertreter dezidiert nicht zu dieser Gruppe von Philosophen. Über die rein rechtliche Geltung hinaus ist hier auch die weitgehende Übereinstimmung innerhalb der Verfassungsrechtslehre in Bezug auf den „wesentlichen Normgehalt“ der Menschenwürde und der Menschenrechte einzubeziehen. Diese Übereinstimmung besteht, wie Sandkühler betont, in der „Anerkennung und Achtung jedes Menschen als Subjekt und als zu eigener Entfaltung und verantwortlichem Handeln freiem Träger grundlegender Rechte sowie im Ausschluss von Entwürdigung und Instrumentalisierung“ (Kap. 2.3.1). Hier befinden wir uns an dem zentralen Punkt, dass die Achtung, der Schutz und die Unan-
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tastbarkeit der Menschenwürde als basaler Rechtsnorm vom „Konflikt der Interpretationen […] de jure unberührt [bleibt]“ (ebd.). In diesem Zusammenhang möchte ich zunächst einen bestimmten Aspekt hervorheben, von dem aus ich dann eine ZuI-Philosophie der Menschenrechte skizzieren möchte, die einen Schritt über den skizzierten und unverzichtbaren Rechtspositivismus hinausgeht. Mein Ziel ist es, eine Komplementarität und einen internen Zusammenhang zwischen der ZuI-Ethik und den Menschenrechten herzustellen, die nicht mehr unter dem Verdacht der Moralisierung des Rechts stehen. Das bedeutet unter anderem, dass ich zwischen einer ZuI-ethischen Rechtfertigung der Menschenrechte und den rechtlich-politischen Verfahren zu ihrer Realisierung einen ethischen Zusammenhang ebenso wie ein Rechtsgebot staatlicher wie völkerrechtlicher Ausgestaltung sehe. Meine offenkundig Kantisch inspirierte These lautet: Die Menschenwürde und die Menschenrechte sollten nicht als materiale Normen, sondern als formale und prozedurale Normen angesehen, definiert, verteidigt und erweitert werden. In welchem Sinne könnte dies eine vernünftige These sein? Eine erste Antwort lautet: Diese These greift zurück auf die treffliche Einsicht Kants, dass es ein materiales Wahrheits- und Richtigkeitskriterium deshalb nicht geben kann, weil materiale Normen nicht zugleich allgemein verbindlich sein können. Dies ist Kant zufolge der Fall, weil hinsichtlich eines materialen Normengehalts die Interpretationen dieses Gehalts sehr unterschiedlich ausfallen, himmelweit auseinander liegen können. Wäre die Geltung der Menschenrechte von materialen und zugleich universellen Gehalten abhängig, dann könnte es aufgrund der Unmöglichkeit, beides zugleich zu bekommen, nicht zu einer Verallgemeinerungsfähigkeit der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde und Menschenrechte kommen.Wir müssten dann bei der rein rechtlichen Geltung stehenbleiben. Diese Geltung ‚de jure‘ entschieden ins Zentrum zu rücken, ist – wie ich erneut und nachdrücklich betonen möchte – in puncto Legitimation und Legalität der Menschenrechte als politischer Rechte fundamental. Im Folgenden möchte ich darüber hinaus die Frage stellen und zu beantworten suchen, ob eine philosophische Begründung der Menschenrechte dann möglich wird, wenn wir diese Normen als formale und prozedurale Normen, nicht mehr als materiale Normen auffassen. Aus meiner Sicht ist die ZuI-Philosophie derjenige Typus von Philosophie, der diese Herausforderung meistern kann. Kant hat den Konflikt zwischen materialem Gehalt und Universalität in Bezug sowohl auf den theoretischen Verstand (materiales Wahrheitskriterium) als auch auf die praktische Vernunft (materiale ethische Maximen) eindrücklich vor Augen geführt. Erinnert sei an sein Beispiel der ‚Glückseligkeit‘, von der es zunächst so scheint, als strebten alle Menschen gleichermaßen und mit demselben semantischen Gehalt nach ihr. Doch kann zwischen unterschiedlichen Personen und gar
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zwischen unterschiedlichen Kulturen schnell heftiger Streit über eben diesen materialen Gehalt ausbrechen. Dies ist der Fall, sobald es um die Frage geht, worin genau denn materialiter die Glückseligkeit bestehe. Die einzelnen Personen ebenso wie die einzelnen Kulturen können den materialen Gehalt sehr unterschiedlich fassen. ‚Was dem einen sin Uhl, ist dem andern sin Nachtigall.‘ Dieser Befund zeigt, dass eine materiale und zugleich allgemein verbindliche, universelle Ethik der Glückseligkeit nicht zu haben ist. Nur in Theokratien werden materiale Gehalte zugleich als die allgemein verbindlichen Normen ausgegeben und durchgesetzt, koste es, was es wolle. Im Folgenden möchte ich die Unterscheidung zwischen materialen Kriterien auf der einen und formalen sowie prozeduralen Kriterien auf der anderen Seite hinsichtlich des universellen Status der Menschenwürde und der Menschenrechte fruchtbar machen. Ich tue dies nicht nur in Aufnahme der skizzierten Kantischen Problematik der Unvereinbarkeit materialer und universeller Normen. Ich tue es auch und vornehmlich im Rekurs auf die Natur der die menschlichen Lebens- und Erfahrungswirklichkeiten ausmachenden und in sich plural und freiheitlich verfassten ZuI-Verhältnisse selbst. Die ZuI-Verhältnisse selbst und mit Blick auf die Entfaltung ihrer Potentiale aufrechtzuerhalten, auszubauen und zu steigern, kann nicht im Rückgriff auf materiale Normen, sondern letztlich nur dadurch bewerkstelligt werden, dass die formale und prozedurale Natur sowohl der Ethik als auch der rechtlichen und der politischen Geltung der Menschenrechte den Leitfaden der Betrachtung bildet. Diese Linie der Argumentation geht gut zusammen auch mit dem von Sandkühler betonten Punkt, dass Verfassungen es „vermeiden“, die Menschenwürde „material zu definieren“ (Kap. 2.3.1). Vermieden sie dies nicht, so würden sie in dem skizzierten Dilemma enden. Für Sandkühler führt der Verzicht auf materiale Definition der Menschenwürde und der Menschenrechte deshalb nicht zu Problemen, weil sich aus den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, des Europäischen Gerichtshofs und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte insgesamt ergebe, „was die basale Würdenorm intensional und extensional bedeutet“ (ebd.). Über diesen zentralen Punkt hinaus möchte ich für den zusätzlichen Schritt des Wechsels von einer materialen zu einer formalen und prozeduralen Basisnorm plädieren. Darin steckt, dass ich im Sinne eines prozeduralen regulativen Ideals für einen Wechsel vom Was zum Wie in Sachen Menschenwürde und Menschenrechte plädiere. Entscheidend ist, wie wir die Menschenwürde und die Menschenrechte als verpflichtend im persönlichen, gesellschaftlichen, staatlichen und internationalen Handeln achten und schützen. Entscheidend ist nicht, eine wasserdichte materiale und zugleich allgemeine Definition von Menschenwürde und Menschenrechten zu geben. Die ganze Argumentationslinie der ZuI-Philosophie zugunsten der Menschenrechte ergibt sich
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entscheidend aus der formalen und prozeduralen Auffassung der Ethik und der Demokratie, wie ich sie in unterschiedlichen Zusammenhängen und zuletzt auch im vorliegenden Band in der Replik auf Lukas K. Sosoe verteidigt habe. Offenkundig sind wir nicht im Besitz von so etwas wie ‚Dem Einen Einzigen Materialen Und Einheitlichen Begriff‘ dessen, was wir unter Menschenwürde und Menschenrechten zu verstehen haben. Zugleich ist es sinnlogisch aber auch gar nicht geboten, in quasi apokalyptischer Einstellung irgendwie doch auf einen solchen Begriff zu hoffen. Dass wir von beiden Möglichkeiten systematisch abgeschnitten sind, ist aus der Perspektive der allgemeinen ZuI-Philosophie kein Hindernis für die Achtung und den Schutz von Menschenwürde und Menschenrechten, sondern vielmehr deren Bedingung. Dass niemand den Menschen ausdefinieren kann, ist kein Defizit, sondern die Bedingung und Chance der Humanität. In der ZuI-Philosophie geht es auch in Sachen Menschenwürde und Menschenrechte darum, die nicht-reduzible Pluralität der unser Empfinden, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten charakterisierenden ZuI-Prozesse aufrechtzuerhalten und deren Potentiale zu entfalten. Und genau diese genuin humane Unternehmung wird in der Verletzung von Menschenwürde und Menschenrechten elementar gefährdet, im Grenzfall (wie bei Folter und Tötung) zerstört. Diesen Punkt wird vermutlich selbst ein Kritiker der Universalität der Menschenrechte einräumen, sobald er seine eigene und die Situation etwa seiner Mitmenschen im eigenen näheren lebensweltlichen und kulturellen Umfeld näher betrachtet. Die ZuI-Philosophie betont darüber hinaus, dass die Achtung und der Schutz der auf diese Weise als unveräußerlich und unverletzlich eingestuften Menschenrechte gerade nicht von einer weiteren Begründung, gar einer moralphilosophischen Letztbegründung, abhängig sind. Die Menschenwürde steht da wie das Leben selbst. Und der Witz ist, dass eine weitere Begründung oder gar Letztbegründung weder erforderlich noch geboten sind. Zur Entfaltung der Potentiale der menschlichen Kommunikations-, Kooperations-, Kognitions- und Gestaltungs-Verhältnisse ist nicht eine Identität der beteiligten ZuI-Horizonte gefordert. Es reicht, glücklicherweise, eine Überlappung der zeichen- und interpretations-verfassten Horizonte. Überlappung ermöglicht Verständigung und Kooperation ebenso wie die Beachtung von Unterschieden und Differenzen. Und die Menschenrechte können (mit den Staaten und deren Institutionen als den primären menschenrechtlichen Adressaten sowie völkerrechtlich akzeptiertem ‚ius cogens‘) als eine juridische und ethische Basisnorm zur Aufrechterhaltung und Entfaltung dieser Verhältnisse angesehen und verteidigt werden. Sehr gut erinnere ich mich an eine Diskussion mit Kolleginnen und Kollegen aus außereuropäischen Ländern und Kulturen im Anschluss an einen Vortrag, den ich auf der Academia Engelberg in der Schweiz zur Verteidigung der Demo-
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kratie gegen die subtilsten unter ihren Verächtern gehalten habe (siehe dazu Abel 2010a). Ich wurde nach dem Verhältnis von ZuI-Philosophie und Menschenrechten gefragt. Geantwortet habe ich in dem soeben skizzierten Sinne. Viele meiner Dialogpartner waren zu Beginn der Diskussion keineswegs von dem hier vorgetragenen Sinn der Rede vom universellen, weil formalen und prozeduralen Charakter der Menschenrechte überzeugt. Doch ließen sich einige von ihnen im Zuge der oben entwickelten Argumentation deshalb überzeugen, weil sich das Problem der Geltung der Menschenrechte sowie des gebotenen Einspruchs gegen Menschenrechtsverletzungen auf einmal nicht nur als eines der rechtlichen Geltung auf internationaler und interkultureller Ebene, sondern auch als ein Problem erwies, das, unabhängig von fremden Kulturen und Perspektiven, jeweils bereits zuhause, ganz in der Nähe, in Bezug auf den eigenen Nachbarn innerhalb ein und derselben Kultur relevant ist. Denn es geht in Sachen Menschenwürde und Menschenrechte – und das ist die ZuI-philosophische Grundthese – um die Bedingungen eines jeden erfolgreichen Empfindens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens, unabhängig von einem Kulturrelativismus. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass Demokratie für mich auf dem Boden der ZuI-Philosophie und der ZuI-basierten Ethik und Politischen Philosophie mehr als bloß ein „Zugeständnis“ (Kap. 1.3) an den nicht-eliminierbaren Pluralismus und Relativismus ist (vgl. dazu Abel 2010b sowie meine Replik auf Lukas K. Sosoe). Hier liegt ein Unterschied zu der Sichtweise Sandkühlers ebenso wie zu Rechtstheoretikern wie Hans Kelsen oder Gustav Radbruch. Freilich wird es vor dem skizzierten Hintergrund nicht überraschen, dass ich mich zu den Anhängern eines Minimalismus in puncto Menschenrechte zähle. Der Grund für diese Einstellung ist einfach und offensichtlich: Je mehr Kandidaten wir in den Kreis der konditionalen Menschenrechte aufnehmen, desto deutlicher wird der Universalismus der Menschenrechte geschwächt. Der Kernbestand der Menschenrechte bestünde im Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit sowie auf gewaltfreie Umstände des Lebens (mithin auf die Abwesenheit von Mord, Totschlag, gewaltsam zugefügtem Schmerz und Folter, Diskriminierung aus Gründen von Rasse oder Geschlecht) sowie auf eine diese Rechte achtende und schützende freiheitliche, rechtsstaatliche und völkerrechtliche Ordnung. Eine solche Minimalisierung scheint mir auch deshalb geboten, weil die inhaltlichen Unterbestimmtheiten ebenso wie die materialen kulturellen Unterschiede mit den fortschreitenden materialen Spezifikationen zunehmen. Je größer die Unterbestimmtheiten jedoch, desto größer die Spielräume der Interpretation und desto geschwächter die Universalität. Der Minimalismus eines harten Kerns der Menschenrechte ist auch deshalb überaus wichtig, weil nur er dazu führt, dass die elementaren Menschenrechte Eingang in die Konzeption und Definition des Rechts selber finden. Dieser Befund schließt natürlich nicht nur
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nicht aus, sondern explizit ein, dass die Spezifikationen der Menschenrechte dann eine ganze Reihe weiterer und erweiterter Rechte enthalten (wie z. B. in Bezug auf Arbeitswelten etwa das Verbot von Kinderarbeit, auf persönliches Eigentum, auf soziale Vorkehrungen und vieles andere mehr, was in den Menschenrechtskonventionen ausbuchstabiert wurde). Aus der ZuI-Philosophie heraus möchte ich das Plädoyer für einen Minimalismus der Menschenrechte um die folgenden Gesichtspunkte noch ergänzen. Im Minimalbereich der grundlegenden Menschenrechte gibt es keine Spielräume der Interpretation. Mit dieser Feststellung hoffe ich Sandkühlers Vermutung den Boden entzogen zu haben, die ZuI-Philosophie könnte innerhalb ihrer Systematik keinen rechten Platz für die Nichtinterpretierbarkeit der Menschenwürde und der Menschenrechte haben. Sobald wir jedoch den minimalistischen Kernbereich erweitern und ihn mit immer weiteren und materialen Rechten spezifizieren (und das ist, was ich außerordentlich positiv sehe, seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und in weiteren Menschenrechtspakten in Form von spezifizierten sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Rechten erfolgt), nimmt offenkundig auch die Interpretationsbedürftigkeit zu. Das ist einfach deshalb der Fall, weil den Adressaten zur Umsetzung solcher Rechte, den Staaten und ihren Institutionen, damit auch größere Spielräume der Ausgestaltung solcher Rechte zuwachsen. Unter zwei Gesichtspunkten schlägt die skizzierte ZuI-philosophische Sicht der Menschenrechte zwei Fliegen mit einer Klappe und vermag zugleich, eine begründungstaugliche Komplementarität zwischen ZuI-Ethik und Menschenrechten in dem skizzierten Sinne zu entwickeln. Zum einen (a) besteht der Minimalbereich der Menschenrechte nicht nur das juridische Prüfverfahren des ius cogens et erga omnes. Er besteht zugleich auch das philosophische Prüfverfahren auf ethische Verallgemeinerungsfähigkeit im Sinne des Kantischen Kategorischen Imperativs bemerkenswert leicht. Letzteres Prüfverfahren meint die Frage, ob die Menschenrechte jederzeit Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung sein können. Die Menschenrechte können nicht nur im Bereich juridischer Rechte mit Blick auf Staaten und deren Institutionen, sondern auch im Rahmen ethischer Begründungen ihre grundlegende Rolle spielen. So haben die Menschenrechte für uns ihre ethische und juridische Geltung etwa nicht bloß deshalb, weil wir anderenfalls mit unserer mitteleuropäischen Rechts- und Verfassungstradition in Konflikt geraten würden. Und sie haben Geltung auch nicht einfach bloß aus Gründen der Political Correctness oder etwa des guten Namens demokratischer Bürger willen. Die Menschenrechte gelten unabhängig davon kategorisch. Zum anderen (b) tritt in den Menschenrechten als juridischen Rechten der Mensch allein schon kraft seiner physisch-leiblichen Existenz und in seinem
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Handeln als freier Träger grundlegender Rechte auf, welche Rechte es auf universelle Art untersagen, den Menschen und das Recht anderer Menschen auf Existenz sowie zur Entfaltung seiner/ihrer Potentiale zu hindern. Die klassische Formulierung dieser ZuI-philosophischen Selbstbegründung der Menschenrechte hat Kant geliefert. Der Mensch darf nie bloß ein ‚Mittel zum Zweck‘, sondern muss als ‚Zweck an sich selbst‘, als Selbstzweck angesehen und behandelt werden. Die Menschenrechte sind verletzt, wenn der „konkrete Mensch“, wie es in der bekannten „Objektformel“ zur Erläuterung der von Art. 1 Abs. 1 GG formulierten Menschenwürde heißt, „zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“ (Dürig 1956: 127). Wer die rechtliche und die ethische Geltung der Menschenrechte bestreitet und deren Verletzungen (zum Beispiel Folter) für legitim hält, der zerstört durch diese Einstellung und durch die sich daran anschließenden Handlungen die pluralen, freiheitlichen sowie zeichen- und interpretations-verfassten Lebensverhältnisse selbst, von denen selbst noch das Bestreiten-Können der Menschenrechte abhängig ist. Die Menschenrechte zu relativieren oder sie gar zu bestreiten, hat selbst-destruktive Konsequenzen für das Bestreiten selbst.
Literatur Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2010a: Warum Demokratie? Eine philosophische Verteidigung gegen die subtilsten unter ihren Verächtern. Vortrag bei der Academia Engelberg, Neunter Wissenschaftsdialog: Herausforderung Demokratie, 13. – 15. Oktober 2010 in Engelberg, Schweiz [Online-Zugang: s. Schriftenverzeichnis, Zff. VI.10, im Anhang dieses Buches]. Abel, Günter 2010b: Zeichen- und Interpretationsethik, in: Przyłębski, Andrzej (Hg.): Ethik im Lichte der Hermeneutik, Würzburg, S. 91 – 119. Abel, Günter 2016: Rethinking Rationality: The Use of Signs and the Rationality of Interpretations, in: Wagner, Astrid / Ariso, José Maria (Hg.): Rationality Reconsidered. Ortega y Gasset and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 9), Berlin / Boston, S. 15 – 29. Dürig, Günter 1956: Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde. Entwurf eines praktikablen Wertsystems der Grundrechte aus Art. 1 Abs. I in Verbindung mit Art 19 Bs. II des Grundgesetzes, in: Archiv d. öffentlichen Rechts 81, S. 117 – 157. Pascal, Blaise 2016: Pensées / Gedanken, ediert u. kommentiert v. P. Sellier, Darmstadt. Sandkühler, Hans Jörg 2013: Recht und Staat nach menschlichem Maß. Einführung in die Rechts- und Staatstheorie in menschenrechtlicher Perspektive, Weilerswist.
Walter Grasnick
Vom Umgang mit Gesetzen* Abstract: The paper assumes a problem of interpretation. It criticizes its shortened traditional understanding in jurisprudence (Rechtswissenschaft) and jurisdiction. This shows, above all, that the point is not just about an interpretation of legal texts and their correct application to facts of the case. Rather, they must themselves be interpretatively established first. Therefore, Grasnick argues for a revision of the traditional hermeneutic understanding of the law and instead makes the case for a juristic argumentation in contexts of vagueness, indeterminacy, and uncertainty. “In the final analysis” it is a matter of the acceptance of judicial judgment and hence of the people’s trust in their constitutional state. Abel’s philosophy of interpretation is – in combination with other, particularly with constructivist and pragmatist approaches – very helpful here.
1 Wie geht man mit Gesetzen um? Welch eine Frage! Man wendet sie an. Was sonst. Die ‚Gesetzeskundigen‘ aber sind sich da offenkundig gar nicht so sicher. Zumindest dürften sie es nicht sein, wenn wirklich zuträfe, was sie fast alle verkünden, dass nämlich jedes Gesetz, bevor es überhaupt angewendet werden könnte, zunächst einmal ausgelegt werden müsste.¹ Damit ist die Katze aus dem schwarzen Sack, dem einer undurchsichtigen alteuropäischen Ontologie. Der zufolge gibt es etwas, ein Etwas, das da tief verborgen auf dem Grunde des Gesetzes ruht. Wie der Schatz des Nibelungen in den Tiefen des Rheins. Doch zum Glück von keinem Riesen Fafner bewacht, so dass es, wie man meinen möchte, keines besonderen Mutes bedürfte, sich seiner zu bemächtigen. Gleichwohl gelingt das nicht jedem. Es bedarf vielmehr einer besonderen Gabe, einer geheimnisvollen Fähigkeit, über die offenkundig nur eigens in ihr Geschulte verfügen. Die heißen Hermeneutiker. Was die vorgeblich vermögen, steht bei Odo Marquard nachzulesen.² Sie gleichen eineiiggeschwisterhaft genau – in einem hübschen Gedankenspiel³ – dem Theologen, der nachts in einem * Das Manuskript wurde im Mai 2012 erstellt, einige Literaturangaben aktualisiert. Vgl. statt aller, und seit Jahrzehnten unverändert, Wessels und Beulke (2016: RN 56). Nur tut das offenbar keiner. Sonst wäre jedem klar, dass die Hermeneutik die „Kunst [ist], aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht […]“. So Marquard (2000: 117). Die vollständige Geschichte erzählt List (1995). https://doi.org/10.1515/9783110522280-042
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völlig verdunkelten Raum eine schwarze Katze findet. Die gar nicht darinnen ist. Das ist purer Hokuspokus. Doch in der Rechtstheorie und Rechtswissenschaft sollte es doch halbwegs solide zugehen. Vor allem aber in der Justiz. Dort mit Rücksicht auf die Betroffenen. Dazu zählt zum Beispiel im Strafprozess der Angeklagte. Dass, was die Prognose seines künftigen Verhaltens angeht, der Richter als Sachverständigen keinen Astrologen zu Rate zieht, braucht nicht begründet zu werden. Indessen: Selbst von den Kaffeesatzlesern sind die Gesetzesinterpreten keineswegs sternenweit entfernt. Wer ihnen das freilich sagte, bekäme Ärger. Sie verstehen selten Spaß. Erst recht keinen Ernst. Und ich meine es ernst. Denn zuviel steht auf dem Spiel. In diesen Tagen, da dieser Beitrag geschrieben wird – wir stecken (noch) mitten in der Finanzkrise, haben erst kürzlich einen Plagiator und Lügner entlarvt, ineins damit einen hochstapelnden Bundesminister hinter uns gebracht und erlebten obendrein einen in seiner Glaubwürdigkeit zutiefst angeschlagenen Bundespräsidenten – in Zeiten also, wo das Wort Vertrauenskrise täglich in aller Munde ist, sollte jeder, der ‚mit dem Recht‘ zu tun hat, es vor Schaden bewahren. Dazu gehört nicht zuletzt, dass wir uns und anderen nicht länger etwas darüber vormachen, was es bedeutet, mit Gesetzen richtig umzugehen. Sie einfach nur anzuwenden, ist zu simpel gedacht, sie zuvor zu interpretieren, zumindest zu kurz, im Grunde sogar falsch. Folglich läuft alles darauf hinaus, sich von Auslegung, beziehungsweise Interpretation, einen zutreffenden Begriff zu machen. Sofern wir Begriffe nicht überhaupt für entbehrlich halten. Ebenso wie ‚Tatsachen‘. Und am Ende vielleicht sogar die Interpretation selbst. Das mag in manchen Ohren nach Revolution klingen, ist aber keine. Sondern nichts als das Ergebnis des Nachdenkens darüber, wovon überhaupt die Rede ist, wenn wir von ‚Begriffen‘ und ‚Tatsachen‘ sprechen. Oder eben von ‚Gesetzesinterpretation‘. Ausgerechnet ein Historiker, folglich einer, von dem man gemeinhin erwartet, dass er Tatsachen erkundet und seine dabei gewonnenen Resultate auf Begriffe bringt, der Rechtshistoriker Michael Stolleis war es, der „Zur Entbehrlichkeit von ‚Begriff‘ und ‚Tatsache‘“⁴ Entscheidendes zu sagen wusste. Aber damit geraten wir, so könnte es scheinen, in die Bredouille. Ich denke dabei an die bekannten Dicta Friedrich Nietzsches: „Wir stoßen nie auf ‚Thatsachen‘“. Und: „nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen“.⁵ Also just das, wovon wir doch gerade gesagt hatten, sie seien möglicherweise – wie die Tatsachen und Begriffe – durchaus entbehrlich. So lautet der für viele gewiss schockierende Untertitel seines Buches Rechtsgeschichte als Kunstprodukt (Stolleis 1997), um- und fortgeschrieben in Rechtsgeschichte schreiben. Rekonstruktion, Erzählung, Fiktion? (Stolleis 2008). Siehe Nietzsches Nachlass (1887/88, 11[113], KSA 13.53; und 1886/87, 7[60], KSA 12.315).
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2 Was aber bleibt uns dann noch, und wie steht es vor allem um die „Interpretationswelten“ von Günter Abel? Oder die „Interpretationskonstrukte“ des Hans Lenk?⁶ Letztere könnten ja einen anderen ontologischen Status haben als Welten. Sehen jedoch kann man weder die einen noch die anderen. Bei den Konstrukten verlangt aber wenigstens niemand zu glauben, sie existierten naturwüchsig wie Berge und Seen, Blumen und Bäume. Die Juristen jedoch kümmert das alles herzlich wenig. Sie reden und schreiben im Übrigen von Interpretation lediglich in Bezug auf Texte, eben Gesetzestexte. Die bilden auch die Hauptgegenstände ihres Interesses. Jedenfalls in der Rechtswissenschaft. Bei Gericht verhält es sich dagegen eher umgekehrt. Da stehen die Richter als erstes vor der Aufgabe herauszubekommen, worum es in ‚tatsächlicher‘ Hinsicht eigentlich geht. Sie fragen also zunächst einmal, den Historikern nicht unähnlich, was überhaupt geschehen ist. Um es hernach juristisch zu bewerten. Im Juristenjargon bedeutet dies, dass vorab – bevor die ‚eigentliche‘ juristische Arbeit beginnt – der Sachverhalt festgestellt wird. Doch dass just dies gar nicht geht, der Sachverhalt eben nicht festgestellt, vielmehr eigens von den Richtern erst hergestellt wird, das ist ihnen mehrheitlich bis heute nicht einmal ahnungsweise aufgegangen, weil es ganz offenkundig mit dem gemeinen, dem vermeintlich gesunden Menschenverstand so problemlos übereinstimmt. In diesem gewöhnlich unreflektierten Für-wahrHalten besteht Vergangenes schlicht aus nichts als bloßen Fakten. Man könnte sagen, die Juristen seien mehrheitlich die idealen Focus-Leser: Fakten, Fakten, Fakten. Dass aber just hier und nur hier, mithin nicht da, wo sie diese fälschlich fokussieren, die Interpretationen ihren angestammten Platz haben, ist den Juristen so gut wie völlig fremd.⁷ Hier Remedur zu schaffen ist die Interpretationsphilosophie wie weniges sonst geeignet. Zu dem Wenigen rechne ich die Geschichtenphilosophie, wie sie von Wilhelm Schapp entwickelt worden ist.⁸ Sie hat nur den Nachteil, bei den Juristen noch weniger bekannt zu sein.
Ein ‚gekonnter‘ Zufall und zugleich Glücksfall für die Juristen in Sachen Weltbildhaus (dazu später im Text) war das Erscheinen der beiden Standardwerke der Interpretationsphilosophie im Jahre 1993, also Günter Abels Interpretationswelten und Hans Lenks Interpretationskonstrukte. In mehr als einem Sinn kann man auch Niklas Luhmanns Das Recht der Gesellschaft hinzuzählen, ebenfalls 1993 erschienen und alle drei im selben Verlag in Frankfurt. Zum Interpretationsverständnis und -missverständnis näher: Grasnick (1998). Einen Überblick hierzu gibt Grasnick (2003).
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Uns interessieren die Gemeinsamkeiten zwischen der Geschichten- und der Interpretationsphilosophie. Letztere verrät ja schon in ihrem Namen, worum es in ihr geht. Bei ersterer kommt der Leser aber alsbald dahinter, dass für beide das Interpretieren – wie Heidegger es für das Verstehen reklamiert hat – ein Essential darstellt. Lenk brachte das für die Interpretationen auf die griffige Formel: „Wir können nicht nicht interpretieren“.⁹ Und Abel würde dem nicht nur zustimmen. Er hat das Interpretationscredo noch ausdifferenziert. Er schreibt: „Wir können nicht nicht-interpretativ empfinden, wahrnehmen, sprechen, denken und handeln“.¹⁰ Um ein Quasi-Essential also soll es sich handeln, wovon wir doch gerade erst die Vermutung geäußert haben, es könnte durchaus und sehr wohl entbehrlich sein? Oder, ich setze noch eins drauf, sogar gefährlich. Wie reimt sich das zusammen? Ganz einfach! Wir müssen nur einsehen, dass hier zwei Arten von Interpretationen im Spiel sind. Zum einen die, welche Juristen nahezu ausschließlich kennen, das ist eben die Interpretation von Texten. Und sie bildet das Hauptund Kerngeschäft der juristischen Dogmatik. Literaturwissenschaftler interpretieren Werke der Dichtkunst. Theologen legen heilige Texte aus. Und Juristen eben profane – in Gestalt von Gesetzestexten. Am ausdauerndsten widmen sie sich denen der Verfassung. Ohne dass ein auch nur einigermaßen haltbarer Konsens der Interpreten in Aussicht stünde. Vor einigen Jahren hat Ernst-Wolfgang Böckenförde, einer unserer renommiertesten ehemaligen Bundesverfassungsrichter und Staatsrechtler, über „die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik“ referiert. Der Aufsatz stammt bereits aus dem Jahr 1976. Darin heißt es: „Nicht konsolidiert hat sich […] bislang die Methode der Verfassungsinterpretation“.¹¹ Um genau diese und ähnliche Gesetzesinterpretationen geht es heute. Und nur um diese. Also Interpretationen, die in den Umkreis der philosophischen Hermeneutik gehören, mit der allerdings, wie Abel betont, die von ihm betriebene Interpretationsphilosophie nicht „gleichgesetzt werden kann“. Just diese „hermeneutische Optik“ werde deshalb in seinem Buch nicht im Einzelnen verfolgt.¹²
Die Parallelformel der Geschichtenphilosophie lautet: Wir können nicht nicht erzählen. Und für die Konstruktivisten ganz allgemein gilt: Wir können nicht nicht konstruieren. Dazu passt dann auch Luhmanns Beobachtertheorem mit der Kernaussage: Wir können nicht nicht beobachten. So in der ‚Fortführung‘ seiner Interpretationswelten in Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI 16). So Böckenförde (2011: 120). Der über 35 Jahre alte Aufsatz könnte heute genauso erneut geschrieben werden. Denn nichts hat sich geändert. Sein Buch, sein bisheriges opus magnum, das sind die bereits genannten Interpretationswelten (Zitat Iw 17).
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Das brauchen wir hier ebenfalls nicht.¹³ Uns genügt ein grundlegender Aspekt. Der lässt sich treffend charakterisieren als „Diesseits der Hermeneutik“.¹⁴ Das ist wortwörtlich gemeint. Der Ort, auf den es letztlich ankommt, ist der Hermeneutik in der Tat vorgelagert. Und wird deshalb vor allem von den Juristen einfach übersprungen. Nicht etwa mit Bedacht. Nein, gebannt auf das Heilsversprechen der überkommenen philosophischen Hermeneutik, von der sie die juristische als Unterfall begreifen, übersehen sie diesen Ort glatt. Sie sind nun einmal auf den „Gesetzestext als ‚Träger‘ des in ihm niedergelegten Sinnes“ fixiert.¹⁵ Dort wollen sie ihn herausholen. Koste es, was es wolle. Und sei es das Vertrauen in die Juristische Methodenlehre als solche. Die Mittel, derer sie sich bedient, sind jenseits der übersprungenen Stelle angesiedelt, mittendrin in der überkommenen Hermeneutik. Der bedeutendste Ahnherr dieser Tradition ist zugleich einer der ersten Rechtsdenker bis heute: Friedrich Carl von Savigny. Berühmt geworden ist der von ihm installierte ViererKanon. Damit sind vier Auslegungselemente gemeint. Jeder Jurist kennt sie. Der tradierte Kanon ist inzwischen erweitert worden. Doch was Savigny in bezug auf diesen geschrieben hat, gilt völlig unabhängig von der genauen Anzahl der Elemente. Seien es nun vier, fünf oder sogar noch mehr. Bei Savigny also ist zu lesen, die Elemente seien „nicht viererlei Interpretationen, sondern immer nur Eine Interpretation, immer componirt aus diesen 4 Elementen“.¹⁶ Die Interpretation eine Komposition. Ein Konstrukt des Interpreten. Will man immer noch glauben, es ginge dabei um die getreue Widerspiegelung des im Gesetz ruhenden Rechts? In dieser Reinheit freilich wird die überkommene Rechtsfindungstheorie heute kaum noch vertreten. Mannigfache Zweifel haben sich stattdessen zu der „Einsicht“ verdichtet, dass „sich die Gewinnung von Recht nicht in der Erkenntnis von Vorhandenem erschöpft […]“.¹⁷ Doch ein Rest von Erdenschwere haftet an dieser Einsicht noch immer, wie das Wort „erschöpft“ dem aufmerksamen Leser verrät. Es wird zwar postuliert, sich in Sachen der Juristischen Methodenlehre,
Auch nicht, was freilich naheliegen könnte, den von Abel an anderer Stelle herausgearbeiteten interpretativen Aspekt der Übersetzung. Vgl. hierzu den Abschnitt „Übersetzung als Interpretation“ (SZI 101– 120). Denn die Juristen leben nun einmal über ihre ‚Interpretationsverhältnisse‘, indem sie verschwenderisch mit Sinn umgehen (wollen), den sie fälschlich als innertextliche Entität begreifen. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz (2004). Der Titel ist so schön, dass ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, ihn mir auszuleihen, auch wenn der Untertitel verrät, dass sein Autor ihn anders verwendet als ich. So steht es im längst zum Klassiker avancierten Lehrbuch von Karl Larenz und Claus-Wilhelm Canaris (1995: 134). So Savigny (1809: 217), Hvh. von W. G. So Jestaedt (2007: 255), Hvh., bis auf die letzte, von W. G.
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modern gesprochen: neu aufzustellen. Jedoch fehlt es bislang an dem erforderlichen Mut, den alten Ladenhüter der Gesetzesfixierung ein für allemal als Museumsstück in die Ecke zu stellen. Wie alt der tatsächlich aussieht, führt z. B. der Staatsrechtler Stein vor. Nach ihm soll „zunächst“ einmal „versucht werden, den unklaren Sinn der relevanten Rechtsnormen zu ermitteln“. Das, so wird weiter versichert, „nennt man ihre ‚Interpretation‘ oder ‚Auslegung‘“. Hoffentlich nicht. Und zu allem Überfluss fügt der Verfasser auch noch hinzu: „Dabei gebietet es die intellektuelle Redlichkeit, nicht mehr in die Rechtsnormen hineinzuinterpretieren als in ihnen enthalten ist“.¹⁸ Um dieses Redlichkeitsgebot zu erfüllen, müsste also der Interpret schon vor Aufnahme seiner Ermittlungstätigkeit bereits wissen, worin denn genau die in der Rechtsnorm verborgene Bedeutung besteht. Man möchte diese Passage ja gern für einen singulären Ausrutscher halten. Indessen, das wäre ein Irrtum. So hatte schon Larenz angemahnt, es sogar als für die Auslegung charakteristisch bezeichnet, „daß der Ausleger nur den Text selbst zum Sprechen bringen will, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen“. Und sein Schüler Canaris hat diesen Mangel bislang nicht getilgt.¹⁹
3 Lassen wir deshalb die Sinnsuch- und Bedeutungsermittlungsaktionen. Und konzentrieren uns auf das Vorfeld. Auf jenen Ort vor jeder Hermeneutik. Dort, wo der Leser ganz allein steht. Nur mit dem Gesetzestext in der Hand. Am Anfang, an dem nur das Wort war. Was jetzt? Sinclair Lewis hat die herrliche Geschichte geschrieben von dem Mann, der morgens in der Zeitung als erstes den Leitartikel liest, weil er sonst keine eigene Meinung hätte über das, was geschehen ist. Der Leser eines Gesetzestextes sollte sich nicht in vergleichbar vertrackter Lage befinden. Wer ihn auf gar keinem Fall in Versuchung sehen möchte, mag deshalb unterstellen, der Gesetzestext sei brandneu, gerade erst im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Es bestünde also gar keine Möglichkeit, irgendwo nachzuschlagen, ob und gegebenenfalls wie der fragliche Gesetzestext bereits von anderen interpretiert worden ist. Über den neuen Gesetzestext hat mithin noch kein anderer nachgedacht, außer – hoffentlich – dessen Verfasser. Was freilich auch nicht weiterhülfe, weil den niemand kennt. Und selbst wenn. Der sogenannte Gesetz-
So in der Tat: Stein (2000: V und 31), Hvh. von W. G. Vgl. wieder die von ihm fortgeführte Methodenlehre (Larenz / Canaris 1995: 134). Von Luhmann hätten beide lernen können, dass Interpretation, wenn man sie denn unbedingt beibehalten will, notwendig ein „Herstellen von mehr Text“ ist. Siehe Luhmann (1993: 340).
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geber stünde nämlich vor demselben Problem. Er wäre allein auf seinen Text angewiesen. Das kann man wunderbar bei Wittgenstein nachlesen.²⁰ Es hilft also alles nichts: hic Rhodus, hic salta. Springen, nicht überspringen. Und dazu jetzt ein denkbar einfacher Fall: Man stelle sich einen der üblichen wenig ansehnlichen grauen Verteilerkästen der Post vor. Auf einen solchen Kasten klebt der später dieserhalb strafrechtlich verfolgte S. ein etwa 40 mal 60 cm großes buntes Plakat. Dieser Fall hat Furore gemacht. Unter den Strafjuristen wird bis heute gestritten, ob die Voraussetzungen des einschlägigen Paragraphen § 303 Abs. 1 StGB erfüllt sind. Er lautet: „Wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, wird […] bestraft“. Schließlich hat der BGH in letzter Instanz entschieden, es liege keine Sachbeschädigung vor. Was nicht wenige für falsch halten. Ich auch. Doch entscheiden Sie selbst. Man sollte ja meinen, das könnte so schwierig gar nicht sein. Denn der Wortlaut des gerade zitierten Gesetzestextes ist doch klar. Man mag nicht glauben, er böte Raum für Interpretationen. Die fallentscheidende Frage lautet also: Ist der Verteilerkasten beschädigt worden, was mithin unter einer Beschädigung zu verstehen ist? Offenbar doch so etwas wie die Zufügung eines Schadens. Schadet es aber dem ursprünglich grauen Kasten, dass er jetzt bunt aussieht? Vielleicht meint einer, der habe doch an Ansehnlichkeit eher gewonnen. Die Eigentümerin ist freilich der Auffassung, über das Aussehen der Kästen entscheide allein sie. Doch kommt es darauf an? Der Gesetzestext schweigt. Aber der Richter muss entscheiden, sofern der Staatsanwalt Anklage erhoben hat. Auch er muss also zuvor mit dem schweigenden Gesetz klargekommen sein. Aber wie? Wir werden alle immer allein auf den Text zurückgeworfen. Und dabei hier auf das unschuldige Wort „beschädigen“, das wir alle schon immer gebrauchten, ohne es je zuvor interpretiert zu haben. Handelt es sich am Ende gar um eine Frage des Geschmacks? Müssten wir dann aber nicht wissen, wie das bunte Plakat näherhin ausgesehen hat? Niemand aber hat sich bislang dafür interessiert.Vielleicht hängt die Lösung des anfangs so unkomplizierten Falles letztlich doch vom Eigentümerinteresse ab. Er allein darf bestimmen, was mit seiner Sache, hier also dem Verteilerkasten, geschieht. Wer ihn den Intentionen des Eigentümers zuwider mit einem Plakat beklebt, verändert sein ursprüngliches Erscheinungsbild, seine Erscheinungsform, fügt dem Kasten folglich insofern einen Schaden zu.
So in PU (§ 504). Die einschlägige Stelle lautet: „Wenn man aber sagt: ‚Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen‘, so sage ich: ‚Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen‘“. Diese kurze Passage, für sich allein geeignet, die eben nach dem Willen des Gesetzgebers ‚forschende‘ sogenannte genetische Auslegungsmethode ad absurdum zu führen, wird von der Juristischen Methodenlehre – so weit ich sehe – nicht zur Kenntnis genommen.
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Diese Argumentation ist – zugegebenermaßen – nicht zwingend, aber plausibel. Was wiederum bestritten wird. Schließlich musste der BGH ein Machtwort sprechen, der, wie gesagt, entschied, es handelte sich keineswegs um eine Sachbeschädigung. Viele hat das nicht überzeugt.²¹ Aber, wie Dürrenmatt uns durch seine Physiker wissen ließ, ist „eine Geschichte […] erst dann zuende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat“.²² Der Gesetzgeber hat deshalb am Ende selbst eingegriffen. Er schuf eine neue Vorschrift, durch die Fälle der vorliegenden Art jetzt zweifellos erfasst werden (§ 303 Abs. 2 StGB). Eine blamable Bestätigung des Versagens der hermeneutischen Sinnermittler. Gleichviel. Worauf es aber ankommt: Wir haben soeben, nahezu unbemerkt, die Interpretation hinter uns gelassen und sind ganz nebenbei umgestiegen auf Argumentation. Argumentation statt Interpretation. Weiter kommen wir nicht. Rechtliche Fragen zu entscheiden, bedeutet allemal, sich auf einem Terrain zu bewegen, das gekennzeichnet ist von Vagheit, Unbestimmtheit und deshalb jeweils auch Unsicherheit. Wir betreiben, um es mit den Worten von Peter Fuchs zu sagen – „Die Verwaltung der vagen Dinge“.²³ Verhielte es sich anders, bedürfte es keiner Entscheidung. Auch deshalb lässt sich mit denkbar besten Gründen behaupten – Luhmann, aber nicht nur er, hat es getan –, entscheiden ließe sich immer nur das letztlich Unentscheidbare.²⁴ Ich ziehe vor zu sagen: Wir entscheiden ausschließlich dort, wo nicht zweifelsfrei erkannt zu werden vermag, was richtig ist oder falsch. Denn, wenn und soweit das feststeht, ist für Entscheidung gar kein Raum mehr. Anderenfalls aber, also in den nicht Basta-Fällen, hilft allein sie uns weiter. Wie in den Dingen der Kunst, der Literatur. Und nicht zuletzt in denen des Rechts. Und dort letztlich bei Gericht. Der Entscheidungsprozess kann indessen unmöglich ewig dauern. Anders als Diskurse der Literatur und Kunst. Das Verfahren vor Gericht muss abgeschlossen werden. Und sei es nur jeweils Instanz für Instanz. Die allerletzte, wenngleich als solche regulär nicht vorgesehen, ist das Bundesverfassungsgericht. Sofern nicht noch Europäische Gerichtshöfe eingreifen.
Über den Sachstand unterrichtet umfassend Küper (2008: 256 – 260). Siehe hierzu Dürrenmatt (1980: 91). So Fuchs (2011). Zu ergänzen bleibt nur, dass die Dinge keine Objekte sind, sondern eher „Unjekte“. Siehe hierzu Fuchs (2001b: 13 u. ö.). Das Buch lässt sich als Entwurf einer Unjektologie lesen. Luhmann hat sich fast sein ganzes Wissenschaftlerleben lang mit der ‚Paradoxie des Entscheidens‘ intensiv beschäftigt. Ausdrücklich zu ihr verhält sich das 5. Kapitel seines nachgelassenen Werkes, an dem er bis kurz vor seinem Tod gearbeitet hat (Luhmann 2000: 123 – 151).
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4 Das Band der Hermeneutik dagegen schlingt sich zur Endlosschleife. Zur Freude vor allem der Dekonstruktivisten. Die gar nicht aufhören können mit ihrer dekonstruktiven Arbeit, aber es zum Glück nicht ganz selten doch tun. Sonst wäre ein Buch oder anderer Text zum Beispiel von Derrida niemals an sein Ende gelangt. Auch interpretieren lässt sich, sofern kein Abbruch erzwungen wird, bis in alle Ewigkeit. Das nimmt schon deshalb nicht wunder, weil der Hermeneutik als (Kunst‐)Lehre von der Textinterpretation, um nicht zu sagen als umfassende Theorie von jeglicher Art interpretativer Tätigkeit,²⁵ das Siegel der Vagheit unauslöschlich eingebrannt ist. Das macht es auch nur zu verständlich, dass eine der „höchsten Autoritäten der von mir bewohnten Berufswelt“²⁶ – diese hübsche Bezeichnung borge ich mir wieder von Gumbrecht – aufs Emsigste bemüht ist, die allzu leicht wild wuchernden Interpretationen merkbar einzudämmen. Die Rede ist von Umberto Eco.²⁷ Der will die Grenzen zulässiger Interpretation abstecken. Und sei es auch nur im Bereich von hochtourigem Nonsens. Dazu rekurriert er auf einen pfiffigen Dialog, erdacht von Shakespeare. Der lautet in der deutschen Übersetzung: HAMLET Seht Ihr jene Wolke, beinahe in der Gestalt eines Kamels? POLONIUS Beim Sakrament, ganz und gar wie ein Kamel. HAMLET Mir kommt es wie ein Wiesel vor. POLONIUS Sie hat einen Rücken wie ein Wiesel. HAMLET Oder wie ein Walfisch. POLONIUS Genau wie ein Walfisch.
Preisfrage: Wer hat recht? Es darf vermutet werden, dass nicht wenige dem Bologneser Zeichendeuter zustimmen werden, der seinerseits vermutet, dass Polonius und Hamlet recht hätten.²⁸ Doch so geraten wir unweigerlich vom Regen in die Traufe, in der schon die Vertreter der klassischen Äquivalenztheorie der Wahrheit im Nassen verbleiben. Jedenfalls vor Gericht, wenn dort entschieden werden soll, ob ein Zeuge im Hinblick auf ein verflossenes Ereignis wahr gesprochen hat. Denn das Ereignis ist nun einmal im Nebel der Geschichte verschwunden. Wie die Wolke am Himmel des elisabethanischen Theaters. Sie kann
So die Charakterisierung von Vattimo (1997: 13 – 31). Vgl. erneut Gumbrecht (2004: 73). Und seinem Buch (Eco 1992). Wobei er freilich vergessen hat, dass die Wolke inzwischen nicht mehr da ist. Vgl. Eco (1992: 78 – 79).
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mithin nicht herangezogen werden, sei es als Kriterium der Wahrheit, sei es als Maßstab der Interpretation. Die interpretatorische Praxis und hier das Problem ihrer Güte trifft es aber noch weitaus härter. Denn im Regelfall liegt der interpretierte Text vor unser aller Augen. Wolkig oder nicht, alle können ihn lesen. Wir sind also wieder beim Text. Und kein Stückchen weiter. Gleichwohl müssen wir nicht verzweifeln, sondern lediglich, um ein bekanntes Diktum Quines abzuwandeln, unseren Anspruchsgürtel ‚enger schnallen‘. Und zwar genau so weit, dass uns statt des ewig und notwenig unlösbaren Anspruchs auf ‚objektive Wahrheit oder objektive Richtigkeit‘ – was immer das überhaupt heißen soll – nur eines übrig bleibt: der Anspruch, argumentativ überlegen zu sein. Wohlgemerkt: wieder argumentativ – nicht interpretativ. Und zwar interpretativ ausschließlich bezogen auf den Umgang mit Texten. Und nicht mit Bezug auf unseren Umgang mit der Welt schlechthin und allem übrigen, was darin vorkommt. Sei es auch nur als Interpretationen. Diese Un-jekte bilden das große Thema der Interpretationsphilosophie, die von Günter Abel umfassend entfaltet wird. Eine weitere Einschränkung betrifft den Umstand, dass wir es hier lediglich mit Gesetzestexten zu tun haben. Die Theologen mit ihrer Bibelexegese überlassen wir dagegen liebend gern sich selbst. Kunstwissenschaftler und Kunstkritiker mögen gleichfalls darüber streiten, ob der Gegenstand ihrer Betrachtungen und Analysen offen und falls ja, wie offen denn ‚Das offene Kunstwerk‘ sein darf.Wenn man sich die Readymades von Duchamps anschaut und bereit ist, sie in Übereinstimmung mit der heutigen Fachwelt als Kunstwerke gelten zu lassen, dürfte die Antwort lauten: im Prinzip grenzenlos. Immer mögliche Ausnahmen wären unschwer zu vernachlässigen. So großzügig in Sachen Kunstkritik zu verfahren, geschieht ohne allzu ernste Skrupel. Denn ganz Schlimmes kann hier nicht passieren. Bei einem ‚falschen‘ Urteil – falsch, weil auf einer ‚falschen‘ Gesetzesinterpretation beruhend – ist das naturgemäß ganz und gar anders. Dieses ‚falsche‘ Urteil betrifft nämlich keineswegs ausschließlich die unterlegene Partei, den verurteilten Angeklagten oder im Falle seines unberechtigten Freispruchs die Staatsanwaltschaft. Nein, hier ist – einmal etwas vollmundig ausgedrückt – ‚das Recht als solches‘ betroffen. Fehlurteile sind eine Crux des Rechtstaates. Wenngleich leider systembedingt unvermeidbar. Wenn aber in Gestalt der Hermeneutik kein Kraut dagegen gewachsen ist, gerade diese Art der Hermeneutik vielmehr beliebige Urteile geradezu begünstigt, um nicht zu sagen sie sogar zwangsläufig zur Folge hat, dann dürfen Gesetze für einen hermeneutischen Umgang mit ihnen nicht freigegeben werden. Dieses strikte Hermeneutikverbot spräche sich gewiss unbefangener aus, gäbe es wenigstens anderswo so etwas wie ein Patent für eine allein richtige Lesart von Gesetzestexten. Das gibt es natürlich nicht. Aber warum dann die
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ganze Aufregung? Eingangs dieses Beitrages hatte ich es bereits angedeutet, als ich von Vertrauen sprach. Allerdings fehlt bis heute, soweit ich zu sehen vermag, jegliche Bereitschaft, das einzusehen und gegebenenfalls entsprechend dieser Einsicht zu handeln. In diesem Zusammenhang zitiere ich eine herbe Schelte des Bundesverfassungsgerichts. Sie stammt von dem Verfassungsrechtler und Rechtstheoretiker Friedrich Müller: „Das Bundesverfassungsgericht ist inzwischen offenbar gesonnen, […] das Verfahren der methodisch inkorrekten, rechtlich dubiosen und sprachlich schwammigen Dezision zu einem für die rechtsstaatliche Demokratie sinistren Fortsetzungsroman auszuweiten“. Und dies alles „ohne Schonung seiner eigenen Autorität und derjenigen des Grundgesetzes“.²⁹ Den Respekt der Bürger gewinnt man auf diese Weise nicht. Und ihr Vertrauen, dass in einem geordneten Verfahren an dessen Ende Recht gesprochen wird, auch nicht. Doch gerade darauf und mithin auf ‚vertrauensbildende Maßnahmen‘ sind wir nun einmal angewiesen. Ohne sie geht es nicht. Nirgendwo. Und folglich – dies vor allem – nicht im ‚Recht‘. „Legitimation durch Verfahren“!³⁰ Das ist es. Und nur das.
5 Noch immer ist aber die Frage unerledigt, welches Verfahren wir denn wählen sollen, wenn wir mit Gesetzen umgehen. Die Vertreter der herrschenden Juristischen Methodenlehre bleiben da hartnäckig.Wie bereits der Name Rechtsfindung verrät, nehmen sie zumindest implizit für sich in Anspruch, sie stellten nicht allein das Rüstzeug bereit, um mit dessen Hilfe die vorgegebene Lösung eines Rechtsfalles zu liefern, eben zu finden, vielmehr – und das ist in der Tat noch mehr als viel mehr, nämlich schlechthin alles – die allein richtige. Denn man findet ja nicht irgendetwas, das stimmt oder nicht stimmt. Das wäre schon eine recht kuriose Vorstellung. Nein, das angeblich Gefundene, dieses, wie versichert wird, überhaupt erst via Interpretation aufgedeckte Etwas, ist, besser: soll das Recht sein, wie es zumindest in diesem konkreten Fall realiter gilt. Das entspricht tupfgenau der Position von Ronald Dworkin, des Schülers sinnigerweise von Herbert Lionel Adolphus Hart, dem schon als Wittgensteinianer ein derartiger Gedanke völlig fremd sein musste. Dworkin seinerseits brachte
Siehe hierzu Müller (1976: 27). So heißt bekanntlich der erste rechtstheoretische Klassiker von Niklas Luhmann (1969). Zumal als Imperativ gelesen ist der Titel aktueller denn je.
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das, nicht frei von angelsächsischem Humor und Witz, auf die Idee, einen Richter, der im Sinne seines Lehrers judiziere, einfach Herbert zu nennen. Während Recht, wie es Dworkin versteht, letztlich nur von einem gesprochen zu werden vermag, der den Namen Herkules trägt. Nicht von ungefähr. Denn einem rein irdischen Richter bleibt es versagt, entsprechend der prominent gewordenen one-answerthesis einen Rechtsfall zu entscheiden. Diese berühmte – oder berüchtigte – These besagt, was ihr Name sagt. Danach gibt es in allen Rechtsfällen, und zwar selbst in sogenannten hard cases, stets und notwendig nur eine einzige Entscheidung. Die allein richtige.³¹ Ein für viele offenbar faszinierender, ja verführerischer Gedanke. Er hat gerade unter deutschen Strafrechtslehrern viele, zu viele Anhänger. Denen freilich Dworkin in aller Regel nicht einmal dem Namen nach bekannt ist. Der Autor dieses Beitrages muss gestehen, dass es ihm nicht besser ging, als er sich in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit den Vertretern der deutschen Version der one-answer-thesis auseinandersetzte.³² Dafür hat mich seinerzeit Arthur Kaufmann öffentlich gerüffelt.³³ Nicht ganz zu Unrecht. Doch hat er es mir nicht allzu sehr verübelt, was leichter zu verstehen ist, wenn man bedenkt, dass er selbst Jahre zuvor bei seiner Behandlung überaus ähnlicher Probleme gleichfalls ohne Rekurs auf Dworkin ausgekommen war.³⁴ Und in der Tat: Dieser und seine Doktrin von der für jeden Rechtsfall vorgegebenen, allein zutreffenden Entscheidung ist heute mit einem aufgeklärten Rechtsverständnis schwerlich zu vereinbaren. Es ist an der Zeit, das Recht als interpretatives Recht zu entsorgen. Zugunsten eines Rechts als argumentatives Recht. Ich bin nicht unglücklich darüber, dass wieder ausgerechnet Arthur Kaufmann als Gewährsmann für diese Position in Anspruch genommen werden kann. Man muss nur genau hinsehen, genauer: auch unter dem Strich lesen. Denn die entscheidende Stelle findet sich dort in einer Fußnote. Zuvor aber sollte man erst noch einmal in den bekannten Soraya-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts schauen. Dort wird kategorisch verlangt, dass richterliche Entscheidungen „auf rationaler Argumentation beruhen“ müssen.³⁵ Robert Alexy wiederum hat
Die Dworkin-Hart-Kontroverse wird mit detaillierten Nachweisen der einschlägigen Passagen umfassend dokumentiert von Watkins-Bienz (2004). Nämlich in Über Schuld, Strafe und Sprache (Grasnick 1987). Das geschah in seiner Rezension meiner Arbeit in: NJW 1988, 2785 f. Vgl. Kaufmann (1961: 261). Dort liest man noch: „Die Schuld ist stets eine feste und bestimmte Größe, und daher kann die richtige Strafe immer nur eine sein“ (Hvh. von W. G.). Später hat er diesen Standpunkt ausdrücklich aufgegeben. Und zwar im Nachdruck zur 2. Aufl. von 1976. Siehe dort S. 270, Fn. 29. So in: BVerfGE 34, 269 ff. (287).
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diesen Kernspruch zum Ausgangspunkt seiner „Theorie der juristischen Argumentation“ gewählt. Nicht ohne hinzuzufügen, das ließe sich „auf alle Fälle, in denen Juristen argumentieren, erstrecken“.³⁶ Erneut mithin also: Argumentation, nicht Interpretation. Und jetzt also Arthur Kaufmann in seiner nur dreieinhalb Zeilen umfassenden Fußnote. Darin warf er Karl Larenz vor, dass dieser „an den ‚klassischen‘ Kriterien der Auslegungslehre festhält […] und der daher für eine eigentliche juristische Argumentationstheorie keinen Platz hat“. ³⁷
6 Das ist der springende Punkt. Die herrschende Juristische Methodenlehre, deren exponierter Vertreter ja Larenz war – und sein Schüler Canaris noch heute ist – riegelt ihre überkommene Auffassung festungsgleich ab. Die Argumentation bleibt draußen vor. Und damit wirkliche juristische Arbeit dauerhaft unmöglich. Das Urteil des Richters hängt begründungslos in der Luft. Drastischer kann man das eigene Versagen nicht dokumentieren. Aber wir entgehen damit nicht der alten und ewig neuen Kästnerfrage: Wo bleibt das Positive? Halten wir fest: Das Gesetz hat als Lieferant fix und fertiger Lösungen ein für allemal ausgedient. Andererseits darf man sich von einer Argumentationstheorie keine Wunder versprechen. Zumal nicht zu übersehen ist, dass „die Juristen die Hälfte ihrer Prozesse (verlieren), nachdem auf beiden Seiten argumentiert worden ist“.³⁸ Aber auf diese Weise wird die gesuchte positive Antwort schlimmstenfalls halbiert. Mit dieser einen Hälfte jedoch müssen wir leben. Interpretation lässt sich ersetzen. Argumentation nicht. Ungeachtet aller ihrer Zweifelhaftigkeit, die nicht abzuschütteln ist. Aber Richard Rorty hat das nicht gehindert, allen Zweifeln zum Trotz – sie waren ihm alle bestens vertraut – weiterhin auf Argumentation zu setzen.³⁹
So Alexy (1983: 15). Schade, dass der Autor sich hier nicht auf Dworkin einlässt. Das hätte spannend werden können. Er hat es aber später getan, und zwar in einem unveröffentlichten Vortragsmanuskript, wovon er mir liebenswürdigerweise eine Kopie überlassen hat. Der Titel: Rechtssystem, Rechtsprinzip und einzig richtige Antwort. Nachzulesen bei Kaufmann (1994: 46, Fn. 25), Hvh. von W. G. Mit der ihm eigenen verschmitzen Nüchternheit hat Luhmann an diese Trivialität erinnert (1993: 406), Hvh. von W. G. Wenngleich unausgesprochen. Denn da er den Gedanken der Kontingenz mit unerbittlicher Konsequenz vertrat, entging es ihm, dass, wo objektive Wahrheit nicht länger zu haben ist, dennoch die Möglichkeit besteht, argumentativ überlegen zu sein. Und sei es dadurch, dass man das alte Vokabular gegen ein neues austauscht. Vgl. hierzu Rorty (1989). Und darin vor allem das Kapitel „Ironismus und Theorie“ (125 – 226). Hervorragend hierzu Welsch (1995: 225 – 244).
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Und wo kommen die Argumente her? Sie liegen überall herum. Man muss sie nur finden. Notfalls auch erfinden. Damit betreten wir ein Gebiet, das noch gründlich zu beackern ist. Doch da ist Vorsicht geboten. Denn was vor uns liegt, ist streckenweise ein stark vermintes Terrain. Wenn da bislang nichts passiert ist, dann aus einem ganz simplen Grund: Die sich hier bewegen, bringen es nämlich fertig, die gefährlichen Stellen geschickt zu umgehen, indem sie „zumeist nicht tun, was sie sagen, und sie nicht sagen, was sie tatsächlich […] tun“. Das geschieht „hinter der Fassade der ‚Methode‘“.⁴⁰ Was Jestaedt mit diesen Worten, das eigene Fach nicht schonend, unverbrämt und unverblümt offenlegt, beschreibt treffend die Situation auch in den anderen rechtswissenschaftlichen Disziplinen. Und der Rechtsprechung. Hier wie dort verdiente sich kaum einer einen Ehrensold. Ausnahmen immer zugestanden. Zwar bröckelt die Fassade allmählich. Aber das reicht nicht. Sie muss vollends eingerissen werden. Neue Ideen und Modell(ansätze) genügen nicht. Denn: „Die Neukonzeptionen erweisen sich […] als Theorie-Anbauten an den Gründerzeitbau des staatsrechtlichen Positivismus, nicht als Theorie-Neubauten“.⁴¹ Das Verdikt, nur anzubauen statt endlich von Grund auf neu zu bauen, trifft aber neben den Staatsrechtlern die Zivil- und Strafrechtler gleichermaßen. Und mit einem Neubau allein ist es nicht einmal getan. Ein Doppelhaus muss es werden, bestehend aus einem Weltbildhaus⁴² und einem neuen Wissenschaftshaus. Was ersteres angeht, so gehört dort alles hinein, was einige wenige Designer unter dem Logo „jenseits von Essentialismus und Relativismus“⁴³ entworfen und zumindest streckenweise auch bereits ausgeführt haben. Die Prachtstücke der mehrheitlich alteuropäischen Juristen finden dort keinen Platz mehr. Für untröstliche Liebhaber des ewig Gestrigen bleibt nur der Trödelmarkt. Unter den Vertretern der neuen Stilrichtung hat es mir, wie der Leser bereits bemerkt haben wird, einer ganz besonders angetan. Das ist der postanalytische Pragmatist Richard Rorty,
Um „Entwicklung und Kritik von Standards im Umgang mit positivem Recht“ geht es in der neuen Schriftenreihe Recht – Wissenschaft – Theorie, deren erster Band Das Proprium der Rechtswissenschaft heißt (Engel / Schön 2007). Das Zitat ist dem Geleitwort der Herausgeber der Reihe, Jestaedt, Matthias / Lepsius, Oliver et al. entnommen (Seite V). Jestaedt hat zu diesem Band auch einen Aufsatz zum Thema Öffentliches Recht beigesteuert. Darin findet sich die zitierte, letztlich vernichtende Kritik der noch immer herrschenden Juristischen Methodenlehre (Jestaedt 2007: 254). So wiederum die Charakterisierung durch Jestaedt (262). Diese Metapher ist titelgebend bei dem Buch Das Weltbildhaus und die Siebensachen der Moderne von Peter Fuchs (2001a). Dort hat bekanntlich Günter Abel seine Interpretationswelten angesiedelt, wie es der Untertitel des Werkes verspricht.
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dem, wie überhaupt dieser Richtung, Günter Abel bei allen verbleibenden Unterschieden durchaus nahesteht.⁴⁴ Nicht von ungefähr kommt Abel bei seiner Erörterung der pragmatischen Positionen am Rande auch auf die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins zu sprechen, „die uns mit ihrer Kritik am Bedeutungs-Platonismus gerade nicht so etwas wie das ‚wahre Wesen‘ der Sprache offenbaren will, sondern die Destruktion genau dieser Idee vollständig macht“.⁴⁵ Ich variiere einen Satz Abels über Tatsachen und Werte, indem ich schreibe: Das „Sortieren“ von Wörtern und Bedeutung ist am Ende nicht minder kompliziert als „der interpretative Mensch selbst“.⁴⁶ Diese und andere nach ihrer alteuropäischen Herkunft vergleichbare Probleme nebst ihren postmodernen Lösungen gehören samt und sonders in das deshalb so genannte Weltbildhaus. Vor allem natürlich die Kernaussagen und Leitentscheidungen der Systemtheorie, nicht zuletzt in deren Erweiterung, die sie durch Peter Fuchs erfahren hat.⁴⁷ Kürzlich las ich, was eine noch junge Wissenschaftlerin einem älteren Kollegen ‚offenbarte‘. Nämlich sinngemäß dieses: Man ahne gar nicht, wie wenig Bücher man wirklich gelesen haben müsse. Das lässt sich auch dahin ergänzen, wie wenig Autoren es eigentlich seien, die für die eigene Arbeit am Ende unverzichtbar sind. Sie lassen sich für mich – außerhalb der Rechtstheorie – zu einer Gruppe zusammenfassen. Ich meine die Konstruktivisten. Der Name ist gewiss nicht neu. Er wird von mir nur umfassender gebraucht als üblicherweise. Dazu zählen dann neben den Altvorderen Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld, die Radikalen Konstruktivisten. An ihrer Spitze Siegfried J. Schmidt. Und Niklas Luhmann. Folgerichtig dann auch Peter Fuchs. Und ganz entschieden die Interpretationsphilosophen. Also Günter Abel und Hans Lenk.⁴⁸ Nebst dem Philosophen der Geschichten, Wilhelm Schapp.⁴⁹ Kein Zweifel: Wir leben nun einmal, ob wir das wollen oder nicht, ja ganz unabhängig davon, ob wir es überhaupt registrieren, in ‚Interpretationswelten‘, umgeben von ‚Interpretationskonstrukten‘. Sowie mit und in den Geschichten, die wir über uns, die Anderen und die Welt
Dazu das Kapitel „Postanalytischer Pragmatismus und Interpretationsphilosophie“ der Interpretationswelten (Iw 481– 520). Darin kann ein Konstruktivist (fast) jedes Wort unterschreiben. Vgl. Iw (482). Für die ‚richtige Bedeutung‘ eines Wortes gilt selbstredend dasselbe. Das ‚richtige‘ Zitat steht in den Interpretationswelten (Iw 484). Indem er aus der Systemtheorie eine „Allgemeine Theorie der Sinnsysteme“ entwickelt hat. Siehe dazu zuletzt die Vorbemerkung zu der herrlichen Schrift Der Papst und der Fuchs (Fuchs 2012: 7). Näher hierzu verhält sich Grasnick (2009). Dort gehe ich auch kurz ein auf Schmidts in meinen Augen nur vermeintlichen „Abschied vom Konstruktivismus“ (151). Hierzu ausführlich Grasnick (2003 und 2010).
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erzählen. Auch ohne damit Vollständigkeit zu beanspruchen, müssen in jedem Falle, wenn es um ein neues Weltbildhaus geht, immer wieder Ludwig Wittgenstein und Richard Rorty genannt werden, hat doch jeder von ihnen auf seine Weise nachhaltig mitgewirkt beim Entwurf eines derartigen Hauses.
7 Und nun zum Neubau der Rechtswissenschaften. Hier sind allerdings starke Bedenken anzumelden. Denn ein ‚rechtswissenschaftlicher Sonderweg‘, die sogenannte Rechtswissenschaft – Italiener, Franzosen und Engländer kennen nichts Vergleichbares, woran Rainer Maria Kiesow uns temperamentvoll erinnert hat⁵⁰ – dieser nur vermeintliche Königsweg zum Recht hat sich am Ende als das herausgestellt, was er von Anfang an war: eine Sackgasse. Wer ihn allen Bedenken zum Trotz befahren will, fährt unweigerlich gegen die Wand. Wir alle kennen den Staatsanwalt Julius Hermann von Kirchmann und sein Verdikt über „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ aus dem Jahre 1848.⁵¹ Was nach ihm aber wirklich noch zu tun war, das hat als einer der ersten der wegen „sublimierten Rowdytums“ berüchtigte Rudolph von Jhering besorgt mit seiner Interessenjurisprudenz als einer der „antirechtswissenschaftlichen projustiziellen Strömungen“.⁵² Danach ist es letztlich der Richter, der die widerstreitenden Interessen der Parteien abwägt. Und allein seine Meinung darüber bestimmt den Inhalt des Urteils. Das bedeutet keine carte blanche für richterliche Willkür. Es gelten nur andere Maßstäbe als in einer einseitig codexorientierten Entscheidungspraxis. An die Stelle vermeintlich starrer Gesetzesbindung tritt primär die Bindung des Richters durch Präjudizien, die auch ihrerseits in sich stimmig und mit Präjudizien in anderen Fällen kompatibel sein müssen. Ich weiß, auch das ist ein weites Feld. Indessen keineswegs noch völlig unbeackert. Insbesondere Michael Reinhardt hat hier Pionierarbeit geleistet.⁵³ Wir müssen also endlich umdenken. Und zwar gründlich. Das heißt, wir müssen uns einmal – und das dann auch für immer – verabschieden von der gesetzesfixierten interpretationsbasierten Dogmatik. Dadurch werden die Dogmatiker nicht arbeitslos. Ihre Hauptaufgabe soll es nach wie vor sein, junge Ju So geschehen in Rechtswissenschaft – was ist das? (Kiesow 2010). Heute nachzulesen bei Heinrich Meyer-Tscheppe (1988). Vgl. wieder Kiesow (2010: 588 f). So geschehen in seiner Habilitationsschrift (Reinhardt 1997). Siehe dazu meine Rezension (Grasnick 1999).
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risten auszubilden und die Richter bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Aber beides fortan bitte richtig. Dazu zählt gleichfalls, die fundamentale Bedeutung der Präjudizien nicht länger auszublenden. Und ehrlich muss es künftig auch zugehen! Mithin nicht weiterhin unter raunendem Beschwören vorgeblich verborgener textinterner Sinnentitäten. Hier wäre ein Anfang schon gemacht, wenn die Dogmatiker begännen, die Titel ihrer einschlägigen Bücher in die Tat umzusetzen. Dann wäre endlich drin, was draufsteht. Und zwar als solches offen deklariert. Die Rede ist von den Kommentaren. Denn: „Bei Kommentaren rechnen wir nicht damit, daß sie das ‚Darunter‘, ‚Dahinter‘ oder ‚Jenseits‘ erfassen, sondern wir erwarten, daß sie in einer ‚lateralen‘ Beziehung zu ihren Bezugstexten stehen. Wir wollen, daß Kommentare einen Ort einnehmen, der zwar nicht dem Autor, wohl aber dem betreffenden Text ‚benachbart‘ ist“.⁵⁴ Dieses Kommentieren will gelernt sein. Doch es wird an unseren juristischen Fakultäten nicht gelehrt, dieses „Entlanggehen am Primärtext“⁵⁵ nicht eingeübt. Ein Umgang, der es eben jederzeit gestattet, innezuhalten, dem Gelesenen nachzudenken. Und aufzuschreiben, was dabei herausgekommen ist. Es an den Rand zu schreiben. Kommentieren heißt somit gerade nicht, das im Gesetz – oder anderswo – bereits Geschriebene nochmals zu schreiben, gleichsam dasselbe, nur eben mit anderen Worten. Nein, es geht um die eigenen Worte des Kommentators. Und darum, sie als Argumente in den Rechtsdiskurs einzubringen. Gleich anderen Meinungsmachern. So geht man mit Texten um. Rechtsarbeit ist und bleibt Textarbeit. „Argumentieren erscheint jetzt […] als massenhaftes und gleichzeitiges Geschehen […] ohne klare Linienführung, mit Clusterbildungen an Hand bestimmter Texte, aber ohne Hierarchiebildung […] Wie von einem Flugzeug aus sieht man das leicht gerunzelte Meer der Argumente“. Und schaut man nur etwas genauer hin, dann entdeckt man ein „Gewebe von Entscheidungsgesichtspunkten“.⁵⁶ Das Gesetz wird nicht entthront. Aber zum bloßen Topos unter anderen Topoi. Die Interpretation muss nicht länger als Fiktion mitgeschleppt werden. Damit wäre am Ende auch die rein rhetorische Frage klar beantwortet, die Dietrich Busse als „Sprachwissenschaftler“ und „Staatsbürger“ vorgebracht hat. Er will wissen, „ob die Juristen nicht besser täten, ihre Arbeit von diesen Fiktionen zu befreien, um stattdessen den Festsetzungscharakter […] ihrer Tätigkeit offenzu-
Das muss uns erst ein Philologe sagen, nämlich Hans Ulrich Gumbrecht (2003: 73). So Gumbrecht (2003: 83). Wobei nicht zu übersehen ist, dass der Kommentar kraft der Autorität des Kommentators im juristischen Diskurs selbst zum Primärtext werden kann, der dann seinerseits kommentiert wird. Die beiden letzten Zitate stammen wieder von Luhmann (1993: 376 u. 367), Hvh. von W. G.
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legen, wobei sie sich aber gleichzeitig angreifbarer, kritisierbarer machen“.⁵⁷ In der Tat: Letzteres ist der Preis der Ehrlichkeit. Ganz zum Schluss noch eines: Dass die Juristen den Interpretationsbegriff verkürzen und fälschlich für die sogenannte Textinterpretation reklamieren, ist eine Kritik, die bislang unter Juristen vergeblich vorgetragen worden ist. In diesem Bemühen, den ausdrücklichen Beistand des Interpretationsphilosophen zu finden, brächte die Sache des Rechts voran.
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So der Sprachwissenschaftler Dietrich Busse (1989: 131).
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Juristische Argumentation und die Interpretativität des Rechts Replik zum Beitrag von Walter Grasnick Der Beitrag von Walter Grasnick verfolgt zwei strategische Ziele. Zum einen (a) liefert Grasnick eine Kritik der klassischen juristischen Methodenlehre und deren Fokussierung auf eine Hermeneutik der Gesetzesinterpretation. Zum anderen (b) plädiert Grasnick auch im Recht für einen Übergang von der hermeneutischen Deutung zur expliziten Argumentation. Diesen Übergang in ein damit zugleich verändertes Verständnis von Rechtstheorie und Rechtspraxis möchte er unter Rückgriff auch auf die Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] bewerkstelligen. Am Ende seines Beitrags fragt Grasnick, ob er wohl bei der Realisierung der von ihm entwickelten beiden strategischen Ziele auf den „ausdrücklichen Beistand“ der Interpretationsphilosophie zählen könne (Grasnick-Beitrag, Kap. 7). Meine Antwort kommt ohne Zögern und mit Nachdruck: Ja, das kann er. Die Überlegungen, die Grasnick im Blick auf die seiner Ansicht nach zu verändernde juristische Methodenlehre sowie die Argumentationstheorie des Rechts und die Rolle des Richters vorträgt, gehen gut zusammen mit dem, was ich in der Replik auf Hans Jörg Sandkühler unter dem Stichwort einer ZuI-Philosophie des Rechts entwickelt habe. Auf diese Replik sei hier ausdrücklich verwiesen. Grasnick steht klar vor Augen, dass die ZuI-Philosophie nicht mit der Hermeneutik im Sinne einer Kunst der nachträglichen Auslegung und Deutung verwechselt werden darf. Diesen wichtigen Befund habe ich in einer Reihe von Repliken im vorliegenden Band ausführlich dargelegt (vgl. meine Repliken auf Emil Angehrn und Andrzej Przylebski sowie Abel 2012). Er braucht hier nicht wiederholt zu werden. Zugleich sieht Grasnick trefflich, dass in der ZuI-Philosophie das Rechtssystem ebenso wie die Rechtspraxis als nicht-eliminierbar zeichen-verfasst und durch konstruktionale Interpretativitäten unterschiedlicher Art gekennzeichnet angesehen werden. Im Folgenden möchte ich die Thesen Grasnicks unter drei Gesichtspunkten erörtern: 1. ZuI-Philosophie vs. Hermeneutik der Gesetze. 2. Juristische Sachverhalte als ZuI-Konstrukte. 3. Juristische Argumentation als diskursiver ZuI-Prozess.
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1 Zeichen- und Interpretationsphilosophie vs. Hermeneutik der Gesetze Grasnick möchte die Frage klären, was es bedeutet, „mit Gesetzen richtig umzugehen“. Seine erste und einfache Antwort lautet: „Man wendet sie an. Was sonst.“ (Kap. 1) Mit dieser Formulierung wendet Grasnick sich gegen die in der juristischen Methodenlehre weithin leitende Vorstellung, ein Gesetz müsse, bevor es angewendet wird, zuvor erst einmal hermeneutisch ausgelegt werden, um im Zuge solcher Auslegung den im Gesetzestext liegenden Sinn zutage zu fördern. Als ein repräsentatives Beispiel für diese „seit Jahrzehnten unveränderte“ Sichtweise der juristischen Methodenlehre führt Grasnick das Standardwerk zum Strafrecht von Johannes Wessels und Werner Beulke (2003) an. In einer solchen Hermeneutik der Gesetze geht, so kritisiert Grasnick, die Gesetzesinterpretation der Rechtspraxis konditional voraus. Keine Anwendung von Gesetzen, so die Hintergrundannahme dieser Sichtweise, ohne vorgängige Gesetzesinterpretation. Die Kritik an dieser Position und Einstellung teile ich. Die Geltung von Gesetzen von einer vorgängigen hermeneutischen Auslegung des Gesetzestextes im Sinne der Aufdeckung „verborgener textinterner Sinnentitäten“ (Kap. 7) abhängig zu machen, geht an der für das Recht eigentümlichen juridischen Geltung seiner Sätze und Gesetze vorbei. Diesen Punkt habe ich bereits auch hinsichtlich der Geltung der Menschenrechte in der Replik auf Sandkühler dargelegt. Freilich werden Gesetze nicht einfach nur angewendet. Eine solche Sicht wäre, wie Grasnick selbst sieht, „zu simpel“ (Kap. 1). Ich möchte hier lediglich zwei weitere Aspekte anführen, die in der Geltung von und im Umgang mit Gesetzen charakteristisch sind: (a) Gesetze werden nicht nur durch die Justiz angewendet. Sie gelten und werden befolgt. Zu den bemerkenswerten Aspekten von Gesetzen gehört, dass sie auch dann gelten und zu befolgen sind, wenn bei Verstoß gegen sie die Sanktionen nicht unmittelbar vollstreckt werden. Als einfache Beispiele denke man an die Situation, bei Rot auch dann nicht über die Ampel zu fahren, wenn weit und breit kein Polizist zu sehen ist, oder an die Situation, auch dann keine Sachbeschädigung vorzunehmen, wenn es niemand bemerkt. (b) Dass Gesetze vor ihrer Anwendung nicht zunächst ausgelegt werden und nicht von entsprechenden Deutungen abhängig sind, heißt freilich nicht, dass die Gesetze und insgesamt das Rechtssystem sowie die Rechtspraxis zeichen-freien und nicht-interpretativen Charakters sind. Das sind sie offenkundig nicht. Man denke etwa nur an die folgenden für das Rechtssystem wie für die Rechtspraxis kennzeichnenden Aspekte: die Identifikation und Individuation der juristisch relevanten Sachverhalte; die Möglichkeit der Revision in der nächsten Instanz; die
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verschiedenen Annahmen und Festsetzungen innerhalb der juristischen Methodenlehre; die prozeduralen Verfahren in Theorie und Praxis, mittels derer die Legalität und die Legitimation der jeweiligen Rechtssätze und Rechtspraktiken garantiert werden; und viele andere konstitutive Komponenten mehr. Rechtssystem und Rechtspraxis leben und funktionieren aus einem zeichen- und interpretativ-verfassten Setting heraus und auf dieses hin. Beide sind in dieses Setting, mithin in Lebenswelten, eingebettet, sind darin verankert und situiert. Und beide haben direkte Auswirkungen auf unsere Lebenswelten. In dieser Doppelfunktion besteht der Sitz des Rechts im Leben. Alle oben in Bezug auf Rechtssysteme und Rechtspraktiken als kennzeichnend angeführten Komponenten – mithin auch die Gesetze, in denen sich diese Komponenten schlussendlich manifestieren – werden in der ZuI-Philosophie als zeichen-verfasst und aktiv-interpretatorisch beschrieben, analysiert und charakterisiert. In diesem Sinne können Rechts-Corpora als ‚juridisch und juristisch verkörperte Interpretativitäten‘ angesehen werden. Ohne die Interpretativitäten gäbe es weder spezifische Rechtssysteme noch spezifische Rechtspraktiken. Aber mit ihnen ist zugleich gesetzt, dass die Gesetze in ihrer juridischen Geltung und Anwendung nicht von einer vorgängigen hermeneutischen Gesetzesinterpretation in dem Sinne abhängig sind, dass die Gesetze zunächst hermeneutisch auf ihren Sinn hin ausgelegt und sodann in einem zweiten Schritt angewendet werden. Ich teile Grasnicks Kritik an der Unterstellung, es bedürfe eines besonders geschulten Gesetzes-Hermeneutikers, der den eigentlichen und letzten Sinn des Gesetzes vor dessen Anwendung zutage fördere. In einer solchen Auffassung manifestiert sich in der Tat eine Ontologie des Rechts, die sich unter kritischem, des näheren unter zeichen- und interpretations-kritischem Vorzeichen nicht explizieren lässt. Die ZuI-Philosophie des Rechts unterläuft eine solche Ontologie des Rechts ausdrücklich und mit signifikanten Folgen für die juristische Methodenlehre. Zugleich ist hervorzuheben, dass dieses sinn-kritische Unterlaufen keineswegs zu einem Relativismus von Recht und Gesetz führt. Das Gegenteil ist der Fall. Denn es ist vornehmlich die skizzierte ZuI-Relativität, die uns vor einem GesetzesRelativismus rettet, der mit der Bindung des Sinns von Gesetzen an deren hermeneutische und im Prinzip dann nicht abschließbare Kette der Deutungen verbunden wäre. Darüber hinaus versetzt uns die ZuI-Relativität in eine Position, die uns in Bezug auf die Geltung von Recht und Gesetz zwei weitere und überaus wichtige Aspekte zu akzentuieren erlaubt, die ich in der Replik auf Sandkühler unter Einsatz des 3-Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse im einzelnen ausgeführt habe. Auf dem Boden der ZuI-Relativität kann nämlich für die sinn-kritische Begrenzung der Spielräume der juridischen Interpretierbarkeit von Rechtssätzen ebenso
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plädiert werden wie für die kategorische Geltung der Menschenrechte. Und zwar beides unabhängig von philosophischen Letztbegründungen.
2 Juristische Sachverhalte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte Mit Recht lenkt Grasnick die Aufmerksamkeit auf die so überaus wichtige Sachverhalts-Feststellung kraft der Entscheidung des Richters. Und sehr zu Recht betont er, dass diese Entscheidung nicht so sehr als ein hermeneutisches Finden, sondern vielmehr als ein Fest-Stellen im Sinne zugleich des Herstellens, als ein Interpretationskonstrukt zu verstehen ist. Grasnick zufolge sei Juristen meistens „so gut wie völlig fremd“, dass die Interpretationen ihren „angestammten Platz“ (Kap. 3) auf dieser Ebene der Sachverhalts-Feststellung, mithin auf der Ebene der Festlegung dessen haben, worum es in ‚tatsächlicher‘ Hinsicht wirklich geht. An diesem zentralen Punkt „Remedur zu schaffen“ (ebd.), ist Grasnick zufolge die Interpretationsphilosophie bestens geeignet. In zugespitzter Form findet dieser Punkt seinen Ausdruck in der sinn-kritischen Formulierung: Dass es Fakten gibt, kann selbst kein Faktum, sondern muss Interpretation sein. Doch wohlgemerkt, dies zu sagen heißt offenkundig nicht, dass es keine Fakten gibt.Wer wollte das ernsthaft bestreiten?! Der Witz jedoch ist, dass das, was als ein Faktum zählt, jeweils bereits eine Genealogie hinter sich und seine Zukunft noch vor sich hat. Zu beidem, Genealogie und Zukunft, gehört auch die aus Alltag, Wissenschaften und Künsten gleichermaßen vertraute Erfahrung, dass Fakten durch andere Fakten ersetzt werden und am Ende sogar sterben können. In den Wissenschaften ist letzteres zum Beispiel dann der Fall, wenn auf einer in der vorangegangenen Geschichte noch nicht zugänglichen Ebene der Beobachtung (wie heute etwa die Ebene der Nanoprozesse oder in der Renaissance etwa die Ebene der Himmelsbeobachtung mittels Fernrohr) anderes als Faktum gilt als dasjenige, was zuvor und unter weniger feinkörniger Detektierung als Faktum angesehen wurde. Man denke heute beispielsweise an die Hirnforschung oder etwa auch an die Astrophysik. In der Hirnforschung werden immer tiefer liegende Schichten des Gehirns ebenso detektiert wie in der Astrophysik tiefer liegende Arten von Materie. In beiden Feldern führen die Entwicklungen dazu, dass bisherige Fakten durch andere neue und zur Zeit als basaler geltende ersetzt und abgelöst werden. Auch in Bezug auf das Recht müssen wir, wie Grasnick richtig sieht, zumindest die beiden folgenden Arten der Interpretativität unterscheiden. Die eine (a) ist die nachträgliche Deutung von zum Beispiel Texten, auch von Gesetzes-
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texten. Die andere (b) ist die Sachverhalts-konstituierende Interpretativität, mithin die überhaupt erst individuierende, klassifizierende und kraft Gewohnheit und Konvention wirksame Interpretativität. Letztere tritt zumeist nicht eigens in den Fokus der rechtswissenschaftlichen und rechtspraktischen Aufmerksamkeit, obwohl sie konstitutiv stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen ist. Die erstere Dimension ist die der Hermeneutik nachträglicher Deutung. Die letztere Dimension wird im Stufenmodell der ZuI-Philosophie ‚Interpretativität1+2‘ genannt. Sie verkörpert diejenige Interpretativität die, so Grasnicks Befund, in der juristischen Methodenlehre und von den Juristen generell „übersprungen“ werde (Kap. 2). Als Beleg für diese Einstellung führt Grasnick das zum Klassiker avancierte Lehrbuch von Karl Larenz und Claus-Wilhelm Canaris Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Larenz / Canaris 1995) an. Dort wird die Auffassung vertreten, dass es die Kernaufgabe der juristischen Auslegungslehre sei, den Gesetzestext „als den ‚Träger‘ des in ihm niedergelegten Sinns“ anzusehen, welchen Sinn es in objektiver Einstellung zu finden und widerzuspiegeln gelte. Mit einer Formulierung von Matthias Jestaedt betont Grasnick demgegenüber mit Recht, dass „sich die Gewinnung von Recht nicht in der Erkenntnis von Vorhandenem erschöpft“ (Jestaedt 2007: 255). Vielmehr wird auf den ZuI1+2-Ebenen überhaupt erst umgrenzt, was als ein juristischer Sachverhalt gilt und was nicht, wie die Individuation der Sachverhalte sowie deren raum-zeitliche Lokalisierung und sortale Klassifikation erfolgen. Jeder individuierte und spezifische juristische Sachverhalt ist in diesem Sinne in seiner Individuiertheit und Spezifität nicht einfach nur ein fertig vorgefundener, sondern ein zugleich gemachter, konstruierter Sachverhalt. Denn der Sachverhalt, der zur Beurteilung ansteht, bezieht sich ja stets auf ein bereits vergangenes und gegenwärtig nicht-aktuales Ereignis. Daher auch kann bei Gericht bereits in puncto Sachverhalts-Feststellung Streit zwischen Verteidigung und Staatsanwaltschaft auftreten. Auf jeden Fall jedoch entscheidet der Richter, was als der ‚tatsächliche‘ Sachverhalt gilt und was nicht. Der von Grasnick zu Recht herausgestellte und oben erörterte Punkt, dass wir auch im Falle von Gesetzestexten nicht davon ausgehen können, dass es einen in diese vorab und essentialistisch eingelassenen ontologischen Bestand in puncto Recht (gleichsam ein fundamentum inconcussum von Recht) gibt, hat eine Reihe von ZuI-philosophisch signifikanten Konsequenzen. Erstens (a) ist ein Gesetzestext, egal wie tiefengestaffelt er spezifiziert wird, aufgrund seiner nicht-eliminierbaren Allgemeinheit prinzipiell nicht in der Lage, alle individuellen Facetten und Aspekte eines Ereignisses zu erfassen und juristisch beurteilbar zu machen. Grasnick erinnert an den bis zum BGH gegangenen Fall, in dem die Frage zu klären war, ob ein buntes Plakat auf einem Verteiler-
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kasten der Deutschen Post eine Sachbeschädigung sei und strafrechtlich (nach § 303 Abs. 1 StGB) verfolgt und bestraft werden müsse (s. Kap. 3). Stets und nichteliminierbar bleiben Spielräume der Interpretation3, im Beispiel etwa in Bezug auf die Frage, was und in welchem Sinne als eine ‚Beschädigung‘ gilt oder nicht. Zweitens (b) muss das Gericht bzw. der Richter schlussendlich eine Entscheidung treffen. Die Deutungen und Beratungen können nicht zeitlich unbegrenzt fortgesetzt werden, nicht ewig dauern. Juristische Entscheidungen brechen die rein theoretisch möglichen unendlichen Ausdeutbarkeiten juridisch-pragmatisch ab. Die Deutungen müssen zu einem Ende kommen, um erneut zum Handeln zu gelangen und dieses wieder flüssig und anschlussfähig fortsetzen zu können. Mit anderen Worten: Es müssen ZuI-Grenzen gezogen werden. Drittens (c) kann eine jede richterliche Entscheidung Instanz für Instanz angefochten werden und bis zum BGH gehen (was im Verteilerkasten/PlakatBeispiel tatsächlich der Fall war, wobei der BGH feststellte, dass es sich nicht um eine Sachbeschädigung gehandelt habe, welches Urteil den Gesetzgeber veranlasste, eine neue Vorschrift zu erlassen, mithin neue ZuI-Grenzen zu ziehen). Der BGH musste ein „Machtwort sprechen“ (Kap. 3), musste, so möchte ich sagen, eine Grenze, des näheren eben eine ZuI-Grenze ziehen. Diese Grenze war nicht vorab und ontologisch gegeben. Sie wurde willentlich und im völlig korrekten Sinne dessen gesetzt bzw. fest-gesetzt, was es heißt, es mit einer juridischen Entscheidung und mit der Geltung eines Gesetzes zu tun zu haben. Aus der Sicht der ZuIPhilosophie ist das Ziehen von Grenzen bzw. sind Grenzen entscheidend dafür, dass wir es überhaupt mit individuierten Welten, Gedanken, Bedeutungen, Handlungen, Empfindungen und Wahrnehmungen, im vorliegenden Beispiel überhaupt mit einem Rechtssystem und einer Rechtspraxis und des näheren mit Rechtssätzen und Gesetzen zu tun haben. Entscheidend ist nicht, dass unbegrenzte Ausdeutbarkeit oder unendliche Semiose theoretisch möglich sind. Entscheidend ist vielmehr, dass wir, machten wir die Geltung von Gesetzen von ihrer Interpretierbarkeit abhängig, nie zu einer Entscheidung und nicht zum flüssigen Fortsetzen unserer Lebenspraxis kommen würden. Wir drehten uns gleichsam ohne Praxis- und Bodenhaftung im leeren Raum.
3 Juristische Argumentation als diskursiver Zeichen- und Interpretationsprozess Im Recht und dort insbesondere vor Gericht ist der Übergang von der hermeneutischen Gesetzes-Auslegung zu juristischer Argumentation geboten. Diesen Punkt betont Grasnick, und ich stimme ihm nachdrücklich zu. Freilich möchte ich
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sogleich einen wichtigen Zusatz hinzufügen. Im Übergang zum und im ‚logischen Raum der Gründe‘ (Sellars), in dem sich Argumentationen bewegen, wird zwar das hermeneutische Auslegen verlassen und es werden stattdessen Pro- und Kontra-Argumente ins Feld geführt. Damit jedoch springen wir natürlich keineswegs aus der Interpretativität1+2+3 selbst heraus. Und auch können wir letztere keineswegs um eines nicht-interpretativen Reichs ontologischer oder essentialistisch ultimativer Argumente willen überspringen. Auch Argumentation ist Argumentation nach Menschenmaß, nicht nach Gottesmaß. Die Praxis des Argumentierens ist eine ZuI-Praxis besonderer Art, eben die argumentativ verfahrende ZuI-Praxis. Grasnick erinnert an den bekannten Soraya-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes, in dem verlangt wird, dass jede richterliche Entscheidung „auf rationaler Argumentation beruhen“ müsse (BVerfGE 34, 269 ff. (287) [zit. nach Kap. 5]). Aber mit dieser Auflage springen wir eben nicht aus der Interpretativität von Rechtstheorie und Rechtspraxis selbst heraus. Diesen Unterschied zu betonen, ist mir wichtig. Er markiert den Ausgangspunkt einer ZuI-Philosophie des Rechts und vor allem auch von Menschenwürde und Menschenrechten. Freilich dürfen wir uns von der juristischen Argumentationstheorie „keine Wunder“ erhoffen. Denn schließlich, so zitiert Grasnick Luhmanns treffliche Beobachtung, gelte, „dass die Juristen die Hälfte ihrer Prozesse (verlieren), nachdem auf beiden Seiten argumentiert worden ist“ (Kap. 6). Letzteres zeigt zum einen (a), dass die durch Ronald Dworkin prominent gewordene ‚one-answerthesis‘ nicht zutreffend sein kann, der zufolge es selbst noch in den kompliziertesten juristischen Fällen notwendigerweise die eine und einzig richtige Gesetzesentscheidung gebe. Diese Dworkin-These teilen weder Grasnick noch ich. Zum anderen (b) ergibt sich nicht zuletzt auch aus dem Hinweis darauf, dass vor Gericht beide Seiten argumentiert haben, dass Argumentation als eine Version der umfänglicheren Interpretativität konzipiert und modelliert werden kann, nicht umgekehrt. Argumentation ist ein sehr voraussetzungsreicher Vorgang. In Variation eines bekannten Slogans der Wahrnehmungspsychologen könnte man sagen: There is more to argumentation than meets the argument. In anderen Worten: in der Argumentation steckt mehr als man am Argument selbst sieht, so unter anderem Prämissen, Folgerungsregeln, Hintergrundannahmen, begriffliche Netzwerke, Grundsätze rationaler Akzeptierbarkeit, Gültigkeitsregeln erster Stufe (der formalen Schlussfolgerungen), Gültigkeitsregeln zweiter Stufe (Metaregeln, die die Gültigkeit der Standards der Standards festlegen), Bewertungen, Präferenzierungen, Perspektivierungen, Gewohnheiten, interne und externe Normen, lebensweltliche Kontexte, überzeugungs- und weltbild-basierte Kohärenzannahmen und vieles mehr. Und alle diese Konstituenten und Ingredienzien einer
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erfolgreichen Argumentation können offensichtlich als zeichen- und interpretativ-verfasst beschrieben, analysiert und modelliert werden. Unter sinn-kritischem Vorzeichen kann es gänzlich zeichen-freie und nicht-interpretative Argumentationen nicht geben. Wir können nicht nicht-interpretativ argumentieren. Argumentation kann als eine Version von Interpretativität konzipiert werden, nicht umgekehrt. Zugleich herrscht hier eine wichtige Asymmetrie: jede Argumentation ist interpretativ; aber nicht jede Interpretation ist argumentativ. In der rationalen Argumentation geht es eben um die argumentativen Interpretationen (vgl. Abel 2016). Wenn unterschiedliche und auch wenn gleichermaßen überzeugende Argumentationen vor Gericht gegeneinander stehen, muss das Gericht bzw. der Richter (oder im angelsächsischen Rechtssystem der Kreis der Geschworenen) eine Entscheidung treffen, mithin seine juridische Interpretativität auf rational akzeptable Weise zur Geltung bringen. Der Richter tut dies, indem er sein richterliches Urteil spricht. Und er tut dies – ebenfalls Manifestation von juridischer Interpretativität – ohne Rekurs auf eine metaphysische oder theologische Letztinstanz, ohne die Möglichkeit, durch Telefonanruf bei einem metaphysischen Call-Center die Situation metaphysisch oder hermeneutisch-letztinstanzlich klären und das entsprechend einzig richtige Urteil sprechen zu können. In der Sicht der ZuI-Philosophie bezeichnet ‚Argumentation‘ nicht nur keine nicht-, sondern auch keine trans-interpretativen1+2+3 Prozesse. Argumentation kann als eine spezifische und in unserer Kultur überaus relevante Weise reziprok-interpretativer Überzeugungsarbeit, eben als die diskursiv-argumentative Form des Interpretierens angesehen werden. Offenkundig unterliegt solches Interpretieren strengen formalen Konsistenz- und strengen lebensweltlichen und erfahrungs-bezogenen KohärenzAnforderungen, will es überhaupt als ein erfolgreiches und rational akzeptables und nicht als ein bloß rhetorisches Interpretieren gelten können (vgl. Abel 2016). Rechtliche Fragen sind Fragen, die entschieden werden müssen. Mit Rekurs auf entsprechende Positionen von Niklas Luhmann betont Grasnick den wichtigen Punkt, dass Entscheidungen überhaupt nur dort erforderlich werden, wo nicht zweifelsfrei feststeht, was als richtig oder falsch angesehen wird. Grundsätzlich gilt, dass wir uns vor Gericht (wie auch sonst in unserem alltäglichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Leben) auf einem „Terrain bewegen“, das durch „Vagheit“, „Unbestimmtheit“ und „Unsicherheit“ gekennzeichnet ist (Kap. 3). Diesen Aspekt möchte ich um die folgende zusätzliche Drehung radikalisieren. Ungewissheiten und Unsicherheiten in unseren triangulären Ich-Wir-WeltVerhältnissen können durchaus als basal angesehen werden. Sie sollten nicht bloß als etwas angesetzt werden, dem wir mithilfe geschickter intellektueller und technischer Mittel den Garaus machen könnten, um auf diese Weise zu ‚letzten‘
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Stabilitäten und Determinismen vorzudringen. Kann diese Charakterisierung als zutreffend angesehen werden, dann müssen in Sachen Recht nicht nur die Entscheidungen eines Richters, sondern überhaupt das Rechtssystem und die Rechtspraxis als eine menschliche Kulturleistung des vernünftigen Umgangs mit den basalen Unsicherheiten und Ungewissheiten angesehen werden. Funktionaler Zweck des Rechts ist die Organisation des friedfertigen Zusammenlebens von Menschen, der Rechtsgenossen untereinander ebenso wie deren Verhältnis zu Gesellschaft und Staat. Erinnert sei hier an das Aristoteles zugeschriebene Diktum: „Wenn auf der Erde die Liebe herrschte, wären alle Gesetze entbehrlich.“
Literatur Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2012: Sprache, Welt und Handlung. Ein trans-analytischer und trans-hermeneutischer Ansatz, in: Dottori, Riccardo (Hg.): 50 Jahre Wahrheit und Methode. Beiträge im Anschluss an H.-G. Gadamers Hauptwerk, Berlin u. a., S. 77 – 101. Abel, Günter 2016: Rethinking Rationality: The Use of Signs and the Rationality of Interpretations, in: Wagner, Astrid / Ariso, José Maria (Hg.): Rationality Reconsidered. Ortega y Gasset and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 9), Berlin / Boston, S. 15 – 29. Jestaedt, Matthias 2007: Öffentliches Recht als wissenschaftliche Disziplin, in: Engel, Christoph / Schön, Wolfgang (Hg.): Das Proprium der Rechtswissenschaft, S. 241 – 281. Larenz, Karl / Canaris, Claus-Wilhelm 1995: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin / Heidelberg. Wessels, Johannes / Beulke, Werner 2003: Strafrecht. Allgemeiner Teil, 33., neubearb. Aufl. Heidelberg.
Kapitel 10: Ethik, Demokratie und Öffentlichkeit
Lukas K. Sosoe
Erklären oder Begründen? Zum Verhältnis von Interpretationsethik und Demokratie Abstract: The aim of my contribution is to present Günter Abel’s account of the relation between the philosophy of interpretation, ethics of interpretation and democracy. We will address three main points. In the first part, G. Abel’s ethics of interpretation will be defined, and a short parallel between democracy and ethics of intrpretation will be established and explained. Secondly, Abel’s main thesis on the relation between the ethics of interpretation and democracy, i. e. the relevance of a theory of democracy based on and ethical theory derived from the philosophy of interpretation, will be discussed as well as the contribution made to democracy by the ethics of interpretation. In this second part, we will try to understand the author’s underlying intention. Finally, since the ethics of interpretation aims both to challenge and replace discourse ethics and to call into question dogmatism and relativism, be they ethical or political, the former’s arguments will be carefully examined in order to see if Abel’s intention can be fulfilled.
Schon in seinem 1993 erschienen Hauptwerk Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus (Iw) kündigte Günter Abel eine Ethik der Interpretation an. Dem Titel und der Kürze des Kapitels nach ist es schwierig genau zu sehen, worum es eigentlich geht. Der Ausdruck ‚Ethik der Interpretation‘ könnte in mehrfacher Hinsicht verstanden werden. Liest man den Text näher, bekommt man den Eindruck, dass es eher um die Darstellung eines handlungstheoretischen Ansatzes geht. Das Ziel des Kapitels erfährt der Leser in den letzten Zeilen des Werkes. Günter Abel erklärt, dass seine Ausführungen im genannten Kapitel Konsequenzen für die politische Philosophie hätten und noch präziser dass „die Interpretationsphilosophie […] einen Beitrag auch zur philosophischen Begründung demokratischer Politik jenseits der älteren Dichotomie von politischem Absolutismus und politischem Relativismus“ (Iw 525) leisten könne. Diesen Beitrag erläutert Abel ausführlicher ein paar Jahre später in seinem Band Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI) und in dem von J. Simon herausgegebenen dritten Band der Reihe Zeichen und Interpretation: Orientierung in Zeichen. Eine kürzere Version ist auch im Band Zeichen der Wirklichkeit (ZdW 87– 91) zu finden. In all den letztgenannten Publikationen versucht Abel, die Ergebnisse https://doi.org/10.1515/9783110522280-044
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der Interpretationsphilosophie auf verschiedene Wissensgebiete anzuwenden. Sie alle stellen sozusagen eine Weiterführung des Programms der Interpretationswelten dar, von denen wir hier nur das Thema ‚Ethik, Politik und Demokratie‘ herausgreifen wollen. Das Hauptziel unseres Beitrages hier ist, vor allem Abels Ausführungen zum Thema ‚Interpretationsphilosophie, Interpretationsethik und Demokratie‘ kurz und kommentierend zu präsentieren. Dabei verfolgen wir ein dreifaches Anliegen: 1) Zunächst wird die Ethik der Interpretation von G. Abel sehr kurz dargestellt und vor allem die Parallele zwischen Demokratie und Interpretationsethik erläutert. 2) Im zweiten Teil wird dann Abels Grundthese zum Verhältnis zwischen der Ethik der Interpretation und der Demokratie näher untersucht. Gefragt wird nach dem Beitrag der Interpretationsethik zur Demokratiethematik und was damit intendiert wird. 3) Da die Ethik der Interpretation nicht um ihrer selbst willen allein, sondern eher unter anderem als Ersatz für die Diskursethik auftritt und auch als Kritik am ethisch-politischen Dogmatismus und Relativismus präsentiert wird, werden ihre Argumente gegen die Diskursethik unter die Lupe genommen.
1 Die von Abel vertretene Interpretationsethik lässt sich nicht verstehen ohne Bezug auf die von ihm entwickelte Interpretationsphilosophie, in der Interpretationsprozesse erörtert werden, und auf die darin grundlegende Interpretativität. Charakterisiert wird die Interpretativität folgendermaßen: „Mit Hilfe des Grundwortes ‚Interpretativität‘ und als Interpretationsprozesse können diejenigen Vorgänge charakterisiert werden, in denen wir etwas als ein bestimmtes Etwas phänomenal diskriminieren, Identifikationen und Re-Identifikationen vornehmen, Prädikate und Kennzeichen applizieren, Zuschreibungen durchführen, Zusammenhänge konstruieren, durch Einteilungen klassifizieren und in bezug auf so formierte Welten dann über Meinungen, Überzeugungen und auch über ein gerechtfertigtes Wissen verfügen.“ (Iw 14) ‚Interpretation‘ bzw. ‚Interpretativität‘ ist hier in einem sehr umfassenden Sinne zu verstehen. Sie erstreckt sich auf menschliche Tätigkeiten, auf alle Prozesse des menschlichen Lebens, des Welt-, Selbst- und Fremdverstehens und -verhältnisses. Deshalb ist ‚Interpretation‘ oder ‚Interpretativität‘ ein Grundwort, das anthropologisch und erkenntnistheoretisch begründet wird. Sowohl anthropologisch als auch erkenntnistheoretisch will sich die Interpretationsthese als Vernunftkritik verstanden wissen. Dazu meint Abel: „Unter kritischem Vorzeichen ist ein jedes Welt-, Fremd- und Selbst-Verständnis/Verhältnis endlicher Geister, einzeln oder in Gruppierungen, aufgrund eben dieser
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Endlichkeit, stets von perspektivischem, konjekturalem, projizierendem, wertschätzendem, konstruktbildendem und auslegendem, kurz: von interpretativem Charakter. Wir haben es an keinem Ort und zu keiner Zeit mit an-sich-seienden Welten, sondern stets nur mit individuierten Interpretations-Welten zu tun, und wir haben gute Gründe, unsere Interpretations-Welten als unsere Welten zu behandeln.“ (Abel 1997: 43) Mit anderen Worten: Was auch immer der Mensch als Mensch unternimmt, ob er spricht, handelt oder sich auf Selbst-, Fremd- und andere Erkenntnisprozesse einlässt, er kann nicht umhin zu interpretieren. Interpretationsverhältnisse sind unbedingte Grundvoraussetzungen des In-derWelt-Seins des Menschen. Deshalb ist Interpretation keine Option, „sondern als Kondition eines jeden Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses/bezugs“ (44) anzusehen. Als solche ist sie nicht hintergehbar. Als unverzichtbares Grundelement des menschlichen Lebens, als Kondition jeden Selbst-, Fremd- und Weltbezugs lässt sich Interpretation natürlich als Grundbedingung des Sprechens und der menschlichen Handlung ansehen. Was die letztere betrifft, meint Abel, dass Handlungen „als ‚Interpretationskonstrukte‘ aufgefaßt werden“ müssen (45). Anders gesagt: „Ohne Interpretations-Horizonte und ohne Interpretations-Akte keine Handlungen.“ (46) Abel bleibt bei der Grundthese nicht stehen, nach der jede Handlung einen interpretativen Charakter hat. Er fügt zwei andere, untereinander sehr nahe stehende, handlungstheoretisch wichtige Argumente hinzu: „Wir wissen nicht, was ‚im Grunde‘ eine Handlung ist, und wir kennen unsere ‚letzten‘ Motive nicht.“ (Ibd.) Diese beiden Behauptungen verstärken die von der Interpretationsphilosophie eingangs betonte Endlichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens einerseits und andererseits „den interpretativen Charakter dessen, was wir eine Handlung nennen“ (ibd.). Mit Hilfe eines so verstandenen Handlungsbegriffs wird die Frage eruiert, ob die Interpretationsphilosophie eine Ethik oder eine politische Philosophie enthält. Abels Antwort fällt positiv aus. Dass endliche Wesen nicht durch Wahrnehmung allein wissen können, was für eine Handlung vor Ihnen ausgeführt wird, liegt auf der Hand. Der direkte Zugang zur Absicht oder zum Bewusstsein des Handelnden ist uns versperrt. Wir sind auf Interpretationen angewiesen. Ob unsere Interpretation die geeignete ist, bleibt dahingestellt. Wir können sie verifizieren und entsprechend korrigieren. Angesichts des Pluralismus und Perspektivismus der Interpretationsphilosophie ist sogar zu überlegen, ob sich die Frage nach einer richtigen Interpretation vernünftigerweise stellen lässt, ob eine Interpretation schlecht sein kann und ob nicht letzten Endes jede Interpretation zuzulassen ist. Jedenfalls, so die These der Interpretationsphilosophie, liegt jedem tatsächlichen Sprechen und Handeln eine Interpretations- und Lebenspraxis immer schon im Rücken, die normative Komponenten enthält. Die normativen Komponenten, die mit einer solchen Inter-
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pretations- und Lebenspraxis verbunden sind, seien in dem jeweiligen Sprechen und Handeln wirksam und betroffen. Abel zufolge gilt dies in „besonderer Weise“ für ethisch-praktisch-politische Ausdrücke. Denn, so wird der Beweis geführt, „[a]nders als z. B. beim Verstehen und Begreifen einer wissenschaftlichen Hypothese kann man ethische und politische Rede und Handlungen nicht verstehen und nicht begreifen, ohne daß die praktische Lebensform in einem besonderen Maße aktiviert und an der Umgrenzung der semantischen Merkmale […] solcher Rede und Handlungen beteiligt ist.“ (46, Hervorhebung L. S.) Anders gesagt, die Tatsache, dass normative Komponenten schon im Sprechen und Handeln vorhanden sind, zeigt sich daran, dass sie Reaktionen hervorrufen, die Handlungen sind. Die auf die ethischen und praktisch-politischen Sätze folgenden Handlungen sind ein Zeichen der in ihnen vorhandenen Interpretationen normativer Gehalte. Und diese, so Abel, würden stärker wirken als beim Verstehen wissenschaftlicher Hypothesen. Zu fragen wäre hier schon, ob die normativen Komponenten in den beiden Sphären, der wissenschaftlichen und der ethisch-praktisch-politischen Sphäre, gleicher Art sind. Abel scheint sie durch die Stärke der Handlungswirksamkeit zu unterscheiden; was nur einen Teil der Antwort ausmacht. Zwei Dinge könnten sich durch die Intensität unterscheiden lassen, aber gleicher Natur bleiben. Jedenfalls bilden diese normativen Komponenten die nicht-hintergehbaren Voraussetzungen menschlicher Lebens- und Interpretationspraxis. Der Unterschied liegt darin, dass das Verstehen ethischpraktischer Rede handlungswirksamer ist als in anderen Lebensbereichen. Zu der Art der Normativität in beiden Bereichen ist es hier wichtig, darauf hinzuweisen, dass Abel für eine vereinheitliche Theorie von Wissen und Handeln, für eine Verschränkung von Wissen und Handeln, plädiert (vgl. SZI 300).
2 Vorausgesetzt, dass die normativen Komponenten der Interpretations- und Lebenspraxis für alle Formen von Diskursen, auch für die praktisch-normativen, gelten, lässt sich fragen, inwiefern sich der Interpretationsansatz auf den Demokratiegedanken anwenden lässt. Nach Abel hat der Interpretationsansatz zumindest in Bezug auf Sprache und Handlung „eine Reihe ethischer und dann auch politischer Konsequenzen. Die Interpretationsphilosophie enthält eine Ethik der Interpretation.“ (Abel 1997: 51) Mit ‚Ethik der Interpretation‘ wird nicht die Frage gemeint, „ob […] und wie die Interpreten und ihre Interpretationen moralisch zu bewerten sind“ (ibd.). Auch geht es nicht darum, ein Ethos zu entwickeln, nach dem man wissen kann, wie man „den Spielraum angemessener oder abweichender (‚fehlgehender‘) In-
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terpretationen begrenzen kann“ (ibd.). Die These ist vielmehr, dass eine Ethik den Interpretationsverhältnissen innewohnt, dass die „Interpretationsverhältnisse […] eine Ethik enthalten“ (ibd.). Ihre Normativität ergibt sich „intern geradezu analytisch, interpretations-analytisch und ohne externe Annahmen aus dem Interpretationsgedanken selbst“ (52). Mit anderen Worten bilden die Interpretationsverhältnisse die abgeschlossene Welt menschlichen Lebens, Sprechens und Handelns, kurz: menschlichen Verstehens. Und gerade weil jeder Mensch die Welt anders verstehen kann und darf, machen diese verschiedenen Arten, sie zu sehen, machen alle diese Perspektiven unsere Welt aus. Die einzig gute, alle anderen Interpretationen ausschließende Welt, gibt es nicht. Nach Abel ist die Ethik der Interpretation eine freilassende Ethik. Das heißt: es gibt keine obere Instanz, die entscheidet, welche Interpretation die richtige ist. Die Interpretationsethik lässt jeden Interpreten deshalb frei, seine Interpretation zu behalten, weil sie davon ausgeht, dass es keine einzig verbindliche, alle Interpretationen ausschließende Wahrheit gibt. Sie „ist dadurch gekennzeichnet, daß sie den anderen Personen ihre anderen (nicht mit den meinigen übereinstimmenden) Interpretationen, mir aber meine Interpretationen sowie auch meine Interpretationen der anderen Interpretationen beläßt“ (52). Gerade in diesem Sinne ist sie eine freilassende Ethik, die zugleich als ‚Grundnorm‘ des Gebots der Anerkennung fungiert, insofern die Interpretationsethik davon ausgeht, dass unsere Individualität von der Existenz der anderen abhängig ist, weil wir immer schon „in Interpretationsverhältnissen mit anderen“ (53) stehen. Wir sind auf diese Weise in Interpretationsverhältnisse verstrickt, aus denen sich der Gedanke der Anerkennung und Verantwortung ergibt. Von diesem Punkt aus erfährt der Gedankengang Abels eine Komplikation, die wir hier kurz skizzieren möchten. Aufgrund der Begrenztheit aller Menschen, d. h., da alle Menschen gleichermaßen von der einen (metaphysischen) Wahrheit abgeschnitten sind und daher offen für andere Interpretationen anderer Personen sind, kann man, so Abel, sagen, dass „in einer Ethik der Interpretation die individuelle Freiheit und die Gleichheit der Interpretierenden miteinander verschränkt sind“ (54). Und das Verhältnis freier und gleicher Interpretierender führt zur Selbstbeschränkung der eigenen Position und somit zur gegenseitigen Selbstbeschränkung der Wahrheits- und Richtigkeitsansprüche aller Interpretierenden. Es geht hier nicht um eine politische Gleichheit und Freiheit, sondern um eine vorpolitische, um eine auf der Ebene der „Art und Weise der Regelung politischer Willensbildung“ (ibd.) zu situierende Grundordnung der Interpretation. Daher braucht man die Demokratie nicht mehr zu begründen. Die Begründungsfrage wird durch die Frage nach der Verantwortbarkeit der demokratischen Ordnung abgelöst. Abel sieht in dieser Verantwortbarkeit einen Übergang von einer Ordnung der Wahrheits- und Wissensfrage zur „Ordnung der (grundsätzlich kontin-
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genten und falliblen) Meinungen und Überzeugungen“ (55). Damit wird zugleich auch das Problem der Letztbegründung auf eine Weise gelöst, die nicht Tür und Tor für Beliebigkeit, also für Kulturrelativismus einerseits und Dogmatismus andererseits öffnet. Wie kommt man aber von den Interpretationsverhältnissen zur Demokratie über die in diesen Interpretationsverhältnissen enthaltenen normativen Komponenten?
3 Abels Anwendung der Interpretativität auf die demokratische Ordnung scheint auf den ersten Blick sehr überzeugend und zwar in mehreren Hinsichten. Bei näherem Hinschauen aber treten Probleme auf, die einerseits eng mit dem interpretationsphilosophischen Ansatz selbst und andererseits mit der Interpretationsethik und ihrem kritischen Anspruch verbunden sind. Erstens: Kaum wird jemand die These bestreiten, dass normative Fragen keine Wahrheitsfragen, geschweige denn absolute, wahrheitsfähige und konstative Äußerungen sind. Schon bei Aristoteles heißt es, dass die Ethik keine Wissenschaft ist.Von ihr können wir nicht die gleiche Genauigkeit wie in der Mathematik erwarten. Im Gegensatz zur Ethik ist die Mathematik eine Wissenschaft. Die Sittlichkeit gehört in den Bereich der Lebenserfahrung. Präziser schreibt Aristoteles: „Der Exaktheitsanspruch darf nämlich nicht bei allen wissenschaftlichen Problemen in gleicher Weise erhoben werden, genausowenig wie bei handwerklich-künstlerischer Produktion. […] Man muß sich also damit bescheiden, bei einem solchen Thema und bei solchen Prämissen die Wahrheit nur grob und umrißhaft anzudeuten sowie bei Gegenständen und Prämissen, die nur im großen und ganzen feststehen, in der Diskussion eben auch nur zu entsprechenden Schlüssen zu kommen […]: der logisch geschulte Hörer wird nur insoweit Genauigkeit auf dem einzelnen Gebiet verlangen, als es die Natur des Gegenstandes zuläßt. Es ist nämlich genauso ungereimt, vom Mathematiker Wahrscheinlichkeiten entgegenzunehmen wie vom Rhetor denknotwendige Beweise zu fordern.“ (Nik. Eth. I, 1094b 13 – 1094b 27) Wenn dem so ist, dann versteht man nicht, weshalb Interpretationsphilosophen den Übergang von Wissens- zu Meinungsfragen so betonen. Nicht wegen der Interpretation sind ethische Fragen und Probleme derart, dass sie den Zugang zur Wissenschaftlichkeit im strengen Sinne des Wortes nicht zulassen. Die Verschiedenheit ihrer Natur ist seit eh und je anerkannt und diskutiert worden. Ihrer Natur nach lassen sich ethisch-politische Aussagen nicht wie theoretische oder Wissensfragen behandeln. Dass sie außerdem Meinungen näher sind als Wissenschaften, heißt noch lange nicht, dass sie in allem mit beliebigen Meinungen
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gleichzusetzen sind, wie die Interpretationsphilosophie es gern haben will. Es ist eher eine Frage des Wissensgrades. Die Genauigkeit in der Ethik unterscheidet sich von der anderer Wissenschaften. Zugegeben, dass die Ethik einen Übergang in der Zuordnung vom Bereich des Wissens zu dem der Meinung erlebt hat, so stellt sich die Frage nach kollektiven Handlungen. Denn die frei gelassenen Interpretationen und Handlungen müssen ja in der Öffentlichkeit vollzogen werden können. Wer von Öffentlichkeit spricht, der hat schon so etwas wie die Ordnung dieser Öffentlichkeit im Sinn, was schon auf Einschränkungen der Weltbilder der Bürger hindeutet. Warum diese verschiedenen Weltbilder nicht in Konkurrenz geraten können, darüber sagt die Interpretationsphilosophie so gut wie nichts. Abel weist einfach auf die Rolle des Rechts hin. Selbst wenn man die Interpretation der Rolle des Rechtes akzeptiert, ist es zweifelhaft, ob diese Rolle sich einfach aus den Interpretationsverhältnissen allein deduzieren, ob sie sich analytisch aus diesen allein gewinnen lässt. Man bekommt eher den Eindruck, dass das Recht an dieser Stelle als eine Art Deus ex machina auftritt. Denn die Tatsache, dass ich meine Interpretation habe, hindert mich nicht de facto daran, für mein Weltbild werben oder gar kämpfen zu wollen, damit die Welt meiner Ansicht nach vielleicht besser wird. Der Perspektivismus beschreibt nur die Tatsache, dass sich aus der Tätigkeit der Interpretation Welten ergeben und dass es über diese unsere Welten hinaus keine andere Welt gibt. Eine Forderung, die verschiedenen Welten zu erhalten oder sein zu lassen, stellt eine andere normative Aussage dar, die über die Konstatierung der sich aus der Interpretation ergebenden Welten hinausgeht. Die Interpretationsethik scheint viel mehr zu besagen als die Interpretation selbst, denn diese Aussage scheint sie nicht unmittelbar aus der Interpretation allein zu gewinnen. Zweitens: Richtig ist aber, dass die Interpretationsphilosophie, wie sie dargestellt wird, nicht die Wahrheit betrifft. Sie schließt alle Ansprüche auf Absolutheit einer einzigen Interpretation aus, vor allem den Anspruch, nicht überhaupt auf Wahrheit, sondern auf ausschließlich die Eine, alle anderen ausschließende metaphysische Wahrheit. Die Preisgabe des Absolutheitsanspruches und die Annahme, dass es mehrere Wahrheiten gibt, machen die Interpretationsethik aus. Sie will sich als normative Ethik wissen. Dazu meint Abel, dass die Interpretationsethik andere Interpretationen sowie die Interpretationen anderer Interpretationen zulasse, die alle Wahrheitsansprüche anmelden. Selbst wenn man annimmt, dass man sinnlogisch, analytisch zu einer Interpretationsethik kommen kann, bleibt jenseits des logischen Problems des Übergangs von den faktisch existierenden Interpretationen zur Ethik der Interpretation ein anderes, anthropologisches Problem. Entweder müssen alle Individuen durch Selbstzwang (der sich nicht aus der Interpretation allein ergibt) unmittelbar akzeptieren, dass die vorliegenden Interpretationen richtig sind, oder, weil es sich um Ansprüche handelt, einen Zwangs-
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mechanismus und eine Methode der Konfliktlösung zwischen den verschiedenen Wahrheitsansprüchen finden. Hier lässt sich die Rolle des Rechts besser verstehen. Sowohl der Zwangsmechanismus als auch die Methode der Konfliktlösung bzw. Erwartungssicherung gehören nicht zur Interpretation, sondern sind ihr extern. Sie liegen nicht innerhalb, sondern außerhalb der verschiedenen konkurrierenden Interpretationen. Wir finden sie nicht in der Explikation der Fülle der Interpretationen. Der Verzicht auf die Eine metaphysische Wahrheit und das Sein- und Freilassen von mehreren Wahrheiten beruhen auf außenstehenden Elementen. Inwiefern aber haben beide mit der Demokratiefrage zu tun? Welches Verhältnis oder welche Ähnlichkeit besteht zwischen dem Demokratiegedanken und der Wahrheitsfrage? Drittens: Demokratie ist eine auf Volkssouveränität gegründete Herrschaftsform.Wahrheit aber nicht; sie bezieht sich auf Wissen, auf ein Wissen, das zutrifft. Als solche haben die beiden Begriffe auf den ersten Blick miteinander so gut wie nichts zu tun. Wer nach der Form einer Herrschaft sucht, auch nach der allerbesten Form, der stellt keine Frage nach der Wahrheit. Ebenso wenig sucht jemand, der nach Wahrheit forscht, eine Regierungsform. Und seit Thomas Hobbes wissen wir auch: Auctoritas non veritas facit legem. Bei näherer Betrachtung aber lässt sich dann doch herausfinden, dass der Demokratiegedanke negativ etwas mit Wahrheit zu tun hat. Der Demokratiegedanke zeichnet sich bis zu einem gewissen Punkt dadurch aus, dass darin auf die Wahrheitsfrage verzichtet wird. Nicht deshalb, weil alles wahr ist; sondern seiner Natur nach kann er die Wahrheitsfrage nicht beantworten. Sie ist nicht Ziel der Demokratie. Ihr Ziel ist eher die Suche nach dem, was das Zusammenleben für alle akzeptabel macht. Und diese Suche liegt nicht diesseits, sondern jenseits der verschiedenen Wahrheitsansprüche, damit diese sich im Rahmen einer bestimmten, friedlichen Ordnung geltend machen können. Sie delegiert die Wahrheitsfrage an die Wissenschaften, die das Monopol der Wissensfragen, der wahrheitsfähigen Fragen, innehaben. Ebenso verzichtet die Interpretationsphilosophie auf die exklusive Wahrheit der verschiedenen Interpretationen. Daher meint Abel, dass „ein Zusammenhang zwischen der Demokratie- und der Wahrheitsfrage“ (Abel 1997: 55) bestünde. Im Gegensatz zur Demokratie aber sucht sie nicht eine Herrschaftsform, eine Ordnung, die das Zusammenleben möglich machen könnte. Die Demokratie konstatiert die Welt der multiplen Wahrheiten, lässt sie so sein, wie sie sind, und wirbt persuasiv für die Akzeptierbarkeit dieser Welten. Indem sie so argumentiert, ist ihr Verzicht auf Wahrheitsfragen nicht radikal genug. Sie macht aus der Ordnung der Interpretationen reale, konsensfähige, ordnungsbildende Welten. Wenn unsere Welt eine Welt von Interpretationen ist, dann bleiben wir nicht in einer Ordo rerum, wo die Wahrheitsfrage allein Sinn hat. Hier hört die Affinität des demokratischen Verzichtes auf die Wahrheit mit der Interpretationsphilosophie auf.
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Viertens: Zwischen welcher Demokratieauffassung und der Wahrheitsfrage besteht ein Zusammenhang? Es geht um die liberale, pluralistische Demokratie. Eine unentbehrliche Präzision, die klarstellt, dass nicht jedes Demokratieverständnis, vor allem nicht Rousseaus Verständnis der Demokratie, einen Zusammenhang mit der Wahrheit hat.¹ Also nicht der Demokratiegedanke überhaupt, nicht einmal die von Habermas vertretene deliberative Demokratie, die auf der Möglichkeit einer provisorischen, durch Diskurs zustande gekommenen Richtigkeit von Normen beruht, entsprechen der Freiheit und Gleichheit der Interpretationsethik, in denen Abel jedoch vorpolitische Prinzipien sieht. Was hier mit vorpolitischer Freiheit und Gleichheit in Bezug auf die Interpretationsethik gemeint ist, ist nicht klar. Sind sie als Vorstufe zur demokratischen Freiheit und Gleichheit gedacht? Inwiefern entsprechen diese vorpolitischen Begriffe den Begriffen politischer Freiheit und Gleichheit in liberal pluralistischen, demokratischen Ordnungen? Zunächst ist nicht klar, was mit vorpolitischer Freiheit und Gleichheit gemeint ist. Denn wer von ‚vorpolitischen Prinzipien‘ spricht, der setzt voraus, dass diese irgendwann in politische überführt werden. Diese Überführung findet in Abels Texten nicht statt. Denn es wäre irreführend zu sagen, dass die in den Interpretationsverhältnissen gegebene vorpolitische Freiheit und Gleichheit mit demokratischer Freiheit und Gleichheit identisch seien. Entweder sind sie politisch besonders in der demokratischen Ordnung verankert oder sie sind es nicht. Außerdem lässt sich fragen, im welchen Sinn sie vorpolitisch sind. Zu fragen ist auch, ob die semantischen und pragmatischen Grundbedingungen des Verstehens genuin ethische, normative Vorgaben enthalten. Der Hinweis auf die Überflüssigkeit einer Letztbegründung beantwortet diese Frage nicht. Das Zurückweisen des Relativismus des ‚anything goes‘ auch nicht. Es scheint, als ob Abel der Frage nach der normativen Qualifikation der semantischen und pragmatischen Präsuppositionen ausweicht und an deren Stelle auf das Problem der Letztbegründung und des Relativismus dort kritisch zurückgreift, wo der spezifisch ethisch-philosophische Charakter der Interpretativität zu unterstreichen wäre. Man kann wohl zugeben, dass die These der Interpretativität nicht unbedingt zu postmodernen Positionen führt. Diesbezüglich sind Abels Argumente bis zu einem gewissen Punkt überzeugend. Aber sowohl die Kritik an der Letztbegründung als auch am Relativismus scheinen nicht das Hauptproblem
Vgl. (Rousseau 1977: 22): „Damit nun aber der Gesellschaftsvertrag keine Leerformel sei, schließt er stillschweigend jene Übereinkunft ein, die allein die anderen ermächtigt, dass, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als dass man ihn zwingt, frei zu sein.“
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zu sein, sondern zuerst und vor allem die moralische Qualifikation der sogenannten analytisch bzw. sinnkritisch gewonnenen Präsuppositionen. Zu diesen Einwänden hält der Interpretationismus, wie ihn Abel verteidigt, Antworten bereit. Eine erste Antwort würde in der Definition der Interpretationsphilosophie selbst liegen, die uns auf unsere Welt folgendermaßen hinweist: „Unter kritischem Vorzeichen ist ein jedes Welt-, Fremd- und Selbst-Verständnis/ Verhältnis endlicher Geister, einzeln oder in Gruppierungen, aufgrund eben dieser Endlichkeit, stets von perspektivischem, konjekturalem, projizierendem, wertschätzendem, konstruktbildendem und auslegendem, kurz: von interpretativem Charakter. Wir haben es […] stets nur mit individuierten InterpretationsWelten zu tun, und wir haben gute Gründe, unsere Interpretations-Welten als unsere Welten zu behandeln.“ (Abel 1997: 43) Mit dieser Definition scheint die von uns vermisste Normativität schon gegeben, denn die Interpretation will sich grundlegend wissen. Ohne sie sind keine Normativität, keine Welt möglich. Die Normativität wäre hier ein Derivat oder besser Resultat einer grundlegenden Interpretation, das jenseits der Interpretativität liegen würde. Gerade dies erläutert Abel mit dem Begriff der Handlung, die im Gegensatz zu irgendeinem Geschehen „nur mit Hilfe einer Deutung, einer interpretatorischen Grenzziehung möglich“ (45) ist. Handlungen sind „Interpretationskonstrukte“, die bereits normative Komponenten enthalten. Dass unsere Welten aus Interpretationen bestehen, ist einleuchtend. Dass wir ohne Interpretation unsere Welt nicht verstehen können, ist auch nicht zu leugnen. Daher erscheint verständlich zu sagen, dass „den interpretativen Charakter dieser Verhältnisse leugnen oder hintergehen […] zu wollen, hieße, die Individuiertheit und die Spezifität unserer wirklichen Welten und des für uns relevanten Sinns zu zerstören“ (44). Als solche ist Interpretation die Bedingung dafür, dass wir normative Handlungskomponenten in unserer Welt haben. Genauso wie die Bedingung der Existenz unserer Welten sich von unserer Welt unterscheidet, könnte man auch sagen, dass sich die normativen Handlungskomponenten von dieser Bedingung unterscheiden. Sie können ja nicht wiederum die Bedingung ihrer selbst sein. Daher bedarf der Übergang von Interpretation zur Interpretationsethik einer zusätzlichen Erklärung, die unseres Erachtens der von Abel eingeführte Handlungsbegriff nicht leistet. Handelte es sich darum, die Ansicht zurückzuweisen, dass wir interpretatorische Geister sind, die nicht im Besitz von so etwas wie ‚Der Einen Metaphysischen Wahrheit‘ und/oder ‚Der Einen Definitiven und Allgemein Verbindlichen Begründung‘ oder auch nur im Besitz einer privilegierten Strategie sind, dann bräuchten wir dafür nicht unbedingt eine Interpretationsethik. Sie ist nicht die einzige, die versucht, eine Ethik ohne Metaphysik auszuarbeiten. Viele zeitgenössische Ethiktheorien haben schon lange auf metaphysische Fundamente
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verzichtet und argumentieren mit metaphysikfreien Voraussetzungen. Deshalb erscheint als das wichtigste Problem hier nicht die Kritik an metaphysischen Ethiktheorien, sondern die Klärung der sogenannten Wende in eine Normativität, die sich intern aus dem Interpretationsgedanken allein ergibt. Die Suche nach einer spezifisch ethischen Normativität ist und kann auch nicht identisch mit der sich aus dem Interpretationsgedanken ergebenden Normativität sein, weil die interpretationstheoretisch, perspektivistisch gewonnenen Normativitäten nicht zusammen bestehen können, ohne dass man auf die handlungskoordinierenden verbindlichen Normativitäten zurückgreift. Diese müssen nicht unbedingt materiale Werte sein. Dies betont Abel selbst auch unter Berufung auf Kant.² Gemeint sind spezifisch ethische Normativitäten, die sich von den faktisch vollzogenen Interpretationen unterscheiden und dort trotz ihrer divergierenden und vielleicht auch konfligierenden Vielzahl Handlungskoordinationen ermöglichen. Nach der Erläuterung der Ethik der Interpretation geht Abel zu einem Vergleich zwischen der Interpretationsethik und dem Demokratiegedanken über und zeigt in vielen Punkten, in welchem Verhältnis der interpretationsphilosophische Ansatz der pluralistisch demokratischen Ordnung zur Interpretationsethik steht. Abel hebt den die Demokratie charakterisierenden Übergang vom Wissen zur Ordnung von Meinungen hervor. Die Ordnung des Politischen ist nicht mehr als eine Ordnung der Wahrheit und des Wissens und Glaubens, sondern als eine Ordnung der Meinungen und Überzeugungen anzusehen (67). Da sie eine Ordnung freier und gleicher Interpretierender darstellt, braucht sie keine Begründung im strengen Sinne des Wortes. Im Gegensatz zur Diskursethik wird die Begründungsfrage durch die Möglichkeit abgelöst, sie zu verantworten (55). Ausgehend von Kants Maximenbegriff und der sich aus ihm ergebenden „Selbstbeschränkung des eigenen Anspruchs“ sowie der „Freigabe anderer Personen und Gruppen, anders zu sein als man selbst“ (70 f.), gelangt Abel zur interpretationsethischen Rechtsauffassung, die eine freiheitliche, gleichheitliche und pluralistische Demokratie charakterisiert. „Das Recht“, so der Interpretationsphilosoph, „hat seine friedens- und gerechtigkeitsstiftende Rolle nicht zuletzt darin, zu verhindern, daß ein partikulares Sollen einzelner Personen, Gruppen oder Institutionen die für ihr jeweiliges Welt- und Selbstverständnis kennzeichnende Grundüberzeugung, ihre individuellen ‚letzten‘ Gründe […] als allgemein verbindliche Instanz ausgeben und deren Durchsetzung erzwingen und legitimeren kann“ (71). Nicht nur entspreche diese Rechtsauffassung der Interpretationsethik, sondern
„In Anknüpfung an die Kantische Philosophie ist auch der Interpretationsphilosophie zufolge eine materiale Ethik der Werte und des Politischen, die ein materiales und zugleich allgemeines Kriterium angeben müßte, zum Scheitern verurteilt.“ (66)
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sie sichere auf der „Ebene gesellschaftlicher und politischer Organisation eine Rechtsordnung, die die Freiheit der Interpretationsverhältnisse gegenüber partikular sich aufspreizendem und moralisierendem Sollen sichert“ (71). Die Parallele zwischen Interpretationsethik und Demokratie zeigt offenbar deutlich, was die Interpretationsphilosophie als Beitrag zur Demokratiedebatte, insbesondere was die Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit einerseits und zwischen Freiheit und Rechtszwang (72) andererseits betrifft, leistet. Dennoch wirft sie mehrere Probleme auf, die wir nur noch kurz erläutern möchten. Zunächst ist hervorzuheben, dass die Interpretationsethik nicht jedweder beliebigen demokratischen Ordnung, sondern nur der pluralistisch liberal demokratischen Ordnung entspricht. Denn es gibt nicht nur einen Demokratiegedanken, sondern mehrere. Wenn Demokratie so etwas wie die Herrschaft des Volkes meint, dann ist schwer zu verstehen, weshalb sie unbedingt Freiheit und Gleichheit für alle bedeuten soll. Die Rede von Demokratie im Allgemeinen zur Verdeutlichung der Interpretationsethik würde keinen Sinn haben. Wie schon gesagt, die bekannte volonté générale von Rousseau ist ein demokratischer Gedanke, indem er in der Einheit des Volkes die legitime Trägerin der Herrschaft sieht. Derjenige, der gezwungen wird, frei zu sein, ist auch ein Interpretant, er darf aber nicht frei nach seiner Interpretation denken und handeln, also einfach nach seinen Überzeugungen leben. Der Zahlenmajorität soll er sich beugen. Da es um eine liberal pluralistisch demokratische Ordnung geht, versteht man auch, dass jeder sein Welt-, Fremd- und Selbstverständnis zum Ausdruck bringen kann, wie er will, aber auch dort nicht beliebig. Denn nicht jedes beliebige Selbstund Weltverständnis ist mit anderen Interpretationen kompatibel, was soviel heißt wie Unmöglichkeit der Koexistenz aller Interpretationen überhaupt. Auch Ehrverletzung, Hass, Eifersucht, Neid und Bosheit gehören genauso wie Liebe und Freundschaft in unsere Interpretationswelten und sogar in eine liberaldemokratische Ordnung. Die ersteren werden nicht in jeder Situation wie die letzteren beurteilt. Diese werden geschätzt und gefördert, jene aber wegen ihres destruktiven Charakters sowohl in Worten als auch in Taten nicht. Dies wirft zwei Fragen auf: 1. Inwieweit ist die Interpretationsethik als eine freilassende Ethik anzusehen? 2. Wird das Rechtsverständnis als Selbstzwang nicht dadurch erheblich eingeschränkt, dass nicht jede beliebige Interpretation von der Interpretationsethik akzeptiert werden kann? Die Charakterisierung der Interpretationsethik als eine freilassende Ethik könnte zweierlei bedeuten. Entweder ist damit gemeint, dass wir es mit einer Ethik zu haben, die jedem Individuum die Freiheit lässt, ethische Normen zu interpretieren, wie es will, und danach zu handeln, also mit einer Ethik ohne normativ verbindliche Forderungen – und da kann man fragen, warum überhaupt die Bezeichnung ‚Ethik‘ verwendet werden sollte. Oder aber jeder darf die nor-
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mativen Forderungen interpretieren, wie er sie versteht, und trotzdem der herkömmlichen Lebenspraxis in seinem Handeln folgen. Dies würde bedeuten, dass die Interpretationsethik nicht dazu zwingt, zu einer allgemein gültigen Interpretation von Handlungsnormen zu kommen und diese zu akzeptieren, sondern nur nach Üblichkeiten zu handeln, egal, was man denkt, geschweige denn, welche Normen man für richtig hält. Im ersten Fall hätten wir es also gar nicht mit einer Ethik zu tun; oder, anders gesagt, die Ethik würde dem naturwüchsigen, spontanen Verhalten entsprechen. Im zweiten Fall würde die Begründungsleistung jedem zufallen. Jeder würde versuchen, seine Handlungen nach der Interpretation seiner Welt zu erklären. Dann entsteht die Frage nach der Möglichkeit kollektiver Entscheidungen und Willensbildungen, die einer demokratischen Ordnung zugrunde liegen, denn selbst in einer pluralistischen Demokratie gibt es trotz Meinungs- und Gedankenfreiheit gemeinsame Entscheidungsprozesse, bei denen die Stimmen einiger Bürger ausscheiden müssen. In beiden Verständnissen ist die Demokratie – auch die liberal pluralistische Demokratie – mit der Interpretationsethik nicht kompatibel. Was die zweite Frage betrifft, so kann man sagen, dass in einem banalen Sinn jeder Rechtszwang als Selbstzwang erscheint, denn selbst unter Androhung von Sanktionen oder Strafe kann man immer noch ablehnen zu gehorchen. Der Märtyrer stellt das beste Beispiel dar, selbst wenn die Ehre des Märtyrers die Wahlalternative ist, die meist abgelehnt wird. Wer etwas unter Zwang akzeptiert, der hat auf irgendeine Weise sich selbst Zwang auferlegt oder auferlegen lassen. So gesehen, könnte man auch einen Rechtszwang als Selbstzwang betrachten. Jeder Zwang wäre dann letzten Endes ein Selbstzwang, der sich nicht von innen, nicht intern, sondern von außen, unter Gewaltandrohung ergibt. Gerade weil sie sich in gleichen Räumen und Zeiten befinden und in Berührung miteinander kommen könnten, können auch unsere kleinen ‚Interpretationswelten‘ aufeinanderprallen und, wenn nicht aktuell, dann wenigstens potenziell in Konflikt geraten. Aus den konfligierenden Interpretationen selbst lassen sich nicht die Mittel finden, um den Horizont des friedlich Erwartbaren zu sichern. Für die Interpretationsethik bedeutet dieser Umstand, dass für die verschiedenen Interpretationen die ermöglichenden Rechtsnormen nicht immer aus den konfligierenden Interpretationen selbst, nicht also von innen herkommen. Sie fungieren als Metanormen oder als Metaordnung von Interpretationen, als Bedingungen, die Interpretationen ermöglichen. Es sei denn man könnte ohne Zirkularität zeigen, dass die Bedingungen der Pluralität der Interpretationen selbstregulierend funktionieren. Problematisch erscheinen auch die ethischen Konsequenzen für den Demokratiegedanken, den Abel aus den Interpretationsverhältnissen gegen die Diskursethik ableitet.
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4 Für die Diskursethik ist Diskursivität charakteristisch und für die Interpretationsphilosophie die Interpretativität. Abel greift auf die von Apel und Habermas vertretene Diskursethik zurück und führt zuerst die Beschreibung an, die die beiden Autoren von der Diskursethik geben. „Habermas zufolge sind Diskurse ‚nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch in einen Lebenszusammenhang eingelassen, dessen eigentümlich zerbrechliche Faktizität in der Anerkennung diskursiver Geltungsansprüche besteht‘. […] Und Apel geht davon aus, daß menschliches In-der-Welt-sein immer schon sprachlich ausgelegt ist und daß die für die Lebenswelt konstitutive sprachliche Verbindung zwischen Personen letztlich intersubjektiv und diskursiv verfaßt sei.“ (SZI 343) Nach Abel zeichnet sich also die menschliche Lebenspraxis nicht durch Diskursivität, sondern durch Interpretativität aus. Daher sind Interpretativität und das Perspektivische als ‚Grundbedingung allen Lebens‘ anzusehen. Während die Diskursethik versucht, aus den verschiedenen Perspektiven durch Diskurs einen höchsten Punkt zu erreichen, stellt sich die Interpretationsethik die Aufgabe zu zeigen „wie sich Moralität und Ethik aus der Struktur der Interpretationsverhältnisse selbst ergeben“ (344). Gegen die Diskursethik insistiert Abel auf der Verankertheit der Moralität in den Interpretationsverhältnissen. „Die Pointe ist, daß wir offensichtlich immer schon über perspektivische Interpretations-Maximen verfügen, uns mithin implizit immer schon in der Sphäre der Moralität und in einer Ethik der Interpretationsverhältnisse befinden.“ (345) Daher braucht man im Gegensatz zur Diskursethik keine zusätzliche Begründung oder Letztbegründung. Denn es kommt darauf an, „das Implizite explizit zu machen und es auf Widersprüchlichkeit zu prüfen“ (ibd.). Ein weiterer wichtiger Punkt unterscheidet die Diskursethik von der Interpretationsethik: die Auslegung des Kategorischen Imperativs. Statt seine Maxime zum Zweck einer diskursiven Prüfung „allen anderen vorlegen“ (363) zu müssen, schlägt Abel vor, diese Prüfung zu individualisieren, also zu ‚monologisieren‘. Es geht nicht mehr um eine Universalisierung der eigenen Maxime, nicht darum die Norm zu erreichen, die alle in „Übereinstimmung als universale Norm anerkennen wollen“ (364). Die Interpretationsethik weist die von der Diskursethik vertretene intersubjektive Version des kategorischen Imperativs zurück und interpretiert ihn als kritischen Prüfstein der je eigenen subjektiven Interpretationsmaximen auf die Frage hin, „ob diese zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können“ (ibd.). Das hat zur Folge, dass meine Perspektive bleibt, weil es sich um ein subjektives Handlungsprinzip handelt. Gesucht wird nur eine kritische Prüfung der in meinen Maximen und Handlungen intern un-
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terstellten sinnlogischen Präsuppositionen auf Widerspruchsfreiheit. Die Akzeptanz durch andere bleibt aus. Dies macht aus den monologisierenden Interpretationen der eigenen Maximen soviel ‚Isotope‘, soviel von einander getrennte Handlungsnormen und -regeln, wie es Handelnde gibt. Durch diese Neuinterpretation des kategorischen Imperativs greift der Interpretationsansatz das an, was die Diskursethik selbst als Beitrag zur Weiterführung oder Revision der Kantischen Ethik leistet. Akzeptiert man die hier vorgeschlagene Rekonstruktion der kantischen Ethik und die Kritik an der Diskursethik, so bleiben wenigstens drei Grundfragen offen, die hier als Schlussbemerkung fungieren mögen. 1) Wie kommt eine Rechtsnorm in einer Demokratie zustande, wenn jeder von sich aus nicht die Übereinstimmung oder einen Konsens, sondern nur die Widerspruchsfreiheit seiner zu prüfenden Maxime sucht? Mit anderen Worten: Wie würde die demokratische Öffentlichkeit funktionieren ohne Konsens oder allgemein gültige Normen? 2) Wie überzeugend auch immer Abels Argumentation in einigen Teilen aussieht, so bleibt doch die Frage offen, welche sich auf die Art und Weise bezieht, wie sich die Moralität aus den faktisch existierenden Interpretationsverhältnissen, aus der verschiedenen vorfindlichen Handlungsgrammatik ergibt. Die Behauptung, dass sie schon in diesen Verhältnissen enthalten sei, ist noch lange kein Beweis dafür, dass sie tatsächlich dort enthalten ist. 3) Die Interpretationsphilosophie ist eine Art hermeneutischer Ansatz. Sie versucht, die Hintergründe menschlicher Lebenspraxis und Lebensverhältnisse zu beleuchten. Insofern geht es um eine Erklärung dessen, was immer schon in unseren Lebensverhältnissen vorhanden ist. Es ist aber zu bezweifeln, ob die Erklärung, dass in den Interpretationsverhältnissen die Gebote und Verbote schon enthalten seien, hinreichend ist, um mich zu einem bestimmen Handeln zu leiten, besonders wenn ich gerade diese Verhältnisse in Frage stelle. Braucht man nicht zur Veränderung gestörter, mir als ungerecht erscheinender Verhältnisse, Argumentation, um wieder gerechte Verhältnisse herbeizuführen? Wenn ja, sind wir dann nicht wieder, wenn nicht näher bei der Diskursethik, so doch wenigstens bei der Begründung? Haben wir es hier nicht eher mit zwei berechtigten Perspektiven, der Diskursethik und der Interpretationsethik, einer begründenden und einer erklärenden Perspektive, zu tun? Muss die Interpretationsethik hier nicht die ‚Lektion der Interpretation‘ auf sich selbst anwenden? Denn wenn es um die Kritik am Essentialismus und am Dogmatismus allein geht, dann scheint der diskursethische Ansatz nicht getroffen. Die diskursethische Normbildung geschieht, wie bekannt, durch Argumentation, und die durch den Diskurs gewonnenen Normen basieren auf einem Fallibilismus. Sie dürfen zu jeder Zeit in Frage gestellt werden. So ge-
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sehen, zielen die beiden Kritikpunkte am Essentialismus und Dogmatismus nicht auf die Diskursethik ab. Auch dem von Abel kritisierten politischen Dogmatismus und politischen Relativismus steht die Diskursethik fern und bleibt damit von seiner Kritik unberührt.
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1997: Interpretationsethik und Demokratie, in: Simon, Josef (Hg.): Orientierung in Zeichen. Zeichen und Interpretation III, Frankfurt a. M., S. 41 – 79. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Aristoteles 1969: Nikomachische Ethik, Übersetzung u. Nachwort v. F. Dirlmeier, Stuttgart; [Nik. Eth.]. Rousseau, Jean-Jacques 1977: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, hg. u. übers. v. H. Brockard / E. Pietzcker, Stuttgart.
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Die Lebenswelt als Fundierungsinstanz Replik zum Beitrag von Lukas K. Sosoe Lukas K. Sosoe ist mit den Themen der ZuI-Philosophie nicht nur im engeren Feld seines Beitrags zur interpretationsphilosophischen Ethik und politischen Philosophie (und des näheren zum Demokratiegedanken), sondern insgesamt bestens vertraut. Sein Beitrag ist gedanklich und in seiner formalen Darstellung luzide und prägnant. Sosoe greift den Ansatz der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] positiv auf, gibt treffliche Rekonstruktionen der Interpretationsethik und der mit ihr verbundenen politischen Philosophie, um dann an wichtigen Punkten in eine Diskussion einzutreten. Angemerkt sei, dass ich im Folgenden nicht nur von ‚Interpretationsethik‘ spreche. Das ist der Terminus, den ich in den Büchern Interpretationswelten (Iw), Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI) und Zeichen der Wirklichkeit (ZdW) und in dem Aufsatz Interpretationsethik und Demokratie (Abel 1997) verwendet habe. Vor dem Hintergrund der internen Verschränkung von Interpretation und Zeichen werde ich von ‚Zeichen- und Interpretationsethik‘ sprechen, so wie ich diesen Ausdruck in jüngeren Publikationen und Vorträgen verwandt habe (insbesondere in Abel 2010 und 2011). Im Ausgang der Aspekte, die Sosoe in seinem Beitrag thematisiert, möchte ich die Position der ZuI-Philosophie unter den folgenden sechs Punkten verdeutlichen: 1. Die interne Begründung der ZuI-Ethik. 2. ZuI-Ethik als freilassende Ethik. 3. ZuI-Philosophie und Demokratiegedanke. 4. Unterschiede zwischen der ZuIPhilosophie und der Diskurstheorie. 5. Ethik und Politische Philosophie im Stufenmodell der ZuI-Philosophie. 6. Die Lebenswelt als Fundierungs- und Begründungsinstanz und das Prinzip des ‚reflektierten Gleichgewichts‘.
1 Die interne Begründung der ZuI-Ethik Lukas Sosoe sieht sehr richtig, dass ich die Wurzeln einer ZuI-Ethik in den ZuIProzessen selbst, gleichsam endogen gegeben, nicht exogen eingeführt sehe. Sosoe dagegen möchte den „Übergang“ (Sosoe-Beitrag, Kap. 3) von den Interpretationen zur Interpretationsethik mit einer eigenen und quasi-externen Begründung untermauert sehen. Die Pointe der ZuI-Ethik ist jedoch, dass wir es im Falle der ZuI-Ethik gar nicht mit einem Übergang, sondern vielmehr mit einem Rückgang in die normativen https://doi.org/10.1515/9783110522280-045
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Aspekte der ZuI-Prozesse selbst zu tun haben. Hinter dieser Sichtweise steht die Annahme, dass ‚gute‘ Begründung der Ethik stets interne (nicht externe) Begründung ist. Zur Verdeutlichung dieses grundlegenden Punktes möchte ich die intern ethische Verfassung der ZuI-Prozesse kurz erläutern. Die Rede von ZuI-Ethik zielt auf diejenigen Implikationen, die sich in puncto Moralität und Ethik intern und präsuppositiv aus dem Umstand ergeben, dass unsere Verhältnisse zur Welt, zu anderen Personen und zu uns selbst als in Zeichen verfasste Interpretations-Verhältnisse charakterisiert werden können (vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlicher Abel 2010). Eine der dieser Charakterisierung innewohnenden Thesen ist, dass wir aufgrund dieser zeichen-verfassten und interpretatorischen Natur unseres Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses und vor allem unserer Praxis des Handelns, Sprechens und Denkens intern immer schon in Normativitäten verstrickt sind, die es auszubuchstabieren gilt. In den ZuI-Prozessen geht es um Vorgänge des Organisierens, Deutens, Auslegens, Präferenzierens, Hierarchisierens, Konkurrierens, Dominierens, Orientierens, Hervorhebens, Tilgens, Bildens von Koalitionen, um Differenzen, um Wettbewerb und Konkurrenz von Interessen, kurz um normativ bzw. durch Normen bestimmte und auf Normen bezogene Aktivitäten. In diese Normativität müssen wir nicht erst noch durch ein externes und zusätzliches materiales Argument hineinversetzt werden. Sofern wir im Leben und im Triangel der Ich-WirWelt-Verhältnisse sind, befinden wir uns schon längst in der Normativität. Die Frage ist dann, welche ethischen Implikationen diese Situiertheit mit sich führt. Entscheidend sind an dieser Stelle vor allem zwei Punkte. Zum einen (a), dass keiner von uns endlichen Geistern im Besitz von so etwas wie ‚Der Einen Essentialistischen Metaphysischen Richtigkeit‘ oder auch nur im Besitz einer privilegierten Strategie zu deren Erlangung ist. Zum anderen (b), dass die Fülle des Lebens, wie es sich in den komplexen und durchaus konfligierenden ZuI-Prozessen vollzieht, aufrechtzuerhalten und den Menschen nach Möglichkeit die Entfaltung ihrer humanen Potentiale zu ermöglichen ist. Aus meiner Sicht sind diese beiden Befunde aus sich heraus ethisch äußerst relevant. Sie haben den Charakter von Fundierungs- und Begründungsinstanzen. Ein Verstoß gegen sie würde im ersten Falle Dogmatismen und Fanatismen metaphysisch in dem Sinne legitimierbar machen, dass andere ZuI-Horizonte, des näheren andere Personen und Kulturen unter den je eigenen Horizont gezwungen werden könnten, koste es, was es wolle. Auf diese Weise aber wäre die lebendige und irreduzible Pluralität der unser Leben ebenso wie die Kulturen charakterisierenden ZuI-Prozesse stillgelegt, im Grenzfall zerstört. Der ethische Essentialismus ist selbst-destruktiv hoch angesetzt. Er will zu viel und führt doch gerade nicht zu einer Stärkung der Sittlichkeit der Lebensverhältnisse.
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Im zweiten Falle würde ein Verstoß zu verkümmerten und letztlich eindimensionalen, gleichsam toten Lebensverhältnissen führen. Ein solcher Verstoß würde die Grundbedingung des Lebens, die Vielfalt der ZuI-Prozesse nämlich (einschließlich der darin konkurrierenden und konfligierenden Interpretationen) selbst stilllegen und letztlich zerstören. Auch hier handelte es sich um Selbstdestruktion. Gegeben die Pluralität der ZuI-Prozesse als Grundbedingung des Lebens und gegeben die Sinnhaftigkeit der Entfaltung der humanen menschlichen Potentiale, könnte man geradezu sagen, dass die Verstöße nicht nur ‚selbst-destruktiv‘, sondern, begrifflich gesprochen, ‚selbst-widersprüchlich‘ sind. Frei von Selbstwidersprüchen zu sein, ist in der Philosophie seit alters, von Sokrates über Kant bis heute, das Grundmerkmal der Vernunft, mithin auch ein entscheidender Prüfstein in Sachen Ethik, des näheren in puncto Verallgemeinerungsfähigkeit moralischer Maximen. Aus Sicht der ZuI-Philosophie wäre es ein erstes Zeichen von Vernünftigkeit, die beiden angeführten Dimensionen als Fundierungs- und Begründungsinstanzen der ZuI-Ethik anzusehen. Entscheidend ist aus meiner Sicht also die Charakterisierung dieser Wurzeln der ZuI-Ethik als ‚interner‘ und ‚präsuppositiver‘ Wurzeln. Unter kritischem Vorzeichen kann es nicht mehr um externe (und über ein metaphysisches Call Center zugängliche und abrufbare) Letztgrundlagen gehen, die zu den basalen ZuIProzessen von außen hinzutreten, quasi von außen importiert werden. Letzteres wäre eine Art Offenbarungs-Ethik oder eine Ethik aus letzten metaphysischen Gründen. Erstere Sicht enthält dagegen die Aufforderung, die den ZuI-Prozessen selbst innewohnende Normativität und in diesem Sinne eine immanente Ethik mit interner Begründung auszubuchstabieren. Man sieht leicht, dass ich auch in Sachen Ethik in dem Sinne eher Aristoteliker bin, dass es nicht allein um Begründung der Ethik aus reiner Vernunft, sondern zugleich auch um den Rekurs auf die in die Lebenswelt, mithin in das lebensweltliche Triangel von Ich-Wir-Welt bereits eingebauten Normen und Regeln geht, die als Begründungsinstanzen fungieren können. Dieser Punkt bedarf der Erläuterung. Ich werde sie unten in Abschnitt 6 zu geben versuchen. Mit der skizzierten internen Begründung der ZuI-Ethik glaube ich eine positive Antwort auf die von Sosoe gestellte Frage gegeben zu haben, ob man „ohne Zirkularität“ zeigen könne, dass „die Bedingungen der Pluralität der Interpretationen selbstregulierend funktionieren“ (Kap. 3). Der begründende Rückgang-derInterpretationen-in-sich und um ihrer selbst sowie um der Aufrechterhaltung der vielfältigen und reziproken ZuI-Prozesse willen scheint mir genau diesen Nachweis zu erbringen. Dabei unterstelle ich natürlich, dass dieser Rückgang nicht in einen vitiösen Zirkel, sondern vielmehr in jene gute Zirkularität führt, die für eine
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jede interne Begründung der Ethik (anders als in Metaethiken und Offenbarungsethiken) entscheidend ist. Der Witz der ZuI-Philosophie ist: (a) dass ich ganz auf die Internität (und in gewisser Weise auch auf eine innere Verbindung von Genese und Geltung) setze und daher keine wie moderat auch immer gedachte externe rationalistische oder naturalistische Begründung in Anspruch nehmen möchte; (b) dass die Normativität gleichwohl nicht kausal aus den ZuI-Prozessen bzw. aus den als Ursachen vorausgesetzten Interpretationen als eine Wirkung abgeleitet wird; (c) dass ich in dem dargelegten Sinne der ZuI-internen Präsuppositionen keinen Übergang von den Interpretationen zu den in diesen bereits gegebenen Normativitäten benötige (wie Sosoe anzunehmen scheint); (d) dass die normativen Strukturen im Zuge des Hineinreflektierens in die internen Normativitäten der ZuI-Prozesse selbst verdeutlicht werden können; (e) dass ‚Begründung‘ hier nicht im Sinne einer rationalistischen Deduktion von einem höchsten Punkt, sondern vielmehr als ein Rückgang in die Lebens- bzw. ZuI-Welt als Fundierungs- und Begründungsinstanz verstanden werden kann (was ich in Abschnitt 5 näher erläutern werde); und (f) dass wir in ZuI-Verhältnissen stets bereits auf die ZuI-Horizonte anderer Personen und ihrer Andersartigkeit und Alterität (einschließlich expliziter Kollisionen und Konflikte) bezogen und damit bereits auch in Fragen der Anerkennung verstrickt und in diesem Sinne sinnlogisch wie ethisch stets bereits auf eine Form der Transsubjektivität verpflichtet sind. Dass in puncto Anerkennung und Transsubjektivität des näheren dann der Unterschied zwischen der ‚sinnlogischen‘ und der ‚ethischen‘ Anerkennung wichtig ist, habe ich an anderer Stelle näher ausgeführt (siehe Abel 2010: Teil I). Der Punkt sei hier nur kurz angesprochen, da Lukas Sosoe, so vermute ich, die auf die Anerkennungs-Problematik bezogenen Probleme in der ZuI-Philosophie noch nicht ausbuchstabiert sieht. Die rein sinnlogische Abhängigkeit und Transsubjektivität (im Sinne der reziproken Bezogenheit und Abhängigkeit einer jeden eigenen Interpretation auf unterschiedliche andere Interpretationen) garantiert noch keine ethische Sittlichkeit der ZuI-Verhältnisse. Darüber hinaus wäre ohne die Unterscheidung von sinnlogischer und ethischer Anerkennung nicht einsichtig zu machen, dass wir ethische Geltungsansprüche einer diskursiven Überprüfung und einer expliziten Kritik unterziehen können und müssen. Unter kritischem Vorzeichen ist und muss Ethik stets mit der Möglichkeit der Kritik an gegebenen Werten und Normen korreliert werden, mithin über ein kritisches normatives Potential verfügen. Die wichtige Anerkennung (und nicht bloß Toleranz) der anderen Personen und Kulturen ist zugleich auch in die ethische Frage verstrickt, wo gegebenenfalls Grenzen der Anerkennung zu ziehen sind, etwa bei offensichtlichen Inhumanitäten und Verletzungen der Menschenwürde und, im Rahmen der durch den Staat garantierten Rechte, der Menschenrechte (vgl. meine
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Replik auf Hans Jörg Sandkühler). Solche Grenzen können in der ZuI-Philosophie deshalb entschieden gezogen werden, weil anderenfalls die beiden dargelegten Grundbedingungen des Lebens (Aufrechterhaltung der Pluralität der ZuI-Prozesse, Möglichkeiten der Entfaltung humaner menschlicher Potentiale) zerstört würden.
2 Zeichen- und Interpretationsethik als freilassende Ethik Sosoe fragt, inwieweit die Interpretationsethik, wie ich behauptet habe, als eine freilassende Ethik angesehen werden kann. Da dieser Aspekt von grundsätzlicher Relevanz ist, insofern die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Moral, Kantisch gesprochen von Freiheit und Gesetz, zur Debatte steht, seien hier einige wenige Erläuterungen erlaubt. Sosoe bringt zwei unterschiedliche Deutungen der Rede von der ‚freilassenden Ethik‘ ins Spiel. Entweder handele es sich um eine „Ethik ohne normativ verbindliche Forderungen“ oder jeder von uns dürfe „die normativen Forderungen interpretieren, wie er sie versteht“ und handele „nur nach Üblichkeiten“, unabhängig davon, ob er diese für richtig halte oder nicht. Letzteres habe zur Folge, dass die ZuI-Ethik „nicht dazu zwingt, zu einer allgemein gültigen Interpretation von Handlungsnormen zu kommen“ (Kap. 3). Keine dieser beiden Deutungen trifft jedoch die Pointe der ZuI-Ethik. Für die ZuI-Ethik ist die Figur kennzeichnend, dass sie den anderen Personen ihre anderen Zeichen und Interpretationen, mir aber meine Zeichen und Interpretationen sowie auch meine Interpretationen der anderen Zeichen und Interpretationen belässt. Indem die Interpretierenden sich dies wechselseitig zugestehen und sich einander in ihren Unterschiedenheiten, Eigenarten, Fremdheiten oder gar Konflikten und Gegensätzlichkeiten anerkennen und in solcher Anerkennung von der Idee der (im Grenzfall mit Zwang verbundenen) Subsumption der anderen und fremden Horizonte unter die je eigenen absehen, sind sie gegeneinander frei. Sie weisen sich gleichsam wechselseitig ihre individuellen und individuierenden Freiheitsstellen zu. In diesem Sinne handelt es sich um freilassende Ethik. In ihr geht es um die Anerkennung des Eigenwertes und der Individualität der Motive, Antriebe und Gründe des Handelns von Personen in intersubjektiven Zusammenhängen und darum, dass, trotz der Verpflichtungen auf die Intersubjektivität des Handelns, andere Personen etwas anderes wollen können und in vielen Fällen auch tatsächlich wollen als man selbst.
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ZuI-Ethik ist nicht-subsumierende und nicht-deduzierende, wohl aber Ethik transsubjektiver Anerkennung auch unterschiedlicher, konkurrierender und konfligierender Einstellungen und Interessen, unterschiedlicher Interpretationen. Solche Anerkennung ist vor allem deshalb geboten, weil für den Fall, dass sie nicht erfolgt, die das Leben und unser Handeln, Sprechen und Denken ausmachenden ZuI-Prozesse selbst zerstört würden (was, auf der begrifflichen Ebene, eine selbst-widersprüchliche, mithin unvernünftige Einstellung und Vorgehensweise wäre). Dieser Punkt unterläuft die beiden Deutungen, die Sosoe im Blick auf die Rede von freilassender Ethik ins Spiel gebracht hatte. Der skizziert spezifische Sinn solcher Rede schließt eben nicht nur nicht aus, sondern ein, dass wir uns (um des flüssigen Funktionierens der unser Leben, Sprechen, Denken und Handeln ausmachenden ZuI-Prozesse willen) auf orientierende Interpretationen von Handlungsnormen ebenso einzulassen haben wie auf trans- und intersubjektiv mit anderen Personen erfolgende Entscheidungen und gemeinsame Willensbildungen. Die Pointe der ZuI-Ethik ist gerade, dass es in ihr um beides zugleich geht, um nicht-subsumierende und gleichwohl gemeinsame Entscheidungsprozesse, die in diesem Sinne Willensbildungsprozesse sind, in denen nicht aus letztbegründendem Zwang, sondern aus Freiheit Verpflichtungen übernommen werden. Hier tritt ein dreifach positiver Zusammenhang zwischen der ZuI-Ethik und der Kantischen Ethik zutage, den ich gern kritisch gegenüber den Anmerkungen von Lukas Sosoe ins Feld führen möchte. Zunächst (a) ist zu betonen, dass die ZuI-Ethik sehr gut zu der Kantischen Auffassung passt, dass es in Sachen Prüfung einzelner subjektiver Maximen bzw. einzelner subjektiver Interpretationen auf ihre Verallgemeinerbarkeit entscheidend auf die Frage ankommt, ob eine subjektive Maxime bzw. Interpretation, die meinen Willen bestimmt, so die berühmte Formulierung des Kategorischen Imperativs, „jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (KpV § 7). Sodann (b) ist mit Kant zu betonen, dass solche Verallgemeinerungen nicht auf dem materialen Gehalt einer Maxime bzw. Interpretation beruhen können. Materiale Gehalte werden (egal wie menschenfreundlich und wie sehr sie auf das Glück anderer Personen ausgerichtet sein mögen) nicht zugleich allgemeines Gesetz sein können. Letztlich können die Auffassungen über bestimmte materiale Gehalte (z. B. darüber, was unter Glück zu verstehen ist) zwischen Personen und Kulturen himmelweit auseinander liegen. Möchte eine partikulare materiale Interpretation sich um jeden Preis durchsetzen und alle anderen Interpretationen unter ihren eigenen materialen Horizont zwingen, so hätte dies das Ende des lebendigen Funktionierens der das Leben ausmachenden ZuI-Prozesse zur Folge.
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Das jedoch kann nicht einmal im Interesse einer ganz und gar egoistischen Interpretation liegen. Selbst die egoistische Interpretation weiß, dass sie die anderen nötig hat. Schließlich (c) gilt nicht nur in der Kantischen Ethik, sondern eben auch in der ZuI-Ethik, dass sich der Begriff der Freiheit und der einer allgemeinen praktischen Verbindlichkeit nicht nur nicht ausschließen, sondern wechselseitig voraussetzen. Freilassende ZuI-Ethik heißt daher keineswegs, dass es keine allgemeinen Handlungsnormen, keine mit anderen Personen gemeinsamen Entscheidungsprozesse und Willensbildungen gibt. Dies ausschließen zu wollen hieße, die das Leben ausmachenden ZuI-Prozesse selbst zu zerstören. Die in dem skizzierten Sinne freigelassenen Interpretierenden und ihre Interpretationen sind in der Lage, autonom zu sein, sich mithin aus freien Stücken selbst ein Gesetz zu geben. Alles kommt freilich auf den Status der beiden Begriffe (Freiheit und Verbindlichkeit/Gesetz) an. In der ZuI-Ethik sind beide unabdingbar erforderlich, um nicht das menschliche Zusammenleben selbst (und darüber hinaus das Leben mit anderen Kreaturen, mit den, wie es heute gern heißt, ‚nonhuman animals‘, und mit der Natur) zu riskieren. Aber bei dieser Position handelt es sich weder um einen Essentialismus noch um einen Relativismus von Freiheit und praktischethischer Verpflichtung. Die ZuI-Ethik stellt einen Versuch dar, Normativität jenseits der Dichotomie und des Würgegriffs von Essentialismus und Relativismus zu konzipieren. Welche ausgezeichnete Rolle dabei aus meiner Sicht der Lebenswelt als Fundierungs- und Begründungsinstanz sowie dem Prinzip des ‚reflektierten Equilibriums‘ zukommt, werde ich unten in Abschnitt 6 vorstellen.
3 Zeichen- und Interpretationsphilosophie und Demokratiegedanke Trefflich rekonstruiert Sosoe das Verhältnis der ZuI-Ethik zum Demokratiegedanken. In den Verhältnissen des Triangels von Ich-Wir-Welt geht es um die fragilen Verhältnisse im Prinzip freier und gleicher Zeichenverwender und Interpretierender. Dies hat Konsequenzen nicht nur für die Ethik, sondern auch für die Frage des Politischen. Der zeichen-bezogenen und interpretationistischen Verknüpfung von Freiheit und Gleichheit im Handeln, Sprechen und Denken wäre auf der Ebene der Organisation des politischen Systems eine Ordnung affin, die diese beiden Komponenten, Freiheit und Gleichheit, zu realisieren sucht. Genau dies jedoch ist das Kennzeichen derjenigen Form des politischen Systems, die wir freiheitliche und pluralistische Demokratie nennen.
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Sehr richtig sieht Sosoe, dass für mich „nicht jedes Demokratieverständnis“ (Kap. 3) akzeptabel ist, insbesondere nicht das von Rousseau. Gegen Rousseaus ‚Gemeinwillen / volonté générale‘ (im Unterschied zur ‚volonté de tous‘) habe ich mich an anderer Stelle deutlich ausgesprochen. Rousseaus Vorstellung ist, dass derjenige, der sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der politischen Körperschaft gezwungen werden kann, diesem Willen zu folgen. Diese Konzeption und ihre praktisch-politischen Konsequenzen für denjenigen, der nicht bereit ist, dem Gemeinwillen zu folgen, ist unvereinbar mit dem freien und gleichen Spiel der Kräfte in den ZuI-Prozessen, die unser Leben und auch unsere gesellschaftliche und politische Wirklichkeit ausmachen. Es gehört zur inneren sinnlogischen ebenso wie zur ethischen Natur der ZuI-Prozesse im Raum der Gesellschaft und der Politik, dass Minderheiten im Prinzip zu Mehrheiten werden können und dass genau diese Möglichkeit systematisch offen gehalten werden muss. Vor diesem Hintergrund mag es nicht überraschen zu hören, dass das Demokratieverständnis, das ich im Kopf habe, nicht ein materiales, sondern ein prozedurales und formales ist. Was heißt das? Sosoe versteht Demokratie als eine „auf Volkssouveränität gegründete Herrschaftsform“ und als „die Herrschaft des Volkes“ (Kap. 3). Die Rede von der Herrschaft des Volkes scheint mir noch in der Nähe einer materialen Qualifizierung zu liegen und möglicherweise auch anfällig für das skizzierte Rousseausche Syndrom zu sein. Sosoe akzentuiert diese Qualifizierung im Lichte seiner Frage, ob es nicht, wenn Demokratie so etwas wie die Herrschaft des Volkes meine, „schwer zu verstehen [sei], weshalb sie unbedingt Freiheit und Gleichheit für alle bedeuten soll“ (ebd.). In dem Maße nun, in dem ich die Komponenten Freiheit und Gleichheit im ethischen wie im politischen Bereich stark mache, rückt für mich ein prozedurales, ein formales, jedenfalls ein nicht-materiales Demokratieverständnis, ein Verständnis der Demokratie als Verfahren ins Zentrum. Folgt man dieser Charakterisierung des Demokratiegedankens, dann kann das von Sosoe markierte Problem nicht mehr auftreten. Das Verständnis der freiheitlichen und pluralistischen Demokratie als Organisation prozeduraler Verfahren (und der an diese gekoppelten Legitimität der Herrschaft auch zum autoritativen Gebot) verkörpert aus Sicht der ZuI-Philosophie genau denjenigen Typus von Herrschaftsform, der mit der irreduziblen Pluralität der ZuI-Prozesse nicht nur zusammenpasst, sondern dieser affin und gleichsam familienverwandt ist. Und natürlich schließt die Rede von ‚Freiheit und Gleichheit für alle‘ auch den Dissens, die Konkurrenz, das Disagreement, die Opposition, den Konflikt bis hin zu kontradiktorischen Unvereinbarkeiten zwischen unterschiedlichen Interpretationen ein. Das Problem der Begründung sehe ich mithin vor allem darin, Verfahren auszuzeichnen, die nach Menschenmaß und bis auf weiteres zu einem subjektiv
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begründeten Sollen führen können. Das gilt für die Ethik wie für den Demokratiegedanken. In der Bereitstellung eines solchen Verfahrens, durch das die Konflikt- und Störfälle in puncto Kommunikation, Kognition und Kooperation beseitigt werden können, kann man den humanen Kern der praktischen Philosophie, speziell der ZuI-Ethik und des Demokratiegedankens sehen.
4 Unterschiede zwischen der Zeichen- und Interpretationsphilosophie und der Diskurstheorie Sosoe möchte die Diskurstheorie und speziell die Diskursethik ein Stück weit gegen meine Kritik in Schutz nehmen (s. Kap. 4). Meine Kritik muss hier nicht im Einzelnen wiederholt werden. Um jedoch Sosoes Einsatzpunkt zu verstehen, müssen zwei Grundüberlegungen kurz in Erinnerung gerufen werden.¹ (a) Der Diskurstheorie zufolge sind Diskurse „systematisch in einen Lebenszusammenhang eingelassen“ (Habermas 1973: 152 f.). Und Karl-Otto Apel geht davon aus, dass menschliches In-der-Welt-sein immer schon sprachlich ausgelegt ist und dass die für die Lebenswelt konstitutive sprachliche Verbindung zwischen Personen letztlich diskursiv verfasst ist (vgl. Apel 1973). In der ZuI-Philosophie dagegen erscheint die menschliche Lebenspraxis primär und basal nicht durch Diskursivität (die ohne Frage auf einer späteren und kognitiven Ebene eine überaus wichtige Rolle spielt), sondern durch ihre Zeichen- und Interpretationsverfasstheit, durch ihre Interpretativität charakterisiert. Rationale Diskursivität ist aus meiner Sicht nicht Bestandteil der Ersten Natur, sondern der Zweiten Natur, im Sinne einer Disposition, die wir ergreifen können oder auch nicht und für deren Ergreifen ich mit allem Nachdruck plädiere. Interpretativität dagegen sehe ich schon als zur Ersten Natur des menschlichen Lebens gehörig und fasse den ZuI-Charakter als die basale Qualifizierung des menschlichen In-der-Welt-seins auf (vgl. dazu meine Repliken auf Emil Angehrn, Walter Grasnick und Andrzej Przylebski). Diskursivität ist, so die zugespitzte These, genealogisch von der umfänglicheren und basaleren Interpretativität abhängig, nicht umgekehrt. Sie kann als ein bestimmter Zweig und Typus der Interpretativität angesehen werden, als derjenige Zweig und Typus, der sich dann im Logischen Raum der Gründe (Sellars) zum Zuge bringt.
Zum Folgenden vgl. die ausführlichen und gegenüber früheren Ausführungen deutlich erweiterten Überlegungen in (Abel 2010).
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(b) In der Diskursethik Habermasscher Prägung wird der Kategorische Imperativ Kants als eine Resultate produzierende Universalisierungsregel aufgefasst, und zwar in Bezug auf das Verhältnis von bloß subjektiven partikularen zu intersubjektiv universalisierbaren Interessen. Habermas hat eine „Umformulierung“ des Kategorischen Imperativs vorgeschlagen, derzufolge jeder einzelne seine Maxime zum Zwecke einer diskursiven Prüfung „allen anderen vorlegen“ müsse. Dies bedeute, so Habermas, eine Verschiebung des Gewichts „von dem, was jeder (einzelne) ohne Widerspruch als allgemeines Gesetz wollen kann, auf das, was alle in Übereinstimmung als universale Norm anerkennen wollen“ (Habermas 1983: 77). Diese Deutung gerät in eine Reihe von Schwierigkeiten. Entscheidend ist, dass man – so die These des ZuI-Ethikers – den Kategorischen Imperativ nicht als eine intersubjektive Regel der Universalisierung, sondern als einen kritischen Prüfstein für die je eigenen subjektiven Handlungs- und Interpretationsmaximen im Hinblick auf die Frage verstehen sollte, ob diese zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können. Aufgrund der skizzierten sinnlogischen und ethischen Verschränkung mit anderen Personen schließt diese Prüfung andere Personen mit ein. Aber das heißt natürlich nicht, dass nun der DiskursGemeinschaft der Status einer säkularisierten und quasi-metaphysischen Instanz der Entscheidung eingeräumt wird. Unter kritischem Vorzeichen kann die Prüfung unter Einbeziehung der anderen Personen nur in der Sphäre der Subjektivität getroffen, nicht jedoch in die der Intersubjektivität ausgelagert werden. Sosoes Verteidigung der Diskursethik gegenüber meiner Kritik besteht nun vor allem in der Frage, ob ich mit dem skizzierten Akzent auf der Prüfung der Maximen und Interpretationen auf Widerspruchsfreiheit nicht zu bloß „monologisierenden Interpretationen der eigenen Maximen“ gelange, was Sosoe zufolge dazu führen könnte, es mit so vielen „getrennten Handlungsnormen und -regeln“ zu tun zu haben, „wie es Handelnde gibt“ (Kap. 4). Diesen Fragen möchte ich mit den folgenden vier Thesen begegnen. (a) Die Prüfung auf Widerspruchsfreiheit bzw. auf Selbstwidersprüchlichkeit ist keine Kleinigkeit und keineswegs immer eine leichte Aufgabe. Widersprüche liegen nicht immer offen zutage. Aufzudecken, ob eine Maxime bzw. Interpretation selbstwidersprüchlich ist und sich selbst zerreibt, sich „selbst vernichtet“ (KpV § 4), mithin der ‚Einstimmigkeit mit sich‘ entbehrt und sich damit als unvernünftig erweist, ist der Kern des für die Philosophie so wichtigen Geschäfts des Logon Didonai, des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens. (b) Es ist durchaus bemerkenswert, dass wohl niemand von uns als selbstwidersprüchlich und in diesem Sinne als irrational dastehen mag. Die Beseitigung von Selbstwidersprüchen liegt uns am Herzen.
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(c) Über die Frage rein logischer Selbstwidersprüchlichkeit hinaus bezieht die ZuI-Philosophie in die Prüfungen subjektiver Maximen und Interpretationen nachdrücklich auch Kohärenzanforderungen ein. Mit ihnen ist nicht nur formale Konsistenz und Gültigkeit über Zeiten, Kontexte und Situation hinweg gemeint. Mit der Rede von Kohärenz beziehe ich in die Prüfung das Verhältnis einer subjektiven Maxime bzw. Interpretation zu den anderen Maximen bzw. Interpretationen unseres Corpus und Netzwerks an Maximen, Überzeugungen und Interpretationen ebenso ein wie die Bedingungen der empirischen Gültigkeit, insbesondere die Passgenauigkeit zu den Strukturen unserer Lebenswelt und Lebenspraxis, die als Fundierungs- und Begründungsinstanzen fungieren. Da die Kohärenzanforderungen nicht einfach nur inner-subjektive Kohärenzen meinen, sondern stets auch die Frage einbeziehen, ob die anderen Personen die Dinge auch so sehen wie ich oder nicht, handelt es sich bei den ZuI-Kohärenzanforderungen keineswegs um eine bloß monologisierende Interpretation seitens eines partikularistischen Subjekts. Es handelt sich zugleich um inter-individuelle und inter-personale, um intersubjektive Kohärenz. Einer allein und nur für sich kann diesen Kohärenzanforderungen nicht entsprechen. Die anderen Subjekte und Personen sind immer schon mit im Spiel. (d) Die Unterstellung der Widerspruchsfreiheit im Handeln, Sprechen und Denken macht konsistentes und kohärentes Denken überhaupt erst möglich. Anderenfalls wüssten wir nicht, was wir von den Handlungen und Gedanken der anderen Person zu halten haben und wie wir unser eigenes Verhalten auf diese überhaupt einstellen könnten, um im Handeln, Sprechen und Denken anschlussfähig zu sein. In diesem Sinne ist die Unterstellung der Widerspruchsfreiheit ein wichtiges Ingredienz der erfolgreichen, flüssig fortsetzbaren und anschlussfähigen Kommunikation, Kognition und Kooperation.
5 Ethik und Politische Philosophie im Stufenmodell der Zeichen- und Interpretationsphilosophie In meinen bisherigen Ausführungen habe ich noch nicht auf das 3-Stufen-Modell der ZuI-Philosophie hinsichtlich der Themenfelder Ethik und Politische Philosophie zurückgegriffen. Dies ist jedoch mit dem Ziel einer präziseren Verortung der einzelnen Fragen und Probleme innerhalb des Ansatzes der ZuI-Philosophie möglich und geboten. Stenogrammartig seien hier dem 3-Stufenmodell entsprechend drei solcher Verortungen kurz angeführt.
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(a) ZuI3-Ebene: Offenkundig sind subjektive moralische Maximen und Interpretationen ebenso wie konkrete politisch-staatliche Regelungen und Gesetze der Ebene 3 von ZuI-Aktivitäten zuzuordnen. Dabei ist solange alles in Ordnung, wie die Maximen, Regelungen und Gesetze flüssig und anschlussfähig funktionieren, z. B. die subjektiven Maximen und die politisch-staatlichen Gesetze ohne Konfliktund Störfälle funktionieren. (b) ZuI2-Ebene: Treten auf der Ebene 3 jedoch Konflikte, Störfälle, Konkurrenzen, Dissens und Disagreement auf, dann gehen wir zurück in die Ebene 2, in Sachen Ethik und Politik in die Welt der Konventionen, Sitten und Gebräuche, der Gewohnheiten, der im Verhalten verankerten Gleichförmigkeitsmuster und Üblichkeiten, der in einer gegebenen Gemeinschaft und Gesellschaft geltenden Normen, Werte und Gesetze. Im Bereich des Politischen kann dies etwa ein Rückgang in diejenigen Normen und Regelungen sein, die sich in allgemeinen Gesetzen (z. B. in der Ordnung des öffentlichen Straßenverkehrs) oder im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland niedergeschrieben finden. Der Rückgang auf diese Ebene 2 dient oftmals schon der Beseitigung ethischer und politischer Konfliktfälle. (c) ZuI1-Ebene: Gelingt es uns auf den beiden Ebenen 3+2 nicht, die Konflikte und Störfälle zu beheben, dann greifen wir in der Regel auf die noch grundlegendere Ebene 1, auf die Ebene des In-der-Welt-seins, der Lebenspraxis und unseres grundlegenden Weltbildes und die dort verankerten Auffassungen von zum Beispiel einer ‚guten Handlung‘ oder des ‚staatlichen Rechts‘, zurück. Ziel ist es dann, von diesen für uns nicht weiter hintergehbaren ZuI-Vollzügen her die in Frage stehenden Konflikte und Störfälle beseitigen zu können. Diese ZuI1-Ebene rückt im Beispiel etwa dann in den Fokus der Aufmerksamkeit, wenn im Falle des Grundgesetzes gefragt wird, worin denn dessen Standards und Normen selbst gegründet sind. Mit der ZuI1-Ebene gelangen wir offenbar auf denjenigen „harten Felsen“, an dem sich „mein Spaten zurückbiegt“ (PU I Nr. 217) und ich dann sage, dass ich so handle, wie ich handle, und dass mein Bild vom Recht mein Bild vom Recht ist. Können zwei Konkurrenten sich auf dieser Ebene 1 verständigen, besteht Aussicht auf Beseitigung des Konflikt- und Störfalls im Durchgang über Ebene 2 zu Ebene 3. Können Konkurrenten sich auf dieser Ebene 1 nicht verständigen, haben wir es der ZuI-Philosophie zufolge mit zwei unterschiedlichen Welten zu tun. Im Beispiel der ethischen und der politischen Ebene-1-Differenz führt dies, soll der ethische und politische Bürgerkrieg vermieden werden, konsequenter Weise dazu, die unterschiedlichen Weltbilder stehenzulassen.
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6 Die Lebenswelt als Fundierungs- und Begründungsinstanz und das Prinzip des ‚reflektierten Gleichgewichts‘ In der Regel funktionieren die in Lebenswelten eingebetteten Verhältnisse der Verständigung und des kooperativen Handelns flüssig.² Den Ausdruck ‚Lebenswelt‘ verwende ich hier im Sinne Edmund Husserls und in dem weiten Sinne, dem zufolge er die Welt meint, die in unseren Handlungen und Erfahrungen so begegnet, dass sie den Horizont unseres Handelns, Wahrnehmens, Sprechens und Denkens, kurz den Horizont all unserer Tätigkeiten formt. Sie ist die Welt, wie sie vom Subjekt erfahren und erlebt wird, in Husserls Worten: „die Welt im Wie der Erlebnisgegebenheit“ (EPh I 232). Am Ende seines Beitrag stellt Lukas Sosoe die Frage, ob wir es schlussendlich in puncto ZuI-Ethik und Diskursethik „nicht eher mit zwei berechtigten Perspektiven“, mit einer „erklärenden“ (ZuI-Ethik) und einer „begründenden“ Perspektive (Diskursethik) zu tun haben (Kap. 4). Oben habe ich bereits dargelegt, dass ich den Rückgang in die Natur der ZuIProzesse als den Rückgang in diejenige Dimension ansehe, aus der wir zugleich die Kraft einer Begründung ziehen, habe also gegen das Bild zweier getrennter Unternehmungen und für die Primordialität der ZuI-Ethik gegenüber der Diskursethik argumentiert. Doch wie ebenfalls bereits betont, heißt dies nicht, dass ich innerhalb der umfänglicheren Interpretativität nicht auch der Diskursivität ihren überaus wichtigen Platz zuspreche. Diesen Punkt möchte ich im Folgenden weiter verdeutlichen und ausbuchstabieren. Der Einsatzpunkt meiner entsprechenden Überlegung lässt sich klar markieren. In Konflikt- und Störfällen in puncto Handlungsnormen verfügt die ZuIGemeinschaft nicht automatisch auch schon gleichsam instantan über die ‚richtigen‘ Antworten. In besonderen Fällen kann es durchaus erforderlich sein, die Richtigkeit öffentlich und diskursiv erst noch auszuhandeln und zu umgrenzen. (Das ist übrigens in den Fällen der Frage nach der Bedeutung und der Referenz eines Zeichens gleichermaßen der Fall.) Und genau hier kommt im Sinne einer gestuften Komplementarität von lebensweltlicher und diskursiver Begründung die ZuI3-Stufe der diskursiven Prüfung und der moralischen Transsubjektivität zum Zuge. Die Aufgabe besteht darin, dass die Ebene der Rationalität der Lebenswelt mit der Ebene der Rationalität der handlungsbezogenen und morali Zu den Themen dieses Abschnitts vgl. detaillierter (Abel 2009). Im Folgenden greife ich auf die dort entwickelten Materialien zurück.
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schen Argumentation so in Einklang gebracht wird, dass die Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge erneut flüssig und gerechtfertigt fortgesetzt werden können. Lebenswelt, Öffentlichkeit und Diskursivität erscheinen so in ihrem internen und gestuften Zusammenspiel als das pragmatisch ‚letzte‘ Grundgeflecht der Umgrenzung, Bestimmung und Rechtfertigung der semantischen und pragmatischen Merkmale sowie der Richtigkeit des Handelns, Sprechens und Denkens. Sie können als diejenigen Bereiche und Zweige der umfänglicheren Interpretativität angesehen werden, in denen diejenige Normativität gründet, die aktualisiert werden muss, sobald die Frage nach den ‚richtigen‘ Handlungen (und im theoretischen Bereich analog nach den ‚richtigen‘ Bedeutungen und Referenzen der Wörter und Gedanken) auftritt und auch geklärt werden muss, um das Handeln, Sprechen und Denken erneut flüssig und anschlussfähig fortsetzen zu können. Nicht überraschend ist vor diesem Hintergrund die These, dass die normative Richtigkeit einer Handlung und entsprechend der die Handlung orientierenden Handlungsnorm durch die zugrundeliegende Zeichen-, Handlungs- und Interpretations-Praxis umgrenzt und bestimmt wird. Handlungen können als Zeichenund Interpretationsbildungen in ihrer Verankertheit in der ZuI-Praxis verstanden und rekonstruiert werden. Und das Eingespieltsein dieser Zeichen-, Handlungsund Interpretations-Praxis kann zugleich auch als das Eingespieltsein der Lebenswelt angesehen werden, in die situiert und eingebettet unser Handeln, Gestalten, Sprechen und Denken diejenigen Merkmale besitzen, die ihr flüssiges Funktionieren ermöglichen, gewährleisten, stabilisieren und auf diese Weise als begründet ausweisen. Auch in Sachen Ethik (ebenso wie im Felde des theoretischen Denkens) ist der Rückgang in und der Rekurs auf die Lebenswelt in einer Hinsicht Rückgang in und Rekurs auf eine letzte Fundierungs- und Begründungsinstanz, in einer anderen Hinsicht jedoch keineswegs. Die Lebenswelt ist pragmatisch ‚letzte‘ Instanz unserer Lebensvollzüge. Sie ist aber nicht Letztbegründung im Sinne eines metaphysisch Letzten. Im Hinblick auf die Ebenen-gestaffelte Komplementarität von lebensweltlicher und diskursiver Begründung ist es mir wichtig, einen Punkt in aller Klarheit herauszustellen. Die skizzierte Auffassung der Lebenswelt als der pragmatischen Fundierungs- und Begründungsinstanz bedeutet keineswegs, dass die kritische diskursive Begründung zugunsten eines unkritischen lebensweltlichen Konservativismus außer Kraft gesetzt wird. Unter kritischem Vorzeichen und auf dem Boden der in sich pluralen und nicht-reduktionistischen ZuI-Philosophie kann es um eine solche Wende nicht mehr gehen. Entsprechend sind ethischer und politischer Fundamentalismus ebenso wenig legitimierbar wie andere Essentialismen, Dogmatismen und Fanatismen. Die ZuI-Philosophie verfügt vornehmlich
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auch in puncto Ethik und Politik über hohes kritisches Potential. Die beiden Fragen, ob gegebene Normen zu Recht bestehen und was ich tun soll, sobald ich Normen als ungerecht eingesehen habe, gehören von innen her zu den ZuI-Prozessen selbst. Daher ist wichtig zu betonen, dass dieses kritische Potential auf allen drei Ebenen der ZuI-Verhältnisse lebendig ist. Sich zu weit von der Normativität einer Lebensform zu entfernen, entzieht Handlungen ihre Akzeptabilität und Rechtfertigung. Sich jedoch unkritisch den in einer Lebensform sedimentierten Normen einfach zu überlassen, kann (wie uns Geschichte und Gegenwart schmerzlich lehren) in Fanatismen und die Ausübung von Gewalt führen. Keineswegs sind alle Normen einer Lebenswelt vernünftig. Bei näherer Prüfung und Analyse können sich Widersprüche zeigen, die wir so bislang nicht bzw. noch nicht gesehen hatten. Aber alle vernünftigen Normen haben ihren pragmatischen Sitz in der Lebenswelt. Es ist diese Differenz, die in der diskursiven Prüfung zutage tritt. Und das heißt zugleich, dass es in ihr nicht um eine erneut externe Instanz der Begründung gehen kann. Unter kritischem Vorzeichen kann akzeptable Begründung stets nur interne Begründung sein. ZuI-Ethik ist interne Ethik. Die Rolle der Lebenswelt als Fundierungs- und pragmatischer Begründungsinstanz kann mit Hilfe des Prinzips des „Reflektierten Equilibriums“ näher beschrieben werden (so wie es von Goodman, Rawls, Føllesdal und Elgin vertreten wird). Der Ausdruck ‚reflektiertes Equilibrium‘ bezeichnet zunächst eine Methode der Begründung in Bezug auf das Verhältnis zwischen partikularen Sätzen und generellen Sätzen. Als Beispiel sei das Verhältnis zwischen partikularen Beobachtungen und einer auf diese bezogenen wissenschaftlichen Theorie angeführt. In methodischer Hinsicht ist ein wechselseitiges Einbalancieren beider Seiten erfordert. Diese Methode ist anwendbar auch in der Mathematik, in der Logik und eben auch in der Ethik. Unter dem Titel des ‚Verstehensgleichgewichts‘ habe ich sie explizit auch in der ZuI-Philosophie und des näheren in der ZuI-Ethik anzuwenden versucht (vgl. auch meine Replik auf Marco Brusotti und Abel 2010: Kap. III.3). Im Felde der Ethik und der Politischen Philosophie geht es um ein Gleichgewicht zwischen Maximen, Grundsätzen und Gesetzen in Bezug auf das, was im Handeln getan werden soll. Das Ziel solchen dynamischen Einbalancierens ist eine gleichgewichts-orientierte ZuI-Praxis ebenso wie eine Ethik in reflektiertem Gleichgewicht der Interpretationen.
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Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1997: Interpretationsethik und Demokratie, in: Simon, Josef (Hg.): Orientierung in Zeichen. Zeichen und Interpretation III, Frankfurt a. M., S. 41 – 79. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2010: Zeichen- und Interpretationsethik, in: Przyłębski, Andrzej (Hg.): Ethik im Lichte der Hermeneutik, Würzburg, S. 91 – 119. Abel, Günter 2011: Der interne Zusammenhang von Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft, in: Gethmann, Carl Friedrich (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft. XXI. Deutscher Kongreß für Philosophie, 15. – 19. September 2008 an der Universität Duisburg–Essen. Kolloquienbeiträge, (Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2), Hamburg, S. 351 – 371. Apel, Karl-Otto 1973: Transformation der Philosophie, Bd. I, Frankfurt a. M. Habermas, Jürgen 1973: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. Habermas, Jürgen 1983: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. Husserl, Edmund 1956: Erste Philosophie (1923/1924), Teil I: Kritische Ideengeschichte, Husserliana Bd. 7, hrsg. v. R. Boehm, Den Haag; [EPh I]. Kant, Immanuel 1902 ff.: Gesammelte Schriften, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften u. a., Berlin 1902 ff.; Nachdruck der Bde. I – IX: Werke. Akademie Textausgabe, Berlin / New York 1968 ff; [AA]. Darin: Kritik der praktischen Vernunft, AA V 1 – 163; [KpV]. Wittgenstein, Ludwig 1984: Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., S. 225 – 580; [PU].
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Kraft des Genitivs Über eine mögliche Interpretation des öffentlichen Raumes Abstract: The article suggests a distinction between interpretation 1 (Interpretation) as a transcendental condition of understanding and interpretation 2 (Deutung) as a concrete modality of comprehension. The strength of interpretation 1 lies in its capacity to reveal a horizon into which specific propositions of interpretation 2 can sensibly be fit in. This horizon is a sort of preliminary transcendental condition that legitimates and regulates any interpretative act. To apply this vision to the political sphere leads to rethinking the category of public space, which appears as the ground on which it is possible to evaluate different policies and to distinguish between real political issues und mere administrative functions.
1 Eine doppelte Bedeutung ‚Kraft des Genitivs‘ hat eine doppelte Bedeutung, denn als Substantiv ist ‚Kraft‘ eine Beschreibung, welche die Stärke eines besonderen Kasus bezeugt. Als Präposition aber (die hier, da sie an erster Stelle auftritt, groß geschrieben und deshalb nicht sofort erkennbar ist), zeigt sie auch, dass der Genitiv unvermittelt und aus eigener Kraft die Fähigkeit besitzt, selbst das Beabsichtigte zu bewirken. Günter Abel hat die Weichen zu solchen Überlegungen gestellt, so z. B. in der Einleitung zu Zeichen der Wirklichkeit und durch den exemplarischen Titel des fünften Kapitels: Kraft der Zeichen (ZdW 173). In beiden Fällen erscheint diese Kraft doppeldeutig. Als Kasus kann der Genitiv sowohl subjectivus als objectivus, d. h. sowohl wahres Subjekt der Handlung als auch Objekt eines fremden Interesses sein; als Präposition drückt die Form ‚kraft + Genitiv‘ sowohl die anerkannte Befähigung, etwas zu bewirken oder in Kraft treten zu lassen („kraft meines Amtes erkläre ich Euch für Mann und Frau“), als auch eine rein instrumentelle Funktion („kraft meiner Bemühungen habe ich dies und jenes erreicht“) aus. Diese Zweideutigkeit enthält aber etwas Kostbares: einen Hinweis darauf, dass Subjekt und Objekt, autonome Quelle und zweckmäßiges Mittel in der Moderne deutlich verschieden, aber auch unzertrennlich verbunden sind. Der Unterschied geht bis zum logischen Gegensatz. Trotzdem lassen sich die zwei polaren Aspekte nie in völlig getrennter Form erfassen. https://doi.org/10.1515/9783110522280-046
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Versuchen wir einmal, dies durch ein Beispiel zu veranschaulichen. Wenn wir über den Zusammenhang zwischen Wahrheit und Interpretation sprechen (siehe den Titel des Hauptwerks von Luigi Pareyson, Verità e interpretazione, 1971), meinen wir etwas Doppeltes. Nach Pareyson gibt es Wahrheit nur durch Interpretation, aber nur von der Wahrheit gibt es eine interpretatorische Formulierung. Dies hat zur Folge, dass die einzig uns zugängliche Wahrheit eine Interpretation ist. Gleichzeitig aber wird behauptet, dass eine echte Interpretation nur echt ist, wenn sie sich auf die Wahrheit bezieht. Beide Ausdrücke sind sinnvoll: Interpretation der Wahrheit und Wahrheit der Interpretation. In beiden ist der Genitiv legitimerweise sowohl subjectivus als auch objectivus. Dasselbe könnte man sagen, wenn man den adverbialen Sinn beansprucht. In einem Fall (‚kraft meines Amtes‘) ist der Genitiv die Quelle meines Wirkens, in dem anderen (‚kraft meiner Bemühungen‘) ist er eher ein Mittel zu einem außerhalb liegenden Ziel. In der Tat aber gibt es keine autonome und ursprüngliche Kraft, die nicht gleichzeitig Mittel zu einem ihr externen Zweck wird, und es gibt kein Mittel, das seine Funktion als Mittel ohne eine eigene, in ihm selbst ruhende, vermittelnde Kraft ausübt. L’âge herméneutique de la raison, so der Titel des Buches von Jean Greisch (1985), ist die Zeit, in der die Unzertrennlichkeit von Subjekt und Objekt, von Ursprung und Weg, zur normalen Erfahrung geworden ist. Diese Erfahrung stützt sich paradoxerweise auf eine andere und nicht weniger wichtige Erfahrung, nämlich darauf, dass die Unzertrennlichkeit von einer Kluft (fast einer Wunde) durchquert wird, die uns den Eingang zu einer Einheit an sich für immer versperrt (zu der Einheit zwischen Subjekt und Objekt oder der zwischen Ursprung und Weg wie auch zu der Einheit der einzelnen Aspekte an sich). Die Einheit ist also verloren und sie wird nun aus diesem Verloren-sein heraus erlebt. Nur als verlorene und wiederzugewinnende Einheit wird die Einheit zur Voraussetzung jeder neuen modernen Erfahrung. Gerade aus diesen Motiven ergeben sich die fast unerträgliche Schwierigkeit und gleichzeitig die oft unergründbare Faszination der Moderne. Ein Erlebnis schöpft aus einer verlorenen Erfahrung, wir erleben sogar das Verlorene, aber ohne es jemals erfassen zu können. Nicht von ungefähr ist diese Zeit eine Zeit der Unendlichkeit: Die Sehnsucht nach dem Verlorenen hat kein Ende, weil das Verlorene, nach dem wir uns sehnen, nie zurück gewonnen werden kann. Abel – scheint mir – liefert uns einen Beweis dafür, wenn er schreibt: „Die philosophisch basale Frage ist also nicht, ob und wie wir mit unseren Zeichen eine Brücke zur Welt und zu den anderen Personen schlagen. Sie lautet vielmehr, wie das zumeist selbstverständliche Funktionieren dieses Zusammenhanges zu verstehen ist. Erst wenn diese Selbstverständlichkeit nicht mehr gegeben ist, tritt auch das Problem des ‚richtigen‘, des ‚angemessenen‘, des ‚vernünftigen‘ Zeichengebrauchs hervor.“ (ZdW 180 f.) Verfolgen wir diese Passage, welche die Zugehörigkeit von Wirklichkeit und Zeichen beschreibt, eine Zugehörigkeit, die
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wir analog wohl auch auf das Begriffspaar ‚Wahrheit‘ und ‚Interpretation‘ anwenden dürfen. Erster Schritt: Die Brücke wird nicht geschlagen; d. h. die Differenz wird nicht durch die Philosophie überwunden. Zweiter Schritt: Es besteht nichtsdestoweniger ein Zusammenhang, sonst würde man die Metapher der Brücke, die zwei durch einen Abgrund getrennte Bereiche verbindet, nicht verwenden. Dritter Schritt: Der Zusammenhang ist ein selbstverständliches Funktionieren, d. h. wir sind in beide Bereiche gleichzeitig verstrickt. Vierter Schritt: Unsere Philosophie fängt erst an, wenn die Selbstverständlichkeit des Zusammenhanges nicht mehr gegeben ist – jede Interpretation fängt aus der Distanz an. Die ersten drei Schritte beschreiben den allgemeinen Erfahrungszustand. Wenn man aber genau hinsieht, entdeckt man, dass die ersten zwei nichts anderes sind als die analytische Beschreibung des dritten und synthetischen Schritts. Der Zusammenhang funktioniert synthetisch und selbstverständlich. Analytisch gesehen entsteht aber das Bedürfnis nach einem vermittelnden Begriff: eben die Brücke, die sich gleich als nicht begehbar herausstellt. Dieser Zustand (der für die Moderne typisch ist, füge ich hinzu) ruft die philosophische Frage hervor, und zwar als Frage nach der richtigen und angemessen Beziehung zwischen den beiden Aspekten (hier Zeichen und Wirklichkeit, in unserem Diskurs Interpretation und Wahrheit). Die von Abel selbst hervorgehobene Differenz zwischen Interpretation und Deutung könnte in diesem Kontext behilflich sein. Die Deutung ist die ‚richtige‘ Art, diesen gespaltenen Zusammenhang zu sich selbst zurückzuführen. Sie ist der Weg, zu einer bedeutenden Bedeutung zu kommen. Die Interpretation ist aber Voraussetzung der Deutung; sie stellt die Rahmenbedingung dafür dar, Distanz und Nähe, Differenz und Identität in einem sinnvollen Zusammenhang zu denken. Die Interpretation zeigt bewusst auf einen Sinn, der zwar von sich aus vorliegt, aber nicht stark genug ist, um die Prüfung des Bewusstseins zu bestehen. Dieser Sinn muss jedes Mal durch konkrete Bedeutungen unterstützt und ausgefüllt werden, denn sonst würde er bedeutungslos. Die konkreten Bedeutungen aber wären, ohne diesen vorausgesetzten Sinn, sinnlos. Deutung, die Bedeutungen erprobt, und Interpretation, die Rahmenbedingungen schafft, bilden das reiche Wechselspiel, innerhalb dessen eine menschliche Erfahrung in der Zeit der Moderne möglich ist.
2 Interpretation als Form des Transzendentalen Eine hermeneutische Perspektive ist in der Moderne die Voraussetzung jeder möglichen Weltorientierung. Während aber die Deutung ein Ergründen braucht, das gleichermaßen aus erfinderischer Kunst und sorgfältiger analytischer Arbeit besteht, sollte man die Interpretation eher als eine Art Ausdehnung und Fort-
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setzung des Transzendentalen sehen. In der Tat bestimmt sie die Bedingungen jedes möglichen modernen, auf die Wahrheit bezogenen Verstehens. Bevor wir zum Hauptpunkt unseres Beitrags kommen, wollen wir kurz erläutern, inwiefern die gegenwärtigen Interpretationstheorien Erbe der Transzendentalphilosophien sind. Zwei Philosophien in der Moderne haben sich ausdrücklich mit dem Transzendentalen auseinandergesetzt: Kant und Husserl. Im § 12 der Kritik der reinen Vernunft wird trotz des negativen Urteils über die „kümmerlich[en]“ Folgen, die im Mittelalter mit dem Transzendentalen verbunden waren, ein Dialog mit dieser Tradition fortgesetzt: „Diese vermeintlich transzendentale Prädikate der Dinge sind nichts anders als logische Erfordernisse und Kriterien aller Erkenntnis der Dinge überhaupt, und legen ihr die Kategorien der Quantität, nämlich der Einheit, Vielheit und Allheit, zum Grunde, nur daß sie diese, welche eigentlich material, als zur Möglichkeit der Dinge selbst gehörig, genommen werden müßten, in der Tat nur in formaler Bedeutung als zur logischen Forderung in Ansehung jeder Erkenntnis gehörig brauchten, und doch diese Kriterien des Denkens unbehutsamer Weise zu Eigenschaften der Dinge an sich selbst machten.“ (Kant 1781/87: B 113 f.) Der Kantische Vorwurf ist dann, dass die Scholastiker materielle Kategorien, d. h. Kategorien, die auf die Sachen selbst bezogen waren, zu formellen Kriterien des Verstehens umgewandelt und sie wiederum illegitimerweise zu Eigenschaften der Dinge selbst stilisiert haben. In Kants Begriff des Transzendentalen werden, wie wir wissen, das Element der Universalität und das der Notwendigkeit beibehalten, indem es zur universellen Bedingung jeder erkennenden Erfahrung emporgehoben wird. Durch eine starke Trennung zwischen Ontologischem und Gnoseologischem werden aber die unerwünschten Folgen vermieden und das Transzendentale wird zu einem a priori jedes möglichen Erkennens. Wie Kant schreibt: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.“ (B 25; A 11) Die Kopernikanische Wende ist sozusagen die Umkehrung der verkehrten Welt der alten Scholastik. Das Kantische Transzendentale macht das Erkenntnissubjekt zum Maß der zu erkennenden Objekte. Diese kopernikanische „Umänderung der Denkart“ (B XXII) bedeutet, dass Erkenntnis immer vom Subjekt abhängig ist, d. h. dass für uns keine mögliche Realität existiert, außer in der Form der Erscheinung. Gerade dieser Weg stellt die grundlegenden Weichen für eine hermeneutische Fortsetzung. Der phänomenologische Transzendentalismus Husserls, der sich in vielen Aspekten der Hermeneutik annähert, unterscheidet sich in einigen entscheidenden Momenten von ihr und mündet, letzten Endes, in einer idealistischen Radikalisierung der Subjektstheorie von Descartes. Diesem Transzendentalismus fehlt
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in der Tat die umkehrende Wende, die bei Kant so entscheidend ist. Gerade deswegen wird es, meiner Meinung nach, für Husserl so schwierig, sich von der immer wieder auftretenden Gefahr eines Idealismus zu befreien. Dies bestätigt, was eigentlich immer hätte klar sein sollen: Die Hermeneutik ist eine Philosophie, die der Moderne entspricht, und nicht eine Philosophie, die sie einfach fortsetzt. Genauer gesagt ist sie eine Fortsetzung in der Form einer Umkehrung. Bei Husserl befinden wir uns vor einer Fortsetzung, die die fragwürdige Form der Radikalisierung annimmt. Dies ist der Grund, warum wir uns dann an Kant wenden. Bei ihm erscheint das Transzendentale als etwas, das die Struktur der Notwendigkeit annimmt. Das Transzendentale ist die notwendige Bedingung einer erkennenden Erfahrung, die wiederum sein Erscheinen ermöglicht. Diese Notwendigkeit zeugt aber, exemplarisch in dem Begriffspaar „Ding an sich“ und „Erscheinung“, von einer Spannung und einem Zweikampf, die wieder ein typisches Merkmal der Moderne sind. Bei Kant ist das Transzendentale, gerade weil es zuerst eine verletzende Waffe gewesen ist, ein versöhnendes Mittel. Es ermöglicht das Erkennen, ermöglicht es aber unter der Voraussetzung einer prinzipiellen Dualität zwischen dem Ding an sich in seiner ontologischen Konsistenz und der Art und Weise, auf die wir es denken und erkennen können. Alle entscheidenden Begriffe Kants sind Einschränkungen, die eine annehmbare Wunde als Voraussetzung zu einer akzeptablen Gesundheit in Kauf nehmen. Die viel diskutierte und vielleicht nie endgültig entschlüsselte Kantische Deduktion bleibt im Zentrum seines Denkens. Aber auch ihr fehlt der Charakter einer regelrecht synthetischen Lösung; im Grunde genommen zeugt sie von der Notwendigkeit einer Verschiebung oder eines Hinweises auf Bedingungen, die angenommen werden müssen, weil sie die Erkennbarkeit der Welt ermöglichen. Im Kantischen Transzendentalen ist eine Spannung enthalten, die selbst Hegel trotz aller Kritik anerkennt.¹ Gerade dieses nicht synthetische Moment (oder synthetisch nur durch einen immer weiter bestehenden Konflikt) des Kantischen Transzendentalen scheint mir kostbar. In der Perspektive Husserls, die eben wegen ihrer Radikalität letzten Endes den Weg einer aufhebenden Einbeziehung einschlägt, geht diese innere Spannung verloren, mit der katastrophalen Folge einer ungewollten und nichts desto weniger unvermeidlich falschen Irenik. Anders als in dem weiter gehenden Radikalismus von Husserl hat die Kantische Wende – diese entscheidende Umkehrung der bestehenden Beziehung zwischen Subjekt und Objekt – den Vorzug, eine noch nicht entdeckte Seite ans Licht treten zu lassen. Kant kehrt den ontologischen, In Hegels Augen ist der Kantische Transzendentalismus eigentlich „leer ausgegangen“. Der Hauptgrund ist aber sein abstrakter Charakter, seine noch formelle Betrachtung der „Beziehung eines subjektiven Wissens auf ein Objekt“ und im Allgemeinen die Subjektivität des Kantischen Bewusstseins (Hegel 1812: 60 f.).
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mittelalterlichen Realismus um. Die Umkehrung streicht aber das anders Seiende nicht aus. Die Differenz wird nicht getilgt, sie bleibt als etwas, das denkbar, wenn auch nicht erkennbar ist, bestehen. Die dadurch entstandene Dualität schützt auf ihre Weise jenes Andere, das nur als ein Denkbares festgehalten werden kann. Dieser Hintergrund, den ich kurz in Anlehnung an einen breiter angelegten Beitrag (Perone 2007) skizziert habe, ist für eine hermeneutische Philosophie der Endlichkeit wie die meinige von großer Bedeutung. Die Fortsetzung des Transzendentalismus in Richtung der Hermeneutik ist nur annehmbar, wenn wir transzendental und transzendent scharf voneinander trennen.² Deswegen auch der Vorschlag, Interpretation und Deutung zu unterscheiden. Die Interpretation ist eben, wie das Transzendentale, die vorauszusetzende Möglichkeitsbedingung jedes Verstehens; die Deutung ist die konkrete Art, durch die in der Pluralität der Situationen und der Subjekte die Interpretation ausgelegt wird. Wie man sieht, erreicht man durch diesen Unterschied die Beibehaltung eines Doppelten. Einerseits ist die Auslegung, die durch die Pluralität der Situationen und der Subjekte entsteht, reales Werk einer echten Endlichkeit. Anderseits ist die Notwendigkeit der Interpretation, welche die Rahmenbedingungen jedes Verstehens setzt, ein Hinweis auf einen unausweichlichen metaphysischen Horizont: Dieser Hinweis versetzt uns nicht in einen, in welcher Form auch immer zu unserer Verfügung stehenden Ursprungsort, sondern bringt eine Beziehung des Endlichen zum Unendlichen zum Ausdruck, die kein a priori ist, aber als ein a posteriori entdeckt wird. In dem schon erklärten Sinne ist sie eine notwendige Erfindung. Unser hermeneutischer Weg geht von der Endlichkeit aus und entdeckt – immer im Bereich der Endlichkeit bleibend – durch seine eigene transzendentale Erfindung die Notwendigkeit eines Bezugs zum Unendlichen. Wie schon Descartes schrieb: „Ich darf auch nicht vermeinen, ich erfasste das Unendliche durch eine wahrhafte Idee, sondern nur durch die Verneinung des Endlichen […] Denn ganz im Gegenteil sehe ich offenbar ein, dass mehr Realität in der unendlichen Substanz, als in der endlichen enthalten ist, und dass demnach der Begriff des Unendlichen dem des Endlichen, d. i. der Gottes dem meiner selbst in gewisser Weise vorhergeht.“ (Descartes 1641: 37, Med. III, 28) So verrät seine Philosophie (und auch mein Vorschlag) die Endlichkeit nicht und verlässt auch nicht ihren Bereich. In meinen Augen hat der Weg, den die Philosophie gehen muss, seinen Ausganspunkt in dem uns allen vorgegebenen Zustand der Endlichkeit. Sie muss phänomenologisch den ganzen Bereich der Endlichkeit ausschöpfen bis zu der Wie ich in (Perone 2007) zeige, geschieht das bei Heidegger, der den Radikalismus Husserls fortsetzt, eben nicht. Daraus folgt seine antimetaphysische und antiontologische Haltung, die letzten Endes gegen seine eigene Absicht in eine Philosophie mündet, in der die ursprünglich gedachte Endlichkeit ihre Züge ins Unendliche verwischt.
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doppelten Schranke, die die Endlichkeit bestimmt: das Unendliche und das Nichts. Die Endlichkeit fängt unmittelbar nach (oder vor) dem Nichts an, und sie stößt gegen die Schranke der Unendlichkeit. Solange wir die Endlichkeit als reine Tatsache betrachten, dürfen wir innerhalb der Endlichkeit selbst bleiben. Dies ist ohne weiteres ein legitimes Procedere. Dadurch erreichen wir eine mögliche, aber beschränkte Bedeutung der Endlichkeit. Aber sobald wir den Versuch unternehmen, eine Interpretation zu wagen, sind wir gezwungen, die Endlichkeit nicht nur in ihrem faktischen Gelingen, sondern auch in ihrem möglichen Scheitern (in Richtung Unendlichkeit) und in der Bedrohung, der sie immer ausgesetzt ist (in Richtung Nichts), zu untersuchen. Das Gelingen des Gelingens wird dadurch noch wichtiger und kostbarer. Das Prekäre der Endlichkeit bleibt prekär (d. h. die Endlichkeit bleibt endlich), aber seine Bedeutung nimmt zu, indem sie in einen interpretatorischen Sinn eingerahmt wird. Die Rechtfertigung dieser Interpretation, ihre Quasi-Deduktion, ist dann eben transzendental. Sie liefert die Bedingungen eines Verstehens des Endlichen, das umfassender als die reine Deutung des bestehenden Endlichen ist. Sie erweitert nicht die Endlichkeit in Richtung der Unendlichkeit, vertieft aber ihre Bedeutungen und wagt die Formulierung nach einem möglichen Sinn.
3 Der öffentliche Raum Ein Thema, in dem die Verflechtung zwischen der Interpretation und dem Transzendentalen ganz deutlich wird, ist die Öffentlichkeit oder, wie ich am liebsten sagen möchte, der öffentliche Raum. Der öffentliche Raum ist die kreative Interpretation, durch die das einfache Zusammensein zu einem politischen Projekt wird. Dort, wo das Zusammenleben sich zu einem Miteinandersein und Gemeinsamwirken entwickelt, entsteht der öffentliche Raum. Wie jede Interpretation ist er eine kulturelle Erfindung, wobei Erfindung heißt, dass etwas neu ent-deckt wird. Selbst die allerneueste Erfindung ist kein Erfundenes, sondern ein Gefundenes. Der Einfall sieht, was keiner gesehen hatte, was verdeckt war und entdeckt werden musste. Durch eine solche hermeneutische Entdeckung entsteht nicht nur ein neues Objekt, sondern eine neue, unerwartete Welt. Das, was ans Licht tritt, ermöglicht ein neue Art, die Welt zu betrachten und zu ordnen. Deswegen nennt man es Interpretation. Sie ist keine einfache neue Deutung des Gegebenen, sondern eine neue Weltanschauung. Ich möchte hier für eine Rehabilitation eines in Verruf geratenen Ausdrucks plädieren. Weltanschauung wurde mit Ideologie gleichgesetzt. In dem Wort steckt aber mehr. Zeit und Raum sind, wie wir wissen, Anschauungsformen, genau so könnte man im politischen Bereich die Welt als eine Anschauungsform betrachten,
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nämlich die, die das Objekt unter der transzendentalen, interpretatorischen Bedingung eines gemeinsamen und wohlbewussten Miteinanderseins (das ist die Welt) anschaut. Hier noch wird die Kraft des Genitivs deutlich. Die Welt ist die aktive Form, durch welche die objektive Gestalt der politischen Welt entsteht. Der öffentliche Raum ist dann etwas anderes als ein gemeinsamer Raum. Dieser ist eine reine Tatsache, keine Interpretation. Er ist das Feld, in dem Handlungen und Austausch stattfinden. Der gemeinsame Raum ist der Ort, in dem jeder die Möglichkeit zu einer Teilnahme bekommt, ohne dadurch den Anspruch auf eine proportionale und gerechte Aufteilung erheben zu können. Es ist nicht zu leugnen, dass der gemeinsame Raum die sachliche Voraussetzung des Politischen bietet. Ohne diesen Raum würde keine soziale Geschichte bestehen. Um den gemeinsamen Raum sozial funktionsfähig zu machen, braucht aber jede Gesellschaft Grenzen. Diese Beschränkungen stehen am Ursprung der ersten Gesellschaften, die ihre Solidität aber nur durch eine Einfrierung der konstitutiven Differenzen befestigen können. Die ungleiche Aufteilung des Raumes bleibt dann die Voraussetzung für das Zusammenhalten der jeweiligen Gesellschaften. Die Fabel von Menenius Agrippa, in der die ungleiche Differenzierung der Funktion der Organe im Namen der Einheit des Körpers gerechtfertigt wird, ist das geniale und offene Bekenntnis dieser Struktur. Der Raum ist, in seiner ungleichmäßigen Aufteilung, ein gemeinsamer. Die Grenzen dieses Raumes stellen die Bedingungen für eine nur interne Handhabung der Unterschiede dar. Normalerweise ist das die Garantie einer Fortsetzung der bestehenden sozialen Ungleichheiten, deren Überwindung nur schrittweise und in sehr beschränkter Form stattfinden kann. In Ausnahmenfällen kann der gemeinsame Raum sogar gleiche Rechte und proportionale Aufteilung bedeuten. Die Bedingung ist aber immer noch, dass dieser Raum in sich verschlossen bleibt. Alle solchen Gesellschaften üben zwar eine politische Funktion aus; sie verdienen aber nicht den Namen politische Gesellschaft. Sie verwalten gemeinsam das Gegebene (normalerweise, wie gesagt, in der Form der Ungleichheit, in Ausnahmefällen in der Form der Gleichheit); sie sind aber nicht Eröffnung einer neuen Art des Miteinanderlebens. Eine geschlossene Gesellschaft besteht aber nicht ewig. Wenn sie Kontakt mit anderen Gesellschaften aufnimmt, muss sie neue Probleme bewältigen. In der Regel geschieht dies durch den imperialistischen Versuch, den ursprünglichen Raum zu erweitern – immer aber mit der Absicht, die eigene interne Geschlossenheit zu erhalten. Die ständigen Neuerweiterungen frustrieren aber diesen Anspruch. Wenn der gemeinsame Raum wirklich offen wird, entsteht die Notwendigkeit einer neuen Anschauung der Welt, einer echt politischen. Dies geschieht in der Moderne und trägt den Namen öffentlicher Raum. Der öffentliche Raum ist eine hermeneutische Erfindung, die eine neue Welt eröffnet – die Welt des Politischen. Das hermeneutische Prinzip des öffentlichen
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Raumes besagt, dass Politik dort anfängt, wo das Individuelle (das ‚für mich‘) und das Universelle (das ‚für alle Anderen‘) von vornherein als untrennbar betrachtet werden. Konkret: Nichts kann politisch gut sein, wenn es nur für mich als Einzelnen gut ist, aber wiederum Nichts kann politisch gut sein, wenn es nur zum Wohl der Gemeinschaft und nicht auch zu meinem Wohl beiträgt. Dieses Prinzip ist politisch zwingend, auch wenn die konkreten Formen einer Vermittlung zwischen Individuellem und Universellem sehr unterschiedlich ausfallen können. Politik ist tatsächlich die Kunst, eine angemessene Vermittlung zwischen diesen beiden, in manchen Fällen sogar entgegengesetzten Aspekten zu finden. Wo die Politik als Vermittlung zwischen Interessen (von Einzelnen oder von Gruppen) oder als Ergreifung und Ausübung der Macht betrieben wird, befinden wir uns aber per definitionem außerhalb des oben genannten Prinzips. Es ist dann offensichtlich, dass es sich keinesfalls um eine triviale Aussage handelt. Vielmehr zeigt dieses Prinzip, dass es sich in der Politik um ein neues (und eben erfundenes) Subjekt handelt – ein Subjekt, das das einfache Miteinander-da-sein in ein bewusstes und erweiterungsfähiges Zusammenleben umwandelt. Bei Rousseau finden wir den vielversprechenden Unterschied zwischen volonté generale und volonté de tous. Er bestätigt die Geburt eines neuen Subjektes, das nicht mit dem Individuellen oder mit dem Universellen identisch ist. Die volonté generale ist eben ein drittes Subjekt. Die Gefahr der Rousseauschen Lösung besteht aber darin, dass dieses dritte Subjekt hypostasiert werden kann, wie die meisten Revolutionen ja zeigen. Dadurch geht aber gerade das wesentliche Element dieses Subjektes verloren: seine prekäre Konstitution, sein auf ein Anderes Hingewiesensein. Nur dadurch wird es zum dritten Subjekt, und nur indem es seinen Bezug zum Anderen (zum Individuellen und zum Universellen) nicht verliert, bleibt es weiter als Subjekt bestehen. Es handelt sich eben um ein drittes Subjekt, das weder die Summe noch die Synthese der zwei anderen Subjekte ist – da es sogar ohne die anderen Subjekte nicht existieren würde –, das aber die Fähigkeit hat, diesen selbst eine neue Form als Bestandteil einer neu erfundenen politischen Welt zu verleihen: Das Individuum wird zum Bürger und das Universelle wird zur res publica. Der gemeinsame Raum, der die Voraussetzungen für den öffentlichen Raum geschaffen hat, bleibt auch unter dem neuen, politischen Standpunkt des öffentlichen Raumes wichtig. Er stellt dialektisch eine notwendige Sperre für eine ideologisierende Anschauung des öffentlichen Raumes dar. Er erschwert die Verlegung der volonté generale auf ein eigenständiges drittes Subjekt: der öffentliche Raum kann sich nie ohne Bezug auf den gemeinsamen Raum durchsetzen. Bei näherer Betrachtung sieht man, dass die Interpretation, als Interpretation eines Ganzen (und nicht einfach als Auslegung) ein Transzendentales (eben im
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Sinne Kants) ist. Der öffentliche Raum ist in der Tat die kategoriale Bedingung der Konstitution der Politik. Ohne diese Voraussetzung gäbe es keine Möglichkeit, die Gemeinsamkeit des Lebens als ein gemeinsames Projekt zu betrachten. Und sobald man den gemeinsamen Raum nicht nur aufteilt oder verwaltet, sondern in den politischen Prozess involviert, braucht man die kategoriale Verwendung des öffentlichen Raumes. Genauer gesagt, ohne diese Kategorie wäre es nicht einmal möglich, das Politische als autonomes Kultur- und Sozialfeld zu denken. Man könnte einwenden, dass Politik, wie der Name selbst bezeugt, schon ewig besteht und dass eben die polis ein – gerade in dem von mir gemeinten Sinne – ausgezeichnetes Beispiel dafür war. Aber der Unterschied besteht darin, dass Politik in der Antike eben kein autonomes Feld war. Gerade die innere Verflechtung mit Moral, Metaphysik und Religion ermöglichte eine Strukturierung des Politischen, die über eine einfache Verwaltung des gemeinsamen Raumes hinausging. Mit der Moderne aber ist die Politik zur autonomen Sphäre geworden. Gleichzeitig hat die Struktur der unterschiedlichen Kulturbereiche jede zwingende Hierarchie verloren.Was Säkularisierung genannt wird, ist nicht die Umwandlung einer sakralen in eine profane Welt, sondern die Aufsprengung der kulturellen, in einer hierarchisierten Form bestehenden Einheit der Welt in eine Pluralität autonomer Sphären. Jede von diesen braucht dann eine eigene Rechtfertigung; ohne eine solche bliebe sie ein unselbständiges Feld. In dem spezifischen Fall der Politik wird dieses Feld ein Schlachtfeld, wo Interessen und Mächte sich auf der Suche nach einer Lösung bekämpfen: aber wie das Wort schon ahnen lässt, ist das Ergebnis eine Lösung in Form einer Auflösung eines der beteiligten Subjekte; bestenfalls nimmt sie die Form eines Kompromisses an und nie gelingt ihr eine echte Vermittlung. Um meine Auffassung des Politischen mit einer abschließenden Metapher zu erläutern, möchte ich wieder einmal auf das Bild der piazza zurückgreifen. Die piazza ist bekanntlich das Zentrum einer Stadt; in ihr findet man die Verkörperung des Kerns einer polis. Die piazza führt nirgendwohin, sie dient keiner auf externe Ziele gerichteten Funktion. Sie bietet nur einen an sich leeren Raum als Rahmenort für die Begegnung der Menschen und der sozialen Kräfte einer Stadt an. Man kann sogar sagen, dass die piazza keine eigenständige Existenz besitzt. Ohne die um sie herum liegenden Häuser und die in sie mündenden Straßen würde sie nicht bestehen. Wie das Subjekt, von dem wir sprachen, existiert sie nur dank der Elemente, die sie umkreisen. Diese Elemente bilden eine gespannte, aber konvergierende Einheit. Rathaus und Kirche, Märkte und Wohnhäuser dienen oft entgegengesetzten Zielen, aber gerade dadurch lassen sie einen öffentlichen Raum entstehen, innerhalb dessen eine Vermittlung gesucht werden kann. Durch ihre Form stellt die piazza die Weichen für diese Vermittlung. Sie nimmt
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sogar Straßen in sich auf, die Wege sind, die anderswohin führen, aber die zur piazza gehören können, weil sie an sie angeschlossen sind. Die piazza ist dann ein Leeres, das Ordnung schafft. Sie ist das Prinzip der Ordnung der Stadt. In unserer Metapher ist sie aber etwas, das nur in Folge der umstehenden Gebäude entsteht. Wie kann sie dann ein Transzendentales sein? Sie kann Metapher eines solchen sein, wenn man auf den gesamten Entstehungsprozess aufmerksam wird. Das faktische Bestehen der piazza richtet sich nach den umliegenden Gebäuden, aber sie finden ihren Platz dank des Entwurfes eines Raumes, der niemandem gehört und nicht nur ein gemeinsam geteilter Ort ist. Wenn er nur dies wäre, bestünde immer wieder die Möglichkeit einer anderen, unterschiedlichen Aufteilung. Ganz im Gegenteil ist die piazza ein unantastbarer Ort. Sie hat sogar eine eigene faszinierende und prägende Identität, eine Identität, die aber nicht ohne die Elemente, die um sie liegen, bestehen würde. Sie ist, transzendental hermeneutisch, das Bild eines öffentlichen Raumes als schaffendes Prinzip der politischen Ordnung.
Literatur Descartes, René 1641: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übers. u. hg. v. A. Buchenau, Hamburg 1972. Greisch, Jean 1985: L’âge herméneutique de la raison, Paris. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1812: Wissenschaft der Logik, in: Werke, Bd. 5, hg. v. E. Moldenhauer / K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1969. Kant, Immanuel 1781/87: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. W. Weischedel, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1974. Pareyson, Luigi 1971: Veritá e interpretazione, Mailand. Perone, Ugo 2007: Necessità del trascendentale, in: Giornale di Metafisica XXIX, S. 35 – 51.
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Ein Plädoyer für ein adualistisches Philosophieren Replik zum Beitrag von Ugo Perone Ugo Perones Beitrag konzentriert sich auf drei Aspekte, die in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie von hoher Bedeutung sind: 1. Zeichen der Wirklichkeit. Die epistemologische Relevanz des Genitivs. 2. Die Frage nach dem Transzendentalen. 3. Philosophie und Öffentlichkeit. Im Folgenden möchte ich jeden dieser drei Aspekte aus der Sicht der Zeichenund Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] näher präzisieren. Dabei treten die Übereinstimmungen mit den Überlegungen Perones, aber auch Differenzen zutage.
1 Zeichen der Wirklichkeit. Die epistemologische Rolle des Genitivs Ugo Perone sieht sehr richtig, dass Genitiv-Kontruktionen in der ZuI-Philosophie oftmals nicht nur von sprachlicher, sondern auch von epistemologischer Relevanz sind. Diese Relevanz manifestiert sich unter anderem (a) in der Formulierung meines Buchtitels Zeichen der Wirklichkeit (ZdW) und dann etwa auch (b) in der des Öfteren verwendeten Formulierung ‚kraft der Zeichen und Interpretationen‘. Zu (a): Zunächst möchte ich einige der Überlegungen anführen, die mit der Verwendung des Genitivs in ‚Zeichen der Wirklichkeit‘ verbunden sind.¹ Im Anschluss an diese kurze Skizze kann ich dann die Übereinstimmungen ebenso wie die Differenzen zu Ugo Perones Sicht markieren. Entscheidend ist, dass die genannte Genitiv-Konstruktion eine grundsätzlich adualistische Konzeption des Verhältnisses von Wirklichkeit und Zeichen/Interpretation zum Ausdruck bringen soll. In dieser Formulierung werden drehtürartige Verhältnisse signalisiert: Jede individuierte und spezifische Wirklichkeit ist immer schon zeichen-verfasst und interpretations-bedingt; und jede gehaltvolle und nicht-irrtümliche Erfahrung ist immer schon Erfahrung von Wirklichkeit.
Vgl. dazu im Einzelnen (ZdW Einleitung). Auf das dort detaillierter entwickelte Material greife ich hier in Abbreviatur zurück. https://doi.org/10.1515/9783110522280-047
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Die übliche Zweipoligkeit in der Rede von ‚Zeichen und Wirklichkeit‘ zugunsten dieses Adualismus zurückzulassen, ist von entscheidender Bedeutung. Die ZuI-Philosophie verteidigt nicht einen Dualismus, etwa entlang der Frage, wie es unseren Zeichen und Interpretationen gelingt, an die Wirklichkeit anzudocken, oder umgekehrt: wie die Wirklichkeit ihren Weg in die semantischen Gehalte unserer Zeichen und Interpretationen findet. Glücklicherweise befinden wir uns nicht in einer epistemisch derart misslichen Lage, auf solche Fragen Antworten bereitstellen zu müssen. Flüssig und anschlussfähig funktionierende Zeichen/ Interpretationen und gelebte Wirklichkeiten sind ursprünglich einheitliche, stets bereits fusioniert auftretende Zustände, Prozesse und Phänomene. Es ist erklärtes Grundanliegen der ZuI-Philosophie, in puncto Zeichen/Interpretation-Wirklichkeit-Verhältnis eine Position jenseits bzw. diesseits des Würgegriffs der Dichotomie von passiver Spiegelung und bloßer Konstruktion einzunehmen. Von diesem Gesichtspunkt aus gilt es dann, die Strukturen unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses bzw. die Charakteristika des Triangels von Ich-Wir-Welt zu adressieren, zu erfassen und zu gestalten. Unsere Zeichen und unsere Interpretationen sind weder einfach nur Spiegel der Wirklichkeit noch ist Wirklichkeit ein bloßes Konstrukt unserer Zeichen und Interpretationen. Diesen Befund auf eine strikt adualistische Weise zu verstehen und zu modellieren, stellt hier die Herausforderung und das Desiderat dar, auf das die ZuI-Philosophie eine Antwort zu geben versucht. Die Vorteile des Übergangs von der Formulierung ‚Zeichen und Wirklichkeit‘ in die Formulierung ‚Zeichen der Wirklichkeit‘ manifestieren sich auch angesichts der vielen Missverständnisse, die mit der Formulierung ‚Zeichen und Wirklichkeit‘ in der Regel verbunden sind. Hier kommen einige wenige solcher philosophisch überaus folgenreichen Missverständnisse, etwa: (i) dass es sich um einen Dualismus von Zeichen/Interpretation und Wirklichkeit handle; (ii) dass Brückenprinzipien zwecks Überwindung der Kluft zwischen Zeichen/Interpretationen und Wirklichkeit erforderlich seien; (iii) dass unsere Zeichen/Interpretationen grundsätzlich defizitär gegenüber der Wirklichkeit seien; (iv) dass wir zwischen Zeichen/Interpretationen und Tatsachen epistemische Vermittler, Mediatoren, Konvertierer und repräsentationale Zwischeninstanzen (etwa Sinnesdaten) anzunehmen hätten; (v) dass eine vorab existierende apriorische Ordnung der Zusammenjochung von Zeichen und Wirklichkeit angenommen werden müsse; (vi) dass die Wirklichkeit als der gänzlich nicht-epistemische ‚Wahrmacher‘ unserer Zeichen und Interpretationen fungiere; (vii) dass skeptische Konsequenzen in Bezug auf das Verhältnis von Zeichen/Interpretation und Wirklichkeit jederzeit möglich und im Sinne eines terminalen Skeptizismus nicht eliminierbar seien; und (viii) dass uns unsere Welt und Wirklichkeit letztlich (und zwar in einem tiefen und gefährlichen, weil Halt- und Orientierungslosigkeit zur
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Folge habenden Sinne) fremd sei, wir mithin dem gnostischen Fremdheits-Syndrom selbst noch in den Fällen des erfolgreichen, flüssig fortsetzbaren und anschlussfähigen Zeichen- und Interpretationsgebrauchs hoffnungslos ausgesetzt seien. Zu (b): Was die Präposition ‚kraft‘ + Genitiv angeht, so sei angemerkt, dass ich diese von der Präposition ‚mittels‘ + Genitiv unterscheiden möchte. Letztere bezeichnet einen Zusammenhang instrumentalistischer und vermittelnder Natur (z. B. das Einschlagen eines Nagels mittels bzw. mithilfe eines Hammers). Erstere dagegen ist konstitutiv-herbeiführender Natur (z. B. das Herbeiführen eines Vertrags kraft Handschlags der Beteiligten). Mit der Präposition ‚kraft‘ wird dem ursprünglich-produktiven Charakter der ZuI-Funktionen auf der sprachlichen Ebene angemessener Rechnung getragen als in der instrumentalistisch-vermittelnden Formulierung ‚mittels bzw. mithilfe‘. Innerhalb des ZuI-Stufenmodells besitzen die Funktionen der Zeichen und Interpretationen vor allem auf den Ebenen 2 und 1 keineswegs einen bloß instrumentellen und vermittelnden Charakter. Von den (kategorialisierenden und habitualisierenden) ZuI1+2-Funktionen hängt vielmehr ab, was überhaupt als unsere Welt und als öffentlicher Raum der Üblichkeiten gilt, innerhalb deren wir dann instrumentalistische Operationen durchführen können. So können wir zum Beispiel auf der ZuI3-Ebene wissenschaftliche Hypothesen, Modelle und Theorien bilden, denen als symbolische Instrumente der Welt-Deutung und Welt-Aneignung eine hohe Wichtigkeit zukommt. Wir formieren und erfassen unsere Wirklichkeit kraft der Zeichen und Interpretationen (i) nicht im Sinne eines bloß instrumentalistischen Brückenschlags oder mithilfe von Brückenprinzipien zwischen Zeichen und Wirklichkeit, und wir formieren und erfassen unsere Wirklichkeit (ii) ohne ein Drittes, ohne zusätzliche epistemische Vermittler oder repräsentationale Zwischeninstanzen. Zugleich jedoch möchte ich auch nach der anderen Seite ein deutliches Warnschild aufstellen. So nachdrücklich ich den skizzierten Drehtüreffekt in der Formulierung ‚Zeichen der Wirklichkeit‘ betone, so nachdrücklich ist zugleich zu betonen, dass diese Sichtweise nicht darauf hinausläuft, Zeichen und Wirklichkeit gleichzusetzen. So behaupte ich zum Beispiel auf keinen Fall, dass es über die kraft der Zeichen und Interpretationen zugänglichen Eigenschaften keine weiteren Eigenschaften von Wirklichkeit geben könne. Das wäre ein semantischer und deutungs-theoretischer Fehlschluss. Es ist wichtig zu sehen, dass in der Formulierung ‚Zeichen der Wirklichkeit‘ ein Moment der Differenz gleichberechtigt gegenüber dem Moment der ZuI-Anhängigkeit einer jeden Wirklichkeit ent-
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halten ist.² Diesen Aspekt zu betonen, heißt selbstverständlich auch, dass man nicht sinnvoll sagen kann (was ich irrigerweise manchmal in Diskussionen vorgehalten bekam): ‚Alles ist Zeichen‘ oder ‚Alles ist Interpretation‘. Von einer solchen und nicht explizierbaren Position ist die ZuI-Philosophie deutlich entfernt. Der Satz der Zeichen und Interpretation (wie ich ihn in Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI) formuliert habe) besagt im Kern, dass eine individuierte, spezifische und raum-zeitlich lokalisierte Erfahrungswirklichkeit nicht gänzlich unabhängig von den individuierenden, spezifizierenden und lokalisierenden ZuIFunktionen gedacht werden kann. Eine gänzlich zeichenlose und nicht-interpretative Wirklichkeit wäre eine Wirklichkeit von nichts, auf die wir uns darüber hinaus auch nicht verstehen würden. Die ZuI-Philosophie geht also nicht davon aus, dass einfach alles und schlechthin Zeichen und Interpretation ist, wohl aber davon, dass gänzlich ohne die Kraft der individuierenden, spezifizierenden und lokalisierenden Zeichen und Interpretationen alles nichts wäre, unsere Welt und Erfahrung nicht unsere Welt und Erfahrung wären. Hinzu tritt der meines Erachtens überaus wichtige Aspekt, dass mit der ZuIAbhängigkeit zugleich auch die Möglichkeit verbunden ist, andere und bislang nicht beachtete neue Aspekte und Eigenschaften (kraft neuer ZuI-Funktionen) unserer Wirklichkeit und Erfahrung aufdecken bzw. entdecken zu können, zum Beispiel in Bezug auf Tische, Stühle, Materie, Moleküle, Neuronale Assemblies oder Primzahlen. Wo liegen vor diesem Hintergrund die Übereinstimmungen mit und wo die Differenzen zu Ugo Perones Sichtweise? In puncto Übereinstimmung freue ich mich zunächst (a) darüber, dass auch Ugo Perone die basale, grundlegende und nicht-eliminierbare Rolle der Interpretation für unser Welt-, Fremd- und Selbstverständnis betont. Abgekürzt und in der Linie der ZuI-Philosophie möchte ich die von ihm geteilte ZuI-philosophische These zugespitzt formulieren: Ohne Interpretation kein Welt-, Fremd- und Selbstverständnis, ja ohne Interpretation nicht einmal Wahrheit, wie Perone mit Bezug auf Luigi Pareyson betont, wobei er freilich aus seiner Sicht sogleich hinzusetzt, dass eine Interpretation „nur echt ist, wenn sie sich auf die Wahrheit bezieht“ (Kap. 1). Sodann (b) teile ich Perones Überlegung, dass die Rede von ‚Interpretation‘ im Unterschied zur bloßen ‚Deutung‘ und im Sinne des konstitutiven und basalen Mechanismus der Formierung unserer Erfahrungswirklichkeit im Zuge der Moderne immer prominenter geworden ist. Die ZuI-Problematik hat, so möchte ich
Dieses Verhältnis von Abhängigkeit und Nicht-Reduzierbarkeit habe ich detailliert entfaltet in (SZI Kap. 2).
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sagen, in der Neuzeit und zumal in der Moderne eine so rasante Karriere hingelegt, dass sie gleichsam zur Signatur der Moderne geworden ist. Zeichen- und Interpretationsprozesse sind in ihrer Rolle als Grundoperationen auf dem ganzen Spektrum von Empfinden, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten hervorgetreten und deutlich geworden. In Anlehnung an eine Aristotelische Figur gesprochen könnte man durchaus sagen: spät erst ist herausgekommen, was von Anfang an treibend war und ist. Das ist der Hintergrund für meine These, dass die ZuI-Philosophie in historischer ebenso wie in systematischer Hinsicht einen Reflexionsstand der Gegenwartsphilosophie selbst verkörpert und artikuliert. Vor diesem Hintergrund lassen sich zugleich aber auch Unterschiede zu Perones Sichtweise markieren. In Abbreviatur möchte ich die beiden folgenden Punkte anführen: (a) Bei aller Betonung der ‚Interpretation‘ als Grundoperation ist die Sichtweise Perones letztlich doch die eines verdeckten Dualismus. Zwar haben wir Wirklichkeit nur in der Interpretation. Das Ansichsein der Dinge jedoch ist uns verlorengegangen und eben nur noch über unsere Interpretationen und quasiverloren noch mitpräsent. Aber es ist als Verlorengegangenes doch in dem Sinne wirksam, dass wir die verlorengegangene „Einheit“ (Kap. 1) von Subjektivem und Objektivem/Wesentlichem aus ihrem „Verloren-sein heraus“ erleben. „Nur als verlorene und wiederzugewinnende Einheit wird die Einheit zur Voraussetzung jeder neuen modernen Erfahrung.“ (Ebd.) Wir haben es also mit einem Dualismus, obzwar mit einem verlorenen, aber eben einem ex negativo gleichwohl sehr effektiven Dualismus zu tun. Gegenüber dieser Sichtweise ist die ZuI-Philosophie konsequenter und radikaler. Wie dargelegt plädiere ich entschieden für den skizzierten Adualismus des Verhältnisses von Zeichen/Interpretation und Wirklichkeit. Ich möchte dieses Verhältnis nicht aufsplitten in zwei „Bereiche“ (Kap. 1), die dann auf eine letztlich mirakulöse Weise doch gemeinsam funktionieren sollen. Stattdessen verteidige ich einen in sich pluralisierten Monismus. Im flüssigen und anschlussfähigen Funktionieren unseres Empfindens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens ist alles auf eine solche Weise präsent, dass wir nicht auf die Annahme einer ‚verlorengegangenen Einheit‘ oder gleichsam eines ‚deus absconditus‘ verpflichtet wären. In den zeichen-verfassten und interpretations-abhängigen Phänomenen, Zuständen, Prozessen und Erfahrungswirklichkeiten sind unsere Welten auf vielfältige Weise und in opulenter Präsenz real, auf die wir uns verstehen und die wir auch im Blick auf Neues zu erkunden vermögen. Man denke hier als Beispiel an die Expressivität in den Künsten, etwa an die eines musikalischen Klangs. In dessen Intonation kann opulente Expressivität präsent sein,
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ohne dass wir eine zusätzliche Welt ‚dahinter‘ annehmen müssten, welche, obgleich verlorengegangen, solche Expressivität überhaupt erst ermögliche. (b) Direkt mit dem letztgenannten Punkt hängt zusammen, dass ich, im Unterschied zu Perones Sicht, mich erst gar nicht auf die Erlebnisperspektive festlegen lasse, wir hätten es im flüssigen und anschlussfähigen Empfinden, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten überhaupt mit so etwas wie verloren gegangenem Sinn, einem „gespaltenen Zusammenhang“ (Kap. 1), verloren gegangener Einheit von Subjektivem und Objektivem sowie mit einer „Sehnsucht nach dem Verlorenen“ (ebd.) oder mit einer diesen Befunden korrelierenden grundsätzlichen und nicht-aufhebbaren Zerrissenheit zu tun. Alle diese Charakteristika scheinen mir überhaupt nur innerhalb einer Architektur des Dualismus von Zeichen/Interpretation und Wirklichkeit entstehen und von dort aus dann im Grenzfall bis auf die existentielle Ebene des subjektiven Erlebens durchschlagen zu können. Die ZuI-Philosophie bewegt sich erklärtermaßen nicht in dieser Architektur. Sie versucht die in dieser älteren Architektur auftretenden Probleme dadurch einer Auflösung zuzuführen, dass sie Bedingungen angibt, unter denen diese nicht mehr auftreten können. Das hat auch zur Folge, dass sich die ZuI-Philosophie nicht genötigt sieht, für alle in der älteren Architektur vorkommenden und nur dort sinnvoll erscheinenden Probleme eine Lösung anbieten zu müssen. Oftmals ist ein solcher Zwang Bestandteil nicht der Lösung, sondern des Problems.
2 Die Frage nach dem Transzendentalen Unterschreiben kann ich Perones Vorschlag, dass man Interpretativität nicht einfach nur als „Deutung“, sondern „eher als eine Art Ausdehnung und Fortsetzung des Transzendentalen“, die ZuI-Philosophie als „Erbe der Transzendentalphilosophien“ vor allem Kants und Husserls sehen sollte (Kap. 2). Freilich kommt alles darauf an, was wir unter ‚transzendental‘ verstehen.³ Und an genau diesem Punkt treten erneut sowohl eine Gemeinsamkeit mit Perone als auch eine Differenz zutage. Perone verweist mit Recht auf die Position Kants. Kant kritisiert die Behandlung der Frage des Transzendentalen bei den Autoren des Mittelalters. Letztere hätten den Fehler begangen, die Kategorien der Quantität (Einheit, Vielheit, Allheit) nicht als „Kriterien des Denkens“ anzusehen, sondern sie zu
In Bezug auf die grundsätzliche Frage des Verhältnisses von ZuI-Philosophie und Transzendentalphilosophie darf ich auf meine Replik zum Beitrag von Georg Bertram verweisen.
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„Eigenschaften der Dinge an sich“ gemacht zu haben. Hier bin ich entschieden auf der Seite Kants. Bei ihm heißt es: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.“ (KrV B 25) Diese Kantische Wende in der Erkenntnisproblematik möchte ich wie folgt reformulieren: Insofern wir unsere Erkenntnissätze für sinn- und bedeutungsvoll halten (und das tun wir offensichtlich), können wir nach denjenigen sinn- und bedeutungslogischen Präsuppositionen fragen, die wir als erfüllt stets bereits unterstellt haben, sofern wir unsere Sätze, Urteile und Gedanken für sinn- und bedeutungsvoll und für gültig halten. Von dieser Formulierung aus wird der Zusammenhang von ZuI-Philosophie und Transzendentalphilosophie deutlich. Der reflexive Rückgang in die zeichenverfasste und interpretations-bedingte Natur eines jeden menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses markiert den Punkt, an dem sich ZuI-Philosophie und Transzendentalphilosophie treffen. Sofern man bereit ist, die für Kants Philosophie des Erkennens und des Handelns charakteristische Ebene der kategorialen und der praktischen Organisation unserer Erfahrung als eine sich in Zeichen und Interpretationen vollziehende Form der Organisation anzusprechen, könnte man durchaus so verwegen sein, Kant als den ersten ZuI-Philosophen anzusehen. Der Unterschied zu Perones Auffassung besteht darin, dass ich Kant in der skizzierten Perspektive keineswegs als einen Dualisten verstehe, gefangen in der „prinzipiellen Dualität“ (Kap. 2) zwischen dem Ding-an-sich auf der einen und der Form unseres Denkens auf der anderen Seite. Entsprechend halte ich mir auch nicht (und anders als Perone) die Option offen, doch noch den Anschluss an die Bestimmungen des Transzendentalen bei den mittelalterlichen Autoren zu bewahren. Perone betont zwar, dass Kant die „Umkehrung“ des „ontologischen, mittelalterlichen Realismus“ lehrt (Kap. 2), möchte ihn aber doch als einen Partner für das eigene Anliegen in der Einstellung behalten, dieses von den scholastischen Autoren betonte „anders Seiende nicht aus[zustreichen]“ (ebd.). Ich meinerseits glaube weder, dass Kants Philosophie für eine solche Partnerschaft zu Gebote steht, noch dass es unter kritischem Vorzeichen geboten sein kann, dasjenige, wogegen sich der Kritizismus der Philosophie vornehmlich wendet, gleichsam als ‚hidden entity‘ weiterhin beizubehalten. Hier ist die ZuI-Philosophie konsequenter und darin auch, wenn man so will, Kantischer als die von Perone vorgeschlagene Lesart. Nicht eigens betont zu werden braucht, dass selbstverständlich auch für die ZuI-Philosophie die Frage des Realismus ein überaus zentrales Thema ist. Diese Frage des Realismus tritt jedoch vor allem in Form der internen Realitäts-Annahmen in den Prozessen
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unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens auf die philosophische Agenda – und dies letztlich in einer stärkeren Version, als dies im Rahmen der Annahme von ‚hidden entities‘ überhaupt möglich ist.
3 Philosophie und Öffentlichkeit Mit Recht betont Perone, dass der Raum, in dem die „Verflechtung“ zwischen der Interpretation und dem Transzendentalen besonders deutlich hervortritt, der „öffentliche Raum“ bzw. die „Öffentlichkeit“ ist (Kap. 3). Entlang seiner Überlegungen wird deutlich, dass der öffentliche Raum ein Zeichen- und Interpretationskonstrukt besonderer Art und für das menschliche Miteinander sowie für das Politische besonders wichtiger Raum ist. Diese Charakterisierung teile ich nachdrücklich. Im Folgenden möchte ich einige Präzisierungen hinsichtlich des Verhältnisses von ZuI-Philosophie und Öffentlichkeit vornehmen (die man zugleich auch als eine Ergänzung meiner Replik auf Lukas K. Sosoe lesen kann). Ich möchte in zwei Schritten vorgehen. Zunächst (a) möchte ich die öffentliche Natur der ZuI-Philosophie skizzieren. Sodann (b) möchte ich anhand von zwei Beispielen verdeutlichen, in welchem Sinne ZuI-Philosophie und Öffentlichkeit in einer internen und nicht bloß in einer externen Verbindung stehen. Zu (a): Leicht lassen sich Grundwörter und Grundfragen benennen, die (i) vorrangig in der Philosophie thematisch werden, deren Klärung (ii) in die Zuständigkeit der Philosophie fällt und die (iii) für die Individuen ebenso wie für den Öffentlichen Raum von hoher Relevanz sind.⁴ Beispiele für solche Grundwörter sind: Kommunikation, Kooperation, Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft oder auch Person. Beispiele für entsprechende Grundfragen sind: Wie ist der öffentlichpolitische Raum zu gestalten? Was ist der Staat und worauf beruht sein autoritatives Gebot? Was ist rational und was irrational? Und die auch in diesem Zusammenhang wichtigste Frage: Wie kann ich mein bzw. wie können wir unser Leben richtig führen? Diese Grundwörter und Grundfragen betreffen Herausforderungen und Probleme, die ein Individuum nicht solipsistisch und nur für sich allein klären könnte. Und sie sind zugleich Schlüsselthemen im und für den öffentlichen Raum sowie im Raum des Politischen. So ist etwa jede Wissenschaft, jede Philosophie ebenso wie jede öffentliche und politische Entscheidung (zum Beispiel seitens staatlicher Autoritäten) ver-
Zum Folgenden vgl. detaillierter (Abel 2013); auf die dort entfalteten Materialien greife ich hier zurück.
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nünftiger Weise auf eine öffentliche und intersubjektive Begründung ihrer Behauptungen, Entscheidungen und Maßnahmen verpflichtet. In diesem Sinne liegt – auch wenn man dies mit Blick auf die tatsächlichen Prozesse und Entscheidungen im öffentlichen und politischen Raum kaum glauben mag! – eine Verpflichtung auf rationalen Diskurs, auf Argumentation, auf rationale Akzeptabilität, auf intersubjektive Rechtfertigung und auf eine diskursive Öffentlichkeit vor. Kurz: Philosophie, Wissenschaft und Politik sind in ihrem eigenen Charakter stets bereits auf Öffentlichkeit angelegt und auf diese verpflichtet. An diesem Punkt bin ich, wie auch Ugo Perone, entschiedener Verfechter der aufklärerischen Wurzeln und der Kraft des Gedankens der Öffentlichkeit. Dass Perone seine Auffassung des Politischen abschließend im Rückgriff auf das Bild der (in Italien besonders eindrucksvollen) ‚piazza‘ verdeutlicht, hat mich, ich gebe es zu, angesichts meiner Italienbegeisterung besonders gefreut. Zu (b): Im Blick auf die Rolle der Philosophie im öffentlichen und politischen Raum möchte ich zunächst für die beiden folgenden Punkte plädieren: (i) In einem ersten Schritt haben wir das Bild zurückzulassen, der Öffentliche bzw. Politische Raum sei als ein Raum letzter metaphysischer Wahrheit anzusehen. Das ist in deskriptiver Hinsicht offenkundig nicht der Fall, und es ist in normativer Hinsicht alles andere als erstrebenswert, hätte Fanatismen und Totalitarismen zur Folge. Vielmehr handelt es sich um einen Raum der Meinungen und Überzeugungen, der Entscheidungen und der Lösung gesellschaftlicher Probleme und der Gestaltung öffentlicher Lebensprozesse. Der Öffentliche Raum ist der Raum der ZuI-Prozesse und seinerseits ZuI-Produkt. (ii) Wichtig ist in einem zweiten Schritt zu betonen, dass der Raum und die Ordnung der Meinungen und Überzeugungen auch nicht zwecks Herstellung einer Ordnung des perfekten Wissens und der letztgültigen Wahrheit überwunden werden sollen. Anhand von zwei Beispielen sei die interne Verschränkung von ZuI-Philosophie und Öffentlichkeit näher verdeutlicht. (a) Demokratie und ZuI-Philosophie. In der Replik auf Lukas K. Sosoe habe ich dargelegt, dass und in welchem Sinne aus Sicht der ZuI-Philosophie die politische Herrschaftsform der Demokratie affin und familienverwandt zu der ZuI-Ethik der irreduzibel pluralen Zeichen- und Interpretationsverhältnisse ist. Der Öffentliche Raum ist der Raum, in dem konkurrierende ebenso wie kooperierende Interpretationen im Wettbewerb um Mehrheiten stehen, angesichts der Tatsache, dass wir mit unseren Interpretationen nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch von so etwas wie ‚Der Einen Definitiven Und Allgemein Verbindlichen Wahrheit Und Richtigkeit‘ abgeschnitten sind. Vor diesem Hintergrund hat die ZuI-Philosophie nicht nur das Recht zur Intervention und Partizipation im Öffentlichen Raum. Sie hat vielmehr die Pflicht sich einzumischen. Dies ist nicht zuletzt deshalb geboten, um die prinzipielle Offenheit der pluralen ZuI-Prozesse im Öffent-
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lichen und Politischen Raum aktiv zu verteidigen. So muss die ZuI-Philosophie zum Beispiel darauf pochen, dass die Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Interpretationen um die Erlangung oder Verhinderung von Mehrheiten stets in Bahnen demokratischer (und aus meiner Sicht vor allem formaler und prozeduraler Verfahren) erfolgt. Diese Prozesse müssen stets die Möglichkeit offenhalten, dass andere Perspektiven und Interpretationen anderer Personen und Gruppen anschlussfähig gehalten werden und dass diejenigen Interpretationen, die zur Zeit nicht mehrheitsfähig sind, dies im Prinzip zu einem anderen Zeitpunkt werden könnten. Dies schließt nachdrücklich und konkret vor allem auch den Einsatz der ZuI-Philosophie für den Minderheitenschutz ebenso wie für die Menschenrechte ein. (b) Moral und Recht. Die ZuI-Philosophie ist aufgefordert, im Öffentlichen und Politischen Raum die wichtige Rolle des Rechts (in seiner Unterschiedenheit zur Moral) vor Augen zu führen (vgl. Abel 2010). Im Recht werden Regeln formuliert, die das öffentliche menschliche Zusammenleben ordnen. Das Recht hat in der Sicht der ZuI-Philosophie seine friedens- und gerechtigkeits-stiftende Rolle vornehmlich darin zu verhindern, dass einzelne Personen oder Gruppen ihr partikulares Weltbild als das definitive und allgemein verbindliche durchsetzen. In dieser Auffassung der Rolle des Rechts gründen sowohl die Legitimation, Rechtszwang und autoritatives Gebot auszuüben, als auch die Möglichkeit, Missstände zu adressieren und Gerechtigkeit für jedermann einzuklagen.
Literatur Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2010: Warum Demokratie? Eine philosophische Verteidigung gegen die subtilsten unter ihren Verächtern. Vortrag bei der Academia Engelberg, Neunter Wissenschaftsdialog: Herausforderung Demokratie, 13. – 15. Oktober 2010 in Engelberg, Schweiz; [Online-Zugang: s. Schriftenverzeichnis Zff. VI.10 im Anhang dieses Buches]. Abel, Günter 2013: Filosofia e sfera pubblica, in: Perone, Ugo (Hg.): La filosofia nello spazio pubblico, Torino, S. 11 – 25. Kant, Immanuel 1787: Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904/11; (Nachdruck: Werke. Akademie Textausgabe, Berlin / New York 1968 ff.), S. 1 – 552; [KrV].
Kapitel 11: Bilder und Klänge
Horst Bredekamp
Leibniz’ Lichtbild des Tentamen anagogicum Für eine materiale Philosophie des Bildes Abstract: Gottfried Wilhelm Leibniz’ Tentamen anagogicum from 1696 is an important text in the history of light theory. In its combination of manuscript pages, formulas and drawings it shows Leibniz manifold ways of thinking. The way in which his drawing hand enabled him to reflect became supressed in modern reproductions of his disegni. This case is an example of the unwillingness of large parts of philosophy to accept the autonomous reflexive activity of images. Günter Abel’s philosophy of images instead is shown in its vicinity to Leibniz’ abilities. Further steps to radicalize his approach are suggested.
1 Günter Abels Vorstoß In seinem im Jahr 2004 erschienenen Buch Zeichen der Wirklichkeit, in dem ein Jahr später publizierten Artikel Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder wie auch in anderen Schriften hat Günter Abel den wegweisenden Vorstoß unternommen, Bilder als ‚Zeichen‘ zu definieren, ohne sie dadurch zum Objekt der Sinnzuweisung andernorts definierter Bedeutungen zu machen.¹ Vielmehr beharrt Abel darauf, dass Zeichen Bildern nicht appliziert werden, sondern dass diese „kraft der Zeichen […] Sinn, Bedeutung und Expressivität“ besitzen (Abel 2005: 13). Die entscheidende Konsequenz liegt darin, dass sich dieser Vorgang nicht aus dem Motivischen allein, sondern vielmehr aus der formalen Gestaltung selbst ergibt: „In der Regel zählt an Bildern jede noch so feine Nuance (z. B. der Farbgebung) als ein eigener Zeichencharakter.“ (15) In diesem Grundzug finden alle Theorien der Repräsentation ihre Grenze. Bilder repräsentieren nicht, sondern sie zeigen aus eigener Bestimmung. ZeichenPhilosophie der Bilder kann Abel zufolge daher „nicht als eine repräsentationalistische Theorie verstanden werden“ (19). Vielmehr fallen im Bild Zeichen und Phänomen tendenziell zusammen; was erscheint, ist nicht die visuelle Fassung eines nicht-bildlichen Gehalts, sondern vielmehr der Zusammenfall von Anschauung und Begriff (21). (ZdW 349 – 369). Im Folgenden verwende ich die spätere, separate Fassung (Abel 2005). https://doi.org/10.1515/9783110522280-048
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Hieraus resultiert die Absetzung von der analytischen Spielart einer sprachlich geprägten Philosophie. Sie ist darin begründet, dass die Bedingung der widerspruchsfreien Erzeugung wahrer Begriffsfolgen, aus denen das Handeln erklärt und abgeleitet wird, Bildern nicht gerecht werden kann. Auf Bilder und das durch sie ausgelöste Handeln können die Regeln des prädikativen wie des propositionalen Begreifens nicht angewandt werden (24 f.). Hierin liegt der Bruch mit der Vorstellung von der linguistischen Prägung des Bewusstseins wie auch mit der generellen Annahme, dass im Bild eine außerbildliche Setzung repräsentiert sei. Darin, dass Abel sowohl das linguistische wie auch das repräsentationale Paradigma aus seinen Angeln hebt, gehört er zu einer kleinen Gruppe von Philosophen, die es ablehnt, Bilder als ‚Abziehbilder‘ einer sprachlich determinierten Philosophie zu begreifen. Hierin liegt der außerordentliche, auch für die Kunstgeschichte bedeutsame Stellenwert von Abels Neujustierung der Reflexion von Bildern. Indem er die Philosophie in ein angemessenes Beziehungsverhältnis gegenüber den Bildern setzt, zieht er aus dieser Relation einen rückschlagenden Anspruch an diese selbst. Abel folgt hier Nelson Goodman (1997), aber er geht doch fundamental über diesen hinaus. Bei aller fast körperlich spürbaren Zuneigung zu Bildern als philosophischen Ereignissen ist Goodman in der Denkschule des linguistischen Paradigmas verblieben, wohingegen Abel die Philosophie in einen Denkrahmen stellt, der die Unabdingbarkeit der Sprache bekräftigt, um die Erläuterung ihres Andersseins zu einer der Bedingungen ihres Agierens zu machen. Sprachliche Bilddurchdringung ist hierin auch eine Reflexion der Grenzen des eigenen Tuns als Philosoph, und damit gewinnt die Philosophie aus ihren Defizitrelationen die Stärke ihres besonderen Stellenwerts. Es bleibt ein Einwand, der die höchste Wertschätzung von Abels Philosophie keinesfalls mindert. Wenn in Welt-Bildern „Begriff und Anschauung nicht mehr trennscharf gegeneinander isoliert werden“ (ZdW 143) können, erscheint es problematisch, vom „vor-begrifflichen Charakter eines Weltbildes“ (ZdW 137) auszugehen; aus Sicht einer bildaktiven Phänomenologie wirkt dies wie eine defensive Zurücknahme dieser radikalen und radikal zutreffenden Bestimmung.² Ein ähnlicher Zwiespalt tut sich gegenüber der „normierende[n] Kraft“ von Welt-Bildern (ZdW 143) auf. Auch diese ist zu bejahen, aber hier fehlt mit der eigenaktiven, subversiven und subjektiven Art der Normtransformation jener Gegenpol, der mit Bildern als Organen der Begriffsverwandlung nicht weniger stark verbunden werden muss. Abel hat die zutiefst unphilosophische Angst der Philosophie vor diesem Potential der Bilder überwunden, aber sie bleibt ein unsichtbarer Magnet,
Vgl. (Bredekamp 2010).
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der ihn, so scheint es, zurückgehalten hat, sich dem Abyssus der begriffsschäumenden Individualität, wenn nicht Lebendigkeit der Bilder zu stellen. In seiner Interpretation des Deutens als eines weltschaffenden Handelns hat Abel einen Denkrahmen formuliert, innerhalb dessen sich dieses Tun zu relativieren und gegenüber allem Essentialismus abzuschirmen vermag.³ Mit den Bildern, so versucht das Folgende auszuführen, hat dieser basale Punkt von Abels gesamter Philosophie in einem stärkeren Maße ein Agens gefunden, als es in einer BildZeichentheorie hätte offengelegt werden können.
2 Die Problematik der Einstiegsebene Philosophische Untersuchungen setzen in der Regel bei gleichsam gereinigten, begrifflich durchkomponierten Fassungen von Texten an. Bilder werden heute in geringerem Maß als früher, immer noch aber in erheblichem Ausmaß missachtet, weil mit dem bildlichen Denken das Individuelle in Philosophie und Mathematik einen schweren Stand hat.⁴ So sind die Zeichnungen und graphischen Gestaltungen Leonhard Eulers über lange Zeit ebenso wenig bemerkt worden⁵, wie die nach Zehntausenden zählenden Zeichnungen von Charles Sanders Peirce, der von sich behauptete, dass er nicht in Worten, sondern Bildern reflektiert habe.⁶ Als nicht weniger problematisch erscheint es, wenn eines der Vorbilder von Peirce, Gottfried Wilhelm Leibniz, der in seiner metaphysischen Philosophie Materie und Geist bis in die feinsten Formen der internen Entfaltung zu verklammern versuchte, in seinen bildlichen Dimensionen unterschätzt wurde.⁷ Mehrfach ist betont worden, dass in der Präsenz seiner handschriftlichen Zeichnungen und Manuskripte die Untrennbarkeit von Denken und Gestaltung verknüpft sei,⁸ aber selbst im letzten Band der Akademieausgabe von Leibniz’ Schriften sind die Zeichnungen entweder in der deutenden Art bereinigter geometrischer Konstruktionen oder durch Faksimiles wiedergegeben worden, die jedoch ohne Erläuterung geblieben sind.⁹ Hier zeigt sich nicht etwa eine indivi-
S. (Iw 521– 525 u. passim). Vgl. die Charakterisierung und Kritik dieser Einstellung: (Schaub 2010). Dem hat Wladimir Velminski (2009) ein Ende bereitet.Vgl. auch (Bredekamp / Velminski 2009). (Peirce 1909: MS 619, S. 8); vgl. (Engel / Queisner / Viola 2012: 41). Leibniz’ lebenslang verfolgtes Konzept einer gedankentreibenden Sammlung, des „Theaters der Natur und Kunst“, ist hierfür ein besonders anschaulicher Beleg (Bredekamp 2008). Besonders eindringlich: (Hecht / Knobloch / Rieger 2002). S. (Leibniz 2011: Brief Nr. 7, Leibniz an Andreas Du Mont 11. (21.) Juli 1696, S. 28; Erläuterung S. 26, Z. 15 f.).
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duelle Schwäche, sondern vielmehr das Verhaftetsein an einem Denkstil, der einem wechselseitigen Ausschlussverfahren folgt: Wo das Individuelle gezeigt wird, wird es nicht gedeutet, und wo es interpretiert wird, wird es um seine Singularität gebracht. Damit werden die Spuren eines unmittelbaren Denkens aber zu Attrappen ihrer selbst.
3 Eine Zeichnung des Tentamen anagogicum Zu welch aberrativen Folgen dieses disjunktive Verfahren führen kann, verdeutlicht beispielhaft eine Zeichnung aus Leibniz’ vielleicht wichtigstem Text zur Lichttheorie, dem Tentamen anagogicum. Es handelt sich um die zweite von insgesamt drei Darstellungen, die das Prinzip der sogenannten höchsten Bedingtheit verdeutlichen. Auf Blatt 4r zeigt sich die für Leibniz charakteristische, durch immer neue Durchstreichungen und Einschübe entwickelte Form der Textfindung. Die ersten beiden Zeichnungen sitzen oben und unten am rechten Bildrand (Abb. 1). Die rechts oben angelegte Fig. 1 stellt im unteren Teil den Strahlengang bei der Reflexion des Lichts als elementargeometrisches Problem dar, während im oberen Teil derselbe Sachverhalt als Gegenstand räumlicher Ordnungsbeziehungen diskutiert wird (Abb. 2). Unter ‚Spiegeln‘ versteht Leibniz sämtliche Medien, durch die der gerade Lichtstrahl reflektiert und gebrochen wird, unabhängig davon, ob das Licht vollständig zurückgeworfen oder durchgelassen, in seiner geraden Linie aber verändert wird. Im Zusammenhang seiner Lehre der höchsten Determiniertheit geht es immer um durchlässige Medien, die das Licht in seinem Weiterlauf verändern, nicht aber gänzlich verhindern. Leibniz’ entscheidender Gedanke liegt darin, dass die Strahlen Q und R auf der gegenüberliegenden Seite jeweils einen ‚Zwilling‘ in Form der Strahlen q und r besitzen, wohingegen die Strahlen E und e idealiter zusammenfallen und damit den Weg der höchsten Determiniertheit bezeichnen.¹⁰ Der Reflexionspunkt ist daher nicht dadurch bestimmt, ob der Weg des Strahls auf die Reflexionsfläche der längste oder der kürzeste ist, sondern dadurch, ob die Zwillingsstrahlen als solche in doppelter Form erscheinen oder ob sie zu einer Einheit zusammenfallen.
(Hecht 2004: 181– 183). Vgl. auch (Bredekamp 2012: 108 f.).
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Abb. 1: Gottfried Wilhelm Leibniz, Tentamen anagogicum, braune Feder, Juli 1696, (LH XXXV, 35, 7, Bl. 4r).
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Abb. 2: Gottfried Wilhelm Leibniz, Tentamen anagogicum, Zeichnung 1, braune Feder, Juli 1696, (Detail aus Abb. 1).
Trifft Letzteres zu, ist bei ihrem Auftreffen auf die Spiegel der Reflexionspunkt definiert.¹¹ Daran schließt Leibniz eine analytische Bestimmung des Reflexionspunkts an, die er folgendermaßen einleitet: „Lass ACB einen Spiegel jedweder Art sein, plan, konkav oder konvex; und lass zwei Punkte F und G gegeben sein [Abb. 3]:
Abb. 3: Bestimmung des Reflexionspunktes. Graphik nach Leibniz’ Zeichnung (Abb. 2).
Um den Reflexionspunkt C zu finden, so dass der Weg FCG der einheitliche, einzige, oder höchst determinierte Weg ist, den die Alten einst μοναχὸν nannten, entweder der größte oder kleinste, das heißt gemäß dem, wie immer er sich ein „Ainsi le fondement de l’analyse est cette unicité causée par la reunion des jumelles, sans qu’on se mette en peine si l’ordonnée est la plus grande ou la plus petite.“ (Leibniz 1890: 275).
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stellt. Denn jene, die in diesem Sinn nicht einzig sind, sind Doppel oder Zwillinge, indem sie einen anderen derselben Länge haben, der mit ihnen korrespondiert.“¹² Die in dieser einleitenden Erläuterung erwähnten drei Spiegel AB, der Reflexionspunkt C und der Strahlengang FCG markieren die physikalischen Grundelemente der Zeichnung. In einem geradezu didaktischen Stil geht Leibniz sodann Schritt für Schritt vor (Abb. 4): „Zeichnen wir FG, deren Mittelpunkt H ist, und zwischen C und FG zeichne CB lotgerecht zu FG, und CP [lotgerecht] zum Spiegel.“¹³
Abb. 4: Bestimmung der lotgerechten Linien. Graphik nach Leibniz’ Zeichnung (Abb. 2).
Bis zu diesem Eintrag korrespondieren Text und Zeichnung. Alle weiteren Benennungen und Rechenoperationen muss der Leser auf jenem Blatt Papier eintragen, das er nach den Anweisungen von Leibniz vollzogen hat. Alle Re-
„Soit […] un miroir quelconque ACB, plan, concave ou convexe, et deux points donnés F, G; on demande le point de reflexion C, tel que le chemin FCG soit l’unique, le singulier ou le determiné en grandeur, que les anciens appelloient déja μοναχὸν c’est à dire ou le plus grand ou le plus petit (selon que l’un ou l’autre a lieu) car ceux qui ne le sont point, sont doubles ou jumeaux, ayant un autre qui leur repond et qui a la même longueur.“ (Leibniz 1890: 275 f.). „Joignons FG dont le milieu soit H et entre C et FG menons les perpendiculaires CB à FG, et CP au miroir.“ (Leibniz 1890: 276)
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chenoperationen, in denen Leibniz den Differentialkalkül einsetzt,¹⁴ zeigen die Wichtigkeit des Punktes H und dessen Position (Abb. 5).¹⁵
Abb. 5: Benennung der Linien zum Einsatz des Differentialkalküls. Graphik nach Leibniz’ Zeichnung (Abb. 2).
„Nenne HF oder HG a, HB x, CB y, dann wird BP –y dy/dx sein, rückwärts genommen. Dann wird CF !"""""""""""""""""""""""""""""""""" y2 ! x2 ' 2ax ! a2 , und CG wird !"""""""""""""""""""""""""""""""""" y2 ! x2 ! 2ax ! a2 , und wir haben CF ! CG & m . Differenzierend, erhält man d$CF" ! d$CG" & 0 ;
Der Schreibweise von Leibniz entsprechend definiert dy/ dx das Verhältnis PB / CB. Das Vorzeichen ergibt sich aus der Art, in der Leibniz den Lichtweg FCG definiert (freundlicher Hinweis von Hartmut Hecht). Der folgende den mathematischen Ausführungen von Leibniz gewidmete Abschnitt ist gemeinsam mit Hartmut Hecht verfasst, für dessen Hilfe herzlich zu danken ist.
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das ist y dy ! x dx ' a dx y dy ! x dx ! a dx ! &0, CF CG oder CF a ' x ' y & CG a ! x ! y
dy dx dy dx
.
Aber a – x ist BF und a + x ist GB. Also ist CF BF ! BP & CG GB ' BP oder CF PF & . CG PG Dies zeigt, dass der Winkel der Direktionen FCG durch die Senkrechte auf der Kurve CP halbiert wird, oder dass der Einfalls- und Reflexionswinkel gleich sind, durch welche der Oberflächen die Reflexion auch immer bewirkt werden mag.“¹⁶ Obwohl der Leibnizsche Text eindeutig ist und auch die Figur den Sachverhalt korrekt wiedergibt, weicht die Zeichnung in der bis heute benutzten Ausgabe des Tentamen angogicum im 7. Band von Carl Immanuel Gerhardts Zusammenstellung der philosophischen Schriften von Leibniz sinnentstellend davon ab (Abb. 6). So stehen weder die Gerade CP senkrecht auf den Spiegeln AB, noch die Gerade CB lotgerecht auf der Linie GF.
„Appellons HF ou HG, a; HB, x; CB, y et BP sera –y dy : dx se prenant en arriere. Donc CF sera √(yy + xx – 2ax + aa) et CG sera √(yy + xx + 2ax + aa) et nous aurons CF + CG = m, et differentiant, on aura d. CF + d. CG = 0, c’est à dire (y dy + x dx – a dx , : CF) + (y dy + x dx + a dx , : CG) = 0, ou bien CF : CG = a – x – y dy : dx , : , a + x + y dy : dx; or a – x est BF, et a + x est GB, donc CF : CG = BF + BP , : , GB – BP ou bien CF : CG = PF : PG, ce qui marque que l’angle des directions FCG est coupé en deux parties egales par CP perpendiculaire à la courbe, ou que les angles d’incidence et de reflexion sont egaux, quelle que soit la surface qui fait la reflexion“ (Leibniz 1890: 276).
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Abb. 6: Diagrammatische Umzeichnung (Leibniz 1890: 275, Fig. 1) nach Leibniz’ Zeichnung (Abb. 2).
4 Die Umdeutung des Originals Derartige Abweichungen vom Leibnizschen Original finden sich auch in den Umzeichnungen der zweiten Figur der Handschrift (Abb. 7). Von beträchtlicher Bedeutung sind hier die aus GH und HF bestehenden Strecken a, welche die Linie GF in zwei Hälften teilen. Umso erstaunlicher erscheint, dass sämtliche Publikationen oder Erörterungen von Leibniz’ Tentamen anagogicum von dieser Vorgabe abweichen. So ist Gerhardts Edition gegenüber Text wie Bild erneut nicht getreu. In Leibniz’ Original korrespondieren Text und Bild darin, dass GH dieselbe Länge aufweist wie HF. In Gerhardts Wiedergabe dieser Zeichnung (Leibniz 1890: 276, Fig. 2) jedoch sind beide verschieden lang (Abb. 8).
Abb. 7: Gottfried Wilhelm Leibniz, Tentamen anagogicum, Zeichnung 2, braune Feder, Juli 1696, (Detail aus Abb. 1).
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Abb. 8: Diagrammatische Umzeichnung (Leibniz 1890: 276, Fig. 2) nach Leibniz’ Zeichnung aus dem Tentamen anagogicum.
Während GH eine Länge von 2,02 cm ausweist, misst HF 2,4 cm. Offenkundig, um nicht mit dem Buchstaben P zu kollidieren, ist H nach oben versetzt worden, obwohl dieser Fehler ohne Not hätte vermieden werden können, wenn P auf die linke Seite der Linie versetzt worden wäre. Dieser Vorgang ist erstaunlich genug; er wird aber übertrumpft dadurch, dass er nicht nur fortgesetzt, sondern verstärkt wurde. In Leroy E. Loemkers verdienstvoller Übersetzung relevanter Texte aus Gerhardts Ausgabe in das Englische ist Leibniz’ Zeichnung erneut wiedergegeben (Leibniz 1969: 481), nun aber offenkundig nicht nach dem Original, sondern nach der fehlerhaften Umzeichnung bei Gerhardt (Abb. 9). Dort hat GH eine Länge von 1,58 cm, während HF auf 2,2 cm angestiegen ist. Die Abweichung beträgt nun mehr als ein Drittel. Schließlich hat der zunächst im Internet erschienene, profunde Kommentar von Jeffrey K. McDonough die Zeichnung nochmals wiedergegeben, scheinbar ohne dass auch in diesem Fall das Original konsultiert worden wäre (Abb. 10).¹⁷ GH beträgt nun 4,2 cm, während HF auf 4,35 cm kommt. Der Quotient der Abweichung erreicht nicht den des Diagramms von Loemker, und er bleibt auch Jeffrey K. McDonough: Leibniz on Natural Teleology and the Laws of Optics, URL: http://nrs.har vard.edu/urn-3:HUL.InstRepos:5130440, S. 16.
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Horst Bredekamp
Abb. 9: Diagrammatische Umzeichnung (Leibniz 1969: 481) nach Leibniz’ Zeichnung aus dem Tentamen anagogicum.
Abb. 10: Diagrammatische Umzeichnung (McDonough) nach Leibniz’ Zeichnung aus dem Tentamen anagogicum.
unter dem von Gerhardt, ist aber dennoch von einem mit bloßem Auge feststellbaren Ausmaß. Die publizierte Fassung (McDonough 2009: 514) hat den Punkt
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schließlich preisgegeben, so dass der Buchstabe H frei im Raum schwimmt (Abb. 11).
Abb. 11: Diagrammatische Umzeichnung (McDonough 2009: 514) nach Leibniz’ Zeichnung aus dem Tentamen anagogicum.
Damit ist der erste Orientierungspunkt von Leibniz’ Rechenschritten geopfert. Hieraus ergibt sich, dass die Umzeichnung von Leibniz’ Zeichnung das Ziel, durch eine klarere Linienführung den Gedankengang besser zu vermitteln, im Ausgangspunkt verfehlt hat. Der Hang, eine Kumulation von Buchstaben zu vermeiden, hat mehr als die geometrische Präzision gekostet. Einmal vor Augen gestellt, hat das Diagramm das Original verdrängt, um neue Formen der Abweichung zu provozieren. Ein einfaches Überprüfen von Text und Bild hätte den Fehler erkennen und beseitigen lassen, aber die Gravitation des visuellen Zeichens war derart groß, dass ein solches nicht vollzogen wurde.
5 Die Schwächung des Originals Der Vergleich zwischen Leibniz’ Zeichnung (Abb. 7) und Gerhardts Wiedergabe (Abb. 8) offenbart neben dem sachlichen Fehler des unkorrekten Längeneintrags der Linie a einen so klamorosen Unterschied in der atmosphärischen Gesamterscheinung, dass es schwerfällt, hier denselben Sinn zu erkennen.Wie das gesamte
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Horst Bredekamp
Blatt (Abb. 1) ist die Figur 2 bei Leibniz von einer suchenden Form, der die Denkbewegung unmittelbar abzunehmen ist. In die untere rechte Ecke des Blattes gerückt, ist die Zeichnung nach links hin in eine solche Raumnot geraten, dass Leibniz die Serie der links eingetragenen A durch eine teils geschlängelte Grenzlinie abtrennen musste. Die Medien des Durchgangs AB sind bei dem horizontalen Spiegel sodann relativ glatt durchgezogen, wohingegen die nach unten weisende Konvexschale fahriger eingetragen erscheint und die sich nach oben öffnende Spiegelform in der oberen Begrenzung durch mehrfach einsetzende und dadurch sich entwickelnde Strichlinien geprägt ist. Die entscheidende Linie GF ist relativ genau eingetragen, und jener Punkt H, der diese Strecke in zwei gleiche Teile gliedert, ist am stärksten hervorgehoben. Er scheint eine Dreiecksform anzunehmen, als solle sein Signalcharakter besonders stark hervorgehoben werden. Umso erstaunlicher erscheint, dass ausgerechnet dieser Punkt durch sämtliche folgende Interpretationen ungenau wiedergegeben wurde. Die Linie PC ist im Sinne einer vertikalen Achsenbildung besonders kräftig eingetragen, wohingegen die auf die Linie GF zielende, lotrechte Linie CB weniger dick eingetragen ist. In ihrem sowohl präzisen wie fahrigen Charakter macht die Zeichnung den untrüglichen Eindruck, als sei der Betrachter an dem Prozess, der sich hier objektiviert hat, unmittelbar beteiligt. Er wird in das Diagramm gleichsam hineingezogen, um dieses vor seinem gedanklichen Auge wie auch auf dem Papier nachzuvollziehen. Genau dies hat Leibniz in seinem Text vorgegeben, indem er die weiteren Streckenbezeichnungen nicht in die Zeichnung eingetragen, sondern allein im Text angegeben hat. Der Leser und Betrachter sollte die Gedankenoperationen zeichnend beenden. Die begradigende Abstraktion dieser Zeichnung in der Druckfassung von 1890 hat diesen Charakter eingeebnet (Abb. 8). Die Buchstaben besitzen sämtlich dieselbe Größe, und damit ist die der Zeichnung innwohnende Hierarchie verloren gegangen. Dass die Linien der Spiegel AB stärker eingetragen sind als die der imaginär zu denkenden Strahlenlinie GF, bezeichnet unmittelbar das Problem, in welcher Weise der imaginär gegebene Strahl durch ein Medium umgelenkt wird. Die Linie GF ist der Ausgangspunkt sämtlicher Überlegungen, und aus diesem Grund sind dessen Buchstaben größer als bei allen anderen Eintragungen. Diese Semantik ist in der Druckfassung eliminiert. Damit bekommt das Diagramm einen summarischen Zug, der in der Parataktik der Buchstabengröße die Ikonizität der Buchstaben verliert. Gravierender noch ist die Gleichförmigkeit der geometrischen Eintragungen. Die aneinander gesetzten Linien, durch welche Leibniz die Spiegel AB in ihren unterschiedlichen Formen als materielle Größen, also als Medium der Brechung charakterisiert hat, sind in der Umzeichnung auf dieselbe Ebene gebracht, in der
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auch die weiteren Linien eingetragen sind. Damit aber werden die Unterschiede zwischen dem virtuell gegebenen Strahl und den materiell sich entgegenstellenden Medien der Brechung getilgt. Auch hierin liegt ein nivellierender Zug, der nicht nur die interne Spannung zwischen diesen Entitäten überspielt, sondern der vor allem die gezeichnete Dynamik, die sich mit der unterschiedlichen Art der Eintragung verbindet, negiert. Die abstrakte Umzeichnung ist in diesem Sinn weniger abstrakt als das Original, weil sie das Prinzip der Originalzeichnung und des Problems, das diese darstellt, verfehlt. Die Abstraktion geht auf Kosten der Abstraktion. Geradezu gedankenlos ist schließlich die Eintragung der Linien GCF. Mit ihnen hat Leibniz jene gebrochene Linie eingezeichnet, die durch den Punkt der höchsten Determiniertheit C hindurchgeht. Die Art ihrer Charakterisierung ist von offenkundiger Zeichenhaftigkeit, indem sie nicht nur, analog zur Linie GF, durchgezogen eingetragen wurde, sondern durch rechtwinklige oder leicht angeschrägte Striche noch zusätzlich hervorgehoben wird. Auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass die Linie in ihrem gesamten Verlauf den Vorgang des Brechens durch eine Fülle von Stoppzeichen in sich aufnimmt. Sie zeigt auf diese Weise pars pro toto den an ihr vollzogenen Akt der medialen Brechung. Indem in Gerhardts Umzeichnung diese Querstriche fortgelassen wurden, um stattdessen zur besseren Unterscheidung gegenüber der Linie GF Strichpunkte einzusetzen, geht dieser Linie die semantische Kraft verloren. Was dem gedruckten Text als Zeichnung Leibniz’ präsentiert wurde, ist sachlich unkorrekt und in der kläglichen Entfernung von allen Binnendifferenzierungen ein Beispiel nicht etwa der Abstraktion und der Prinzipientreue, sondern einer banalisierenden Austreibung des kreativen Geistes aus der gestalteten Form. Loemkers Wiedergabe von Leibniz’ Zeichnung hat diesen Vorgang verstärkt, indem die Buchstaben mit der leichten Anschrägung, wie Gerhardt sie gegeben hatte, um den letzten Rest einer inneren Dynamik gebracht sind (Abb. 9). Leibniz’ Zeichen der Denkoperation ist hier zum statischen Ergebnis geworden, als handele es sich um die Wiedergabe eines vom Himmel gefallenen Lehrbuchwissens. Dasselbe gilt für das Diagramm von McDonough (Abb. 10, 11). Auch hier haben alle Buchstaben dieselbe Größe, und auch hier ist nach dem Modell von Gerhardt die gebrochene Linie aus Strichpunkten gefertigt. Auf der anderen Seite ist positiv hervorzuheben, dass sie gleichsam mehr ‚Luft‘ besitzt, weil die Spiegel weiter nach unten und oben ausgezogen sind und die Zeichnung insgesamt mehr Raum bekommen hat. Es bleibt aber dasselbe, wiederkehrende Phänomen, dass die tentativ vorgehende und zugleich von hohem Bewusstsein ausgestattete Form, wie sie sich in Leibniz’ Zeichnung offenbart, geradezu klinisch entsorgt wurde. Indem sie das Individuelle in das Schema einer normativen Geometrie zu bringen
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versuchen, schwächen diese Wiedergaben von Leibniz’ Zeichnung jene Spezifik, die den intrinsisch sich entfaltenden Geist von Leibniz spürbar werden lässt.
6 Die Rauheit des Denkens Es wäre bereits im 19. Jahrhundert möglich gewesen, jede der Zeichnungen mitsamt der Texte, denen sie zugeordnet sind, fotomechanisch wiederzugeben. Aber dies ist nicht geschehen, und zwar offenkundig aus dem Grund, dass Leibniz um die eigene Individualität gebracht werden musste, um zum Objekt der Philosophie werden zu können.Wie sich gezeigt hat, wird, was vorgeblich verstanden wird, als Umzeichnung präsentiert, wohingegen, was nicht begreiflich erscheint, fortgelassen oder deutungsfrei faksimiliert wird. In beiden Fällen wird das Authentische ruiniert: im ersten Fall durch eine Bereinigung dessen, was zumeist die Spuren des Tentativen und erst im Prozess deutlich Werdenden aufweist, und im zweiten Fall durch eine Hieroglyphisierung des Wiedergegebenen.¹⁸ Aus all dem ergibt sich, dass Abels Vorstoß aufzunehmen ist und über alle immer noch gültigen Barrieren, die sich auch seiner eigenen Horizonterweiterung entgegenstellen, hinausgetrieben werden sollte: bis in jene Sphäre, in der sich das Denken in seiner reinsten und rauhesten Form offenbart. In seinem großartigen Text zur Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder ist er davon ausgegangen, dass der Sinn von Bildzeichen unmittelbar erschließbar sein muss, um im vollen Wortsinn verstanden werden zu können. Sowie ein solches Verständnis durch kognitive Umschichtungen verloren gegangen sei, gehe die Aufgabe der geschichtlichen Rekonstruktion an die Kunstgeschichte.¹⁹ Der Fall des Tentamen anagogicum zeigt jedoch, dass auch bei dem schlüssigsten Bild dessen eigene Geschichtlichkeit aufgespürt werden muss. Da es kein Bild gibt, das nicht auch ein Produkt seiner eigenen Vorgeschichte ist, wird die Arbeitsteilung zwischen einer systematisch-inhaltlichen Philosophie und einer historisch-rekonstruktiven Kunstgeschichte obsolet. Auch und vor allem mit Blick auf die Distanzrelation zwischen Original und diagrammatischer Reproduktion ergibt sich, dass Philosophie und Kunstgeschichte nicht etwa nur Partner im Aufspüren der Bildzeichen mit unterschiedlichen Rollen sind; vielmehr erfüllen beide den Sinn von Leibniz’ Reflexionstheorie als Zwillinge der höchsten Determiniertheit.
Eine mustergültige Ausnahme bietet (Busche 1997: 59). S. (Abel 2005: 16 f.).
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Abbildungsnachweise Abb. – :
Abb. – : Abb. : Abb. :
Abb. : Abb. : Abb. : Abb. :
Gottfried Wilhelm Leibniz: Tentamen anagogicum, braune Feder, Juli , LH XXXV, , , Bl. r.; Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek / Niedersächsische Landesbibliothek; (erfasst in: Bodemann, Eduard: Die Leibniz-Handschriften der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, Hannover ). Graphiken von Tilmann Steger. In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften, Bd. , hg. v. C. I. Gerhardt, Berlin (Nachdr. Hildesheim ), S. , Fig. . Gottfried Wilhelm Leibniz: Tentamen anagogicum, braune Feder, Juli , LH XXXV, , , Bl. r.; Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek / Niedersächsische Landesbibliothek; (erfasst in: Bodemann, Eduard: Die Leibniz-Handschriften der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, Hannover ). In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften, Bd. , hg. v. C. I. Gerhardt, Berlin (Nachdr. Hildesheim ), S. , Fig. . In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophical Papers and Letters, hg. u. übers. v. L. E. Loemker, Dordrecht , S. . In: Jeffrey K. McDonough: Leibniz on Natural Teleology and the Laws of Optics, URL: http://nrs.harvard.edu/urn-:HUL.InstRepos: (Stand . . ), S. . In: Jeffrey K. McDonough: Leibniz on Natural Teleology and the Laws of Optics, in: Philosophy and Phenomenological Research / (), S. – ; hier: S. .
Günter Abel
Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder Replik zum Beitrag von Horst Bredekamp Horst Bredekamp greift in seinem Beitrag die Grundthesen der Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder überaus positiv auf. Trefflich betont er die für mich grundlegenden Punkte: dass Bilder als Zeichen zu fassen sind; dass sie nicht Gegenstand anderenorts definierter Bedeutungen sind; dass sie in ihren bildhaften Eigenwertigkeiten nicht Objekte einer Repräsentationstheorie sind; dass im Bild Zeichen und Phänomen zusammenfallen; und dass die als Bild präsente visuelle Bildhaftigkeit weder Ausdruck eines vorab definierten begrifflichen noch Ausdruck eines anderen nicht-begrifflichen Gehalts ist. Sehr trefflich auch sieht Bredekamp, dass diese Thesen bei mir zugleich mit einem bestimmten Selbstverständnis von Philosophie verbunden sind. Die Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] versteht sich weder entlang des klassischen sprachlich-propositionalen Paradigmas noch im Rahmen des traditionellen Verständnisses von Repräsentation. Vielmehr ist eine doppelte Befreiung gefordert: von der primären Fixierung auf die sprachlichpropositionale Erkenntnisform und von dem Vorrang der allgemeinen Begriffe vor den individuellen, sinnlich-phänomenalen und bildhaften Anschauungen. Bredekamp sieht die diesbezüglichen Überlegungen der ZuI-Philosophie in einem engen Zusammenhang mit seinen eigenen Auffassungen und Interessen in puncto Bilder. Mit seinem Beitrag eröffnet er den Dialog in Sachen Bildproblematik zwischen der ZuI-Philosophie und seiner eigenen Theorie des Bildakts sowie der bildaktiven Phänomenologie (und mithin auch der Kunstgeschichte). In diesen Dialog trete ich gern und mit deutlichem Engagement ein. Bredekamp nennt zwei Hinsichten, in denen er meine Auffassungen in Bezug auf den epistemischen Status von Bildern und bildlichem Denken für noch weiter radikalisierbar hält. Zum einen (a) erscheint es ihm noch zu reserviert, wenn ich von dem ‚vor-begrifflichen Charakter‘ eines Welt-Bildes spreche. Zum anderen (b) komme den Bildern bei mir noch nicht jene auch „eigenaktive, subversive und subjektive“ sowie schließlich auch abgründige Lebendigkeit zu, die dazu führe, dass Bilder auch als „Organe der Begriffsverwandlung“ (Bredekamp-Beitrag, Kap. 1) fungieren können. Um seine These von der „Untrennbarkeit“ von Gestalten und Denken (Kap. 2), von Bildern und Gedanken, zu verdeutlichen, liefert Bredekamp eine eindrucksvolle und durch fotomechanische Reproduktionen der Originale versinnlichte https://doi.org/10.1515/9783110522280-049
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Analyse von handschriftlichen Zeichnungen, die Leibniz in seiner Abhandlung Tentamen anagogicum zum Strahlengang der Reflexion des Lichts angefertigt hat. Bredekamp sieht Leibnizens Zeichnungen in einem Zusammenhang mit Zeichnungen anderer Autoren, die ebenfalls kraft zeichnerischer und graphischer Skizzen und Gestaltungen ihre Reflexionen und visuellen Argumente vorgebracht haben. Als Beispiele nennt er Leonhard Euler und Charles Sanders Peirce (ebd.). Weitere Autoren ließen sich leicht anschließen. Ziel der Analysen der Leibnizschen Zeichnungen ist es, die grundlegende Stellung der Bilder für und im Denken vor Augen zu führen. Im Folgenden gehe ich nicht direkt auf Bredekamps konkrete Analyse der Tentamen-Zeichnungen ein. Diesen Analysen stimme ich nachdrücklich zu. Ich konzentriere mich vielmehr auf drei grundlegende Punkte des Dialogs zwischen der ZuI-Philosophie und der Theorie des Bildakts (Bredekamp 2010). Entlang dieser drei Punkte möchte ich verdeutlichen, dass die von Bredekamp angemahnte weitere Radikalisierbarkeit in puncto Freisetzung der Bilder in der ZuIPhilosophie implizit bereits gegeben ist. Die drei Dialogpunkte sind: 1. Denken in Wörtern und Denken in Bildern; 2. „Bildaktive“ Phänomenologie; 3. Asymmetrie im Verhältnis von Anschauung und Begriff.
1 Denken in Wörtern und Denken in Bildern Zunächst möchte ich zwischen ‚Denken im engen Sinne‘ und ‚Denken im weiten Sinne‘ unterscheiden. Diese (heuristische) Unterscheidung soll helfen, die starke Rolle der Bilder im Denken zu plausibilisieren, zu verdeutlichen und zu präzisieren. Denken im engen Sinne meint das sprachlich-propositionale und urteilsgrammatische Denken, das sich in Wörtern, Begriffen und Urteilen bewegt. Sprachlich wird dieser enge Sinn in einer „dass“-Klausel artikuliert. So sagen wir zum Beispiel: „ich denke, dass x ein f ist“; „dass Onkel Paul auf der anderen Straßenseite wohnt“; „dass die physikalischen Elementarteilchen sich so-und-so verhalten“; „dass im Gehirn während einer Farbwahrnehmung bestimmte Areale aktiviert sind“; „dass es gut wäre, wenn der FC Barcelona die Champions League gewönne“; „dass es geboten ist, sich an die Gesetze des Landes zu halten, in dem man lebt“. Dieses wort-bezogene und sprachlich-propositionale Denken kann durch eine Reihe weiterer Merkmale charakterisiert werden. So geht es in ihm etwa auch um: (a) sprachlich-begriffliche Subsumptionen realer Vorkommnisse und kognitiver Elemente unter die jeweiligen Begriffe und Urteile (wie zum Beispiel dann, wenn ich denke, dass der Gegenstand auf dem Tisch vor mir ein Apfel und keine
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Primzahl ist); (b) die Verpflichtung auf inferentielle Schlussfolgerungen (wie zum Beispiel dann, wenn ich X denke und damit denk-normativ auf die weiteren Annahmen bzw. Konsequenzen Y und Z verpflichtet bin); (c) die formalen Konsistenzen und Identitäten über Situationen, Räume und Zeiten hinweg; und (d) Kohärenzverpflichtungen, die neben der formalen Konsistenz auch die empirische Gültigkeit mit umfassen. Paradigmatische Fälle des Denkens im engen Sinne sind die formale prämissenfolgernde Logik ebenso wie alle rationalen und sprachlichpropositionalen sowie argumentativen Operationen im ‚Logischen Raum der Gründe‘ (W. Sellars). Jedoch ist dieser engere, wort-bezogene und sprachlich-propositionale Sinn von Denken nicht bloß auf die formale Logik und den Logischen Raum der Gründe begrenzt. Vielmehr ist er auch für die traditionelle Metaphysik in vor allem zwei Hinsichten kennzeichnend. Erstens ist hier das Denken im Sinne des logos apophanticos zu nennen. Dieses Denken versteht sich als eines, das konditional auf seine sprachlich-propositionale und urteilsgrammatische Artikulation verpflichtet ist. Strenggenommen schließt dieses Denken alle nicht-sprachlichen und vornehmlich auch alle sinnlich-anschaulichen und bildlichen Weisen von Denken und Wissen – letztlich alle Künste! – vom direkten und einzig der sprachlichen Propositionalität vorbehaltenen Zugang zur Wahrheit systematisch aus. Zweitens ist hier derjenige Typus metaphysischen Denkens zu nennen, dem es im Kern um die Aufdeckung und Entdeckung des inneren Zusammenhangs von Denken und Sein geht. In ihm geht es vor allem darum, den Bezug des Denkens zum Sein angemessen zu artikulieren und dieses Aufdecken auf seinen sprachlich-propositionalen Begriff zu bringen. In Erweiterung dieses engen Sinns von Denken möchte ich unter dem „Denken im weiten Sinne“ diejenigen organisierenden, epistemisch-perspektivierenden, kognitiven, reflektierenden und orientierenden Aktivitäten verstehen, die sich nicht nur auf formale und propositionale Konsistenz, sondern auf das flüssige, selbstverständliche und anschlussfähige Funktionieren unserer menschlichen Ich-Wir-Weltbeziehungen beziehen. Vornehmlich in dieser Dimension – die in der ZuI-Philosophie als die gegenüber dem Denken im engen Sinne primordialere Ebene angesehen wird – spielen bildhafte, musikalische, akustische, haptische und die Muskelsinne betreffende Anschauungen, mithin nichtsprachliche und nicht-propositionale Weisen der Organisation und Orientierung, eine grundlegende Rolle. In diesem Sinne können wir zum Beispiel von anschaulichem, bildlichem, musikalischem, figurativem, visuellem, sinnlichem und individuellem Denken sprechen, dessen grundlegende Relevanz es zu beachten gilt. Es ist der aktive Einsatz solcher Weisen des Denkens und Wissens sowie der diesen eigenen Evidenzweisen, der dazu führt, dass sich unser Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln so vollzieht, wie es sich eben vollzieht.
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Für die ZuI-Philosophie ist in diesem Zusammenhang die grundlegende These kennzeichnend, dass das Denken im skizziert engen Sinne genealogisch auf der umfänglicheren und basaleren Schicht des Denkens im weiten Sinne aufruht. Sinnlogisch wie faktisch setzt ersteres letzteres stets bereits voraus und nimmt dieses in Anspruch, nicht umgekehrt. Freilich tut diese Genealogie dem entwicklungsgeschichtlich späteren sprachlich-propositionalen Denken keinerlei Abbruch. Im Gegenteil. Dessen genuine Stellung und Relevanz in puncto Mitteilen, Berichten, Urteilen, sortales Einteilen, Klassifizieren, Organisieren und Orientieren treten auf diese Weise erst in der ihnen angemessenen Weise hervor. Selbstverständlich zählen ins Portfolio dieses weiten Sinns von Denken auch (a) das Denken und Wissen der Reflexion und (b) das Denken und Wissen zweiter Stufe. Denken meint hier diejenigen Prozesse, Episoden und Zustände, die intern reflektierenden, selbstbezüglichen und selbsteinschließenden Charakters sind. Diese Rückkopplungen gehen in die epistemischen Perspektivierungen und Orientierungen der Ich-Wir-Weltbeziehungen ein. Und im Denken zweiter Stufe haben wir es mit der bemerkenswerten Fähigkeit unseres Denkens zu tun, nicht nur Regeln und Standards direkt objektbezogener Art, mithin erster Stufe, formulieren und anwenden zu können. Denken im weiten Sinne des Ausdrucks vermag auch die Regeln der Regeln bzw. die Standards der Standards ins Thema zu heben und im Rekurs auf sie die Standards erster Stufe zu rechtfertigen. Beispiele hierfür wären in der Physik etwa die Frage der Rolle und Gültigkeit des Energie-Erhaltungssatzes, in der Ethik etwa die Frage der Rolle und Gültigkeit des Prinzips der Transsubjektivität. Der Hinweis auf den reflexiven Charakter und die Standards zweiter Stufe innerhalb der ZuI-Philosophie führt keineswegs erneut in die klassische Bewusstseinsphilosophie oder gar in eine Monopolstellung des Sprach-Propositionalismus zurück. Denn ich vertrete nicht nur die These, dass der Sinnlichkeit ihre genuin sinnlichen Individuationsmuster eigen sind. Offenkundig ist unsere sinnliche Welt eine Welt, in der wir leben. Ich vertrete darüber hinaus die These, dass in den Prozessen der Sinnlichkeit selbst stets auch sinnlich-reflexive, sinnlich-selbstbezügliche und sinnlich-gestufte Mechanismen wirksam sind, noch bevor diese explizit begrifflich und theoretisch erfasst oder modelliert werden. In unseren Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten treffen wir reflexive Sinnlichkeit an. Dass das Denken im skizziert weiten Sinn auch für die Operationen des Denkens im engen Sinne unentbehrlich und vorausgesetzt ist, möchte ich zeichen- und interpretations-philosophisch auch auf eine andere Weise kurz darstellen. Den Ausgangspunkt bildet die Überlegung, dass es im Denken sowie im Verwenden von Begriffen nicht um den Besitz und das Erfassen von abstrakten Entitäten geht. Begriffe können vielmehr – und hier greife ich Formulierungen
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von Hilary Putnam auf – als ‚Zeichen‘ angesehen werden, die ‚auf bestimmte Weise verwendet‘ werden. Insbesondere geht es dabei um die situationsgerechte und regelgemäße Verwendung. Kardinal ist hier der Übergang von der Figur des Besitzens und Erfassens abstrakter Entitäten zu der Fähigkeit, Zeichen auf eine bestimmte Weise verwenden und verstehen zu können. Auch auf diese Weise wird deutlich, dass ein Denken ohne Zeichen (und intern korreliert: ein Denken ohne Interpretation) gar nicht möglich ist. Diesen Punkt haben Putnam, Peirce und Nietzsche nachdrücklich betont. Wir können, so Peirces bekannte Formulierung, überhaupt nur in Zeichen denken. Und auf diese Weise ist jedes Denken im engen wie im weiten Sinne intern an eine Praxis der Interpretation der Zeichen gebunden. Denn Denken vollzieht sich offensichtlich stets in interpretierten und interpretierenden Zeichen. Zeichen können ihre Zeichenfunktionen überhaupt nur dann ausüben, wenn sie in einer zugehörigen ZuI-Praxis eingebettet und verankert sind. Nicht nur kommen in dieser ZuI-Praxis auch Bilder vor. Bilder und mit ihnen das ganze Arsenal der sinnlichen und individuellen Anschauungen sind vielmehr für das Profil der mit dem Ausdruck ‚ZuI-Praxis‘ abkürzend adressierten prozessualen und dynamischen Natur unserer Ich-Wir-Weltbeziehungen grundlegend. Ein Denken in dem skizziert weiten Sinn der Organisation und Orientierung der triangulären Ich-Wir-Weltbeziehungen ist ohne Bilder nicht nur unvollständig, sondern gar nicht möglich. Je genauer wir das Denken im Blick auf seine flüssigen, selbstverständlichen und anschlussfähigen Vollzüge anschauen, desto deutlicher treten die nicht-begrifflichen und nicht-propositionalen, die sinnlichen, bildhaften sowie die anderen Anschauungsdimensionen in ihrer primordialen und unentbehrlichen Rolle hervor. Ohne sinnliche Anschauungen, ohne die Bilder und deren Lebendigkeit, gäbe es gar kein gehaltvolles und lebendiges Denken. Das ist der wichtige Punkt, den die ZuI-Philosophie mit der ‚Theorie des Bildakts‘ und der ‚bildaktiven Phänomenologie‘ teilt.
2 ‚Bildaktive‘ Phänomenologie Dass Bilder eine handlungsstabilisierende und wirkmächtige Kraft besitzen, habe ich in einer Reihe von Zusammenhängen, die Bredekamp explizit vor Augen hat, betont. Dieser Punkt betrifft nicht nur die Rolle der Bilder in unseren Welt-Bildern hinsichtlich der Organisation der Ich-Wir-Weltbeziehungen sowie der Gestaltung und Orientierung unserer Lebens- und Erfahrungswirklichkeiten (vgl. Abel ZdW Kap. 3). Er betrifft auch die Rolle der Bilder in unserem Denken und Handeln. Ich stimme Bredekamp zu, dass Bilder vorgelagert zu ihrer handlungs-stabilisierenden Macht bereits über eine „handlungsstiftende“ Kraft verfügen. Der deutlichste
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Nachweis für diese These manifestiert sich darin, dass uns Bilder zum Eintreten, zum Fortsetzen, zum Intensivieren, zur Erweiterung, aber auch zum Abbrechen und Beendigen von Handlungen bewegen können. Dass Bilder darüber hinaus auch unsere Bewertungen von Handlungen dominieren können, ist ebenso offenkundig wie die Tatsache, dass es ein Handeln gänzlich ohne Bilder, ohne Beteiligung von sinnlich-bildhaften und individuellen Anschauungen, nicht gibt. Klar ist, dass die ‚Theorie des Bildakts‘ selbst natürlich von Bredekamp in einer Sprache vorgetragen wird. In diesem Sinne bleibt die Bildakt-Theorie auf Sprache bezogen, ebenso wie ich mich hier in sprachlicher Form mit dieser Theorie auseinandersetze. Nicht uninteressant schiene mir gleichwohl ein Versuch, die Bildakt-Theorie im Modus bildlicher Symbole und sinnlicher Anschauungen zur Artikulation und Darstellung zu bringen. Dass der Sprache dann im Sprechen über die Bildakt-Theorie eine ausgezeichnete Rolle in puncto Beschreibung, Mitteilung und Kommunikation zukommt, bleibt bei jedem solchen Versuch unbestritten. Vor solchem Hintergrund würde ich anders als Bredekamp die Theorie des Bildakts nicht so sehr als „Gegenstück zur Lehre vom Sprechakt“ (Bredekamp 2010, Klappentext) fassen. Vielmehr möchte ich die radikalere These formulieren, dass bereits einem jeden erfolgreichen sprachlichen Sprechakt anschauliche Bildlichkeit und phänomenale Bildaktivität bzw. bildaktive Phänomenalität zugrunde liegen. Bildakte sind in erfolgreichen und gehaltvollen Sprechakten stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Die Verbindung zwischen Sprechakt und Bildakt ist eine asymmetrische. Bilder können ohne Sprechakte ihre handlungs- und denk-bestimmende Lebendigkeit und Expressivität entfalten. Sprechakte jedoch können nicht gänzlich ohne Bilder gehaltvolle und lebendige Sprechakte sein. Ein gänzlich nicht-anschaulicher Sprechakt, mithin eine Sprechhandlung ohne anschauliches Fundament, kann keine gehaltvolle und erfolgreiche Sprechhandlung sein, wäre toter Sprechakt, ein leeres Wort- oder Begriffsgehäuse. In einer weiteren Hinsicht zeigt sich, dass die Rede von ‚Phänomenologie‘ in der trefflichen Formulierung von einer ‚Bildaktiven Phänomenologie‘ auch in der ZuI-Philosophie von hoher Relevanz ist. Nicht nur im Zusammenhang der Bilder geht die ZuI-Philosophie gut zusammen mit einer nicht bloß als Wissenschaft des subjektiven Bewusstseins verstandenen Phänomenologie. Diesen Punkt möchte ich kurz erläutern. Im Rahmen der ZuI-Philosophie geht es um eine Phänomenologie, die unsere Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten in den zeichen- und interpretations-bezogenen Ich-Wir-Weltbeziehungen und deren prozessualen Rückkopplungen zu beschreiben und zu analysieren erlaubt. Eine solche Phänomenologie könnte man eine ZuI-Phänomenologie nennen. Es ginge um eine Phänomenologie der
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prozessualen, dynamischen und in der Regel flüssig, selbstverständlich und anschlussfähig funktionierenden Ich-Wir-Weltbeziehungen (unter Einschluss eines phänomenologischen Verständnisses der in diesen fragilen Strukturen jederzeit möglichen Störfälle). In meinem Aufsatz zu den Quellen der Orientierung (Abel 2016) habe ich einige der hier relevanten Perspektiven seitens der ZuI-Philosophie formuliert. Jedenfalls enthält die ZuI-Philosophie eine Reihe von Berührungspunkten und Schnittstellen mit der phänomenologischen Psychiatrie, so wie diese heute etwa von Thomas Fuchs und früher von Wolfgang Blankenburg vertreten wird bzw. wurde (vgl. Fuchs 2014 und Blankenburg 1971). Die Pointe dieser Überlegungen scheint mir mit Blick auch auf Horst Bredekamps bildaktive Phänomenologie darin zu liegen, dass in den Gestaltungen unserer Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten durchgehend dasjenige eine Rolle spielt, was man unter den Titeln der Bildhaftigkeit, Bildaktivität und Piktorialität adressieren könnte. Unser menschliches Erleben und Erfahren vollzieht sich vornehmlich in Bildern, nicht so sehr in Begriffen. Allerdings verstehe ich solche Rede von Bildaktivität und Bildhaftigkeit, anders als Bredekamp, als eine spezifische (epistemische oder nicht-epistemische) Art von ZuI-Aktivitäten und ZuI-Prozessen.
3 Asymmetrie im Verhältnis von Anschauung und Begriff Im Folgenden möchte ich meine Position durch eine Überlegung zum asymmetrischen Verhältnis von Anschauung und Begriff weiter explizieren. Ohne sinnliche Anschauung, so bereits die Kantische Auffassung und in dieser Linie auch die der ZuI-Philosophie, kann uns kein Gegenstand gegeben werden. Die mit diesem Befund verknüpfte starke epistemische Stellung und Rolle der Bilder und der Bildgestaltungen, der Bildaktivitäten und der Bildwirksamkeiten möchte ich entlang einer ZuI-philosophischen Deutung von Kants berühmten Diktum verdeutlichen: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (KrV B 75). Ich tue dies in zwei Schritten, in Bezug auf (a) die grundlegende Funktion der sinnlichen Anschauung als Weise des Gegebenseins von Gegenständen und (b) die in der Kantischen Formulierung eingekapselte Asymmetrie zugunsten der sinnlichen Anschauung vor dem begrifflichen Denken. Zu (a): Die sinnlichen, bildlichen und individuellen Anschauungen haben ihre grundlegende Funktion darin, dass sie die Art und Weise verkörpern, „wie wir von Gegenständen affiziert werden“ (KrV B 75), wie uns ein Gegenstand gegeben
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ist. Aus der Sicht der ZuI-Philosophie geht es darin auch um die Weise des gestalteten Gegebenseins der triangulären Ich-Wir-Weltbeziehungen. Die Rede von der Weise des Gegebenseins erlaubt, daraus einen Funken zu schlagen. Sie rückt die Möglichkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit, den Bildern und Bildaktivitäten eine selbst noch die Begriffe verändernde, modifizierende, umwandelnde und im Grenzfall revidierende Kraft zu attestieren. Ich verdeutliche den Funken in fünf Schritten. Erstens (i) gehe ich davon aus, dass es unter sinnkritischem Vorzeichen letztlich nicht explizierbar ist, zwischen den Weisen des Welt-Gegebenseins und so etwas wie Der Einen Welt an sich zu unterscheiden. Die Welt und überhaupt die triangulären Ich-Wir-Weltbeziehungen sind wirklich in genau denjenigen Weisen, in denen sie uns affizieren und gegeben sind. Hier die eine, vorfabriziert fertige Welt zu postulieren, wäre ein selbstdestruktiv hoch angesetztes Postulat. Es wäre eines, das nicht bei Der Einen Reinen Welt an sich, sondern im leeren Nichts endete. Sinnkritisch macht es vor diesem Hintergrund besten Sinn, unsere ZuIWelten als unsere Welten anzusehen. Es sind die Welten, auf die wir uns verstehen, mit denen wir vertraut sind und in denen wir so erleben, wahrnehmen, sprechen, denken und handeln, wie wir dies nun einmal tun. Zweitens (ii) müssen wir aber genau dann, wenn (i) zutrifft, auch zu der weiteren Feststellung übergehen, dass die sinnliche, bildliche und individuelle Anschauung nicht bloß eine zusätzliche und nachträgliche Veranstaltung, sondern im Kern an der Umgrenzung dessen beteiligt ist, was als Welt bzw. als prozessuales Netz der Ich-Wir-Weltbeziehungen gilt. Drittens (iii) müssen wir zu der weiteren Annahme übergehen, dass die sinnliche Anschauung dann, wenn (i) und (ii) zutreffen, eine bestimmende Kraft auf diejenigen Begriffe und Gedanken übt, die als trefflich und passend gelten. Passten die Begriffe und Gedanken nicht zur Anschauung, hätten wir es nicht mit gehaltvollen, sondern mit leeren Begriffen und Gedanken zu tun. Begriffe und Gedanken spielten dann in unseren Ich-Wir-Weltbeziehungen und Erfahrungswirklichkeiten bestenfalls noch die intellektualistische Rolle leerer Exerzitien. Viertens (iv) ist vor dem skizzierten Hintergrund festzustellen, dass dann, wenn sich die sinnliche Anschauung aufgrund der ihr innewohnenden Dynamik, Temporalität und Alterität modifiziert und verändert, dies direkte Auswirkung zum einen auf die Weise des Gegebenseins der Gegenstände und zum anderen auf das hat, was von da an als ein gehaltvoller Begriff und Gedanke zählt. Fünftens (v) erlaubt dieser Befund festzustellen, dass sinnliche Anschauungen, mithin auch die Bilder und Bildaktivitäten, auf höchst natürliche Weise nicht nur einen stabilisierenden Einfluss auf Begriffe und Gedanken haben. Offenkundig können Bilder und Bildaktivitäten Begriffe und Gedanken ebenso wie Hypothesen, Theorien und Modelle erweitern, umwandeln, modifizieren und re-
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vidieren. Im Grenzfall kommt es zur Preisgabe vormals leitender Sichtweisen hinsichtlich der Welt und der Ausgestaltung unserer Ich-Wir-Weltbeziehungen. Man denke hier etwa auch an die produktive Rolle von Gedankenexperimenten in Philosophie, Wissenschaften und anderen Künsten. Modifikationen und Transformationen im Anschauen können als Motoren der Dynamik, Modifikation, Transformation und Revision von Begriffen angesehen werden. Im Rahmen des Dialogs mit Horst Bredekamp heißt dies, dass die ZuI-Philosophie die Umwandlung von Begriffen durch Bilder nicht nur kennt, sondern diese Dimension systematisch besonders zu betonen vermag. Zu (b): In dem Kantischen Diktum („Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV B 75)) steckt die bereits angesprochene, zumeist jedoch übersehene Asymmetrie von Anschauung und Begriff. Das Diktum führt sinnlogisch auf die aufschlussreiche Feststellung, dass jeder nichtleere Gedanke stets bereits ein anschauliches Fundament hat. Dieses anschauliche, sinnliche, bildaktive Fundament ist, so meine Doppelthese, stets bereits am Werke zum einen in den Prozessen der Umgrenzung der semantischen Merkmale von Begriffen (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen), zum anderen auch dann, wenn es zu Transformationen der Begriffe kommt. Unter ‚Asymmetrie‘ verstehe ich hier einfach den folgenden Zusammenhang: Anschauungen können durchaus ohne Begriffe leben, Begriffe jedoch nicht ohne Anschauungen. Diese Feststellung schließt natürlich die andere mit ein, dass ich das Konzept einer ‚intellektuellen Anschauung‘ für letztlich nicht explizierbar halte. Doch auf diesen Punkt ist hier nicht näher einzugehen. Die genannte Asymmetrie tritt auch zutage, sobald die Rede von ‚leer‘ und ‚blind‘ etwas näher betrachtet wird. Die Rede von ‚blind‘ scheint mir hier die bei weitem wichtigere Formulierung zu sein. Leer ist leer, könnte man sagen. Es dagegen mit ‚blinden‘ Anschauungen zu tun zu haben, lenkt die Aufmerksamkeit auf den genuinen Charakter der sinnlichen, bildlichen und individuellen Anschauungen selbst, die wir haben, noch bevor und unabhängig davon, dass sie auch in Begriffen (wenn jemand explizit danach fragt) gedacht werden können, dies jedoch keineswegs konditional jederzeit auch müssen. Begriffe sind nicht konditional für Anschauungen. Anschauungen dagegen sind für gehaltvolle Begriffe konditional. Anschauungen sind auch ohne ihr Gedachtwerden bereits sinnlichindividuiert und bildlich gehaltvoll. Üblicherweise wird ‚blind‘ als begrenzend, als ergänzungsbedürftig, als negative Charakterisierung, jedenfalls so gelesen, dass zu der Anschauung noch etwas hinzukommen müsse, das Gedachtwerden nämlich, damit wir es überhaupt mit einer echten und vollblütigen sinnlichen und individuellen Anschauung zu tun haben. Diese Lesart aber ist keineswegs vollständig oder gar trefflich. Denn eine Pointe der Rede von ‚blind‘ besteht in Verwendungsweisen wie: „sich blind
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auf etwas verstehen“, „aus sich selbst heraus selbstverständlich, fraglos, flüssig und anschlussfähig funktionieren“ (wie beim Fußballspiel zum Beispiel oder im „blinden Vertrauen“ zwischen handelnden Personen). Eine Anschauung droht ihre genuin sinnlichen, bildlichen, individuellen, kurz: ihre anschaulichen Qualitäten nicht zuletzt dann einzubüßen, wenn Begriffe und begriffliche Analysen ins Spiel kommen. Paralyse des flüssigen und selbstverständlichen Funktionierens des Anschauens durch begrifflich-logische Analyse. Man denke hier beispielsweise an die sinnliche Performanz einer Tanz-Bewegung oder eines musikalischen Klangs. Beide werden empfindlich in ihren flüssigen Vollzügen und Erlebnisweisen gestört, sobald begriffliche Analyse auf den Plan tritt. Nicht selten führt Begriffs-Intervention zur Destruktion des Zaubers des gelebten sinnlichen Anschauens. Im kreativen Spiel verstehen sich die Spieler (im Fußballspiel ebenso wie in Tanz und Musik) blind, ohne dazwischen geschaltete Vermittler und ohne irgendeines Bedarfs an begrifflich-logischer Vervollständigung oder Nachbesserung. In diesem Zusammenhang denke ich durchaus auch an die berühmte Formulierung Ludwig Wittgensteins: „Wenn ich der Regel [z. B. im gelingenden Sprechen oder im sinnlichen Anschauen (Zusatz G. A.)] folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind.“ (PU I, Nr. 219) Diese Prozesse des blinden Verwendens und Verstehens sprachlicher und vor allem nicht-sprachlicher Zeichen (wie zum Beispiel von Gesten, Blicken, Körperbewegungen, Rhythmen) laufen gerade nicht so ab, als seien sie das Ergebnis einer vorab durchgeführten begrifflichen Operation und Wahl, einer kognitiven Erkenntnis oder eines kognitiven Zwangs, einer Nötigung, einer Inspiration oder eines Mirakels, einer inneren Stimme oder inneren Information. Hinsichtlich der flüssigen, selbstverständlichen und anschlussfähigen Vollzüge sinnlicher Anschauungen scheint es trefflicher zu sein, wenn sich die sinnlich-individuelle Anschauung blind vollzieht, als dass deren Charakter im Schraubstock einer begrifflich-propositionalen Analyse ruiniert wird. Letztlich drohen die Begriffe, die stets vom Charakter subsumierender Allgemeinheit sind, den sinnlich-individuellen und lebendigen Charakter der Anschauungen zu zerstören. Freilich diskreditiert die vorgetragene Überlegung keineswegs die Begriffe und das Arbeiten mit Begriffen, im Gegenteil. Dies zu betonen ist mir wichtig. Aber der begrifflichen Arbeit wird eine im Vergleich zum älteren Schema der Begriffs-Dominanz moderatere Stellung und angemessenere Reichweite hinsichtlich unserer Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten zugesprochen. Auch auf diese Weise tritt in der ZuI-Philosophie die von Horst Bredekamp mit Recht so betonte Rolle der Bilder, der haptischen und der handlungseröffnenden und handlungsrelevanten Potentiale bildlicher Anschauungen in den Blick. Zugleich wird deutlich, dass sich die flüssigen, selbstverständlichen und an-
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schlussfähigen, aber eben auch durch Rupturen, Krisen, Brüche und Abgründe gekennzeichneten Bildaktivitäten ohne letzte metaphysische Hintergrund-Absicherungen vollziehen. Wenn philosophisches Denken radikal genannt werden kann, dann im Ablegen der metaphysisch inspirierten Angst vor genau dieser Grundlosigkeit des Denkens, sowohl des begrifflichen als auch des anschaulichen Denkens. In puncto Relevanz der skizzierten Asymmetrie im Verhältnis von Anschauung und Begriff sind mir zusammenfassend die folgenden vier Aspekte besonders wichtig: (i) In den Sinnlichkeiten (Auge, Ohr, Hand, Geschmack, Muskelsinne) sind jeweils spezifische Mechanismen der Individuation, der sinnlichen Klassifikation und der prozessualen Organisation verkörpert und enaktiv wirksam. Im Zuge dieser sinnlichen Individuationsmuster kommt es zu den lebendigen sensomotorischen Gestaltungen in unseren triangulären Ich-Wir-Weltbeziehungen, in denen sich im Zuge rückkoppelnder Schleifenbildungen unser Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln so vollziehen, wie sie sich vollziehen. Offenkundig können sowohl die Individuationen, Klassifikationen, Organisationen und Orientierungen als auch die rückkoppelnden Schleifenbildungen als ZuIProzesse konzipiert und modelliert werden. Jede individuierte, spezifische und gestaltete Welt ist intern stets bereits eine ZuI-Welt. (ii) In der Organisation, Orientierung, Dynamik und Transformation unserer Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten spielen sinnliche Anschauungen und vor allem Bilder eine grundlegende Rolle. In der ZuI-Philosophie der Bilder sind die einzelnen Bildaktivitäten als ZuI-Aktivitäten beschrieben und modelliert worden (vgl. insbesondere Abel 2003). (iii) Ausdrücklich betonen möchte ich die oftmals vernachlässigte, aber wichtige Rolle des Haptischen. Im Haptischen kommt es zu sinnlich-individuierten Gestaltungen, so wie diese sich im sensorisch-tastenden Umfahren eines Gegenstandes, etwa eines Steines oder eines menschlichen Gesichts, ergeben. Die Bewegungen und Erfolge des Haptischen können als verkörperte und enaktive Bewegungen der ZuI-bestimmten sinnlichen Aktivität und darin des Zusammenspiels von Gestalterfassen und Gestaltgeben verstanden werden. (iv) Auch die Dimension des Individuellen möchte ich nachdrücklich hervorheben. Das Individuelle zählt neben dem Sinnlichen und Bildlichen zu den Kernmerkmalen sinnlicher Anschauung. Sinnlich angeschaute, affizierende und erfahrene Gegenstände sind stets individuelle Gegenstände. Sinnliche Anschauung ist gleichsam indexikalische Sinnlichkeit, zielt auf diesen sinnlich-individuellen Klang oder dieses sinnlich-ertastete Ding hier und jetzt. Die ZuI-Philosophie stellt sich der Herausforderung des Individuellen. Gefordert ist eine Philosophie des Individuellen (die wir bislang noch nicht haben). Im Rahmen der irreduzibel
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individuellen Prozesse des Zeichenverwendens und Zeichenverstehens habe ich einige der hier relevanten Aspekte zu adressieren versucht. Dies betrifft etwa den feinsinnigen Übergang von „Ich verstehe Deine Sätze“ zu „Ich verstehe Dich“. Letzteres schließt ein, dass ‚ich‘ nicht unter einen allgemeinen Begriff subsumiert, nicht als ein Fall eines Allgemeinen gesehen und behandelt wird. In diesem Zusammenhang spielt natürlich die für mich so wichtige Unterscheidung zwischen dem vermittelten ZuI-Verstehen mit Deutung und dem direkten ZuI-Verstehen ohne Deutung eine wichtige Rolle (vgl. dazu Abel 1997). Mit dem Übergang in das Desiderat des Individuellen ist, kaum überraschend, eine weitere Verschiebung im Selbstverständnis der traditionellen Philosophie verbunden, die sich dominant bis heute vor allem vom Allgemeinen her und auf dieses hin versteht. Auch angesichts der Frage nach dem Individuellen finde ich Horst Bredekamps Analysen von Leibnizens Zeichnung des Tentamen anagogicum epistemisch überaus aufschlussreich (vgl. vor allem Kap. 3). In den Zeichnungen geht es um den Strahlenverlauf bei der Reflexion des Lichts im Sinne elementargeometrischer Fragestellungen und räumlicher Beziehungen von Lichtordnungen. Bredekamp zeigt eindrucksvoll, dass und wie sehr es unter der Dominanz des Begrifflichen bzw. des Allgemeinen vor dem sinnlich-individuell Anschaulichen bis in die heutigen Leibniz-Editionen sowie bis in die wissenschaftlichen Erörterungen zu den Leibnizschen Zeichnungen zu einer signifikanten „Schwächung des Originals“ (Kap. 5), ja im vorliegenden Falle zu einer Missachtung der grundlegenden Rolle des bildlichen Originals gekommen ist. Man stelle sich nur einen Moment lang vor, Leibniz hätte uns keinerlei sprachlichen Text zu seinen Zeichnungen des Tentamen anagogicum, mithin nur die zwei von Bredekamp erörterten Zeichnungen bzw. Bilder hinterlassen. Der epistemisch höchst spannende Punkt wäre dann, dass wir einzig die Zeichnungen bzw. Bilder anschauen könnten und im gelingenden Falle kraft Anschauung sehen müssten, wie das visuelle Argument in puncto Reflexion des Lichts läuft. Die ZuI-Philosophie stünde einer solchen Situation keineswegs hilflos gegenüber. In ihr werden Zeichnungen (und Skizzen oder Modelle) als direkte und lebendige Zeichen sowie als enaktive Verkörperungen der anschaulich-sinnlichen Fähigkeiten und Operationen des sinnlichen Präsentierens angesehen. Im sinnlichen Präsentieren ist jede noch so kleine Nuance einer Zeichnung oder Skizze gestalterisch wie epistemisch höchst relevant. Es zählt jeder individuelle Aspekt. Die kleinste Veränderung hätte eine andere Zeichnung zur Folge. Zeichnungen und Skizzen sind, im Vokabular Nelson Goodmans gesprochen, dichte und kontinuierliche Zeichen (im Unterschied zu distinkten, disjunkten, nicht-kontinuierlichen und sprachlich-propositionalen Zeichen). Des weiteren wird in der ZuIPhilosophie die These vertreten, dass distinkte und disjunkte Begriffe als epistemische und entwicklungsgeschichtlich späte Resultate angesehen werden
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können, denen eine Genealogie aus dem Bereich sinnlich-anschaulicher und zunächst ungegliederter, dichter und kontinuierlicher Verhältnisse gelebter IchWir-Weltbeziehungen und direkter Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten bereits im Rücken liegt. In späteren Entwicklungsstufen entfalten die propositionalen und allgemeinen Begriffe ihr legitimes Eigenleben. Sie entwickeln sich auf genuine Weise weiter. Diese Weiterentwicklungen reichen dann bis in die begrifflichen Operationen zum Beispiel in den Bereichen von Logik und Mathematik. Doch selbst wenn die sinnlich-anschaulichen Bilder im bewussten und wort-bezogenen Denken nicht immer in der gleichen expliziten Weise präsent sind wie die Wörter, so heißt dies doch nicht, dass sie nicht eine grundlegende Rolle spielen. Die Bilder haben es, paradox formuliert, schwer, zu Wort zu kommen. Nicht zuletzt deshalb schreibt sich das wort- und begriffs-bezogene Denken die Hoheit in Sachen Denken zu. Doch höchst bemerkenswert finde ich in diesem Zusammenhang den Punkt, dass sich avancierteste Formen von Logik und Mathematik in den sinnlich-symbolisierenden Zeichen der mathematischen Logik verkörpert zeigen bzw. manifestieren. In der Mathematik denke man hier etwa an die Geometrie und dort des näheren an die Topologie und Knotentheorie, in denen sinnlich-anschauliche Diagramme eine epistemisch besonders grundlegende Rolle spielen. Der Gesichtspunkt, dass ein Denken gänzlich ohne Bilder nicht verständlich zu machen ist, muss freilich noch um einen komplementären Gesichtspunkt vervollständigt werden. Bilder und andere sinnlich-anschauliche Gestalten (wie zum Beispiel Zeichnungen, Skizzen oder Modelle) müssen ihrerseits als Artikulationsformen und als enaktive Verkörperungen kognitiven Wissens im weiten Sinne angesehen werden. Bilder und mit ihnen das gesamte Feld der sinnlichbildlich-individuellen Anschauungen sind keineswegs bloß sekundäre Illustrationen epistemischer, kognitiver und begrifflich-propositionaler Gehalte. Sie verkörpern vielmehr genuine Weisen des Denkens und Wissens, einschließlich der jeweils korrelierten genuinen Evidenzweisen. Das Argument selbst sitzt (so die zugespitzte These, die mich mit Horst Bredekamp und mithin die ZuI-Philosophie mit der ‚Theorie der Bildakte‘ und der ‚bildaktiven Phänomenologie‘ verbindet) im bildlichen und anschaulichen Denken und Wissen selbst.
Literatur Abel, Günter 1997: Zeichenverstehen, in: Knobloch, Eberhard (Hg.): Wissenschaft, Technik, Kunst. Interpretationen, Strukturen, Wechselwirkungen, Wiesbaden, S. 1 – 15.
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Abel, Günter 2003: Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 1/1 (Bilder in Prozessen), hg. v. H. Bredekamp u. G. Werner, Berlin, S. 89 – 102. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2016: Quellen der Orientierung, in: Bertino, Andrea / Poljakova, Ekaterina / Rupschus, Andreas / Alberts, Benjamin (Hg.): Zur Philosophie der Orientierung, Berlin / Boston, S. 141 – 170. Blankenburg, Wolfgang 1971: Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit – Ein Beitrag zur Psychopathologie symptomarmer Schizophrenien, 2. Aufl. 2012, Berlin. Bredekamp, Horst 2010: Theorie des Bildakts, Frankfurt a. M. Fuchs, Thomas 2014: Psychopathologie der subjektiven und intersubjektiven Zeitlichkeit, in: Fuchs, Thomas / Breyer, Thiemo / Micali, Stefano / Wandruszka, Boris (Hg.): Das leidende Subjekt: Phänomenologie als Wissenschaft der Psyche, Freiburg, S. 128 – 163. Kant, Immanuel 1787: Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904/11; (Nachdruck: Werke. Akademie Textausgabe, Berlin / New York 1968 ff.), S. 1 – 552; [KrV]. Wittgenstein, Ludwig 1984: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., S. 225 – 580; [PU].
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Wie schaut man ein Kunstwerk an? Abstract: According to Günter Abel, a work of art is a complex of signs connected to each other that points to the world and that must be interpreted. When it comes to interpretation however, for one thing, we meet the problem of the difference between saying and showing: what relation does the logos of discursive language bear to the aesthetic logos of signs? For another thing, this leads us to Goodman’s theory of languages of art in which he distinguishes autographic (fine arts) and allographic art (literature and music). Both are denotative systems, the former with unarticulated symbols in a dense schema, the latter with articulated symbols in a disjoint schema. This causes the difficulty of the interpretation of the pictorial and the infinity of interpretation. The same problem occurs in classical hermeneutics, namely the connection between the immanent understanding and the explicating understanding of the work. Thirdly, we interpret our concept of art, which is neither a cognitive process, nor an increase of our will to live, but a statement on the meaning of our life and a process of self-interpretation of the mind in social life.
Nach der Erfahrung der modernen Kunst, der Avantgarden des letzten Jahrhunderts, der Pop-Art, des Minimalismus, der Body-Art und der Land-Art fällt es uns schwer zu sagen, was wir unter Kunst verstehen sollten, und wiederum schwer, ein Urteil zu fällen, welche Werke wir zur Kunst rechnen sollten und welche einfach zur angewandten Kunst, zum Design, zur Werbekunst usw.; auch fällt es schwer, z. B. an manchen Werken von Rauschenberg zwischen Malerei und Skulptur zu unterscheiden, zwischen Kunst und Kunstreproduktion oder zwischen Kunst und Sammlung von Naturstücken. Andererseits sehen wir bei Rothko und Estella den dreidimensionalen Raum der perspektivischen Malerei auf die bloße Oberfläche reduziert, so dass wir nur aus den Farbakkorden und der Farbskala wie bei Cézanne die Tiefe des Raumes erfahren können, ohne etwas anderes zu sehen, das an die Wirklichkeit oder die Natur erinnern könnte. Dasselbe gilt für die Musik, und zwar nicht einfach in Bezug auf die atonale Musik und ihre weitere Entwicklung, wo mit Tönen bloß gerechnet wird, sondern für eine ganz andere Musik, wenn sie denn überhaupt noch Musik ist, wo man keine Töne mehr produziert, sondern ganz einfach die reinen Stimmen der Natur oder einfach ihre Geräusche aufnimmt und sammelt. Das ist aber nicht alles; wollte Pollock in der Malerei einfach mit dem Pinsel Farbe oder Tinte an die Wand spritzen, so hat jetzt in https://doi.org/10.1515/9783110522280-050
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London ein Künstler mit einer Kanone verschiedenartig gefärbtes Wachs mehrmals an die Wand geschossen, damit das Werk sich immer ändert und lebendiges Kunstwerk wird. So drängt sich uns die Frage auf: Werden wir an den Werken der Kunst, ihrer Verworrenheit zum Trotz, irgendeiner Schönheit und eines Sinnes gewahr? Sprechen diese Werke uns an, bevor wir sagen könnten, dass wir sie verstanden haben? Ist überhaupt die Begegnung mit dem Kunstwerk eine ästhetische oder eine intellektuelle Erfahrung? Hat also die Kunst einfach aufgehört, Repräsentation zu sein, und müssen wir nicht mit Nelson Goodman sagen: Nichts ist an sich eine Repräsentation? (Vgl. Goodman 1976: 226) Dann stellt sich aber die Frage: Was ist dann noch Kunst? Wie sollen wir ein Kunstwerk anschauen? Sollen wir uns also mit diesen Phänomenen weiter auseinandersetzen und uns fragen, was die Kunst überhaupt noch sei, so stehen wir vor einer schwierigen, wenn nicht verzweifelten Aufgabe. In dieser verzweifelten Lage könnte sich ernsthaft die Frage stellen: Warum sollten wir denn überhaupt einen einheitlichen Begriff der Kunst suchen? Dieser Meinung ist auch Günter Abel, nach welchem die Frage „Was ist die Kunst?“ nur noch eine metaphysische Frage ist, die man deshalb nicht beantworten kann (vgl. SZI 225 ff.). Wichtiger wäre zu verstehen, was die Kunst jeweils tut, bevor man einen Begriff von ihr aufstellt, und dies geschieht durch den Vollzug des Zeichenverstehens und der dazu gehörigen Praxis der Interpretation. Wenn wir von seinem Ansatz einer holistischen Interpretationsphilosophie ausgehen, dann könnten wir das Kunstwerk wesentlich als einen Komplex von Zeichen ansehen, die miteinander verbunden sind und die es zu verstehen gilt. Wir können daraus folgern, dass sie einen Verweisungszusammenhang bilden, der auf einen Sinn hinweist, welcher einer Auslegung bedürftig ist. Dieser Auseinandersetzung mit Abels holistischer Interpretationsphilosophie folgend wollen wir nun erstens sehen, ob sie uns auf dem Gebiet der Interpretation der Kunst sagen kann, wie wir ein Kunstwerk anschauen sollen. Zweitens wollen wir uns bei Goodmans Theorie der Sprachen der Kunst, auf die Abel sich wesentlich beruft, fragen, a) ob die Interpretationspraxis der Zeichen uns die richtigen Mittel liefert, um das Kunstwerk zu verstehen; b) wir wollen bei beiden uns ferner fragen, ob das Verstehen des Kunstwerkes ein explizierendes und auslegendes Verstehen ist, denn Verstehen und Auslegen sind seit jeher die zwei wesentlichen Momente der Interpretation. Drittens, wollen wir bei der Theorie der Hermeneutik von Hans-Georg Gadamer a) nach einem anderen Modus der Interpretation fragen, der nicht nach der reinen Form der Sprachen oder der Wirklichkeit des Kunstwerkes fragt und somit ‚objektivistisch‘ verfährt, sondern nach dem fragt, was bei der Kunst und mit der Kunst im Spiel ist; b) ferner wollen wir fragen, ob wir von der Wahrheit der Kunst
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wieder so sprechen können, dass sich uns je nachdem, wie wir uns auf das Kunstwerk beziehen und das Kunstwerk verstehen, eine Interpretationswelt, in der wir leben, und zugleich der Sinn unserer Lebenswelt erschließen. Denn, so ein Ausspruch Nietzsches: „Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde zu gehn.“ (Nachlass 1888, 16[40], KSA 13.500)
1 Eine Auseinandersetzung mit Abels Interpretationsphilosophie in Hinblick auf die Frage nach der Kunst Wir sind von der scheinbar simplen, aber in Wahrheit sehr schwierigen und vielseitigen Frage ausgegangen: „Wie schaut man ein Kunstwerk an?“, um dabei mit Abel der scheinbar schwierigeren Frage auszuweichen „Was ist Kunst?“. Wir gehen deshalb von Abels Theorie des Zeichenvollzugs aus und versuchen so, das Werk der bildenden Kunst mithilfe der Unterscheidung zwischen Zeichenfunktion und Zeichendeutung zu betrachten; danach wäre das Kunstwerk, vor dem wir stehen, ein reiner Zeichenkomplex, der erst im Sich-Zeigen zeigt, wie er verstanden werden soll und was er uns zu verstehen gibt; das gilt sowohl für nicht sprachliche, als auch für sprachliche Zeichen: „Sich-Zeigen löst direktes Zeichenverstehen aus.“ (SZI 91) Solches Zeigen ist laut Abel keineswegs auf das Visuelle begrenzt. Das Zeigen ist vielmehr in allen Bereichen menschlicher Aktivitäten von grundlegender Relevanz, im Alltag, in den Künsten, in der Logik, in der Ethik und in den Wissenschaften. Dieses Zeigen hat außerdem nicht den Charakter der Repräsentation, sondern der Präsentation; es geht dabei nicht um das Sehen von etwas, sondern um Sichtbarkeit. Schließlich kommt Abel zu einer Aussage über den ‚Logos‘ der Zeichen, die für die Auffassung des Kunstwerkes als Zeichenkomplex, den es zu interpretieren gilt, sehr treffend ist: „Das zeigende Zeichen bleibt darin ganz bei sich selbst. Es hat die Bedingungen seines Vollzugs nicht in etwas außerhalb seiner, sondern in sich selbst. Darin manifestiert sich der Logos des Zeichens.“ (SZI 92) Dass diese Zeigefunktion der Zeichen als ein Sich-Zeigen an den Werken der Kunst am klarsten hervortritt, wird von Abel mit direktem Bezug auf einen Satz von Paul Klee bestätigt: „Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“.¹
(Klee 1920), zitiert von Abel (SZI 192) nach (Grohmann 1954: 97).
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Doch ist nach Abel dieses Sich-Zeigen als Grundcharakter des Zeichens erst aufgrund einer Interpretationspraxis der Zeichen möglich; darin liegt auch der Grund für die Möglichkeit der Interpretation von Kunstwerken, und nicht umgekehrt: Nur weil wir die Zeichen als Zeichen für eine Interpretationspraxis verstehen, kommen wir dazu, die Werke der Kunst zu interpretieren. Nach Abels Theorie der allgemeinen Praxis der Interpretation sollten wir dann den Vollzug des Zeichenverstehens von dem Prozess der Zeichendeutung unterscheiden. Wir brauchen eine Deutung der Zeichen erst dann, wenn das ursprüngliche Funktionieren der Zeichen gestört ist. Das heißt, das Moment der Zeichendeutung ist gegenüber dem Funktionieren der Zeichen sekundär; nicht die Zeichendeutung ist das eigentliche Moment der Interpretation, sondern zuerst und vor allem der Zeichenvollzug. Der Prozess des Zeichenvollzuges ist damit der ursprüngliche Prozess der Verstehens; „wir verstehen nicht durch die Zeichen, sondern kraft der Zeichen“, ist das Diktum, das ständig von Abel wiederholt wird. Wesentlich ist dabei, dass nicht nur dieses ursprüngliche Verstehen kraft der Zeichen, sondern dass die Zeichen selbst interpretativer Natur sind. Die Interpretativität der Zeichen liegt nicht erst der Zeichendeutung, sondern dem Zeichenvollzug selbst zugrunde; das Verstehen der Welt kraft der Zeichen macht die Welt zu einer Interpretationswelt und führt damit notwendig auch zu mehreren Interpretationswelten.² Wir müssen jedoch zwischen dem Verstehen eines Kunstwerkes und dem Verstehen einer Aussage oder einer Folge von Aussagen in der zwischenmenschlichen Kommunikation unterscheiden: Im Fall nämlich des normalen zwischenmenschlichen Verständnisses, oder bei der Interpretation eines geschriebenen Textes, erfolgt die Deutung der Zeichenfunktion in einem Symbolsystem meistens nach Störung der Funktion der Zeichen, welche die Wiederherstellung der Regelfunktion verlangt, während das Problem der Zeichendeutung eines Kunstwerkes eigentlich bei der Schwierigkeit der Interpretation von Seiten des Zuschauers oder Zuhörers entsteht, welcher den inneren Zusammenhang der Zeichen nicht findet und damit dem Duktus der Zeichen nicht folgen kann. Sie führt deshalb nicht zu einer Wiederherstellung des Regelgebrauchs der Zeichen, wo es keine feste Regel gibt, sondern zu der passenden Interpretation des Zeichensystems des jeweiligen Kunstwerkes, vor allem aber dessen, was uns das Kunstwerk in seinem Sich-Zeigen zeigt.
Interpretationswelten lautet auch der Titel von Abels erstem Werk (1993) über Interpretation; die Frage nach der Vielheit der Welten, die ursprünglich aus N. Goodmanns Buch Ways of Worldmaking (1978), stammt, wird dort vor allem in Teil V, Kap. 23 (Iw 491 ff.) diskutiert.
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Das führt zu einem wesentlichen Unterschied zwischen Sagen und Zeigen, der uns an die Grenze der Sprache führt und die alte Frage der klassischen Hermeneutik, die Frage der Ineffabilität des Individuellen, wieder aufrollt; so haben wir es in den Werken der Bildenden Künste mit der Unsagbarkeit dessen zu tun, was sich im Bilde zeigt und sich nicht in artikulierten, disjunkten und diskreten sprachlichen Zeichen wiedergeben lässt. Die letzte Konsequenz dieser Unterscheidung von Zeigen und Sagen, die auf Goodmans Theorie von analogischen und digitalen Symbolsystemen zurückgeht, würde in Hinblick auf die Frage der Auslegung des Bildes auf seine Ineffabilität führen, und dadurch auf die Trennung von Verstehen und Auslegen. Abel versucht dagegen einen Kompromiss zu schließen und spricht von einem möglichen Erfolg der sprachlichen Zeichen, wenn sie die Situation herbeiführen können, in der die Form des sprachlichen Ausdrucks an die Form der bildhaften oder der musikalischen Darstellung anzudocken erlaubt (vgl. SZI 193). In diesem Fall könnte man meinen, das Sagen wäre vom Logos des Bildes oder des Klanges affiziert. Da nun das Zeigen und die bildhaften und nicht-sprachlichen Symbole selbst-referentiell sind, kommt Abel auf diese Weise dazu, von einem Primat des Logos der Zeichen vor dem Logos des Sagens zu reden. Da diese selbst-referentiellen Symbole in letzter Instanz ästhetisch sind, zieht Abel daraus die Konsequenz: Wir müssen aus der ästhetischen Erfahrung lernen, über die Grenze der diskursiven Sprache hinauszugehen und den Logos der Zeichen nicht auf die formale Logik zu begrenzen, sondern zu einer ästhetischen Logik und sogar zu einer ästhetischen Interpretationslogik zu entwickeln. Um diesen Übergang zu vollziehen und ernst zu nehmen, müssen wir die ganze Spannweite dieses möglichen ästhetischen Logos der Zeichen ermessen und uns fragen, wie er sich von dem Logos der diskursiven Sprache unterscheidet, der bis jetzt in der Philosophie den Vorrang hatte. Die Interpretationspraxis, die sich durch eine ästhetische Interpretationslogik am Zeigecharakter der Zeichen einstellt, gilt nicht nur für die Werke der Kunst, sondern deckt ursprünglich das ganze Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit ab.³ Diese Beziehung wird zuvorderst durch den Rückgriff auf den
Vgl. das bedeutende, bislang letzte Buch von G. Abel, Zeichen der Wirklichkeit, (2004), vor allem Kap. 6, wo er sich wesentlich auf Wittgenstein und Goodman beruft, um die Auffassung zu verteidigen, dass unsere Konzeption der Wirklichkeit letztlich eine Projektion der Grammatik des jeweils verwendeten sprach- und grundbegrifflichen Systems und der perzeptiven logisch-ästhetischen konstruktionalen Prozesse ist (vgl. ZdW 191 ff.). Die Vielzahl legitimer, aber untereinander unvereinbarer Symbolsysteme lässt sich jedoch nicht auf eine allen gemeinsame Basis reduzieren, und das macht eben eine allgemeine Ontologie unmöglich. Die Gefahr des Relativismus wird durch die Tatsache blockiert, dass diese Symbolsysteme gleichermaßen legitim sind (vgl. ZdW 197 f.).
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alten Logosbegriff der griechischen Philosophie gewährleistet, der in der Neuzeit wesentlich von Hegels Wissenschaft der Logik wieder zur Geltung gebracht wurde, worauf sich Abel auch bezieht (SZI 81, 210, 218). ‚Logos‘ meint bei Heraklit, Plato und Aristoteles (nach Heideggers richtiger Auslegung) ein Versammeln und Verbinden am Seienden, und zugleich dessen Aussprechen;⁴ dieses ist ebenso ein Verlautbaren (phtoggos) der von Bedeutungen erfüllten sprachlichen Zeichen (phonai semantikai), welche die Funktion der offenbarenden Aussagen (apophansis) erfüllen. Die Versammlung und Verbindung am Seienden ist das offenbarende Aussagen selbst (logos apophantikos),⁵ das nach Abel nicht durch die Zeichen, sondern kraft der Zeichen vollzogen wird. Darin besteht auch das SichZeigen des Logos in der Wirklichkeit, welches die innere Verschränkung von Denken, Sache und Wirklichkeit bezeugt. Diese Schnittstelle zwischen Zeichenverwendung und Wirklichkeitsbezug, den man eigentlich einen Wirklichkeitsvollzug nennen sollte, ist aber gerade der strittige Punkt, an dem Abels Nominalismus mit der klassischen Logos-Auffassung Platos, Aristoteles’ und Hegels zu konfrontieren ist.⁶ Nach Platos Unterscheidung nämlich vom ausgesprochenen und nicht ausgesprochenen Logos
Heidegger hat nicht nur in Sein und Zeit, sondern zuvor schon in einigen Vorlesungen in Marburg die Thematik des Logos bei Plato und Aristoteles ausgelegt, wie in der Vorlesung im Wintersemester 1923/24, Einführung in die phänomenologische Forschung (Heidegger 1994), deren erster Teil die Aufklärung des Ausdrucks ‚Phänomenologie‘ im Rückgang auf Aristoteles unternimmt, und im Wintersemester 1925/26 mit der Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit (Heidegger 1976), deren ganzer erster Teil der Problematik des Logos bei Aristoteles gewidmet ist. In derselben Zeit hält er im Wintersemester 1924/25 eine Vorlesung über Platos Sophistes. Der erste Teil dieser Vorlesung (Heidegger 1992) ist wieder der Interpretation des Aristoteles gewidmet, mit der Begründung, man muss zuerst das Klarere verstehen (Aristoteles), um dann zu dem Dunkleren zu kommen (Plato). Der eigentliche Sophistes-Kommentar ist nicht so aufschlussreich wie seine Aristoteles-Interpretation. Im Wintersemester 1926 hält er die Vorlesung Grundbegriffe der antiken Philosophie (Heidegger 1993), deren zweiter Abschnitt Platos Theätet interpretiert; er durchdringt nicht die eigentliche Problematik der Satzwahrheit, wie Wittgenstein es tun wird; davon wird später die Rede sein. Eine ausführliche Behandlung Heraklits ist erst zehn Jahre später erfolgt, in den Freiburger Vorlesungen des Sommersemesters 1943 und des Sommersemesters 1944 (Heidegger 1979). Siehe (Aristoteles 1949: De int. 5, 17 a 11– 23). Abel konstatiert selbst, ein Nominalist zu sein; vergleiche die Ausführungen zu Zeichen- und Interpretations-Nominalismus (ZdW 242– 247), wo er Goodmans Thesis übernimmt, die er so formuliert: „Eine Weltkonzeption ist dann nominalistisch, wenn es in ihr keine zwei verschiedenen Gegenstände gibt, die in ihrem Gehalt keinerlei Unterschied aufweisen“ (245); weiter meint er, dass es dem Nominalisten möglich ist, allgemeine Aussagen über Individuen des jeweiligen Bereichs aufzustellen; Platonismus liegt hingegen vor, wenn Universalien, d. h. Variable für abstrakte Gegenstände bzw. ideale Wesen zugelassen werden. Daher kommt er zu dem Schluss: „jedes System ist nominalistisch oder platonistisch“ (247).
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(logos prophorikos und logos endiathetos) kann die Entscheidung über die wahre und falsche Meinung (doxa) erst durch das innere Gespräch der Seele mit sich selbst erfolgen, welches in dem Hin- und Hergehen der dianoia an den möglichen und nicht-möglichen Verbindungen am Seienden besteht.⁷ In diesem Hin- und Hergehen (lat. discurrere) der dianoia, der Überlegung der Seele, besteht das, was man das diskursive Denken nennt, und erst in diesem discurrere, in ihrem Gespräch mit sich selbst, wo die verschiedenen Alternativen abgewogen werden, fällt die Seele ihr Urteil und bringt kraft ihrer Überlegung Sätze zustande, die wahr oder falsch sein können. Nicht der Zeigecharakter des Logos, der logos prophorikos, sondern der logos endiathetos, oder das innere Gespräch der dianoia, besitzt die eigentliche Kraft zu entbergen (enthüllen) oder zu verbergen.⁸ Dasselbe gilt auch für die aristotelische Unterscheidung von logos semantikos und logos apophantikos. Nicht alle mit Bedeutung erfüllten Reden sind entbergend (enthüllend) oder verbergend, sondern nur Reden, die etwas manifest werden lassen. Die Kraft des apophantischen Logos besteht darin, das Seiende selbst, d. h. die Welt oder das Wirkliche, von ihm selbst her erscheinen zu lassen (apo-phainestai); das geschieht durch die apophasis und kataphasis, Bejahung und Verneinung, die aussagen sollen, wie die Sachen stehen oder nicht stehen.⁹ Diese bipolaren Sätze, Bejahung und Verneinung, sind aber nur abgeleitete Modi des apophantischen Logos, dessen Werk oder Funktion darin besteht, das Seiende, wie es ist, erscheinen zu lassen. Dieser Logos ist nicht logos semantikos, d. h. nicht einfach ‚Sprache‘ als ein System von Zeichen, das nach Gesetzen der Grammatik und Syntax geregelt ist, welche zur Individuation des Gegenstandes bzw. der ersten Substanz, seiner Eigenschaften und seiner Handlungen dienen, sondern er Vgl. (Platon 1995b: Tht. 189 e 6 – 190 a 2) und (Platon 1995a: Soph. 263 e – 264 a 2). Dieses Gespräch der Seele mit sich selbst durchzieht das ganze Werk des späteren Wittgenstein, seine Philosophischen Untersuchungen; nicht umsonst wird in diesem Werk auf Platos Theaitetos Bezug genommen (PU 46), wo es gerade darum geht, die Begriffe von onoma und logos, bzw. von Name und Aussage, durch das Einfache und die Zusammensetzung von verschiedenen Teilen zu definieren; die Diskussion der Stelle, die bis zu PU 66 geht, führt zu dem Entschluss, den Bezug von Name und Satz durch den Begriff des Sprachspiels und dessen Familienähnlichkeit zu ersetzen. Der Gesprächspartner ist meistens stumm, und seine Einwendungen sind klarerweise Einwendungen, die der Autor, Wittgenstein, im inneren Gespräch bzw. in dem inneren Duktus seiner Überlegungen sich selbst gegenüber macht. Wir sehen an diesen späteren Dialogen Platos, Theaitetos und Sophistes, vor allem, dass die Wahrheit oder Falschheit der Aussagen unsere diesseitige Welt und nicht, wie Abel meint, die Welt der Ideen zum Gegenstand hat, genauso, wie die Ideenwelt nicht mit Freges ‚dritter Welt‘ zu verwechseln ist. Im Grunde sind wir der Meinung von Kurt Hildebrandt und Gadamer, dass es auch in der mittleren Dialogen Platos nie eine Welt der Ideen gegeben hat, denn auch dort ist die Idee oder das eidos nur hypothesis. S. (De Int. 4, 16 b 26 – 17 a 7).
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muss dann vor allem durch die Verbindung das Seiende so auslegen, wie es ist. Dieses Erscheinenlassen des Seienden durch den logos apophantikos wurde in der alexandrinischen Tradition des anonymen Werkes des Aristoteles hermeneia, in der lateinischen Übersetzung interpretatio genannt. Die Sachen stehen nicht anders in Abels Interpretationspraxis, die aus drei aufeinanderfolgenden Stufen aufgebaut ist; die erste Stufe der Individuation und Kategorisierung des Gegenstandes, Interpretation1, entspricht den Ausführungen der genannten aristotelischen Schriften Categoriae und De Interpretatione; die zweite Stufe, die Interpretation2, betrifft die Interpretationsmuster, die sich an Gewohnheiten, Konventionen, gesellschaftlichen Praktiken und Kompetenzen orientieren, die bei Aristoteles der Gegenstand der Rhetorik, der Ethik und der Politik sind; die dritte Stufe, die Interpretation3, ist diejenige der „aneignenden Deutung“, die nach Abel vor allem als der eigentliche Modus der Interpretation gilt; sie besteht seiner Ansicht nach in den Vorgängen des Hypothesen- und Theorienbildens, des Erklärens und des Begründens¹⁰ und entspricht somit dem, was Aristoteles in seiner Physik und Metaphysik getan hat.¹¹ Abels Interpretationspraxis kann aber andererseits gerade am Ursprung der griechischen Philosophie, nämlich bei Heraklit, wiedergefunden werden, dessen Fragment (Diels 1951: 172; DK 22 B 93[11]) wörtlich sagt: „Der Herr, dessen das Orakel in Delphi ist, weder sagt (οὔτε λέγει), noch verbirgt (οὔτε κρύπτει), sondern zeigt (ἀλλά σημαίνει).“ Die Orakelsprüche sind nämlich keine eigentlichen Aussagen, sie geben Zeichen, die in eine Richtung zeigen. Sie verbergen nicht, aber sie können von allein, ohne die Interpretation, nicht entbergen (enthüllen), denn sie besitzen keinen Logos. Es ist also der Interpretation des Orakels überlassen, den Logos der Zeichen zu finden, damit das Zeigen des Gottes in eine Richtung zeigt bzw. einen Sinn offenbart. So kann Abel zuletzt vom Logos der Zeichen in folgender Weise reden: „Das Zeigen hat seinen Tiefensitz auf der Ebene des die Verhältnisse zwischen Sprache und Welt allererst formierenden Logos der Zeichen sowie der darin bereits vorausgesetzten Form der Interpretations-Praxis.“ (SZI 186) In diesem Sinn hat der Logos der Zeichen, wie Abel sagt, seinen Tiefensitz auf der Ebene, wo die Verhältnisse zwischen Sprache und Welt erst gebildet werden, und nicht in der Anschauung oder Betrachtung der Ideenwelt, die nach Abel auf derselben Ebene wie Freges „dritte Welt“ ihren Sitz hat. Abels Urteil über Plato ist aber nach einer traditionellen Ansicht des Plato der mittleren Dialoge ge Vgl. (SZI 26 f.). Wir wollen darauf hinweisen, dass Gadamer zuletzt Aristoteles’ Metaphysik als eine Reihe von Vorlesungen betrachtete, die im Grunde eher mit der Rhetorik als mit der Physik verwandt war. Siehe (Gadamer 2002: Kap. 2).
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schmiedet, welche die Ideenwelt hypostasiert und von der sinnlichen Welt abschneidet. In Wahrheit ist schon in den mittleren Dialogen, Phaidon und Menon, die Idee immer eine Hypothesis, während die Dialoge des reifen Plato, vor allem Theaitetos und Sophistes, zeigen, dass das innere Gespräch der Seele mit sich selbst auf die Formen oder Ideen zurückgreifen muss, damit der Logos richtig unterscheiden kann, wie das richtige Urteil über die Dinge in der sinnlichen Welt zu fällen ist. So ist es auch bei Hegel, auf den sich Abel beruft. Hegel gibt uns deshalb eine Definition des Logos, die in drei Momenten besteht: Logos ist erstens der Grund, sowohl als der Natur innewohnender Grund, der Nous des Anaxagoras,¹² wie auch als ratio, der zureichende Grund dessen, was uns erscheinen kann und nach dem unsere Interpretationspraxis auf der Suche ist. Damit hängt das griechische Prinzip des logon didonai zusammen, das Prinzip, bei unserer Auseinandersetzung mit der Welt den Grund von allem anzugeben, in theoretischer und pragmatischer Hinsicht. Zweitens ist Logos Vernunft; aus unserer Sicht würden wir sagen: Vernünftigkeit, die platonische dianoia, die wir mit Abel die Interpretationspraxis nennen würden.¹³ Drittens ist Logos, wie an derselben Stelle gesagt wird, ‚Sprache‘, und zwar als der logische Instinkt der Sprache, welche die ursprüngliche Grammatik bildet, wo die Kategorien eingehüllt sind.¹⁴ Somit ist der Logos der Zeichen mit dem Logos der Wirklichkeit verbunden; das ist der Sinn der hegelschen Logik. Mag wohl Hegel zu dem Diktum der Identität von Wirklichkeit und Vernunft gekommen sein, das den Meisten wie ein Irrsinn erscheint, so schließt doch diese Identität die Möglichkeit und Zufälligkeit nicht aus, welche mit dem zusammenfallen, was Hegel unter der hervorragenden Weise der Wirklichkeit, der vernünftigen Wirklichkeit, versteht. Gewiss, es gibt auch eine unvernünftige Wirklichkeit, es gibt Übel, Krankheit,Verderben, das Böse in der Welt, das mit unserer Vernunft im Widerstreit ist. Es ist aber auch wahr, dass uns diese unvernünftige Wirklichkeit als unakzeptabel erscheint, weil wir nicht umhin können, die Wirklichkeit, in der wir leben, stets mit dem inneren Maßstab unserer Vernunft zu beur „Die logischen Gedanken sind […] der an und für sich seiende Grund von allem“ (Hegel 1830; TWA 8: § 24, Zusatz 2, S. 85). (Hegel 1812/16; TWA 5: 30); dort redet Hegel von dem allgemeinen Begriff, der in dem bestimmten Begriff enthalten ist: „er ist nur Gegenstand, Produkt und Inhalt des Denkens und die an und für sich seiende Sache, der Logos, die Vernunft dessen, was ist, die Wahrheit dessen, was den Namen der Dinge führt; am wenigstens ist es der Logos, was außerhalb der logischen Wissenschaft gelassen werden soll.“ „In der Sprache vornehmlich sind solche Denkbestimmungen niedergelegt, und so hat der Unterricht in der Grammatik, welcher den Kindern erteilt wird, das Nützliche, daß man sie unbewußt auf Unterschiede des Denkens aufmerksam macht.“ (TWA 8: 85) Siehe auch (TWA 5: 26 f.): „der Instinkt der gesunden Vernunft“.
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teilen. Das ist der Punkt, wo Ontologie und Utopie ständig gegeneinander stoßen, und vielleicht gehören sie, wenigstens in pragmatischer Hinsicht, doch zusammen.¹⁵ Wir sind nun der Meinung, dass diesen Logos der Welt zu suchen die Aufgabe ist, die jedes Kunstwerk sich stellt. Dies soll nicht als eine Aussage über das Wesen der Kunst gelten, sondern eher als das Prinzip, mit dem wir den Werken der Kunst begegnen und diese betrachten können. Den Logos der Zeichen bei einem Kunstwerk zu finden heißt, ihren inneren Zusammenhang als einen Verweisungszusammenhang zu verstehen, der – im Sich-Zeigen – auf den Logos der Welt hinweist und ihn zum Erscheinen bringt.
2 Goodman und die Sprachen der Kunst Sich auf dieses Problem einzulassen heißt, den ersten Punkt der am Anfang gestellten zweiten Frage zu diskutieren, nämlich a) ob die Interpretationspraxis der Zeichen uns die richtigen Mittel liefert, um ein Kunstwerk zu verstehen. Was Goodman zuerst möchte, ist, uns von der klassischen Weise der Begegnung mit dem Kunstwerk abzuraten, die uns traditionell als Modus der Kunstbetrachtung empfohlen wurde, demzufolge wir uns nämlich passiv und nur aufnehmend dem Kunstwerk gegenüber verhalten sollten, um seine volle Wirkung zu erfahren. Darin, so die traditionelle Auffassung, würde der ästhetische Genuss bestehen, sei es der Genuss des Schönen oder des Erhabenen, mit den entsprechenden Gefühlen der Freude oder des Entsetzens, des Glückes oder der Trauer, der Heiterkeit oder der Melancholie, der Gefälligkeit oder des Widerwillens. In der so verfassten Anschauung des Kunstwerkes und der Einwirkung des Werkes auf unser Gemüt würde die ästhetische Erfahrung der Kunst bestehen. Wir müssen jedoch anerkennen, dass diese Weise der Betrachtung der Kunst immer der erste Schritt in der Begegnung mit dem Kunstwerk ist, solange das Kunstwerk ursprünglich zu der ästhetischen Erfahrung, also der aisthesis gehört. In ihren Raum gehört nicht nur die Sinnesempfindung und die Wahrnehmung, welche die entsprechenden Emotionen in uns erwecken, sondern sie schließt auch eine Art von Bewusstheit und Urteil in sich ein. Aἴσθησις ist die substantivische Form des Zeitwortes αἰσθάνομαι, das wir in der Bedeutung von „mir kommt es so vor …“ aus Platos Theaitetos kennen, wo es
Der Zusammenhang zwischen ontologischem Gottesbeweis, Ontologie und Utopie ist jüngst in einem ausgezeichneten Buch von G. Hindrichs (2009) sachlich treffend erklärt und sehr ausführlich diskutiert worden.
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um die Widerlegung des homo mensura–Prinzips von Protagoras geht. Die These, die dort von Theaitetos dem Protagoras zugeschrieben wird, ist eben, die Wissenschaft, ἐπιστήμη, sei nichts anderes als αἴσθησις.¹⁶ Deshalb wird dort das αἰσθάνομαι durch das ἐμοὶ φαίνεται (mir scheint so) erklärt. Durch diese Erklärung wird die αἴσθησις mit der φαντάσια zusammengebracht, deren Verbalform gerade den Übergang von der Sinnesempfindung und Wahrnehmung zum Phänomenalen (zur Erscheinung) vollzieht. Erst auf dieser Basis der aisthesis, welche sich nicht bloß passiv aufnehmend verhält, sondern in das phainesthai, das freie Erscheinen-Lassen der Welt, und in das verarbeitende Hinsehen auf das Erscheinende, in die Einbildungskraft, phantasia, übergeht, entsteht die eigentliche ästhetische Erfahrung.¹⁷ Die aisthesis bleibt also nicht bloß auf das Vernehmen der Erscheinung der Natur, das Natur-Schöne, noch auf die Kunst in ihrer Unterscheidung von der Natur begrenzt. Da, wo sie in die Phantasie übergeht, bringt sie Bilder zustande (εἰκόνα), die den Sachen angemessen sind, aber auch eine Art von Bildern (εἴδωλα), die reine Erzeugnisse der Phantasie, phantasmata, sind,¹⁸ Illusionen, die durch eine bestimmte sprachliche Kunst hergestellt werden können, in der die Rhetoriker und Sophisten Meister sind, um uns zu täuschen und Macht über uns zu gewinnen. Wollen aber nicht die Künste dasselbe tun? Zu diesen beiden Momenten der aisthesis, dem Vernehmen des Erscheinenden und der Einbildungskraft, gehört aber eine Art des Gewahrwerdens, also eine Art Urteil, von dem schon in Kants Unterscheidung des Gefälligen vom Schönen die Rede war¹⁹ und das von Nietzsche durch den von Abel zitierten berühmten Ausspruch, das Auge sei „ein unbewußter Dichter und ein Logiker zugleich“,²⁰ besonders betont wurde. In diese Richtung geht auch Goodmans Kritik am ‚Mythos‘ des unschuldigen Auges, welche die von Gombrich²¹ bei der Entdeckung der Perspektive in der Malerei angeführte Kritik wiederholt. Wie sollen wir nun eine kritische Einstellung gegenüber den Täuschungen der passiven Aufnahme des Kunstwerkes gewinnen, die uns erlaubt, die tatsächliche Aussagekraft der Kunst
„Ich meine, dass derjenige, der etwas weiß (ἐπιστάμɛνός), gewahr wird (αἰσθἀνɛσθαι) dessen, was er weiß, so dass es mir scheint (φαίνɛται), die Wissenschaft (ἐπιστήμη) sei nichts anderes als gewahr werden (αἴσθησις).“ (Tht. 151 e 1– 3) „Was dann einem ‚scheint‘ (φαίνɛται) heißt, ist ein ‚er vernimmt es so‘ (αἰσθάνɛσθαι)“ (Tht. 152 b 11). Weiter: „Phantasia und aisthesis sind also dasselbe. Wie nämlich einer vernimmt, das scheint ihm auch so zu sein.“ (152 c 1– 3). Vgl. (Soph. 235 d 1– 236 b 7). Vgl. (Kant 1790/93: § 7). (SZI 213), mit dem entsprechenden Nietzsche-Zitat (Nachlass 1881, 15[9], KSA 9.637). S. (Gombrich 1960: 297 f.).
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in allen möglichen Arten der Repräsentation, wo das Auge Dichter und Logiker zugleich ist, richtig einzuschätzen? Goodman sucht in der Verfassung des Zeichensystems als solches die Entschlüsselung der Kunstformen und die Aussagekraft der entsprechenden Kunstwerke. Dabei geht es ihm vor allem um die Unterscheidung zwischen Repräsentation und Deskription einerseits sowie Exemplifikation und Expression andererseits. Was zunächst die Repräsentation und Deskription betrifft, so handelt es sich in beiden Fällen um denotative Prozesse, die durch Bilder und sprachliche Ausdrücke geschehen, jedoch schließt er aus, dass Repräsentation eine Verbildlichung sei, die auf Ähnlichkeit oder Nachahmung des Denotats gründet. Bilder und sprachliche Ausdrücke sind eher eine Klassifikation von Objekten und Fakten in einem beliebigen Symbolsystem, innerhalb dessen aber die gewählten Werte der Symbole konstant bleiben müssen. Goodman ist weder gegen noch für den Realismus; für ihn ist eine realistische Repräsentationsweise nur eine, welche das überlieferte und in der gegenwärtigen Gesellschaft akzeptierte System der Darstellung befolgt. Solche Standards können wechseln, und wir bekommen dann andere Stile der realistischen Repräsentation.²² Fasst man aber Repräsentation als Klassifizierung des Dargestellten durch ein beliebiges Symbolsystem auf, dann wird es schwer, die Repräsentation als ein Kunstwerk zu verstehen. Deshalb muss Goodman etwas anderes suchen, das zu Repräsentation und Deskription hinzukommt, damit ein Werk der Kunst entsteht, und findet es in der Expression und Exemplifikation. Weiter geht es nun darum, zwischen Repräsentation und Expression zu unterscheiden. Das Kriterium der Unterscheidung besteht darin, dass Repräsentation sich auf Gegenstände und Tatsachen, die Expression dagegen auf Eigenschaften und Gefühle bezieht. Expression ist ferner der Besitz von Eigenschaften und von Gefühlen, welche bildlich durch Farben (z. B. grau) und sprachlich durch Prädikate (z. B. Trauer) denotiert werden. Jedoch kann die Expression selber deshalb nicht denotieren: Warum sagen wir von einem Bild, das eine graue Farbe hat, dass es ein trauriges Bild sei oder dass es Trauer ausdrücke? Traurig zu sein und Expression von Trauer zu sein, ist nicht dasselbe. Das Bild selbst kann nicht traurig sein, sondern höchstens Trauer ausdrücken. Damit der Besitz der Trauer denotiert werden kann, muss sie exemplifiziert werden. Bei der Exemplifikation nimmt die Bewegung die umgekehrte Richtung wie bei der Repräsentation: nicht von oben nach unten, sondern von unten, vom Besitz, nach oben, zum Prädikat. Da nun die Exemplifikation auch ein Symbolisierungsprozess dessen ist, was die Expression besitzt, müssen wir sagen, dass
Vgl. (Goodman 1976: 37).
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sie selber sowohl Besitz einer Eigenschaft, die sie exemplifizieren soll, als auch Referenz ist, denn sie zeigt das, worauf sie sich bezieht, wovon sie eine Probe (sample) ist, wie ein Stück Stoff des Schneiders, das die Eigenschaften exemplifiziert, die der Stoff besitzt. Das Muster oder die Probe ist aber nicht dasselbe wie der Stoff und kann deshalb die Eigenschaft des Stoffes nur exemplifizieren durch ein Kennzeichen (label), welches die Beziehung zwischen dem Muster und der Eigenschaft, dessen Muster es ist, festlegt, also durch die Inskription, wie wenn wir auf ein gelbes Brettchen Holz „gelb“ schreiben. Damit fungiert das Muster als ein Kennzeichen der Eigenschaft, das es exemplifiziert. Die Exemplifikation lehrt also, wie man durch ein Kennzeichen ein Prädikat auf die Klasse seiner Inskriptionen bezieht. Was geschieht aber, wenn wir „gelb“ mit grüner Farbe schreiben?²³ Ebenso bei Cézanne, wenn er mit Gelb, Rot und Blau, die normalerweise Ausdruck von Freude und Trauer sein sollen, die Tiefe des Raumes ausdrücken will. Es wird hierdurch klar, dass in der Exemplifizierung ein Muster nur die Eigenschaften zeigt, die es besitzt, während es metaphorisch Eigenschaften ausdrücken kann, die es selbst nicht besitzt, sondern die anderen Prädikaten zukommen, wenn z. B. Grau Expression von Trauer ist, Gelb oder Rot von Freude. So sieht es natürlich besser aus mit der Klärung dessen, was ein Kunstwerk ist. Die Repräsentation gibt einfach das Thema an, das der Künstler durch Exemplifikation und Expression beliebig und unendlich variieren kann. Das Problem der Repräsentation war am Anfang der Modernen Kunst schon Paul Gauguin aufgegangen. Gauguin, der aus der représentation das Prinzip seiner Malerei machte, wusste ganz genau, dass sie keine Abbildung²⁴ der Welt ist, da im Kunstwerk etwas ganz Freies aus dem Geist des Künstlers entsteht, da er jede Farbe eines Gegenstandes durch eine andere ersetzen kann, wenn er die Farbe so sieht oder empfindet.²⁵ Natürlich meint er auch: wenn diese Farbe zu der Wirkung
Siehe (Goodman 1976: 44), wo eine Tafel abgedruckt ist, auf der die Namen der Farben manchmal mit der entsprechenden, manchmal mit einer nicht entsprechenden Farbe geschrieben sind, und den darauffolgenden Kommentar zu Exemplifizierung (Ch. II). Wir haben einige Dokumente, welche die Ideen Gauguins über die Malerei und seine eigenen Prinzipien des Malens bestätigen. Eines davon ist ein Brief an seinen Freund und Maler Schuffenecker vom 14 August 1888, (Übersetzung: R. D.): „Ein guter Ratschlag: malen Sie nie die Natur befolgend. Das Kunstwerk ist eine Abstraktion. Nehmen Sie von der Natur nur im Reflektieren vor ihr und Träumen. Denken Sie vielmehr an das, was Sie schaffen sollen, das ihr Ziel sein muss. Nur so erhebt man sich zur Gottheit, indem wir wie unser göttlicher Meister tun: d. h. indem wir kreativ werden.“ Vgl. (Gauguin 1946: LXVII); leider wurden nur die Briefe bis 1888 veröffentlicht. Ein zweites Dokument, das vielleicht eine Anekdote ist, aber vom Maler Sérusier weitererzählt wurde, besteht in einer Aussage, die Gauguin in einer Art Vorlesung über die Malerei ihm gegenüber beim Malen am Bois d’Amour in Pont-Aven machte: „Wie sehen Sie diese Bäume?
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des Bildes besser passt, so dass er der Repräsentation durch die von ihm gesehenen und gewählten Farbkombinationen die Expression der Freude (Rot und Gelb) oder der Trauer (Grün oder Dunkelblau) verleiht. Damit ist kein bloßer Subjektivismus der Wahrnehmung als Prinzip des Kunstwerkes gemeint,²⁶ als ob der Maler nur seine sinnlichen Eindrücke oder Gefühle darstellen wollte, sondern nur, dass er sich in totaler Autonomie eine eigene Syntax (ein System von Zeichen) und eine Semantik durch die Farben bildet, wodurch er auf die von ihm gesehene Realität Bezug nimmt. Diese Syntax und Semantik waren zuerst, als er in der Bretagne arbeitete, auf den Komplementärfarben aufgebaut (eine Grundfarbe, Rot, plus die Summe der zwei anderen, Gelb und Blau, in Grün); auf Tahiti hat er gewechselt und mit binären Farben, in Farbakkorden von Lila und Orange, Terra di Siena und Ocker oder Lila und Grün, gearbeitet. Gauguin wusste nun, dass die Repräsentation in seinem Repräsentieren Bezug auf die Welt nimmt, um durch sie an der Welt etwas Neues zu zeigen oder eine neue Welt (seine Welt) zu präsentieren. Welche Art Realität hat diese Welt der Repräsentation, auf die das Kunstwerk als Denotation Bezug nimmt? Goodmans Antwort ist klar und trifft zum Teil, was Gauguin im Sinne hatte: nur die Realität der Repräsentation, die dargestellte Realität, die er die „representation as“ nennt. Repräsentation hat für Goodman immer mit Denotation zu tun, indem sie immer eine Referenz hat, auch wenn das denotatum nicht reell vorliegt. Das geflügelte Pferd gibt es in der Wirklichkeit nicht und doch hat seine Repräsentation ein denotatum, obwohl bloß fiktiv, Pegasus. Das Wichtige für ihn dabei ist, wenn es um Kunst geht, dass die Repräsentation keine Deskription sei. Damit hätten wir aber eine Repräsentation, die durch ihre Syntax und Semantik eine ideelle Welt bildet, welche keine Kopie der realen Welt ist, sondern von der die von uns wahrgenommene und für wahr gehaltene Welt die Kopie wäre.²⁷
Gauguin sagte: Sie sind gelb: malen Sie die gelb; dieser Schatten ist bläulich? Malen Sie den mit einem feinen Ultramarin. Diese Blätter rot? Malen Sie die mit Vermillon.“ (Vgl. Sérusier 1942: 42 f.; Übers.: R. D.). Der Satz, der vom Herausgeber Denis dort in kursiver Schrift hervorgehoben wird, stammt nach Denis von einem kurzen Curriculum von Sérusier; da wir darin die Basis von Denis’ Auffassung der Malerei erkennen, ist deshalb fraglich, ob sie wirklich von Gauguin oder von ihm selber stammt. Über Gauguin selbst sagt Denis weiter an dieser Stelle: „Es geht nicht darum, die Natur zu reproduzieren, wie wir sie sehen, sondern sie zu repräsentieren, sie in ein Spiel von lebendigen Farben zu übertragen, die in eine einfache, expressive, originelle Arabeske zum Vergnügen der Augen eingeschlossen sind.“ Das ist zum Beispiel die Meinung von A. Gehlen (1960: 68 f.). Dies ist vor allem in der vom Platonismus beeinflussten italienischen Renaissance klar zu sehen, insbesondere an dem berühmten Topos der idealen Stadt; vgl. die vor kurzem beendete Ausstellung La città ideale. L′utopia del Rinascimento a Urbino tra Piero della Francesca a
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Das hört sich wie ein Platonismus der Malerei an. Aber Sérusier, ein Maler der zu Gauguins Kreis in Pont-Aven gehörte und philosophisch ein Hegelianer war, erzählt uns, dass Gauguin in seinen Diskussionen im Kreise der Maler beweisen konnte, dass im Grunde Hegel Recht hatte:²⁸ Kunst ist die Anschauung der Idee, wobei die Idee die wahre Realität der Welt ist – also kein bloßer Platonismus der Malerei. Was der ästhetische Logos der Malerei mit seiner Sprache darstellen, exemplifizieren und ausdrücken will, ist derselbe Logos der Welt, den das Genie des Künstlers, der Günstling der Natur, (re)präsentiert. Schön ist die Kunst, meint Kant, wenn ihr Produkt so aussieht, als ob die Natur es gemacht hätte. Ob das der Grund ist, weshalb ein Künstler gefärbtes Wachs mit einer Kanone schießt, um eine Skulptur zu realisieren, und ein anderer in China explosiven Stoff und Pulver unter eine Metallscheibe setzt und explodieren lässt, um eine von der Natur ‚gemalte‘ Scheibe zu erhalten? Hier hilft uns ein anderer Wegbereiter der Modernen Kunst, Paul Cézanne. Während Gauguin das Kunstwerk als représentation versteht, sieht Cézanne die Aufgabe des Kunstwerks in der réalisation. Wie sollen wir das verstehen, besser, was versteht er darunter? Was er damit meint, kann man vielleicht durch das andere Moment verstehen, das Goodman für die Sprachen der Kunst und für das Ästhetische überhaupt für wesentlich hält, nämlich die Exemplifizierung, die letztlich zu Expression führt. Das lassen wir uns von Cézanne selber sagen. Cézanne wollte nicht einfach malen, was er sah, sondern wollte zuerst die existierende Welt, die Natur, betrachten, und dessen gewahr werden, was er vernahm, nämlich das Ewige in der Natur,²⁹ den göttlichen Logos der Welt,³⁰ der vor ihm lag Raffaello, Urbino, Galleria Nazionale delle Marche 6 Aprile – 8 Luglio 2012; s. (Marchi / Valazzi 2012). Das wird erzählt von M. Denis (1964: 54). Es ist der Satz, der seinen Artikel zu Gauguins Tod beschließt, zuerst in L′Occident veröffentlicht (Oktober 1903). Über die Bedeutung von Sérusier für die Theorie der Malerei von Gauguin und den Pont-Aven Kreis siehe ferner: (Sérusier 1942). K. E. Osthaus erzählt uns nach seinem Besuch bei Cézanne im Jahre 1906 in einem Aufsatz in Das Feuer: „Ohne die Erhebung über die Erscheinung der Dinge, ohne die Anschauung des Ewigen in der Natur, gab es für ihn keine Kunst“ (Osthaus 1920/21). Der Aufsatz ist wiederabgedruckt in (Doran 1978). Diese Veröffentlichung enthält wertvolle Briefe von und an den Maler, wie die Maximen, die er in Anwesenheit von anderen Zuhören aussprach und nach Leo Larguier, der diese Maxime zum ersten Mal veröffentlichte, sein Sohn selber niedergeschrieben hatte; außerdem noch Zeitungsartikel von Kritikern und Künstlern über ihn, die wir zitieren werden. Zu diesem Thema bei Cézanne vgl. (Dottori 1994), jetzt auch in (Dottori 2007). Es war zuerst M. Merleau-Ponty (1945), der von dem Logos der Welt sprach, den Cézanne durch Auge und Gehirn fassen wollte; nach ihm hat G. Boehm (1988) einige Maximen von Cézanne über das Lesen der Natur zitiert, die von E. Bernard erzählt worden sind und die er als ein Lesen des Logos der Natur auffasst; vgl. die 11. Maxime: „Tout se résume en ceci, avoir des sensations et lire la nature“ (Doran 1978: 36 f.).
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und dem er bildliche Darstellung geben wollte. Eine seiner Maximen ist: „Malen ist nicht ein Kopieren des Gegenstandes, sondern die eigenen Empfindungen realisieren“ (Doran 1978: 36). Die réalisation hatte dann die doppelte Richtung der ästhetischen Erfahrung, die einerseits auf die vorhandene Welt geht, um deren Logos gewahr zu werden und zu vernehmen (aisthesis); die andere Richtung aber geht auf die réalisation des Vernommenen in der bildlichen Darstellung, wodurch das Werk eigentlich entstand.³¹ In diesem Sinne war die Darstellung keine Repräsentation im Sinne der Abbildung der Welt, kein Kopieren der Natur, sondern viel eher die Exemplifizierung der Eigenschaften, welche dem göttlichen Logos eigen waren und deren Bild die metaphorische Expression hätte sein sollen. Er musste natürlich merken, dass dies eine unendliche Aufgabe war; deshalb machte er am Ende seines Lebens die verzweifelte Aussage: „Die Natur habe ich kopieren wollen, es ist mir nicht gelungen, aber ich war trotzdem zufrieden, als ich entdeckte, dass man die Sonne nicht kopieren, nicht direkt wiedergeben kann, sondern man sie durch etwas anderes, durch die Farbe repräsentieren konnte.“ (Doran 1978: 17) Das nannte er die réalisation, und seine Anstrengung, durch Exemplifizierung und Äquivalenzen die Natur darstellen zu wollen, wie in seiner allerletzten Zeit bei dem Berg Saint Victoire, brachte ihn zur Auflösung der natürlichen Form, d. h. zur Kunst der Moderne. So können wir zu dem zweiten Punkt kommen, nämlich b) ob das Verstehen eines Kunstwerkes ein explizierendes und auslegendes Verstehen ist. Wir wählen dafür ein Beispiel aus Goodmans Werk: Was für ein Unterschied besteht zwischen einem Elektrokardiogramm und einer Zeichnung des Berges Fujiyama von Hokusai? Die Formen der Linien auf dem weißen Hintergrund könnten genau dieselben sein, und doch ist das eine ein Bild, während das andere ein Diagramm ist. Für Goodman ist der Unterschied zwischen den beiden nur ein syntaktischer, d. h. er betrifft nur die Weise, in der die Zeichen in einem System sich voneinander unterscheiden können und zusammengehören; er liegt nicht in dem, was symbolisiert wird. Man kann Diagramme von Bergen machen und Herztöne können gezeichnet werden, aber die Zeichen des Diagramms gehören zu einem anderen Charakter (character)-Schema als dem des Bildes, obwohl beide unartikuliert bzw. dicht sind. Konstitutive Aspekte des diagrammhaften Charak-
So lohnt es sich, einige seiner Maxime zu zitieren, die uns der Maler Emile Bernard erzählt hat: „Beim Malen sind zwei Sachen aktiv, das Auge und das Gehirn; man muss auf ihre gegenseitige Entwicklung hinarbeiten: zu der der Augen durch die Anschauung der Natur, zu der des Gehirns durch die Logik der organisierten Empfindungen, die uns die Mittel der Expression geben“. „Die Natur zu lesen heißt, sie unter der Hülle der Interpretation durch farbige Flecken zu sehen, die sich nebeneinander nach dem Gesetz der Harmonie stellen. Malen heißt, die eigenen farbigen Empfindungen zu registrieren.“ Vgl. (Doran 1978: 36).
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ters sind nur die Ordinate und die Abszisse der Punkte, die die Linie durchquert, während die Dicke oder die Schärfe der Linie, ihre Farbe, der Kontrast mit dem Hintergrund, die Dimension des Gebildeten, sogar die Qualität des Papiers, die bei Diagrammen keine Rolle spielen, für ein Bild konstitutiv sind.³² Daher können wir sagen, dass die Charaktere des bildlichen Schemas größere Fülle (repleteness) besitzen. Dieser Unterschied zwischen dem diagrammattischen und dem bildlichen Schema ist, laut Goodman, nur einer des Grades und nicht der inneren Struktur, da beide unartikuliert sind und zu dichten Schemata gehören. Wollten wir dies im Sinn Husserls verstehen und sagen, dass diese Fülle des bildlichen Schemas eine Bedeutungserfüllung ist, dann sollten wir uns auch fragen: aber was für eine Bedeutung? Die einzige mögliche Antwort ist, dass die Zeichnung im Unterschied zum Diagramm Kunst ist und nicht eine medizinische Diagnose und deshalb zu der ästhetischen anstatt zur medizinischen Erfahrung gehört. Der Unterschied liegt nicht einfach im Grade der Objektivität des Schemas, sondern in der Intentionalität der Handlung. In diesem Vergleich des Fujiyama Berges von Hokusai mit dem Elektrokardiogramm hat Goodman nur einen Unterschied von zwei verschiedenen Schemata von Symbolsystemen gezeigt und überhaupt nicht von Kunst geredet. Was für einen Zweck hat diese Unterscheidung in Beziehung auf die Kunst? Die Absicht von Goodman ist, die Repräsentation von der Deskription zu unterscheiden. Beide sind denotative Systeme, aber erstere gehört zu den unartikulierten Symbolen in einem dichten Schema, während die Deskription zu einem artikulierten Schema gehört. Der Unterschied zwischen den beiden besteht hauptsächlich darin, dass in einem Symbolsystem mit dichten und unartikulierten Schemata die kleinste Änderung des Zeichens zu einer Änderung des Charakters führt. Dagegen bildet in einem artikulierten Schema jeder Charakter eine Klasse möglicher Inskriptionen, die extensional darunter subsumiert werden können, so dass es möglich ist festzustellen, ob ein Zeichen h im Falle, dass die Klassen der Charaktere nicht denselben Umfang haben, dem Charakter K1 oder K2 angehört. Das ist im Fall des dichten und unartikulierten Schemas nicht der Fall: Es lässt sich nicht entscheiden, ob das Zeichen h dem einen oder dem anderen Charakter angehört, denn zwischen den beiden kann es immer noch einen weiteren geben, so dass die Annährung an je einen Charakter unendlich wäre. Darin liegt die Schwierigkeit des Lesens und Sprechens über Bilder im Unterschied zum Anschauen begründet.
Vgl. (Goodman 1976: 229).
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Selbst wenn wir ein objektives Kriterium für die Charakterisierung der Sprache der Kunst gewonnen hätten, so bliebe uns immer noch zu sagen, was die ästhetische Erfahrung selber ist. Wir glauben nicht, dass dies möglich wäre, ohne die Wirkung des Kunstwerkes auf uns einzubeziehen, welche nicht bloß in den Emotionen besteht, die Goodman aus der ästhetischen Erfahrung herausschieben oder wenigstens in den Dienst der Intelligenz stellen möchte, sondern in unserer Partizipation am Tun des Künstlers durch die Fragen, die wir an das Kunstwerk stellen und von dem wir Antworten erwarten. Es sind vielmehr unsere Erlebnisse, die wir in dem Spiel der Kunst vor uns dargestellt sehen, und damit meinen wir dasjenige, dem wir selbst im alltäglichen Leben begegnen, nämlich Hoffnungen und Enttäuschungen, Wünsche und Frustrationen, Liebe und Hass, Freude und Leiden, Wahrheiten und Illusionen, die wir in Bezug auf unsere wirkliche Welt verkraften müssen. Goodman hat auch die Rolle der Mimesis missverstanden und außer Acht gelassen. Mimesis heißt nicht einfach Nachahmung und auch nicht einfach Repräsentation im Sinne von Re-Präsentieren, vor uns hinstellen, wieder präsent machen, sondern ist vor allem Darstellung, das heißt, Aspekte der Natur und Möglichkeiten in der Welt durch Phantasie, Imagination, uns so vorzustellen, als ob sie wirklich wären.³³ Dies geschieht ursprünglich im Tanz, und die Mimesis und der Mime waren ursprünglich Tanz und Tänzer. Was der Tanz tut, ist aber nicht eine Denotation von wirklichen Handlungen oder Deskription von dynamischen Figuren (dynamic shapes), das ist zu wenig. Es sind neue Organisationen von Erfahrungen und Handlungen, die normalerweise nicht in einer solchen Weise assoziiert und unterschieden werden, so dass wir dadurch neue Verweisungszusammenhänge gewinnen und unser Vernehmen schärfen. Goodman fragt sich auch, ob die Handlung des Mimen Exemplifikation oder Illustration sei (1976: 64 f.), aber im ersten Falle würde der Mime nur sich selbst, seine eigenen Bewegungen exemplifizieren, so dass es sich einfach um ein selbst-denotatives und selbst-exemplifizierendes Symbol handeln würde und deshalb selten ungewöhnlich und unbedeutend wäre. Im Falle der Illustration wäre es wirklich banal, den Mimen mit den Bewegungen zu vergleichen, welche der Lehrer in der Turnhalle zur Exemplifizierung der erforderlichen Eigenschaften derjenigen Aktionen macht, die seine Klasse ausführen soll.
Ich habe versucht zu zeigen, wie man die Moderne Kunst, vor allem bei Klee und Kandinsky, von ihrem Sich-Ablösen von der Natur bis zum Verlassen der Wirklichkeit erst aus dem Begriff der Mimesis verstehen kann; vgl. La mimesis e il giuoco dell’esistenza in Paul Klee, jetzt in (Dottori 2007: 523 – 548).
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Heute hat man, Gadamer folgend, die Mimesis rehabilitiert.³⁴ Sie bedeutet beim Kunstwerk auf keinen Fall Imitation in dem von Goodman kritisierten Sinne, sondern eher ein Zeigen, das uns ironisch oder komisch lehrt, was wir tun und wie wir es eigentlich tun können und sollen. Sie führt uns vor, wie wir uns bewegen. An der Wiederholung unserer Bewegungen beim Mimen zeigt sich unser Leben in einem stummen Kommentar. Er stellt, wie der Tanz und die theatralische Darstellung, das Leben dar, das wir täglich spielen, das Spiel unserer Existenz, manchmal es verschönernd, idealisierend, manchmal beispielhaft, exemplifizierend, manchmal, wie in der Tragödie, zerrüttend oder depotenzierend und erschreckend. Insofern die Darstellung Kunst ist, ist sie kein bloßes ‚Repräsentieren als‘, mit oder ohne Denotation, d. h. keine bloße fiktive Darstellung, sondern ein ernstes Spiel mit dem Sinn unseres Lebens. Kunst ist auch mehr als ein Wechselspiel von Repräsentation, Exemplifikation und Expression. Wir müssen, wie uns das Beispiel der Mimesis und des Tanzes zeigt, die Fiktion dieser verschiedenen Weisen des Darstellens auf das Spiel der Handlungen und ihr Zeigen auf ihren inneren ästhetischen Logos zurückführen, welcher Spiel des Lebens und der Welt ist, um dort den Sinn des Lebens zu finden, den uns der Künstler zeigen wollte: „War das das Leben?“, fragt Zarathustra – „Wohlan! Noch Ein Mal!“³⁵ Wenn man andererseits in der Kunst nur die Kraft der Lebenssteigerung, die Bejahung des Lebens sieht, die uns zur Überwindung des Nihilismus führt, wie Nietzsche es will und Abel es tut, so sind wir über das Ästhetische wie über die Kunst hinausgegangen und in der Metaphysik des Willens zur Macht angekommen. Insofern zur aisthesis auch die phantasia gehört, kann dies bestimmt der Wissenschaft wie der Ethik nützlich sein; sie kann zum Ausdenken von neuen Methoden der Forschung und des Experimentierens anregen, wie auch durch Steigerung der Lebenskräfte zur Überwindung des Nihilismus beitragen, aber ihr Kriterium liegt, wie Goodman selber anerkennt, nicht in der Nützlichkeit.³⁶ Denn
Siehe Kunst und Nachahmung (Gadamer 1967: 16 – 27; 1993: 25 – 37) und Dichtung und Mimesis (zuerst erschienen unter dem Titel Dichtung und Nachahmung in: Neue Zürcher Zeitung, 193. Jg. 186, 9. Juli 1972, Beilage ‚Literatur und Kunst’, S. 53) (Gadamer 1993: 80 – 85). (Za III, Vom Gesicht und Räthsel 1, KSA 4.199); s. ferner (Za IV, Das Nachtwandler-Lied 1, KSA 4.396). So meinen sowohl Goodman als auch Abel, die Rolle der Sinnesempfindung sei nicht von dem Moment der Erkenntnis zu trennen; vielmehr gehöre das emotionale Moment der Empfindung zur Kraft des Verstehens bzw. es berge ein kognitives Moment in sich. Darauf gründet auch Goodmans These, die ästhetische Erfahrung und mit ihr das Wesen der Kunst bestünden weder in der praktischen Erziehung im Umgang mit der Welt, noch in dem Spiel und dem Genuss der Selbstdarstellung des Geistes, noch auch in der Kommunikation, sondern vor allem in der Er-
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wir wollen nicht durch die Kunst zur vollen Entfaltung unseres Lebens kommen, sondern in der Kunst. Betrachten wir also ein Kunstwerk, beschauen oder lesen wir es, so gehen wir über die unmittelbare Sinnesempfindung hinaus, um uns mit dem Problem des Verstehens des Sinnes dessen, was wir anschauen, zu befassen – und dies bringt uns immer wieder zu den Fragen des großen Bildes von Gauguin: Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir? ³⁷ Unsere Hauptfrage war: Wie sollen wir ein Bild anschauen? Die einzig mögliche Antwort ist: indem wir die Antwort auf die Frage, die das Bild stellt, im Bild selber finden, also in der Sprache, welche das Kunstwerk überhaupt sprechen kann.
3 Hermeneutische Ansicht der Frage: Wie betrachtet oder liest man ein Kunstwerk? Hier wollen wir a) nach einem anderen Modus der Interpretation fragen, der nicht nur formal nach der Wirklichkeit des Kunstwerkes fragt und dadurch ‚objektivistisch‘ verfährt. Wenn wir bei unserer Begegnung mit einem Kunstwerk unser Verstehen in den vielen anderen Faktoren des Logos der Zeichen suchen, die bei der Entstehung des Kunstwerkes ausschlaggebend waren, so folgen wir nicht einfach dem Prinzip der klassischen Hermeneutik, nach dem der Interpretierende versuchen soll, sich in die mens auctoris zu versetzen. Bei der Begegnung mit den Werken der Kunst bleibt der Autor meistens unbekannt. Sollte er uns aufgrund unseres Interesses für sein Leben bekannt werden, so bleibt er uns im Grunde dennoch stets unerreichbar.³⁸ Angelegenheiten seines Lebens, wie seine Religiosität, seine Lebensanschauung, seine familiären Verhältnisse, sein Charakter und Lebenszustand können uns manchmal helfen, manche seiner Einfälle bei der Wahl der
kenntnis. Das sei die letzte Antwort auf die versteckte metaphysische Frage nach dem Wesen der Kunst. Das aber würde die Kunst ihrer Autonomie berauben. Das Bild ist 4,50 m breit und 1,70 m hoch und befindet sich jetzt im Boston-Museum; darüber schreibt Gauguin: „Ich habe eine philosophische Arbeit über das Thema gemalt“ (Gauguin 1920: Lèttre n. XXXIX, Février 1898). Vgl. die Kritik an Schleiermacher und Dilthey, die Gadamer zuerst in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode durchgeführt hat. Sein hermeneutisches Prinzip lautet: „Es genügt zu sagen, dass man anders versteht, wenn man überhaupt versteht“ (1960: 280); siehe auch ‚Die hermeneutische Bedeutung des Zeitabstandes‘, (231 ff.). Folglich hat Abel Gadamer missverstanden, als er die Verschmelzung der Horizonte wie eine Identifizierung mit dem Verstehen des Anderen ansieht, vgl. (Abel 2012).
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Mittel und den Standpunkten, die er in Bezug auf die frühere Kunst und seine Gesellschaft bezogen hat, zu verstehen. Diese Kenntnisse sind aber nur eine spätere Nachhilfe bei der Betrachtung des Kunstwerkes, die dann zu unserem Verstehen und zu unserem kritischen Urteil führt, das Werk sei gelungen oder nicht. Obwohl die Identifizierung mit dem Künstler unmöglich ist, sehen wir uns aber gezwungen, auf seine Intentionalität Bezug zu nehmen; da in dieser der ästhetische Logos des Kunstwerkes liegt, muss sie auch das leitende Prinzip der Interpretation werden. Dabei meinen wir nicht eine Wesensanschauung, aus der das Werk entstanden ist und die wir am Werk wiederholen sollten, sondern die eine bestimmte Absicht als leitendes Prinzip seiner Arbeit, sei sie ein Einfall oder eine Intuition, eine Emotion oder eine objektive Motivation, kurz eine aisthesis, welche die phantasia provoziert hat, ein Kunstwerk zustande zu bringen. Wir müssen in geeigneter Weise eine Mitte finden zwischen der Ansicht Goodmans, der zwischen Hokusais Zeichnung des Fujiyama Berges und einem Elektrokardiogramm nur den syntaktischen Unterschied zwischen einem übergeordneten und einem untergeordneten und doch unartikulierten Schema eines Sprachsystems sieht, und Heideggers Auslegung der Bauernschuhe von Van Gogh, wo behauptet wird, in diesen sei „der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes“ zu hören (Heidegger 1972: 23). Beide Auffassungen klingen wie Provokationen, so dass bspw. zu Heideggers Ansicht ein Kunstkritiker in einer Fernsehsendung meinte: „Er kennt alles über Bauernschuhe, aber nichts über Malerei.“ Andererseits ist jedoch auch zu beachten, dass Heidegger der Erste gewesen ist, der von der Kunst als ein Entspringen-Lassen der Welt geredet hat; sein erster Vortrag über den Ursprung des Kunstwerkes wurde über 40 Jahren vor dem ersten Erscheinen von Goodmans Buch gehalten. Wir glauben, den mittleren Weg zu treffen, wenn wir den ästhetischen Logos der Zeichen wiederzufinden suchen, der uns zu der Erkenntnis der inneren Einheit des Werkes der Kunst führt, welche eine Welt schafft. Die Interpretation des Kunstwerkes durchläuft verschiedene Stadien, um von der ursprünglichen Begegnung durch die Empfindung bis zu unserem bewussten Urteil oder zu der ‚aneignenden Deutung‘ zu kommen. Unsere Begegnung mit ihm ist ursprünglich an das unmittelbare Geschmacksurteil gebunden. Dieses ursprüngliche Interesse, das bei uns auch durch aisthesis geweckt wird, provoziert unsere Phantasie und unseren Verstand, vor allem bei der Modernen Kunst, wo die normalen Wege der aisthesis verworren sind und ihre Grenzen überwunden werden. Diese Provokation und das damit zusammengehende Interesse zwingen uns zum Beobachten und zum Verstehen. Damit treten wir in das zweite Stadium, das Stadium der bewussten Beobachtung, ein, wo es vor allem darum geht, den Logos der Zeichen, den roten Faden der Ariadne, zu finden, der uns hilft, aus der
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Verworrenheit der Wege herauszukommen, bis wir durch das Verstehen die aisthesis wieder in ihre bekannten Grenzen des Empfindens zurückführen, das nun zu einem verstehenden Empfinden, zu einem Geschmacksurteil geworden ist. Da das Kunstwerk durch ein Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand entstanden ist, muss auch die Interpretation aus der konkurrierenden Wirkung dieser beiden Fähigkeiten der menschlichen Seele erfolgen. Wir könnten nun meinen, wir wären damit bei dem dritten Stadium der Interpretation, welches Abel die „aneignende Deutung“ nennt und wo wir zu dem ästhetischen Urteil und der Beurteilung des Werkes gekommen sind – aber was für eine Art von Urteil ist dies? Selbst wenn wir Ausdrücke gebrauchen wie „das Werk ist ihm gelungen“ oder „nicht gelungen“, meinen wir nicht, unser Verständnis oder unsere Interpretation des Kunstwerkes erschöpft zu haben, denn jedes Kunstwerk ist in sich selbst unserem Betrachten gegenüber unerschöpflich. Es besteht nicht in der Art eines fertigen Gegenstandes, sondern in einem ständigen Zurückgreifen auf das Zusammenspiel von aisthesis und phantasia bei mancher Hinzufügung des Verstandes, und ist daher nie völlig zu entschlüsseln. Das wäre gegen seine eigene Natur: Wir würden sonst das Interesse an ihm verlieren und kalt an ihm vorbeigehen. Selbst wenn wir den inneren Logos der Zeichen gefunden hätten, hätten wir mit dem ästhetischen Logos noch zu tun, und dieser Logos lässt sich nicht logisch ersehen. Man könnte nun meinen, der Unterschied zwischen dem logischen und dem ästhetischen Logos liege im Unterschied zwischen den analogischen Symbolsystemen, welche nicht sprachliche, sondern bildliche Symbole haben, und den digitalischen Symbolsystemen, welche diskrete und diskursive Symbole gebrauchen. Das ist aber nicht wahr: Selbst bei sprachlichen Systemen, etwa Literatur, haben wir es mit einem Klang der Wörter und mit Metaphern zu tun, die ihren Reiz nicht verlieren, solange sie ihrem Werk zugehören. Der ästhetische Logos der Zeichen ist in beiden Symbolsystemen zu finden, und das Zusammenspiel mit dem Logischen macht den Zauber des Spiels der Kunst aus, und damit ist unsere Interpretation, die auf dieses Spiel eingeht, unerschöpflich. Damit aber kehrt die alte Crux der zweiseitigen Problematik der Interpretation wieder, welche bei der klassischen Hermeneutik im Verstehen und Auslegen besteht, bei Goodman im Unterschied zwischen Sehen und Sagen, bei Abel zwischen Zeigen und Sagen – ein Unterschied, der nicht nur für Kunstwerke, sondern für jedes Problem der Interpretation gilt. Nach Goodman ist das Sehen eines Bildes, welches Eigenschaften exemplifiziert und ausdrückt, gleich dem Verfahren des Messens der Temperatur mit einem skalenlosen Thermometer, während Sagen, was an dem Bild exemplifiziert wird, heißt, die richtigen Worte für das zu finden, was wir aus einem unbegrenzten und semantisch dichten Symbolsystem herausklauben. Da die Sprache ein artikuliertes, unterschiedenes und disjunktes
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Schema eines Symbolsystems ist, werden wir stets genötigt, den exakten Terminus, der zu dem Symbol eines unbegrenzten und dichten Schemas passt, zu suchen, und wir werden immer merken, dass es noch einen präziseren Terminus gibt, der für das unartikulierte Schema des Bildes passt. Was sich durch ein Bild oder an einem Bild zeigen lässt, ließe sich nicht sagen. Das bedeutet in Bezug auf sprachliche Kunstwerke, dass die Sprache im Falle des Künstlers und des verstehenden Lesers auf verschiedenen Stufen arbeiten muss, da das Gedicht mit der semantischen Dichte der Gefühle zu tun hat. Um diese auszudrücken, sucht der Dichter nach Worten, die zu der Syntax eines disjunkten und diskreten Symbolsystems gehören. Dies erfordert von ihm eine unendliche Arbeit bei der Wahl der Sprachmittel, um zur Expression von Gefühlen zu gelangen, die von derselben Sprache dann unter Prädikaten klassifiziert werden.³⁹ Das hat vom Standpunkt der klassischen Hermeneutik aus zur Folge, dass man nicht über das Kunstwerk in der Weise sprechen kann, in welcher das Kunstwerk selber spricht, oder dass die in der Auslegung gebrauchte Sprache in einer anderen Weise arbeitet als die Werke selber.⁴⁰ Doch Goodman, der darin weder eine Niederlage noch das Geheimnis des Ästhetischen sieht, ahnt schon, dass dieser Unterschied ein echtes Symptom des Ästhetischen ist. Die Objektivität des Messens, die Schärfe des Maßstabes, wie der syntaktische Unterschied zwischen einem Entwurf und einem Diagramm, reichen aber für die Interpretation des Kunstwerkes nicht aus, vor allem weil man es dabei mit einem Verstehen zu tun hat, welches im Unterschied zum Erklären mit der freien Subjektivität des Anderen konfrontiert wird. Das Verstehen hat seine Konkretisierung nur im Auslegen, worin es sich artikuliert und aktualisiert; seine konkurrierende Mitwirkung macht die Interpretation aus. Soll also echte sprachliche Auslegung des Bildlichen, wie auch des Gedichtes unmöglich sein, weil sie unendlich und nie objektiv genug ist, dann scheint daraus das Scheitern der Interpretation zu resultieren. Aber das Gegenteil ist richtig, denn die Objektivität des Messens ist ein inadäquates Kriterium für den Vollzug der Interpretation, welche eben in dem ständigen und wachsenden Prozess des Verstehens und Auslegens ihr Ziel hat. Im Grunde ist die Interpretation unendlich, weil das Kunstwerk unerschöpflich ist und immer neue Deutungen zulässt, aber nicht weil unsere Sprache ein artikuliertes, disjunktes und diskretes Schema hat, während das Schema des Bildes ein dichtes und unartikuliertes ist; das ist nur die eine Schwierigkeit der Vgl. (Goodmann 1976: 238 f.). Vgl. die ähnlichen, obwohl unterschiedlichen Bemerkungen über das Lesen von Paul de Man (1979); ferner auch (de Man 1986), besonders den dort wiederabgedruckten Aufsatz Hypogram and Inscription (1986: 27– 53), wo er auf M. Riffaterres Theorie des Lesens Bezug nimmt.
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Auslegung. Die Schwierigkeit des Verstehens, das vor dem Auslegen kommt, besteht hier darin, dass unsere Intentionalität bei der Betrachtung des Kunstwerkes sich nie in die Intentionalität des Künstlers hineinversetzen kann. Das macht den geheimen Zauber des Kunstwerkes aus, das unsere aisthesis reizt und unseren Verstand provoziert. Sollte sich auch unser Verstand mit demjenigen des Künstlers treffen, dann bleibt die Aufgabe, sich mit dem freien Spiel der aisthesis und phantasia des Künstlers auseinander zu setzen und mit unserer aisthesis in Einklang zu bringen. Da das Spiel der Phantasie ganz frei in seiner Repräsentation und Expression ist, kann es eine letzte aneignende Deutung nie geben. Die Unerschöpflichkeit des Kunstwerkes und die Unendlichkeit der Interpretation gehören zusammen. Wenn wir aber nicht unter den unendlichen Bann der Interpretation fallen wollen, dann müssen wir die Interpretation in die festen Grenzen des Logos der Zeichen zurückführen, wo das Gespräch zwischen dem Interpreten und dem Werk stattfindet. Erst das Spiel von Fragen und Antworten kann zu dem immer konkreteren Verstehen des Logos der Zeichen führen, in welchem das Kunstwerk besteht. Dieses lebendige Gespräch mit dem Werk hat seinen Hintergrund in dem Selbstgespräch des Künstlers, in dem sein Versuchen und Erproben vor sich geht, wodurch das Gespräch zur Selbstdarstellung und zuletzt zur Darstellung des Absoluten wird. So können wir b) zum zweiten Punkt der Hermeneutik des Kunstwerkes kommen, nämlich ob wir noch von der Wahrheit der Kunst sprechen können und wie wir heute die Frage in Bezug auf unsere Welt zu stellen haben. Wir haben schon festgestellt, dass die Praxis der Interpretation im Falle des Kunstwerkes eine ganz andere Bedeutung hat: Sie hat nicht die Wiederherstellung des Verstehens zur Aufgabe, wie es in der zwischenmenschlichen Kommunikation der Fall ist, sondern die Entschlüsselung dessen, was sich im Kunstwerk zeigt und was es selbst zeigen will. Was das Kunstwerk will, kann man in wenigen Worten sagen, nämlich, selbst bei den nicht-sprachlichen Kunstwerken, eine Aussage über das Wirkliche zu machen, gleichsam wie eine Art Antwort auf unsere Frage nach dem Sinn oder auch Unsinn der Welt und dadurch unseres Lebens. Dass es sich um eine Aussage der Kunst handelt, impliziert weiter, dass diese Aussage kein mentaler Akt der Repräsentation, sondern ein dynamischer Akt, ein Tun und ein Geschehen, ist, also wesentlich Darstellung sprachlicher und nicht sprachlicher Natur, an einen Ort und eine Zeit gebunden, wo die Darstellung realisiert ist, und doch dem Ort und der Zeit enthoben. Diese Transzendenz der Darstellung ihrer raumzeitlichen Realität gegenüber verdankt das Kunstwerk vor allem der Sprache. Wir verdanken der Arbeit von Goodman über die Verschiedenheit der Sprachen der Kunst, die er zuerst in autographische (bildende Künste) und allographische (Literatur und Musik) und letztere in notationale und nicht-notationale unterteilt, einen echten und wichtigen Beitrag zur Klärung der Identität
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des Kunstwerkes, der die bloße Gegenständlichkeit des Kunstwerkes aufhebt und ihm die Transzendenz über die objektive Realität zuerkennt. Als Darstellung ist aber das Kunstwerk wesentlich an einen Anderen, Betrachter oder Zuhörer, gerichtet, dem das Kunstwerk gilt und der wie ein Gesprächspartner vor ihm steht. Das ist, was Gadamer die vierte Dimension des Kunstwerkes nennt, denn dieses andere Subjekt steht für die Anderen, d. h. für die anderen Menschen überhaupt, also für das gesellschaftliche Sein. Die Darstellung, insofern sie an die Anderen, Betrachtenden oder Zuhörer, gerichtet ist, schafft und erschließt letztlich eine Welt, die sowohl für den Künstler seine je eigene als auch die öffentliche Welt ist. Sein Werk fällt in die gemeinsame gesellschaftliche Welt und steht mitten in der Weltöffentlichkeit da. Diese Weltöffentlichkeit verschafft ihm die Resonanz seines Werkes und das Echo des Selbstgesprächs, das er im Werk mit sich selbst als seinem Anderen führt. Auch der introvertierteste Künstler lebt als Künstler in dieser Öffentlichkeit, die das Andere seiner selbst ist, mit dem er sich in seinem Werk vereinigt. Das Werk gibt ihm den Maßstab seines Schaffens und zugleich das Maß der Wirkung, mit der es ihm gelingt, durch die Formung seines Bildes seine sinnlichen Eindrücke, seine Empfindungen, seine Emotionen, seine Gedanken so darzustellen, dass sie Partizipation erwecken, dass ein gemeinsames Lebensgefühl, traurig oder heiter, sich bildet und eine gemeinsame Lebensanschauung und Lebensbejahung entstehen. Kunst als Darstellung ist letztlich Selbstdarstellung des Geistes in seinem gesellschaftlichen und geschichtlichen Sein. Soll nun das Kunstwerk eine Aussage über den Sinn unseres Lebens sein, dann würden wir sagen, dass Kunst und Philosophie dasselbe tun und dass ihr Ziel das gleiche ist. Dass sie denselben Sinn haben, heißt aber nicht, dass sie dasselbe tun. Man kann dasselbe Ziel erreichen wollen und doch verschiedene Wege gehen. Jeder wählt den Weg, der ihm nach den Möglichkeiten, Fertigkeiten und Dispositionen, die er hat, zur Verfügung steht. Man kann künstlerisch philosophieren, wie Plato und die Tragiker, Kierkegaard und Nietzsche es getan haben, und man kann philosophisch dichten und malen, wie Goethe und Rilke, Picasso und de Chirico. Kunst unterscheidet sich von Philosophie und Wissenschaft, auch wenn diese beiden die Kunst in Anspruch nehmen. Alle sind Ways of worldmaking, doch gibt es einen Unterschied zwischen den Wegen, die der Künstler, der Philosoph und der Wissenschaftler wählen: der Unterschied zwischen der ästhetischen, der wissenschaftlichen und der philosophischen Erfahrung. Während der Wissenschaftler und der Philosoph auf der Basis von Verstand und Einsicht auf Erkenntnis der Wahrheit aus sind und in dieser Absicht auf ästhetische Erfahrung und auf das Spiel der Kunst zurückgreifen, so soll sich die ästhetische Erfahrung hingegen auf der Basis der aisthesis und der phantasia frei entfalten und dadurch zur Erfahrung von Wahrheit kommen, wie nur der Künstler
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es kann, dem wir folgen sollen, um in seinem Kunstwerk das Echo unserer selbst zu hören und an seiner Darstellung das Spiel unseres Leben dargestellt zu sehen, komisch oder tragisch, bürgerlich oder heroisch. Das gewahr werdende Vernehmen der Welt, das uns von der Kunst eröffnet wird, schafft uns durch die sich damit zusammenschließende Phantasie eine Welt, unsere Lebenswelt, in der sich die volle Entfaltung von Wahrheit und Freiheit kundtut. Wir wollen daher mit Nietzsche schließen: „Vom Baum der Erkenntniss. – Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit, aber keine Freiheit, – diese beiden Früchte sind es, derentwegen der Baum der Erkenntniss nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden kann.“ (WS 1, KSA 2.540)
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Ästhetische Zeichen und Interpretationen Replik zum Beitrag von Riccardo Dottori Der Beitrag von Riccardo Dottori verfolgt drei Ziele. Erstens (1) wird die Zeichenund Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] in ihrem Zusammenhang mit der großen Tradition der Metaphysik und insbesondere des für diese Tradition kennzeichnenden Logos-Gedankens gesehen und erörtert. Zweitens (2) wird die ZuI-Philosophie in Bezug auf ihr Verhältnis zur analytischen Symboltheorie Nelson Goodmans thematisiert. Drittens (3) werden ZuI-Philosophie und des näheren insbesondere die ZuI-Ästhetik in ihrer Stellung hinsichtlich des Verhältnisses von Philosophie und Kunst erörtert. In jedes der drei Themenfelder steige ich engagiert ein, geben sie doch gute Gelegenheit, die entsprechenden Grundthesen der ZuI-Philosophie zu präzisieren und weiterzuentwickeln. Entsprechend möchte ich die folgenden drei Thesen entwickeln. Erstens (1) wird die These vertreten, dass in genau dem Maße, in dem die ZuIPhilosophie und deren Begriff des Logischen in eine positive Beziehung zur klassischen Tradition der Logos-Metaphysik gesetzt werden, zum einen (a) der überaus wichtige Zusammenhang beider hervortritt, zum anderen (b) es jedoch auch zu einer Um- und Neu-Interpretation des Logos der Metaphysik selbst kommt. Eine der Konsequenzen dieser Um-Interpretation ist, dass nicht mehr die klassische Metaphysik den Rahmen für die ZuI-Philosophie abgibt, sondern genealogisch umgekehrt die ZuI-Prozesse als die tieferliegenden und ursprünglich gestaltenden Prozesse auch für denjenigen Typus des Denkens angesehen werden, der unter dem Titel der Metaphysik leitend geworden ist. Zweitens (2) möchte ich betonen, dass die ZuI-Philosophie zum einen (a) an Nelson Goodmans allgemeine Symboltheorie anknüpft und dieser ganz offenkundig vieles verdankt, dass es zum anderen (b) jedoch eine Reihe von signifikanten Unterschieden zwischen der ZuI-Philosophie und Goodmans Symboltheorie gibt. Riccardo Dottoris Beitrag (der meine Positionen zu sehr in der Nähe zu denen Goodmans sieht) liefert mir den Ausgangspunkt dafür, diese Unterschiede explizit zu formulieren. Drittens (3) möchte ich die These entwickeln, dass sich die ZuI-Ästhetik keineswegs im Würgegriff der Opposition gefangen sieht (die in Dottoris Beitrag nahegelegt wird) zwischen einer seins-philosophischen Ästhetik Heideggerscher Prägung auf der einen und einer symbol-theoretischen Ästhetik Goodmanscher Prägung auf der anderen Seite. Gegenüber beiden Verständnissen des Verhälthttps://doi.org/10.1515/9783110522280-051
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nisses von Philosophie und Kunst besitzt die ZuI-Ästhetik ihr ganz eigenständiges Profil. In der ZuI-Ästhetik wird die grundlegende Rolle der ästhetischen Prozesse, mithin der sinnlich-anschaulichen Erfahrungen, für unser Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis sowie in und für unsere gestalteten Erfahrungswirklichkeiten in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Mit dieser dritten These kann ich zugleich direkt an meine beiden Repliken auf Horst Bredekamp in Bezug auf die basalere Funktion der Bilder gegenüber sprachlich-propositionalen Begriffen und auf Helga de la Motte in Bezug auf die grundlegendere Stellung musikalischer Klänge sowie meinen Unterschied zwischen musikalischem Ausdruck und musikalischer Expressivität anknüpfen. In diesem Sinne bilden die Repliken zu Bredekamp, De la Motte und Dottori eine auf die Künste bezogene und sich wechselseitig intensivierende Einheit. Aus der Abfolge der drei angeführten Thesen ergibt sich der Aufbau der Replik auf den Beitrag von Riccardo Dottori: 1. Logos in der ZuI-Philosophie und in der Tradition der Metaphysik. 2. Die Unterschiede zwischen der ZuI-Philosophie und der Symboltheorie Nelson Goodmans. 3. Die ZuI-Ästhetik jenseits der Alternative von existenzial-ontologischer Seins-Ästhetik und analytischer Symboltheorie.
1 Logos in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie und in der Tradition der Metaphysik Ich bearbeite diesen Punkt in den folgenden Schritten. Zunächst (1.1) möchte ich den Unterschied zwischen dem engen Sinn des Logos als Verstandeslogik (in der Ausprägung vor allem als formale und prämissenfolgernde Logik) und dem weiten Sinn der Rede vom Logischen verdeutlichen. Sodann (1.2) möchte ich die Rede vom ZuI-Logischen anhand der Unterscheidung zwischen dem ZeichenVollzug/-Logos und der Zeichen-Deutung verdeutlichen. Die wichtige Rolle dieser Unterscheidung für meine Position hat Dottori sehr gut gesehen und mit Recht betont. Im Zuge dieser Verdeutlichung tritt die Vorrangstellung des ursprünglichen Zeichen-Vollzugs/-Logos vor der nachträglichen und aneignenden ZeichenDeutung hervor. Schließlich (1.3) wird verdeutlicht, dass die Rede vom ZuI-Logischen zu einem veränderten Verständnis auch der Funktion des Logos in der Tradition der Metaphysik selbst führt.
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1.1 Enger und weiter Sinn von Logos Unter Logik im engeren Sinne der Verstandeslogik verstehe ich hier die formale Logik im Sinne des prämissenfolgernden und regelgeleiteten Schließens. Ein bekanntes Beispiel ist das seit Aristoteles berühmte syllogistische Schema der Schlussfolgerung, zum Beispiel: von „Sokrates ist ein Mensch“ über „Alle Menschen sind sterblich“ zu der Folgerung „Sokrates ist sterblich“. Des näheren geht es in der Verstandeslogik um Anforderungen wie logische Konsistenz, Eindeutigkeit, inferentielle Sicherheit, Gültigkeit über wechselnde Kontexte hinweg, Vollständigkeit, Diskurs- und Konsensfähigkeit. Alle diese Anforderungen sind für die Rationalität unseres inferentiellen Denkens im engen Sinne unverzichtbar. Über die Verstandeslogik hinaus bewegen wir uns jedoch in unserem Denken zum einen (a) stets bereits auch in einem weiter gefassten Verständnis von Logik und Rationalität und zum anderen (b) in einem noch grundlegenderen und umfänglicheren Raum des Logischen. Der weite Sinn von Logik und Rationalität bezieht sich auf die folgenden Anforderungen: die Stimmigkeit und das kohärente Passen dessen, was wir meinen, glauben und wissen, zu den Strukturen unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns sowie zum Netzwerk und Hintergrund unserer Einstellungen und Erfahrungswirklichkeiten. So nennen wir eine Person durchaus logisch und rational, wenn sie den Kohärenzbeziehungen, die zum Beispiel zwischen ihren Überzeugungen oder Wünschen bestehen, nicht systematisch widerspricht und zuwiderhandelt. (Zu diesen Unterscheidungen vgl. im Einzelnen SZI Kap. 4.) Mit dem zweiten der beiden genannten Aspekte, dem Logischen, möchte ich noch umfänglichere und grundlegendere Prozesse adressieren. Zu ihnen gehören die sinnlich-anschaulichen Gestaltbildungen, die kategorialisierende Organisation und vor allem die Prozesse der Individuation, der raum-zeitlichen Lokalisierung, der einteilenden Klassifikation, der sortalen Unterscheidungen sowie der Orientierung in unseren stets bereits geformten und gestalteten Ich-Wir-Weltbeziehungen und Erfahrungswirklichkeiten. Mit der Rede vom Logischen möchte ich also diejenigen ursprünglichen Gestaltungs- und Organisations-Prozesse adressieren, denen wir es verdanken, dass wir es faktizitär nicht mit einem zunächst bloß diffusen Mannigfaltigen, sondern stets bereits mit gestalteten, geformten und in diesem Sinne mit individuierten Welten und Wirklichkeiten zu tun haben. Konsequenterweise wird daher in der ZuI-Philosophie jede gestaltete und individuierte Welt als eine Zeichen-und-Interpretationswelt und jede Erfahrungswirklichkeit als eine Zeichen-und-Interpretationswirklichkeit angesprochen und behandelt. Eine solche Sichtweise vermeidet sowohl einen naiven Realismus als auch einen naiven Konstruktivismus. Und schon gar nicht sieht die ZuI-Philoso-
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phie unsere Wirklichkeiten als bloße Produkte der Phantasie oder der Imagination an. Unsere Wirklichkeiten sind wirkliche Welten, keine Fiktionen oder bloße Phantasiegebilde. Nachdrücklich betonen möchte ich in diesem Zusammenhang auch den wichtigen Punkt, dass die skizzierten welt- und sinn-gestaltenden Prozesse des Logischen keineswegs auf sprachliche oder gar rein sprachlich-propositionale Einteilungs- und Organisationsweisen im Sinne des urteilsgrammatischen Logos Apophantikos reduziert werden können. In meinen Repliken auf Horst Bredekamp und auf Helga de la Motte habe ich dafür argumentiert, dass den Bildern ebenso wie den musikalischen Klängen, mithin den sinnlichen Anschauungen, eine noch vor den sprachlichen Sätzen, Urteilen und Begriffen liegende, eine vor-bewusste, vor-sprachliche und vor-intentionale Rolle in der Gestaltung, Individuation und Organisation unserer Erfahrungswirklichkeiten zukommt. Auf diese beiden Repliken möchte ich mich an dieser Stelle explizit stützen. Mir fällt hier die schöne und auf die sinnlich-individuelle Anschauung gemünzte Formulierung Nietzsches ein – die ich in (SZI 213) zitiere und die Dottori in Erinnerung bringt (s. DottoriBeitrag, Kap. 2) –, dass unser Auge „ein unbewusster Dichter und Logiker zugleich“ sei (Nachlass 1881, 15[9], KSA 9.637) – Logik hier freilich ganz im Sinne der skizziert weiten Rede des ZuI-Logischen verstanden.
1.2 Zeichenvollzug und Zeichendeutung Näher verdeutlichen möchte ich die Rede vom Logischen in der ZuI-Philosophie anhand der Unterscheidung zwischen dem Zeichen-Vollzug/-Logos und der Zeichen-Deutung, mit Vorrangstellung des ursprünglichen Zeichen-Vollzugs/Logos vor der späteren und aneignenden Zeichen-Deutung (vgl. zu diesem Punkt ausführlicher Abel 2016a). Dottori betont mit Recht die zentrale Stellung, die für mich die Unterscheidung zwischen Zeichenvollzug und Zeichendeutung einnimmt. Trefflich bringt er diese Unterscheidung sowohl in puncto Logos der Zeichen als auch in puncto Verständnis von Kunstwerken, vor allem auch entlang des Unterschieds zwischen Sagen und Zeigen ein. Unter dem Zeichen-Logos/-Vollzug verstehe ich die Prozesse des erfolgreichen direkten Verwendens und Verstehens von Zeichen (sowie Gesten, Wörtern, Gedanken und Handlungen) ohne dazwischen geschaltete epistemische Vermittler oder konstruktivistische Deutungen. ‚Direkt‘ heißt hier natürlich nicht ‚unmittelbar‘, nicht: ohne jegliche Voraussetzungen und Mechanismen. Letztere Sichtweise wäre Magie der Zeichen. Vielmehr heißt ‚direkt‘ so viel wie: flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich funktionierend, mithin intern passend, gleichrhythmisch und gleichtaktig mit unseren Erfahrungswirklichkeiten, mit den
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Vollzügen unseres jeweils gelebten Erlebens, Erfahrens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns. Demgegenüber sind wir auf Zeichen-Deutungen im Sinne konstruktionaler Elemente und expliziter Kohärenzanforderungen von genau dem Moment an angewiesen, wo eine Geste oder das Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln nicht mehr ohne weiteres flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich funktionieren, mithin ein Störfall vorliegt, der sich darin manifestieren kann, dass nach der Bedeutung des nicht mehr direkt verstandenen Zeichens gefragt wird. Für unsere Zwecke konzentriere ich mich lediglich auf eine kurze Charakterisierung des Zeichen-Logos, des Zeichen-Vollzugs ohne Deutung. Hier kommen drei Beispiele für direkten Zeichen-Vollzug bzw. Zeichen-Logos (vgl. Abel 2016a: 24). (a) Übereinstimmung: – Um einander direkt, d. h. ohne weitere Deutungen zu verstehen, reicht es nicht, eine Sprache oder ein Zeichensystem gemeinsam zu teilen (so Wittgenstein mit Recht in PU I, Nr. 242), z. B. Deutsch oder Chinesisch zu sprechen. Letztlich muss Übereinstimmung in der Ebene der Erfahrungswirklichkeit, der Lebenswelt und der Lebenspraxis vorliegen. Wenn ein direktes und sich dem eingespielten ZuI-Logischen verdankendes Verstehen und Verwenden von Zeichen vorliegt, dann können bestimmte Voraussetzungen in puncto Übereinstimmung als erfüllt unterstellt werden, unter anderem: (i) Übereinstimmung im vor-sprachlichen Verhalten (in Situationen zum Beispiel, in denen wir beginnen, uns einen Reim auf die Ausdrücke und Handlungen von Personen eines anderen Sprach-, Zeichen- und Interpretationssystems zu machen); (ii) Übereinstimmung von Handlungen mit ihren Regeln; (iii) Übereinstimmung in elementaren Erfahrungswirklichkeiten, Erfahrungsurteilen und Definitionen; und (iv) diskursive Übereinstimmung (einschließlich der Möglichkeit des Disagreement). Das wechselseitig direkte Zusammenstimmen dieser unterschiedlichen Ebenen und Hinsichten wird in der ZuI-Philosophie als ein prozessuales Zusammenspiel unterschiedlicher Zeichen- und Interpretations-Ebenen/-Praxen beschrieben. Der gelingende Zeichen-Vollzug/-Logos und das mit ihm gegebene direkte Zeichenverstehen ohne weitere Deutung können dann als die bis auf weiteres keiner zusätzlichen epistemischen Vermittler bedürftige, flüssige, anschlussfähige und selbstverständliche Stimmigkeit der unterschiedlichen Stufen der ZuI-Prozesse verstanden werden. (b) Metapher: – Ein anderer Schauplatz, an dem sich der Vollzugs- und LogosCharakter der Zeichen ohne Deutung, mithin das oben skizzierte ZuI-Logische manifestiert, ist die gelingende Metapher (oder auch ein gelingender Witz oder gelingende Ironie). Eine Metapher, die (wie man in metaphorischer Rede sagt) ‚sitzt‘, bringt mit ihrer Direktheit etwas von der mit anderen Personen geteilten, im
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ganzen aber nicht distanzierbaren und nicht überschaubaren Zeichen-, Lebensund Interpretationsform ans Licht, die wir mit Hilfe sprachlich-propositionaler Aussagen nur so schwer, ja letztlich gar nicht zu fassen bekommen. Der Erfolg gelingender Metaphern entzieht sich auf eigentümliche Weise dem urteilsgrammatischen und begrifflichen Zugriff. In dieser Hinsicht sind Metaphern nicht Gegenstände der semantischen Logik, sondern in ihr stets bereits mit vorausgesetzt. Gelingende Metaphern leben vom flüssigen, anschlussfähigen und selbstverständlichen Funktionieren des ZuI-Logischen. (c) Sich-Zeigen: – Faszinierend finde ich die Tatsache, dass wir zum Beispiel einen Gesichtsausdruck oder eine Tanzbewegung oftmals direkt, d. h. ohne weitere epistemische Vermittler verstehen, noch bevor wir überhaupt in der Lage sind, die semantischen Merkmale der involvierten Zeichen angeben zu können. Das ist nicht nur im Falle etwa einer Geste oder Körperbewegung möglich. Das Phänomen ist bis hinein in Fälle sprachlicher Wörter und Sätze anzutreffen. Auch in diesen Phänomenen wird deutlich, dass das Sich-Zeigen direktes Zeichenverstehen verkörpert. Im Sich-Zeigen manifestiert sich, so möchte ich sagen, der Zeichenlogos auf sinnenfällig direkte und selbstverständliche Weise. In diesem Sinne kann das Sich-Zeigen als eine Manifestation des ZuI-Logischen angesehen werden. Und diese Manifestation ist nicht auf das Sprachliche, aber eben auch keineswegs auf das Visuelle begrenzt. Es ist von grundlegender Bedeutung in allen Bereichen menschlicher Aktivität, im Alltag, in den Künsten, in der Logik, in der Ethik und in den Wissenschaften.
1.3 Neu-Interpretation des Logos-Verständnisses Der Logos-Begriff der großen Tradition wird von Dottori (in der Linie vor allem der Heideggerschen Auslegung der Rede vom Logos) als das „Versammeln und Verbinden am Seienden, und zugleich dessen Aussprechen“ verstanden (Kap. 1). In diesem Sinne geht es von Anfang an auch um das Verhältnis von Logos und Sprache, des näheren vornehmlich um die Stellung und Funktion des ‚offenbarenden Aussagens‘, des logos apophantikos. Zu dieser überlieferten Konzeption des Logos steht die Konzeption des ZuI-Logischen, wie betont, einerseits in einer positiven Verbindung und führt zum anderen zu einer Um- und Neu-Interpretation des älteren Verständnisses. Trefflich sieht Dottori die Seite der positiven Bezüge, wenn er zum Beispiel den mir so wichtigen Punkt auch für den Logos der großen Tradition herausstellt, dass (i) das offenbarende Aussagen nicht einfach bloß instrumentell mittels der Zeichen, sondern, ursprünglicher, kraft der Zeichenvollzüge selbst erfolgt und dass sich (ii) eben darin auch der für die Logos-Tradition so wichtige innere Zu-
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sammenhang von Sprechen, Denken und Wirklichkeit manifestiere. Des Weiteren liefert Dottori in seinem Beitrag sachlich aufschlussreiche Zuordnungen der ZuIPhilosophie. Da fühle ich mich in puncto ZuI-Logisches gut verstanden. Dottori platziert und bezieht das ganze Unternehmen der ZuI-Philosophie auf die Ebene des Logos als der aus seiner Sicht basalen Leitfigur der abendländischen Metaphysik sowie eines jeden gegenwärtig relevanten Philosophierens. In Dottoris Sicht geht es dabei um den Logos-Begriff vor allem Heraklits, Platons, Aristoteles‘ und Hegels. Aufschlussreich bringt Dottori auch die einzelnen Stufen des 3-Stufenmodells der ZuI-Philosophie in Verbindungen vor allem mit den wichtigsten programmatischen Schriften des Aristoteles. Darüber hinaus bringt er meine Rede vom Zeichen-Logos/-Logischen in eine positive Verbindung zum Beispiel auch mit der dreifachen Konzeption des Logos in der Philosophie Hegels, nämlich des Logos als Grund, als Vernunft und als Form der Wirklichkeit. Diesen Verbindungen kann ich nur zustimmen. Solange jedoch die Prozesse des Logos in der klassischen Metaphysik in einer wie auch immer verdeckten Hintergrundstruktur angesiedelt und gedacht werden, ist es genau dieses Bild, das unter Einsatz des Sinns des ZuI-Logischen einer Uminterpretation unterzogen wird. Die Uminterpretation erfolgt zugunsten der nicht-deterministischen und nicht-hintergründigen, sondern prinzipiell offenen und performativ-präsenten, der offen zutage liegenden Prozesse der Gestaltung unserer menschlichen Selbst-, Fremd- und Weltverständnisse. Kraft dieser ZuIProzesse, von ihnen her und auf sie hin leben und erleben wir, nehmen wir wahr, sprechen, denken und handeln wir so, wie wir dies nun einmal tun. Im Blick auf die These, dass die Rede vom ZuI-Logischen zu einem veränderten Verständnis auch der Rede vom Logos der Tradition führt, möchte ich die folgende einfache Operation vorschlagen: Überall dort, wo Dottori vom Logos der Tradition in einem vollblütigen Sinne spricht, setze ich die oben angeführte Konzeption des Logischen im Sinne der ZuI-Philosophie ein. Die Verbindungen, die Dottori zwischen dem Logischen der ZuI-Philosophie und dem Logos der Metaphysik diagnostiziert und beschreibt, sind dann nicht einfach bloß Einordnungen des ZuI-Logischen in einen vorgegebenen Rahmen der klassischen Metaphysik des Logos. Im Zuge der Verbindungen kommt es zugleich zu den skizzierten Uminterpretationen des Sinns des Logos der Metaphysik selbst. Diese stellen sich in der Perspektive des kritischen Philosophierens gleichsam wie von selbst ein, sind also interne, keine bloß externen Uminterpretationen. Zugespitzt könnte man sagen, dass im Lichte der skizzierten Operation die klassische Metaphysik ihrerseits als ein Zweig der umfänglicher und tieferliegend konzipierten ZuI-Philosophie erscheint, nicht umgekehrt. Das metaphysische Denken erscheint als ein bestimmter und höchst wirkmächtiger Ausdruck einer bestimmten ZuI-Denkungsart. Und ein nach-metaphysisches Denken wäre dann
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eine wiederum charakteristisch veränderte ZuI-Denkungsart. Freilich bliebe auch diese stets wiederum eine ZuI-Denkungsart. Sie stünde keineswegs außerhalb der ZuI-Verhältnisse überhaupt, wäre mithin keineswegs gänzlich ZuI-frei. Wir bewegten uns vielmehr in einer neuen ZuI-Gestalt, nicht aber außerhalb der ZuIVerhältnisse selbst. Wenn also im Sinne Dottoris die ZuI-Philosophie die von ihm diagnostizierten mannigfaltigen Verbindungen mit dem Logos-Gedanken der großen Tradition aufweist, so möchte ich sagen: – umso besser! Und wenn im Zuge dieser vergleichenden Betrachtung die großen Themen dieser Tradition, wie vor allem die Rolle des Logos im Denken, Handeln und Weltgestalten ZuI-philosophisch affiziert, gar infiziert und schließlich um- und neu-interpretiert sowie ein wenig distanziert werden könnten, so möchte ich sagen: – noch besser!
2 Die Unterschiede zwischen der Zeichenund Interpretatiosphilosophie und der Symboltheorie Nelson Goodmans Riccardo Dottori sieht Teile der ZuI-Philosophie in einer großen Nähe zu Nelson Goodmans allgemeiner Symboltheorie. Im Folgenden gehe ich nicht auf die Einzelheiten der von Dottori gegebenen Kennzeichnungen der Goodmanschen Theorie ein. Vielmehr möchte ich seine Darstellung als abgrenzenden Ausgangspunkt nutzen, um neben den vielen Gemeinsamkeiten mit Goodman, die ich immer wieder betont habe,¹ auch einige Unterschiede zwischen der ZuI-Philosophie und Goodmans Symboltheorie zu betonen. Stenogrammartig möchte ich die folgenden zehn Unterschiede benennen, die ich übrigens mit Nelson Goodman in Gesprächen habe diskutieren können. (a) ZuI-Praxis: – Im Zentrum der ZuI-Philosophie stehen nicht bloß die überaus wichtigen Symbolsysteme sprachlicher und nicht-sprachlicher Art sowie deren Funktionen (denotierender, referierender, repräsentierender oder exemplifizierender Art). Im Zentrum der Betrachtung stehen vielmehr die lebendigen, tatsächlichen und individuellen Vollzüge menschlicher Gestaltungs- und Erfahrungswirklichkeiten. Kardinal sind die ZuI-Prozesse mit Akzent auf der ZuI-Praxis der tatsächlichen Vollzüge. Zugespitzt formuliert gilt, dass es nicht die Symbolbzw. Zeichensysteme, sondern lebendige, sozialisierte, in kulturelle Praktiken
Vgl. Darstellung und Interview in Information Philosophie (Abel 2001), meine Texte bzw. Kapitel, in denen die Pluralität der ZuI-Welten akzentuiert wird (z. B. Abel 1996, insbesondere meine dortige Replik auf Gunnarsson) sowie meine Replik auf Logi Gunnarsson im vorliegenden Band.
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verstrickte und eingebettete Individuen und soziale Gruppen sind, die erleben, wahrnehmen, erfahren, sprechen, denken und handeln. Symbolsysteme für sich und allein sind noch keine lebendigen Akteure. Erst im lebendigen Gebrauch der Zeichen in Interpretations-Praxen der menschlichen Ich-Wir-Weltbeziehungen werden Zeichen zu den lebendigen, bedeutsamen und relevanten Zeichen, die sie für uns sind und die in der Regel flüssig, anschlussfähig und zumeist selbstverständlich funktionieren. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen in der ZuI-Philosophie mithin die lebendigen ZuI-Prozesse und ZuI-Praxen. In diesem Sinne ist die ZuI-Betrachtung keine systemische und auch keine systemtheoretische Betrachtung. (b) Semantik und Pragmatik: – Entsprechend ist die ZuI-Betrachtung auch nicht bloß auf die syntaktische Dimension des Zeichen- und Interpretations-Gebrauchs begrenzt, die bei Goodman letztlich im Vordergrund steht. In der ZuIPhilosophie spielen Semantik und Pragmatik die primordiale Rolle. Zugespitzt möchte ich diesen Unterschied zu Goodmans Theorie in die folgende These bringen: Jede syntaktische Unterscheidung und Differenz setzt stets bereits eine semantische und pragmatische Differenz voraus und nimmt diese in Anspruch. Geht es um das lebendige Verwenden und Verstehen der Zeichen in den Gestaltungen unserer Erfahrungswirklichkeiten und nicht bloß um formale Logik, dann bedeutet dies, dass Syntax, Semantik und Pragmatik keine gegeneinander isolierbaren Dimensionen verkörpern und dass es nicht möglich ist, von einer semantik- und pragmatik-unabhängigen Syntax der Zeichensysteme auszugehen und ausschließlich die syntaktischen Merkmale zum Leitfaden der Betrachtung zu machen. Für die ZuI-Philosophie ist vielmehr das Bild leitend, dass es die lebendige, flüssig funktionierende und selbstverständliche ZuI-Praxis ist, die als der Ort der Generierung unserer menschlichen Individuationen, Organisationen, Kategorialisierungen, Klassifikationen, raum-zeitlichen Lokalisierungen, Orientierungen und insgesamt der epistemischen Perspektivierungen der Ich-Wir-Weltbeziehungen fungiert. In diesem Bild sind die ZuI-Welten diejenigen Welten, von denen her und auf die hin wir so leben, wie wir nun einmal leben. Geht es um diese grundlegende und umfängliche Stellung der ZuI-Praxis, dann geht es letztlich über die sinnliche Anschauung hinaus zugleich auch um die Dimension praktischer, ästhetischer, epistemischer, logischer und evaluativer Normativitäten. Alle diese Dimensionen sind als Adressaten der ZuI-Philosophie überaus wichtig, ins Thema gehoben zu werden. Hier einfach nur zu sagen, dass wir unsere Welten und Erfahrungwirklichkeiten eben gemäß derjenigen Prinzipien der Individuation formieren, die in unseren Symbol- bzw. Zeichensystemen oder, einfacher noch, in unserer Sprache gegeben sind, verschiebt das Problem lediglich, statt es zu lösen. Denn die genannten Merkmale sind in einer solchen Reaktion ja stets bereits
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vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Demgegenüber geht es in der ZuIPhilosophie darum, genau diese Annahmen und Voraussetzungen in den Fokus der epistemischen wie der orientierenden und praktischen Aufmerksamkeit zu rücken und zum Gegenstand der philosophischen Reflexion zu machen. (c) Sinnlich-individuelle Anschauungen: – Anders und stärker als die Goodmansche Symboltheorie bezieht die ZuI-Philosophie den ganzen Bereich der sinnlich-individuellen Anschauungen signifikant in ihre Betrachtungen ein. Diesen Punkt habe ich in meinen Repliken auf Horst Bredekamp (zur Stellung der Bilder) und Helga de la Motte (zur Stellung des musikalischen Klangs) deutlich herausgestellt. Entsprechend kommt in der ZuI-Philosophie den Dimensionen des sinnlichen Affiziertwerdens, des sinnlichen Erlebens sowie der vor-bewussten, vor-intentionalen, sub-personalen und sub-doxastischen Aspekte des sinnlichen, leiblichen, erinnernden und emotiven Empfindens eine sinn-eröffnende und sinn-erschließende Rolle zu. Eine syntaktische Zeichentheorie erreicht und reformuliert diese Ebenen noch nicht wirklich. Diese Ebene umfasst für mich explizit auch mentale Bilder, deren Existenz Goodman stets bestritten hat (wenngleich der ganz späte Goodman in Gesprächen an diesem Punkt manchmal selbstkritisch ins Grübeln kam). Werden mentale Bilder als eine bestimmte Art von Bildern und des näheren im Sinne der sinnlichen, individuellen und eben der bildhaften Anschaulichkeit gefasst, dann besteht kein Grund, sie aus der Betrachtung auszuklammern oder gar zu leugnen. Vielmehr besteht wohlbegründeter Anlass, ihnen in den Prozessen der Umgrenzung der Bedeutsamkeit, der Relevanz, des Sinns und der Bedeutung der Zeichen und Interpretationen eine wichtige Stellung einzuräumen. Diese sinnlich-anschaulichen Dimensionen sind jedoch nicht einfach schon mit dem Hinweis auf syntaktische Symbol- und Zeichensysteme abgedeckt oder gar eingeholt. Sie sind nicht Gegenstand der syntaktischen Logik, sondern selbst in dieser stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Wenn man so will, möchte die ZuIPhilosophie einen Schritt hinter die systemisch-syntaktische Symboltheorie Nelson Goodmans zurückgehen und die Prozesse der Gestaltung unserer Erfahrungswirklichkeiten im Rekurs auf die nicht noch einmal hintergehbare ZuI-Dimension genealogisch beschreiben und modellieren. (d) Phänomenale Erfahrungswirklichkeiten: – In der ZuI-Philosophie bestehen die Schlüsseldimensionen der Betrachtung zum einen in der bereits betonten Konzentration auf die ZuI-Praxis und ihrer ZuI-Gestaltbildungen und zum anderen in der Konzentration auf die phänomenalen Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten. Offenkundig spielen diese Dimensionen und Ebenen für unsere individuierten Lebenswelten, die als ZuI-Welten verstanden werden, eine besonders wichtige Rolle. In Abbreviatur möchte ich vor allem die folgenden Punkte herausstellen. Offenkundig sind gestaltete Erfahrungswirklichkeiten nicht einfach
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bloß syntaktische Zeichensysteme, sondern lebendige und phänomenal gelebte Wirklichkeiten. Sie sind auch nicht einfach bloß Vorkommnisse im Innenraum des rein Psychischen, sondern Ausdruck der Form unserer mit anderen Personen geteilten, welthaltigen Ich-Wir-Weltbeziehungen. Darüber hinaus können sie auch nicht einfach gleichgesetzt werden mit der physikalischen Welt. Mithin sind sie materialiter wie methodologisch auch nicht mit Hilfe eines reduktiven Physikalismus angemessen zu beschreiben oder zu erklären. Das Desiderat philosophischer Forschung besteht hier darin, die skizzierten Aspekte phänomenal zu beschreiben, zu analysieren und unter epistemischer Perspektive sowie unter Einschluss der involvierten normativen Perspektivierungen zu reflektieren und zu modellieren. Im Zuge dieser Aktivität treten weitere signifikante Aspekte sowohl der ZuIPraxis als auch der phänomenalen Erfahrungswirklichkeiten zutage. Nennen möchte ich hier in Bezug auf die Erfahrungswirklichkeiten unter anderen deren unabschließbare Reichhaltigkeit, vielfältige Formen epistemischer und praktischer Perspektivierungen, ihr kulturelles, lebensweltliches und psychisches Eingebettetsein insbesondere in die Kontexte des Selbstverständlichen, ihre holistische Verfasstheit, Individualität, Nuanciertheit, Komplexität, Prozessualität, Situiertheit und Kontextsensitivität. Diese Dimensionen und Ebenen der Betrachtung sehe ich in der Symbol- bzw. Zeichentheorie Goodmans noch nicht integriert. (e) Reflexions-Modell: – Das Modell der ZuI-Philosophie ist nicht ein SystemModell, sondern ein Reflexions-Modell. Auch diese Komponente ist in Goodmans Symbol- bzw. Zeichentheorie nicht wirklich ausgeprägt oder gar leitend. Am einfachsten lässt sich dieser Unterschied an der heuristischen Natur des 3-Stufenmodells der ZuI-Prozesse verdeutlichen. Am Beispiel der Sprache und nichtsprachlicher Zeichen erläutert bedeutet dies: Wenn auf der ZuI3-Stufe des individuellen Sprach- und Zeichengebrauchs ein Problem auftritt (ein Wort oder Zeichen mithin nicht ohne weiteres mehr flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich verstanden wird), dann gehen wir in der Regel in reflektierter Einstellung in die ZuI2-Ebene des in der Sprach- und Zeichengemeinschaft üblichen Gebrauchs des Wortes oder Zeichens und der gegebenen öffentlichen Sprache (z. B. des Deutschen oder einer Tanzbewegung) zurück. Reicht dieser Schritt nicht zur Störfall-Beseitigung aus, gehen wir in reflektierter Einstellung in die ZuI1Ebene der Sprachlichkeit oder Zeichenhaftigkeit unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses sowie unserer Ich-Wir-Weltbeziehungen zurück und rekurrieren auf deren flüssige und selbstverständliche ZuI-Prozessualität. Das ganze Modell der ZuI-Philosophie ist ein Reflexionsmodell. Es ist weder ein reines System-Modell noch ein ontologisches Schichtenmodell.
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Diesen reflektierten und selbstbezüglichen Charakter der ZuI-Philosophie kann ich dann auf den hier relevanten unterschiedlichen Ebenen ansetzen und ausbuchstabieren. So habe ich des Öfteren bereits betont, dass ich Selbstbezüglichkeit und Reflexivität nicht erst auf der Ebene des sprachlich-begrifflichen Verstandesdenkens, mithin nicht erst auf der Ebene des sprachlichen epistemischen Perspektivismus ansetze. Vielmehr gehe ich in der Tat davon aus, dass Selbstbezüglichkeiten bereits auch (freilich nicht in begrifflich-propositionaler Gestalt) im Felde der sinnlich-individuellen Anschauungen vorliegen. Diese These möchte ich weiter zuspitzen und vertreten, dass es nicht-sprachliche, sinnlichanschauliche Weisen der Individuation gibt und dass diese Weisen keineswegs (wie Konzeptualisten heute im Anschluss etwa an John McDowell und andere Autoren gern behaupten) unter dem Primat sprachlich-begrifflicher Individuation stehen. Nicht nur in diesem Punkt greife ich auf die wichtigen und meines Erachtens überzeugenden Befunde der Gestaltpsychologie zurück. Als einen Kronzeugen für diesen Befund möchte ich das großartige Buch von Rudolf Arnheim Visual Thinking anführen, das aus meiner Sicht eine nachhaltige Wiederentdeckung verdient (vgl. Arnheim 1969). (f) Stufenmodell: – Im Unterschied zur Goodmanschen Symboltheorie kommt in der ZuI-Philosophie nicht bloß eine gleichsam horizontale Betrachtung im Sinne der Konzentration auf jeweils gegenwärtige syntaktische Symbolsysteme zum Einsatz. Vielmehr geht es in der ZuI-Philosophie zugleich auch um das vertikale Stufenmodell der drei Ebenen von ZuI-Prozessen. Das heuristische und in sich tiefengestaffelte 3-Stufenmodell scheint mir über höhere Beschreibungs- und Erklärungskapazitäten zu verfügen als die letztlich auf nur einer Ebene angesiedelte Beschreibung syntaktischer Symbol- und Zeichensysteme. Die 3-stufige Tiefenstaffelung sei anhand des Beispiels präzisiert, dass wir Unterscheidungen vornehmen nach: der Ebene 3 der individuellen Sprecher- bzw. ZeichenbenutzerBedeutung; der Ebene 2 der öffentlichen Natur des zugrunde liegenden Sprachund Zeichengebrauchs im Sinne gewohnheitsmäßiger und konventioneller Festlegungen; und der Ebene 1 des Zeichen- und Interpretations-Charakters unserer basalen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse. Den deskriptiven, explanatorischen und methodologischen Vorteil des 3-Stufenmodells der ZuI-Philosophie gegenüber dem Symbolmodell Goodmans kann ich auch auf die folgende Weise verdeutlichen: Jede feinkörnigere Betrachtung der Prozesse des Sehens, Wahrnehmens, Erlebens, Sprechens, Denkens und Handelns zeigt schnell, dass diese keineswegs auf jeweils nur einer einzigen Ebene des Stufenmodells stattfinden. Vielmehr sind im lebendigen und konkreten Sehen, Wahrnehmen, Erleben, Sprechen, Denken und Handeln stets mehrere Ebenen der ZuI-Verhältnisse und deren Zusammenspiele am Werke.
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(g) Sitz im Leben: – Auch in dem unter Punkt (f) skizzierten Sinne hat die ZuIPhilosophie zugleich einen stärkeren Sitz im Leben als die Goodmansche Symbolbzw. Zeichentheorie. Die ZuI-Philosophie schließt, wie betont, psychologische Zustände, Phänomene und Prozesse explizit in ihre Betrachtungen mit ein. Sie tut dies im Rekurs und mit Bezug auf das prozessuale und komplexe Geflecht unserer triangulären Ich-Wir-Weltbeziehungen. Diese Beziehungen funktionieren in der Regel und zumeist selbstverständlich. Kommt es zu Verlusten dieser Selbstverständlichkeiten, so haben wir es (im Sinne von Befunden auch der phänomenologischen Psychiatrie) mit Störungen und Orientierungsverlusten zu tun, die sich auf der existenziellen Ebene der Individuen manifestieren können. Solche Verluste selbstverständlichen Orientiertseins können eintreten, sofern die bisherigen Selbstverständlichkeiten der Zusammenspiele von Ich, Wir und Welt in Turbulenzen geraten und nicht mehr fraglos gewährleistet sind. Zu dieser Thematik und ihren Einzelheiten darf ich auf meinen Aufsatz Quellen der Orientierung (Abel 2016b) hinweisen. Die Goodmansche Symbol- bzw. Zeichentheorie ließe sich meines Erachtens zwar durchaus in derartige Zusammenhänge einbringen. Doch Goodman selbst hat dies nicht nur nicht getan. Er schreckte vor solchen psychologischen und existenziellen Dimensionen geradezu zurück. Die ablehnende Haltung auch der ZuI-Philosophie gegenüber der Position eines Psychologismus darf meines Erachtens nicht zur Leugnung und nicht einmal zur Nichtbeachtung der höchst relevanten Funktionen des Psychischen für die Gestaltungen unserer triangulären Ich-Wir-Weltbeziehungen führen. Auch hier darf man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Die ZuI-Philosophie hebt demgegenüber ihre Schnittstelle vor allem zur phänomenologischen Psychiatrie nachdrücklich hervor. (h) Realitäts-Annahmen: – In Goodmans Konzeption des worldmaking (mit Akzent auf dem making im Sinne eines Welt-Erzeugens) geht es vor allem darum, dass wir letztlich nur in Folge und kraft denotierender syntaktischer Zeichenfunktionen und deren deskriptionaler Kohärenzen von Welten, Realitäten und Wirklichkeiten sprechen. In diesem Sinne wird jede individuierte Welt als eine zeichen-abhängige Welt verstanden. Welten und Realitäten sind Goodmans berühmten Buch Ways of Worldmaking (1978) zufolge als Produkte der Verwendung konstruktionaler Symbolsysteme zu konzipieren. Goodman selbst hat seinen Ansatz konsequenterweise weder als einen Realismus noch als einen Antirealismus, sondern als einen Irrealismus bezeichnet. Dem Irrealismus zufolge geht es erklärtermaßen um eine Position jenseits der Vorstellung, dass da draußen eine fertig fabrizierte und externe Realität darauf wartet, von uns passivisch erfasst und repräsentiert zu werden. Die ganze Idee eines derartigen Dualismus ist Goodman und der Symboltheorie fremd und mit Recht betont er, dass sich ein solcher unter kritischem Vorzeichen nicht verständlich machen lässt. Goodmans
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Ansatz muss als eine adualistische Symboltheorie gekennzeichnet werden. Diesen Adualismus teile ich nachdrücklich ebenso wie den epistemischen Zugang über die Zeichenfunktionen. Jedoch werden letztere in der ZuI-Philosophie zugleich um die gleichursprünglichen Interpretationsfunktionen erweitert. Über diese Erweiterung hinaus möchte ich einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen der ZuI-Philosophie und der Goodmanschen Symboltheorie ansprechen. Die ZuI-Philosophie verteidigt Realitäts-Annahmen, die im symboltheoretischen Irrealismus Goodmans erklärtermaßen nicht vorgenommen werden. In der ZuI-Philosophie wird die Grundthese verteidigt, dass in unserem flüssigen, anschlussfähigen und weitgehend selbstverständlich funktionierenden Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln intern zugleich auch Realitäten präsupponiert und in Anspruch genommen werden. Bei diesen handelt es sich nicht um externe vorfabrizierte Realitäten, sondern um, so die These, mit den Prozessen des Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns intern verbundene Realitäts-Präsuppositionen, Realitäts-Annahmen. Wenn wir unserem eigenen Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln über den Weg trauen und vertrauen wollen – und das tun wir offenkundig –, dann kommen wir nicht umhin, von einem bestimmten Punkt an auch davon auszugehen, dass es das, wovon da die Rede ist und was wir vollziehen, adressieren und artikulieren, auch tatsächlich gibt. Anderenfalls brächen Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln, da gehaltlos, zusammen. In diesem Sinne interner Präsupposition sind wir auf Realität verpflichtet, haben wir es, anders als in der Goodmanschen Symboltheorie, in einem jeden gehaltvollen (mithin nicht leeren) Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln mit einem commitment auf Realität zu tun. Dieses wird in der ZuI-Philosophie freilich nicht als eine Art intuitive Meinung verstanden. Das commitment gehört vielmehr zur nicht-suspendierbaren und primordialen Struktur unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses selbst. Beispiele für solche präsuppositiven Realitäts-Annahmen lassen sich leicht benennen. So ist erstens für unser Wahrnehmen kennzeichnend, dass wir die Gehalte unserer Sinneserfahrungen und perzeptiven Erfahrungswirklichkeiten als zuverlässig und auch sogar so erfahren, dass sie von den Wahrnehmungsobjekten ausgelöst sind. Zweitens müssen wir in unserem kommunikativen Sprechen von einem bestimmten Punkt davon ausgehen, dass es das, wovon da die Rede ist, auch tatsächlich gibt. Anderenfalls kollabierten Kommunikation und sprachliche Kooperation nach zwei drei Schritten von selbst, weil die semantischen Merkmale der Zeichen (Bedeutung, Referenz, Erfüllungsbedingungen) nicht mehr gegeben wären. Drittens zeigt sich die überhaupt stärkste Realitäts-Annahme genau dann, wenn wir in eine Handlung oder Gestaltung eintreten.Wenn Peter in der TU Berlin zu seinen Freunden sagt „Wir gehen jetzt zur Pizzeria am Savigny-Platz“ und wir
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daraufhin in die Handlung eintreten, zum Savigny-Platz zu gehen, dann ist mit eben diesem Eintreten in die Handlung präsupponiert, dass es den Savigny-Platz und dort eine Pizzeria gibt. Der ZuI-Philosophie zufolge sind in diesem Zusammenhang vor allem zwei Aspekte hervorzuheben. Zum einen sind die skizzierten Realitäts-Annahmen nicht einfach bloß leere Deskriptionen und vor allem sind sie keine Theorienüber-Etwas (über zum Beispiel Beobachtungs- oder Sinnesdaten). Sie sind vielmehr Präsuppositionen vor-theoretischer, vor-bewusster und vor-intentionaler, mithin grundlegenderer Art. Zum anderen sind die prozess-internen und gleichsam monadischen (d. h. nicht mehrstelligen, sondern einstelligen) Realitäts-Annahmen keineswegs im Sinne eines Dualismus von Schema und Gehalt zu explizieren. Es handelt es sich vielmehr um eine Realitäts-Annahme gänzlich adualistischer und interner Art. (i) Handlungen und Ethik: – Mit der zentralen Stellung der ZuI-Praxis hängt auch zusammen, dass in der ZuI-Philosophie hoher Akzent sowohl auf Handlungen (auf den Menschen als handelndes Wesen) als auch auf die damit intern korrelierten Fragen des ‚richtigen‘ Handelns, mithin der Ethik gelegt wird. Die ZuIPhilosophie enthält explizit eine Handlungstheorie. In ihr stehen Handlungen in ihrer zeichen-bestimmten und interpretativ-verfassten Natur im Zentrum einer jeden Welt-, Fremd- und Selbst-Gestaltung. Und die ZuI-Philosophie enthält explizit eine ZuI-Ethik (ebenso wie eine ZuI-Rechtsphilosophie und eine ZuI-Politiktheorie). Zur Spezifikation dieser Bereiche darf ich hier auch auf meine Repliken im vorliegenden Band vor allem auf die Beiträge von Lukas Sosoe und Hans Jörg Sandkühler verweisen. In der syntaktisch bestimmten Goodmanschen Symbol- bzw. Zeichentheorie dagegen treffen wir weder auf eine Handlungstheorie noch auf eine Ethik. Dabei könnten auf eine nahezu selbstverständliche Weise zum einen das Zeichenverwenden wie das Zeichenverstehen als Zeichenhandlungen verstanden und zum anderen das menschliche Handeln im sozialen, gesellschaftlichen und öffentlichen Raum von seiner zeichen-bestimmten und interpretativ-verfassten Natur her thematisiert, konzipiert und modelliert werden (wie dies in der ZuI-Philosophie versucht wird). Hinzu tritt ein weiterer Unterschied. Während in der ZuI-Philosophie die wertschätzende, orientierende, evaluative und normative Dimension eines jeden Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns einbezogen wird und eine wichtige Rolle spielt, wird diese Dimension bei Goodman weder im Sinne epistemischer noch im Sinne praktisch-ethischer Normativität thematisch. Doch wohlgemerkt: mit der Rede von dieser Dimension meine ich keineswegs eine präskriptive Theorie moralischen und ethischen Sollens. Ganz und gar nicht. Dass und warum dies nicht der Fall ist, habe ich in vielen Texten und in meinen
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genannten Repliken nachdrücklich betont. Vielmehr geht es darum, den folgenden Punkt herauszustellen. Die Frage nach dem orientierten und orientierenden Charakter der zumeist flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich und in diesem Sinne richtig funktionierenden ZuI-Praxis, schließt deren lebensweltliche Fundierung ebenso ein wie die Weisen gelebter und orientierender Sittlichkeit. Kurz: ich meine die alte Aristotelische Frage, wie ich als Individuum und in der Gemeinschaft mit anderen Personen mein Leben richtig führe, die Frage nach dem ‚guten Leben (eu zen)‘. Diese Frage ist von Anfang an in jeder Zeichen- und Interpretations-Praxis mitgesetzt. (j) Phänomenologie der Kunsterfahrung: – Schließlich möchte ich auch in puncto Kunsterlebnis und Kunsterfahrung eine Erweiterung der Goodmanschen Beschreibung vorschlagen. Unter dem Stichwort der ‚Symptome des Ästhetischen‘ führt Goodman bestimmte Merkmale von Symbolsystemen ins Feld, die bei Kunstwerken anzutreffen seien. Zu ihnen zählen die syntaktische ebenso wie die semantische Dichte. Diese Symptome sind Goodman zufolge zwar keine Kriterien für das Vorliegen eines Kunstwerkes, sind aber oftmals an dem anzutreffen, was als ein Kunstwerk angesehen wird. Kunstwerke sind, so können wir sagen, in ihrer syntaktischen Zeichenstruktur in der Regel dichte und nicht-distinkte, sondern kontinuierliche Symbolsysteme. Jede noch so kleine Nuance zählt. Die minimalste Änderung (z. B. einer einzigen Note in einem Beethoven-Quartett oder eines einzigen Farbtupfers in einem Monet-Gemälde) bedeutete eine Änderung des ganzen Kunstwerks. Ergänzen möchte ich dieses überaus aufschlussreiche symboltheoretische Deskriptiv der Kunstwerke durch den schlichten Hinweis auf eine Phänomenologie der Kunsterfahrung. Letzteres Deskriptiv ist im Kern an die ästhetischen Erlebnisund Erfahrungswirklichkeiten gebunden. In ihm geht es im Sinne phänomenologischer Erfahrungen dessen, was geschieht, wenn sich eine Kunsterfahrung ereignet, darum, etwas von der sinnlich-anschaulichen, der individuellen der nicht abschließbaren und nicht positivierbaren Reichhaltigkeit eines Kunstwerkes in seiner Präsenz einzuholen. Auf diese Weise kann die künstlerische und ästhetische Erfahrungswirklichkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. Gelingt dies, dann treten auch die je eigenen Weisen der künstlerischen Individuation, Organisation und Orientierung unserer Selbst-, Welt- und Sinngestaltungen mit ihren jeweils genuin eigenen Weisen der Evidenzgenerierung in den Blick. Auch mit diesem Punkt berühren wir die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Kunst, in Bezug auf die ich mich im nächsten Abschnitt näher positionieren möchte.
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3 Die Zeichen- und Interpretations-Ästhetik jenseits der Alternative von existenzial-ontologischer Seins-Ästhetik und analytischer Symboltheorie Vor dem Hintergrund der in den beiden ersten Teilen meiner Replik erarbeiteten Perspektiven kann ich nun die weitere These entwickeln, dass und in welchem Sinne die ZuI-Ästhetik einen genuinen Zugang zu den Werken, Prozessen und Phänomenen der Künste verkörpert. Entscheidend ist, dass die ZuI-Ästhetik keineswegs im Würgegriff der Opposition gefangen ist (die in Riccardo Dottoris Beitrag unterstellt wird) zwischen einer seinsphilosophischen Ästhetik Heideggerscher Prägung auf der einen und einer symboltheoretischen Ästhetik Goodmanscher Prägung auf der anderen Seite. Die ZuI-Philosophie vertritt eine eigenständige Ästhetik. Erinnern darf ich an einige meiner Texte, wie unter anderen an: Interpretations-Welten (Abel 1989) und dort vornehmlich an die Passagen zur ZuI-Ästhetik und deren Merkmale, auch im Verhältnis von ZuI-Ästhetik zur ZuI-Logik sowie zur ZuI-Ethik; die Texte zum Verhältnis von Wissenschaft und Kunst sowie von Logik und Ästhetik (beide in SZI Kap. 9 und 10); Texte zur Philosophie der Architektur (z. B. Abel 2014) und im vorliegenden Band meine Repliken auf Horst Bredekamp in puncto Bilder und zu Helga de la Motte in puncto Musik, insbesondere zur grundlegenden Rolle der sinnlich-individuellen Anschauung sowie zum Verhältnis von musikalischem Ausdruck und musikalischer Expressivität. In diesen Texten habe ich versucht, der ZuI-Ästhetik eine Gestalt zu geben, die gegenüber den beiden genannten Ausprägungen des Verhältnisses von Philosophie und Kunst (seins-philosophisch oder rein symboltheoretisch) ein bestimmtes Profil besitzt. Die ZuI-Ästhetik greift hinter die beiden genannten Ansätze sowie hinter die mit ihnen verbundene Alternativstellung als ganzer zurück und möchte jenseits bzw. diesseits dieser dichotomischen Entgegensetzung Fuß fassen. Entscheidend ist, dass die künstlerischen und ästhetischen Prozesse unsere menschlichen Erlebnisse und Erfahrungen mitorganisieren und mitorientieren. Die sinnlich-anschaulichen Gestaltbildungen und die ästhetischen Erfahrungswirklichkeiten sind für die Form unserer Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisse und unserer Ich-Wir-Weltbeziehungen von grundlegender, weil formierender und gestaltender Relevanz. Mit dieser dritten These meiner Antwort auf den Beitrag von Riccardo Dottori kann ich zugleich direkt an meine beiden Repliken auf Horst Bredekamp in Bezug auf die primordiale Stellung der Bilder gegenüber sprachlich-propositionalen Begriffen und auf Helga de la Motte in Bezug auf die
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grundlegende Stellung musikalischer Klänge sowie den Unterschied zwischen musikalischem Ausdruck und musikalischer Expressivität anknüpfen. Die Repliken auf Bredekamp, De la Motte und Dottori bilden daher eine sich wechselseitig intensivierende Einheit. Sehr zu Recht stellt Dottori im dritten Teil seines Beitrags die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Kunst. In Bezug auf diese Frage möchte ich meine Position stenogrammartig in den folgenden drei Punkten verdeutlichen. (a) Horst Bredekamp gelangt am Ende seines Beitrags zu der Behauptung, dass (gegeben die von ihm so trefflich dargelegte basale Rolle der Bilder in den Gestalten unserer Welterschließung) Philosophie und Kunst dasselbe seien. Diese Auffassung teile ich nicht. Eher schon stimme ich Dottori zu, der zwischen beiden Szenarien einen Unterschied sieht, auch wenn dieser Unterschied angesichts der gemeinsam geteilten Interessenfelder nicht ganz einfach auszubuchstabieren ist. Kritisch gegenüber Bredekamps Position möchte ich zunächst schlicht auf die Schwierigkeit hinweisen, dass wir strenggenommen kein externes Kriterium dafür haben, was denn in diesem Zusammenhang die Rede von ‚dasselbe‘ bedeuten, ausdrücken und adressieren soll. Schließlich machen wir den Unterschied zwischen Philosophie und Kunst (ebenso wie zum Beispiel den zwischen Wissenschaft und Kunst, obgleich es zwischen beiden Bereichen jeweils eine Fülle von Gemeinsamkeiten gibt und der Unterschied keineswegs einfach nur durch den Hinweis auf eine Entgegensetzung von Philosophie und Kunst oder von Wissenschaft und Kunst gegeben ist). Eher schon könnte ich mit der Formulierung Dottoris leben, dass Philosophie und Kunst zwar nicht dasselbe sind, dass beide aber „dasselbe Ziel erreichen wollen“, jedoch „verschiedene Wege gehen“ (Kap. 3) und zwar mithilfe der ihnen je eigenen Mittel, Vokabulare und Darstellungen. Was das gemeinsame Ziel betrifft, so denkt Dottori hier vor allem an Gadamers und anderer Auffassung, dass es in Kunstwerken um eine Darstellung des „Sinns des Lebens“ (ebd.) gehe, des Lebens in all seinen unterschiedlichen, belebenden ebenso wie niederschmetternden Facetten. Im Folgenden möchte ich mich jedoch nicht auf die Frage eines ‚Letzten Ziels der Kunstwerke‘ konzentrieren. Vielmehr glaube ich, dass sich die Künste, zumal die modernen und zeitgenössischen Künste, einer solch vereinheitlichenden Sicht systematisch entziehen. Vielmehr möchte ich mich abschließend auf die für die ZuI-Ästhetik charakteristische Betonung der irreduzibel vielfältigen Mechanismen konzentrieren, kraft deren die Künste sowie auch die Philosophie an der Gestaltung, Organisation und Orientierung unserer Selbst-, Fremd- und Weltbeziehungen, mithin unserer Erfahrungswirklichkeiten ebenso wie unseres Verständnisses von Bedeutsamkeit, Sinn und Relevanz aktiv mitwirken und in diesen Rollen für uns unverzichtbar und so unendlich wertvoll sind.
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Die Künste vollziehen sich, so könnte man zugespitzt und vereinfachend sagen, in ihren materialen und formalen Gestaltbildungen und sinnlichen Erfahrungswirklichkeiten vornehmlich im Bereich sinnlich-individueller Anschauungen. Die Philosophie vollzieht sich, so könnte man ebenfalls zugespitzt und vereinfachend sagen, vornehmlich in der Verstandesreflexion sowie als das Ausbuchstabieren der welt- und sinn-erschließenden Mechanismen der Individuation, der Organisation und Orientierung unseres Selbst-, Fremd- und Weltverständnisses. Beide, Philosophie und Kunst, können in diesem Bild als komplementäre, aber nicht einfach als identische, sondern unterschiedliche Anstrengungen angesehen werden. Künstlerische Gestaltung und philosophische Sinnfrage adressieren auf ihre je eigenen Weisen die ursprünglich sinnlich-anschauliche und die ursprünglich reflektierende Dimension der Individuation, Organisation und Orientierung der menschlichen Ich-Wir-Weltbeziehungen. Aber sie tun dies mit den ihnen je eigenen Mitteln und mit den ihnen je eigenen Evidenzweisen, die sich nicht auf ein gemeinsames Drittes oder ein tertium comparationis reduzieren lassen. Es handelt sich, so die These, um eine Art irreduzible Komplementarität unterschiedlicher Perspektivierungen, um das Zusammenspiel der künstlerischen und der philosophischen Perspektivität, in Bezug auf welches auch keinerlei Notwendigkeit besteht, beide auf ein gemeinsames Drittes zurückführen, reduzieren oder konvergieren zu lassen. (b) Nachdrücklich betone ich die grundlegende Rolle der Künste und des künstlerischen Schaffens für die Organisation, Gestaltung, Formierung und Orientierung unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses sowie unserer basalen Ich-Wir-Weltbeziehungen. Auf diese Weise wird deutlich, dass ich eine Einengung der Künste und der ZuI-Ästhetik auf eine Einstellung bloßer Aneignung der Künste im Sinne einer bloßen Deutung der Kunstgestaltungen deutlich zurückweisen möchte. Die Künste realisieren und verkörpern auf ihre je eigenen Weisen die ursprünglich-produktiven Prozesse des Gestalt-, Sinn-, Relevanz- und BedeutungGenerierens. In der Sicht der ZuI-Philosophie sind sie keineswegs bloß Gegenstände passiver Aneignung passiver Rezipienten. Im 3-Stufenmodell der ZuI-Philosophie spielen die Künste auf allen drei Stufen sowie im Zusammenspiel der Stufen eine grundlegende Rolle. Auf der ZuI3Ebene ist dies der Fall in Form der individuellen sinnlich-anschaulichen Werke. Auf der ZuI2-Ebene geht es um Werke zum Beispiel einer bestimmten kulturellen Prägung oder eines bestimmten Stils, etwa des Kubismus in der Malerei oder der Zwölftontechnik in der Musik der Zweiten Wiener Schule. Und auf der ZuI1-Ebene geht es um die Werke mit ihrer ursprünglich gestaltenden, organisierenden und orientierenden Kraft hinsichtlich unserer Ich-Wir-Weltbeziehungen. Dem ZuIModell zufolge ist auf der ZuI3-Ebene das Funktionieren der ZuI2-Ebene und auf
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dieser wiederum das flüssige und selbstverständliche Funktionieren der ZuI1Ebene sinn- und phänomen-logisch stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen. (c) Vor dem Hintergrund der in der vorliegenden Replik auf den Beitrag von Riccardo Dottori entwickelten Thesen ist der folgende Befund nicht mehr überraschend: Die ZuI-Ästhetik steht keineswegs in dem dichotomischen Würgegriff zwischen einer seins-philosophischen Ästhetik Heideggerscher Prägung auf der einen und einer auf syntaktische Aneignung reduzierten symboltheoretischen Ästhetik Goodmanscher Prägung auf der anderen Seite.Vielmehr ist, so hoffe ich, deutlich geworden, dass und in welchem Sinne die ZuI-Ästhetik jenseits bzw. diesseits dieser Würgegriffe Fuß zu fassen sucht.
Literatur Abel, Günter 1989: Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch 96/1, S. 1 – 19. Abel, Günter 1996: Interpretationsphilosophie. Kommentare und Repliken, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44/5, S. 903 – 916. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Berlin; [SZI]. Abel, Günter 2001: Zeichen- und Interpretationsphilosophie. Ein Gespräch mit Günter Abel, (G. Abel im Gespräch mit A. Bertschinger, J. Hasa, T. Sugimoto und M. Wild), in: Information Philosophie 29/4, S. 36 – 44. Abel, Günter 2014: Die Wissensformen der Architektur, in: Eckert, Dieter (Hg.): Die Architektur der Theorie. Fünf Positionen zum Bauen und Denken, Berlin, S. 39 – 58. Abel, Günter 2016a: Rethinking Rationality: The Use of Signs and the Rationality of Interpretations, in: Wagner, Astrid / Ariso, José María (Hg.): Rationality Reconsidered. Ortega y Gasset and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 9), Berlin / Boston, S. 15 – 29. Abel, Günter 2016b: Quellen der Orientierung, in: Bertino, Andrea / Poljakova, Ekaterina / Rupschus, Andreas / Alberts, Benjamin (Hg.): Zur Philosophie der Orientierung, Berlin / Boston, S. 141 – 170. Arnheim, Rudolf 1969: Visual Thinking, Berkeley / Los Angeles / London. Goodman, Nelson 1978: Ways of Worldmaking, Indianapolis. Nietzsche, Friedrich 1988: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde., hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 2. Aufl., Berlin / New York; [KSA]. Wittgenstein, Ludwig 1984: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., S. 225 – 580; [PU].
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Autonome Kunst – Musikalischer Ausdruck – Musikalische Geste Abstract: The category of the musical expression has been undergone changes in the course of the history. In the 18th century the imitating rhetorical functions of the music for the support of words meaning were abandoned within the scope of the concept of Art for Art’s sake. Music should no longer have a useful function outside itself. More and more it was conceived as a language of the Ineffable; it became a form of a sounding Metaphysic. Art for Art’s Sake was a fundamental basic for this idea. Nevertheless, it hasn’t to be given up in the 20th century, when the aesthetics changed once more. However, the concept of expression was replaced by that of gestures. Several meanings of gesture arouse by which the most important was that art implies a pointer for its ontological status. But the latter is veiled. Art is there without revealing what it is. In contemporary aesthetics the non-limited experience of art is not simply conceived in the sense of an occurrence (Ereignis) “that” it is (the Quod) but related to the question “what” it is (the Quid).
„Die Formen des in seiner Grundstruktur logisch-ästhetisch (und ethisch) verfaßten Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses sind keine überzeitlichen Konstanten. […] an ihnen konkresziert und zeigt sich die epochenspezifische Ausprägung desjenigen dominanten Interpretationsschemas, das jeweils für eine Zeit festlegt, was als wirklich und sinnvoll gilt.“ (SZI 215) Ich gehe von diesem Satz von Günter Abel aus, um einen historischen Wandel ästhetischer Konzeptionen an den zentralen Begriffen des musikalischen Ausdrucks und der musikalischen Geste aufzuzeigen. Dabei möchte ich versuchen, auch die interdisziplinäre Ausweitung, die Abel für die Begriffe ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ vorgenommen hat, heranzuziehen. Allerdings gelingt dabei keine handfeste Definition; vielmehr führen meine Überlegungen nur zu einem wabernden Geflecht von Problemen. Zunächst seien die beiden hier im Titel genannten Begriffe, Ausdruck und Geste, präzisiert.
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1 Wandlungen des Begriffs ‚musikalischer Ausdruck‘ ‚Ausdruck in der Musik‘ hat einen weiten Bedeutungsumfang. Der Begriff erscheint zuerst in der italienischen Musiktheorie der Renaissance, jedoch in einem völlig anderen Sinn, als er in späteren Zeiten verwendet wurde. Gemeint war damit die richtige Aussprache und Akzentsetzung der Sänger, was darauf verweist, dass Musik vor allem Vokalmusik war und ihr Verständnis von dem der Worte abhing. Im Laufe des 17. Jahrhunderts trat nach und nach die Idee der richtigen Artikulation auf Seiten der Ausführenden zurück zugunsten rhetorischer Vorschriften, mit denen Komponisten zur richtigen Ausmalung des Textes angeleitet werden sollten. Im Zentrum standen dabei nicht deren subjektive Gefühle, sondern Imitationen von Gefühlsregungen (Leidenschaften), die einem darstellenden Repräsentationsmodus folgten. Mit den sog. Figuren (in Italien: Madrigalismen) sollten Affekte in der Musik zum Ausdruck kommen. Es handelte sich um musikalische Phrasen, die Emotionen ‚beschrieben‘, die in die Form von Ikonen (fallende Melodie in Analogie zur niederdrückenden Traurigkeit) oder in die von Symbolen gebracht wurden, deren Stellvertretungsanspruch in der Tradition wurzelten. Festzuhalten ist, dass noch immer eine unterstreichende und darstellende Funktion der Musik den richtigen Ausdruck der Worte zu unterstützen hatte. Denn Musik war in erster Linie Vokalmusik, für die die richtigen Mittel zu verwenden waren, um die Forderung des Docere, Delectare und Movere für den Hörer zu erfüllen, wobei die Musik vor allem die beiden letzten Effekte haben sollte. Paradoxerweise griff um 1900 die sogenannte musikalische Hermeneutik auf diese aus der Nachahmungslehre stammenden Figuren zurück, um Werke der Instrumentalmusik zu deuten. Ohne Kenntnis vom Scheitern dieses hermeneutischen Ansatzes wurden in jüngerer Zeit in der amerikanischen New Musicology sehr ähnliche Versuche unternommen. Um 1800 vollzog sich ein radikaler Wandel der ästhetischen Auffassungen, der bis heute seinen Schatten wirft. Kunst wurde grundsätzlich als autonom verstanden, was vor allem Folgen für die Emanzipation der Musik hatte. Sie hatte nicht mehr wie davor Zwecke in höfischen oder religiösen Diensten zu erfüllen. Der autonome Status der Kunst, der sich auf dem Hintergrund des neuen Begriffs vom sich selbstbestimmenden Subjekt seit der Aufklärung ausbildete, gründete auf der Aufwertung der schöpferischen Fähigkeiten des Künstlers, der nicht mehr an die Wünsche fürstlicher oder kirchlicher Auftraggeber gebunden war. Neue Begründungen für die Kunst wurden notwendig. Allegorien, die davor eine große Bedeutung für ihre Dechiffrierbarkeit hatten, wurden nun entschieden abgelehnt
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(deutlich an den Schriften von Gotthold Ephraim Lessing und Johann Wolfgang von Goethe). Die Kunstwerke wurden als abstrakte Symbole verstanden, wobei vor allem Goethes Symbolverständnis im Begriff eines positiv verstandenen Scheins wirksam wurde, durch den der Kunst eine weitreichende Bedeutung zugewiesen wurde. Dass in der Folgezeit andere Epochen andere „Interpretationsschemata“ ausbildeten, mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass Kunst durch einen Schein nur unzureichend begründet werden konnte. Ihre Autonomie ist aber bis heute ein bestimmendes Merkmal.
2 Autonomie – ein neues ästhetisches Postulat Mit Nachdruck hatte Karl Philipp Moritz den Gedanken der Autonomie in seiner Abhandlung von 1788 Über die bildende Nachahmung des Schönen erörtert. Welche Bedeutung dieser Schrift zukommt, lässt sich daran ablesen lässt, dass Goethe daraus Auszüge in den dritten Teil seiner Italienischen Reise mit dem Hinweis eingliederte, dass sie während ihrer beider Begegnung in Rom aus „ihren Unterhaltungen hervorgegangen [sei], welche Moritz nach seiner Art benutzt und ausgebildet“ (1920: 646). Festzuhalten ist auch, dass sie den wichtigsten Gesichtspunkt von Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft von 1790 vorwegnimmt. Dies gilt auch für das Gedicht Die Künstler 1789 von Friedrich Schiller, der ebenfalls vor Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft den Gedanken der Autonomie darlegte. Moritz’ Schrift markiert keine regelrechte Zäsur. Denn zuvor hatte schon Charles Batteux (1746), dessen Schrift sehr bekannt geworden war, den Gedanken der Autonomie ausgesprochen. Aber Moritz führte intensiv die Trennung des Schönen vom Nützlichen aus, was auch hieß, die barocke Forderung einer Funktionalität durch die Wirkungen abzulehnen: „Das Schöne [gehört] zu den Sachen, die wir nicht brauchen, sobald wir sie nicht kennen, und nicht entbehren, sobald wir sie nicht haben“. Es kommt aus: „ohne alle Rücksicht auf Nutzen“ (Moritz 1788: 38 f.). Obwohl es Moritz um die ‚bildende Hand, um Empfindungsund Bildungskraft, um dunkel Gefühltes und vorstellende Kräfte‘ geht, d. h. seine Schrift der künstlerischen Produktion gewidmet ist, werden zugleich Kategorien angesprochen, die für die spätere Werkästhetik eine zentrale Bedeutung haben. Er sprach bezüglich dessen, was „unter der Hand des bildenden Künstlers zur Erscheinung wird“, von „etwas in sich selbst Vollendetem“, einem „Ganzen“, das „um seiner selbst willen“ da ist (20, 38). Letzteres ist eine bei ihm wiederkehrende Formel, auch um die aus der Antike übernommene Idee einer Einheit des Schönen und Nützlichen zu verneinen: Denn, so argumentierte er, sofern sich das Schöne dem Nützlichen unterordnet, wäre es „nicht um seiner selbst willen da“ (18).
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Bekannt geworden ist die Formulierung von Moritz, Kunst sei ein Abdruck des höchsten Schönen: „Jedes schöne Ganze aus der Hand des bildenden Künstlers ist daher im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen im großen Ganzen der Natur“. Einschränkend bemerkt er aber, dass es: „doch immer nur Abdruck bleibt“ (19, 37). ‚Im Kleinen‘ bedeutete für ihn, die eingrenzende Einpassung in das menschliche Wahrnehmungsformat zu bedenken, ohne die wir ein Ganzes gar nicht wahrnehmen können: „Unsere Empfindungswerke [schreiben] dem Schönen […] sein Maaß vor“ (18). Moritz ist der neuplatonischen Denkfigur verpflichtet, die Natur sei der Widerschein einer kosmischen Ordnung. Er fügt ihr aber hinzu, dass die Natur dabei nicht zur völligen Reife gelangt sei. Das Schöne übertrifft die Natur durch Vollendung, jedoch, so beschließt er seine Argumentation, „über der Realität schwebend und gauckelnd ein Blendwerk“ (20). Er greift dieses Problem gegen Ende seiner Schrift noch einmal auf: „Indem nun aber das Schöne alles Mangelhafte von sich ausschließt, und alles Wirkliche in sich begreift, ohne doch alles Wirkliche selbst zu seyn, findet es, selbst da, wo es wirklich ist, für jedes Individuum, das mit ihm nicht eins werden kann, immer nur in der Erscheinung statt“ (47). Diesem künstlerischen Schein eignen Momente des Irrealen. Mit der Idee der Autonomie fand von allem Anfang an eine metaphysische Aufladung der Kunst statt als ‚Schimmer‘. Moritz benutzt dieses Wort öfter und favorisierte damit die Annahme von etwas Dahinterstehendem, das sich nicht konkretisiert. Durch den Widerschein eines Transzendenten im Kunstschönen gewinnt es eine verweisende Funktion für die Existenz einer höheren Wirklichkeit. Das Scheinen der Idee (Hegel) prägte die Auffassungen durch das ganze 19. Jahrhundert, wobei der Begriff des Scheins eine positive Bedeutung hatte. Dazu hatte nicht nur Johann Wolfgang von Goethes Symbolbegriff beigetragen, sondern auch seine mehrfach dargelegten Überlegungen, dass das Wahrscheinliche der Realität nicht mit Wahrheit gleichzusetzen sei. Das vollendet Schöne selbst ist jedoch im Rahmen menschlicher Maße nicht fassbar, was Moritz am Ende seiner Schrift zu dem Ausruf veranlasst: „Und von sterblichen Lippen läßt sich kein erhabeneres Wort vom Schönen sagen als: es ist!“ Auf diesen Satz soll später noch einmal zurückgegriffen werden, weil er gegenwärtig im Rahmen der Diskussionen um eine Ereignisästhetik bislang übersehen wurde. Letztendlich hat Moritz Martin Heideggers Neukonzeption der Ästhetik vorweggenommen, die in der Formulierung gipfelt: Dass es ist, nicht was es ist. Der Anspruch der Autonomie der Kunst hatte große Auswirkungen auf die Lösung der Musik aus ihrer dienenden Rolle für das Wort und für ihre gigantische Steigerung in den instrumental-symphonischen Werken, die sie vor allem in Österreich und Deutschland erfuhr. Ohne Bindung an eine konkrete Vorstellung konnte sie als Sprache über der Sprache verstanden werden, die den Schein des
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Unendlichen barg. Das Unaussprechliche, das Ineffabile, schien sie anzudeuten. Sie wurde zur Ersatzreligion. Es würde hier den Rahmen sprengen, ausführlicher darauf einzugehen, dass die Säkularisierung durch die Aufklärung und die damit verbundene ‚Entzauberung der Welt‘ (Max Weber) ungestillte Bedürfnisse hinterließ, die durch eine Sakralisierung der Kunst befriedet werden sollten. Die Komponisten begannen mehr und mehr, sich als Sprachrohr einer göttlichen Instanz zu verstehen. Das bedeutet eine neue Vorstellung vom Ausdruck. Johann Georg Sulzer hatte noch in seinem Lexikon der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771– 1774) in dem entsprechenden Artikel darunter eine zeichenhafte „Kunstsprache“ verstanden, aber auch die davon ausgelösten Wirkungen als Ausdruck bestimmt. Die Idee, Musik sei Ausdruck eines künstlerischen subjektiven Inneren, das seinerseits mit ungeahnten Tiefen und Höhen in Verbindung stand, entwickelte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Einige Künstler, darunter Richard Wagner, beeindruckt von Arthur Schopenhauers Idee der tönenden Metaphysik, haben die Auffassung, der Künstler sei das Sprachrohr eines transpersonalen Subjekts, nachdrücklich vertreten. Scharfe Kritik an diesem Anspruch übten seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts alle Avantgardeströmungen. Stattdessen wurde nach Gebrauchsformen gesucht oder es wurden rationale Strukturen intendiert.
3 Ausdruck: Aussage oder Hinzeigen? Die klassisch romantische Musik wird neuerdings gern in Analogie zur Sprache gesehen und durch eine referenzlose semantische Schicht, den emotionalen Ausdruck, und eine syntaktische Schicht, die strukturelle satztechnische Ebene, beschrieben. Die Metapher von Musik als Sprache hinkt aber an allen Ecken und Enden, abgesehen davon, dass das wichtigste Element der Musik, der Klang, dabei so gut wie keine Beachtung findet. Nicht von ungefähr ist eine musikalische Semiotik in Vorstadien stecken geblieben. Eine regelrechte Aussagefunktion kann der semantischen Schicht der Musik nicht zukommen. Bestimmt durch das, was als Schimmern oder Schein zu einer zentralen ästhetischen Kategorie geworden war, besitzt sie lediglich einen hinweisenden Charakter. Dies gilt bis in das 20. Jahrhundert, wo Ernst Bloch (1959: 170) treffender von „Vor-Schein“ sprach. Die Aussage wird damit zu einem Vorauszeigen. Die Schwierigkeit, die sich speziell im Fall der autonomen Instrumentalmusik im Unterschied zu den anderen Künsten für eine semiotische Deutung bietet, sei es Sagen oder Zeigen, ist ihr mangelnder Bezug zu Außenwelt. Einschränkend sei dazu vermerkt, dass dies vor allem für die zentraleuropäische Musik gilt. Denn zumindest mimetische Reste sind in der französischen Musik selbst noch bei
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Claude Debussy erhalten, wie sich an den scheu unter die Stücke der Préludes gesetzten Titeln zeigt. Die ‚Analogie der Analogie‘ zur externen Realität (Dukas 1980: 145), die sich auch bei Orchesterwerken findet, hat Michel Chion (1993) speziell für das Poème symphonique, das den in Frankreich erhalten gebliebenen theoretischen Forderungen der Nachahmungsästhetik entsprechen sollte, als „eine sinfonische Meditation“ bezeichnet. Das was durchaus als weltgeschichtlich einmalig in den Werken der absoluten Musik möglich erschien, nämlich ein abstraktes Denken nur in Klängen, gewann bereits im 19. Jahrhundert eine Vorbildfunktion für die Konstruktionen von Malerei wie Dichtung, um dem dinglichen Charakter zu entrinnen und Gegenständlichkeit im Bild weitgehend zu tilgen oder Klang um Klang zu dichten (Joseph von Eichendorff). Paul Valéry, der dem Klang eines Gedichts den Vorrang vor dem Sinn zubilligte, schrieb über die Fleurs du Mal von Charles Baudelaire: „tout y est charme, musique, sensualité puissante et abstraite“ (1957: 610). Neben der materialen Qualität blieb jedoch in Malerei und Dichtung eine auf die Realität verweisende Bedeutung erhalten. Diese Duplizität wird in der Kunstgeschichte als Differenz von Repräsentation und Präsenz (Böhm 2001), in der Philosophie von Nicolai Hartmann (1953: 106) als Zeigen im konkret „Anschaulichen“ jenseits der alltäglichen Wahrnehmung beschrieben. Günther Anders (1927, vgl. Ellensohn 2008), Schüler von Edmund Husserl, hat diese Differenz der Musik im Verhältnis zu anderen Künsten unter phänomenologischen Gesichtspunkten zu erläutern versucht. Noch unter dem Namen Stern beschäftigte er sich in den 1920er Jahren mit musikphilosophischen Fragen (Ellensohn 2008). Seine diesbezügliche Habilitation soll übrigens von dem jungen Theodor W. Adorno verhindert worden sein. Anders beschäftigte sich mit dem situativen Faktor des Zuhörens (unterschieden vom bloßen Hören), bei dem Musik von außen eindringt und das Innerste affiziert. Dabei ist Musik nicht das Medium sondern durchaus ein Gegenstand, aber dieser Gegenstand ist nicht außen, so dass man (wie bei einem Bild) seine Aufmerksamkeit darauf richten könnte. Es ist ein Richten auf die eigene Subjektivität, die aber im Fluss bleibt und nicht unterbrochen wird. Das bloße Hören, bei dem sich die Aufmerksamkeit nach außen richtet, hat eine andere Qualität als das Zuhören, das seinerseits mit einem emotionalen Beteiligtsein einhergeht. Es liegt eine Verschränkung von Eindruck und Ausdruck vor. Anders vertritt mit dieser Verschränkung eine sehr moderne Position. Selbstverständlich kann man ohne großen emotionalen Einbezug seine Aufmerksamkeit auf die Machart von Musik, z. B. die satztechnische Struktur, richten. Ein erlebnismäßig verankertes Zuhören findet dann aber nicht statt. Greift einerseits die Unterscheidung von Bedeutung und materialer Qualität der Darstellung nicht für die Musik und ist weiterhin Präsentation zur reinen Präsenz geworden, scheint ein Sonderstatus ästhetischer Erfahrung erreicht. Der musi-
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kalische Ausdruck ist keine Aussage, er geschieht im Eindruck, der allenfalls nur als ein Hinzeigen auf etwas Unfassbares erlebt werden kann. Die Eindrucks-Ausdruckverschränkung durch emotionales Beteiligtsein wirft ein besonderes Problem auf, nämlich die biologische Fundierung der Gefühle zu bedenken, die letztendlich eine Begrenzung des musikalischen Ausdrucks bedeutet. Die menschliche Gefühlsstruktur ist zwar äußerst verfeinerbar. Heutige Emotionstheorien würden jedoch keine Möglichkeiten einer prinzipiellen Erweiterung der Grundgefühle annehmen. Musik als Sprache über der Sprache, die an das zutiefst Innere rühren kann, ist im Unterschiede zur Wortsprache in ihrer syntaktischen Struktur, worüber die Musikgeschichte belehrt, sehr erweiterbar, nicht aber bezüglich ihres Ausdrucks. Mit Worten hingegen lässt sich in einer gleichbleibenden Grammatik immer Neues sagen. Das gilt nicht für die Musik. Die Syntax der Sprache ist nicht veränderbar im Unterschied zur satztechnischen Struktur der Musik. Die Semantik der Sprache hingegen ist flexibel und anpassungsfähig an neue Vorgänge in der Welt. Hingegen wirft der etwas vage Vergleich des emotionalen Eindrucks von Musik mit einer semantischen Bedeutung das Problem auf, dass durch die Bindung an die Gefühlsstruktur ihr eine Grenze gesetzt ist. Die Entwicklung einer neuen Musik scheint eine logische Konsequenz dieser Begrenzung zu sein.
4 Der Verlust des musikalischen Ausdrucks Spätestens nach dem zweiten Weltkrieg erschien das, was die sinfonischen Werke an gesteigerter Emotionalität ausdrückten, nur eine Lüge zu sein. Die Ausdrucksschicht sollte getilgt werden. Es wirkt an dieser Stelle noch überflüssig, darauf hinzuweisen, dass nicht allein der Zusammenbruch der Wertvorstellungen, den der erste Weltkrieg mit sich führte, für veränderte ästhetische Forderungen verantwortlich war. Auch die kompositorischen Mittel waren erschöpft. Zum neuen, sachlich sich gebärdenden Ideal wurden die angewandte Musik und die Gebrauchsmusik, die politische Funktionen oder alltägliche Aufgaben erfüllen sollte. Daneben auch eine Form der Maschinenmusik, die der technifizierten Welt entsprechen sollte. Das Publikum aber folgte den Rückgriffen der Komponisten auf die musikgeschichtlich älteren Nützlichkeitsfunktionen nicht. Um 1930 zogen sich diese wieder in den geschmähten Konzertsaal zurück. Die Autonomie der Kunst sollte wiederhergestellt werden. Ein ähnlicher Prozess wiederholte sich in etwas veränderter Form nach dem zweiten Weltkrieg. Die satztechnischen Mittel waren inzwischen hinreichend erneuert, wie aber sollte ein neuer Ausdruck gefunden werden? Dies war kaum möglich. Eine Lösung für die Bedeutungsebene wurde durch die Aufwertung der musikalischen Geste versucht.
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5 Die Geste Gesten, seien sie illustrativ oder emblematisch, dienen zur Kommunikation von Informationen. Sie können eine imperative oder eine expressive Funktion haben. Die Bewegungen eines Dirigenten sind dafür ein sinnfälliges Beispiel. Gesten unterstreichen das Sprechen, ohne jedoch selbst eine inhärente Grammatik (die künstliche Taubstummensprache ausgenommen) und ohne eine hierarchische Struktur zu haben. Sie können dem Sprechen überlegen sein im Hinzeigen auf etwas. Gesten waren ursprünglich nur notwendige Begleiterscheinung der Musik. Sie wurden in der neuen Musik als bedeutungsstiftende Elemente aufgewertet. Es lassen sich verschiedene Formen ihrer Verwendung in der neuen Musik zeigen: a) Das instrumentale Theater von Mauricio Kagel wie die visuelle Musik von Dieter Schnebel benutzen körperliche Gesten, die die musikalische Struktur überlagern bis dahin, dass Schnebel mit Solo für einen Dirigenten nur durch ein gestisches Spiel eine virtuelle, nicht-klingende Musik vorsieht. Match von Kagel benutzt Aktionen und Gesten eines rivalisierenden Spiels von zwei Cellisten und einem Schiedsrichter (anfänglich vergleichbar einem Tischtennisspiel). Kagel wie Schnebel benutzen Techniken der Dekomposition und Rekomposition der audiovisuellen Einheit des musikalischen Spiels. Ohnehin zu Grenzüberschreitungen neigend fand seit den 1960er Jahren in der neuen Musik gern eine Form der Theatralisierung statt, die zwar darstellend ist, eher Traumhaft-Irreales, nicht aber Emotionen im traditionellen Sinn suggeriert. (Match von Kagel beruht auf einem Traum des Komponisten.) In der Folgezeit wurden solche Spielgesten um Aktionen von Musikern erweitert, die den ganzen Raum einbezogen. b) Gesten können innermusikalisch aus Klängen gewonnen werden. Auch hierbei fand eine Emanzipation von Eigenschaften der Musik statt, die nicht neu ist, aber in früheren Zeiten keine primäre Bedeutung hatte. An Klängen haften intermodale Qualitäten, die sie nicht nur heller und dunkler, sondern auch dichter, schwerer etc. erscheinen lassen. Klangmassen können wie in der Musik von Iannis Xenakis gravitierend drängend und damit weiterführend wirken. Die den Klängen eignenden Kräfte und Energien hat der Musiktheoretiker Ernst Kurth (1931/1947) ausführlich beschrieben. Musik verstanden als ein energetischer Fluss in einem vektoriellen Raum ersetzte für ihn bereits die Idee von Musik als Ausdruck von Gefühlen, an deren Stelle ein vielfältiges Spiel von Spannung und Entspannung trat. Brian Ferneyough, der explizit von Gesten spricht, arbeitet mit ihnen, um von einzelnen Klanggestalten zu Fortschreitungen in der Zeit zu gelangen. Klanggesten können räumlich in verschiedene Richtungen weisen. Recht einfach veranschaulicht
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dies ein leiser werdender Klang, der sich in den Hintergrund zurückzuziehen scheint. Der räumliche Eindruck, den Edgard Varèse mit seiner Musik bewirkt, ist von solchen innermusikalischen Kraftverhältnissen bestimmt. Außer der Dichte oder Masse und Lautstärke der Klänge sind es die beim Spielen auch im Raum sich entfaltenden (nicht notierten) Kombinationstöne, die in seiner Musik zur Fortführung dienen. Varèse, der als Dirigent über ein sehr gutes Gehör und Vorstellungsvermögen verfügte, sagte einmal, dass er beim Komponieren in den Klängen sitze, deren eigenes materiales Leben kompositorisch genutzt wird, um, wie Morton Feldman sagte, eine ‚fließende Klangskulptur‘ zu schaffen, die aber keine abbildende Funktion hat. Darüber hinaus wird im Zusammenhang mit der Geste des Zeigens − was für die moderne Bildende Kunst leichter zu beschreiben ist – bezüglich der Musik von John Cage zuweilen auf den Aspekt des Vorzeigens als typischer Haltung moderner Künstler hingewiesen. Anregend hierfür hat Odo Marquard (1989: 98) gewirkt mit seinem Vorschlag einer Anästhetik antifiktionaler Kunst, eines „Sehens des Übersehenen“. Die Setzungen von Cage, die dazu dienen können, Alltagsgeräusche in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, d. h. ein Hören des Überhörten bedeuten, stellen eine Möglichkeit solchen Vorzeigens dar. Es soll nichts ausgesagt, aber ein Akt konzentrierten Sich-Richtens auf Unvorhergesehenes evoziert werden.
Gesten haben eine zeigende Funktion. Jedoch wird Unterschiedliches gezeigt. Die theatrale Annäherung der Musik an die Performance, die inzwischen eine eigene Gattung darstellt, ist hinzeigend, zuweilen selbstreflexiv auf die Musik gerichtet. Gesten können jedoch existentiell aufgeladen werden, wie dies für Kagels Entführung im Konzertsaal gilt, das die Besonderheit der Konzertsaalsituation in die simulierte Situation einer möglichen bedrohlichen Entführung ummünzt. Werden keine theatralen, sondern nur energetische Klanggesten benutzt, so handelt es sich auch um eine vorausweisende Funktion auf eine innermusikalische Fortführung. Man kann dies als eine Erweiterung eines älteren musikalischen Prinzips verstehen, nämlich des Auflösungsbedürfnisses der Dissonanzen, was im Übrigen auch die Theorie von Ernst Kurth schon nahelegte. Erhalten geblieben ist dabei eine sensorische Wirkung der an den Klängen haftenden Eigenschaften, die Spannungs- und Entspannungs-suggerierend sein kann, jedoch nicht mehr dem Ausdruck der klassisch-romantischen Musik entspricht. Mit Gesten versuchten Komponisten ein Sagen zu umgehen. Bedeutungshaltig sind vor allem die zeigenden theatralen Gesten. Das Vorzeigen hingegen, das, selbst wenn Umweltklänge zur Wirkung kommen sollen, nicht mehr die gewohnte gegenständliche Zuweisung kennt im Sinne von ‚dies ist …‘ (beispielsweise: dies ist das Quietschen einer Tür), verlagert die Wahrnehmung auf
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den von allen Bezügen zur gegenständlichen Welt gereinigten Klang. Ähnlich gilt, dass die energetischen Eigenschaften des Klangs hervorzukehren sensorische Qualitäten in den Mittelpunkt rückt. Eine Aussage ist nicht intendiert. Zweifelsohne aber findet immer ein Eindruck statt. Für das Spektrum des sinnlich Wahrnehmbaren, das nicht in eine Aussage gefasst werden kann, auch das Ineffabile, bleibt, so Abel, „das Zeigen […] zentral“ (SZI 190). „Das Hinzeigen ist ein […] Konstruktbilden, und das darin Gezeigte kann als ein perzeptives Interpretationskonstrukt behandelt werden“ (Iw 391). Gilt es umzudenken und einer interpretierenden Wahrnehmung ein größeres Gewicht zuzubilligen, so dass eine Rezeptionsästhetik an die Stelle bisheriger Werkästhetik tritt, bei der ästhetische Reflexionen über die kompositorische Intention im Mittelpunkt stehen? Wahrnehmung und Erfahrung sind im Kontext neuerer ästhetischer Ansätze beliebte Worte, die aber schwer zu präzisieren sind. Betont wird mit dem Gewahrwerden der Rezeptionsprozess bis hin zu einer kontemplativen Versenkung. Das Sagen und Zeigen, wie es aus der traditionellen Musik herausgelesen wurde, ohne dass es allerdings hätte genauer dargestellt werden können, soll umgangen werden. Gleichwohl soll keine Bedeutungslosigkeit erlebt werden. Man wird den Verdacht nicht los, hinter diesen Ansätzen zu einer Rezeptionsästhetik stecke doch der Wunsch, mit den klanglichen Ereignissen könnten grundsätzliche Einsichten in Ich und Welt gewährt, zumindest eine andere Sicht ermöglicht werden. Letztere wird aber nicht regelrecht sinnlich-hörbar gezeigt, sondern durch die Verschränkung mit dem Rezipienten zur Möglichkeit des Denkbaren.
6 „Es ist!“: Ereignisästhetik Kunst als Ereignis, ohne jegliches Sagen und unbestimmt im Hinblick auf ein Zeigen, spielt in der gegenwärtigen Diskussion unter dem Eindruck des französischen Poststrukturalismus eine große Rolle, wobei vor allem die zeitgenössische Kunst die Suche nach neuen Interpretationsmöglichkeiten intensivierte. Das zeitgenössische Schaffen widersetzt sich traditionellen Formen der Analyse, weil die Mittel der Kunstproduktion seit dem 18. Jahrhundert durch das Gebot der ästhetischen Originalität ständig erneuert werden mussten. Sie erschienen seit dem 20. Jahrhundert aufgezehrt. Auch innerhalb der traditionellen Kunstgenres war nichts mehr Neues zu finden. Damit wurden künstlerische Arbeiten aus vorhandenen Verstehenszusammenhängen herausgelöst. Ein prognostizierter Stillstand künstlerischen Schaffens ist jedoch nicht eingetreten. Vor allem die Bildende Kunst war Gegenstand neuer theoretischer Erklärungen. Das Aufbrechen von Verstehenszusammenhängen betrifft jedoch die Musik besonders stark, weil sie inzwischen sogar aus ihrem vorgegebenen Rahmen, eine Zeitkunst zu
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sein, mit statischen Formen und Installationen ausgebrochen ist und sich räumliche Qualitäten des Klangs zu eigen macht. Neues, das sich gewohnten kognitiven Deutungen widersetzt, wird meist vom Publikum abgelehnt. Damit ist nicht viel gewonnen. Denn das Neue ist da und stellt eine Frage: Qu’est-ce qui est là étant? (Was ist da seiend?). Die Frage ist hier zitiert aus dem Buch von Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei (1992: 438). Die Antwort reicht für Derrida (439) an die Ränder der transzendentalen Ästhetik von Kant. Sie ist jedoch in erster Linie bezogen auf Martin Heideggers Schrift Der Ursprung des Kunstwerkes (1950), das, trotz politisch begründeter Gegnerschaft, Theodor W. Adorno (1970: 152) als eine erste anti-idealistische Ästhetik bezeichnete. Auch die Kunsttheorie, darunter Überlegungen zur Musik, von Jean-François Lyotard ist von Heidegger beeinflusst. Heideggers Vorträge über den Ursprung des Kunstwerkes von 1935 und 1936, die 1950 überabeitet in Holzwege erschienen, sollen hier nur in Andeutungen zur Sprache gebracht werden und zwar mit einer Konzentration auf die darin gestellte Frage: „Was geschieht hier? Was ist im Werk am Werk?“ (1950: 25). Sie hat anregend auf das poststrukturalistische Denken gewirkt, wobei Heideggers Absage an ein in der Kunst zum Vorschein kommendes transzendentes Prinzip zugunsten der Immanenz des Seins im Seienden eine besondere Rolle spielte. Die von Heidegger postulierte ‚ontologische Differenz‘ zwischen Sein und Seiendem haben jedoch Derrida und Lyotard nicht in vollem Umfang übernommen. Sie deuten nur vorsichtig den Anspruch von Kunst an, das Sein zu öffnen, sie beschreiben ihn aber nur als einen in der Erfahrung letztlich nicht eindeutig gelingenden Prozess. Heidegger geht im Kunstwerkaufsatz ausführlich darauf ein, dass eine ‚Dienlichkeit‘ des Kunstwerks nicht gegeben sei. Autonomie der Kunst vorauszusetzen, ist eine zwingende Prämisse seiner weiteren Argumentation. Kunst unterscheidet sich von allem anderen Vorhandenen. Unzureichend erscheinen ihm daher auch alle wissenschaftlichen Versuche, Kunstwerke durch die Unterscheidung von Stoff und Form zu beschreiben. Denn diese Unterscheidung ist keine genuin ästhetische. Dennoch ist für ihn das Kunstwerk ein Anlass, über generelle philosophische (ontologische) Probleme nachzudenken, die sich gerade auch durch die Kunst stellen. Seine Frage gilt dem Sein, das dem Seienden immanent ist. Alles Gewöhnlich-Alltägliche kann mit der Formulierung ‚dies ist …‘ verbunden werden, jedoch wird dabei das ‚Dies ist‘ bald vergessen zugunsten von Gebrauchsfunktionen. Nur in sich bestehend kann ein solches Vergessen beim autonomen Kunstwerk jedoch nicht eintreten: „Im Werk […] ist dieses, daß es als solches ist, gerade das Ungewöhnliche“ (53), „daß es ist und nicht vielmehr nicht ist“ (54), eine ähnliche Formulierung hatte er bereits in seiner Metaphysik-Kritik (1929: 23) verwendet.
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Günther Anders, obwohl er einer der schärfsten Kritiker von Heideggers politischer Haltung war, hatte dennoch gewürdigt, dass Heideggers Unterscheidung des ‚Dass‘ von einem ‚Was‘ eine weitreichende Diskussion angestoßen habe. Er bemerkte jedoch auch, dass die von Heidegger beschriebene ontologische Differenz zwischen der Erfahrung des nicht bestimmbaren Seins und dem konkret Seienden bereits bei Schelling vorformuliert ist. Er zitiert Schelling: „Es sind ganz verschiedene Sachen zu wissen, was ein Seiendes ist, quid sit, und daß es ist, quod sit“ (Anders 2001: 216). Urheberschaft für die Erfahrung Quod im Bereich der Kunst ohne gleichzeitige Bestimmung eines Quid kann vor allem der Ausruf Karl Philipp Moritz’ über das Kunstwerk beanspruchen: „Es ist!“ Heidegger kommt jedoch das Verdienst zu, eine solche Ereignisästhetik ausführlich dargelegt zu haben. Das Kunstwerk ist nicht darstellend oder repräsentierend sondern ein „Ereignis“ (1950: 53), das jedoch nicht einfach ein Geschehnis meint. Es bedeutet eine Öffnung des Seienden, auch als Lichtung oder Riss im Seienden bezeichnet, das Aufstoßen in das Ungeheure, das jedoch ein „Unsagbares“ in die Welt bringt (54). Der Ursprung des Kunstwerks im Sein bleibt verhüllt. Heidegger hat dessenthalben (1962) ergänzend den Begriff „die Enteignis“ hinzugefügt, der plastischer hervortreten lässt, dass die Öffnung des Seienden durch das Kunstwerk den begründenden Ursprung, das Sein, beim Eintritt in das geschichtliche Dasein verhüllt. Trotz solcher Unverfügbarkeit bedeutet jedoch die Begegnung mit dem Kunstwerk eine ‚Verrückung‘, der zu folgen „die gewohnten Bezüge zur Welt und zur Erde verwandeln“ heißt (1950: 54). Das Kunstwerk, eine Epiphanie, rührt damit an die existentiellen Bedingungen des Menschen. Die anti-idealistische Haltung der Heideggerschen Ästhetik hat Adorno nicht nur lobend erwähnt, sondern in Teilen übernommen. Er spricht von Kunst als einer neutralisierten Epiphanie: „Am nächsten kommt dem Kunstwerk als Erscheinung die apparition, die Himmelserscheinung. […] Es ist […] Menetekel, aufblitzende und vergehende Schrift, die doch nicht ihrer Bedeutung nach sich lesen lässt“ (1970: 70). Die Betonung des Ereignishaften dieser Metaphern tritt jedoch bei Adorno zurück gegenüber der Frage des Scheincharakters, der seinerseits die Entfaltung der Wahrheit verhindert. Durch den Schein werden „die Kunstwerke nicht wörtlich zu Epiphanien, so schwer es auch der ästhetischen Erfahrung den authentischen Kunstwerken gegenüber fällt, nicht darauf zu trauen, in ihnen sei das Absolute präsent“ (159). Eine solche enttäuschte Formulierung wäre Heidegger fremd gewesen. Das Wort Schein erwähnt er sehr selten. Dennoch ermöglichen die Ansätze zu einer Ereignisästhetik bei Adorno in der stark an der Phänomenologie orientierten, poststrukturalistischen französischen Philosophie und Kunsttheorie, ihn zugleich mit Heidegger als Referenz zu benutzen. Vor allem jedoch Heidegger hat in Frankreich eine breite Spur hinterlassen. Eine wichtige Vermittlerrolle kam der Philosophie von Jean Beaufret zu,
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durch den bereits 1947 Jean-François Lyotard mit Heidegger in Berührung gekommen war. Lyotard versuchte vor allem die Wahrnehmung neuester Kunst (Barnett Newman, Marcel Duchamp, Daniel Buren, John Cage u. a.) in ihrer Unfassbarkeit zu interpretieren.¹ Über Barnett Newman schrieb er: „Das Ereignis ist der Augenblick, der unvorhersehbar ‚fällt‘ oder ‚sich ereignet‘. […] Die Schöpfung bei Newman ist nicht der Akt von irgendeinem, sie ist das, was sich (hier) mitten im Unbestimmten ereignet.“ (Lyotard 1986: 13) Er knüpfte dabei unmittelbar an Formulierungen von Heidegger an über das ‚Dass‘, das keine Bestimmung auf ein ‚Was‘ erfordert: „Jeder Augenblick ist der Beginn, vorausgesetzt, er ist mehr nach seinem quod als nach seinem quid erfasst“ (ibd.). Derrida lehnte sich vor allem an die Begriffe des Risses und des Sprungs an, die beide Heidegger dazu dienen, eine Öffnung des Seienden zu benennen. Derrida begrenzt jedoch diese Vorstellung der Öffnung, indem er sie mit Kants Idee der Zweckmäßigkeit ohne Zweck des Schönen zu vereinbaren sucht durch seinen grundlegenden relationalen Begriff der Différance, einem unabschließbaren Verweisen, einer „Beziehung des Nicht-Bezugs auf den Zweck“, einer Beziehung, deren „Horizont die von Unmöglichkeit gezeichnete Ankündigung des Zwecks“ ist (Derrida 1992: 124). Darin schwingt Heideggers Satz mit: „Im Gewesen wird Anwesen gereicht.“ (1962: 13) Obwohl Derrida sich übrigens auch explizit an die Theorie der Sprechakte anlehnt, bemerkte er jedoch bezüglich eines Briefs von Paul Cézanne, dem er den Titel seine Buches entliehen hat: „er sagt nichts, was außerhalb des Ereignisses liegt“ (1992: 17). Nur zögerlich wird einstweilen auf die Kunsttheorie von Heidegger in Deutschland hingewiesen. Genauer aufzuarbeiten wäre vor allem der Umstand, dass die Ablehnung der metaphysischen Ästhetik zugunsten einer Ästhetik der Präsenz auch für die traditionelle Kunst, an die Heidegger in erster Linie dachte, neue Aspekte bieten könnte. Die Frage der symbolischen Repräsentation der klassisch-romantischen Musik würde dabei irrelevant, auch die scheinhafte Fiktionalität spielte eine untergeordnete Rolle. Sagen und Zeigen, die sich für die Musik in der Unterscheidung von Ausdruck und Geste verfingen, näherten sich, auch bei großen stilistischen Differenzen, aneinander an. Dennoch lässt einen Kunst als Ereignis, oder mit den Worten von Theodor W. Adorno als Apparition, bezüglich einer näheren Beschreibung so hilflos zurück, wie es Moritz (1788: 53) am Schluss seiner Schrift andeutet, die er einer Neudefinition von Kunst widmete. „Und von sterblichen Lippen, läßt sich kein erhabeneres Wort sagen, als: es ist!“. Heidegger seinerseits hat ebenfalls ein Eingeständnis der Unmöglichkeit, Kunst
Auf den Bezug zur Theorie des Erhabenen, dabei auf die Einflüsse von Immanuel Kant und Edmund Burke einzugehen, würde hier den Umfang sprengen.
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durch Reflexion zu erreichen, geleistet: „Dies alles bedenkend treiben wir in widersprechenden Aussagen umher“, schrieb er (1962: 3). Obwohl eine genaue Bestimmung des Quid der Kunst unmöglich erscheint, meine ich, man sollte sie immer von Neuem versuchen. Denn dies dient der Vergegenwärtigung, dass es etwas jenseits der Anschauungskategorien Liegendes gibt, oder wie Goethe am Schluss von Faust II bemerkt, ein ‚Unbeschreibliches‘.
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Adorno, Theodor W. 1970: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. Anders (Stern), Günther 1927: Zur Phänomenologie des Zuhörens, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 11/12, S. 610 – 619. Anders (Stern), Günther 2001: Sein und ontologische Differenz (Manuskript), in: Günther Anders: Über Heidegger, hg. v. G. Oberschlick, München, S. 367 – 376. Batteux, Charles 1746: Les beaux arts réduits à un même principe, Paris. Bloch, Ernst 1959: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt: a. M. Böhm, Gottfried 2001: Repräsentation – Präsentation – Präsenz, in: ders. (Hg.): Homo Pictor, Leipzig, (Colloquia Raurica 7), S. 3 – 13. Chion, Michel 1993: Le poème symphonique, Paris. Derrida, Jacques 1992: Die Wahrheit in der Malerei, hg. v. P. Engelmann, übers. v. M. Wetzel, Wien; (La Vérité en peinture, Paris 1978). Dukas, Paul 1980: Nocturnes de Debussy, in: ders.: Chroniques musicales sur deux siècles 1892 – 1932, hg. v. J. V. Richard, Paris, S. 143 – 145. Ellensohn, Reinhard 2008: Der andere Anders. Günther Anders als Musikphilosoph, Frankfurt a. M. Goethe, Johann Wolfgang von 1920: Italienische Reise, in: ders.: Werke, (Sanssouci-Ausgabe), Bd. 2, Potsdam; (o. J.; ca. 1920). Hartmann, Nicolai 1953: Ästhetik, Berlin. Heidegger, Martin 1929: Was ist Metaphysik?, 7. Aufl. Frankfurt a. M. 1955. Heidegger, Martin 1950: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders.: Holzwege, Frankfurt a. M., S. 7 – 68. Heidegger, Martin 1962: Zeit und Sein, in: ders.: Zur Sache des Denkens, 2. Aufl. Tübingen 1976, S. 1 – 25. Kurth, Ernst 1931/1947: Musikpsychologie, Bern. Lyotard, Jean-François 1986: Philosophie und Malerei, übers. v. M. Karbe, Berlin. Marquard, Odo 1989: Aesthetica und Anaesthetica, Paderborn / München. Moritz, Karl Philipp 1788: Über die bildende Nachahmung des Schönen, Braunschweig. Valéry, Paul 1957: La situation de Baudelaire, (1924), in: ders.: Œuvres complètes, hg. v. J. Hytier, Bd. 1, Paris.
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Zeichen- und interpretationsphilosophische Musikästhetik Replik zum Beitrag von Helga de la Motte Auf überaus luzide und souveräne Weise entwickelt Helga de la Motte ihre Thesen zum „historischen Wandel ästhetischer Konzeptionen“ (de la Motte-Beitrag, vor Kap. 1) in der Musik. Sie tut dies mit besonderer Konzentration auf die in der Geschichte und Gegenwart der Musik zentralen Begriffe der ‚autonomen Musik‘, des ‚musikalischen Ausdrucks‘ und der ‚musikalischen Geste‘. Explizit entwickelt De la Motte ihre Thesen im Ausgang von zwei Annahmen der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie]. Zum einen (a) greift De la Motte den Punkt auf, dass die basalen Formen und Entwicklungen unserer IchWir-Weltbeziehungen in sich irreduzibel dynamisch, temporal und durch epochenspezifisch bestimmte ZuI-Schemata, nicht jedoch durch überzeitliche Konstanten oder axiomatische Regeln bestimmt sind. Dieser Punkt wird von ihr im Felde der musikalisch-ästhetischen Konzeptionen und ihres Wandels zum Zuge gebracht und exemplifiziert. Zum anderen (b) zieht sie Aspekte aus meiner Abhandlung Sagen und Zeigen (SZI Kap. 8) heran, welche Unterscheidung in den Fragen der Autonomie der Musik, des musikalischen Ausdrucks und der musikalischen Gesten von besonderer Relevanz ist. De la Mottes Beitrag exemplifiziert die grundlegende These der ZuI-Philosophie, dass die Geschichte des Wandels musikalischer ästhetischer Konzeptionen als eine Geschichte des dynamischen Wandels und unterschiedlicher Dominanzen von ZuI-Schemata verstanden und rekonstruiert werden kann. Mit der Musik und des näheren den musikalischen Klängen bewegen wir uns nun (nach der Erörterung der Stellung der Bilder in meinen Repliken auf Horst Bredekamp und Denis Thouard) explizit in einer weiteren und überaus grundlegenden Gestalt nicht-sprachlicher ZuI-Prozesse. Auch in den Dialog in Sachen Musik trete ich gern und mit hohem Engagement ein. Ich tue dies, indem ich die folgenden vier Themenfelder adressiere: 1.Wandel ästhetischer Konzeptionen als Wandel der ZuI-Schemata. 2. Musikalische Expressivität als ZuI-Expressivität. 3. Musikalische Gesten als ZuI-Spiele. 4. ZuI-Ästhetik jenseits der Dichotomie von Rezeptionsästhetik und Werkästhetik.
https://doi.org/10.1515/9783110522280-053
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1 Wandel ästhetischer Konzeptionen als Wandel der Zeichen- und Interpretationsschemata Meisterlich rekonstruiert De la Motte die Wandlungen des Begriffs ‚musikalischer Ausdruck‘ von seinem ersten Auftreten in der Musiktheorie der italienischen Renaissance bis in die Gegenwart. Aus Sicht der ZuI-Philosophie sind im Blick auf diese Entwicklungen zunächst vor allem zwei Aspekte hervorzuheben. Zum einen (a) dass die Entwicklungen und Übergänge in ein dann jeweils verändertes Verständnis der Rolle und des Profils des musikalischen Ausdrucks keineswegs einer vorab etablierten (metaphysischen) Regel- oder gar Gesetzmäßigkeit folgen. Die Übergänge können vielmehr als Ergebnisse der jeweils kulturund epochenspezifisch dominanten oder dominant werdenden Zeichen- und Interpretationsschemata angesehen werden. Die Wandlungen ästhetischer Konzeptionen können als ZuI-Ketten beschrieben werden. Die Rede von ‚Ketten‘ soll hier sowohl hervorheben, dass es sich nicht um Verhältnisse der logischen oder kausalen Determination, als auch betonen, dass es sich nicht um beliebige Abfolgen handelt. In den dynamischen Entwicklungen der Musikgeschichte finden wir nicht ein Entwicklungs-Apriori oder eine Entwicklungs-Axiomatik, zumal dann nicht, wenn die Betrachtung nicht auf Europa begrenzt wird, sondern auch die anderen Kulturen einbezieht. Wir finden auch nicht so etwas wie Die-Eine-Über-Regel die alle überhaupt möglichen musikalischen Entwicklungen und Konzeptionen logisch oder kausal determiniert. Letztlich drohte die Suche nach einer solchen ÜberRegel die Lebendigkeit, die affizierende Kraft, die basale Offenheit und die sinnliche Individualität musikalischer Klanggestalten sowie die in diesen exemplifizierten Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten zu zerstören. Zwar lassen sich spezifische Entwicklungslinien, Überschneidungen, ‚Familienähnlichkeiten‘ (Nietzsche, Wittgenstein), aber eben auch ganz unterschiedliche Muster und Eigenschaften musikalischer Klänge, Erfahrungen und Konzepte finden. Aber wir können die irreduzible Vielheit musikalischer Klänge, Erfahrungen und Konzeptionen eben nicht auf so etwas wie Das-Eine-Wesentliche Musikmerkmal, das dann allen musikalischen Eindrucks- und Ausdrucksereignissen gemeinsam sein soll, reduzieren. Auch die musikalischen ZuI-Ereignisse lassen sich nicht auf ein einziges allen gemeinsames Merkmal zurückführen und aus diesem ableiten. Zum anderen (b) können die Binnenprozesse der jeweiligen musikalischen Konzeptionen (wie zum Beispiel des musikalischen Ausdrucks und der Autonomie der Musik) als spezifische ZuI-Schemata beschrieben werden.
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Solange die Musik vornehmlich als Vokalmusik verstanden wurde (zwischen Renaissance und bis zur Zeit um 1800), übte sie eine gleichsam dienend interpretatorische Funktion aus. Das ist der Fall, wenn, wie De la Motte zu Beginn Ihres Beitrages darlegt, der musikalische Ausdruck in der Renaissance vor allem dazu diente, den richtigen und ausmalenden musikalischen Ausdruck für die zu interpretierenden Worte zu liefern. In diesem Sinne interpretiert der musikalische Ausdruck kraft rhetorischer Figuren und Allegorien den Gehalt, die Bedeutung der Worte, bei Priorität des Gehalts der Worte. Die musikalischen Zeichen interpretieren die ihrerseits ZuI-verfassten sprachlichen Zeichen in ihren semantischen Gehalten (Bedeutung, Referenz, Sinn, Signifikanz, Relevanz). Das ist auch noch der Fall, wenn mithilfe der Musik in einem instrumentellen Sinne Affekte zum Ausdruck gebracht werden sollen. In dieser Konzeption von musikalischem Ausdruck hatte, wie De la Motte betont, die Musik eine vor allem untermauernde und darstellende Funktion. Aus Sicht der ZuI-Philosophie war in dieser Epoche der Vokalmusik ein spezifisches ZuI-Schema in Bezug auf die Funktion und den Status der Vokalmusik in ihrem Verhältnis zum Wort am Werke. In dieser Ausdrucksfunktion wurde Musik noch nicht als autonom, noch nicht als vom Wort und von den sprachlichen Zeichen emanzipiert und unabhängig verstanden. Dieser Schritt erfolgte erst im Übergang von der Vokalmusik zur Instrumentalmusik und darin zugleich von dem bis dato dominanten zu einem neuen ZuISchema musikalisch ästhetischer Konzeption und Erfahrung. Jetzt ging es um die Autonomie der Musik, wie De la Motte eindrücklich vor Augen führt. Unter dem Einfluss von Lessing und vor allem von Goethe wurden Kunstwerke und so auch musikalische Werke von nun an als in und aus sich selbst autonome und abstrakte Symbolgebilde angesehen. Auf diese Weise kam seit der Zeit um 1800 ein neues Zeichen-, Symbol- und Interpretationsschema zu seiner bis heute so überaus dominanten Rolle. Dieser Prozess kann auch wie folgt beschrieben werden: Ein bestimmtes ZuISchema wird durch ein anderes ZuI-Schema abgelöst und ersetzt. Beide Schemata weisen zwar Verbindungen untereinander auf und letzteres folgt offenkundig auf ersteres. Aber es besteht keine logische oder kausale oder anders geartete Determination der Ablösung des einen durch das andere dann dominierende ZuISchema. Das Verhältnis zwischen einem spezifisch zeichen-verfassten und interpretations-bestimmten Schema (zum Beispiel des ZuI-Schemas des ‚musikalischen Ausdrucks‘ in der Vokalmusik) und einem Nachfolge-Schema (zum Beispiel des ZuI-Schemas der ‚autonomen Musik‘ in der Instrumentalmusik) ist keines der Determination. Es ist auch im Falle musikalischer ZuI-Wandlungen letztlich ein Verhältnis der Offenheit, im Prinzip der Möglichkeit polyvalenter neuer und kreativer ZuI-Anschlüsse und ZuI-Neuorientierungen.
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Im Übergang zur Autonomie der Kunst und des näheren der autonomen Musik sind vor allem zwei Aspekte des neuen ZuI-Schemas relevant. Zum einen (i) wird jetzt gleichsam von der Musik selbst bzw. von der inneren Natur musikalischer Klanggestalten selbst her ein ZuI-Schnitt zwischen der Musik und den anderen Künsten gezogen. Zum anderen (ii) stellen die Konzentration und das „ästhetische Postulat“ (Kap. 2) autonomer Musik eine höchst bemerkenswerte und bis heute folgenreiche Selbstinterpretation des dominanten musikalischen ZuI-Schemas dar. In ihrer Autonomie soll der Musik fortan nicht erst von anderenorts her Bedeutung, Gehalt, Sinn und Relevanz zukommen. Als autonome Musik wachsen der Musik vielmehr alle sie bestimmenden Merkmale ganz aus sich selbst als musikalische Klanggestaltung heraus zu. Mit der skizzierten Wandlung der ästhetischen Konzeption geht die Emanzipation des musikalischen Ausdrucks von der Sprache einher (vgl. Kap. 3). Zeichen- und interpretations-philosophisch heißt dies, dass eine Emanzipation der musikalischen von den sprachlichen Zeichen und Interpretationen stattfindet. Das ist ein einschneidender und überaus folgenreicher Prozess. Die Dominanz der Sprache und des Begrifflichen wird durch die Kraft eines nicht-sprachlichen ZuISystems, die autonome Musik, gebrochen. Zugleich ist damit auch gesetzt, dass es jetzt einer veränderten und neuen ästhetischen Konzeption, eines neuen ZuISchemas bedarf. Es geht jetzt um die Autonomie der Musikkunst, vor allem der Instrumentalmusik, und damit aus ZuI-philosophischer Sicht um die Herausforderung, eine ZuI-philosophische Konzeption der Autonomie und der autonomen Ausdruckskraft zu formulieren. Thematisch geht es darin vor allem darum, diejenigen Kräfte zu adressieren, die die Werke der Instrumentalmusik ganz aus sich selbst heraus, aus ihren Klanggestalten heraus und ganz auf sich selbst als symbolische Gebilde bezogen in ihren Klängen verkörpern. Nachdrücklich weist De la Motte darauf hin, welch hohe „Vorbildfunktion“ (Kap. 3) die Musik in ihrem Denken in Klängen bereits im 19. Jahrhundert und bis heute für Malerei und Dichtung, überhaupt für die Bildenden Künste hatte. Sie erinnert an die diesbezüglich prononcierten Positionen etwa von Paul Valéry, Joseph von Eichendorff und anderen. In der Musik wird jetzt nicht mehr zwischen der Bedeutung eines musikalischen Klangs und der materialen Qualität des Klangs unterschieden. Die genuine Kraft einer Klanggestalt wird vielmehr ganz in seiner Präsenz gesehen. Auf diese Weise wird ein „Sonderstatus“ der ästhetischen Erfahrung generell und der musikalischen ästhetischen Erfahrung im Besonderen formuliert. Auf den Punkt trefflich formuliert De la Motte die neue und herausfordernde Situation: „Der musikalische Ausdruck ist keine Aussage, er geschieht im Eindruck, der allenfalls nur als ein Hinzeigen auf etwas Unfassbares erlebt werden kann.“ Es geht um eine „Eindrucks-Ausdrucksverschränkung durch emotionales Beteiligtsein“ (ebd.).
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Dass spätestens nach dem zweiten Weltkrieg diese Bindung des musikalischen Ausdrucks und dessen „gesteigerter Emotionalität“, wie sie in sinfonischen Werken ausgedrückt wurde, als eine „Lüge“ angesehen wurde und deshalb die „Ausdrucksschicht“ ganz „getilgt“ werden sollte (Kap. 4), bezeichnet eine Entwicklung, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Ich finde diese Entwicklung nicht gerade spannend und erhellend. Der Musik ihre Dimension des Ausdrucks nehmen zu wollen, droht zu einer folgenreichen Verarmung der Musik beizutragen. Stattdessen möchte ich eine Unterscheidung vorschlagen zwischen der Rede vom ‚Ausdruck der Musik‘ (welche Rede an innere psychische, des näheren emotionale und gefühlte Zustände und Beteiligungen gekoppelt ist) und der Rede von der ‚Expressivität bzw. der expressiven Qualität der Musik‘ (in der die inneren psychischen Verbindungen sowie ein damit korrelierter musikalischer Psychologismus nicht mehr leitend sind). Wie aber sollte eine solche ZuI-philosophische Konzeption der musikalischen Expressivität aussehen? Es folgen einige wenige Hinweise in dieser Richtung.
2 Musikalische Expressivität als Zeichen- und Interpretations-Expressivität Der Unterschied zwischen musikalischem Ausdruck bzw. musikalischer Expressivität auf der einen und sprachlichen Aussagen auf der anderen Seite ist von grundlegender Relevanz. Dieser Befund schließt Verbindungen zwischen Ausdruck/Expressivität und Sprache sowie zwischen der musikalischen Expressivität und den Expressivitäten anderer Künste keineswegs aus. Aber es gilt: Ausdruck/ Expressivität ist keine Aussage. In der ZuI-Philosophie wird die These vertreten, dass musikalische Expressivität als eine ZuI-Expressivität konzipiert werden kann. Die expressiven Qualitäten von Kunstwerken und insbesondere von musikalischen Klanggestaltungen manifestieren sich in den den tatsächlichen Vollzügen der klanglichen Musikgestalten selbst eigentümlichen Merkmalen und Eigenschaften. Betonen möchte ich hier auch den selbstverständlichen Punkt, dass die gezeigte und exemplifizierte Eigenschaft an den tatsächlich phänomenalen Vollzug, mithin an die sinnliche Intonation des Klangs geknüpft ist, nicht jedoch unabhängig von diesem charakterisiert werden kann. Die klangliche Verkörperung ist konditional. Und die darin sich manifestierende Expressivität ist eine Sache nicht des Sagens, sondern des Zeigens, des näheren, so möchte ich zuspitzen, des Zeigens aus der Form einer ZuI-Praxis heraus und auf diese hin. Wie diese möglicherweise kryptisch klingende Figur verstanden werden kann, möchte
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ich im Folgenden auch unter Zuhilfenahme des von Nelson Goodman entwickelten Konzepts der Exemplifikation verdeutlichen. Während die Denotation eines musikalischen Zeichens bzw. Klangs auf solche Gegenstände verweist, auf die das Zeichen Bezug nimmt (in der Programmmusik zum Beispiel auf das Trillern eines Vogels im Wald), geht es in der Exemplifikation darum, dass ein Zeichen, hier der intonierte Klang, auf Eigenschaften seiner selbst Bezug nimmt und eben diese zum Ausdruck bringt. Man spürt sofort, dass das Exemplifizieren in Sachen musikalischer Expressivität zumal dann eine besondere Rolle spielt, wenn es um die Autonomie vor allem der Instrumentalmusik und um den damit verknüpften Charakter abstrakt-musikalischen Denkens geht. Auch in der exemplifikatorischen oder zeigenden und expressiven Verfassung und Wirkung von musikalischen Zeichen und Klängen, mithin nicht-sprachlicher Zeichen, ist eine eingespielte und gelebte ZuI-Praxis eben dieser Zeichen und Klänge selbstverständlich stets bereits im Einsatz und in Anspruch genommen.¹ Dass sprachliche Zeichen, sollen sie semantische Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen) besitzen, stets bereits interpretierte und interpretierende Zeichen sind, wird in der Regel schnell eingeräumt. Wichtig ist mir aber nachdrücklich herauszustellen, dass natürlich auch die nichtsprachlichen Zeichen, wie zum Beispiel Gesten, Bewegungen und eben auch musikalische Klänge, ihre Lebendigkeit und Expressivität vornehmlich der Voraussetzung entsprechender ZuI-Praxen verdanken. Dieser Befund gilt auch für neu auftretende und bislang gänzlich unvertraute Zeichen und Klänge, wie sie sich in der Musik etwa im Zuge neuer satztechnischer Möglichkeiten ergeben können. Die aus Sicht der ZuI-Philosophie wichtigsten Aspekte hinsichtlich der Expressivität musikalischer Klänge sind die folgenden sieben: (a) Wenn musikalische Klänge expressiven und ausdrückenden Charakters sind, dann werden darin selbst-referenziale Beziehungen ausgedrückt. Solche selbstbezüglichen und sich in rückkoppelnden Schleifenbildungen manifestierenden Verhältnisse und Funktionen können daher auch im Falle musikalischer Zeichen und Klänge als ZuI-Verhältnisse und ‐Funktionen charakterisiert werden. In diesem Sinne kann auch die musikalische Expressivität als musikalische ZuIExpressivität charakterisiert werden. (b) Wenn ein Exemplifizieren erlebt und erfahren wird, dann muss bereits auch eine gelebte und erfahrene Kenntnis darüber vorliegen, welche nichtsprachlichen Kennzeichen, zum Beispiel welche Klang-, Farb- oder Gefühls-
Zum Folgenden vgl. ausführlicher (SZI Kap. 8). Im Folgenden greife ich teils wörtlich auf Figuren und Gestalten dieses Textes zurück.
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kennzeichen, exemplifiziert werden. In der Regel liegt auch eine Kenntnis darüber vor, welches sprachliche Prädikat exemplifiziert wird (wenn zum Beispiel und in einem metaphorischen Sinne von einem ‚heiteren‘ oder einem ‚wie von Ferne leichtfüßigen‘ Klang die Rede ist). In diesem Zusammenhang sind mir jedoch drei Unterschiede überaus wichtig. (i) Der Hinweis auf sprachliche Prädikate darf jetzt nämlich nicht mehr mit dem wort-bezogenen älteren Interpretationsschema verwechselt werden, demzufolge die Musik dem Ausdruck sprachlicher Worte diente. Jetzt dagegen geht es darum, dass es die sprachlichen Prädikate sind, die der musikalischen Expressivität gegebenenfalls zu Diensten sein können und müssen – nicht umgekehrt. (ii) Damit ist auch die Schwierigkeit verbunden, das, was und wie exemplifiziert wird, was und wie uns ein musikalischer Klang affiziert und bewegt, nicht ohne weiteres und nicht direkt in sprachlichen Ausdrücken artikulieren zu können. Aber auch hier gilt, dass ein gelungenes Affiziert- und Bewegtwerden durch die nicht-sprachlichen musikalischen Zeichen und Klänge stets bereits in einer inneren Beziehung zu einer zugrundeliegenden ZuI-Praxis stehen muss. (iii) Um diese Verkehrung des Verhältnisses von Musik und Sprache, von musikalischem Klang und sprachlichem Prädikat, plastisch vor Augen zu führen, greife ich auf die sehr treffliche Formulierung von Nelson Goodman zurück, dass Expressivität und Ausdruck nicht einfach bloß buchstäbliche Exemplifikation sind, sondern als ‚metaphorische Exemplifikation‘ adressiert werden sollten. Die Pointe dieser Bestimmung ist leicht zu verdeutlichen. Ein intonierter musikalischer Klang, der Traurigkeit ausdrückt bzw. ein, wie wir dann abkürzend, aber trefflich sagen, ‚trauriger Klang‘ ist in seiner musikalischen Verfasstheit und Klanglichkeit selbst nicht traurig. Er vergießt zum Beispiel keine Tränen und ist selbst nicht niedergeschlagen. (c) Welche nicht-sprachlichen Kennzeichen und welche sprachlichen Prädikate in der musikalischen Expressivität instanziiert, ausgedrückt und exemplifiziert werden, hängt offensichtlich von der ZuI-Praxis ab, die in einer gegebenen Zeit und Kultur als die dominierende, die unsere musikalischen Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten organisierende und orientierende ZuI-Praxis in Kraft ist. (d) Ein musikalischer Klang kann viele Eigenschaften, Kennzeichen und Prädikate instanziieren (zum Beispiel die Eigenschaft, soeben von dem Soloviolinisten der Berliner Philharmoniker intoniert worden zu sein). Aber nicht alle Eigenschaften, nicht-sprachlichen Kennzeichen und sprachlichen Prädikate werden auch ausgedrückt bzw. exemplifiziert. Denn zu letzterem ist erforderlich, dass das Zeichen bzw. der musikalische Klang als ein Symbol für das instanziierte Kennzeichen fungiert (vgl. Goodman 1968: 53). Für das, was das Zeichen bzw. der Klang exemplifiziert und wodurch er für mich bedeutsam und relevant wird, mich affiziert, mitnimmt, bewegt und zu denken gibt, sind nicht die unbegrenzt vielen
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instanziierten, sondern die exemplifizierten und unter diesen wiederum die spezifisch expressiven Eigenschaften und Kennzeichen entscheidend. Offenkundig können die Grenzen zwischen den instanziierten und den exemplifizierten und expressiven Kennzeichen als ZuI-Grenzen angesehen werden. Auch in diesem Sinne kann die musikalische Expressivität als eine ZuI-Expressivität adressiert und modelliert werden. (e) Den exemplifizierenden und darin expressiven Zeichen und Klängen sind stets bereits obere Reichweiten sowie untere Grenzen des Kennzeichnens gezogen. Sie manifestieren sich in dem Umstand, dass ein Zeichen oder ein Klang faktischphänomenal nicht alle seine besessenen Eigenschaften zugleich zeigen bzw. ausdrücken kann. Zeichen und Klänge bleiben stets auf das jeweils zugrunde liegende ZuI-Schema und dessen Spielräume bezogen. Zudem ist es so, dass ein konkretes Zeichen in seiner sinnlichen ästhetischen Prägnanz dies-und-dies hier und jetzt (Heiterkeit zum Beispiel), nicht aber zugleich jenes (Übermut zum Beispiel) ausdrückt. Hinzu tritt der Aspekt, dass wir das intonierte Zeichen bzw. den musikalischen Klang, der uns direkt affiziert, auch im Affiziertwerden direkt verstehen. Mit solcher Rede von ‚direkt‘ meine ich ein Verstehen ohne zusätzliche Vermittler, die erst noch dazwischengeschaltet werden müssen. Auch hier zeigt sich, dass sich im Exemplifizieren und in der Expressivität bzw. im Ausdruck (verstanden als metaphorische Exemplifikation) die Form unserer ZuI-Praxis manifestiert. (f) In ihren syntaktischen und satztechnischen Mitteln ist Musik „sehr erweiterbar“ (Kap. 3), nicht jedoch, so betont De la Motte, bezüglich ihres Ausdrucks. An dieser Stelle möchte ich zwei weitere Grenzen des musikalischen Ausdrucks hervorheben. Zum einen (i) kommt hier in der Tat eine weitere Grenze des Exemplifizierens ins Spiel, die ebenfalls als eine ZuI-Grenze angesehen werden kann. Diese besteht darin, dass wir bis auf weiteres nicht davon ausgehen können, dass sich das Arsenal unserer menschlichen Grundgefühle (einschließlich deren physiobiologischer Korrelate) über gewisse Grenzen hinaus beliebig erweitern lässt. Mit dieser „Bindung an die Gefühlsstruktur“ (ebd.) ist dem Reich auch des musikalischen Ausdrucks eine Grenze gesetzt. Zum anderen (ii) beruhen jede So-und-so-Exemplifikation und So-und-so-Expressivität darauf, dass Grenzen der Spezifität des Ausdrucks gezogen werden müssen bzw. stets bereits gezogen worden sind, wenn Expressivität bzw. Ausdruck vorliegt. Anderenfalls wäre der Ausdruck diffus und nicht-prägnant, weil nicht-individuiert (wäre nicht zum Beispiel Ausdruck entspannter Heiterkeit im Unterschied zum Ausdruck angespannter Euphorie oder trauriger Melancholie). (g) Trotz der drei skizzierten Grenzen (exemplifikatorisches Kennzeichnen, Arsenal der Grundgefühle, spezifische Prägnanz) möchte ich einen überaus wichtigen Sinn von Unbegrenztheit musikalischer Klänge hervorheben. Damit
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meine ich nicht doch noch eine Überschreitung der drei skizzierten Grenzen. Ich meine vielmehr die mit dem musikalischen Klang und seiner exemplifikatorischen und expressiven Natur mögliche Intensität des musikalischen Klangerlebens selbst. Die Intensität des Erlebens eines musikalischen Klangs ist unbegrenzt. Sie variiert je nach Person, Situation, Zeit, Disposition und Empfindlichkeit. Dass uns ein musikalischer Klang im Innersten berühren und, wie es trefflich heißt, in Mark und Knochen fahren kann, hängt nicht zuletzt mit den beiden folgenden Aspekten zusammen. Zum einen (i) ist der Umstand anzuführen, dass, wie Nietzsche annahm, die Tiefenstruktur unserer existenziellen Ich-Wir-Weltbeziehungen selbst musikalisch verfasst zu sein scheint und es daher zu natürlichen Resonanzen kommen kann. Diese Annahme macht verständlich, wieso die Musik so tief in die Strukturen unseres Selbst-, Fremd- und Weltverhältnisses zu wirken vermag. Zum anderen (ii) ist der Umstand zu nennen, dass wir im Falle musikalischer Zeichen und Klänge nicht, wie im Falle sprachlicher Zeichen, eine Unterscheidung treffen können zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten. Nicht zuletzt darauf beruht die im Falle musikalischer Zeichen und Klänge so herausragende Eigenschaft, die skizzierte exemplifikatorische Expressivität zu verkörpern und zu zeigen. In diesem Sinne sind musikalische Klänge in ihrer Klanggestalt im Moment ihrer Intonation klang-phänomenal und erlebnismäßig in sich unbegrenzt. Hier treffen wir auch auf einen weiteren überaus aufschlussreichen Aspekt der Sonderstellung der Musik bzw. der musikalischen ZuI-Prozesse gegenüber anderen ZuI-Prozessen. Im musikalischen Klangerlebnis kann es zu einem Zusammenwirken der skizzierten musikalischen Unbegrenztheit und des direkten musikalischen Zeichenverstehens kommen. Mit ‚Direktheit‘ sei auch hier einfach gemeint, dass es in den Prozessen des Zusammenfallens von musikalischem Eindruck und musikalischem Ausdruck keiner weiteren epistemischen Brückenprinzipien oder Mediatoren bedarf. Doch wohlgemerkt: ich verwende hier die Formulierung ‚direkt‘, spreche also nicht von ‚unmittelbar‘ im Sinne von ‚gänzlich unvermittelt‘. Denn da es sich ja um ZuI-Expressivität und ‐Ausdruck handelt, sind vor allem auch die Prozesse des direkten musikalischen Zeichenverstehens Manifestationen höchst komplexer ZuI-Prozesse. Freilich bemerken wir im Moment des Klangerlebens selbst diese tief eingespielten komplexen ZuI-Prozesse nicht bewusst. Direktes musikalisches Zeichenverstehen hat eher etwas mit der Eleganz der Bewegungen des Tausendfüßlers zu tun.
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3 Musikalische Gesten als Zeichen- und Interpretations-Spiele Eindrucksvoll zeigt De la Motte, dass und in welchem Sinne in der neuen Musik die musikalischen Gesten eine überaus wichtige Rolle spielen. Gesten, wie zum Beispiel die Bewegungen eines Dirigenten, können eine „imperative oder eine expressive Funktion“ (Kap. 5) haben. Gesten wurden auch deshalb zunehmend relevant, weil es in der Musik nicht mehr auf vollblütige Weise um Emotionen im traditionellen Sinne geht. ZuI-philosophisch finde ich Gesten als nicht-sprachliche Zeichenformen überaus spannend und in der musikalischen Sache sehr wichtig. Die bedeutungsstiftende Relevanz der musikalischen Gesten kann auch so beschrieben werden, dass mit ihnen ein neues ZuI-Schema Einzug in die Musik hält, und zwar sowohl in die Musiktheorie als auch in die Kompositionspraxis und in die zugehörige ästhetische Konzeption. De la Motte unterscheidet und beschreibt drei Typen der Verwendung von Gesten in der neuen Musik. Alle drei Typen scheinen mir von zeichen-interpretativer Verfasstheit zu sein und können daher auch als ZuI-Spiele beschrieben, analysiert und modelliert werden. (a) Als einen ersten Typus führt De la Motte die „Spielgesten“ bzw. das „gestische Spiel“ an, wie sie zum Beispiel in Mauricio Kagels „instrumentalem Theater“ und in Dieter Schnebels „visueller Musik“ vorliegen (Kap. 5). Musikalische Strukturen werden hier durch körperliche und selbst nicht klingende Aktionen und Gesten der Musiker überlagert, welche einen ganzen Spiel- und KlangRaum einbeziehen können. Als ZuI-Spiele können diese Kompositionen und Praktiken in zweifacher Hinsicht angesprochen werden. Zunächst (i) kann der Rekurs auf körperliche Gesten in dem Sinne als ein ZuI-Rekurs angesprochen werden, dass es sich um einen gezielten Rückgriff auf körperliche Gesten, und nicht zum Beispiel auf klangliche Eigenschaften, handelt. Sodann (ii) verkörpert die enaktive Verbindung von (im Falle von Dieter Schnebel) Visuellem und Musikalischem ein genuines ZuI-Verhältnis zwischen visuellen und musikalischen Zeichen, mithin zwischen zwei nicht-sprachlichen Typen von Zeichen und Interpretationen. In puncto ZuI-Charakter können wir zu den Mechanismen der Wechselspiele zwischen Sprache und Bild oder zwischen Sprache und Musik, also zwischen einem sprachlichen und einem nicht-sprachlichen System, einiges sagen. Was jedoch die Mechanismen der Wechselspiele zwischen zwei oder mehreren Kunstformen nicht-sprachlicher Art, wie etwa das Verhältnis zwischen Visuellem und Musikalischem angeht, so wissen wir bislang so gut wie kaum etwas darüber, jedenfalls kaum etwas Substantielles. Sicher ist jedenfalls, dass die visuellen Gesten die musikalische Struktur auf eine genuin eigene und möglichst direkte
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Weise interpretieren und darin ihrerseits mit zeichen-interpretativen Korrelierungen und Schematisierungen operieren und umgekehrt. Die Aktionen und Spielgesten der Musiker interpretieren die musikalische Struktur ebenso, wie in rückkoppelnden Schleifenbildungen diese jene interpretiert und diese Rückkopplungen mit genuin eigenen Verschränkungs- und Evidenzweisen versieht. Im ‚gestischen Spiel‘ haben wir es mit dichten Verschränkungen und visuellen Evidenzen von ZuI-Beziehungen zu tun. (b) Als einen zweiten Typus von Gesten führt De la Motte die „Klangesten“ an. Hier geht es um Gesten, die „innermusikalisch aus Klängen gewonnen werden“ (Kap. 5). Mit Hinweis auf Iannis Xenakis und vor allem auf Edgard Varèse und auch auf Morton Feldman beschreibt De la Motte, dass es hier vor allem um die den musikalischen Klängen selbst innewohnenden Kräfte und Energien (wie zum Beispiel der Dichte, Stärke, Spannung und Entspannung der Klänge) geht, die in einem „vielfältigen Spiel“ in einem „vektoriellen Raum“ zu Klanggesten führen (ebd.). Diese Klanggesten sind für das musikalische Fortschreiten bzw. die Fortentwicklung der musikalischen Gestalten in der Zeit und im Raum von grundlegender Wichtigkeit. Vor allem in den Kompositionen von Varèse bewirken De la Motte zufolge die „innermusikalischen Kraftverhältnisse“ den „räumlichen“ Eindruck (ebd.). In zumindest vier Hinsichten lassen sich die skizzierten musikalischen Klanggesten als ZuI-Prozesse beschreiben, analysieren und modellieren. Zunächst (i) können die jetzt grundlegenden Dimensionen der musikalischen Prozesse (nämlich Dichte, Stärke, Energie, Spannung, Entspannung) auf der Ebene des musikalischen Materials selbst als ZuI-Größen gefasst werden. Alle diese Größen und Prozesse spielen sich, so möchte ich sagen, in einem topologischen ZuI-Raum ab. Rückkoppelnd machen sie in ihren topologischen Zusammenspielen den musikalischen ZuI-Raum aus, in dem und auf den hin sich vor allem auch die Klanggesten im Sinne der neuen Musik vollziehen. Sodann (ii) unterscheidet sich die in Klanggesten spezifisch eingesetzte Kompositionstechnik von anderen Typen satztechnischer Arbeit. Im Sinne eben dieses Schnitts und Unterschieds im Verhältnis zu anderen Satztechniken verkörpert die gesten-bezogen eingesetzte Kompositionstechnik eine spezifische Weise musikalischer ZuI-Kompositionstechnik. Schließlich (iii) haben wir es in den aus den musikalischen Klängen selbst gewonnenen Gesten zugleich mit einer bestimmten Weise des Affiziertwerdens und des musikalischen Erlebens zu tun. Diese Weisen führen zu der Annahme, dass jede spezifisch affizierende ebenso wie jede spezifisch ausdrückende und vor allem: jede individuierte Klanggestalt angesichts ihrer spezifischen Individuiertheit als eine ZuI-Klanggestalt, jede erlebte und ausgedrückte, mithin jede individuierte Klangwelt als eine ZuI-Welt angesprochen werden kann.
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Schlussendlich (iv) ist auch in diesem Zusammenhang zu betonen, dass die jeweils zugehörige ästhetische Konzeption als das Resultat der Arbeit eines bestimmten Zeichen- und Interpretationsschemas gefasst werden kann. (c) Als dritten Typus von Klanggesten führt De la Motte die Geste des „Zeigens“ ins Feld, genauer: den „Aspekt des Vorzeigens“ oder des „Hinzeigens“ im Sinne dessen, was sie mit Odo Marquard als ein „Sehen des Übersehenen“ sowie im Blick auf die Musik von John Cage als ein „Hören des Überhörten“ bezeichnet (Kap. 5). De la Motte knüpft hier explizit an meine Ausführungen zum Zeigen an. Das Zeigen und nicht zuletzt das sinnliche Zeigen im Sehen oder Hören kann, da stets bereits sinnlich-individuiert, als ein sinnliches ZuI-Konstruktbilden und das darin Gezeigte als ein visuelles und perzeptives ZuI-Konstrukt angesehen, analysiert und modelliert werden. Hinzu tritt der weitere Gesichtspunkt, dass es nicht zuletzt dieser hinzeigende und vorzeigende Charakter des tatsächlichen musikalischen Erlebens und Erfahrens ist, wodurch neue, bislang noch nicht gesehene oder gehörte ZuI-Aspekte eröffnet werden.
4 Zeichen- und Interpretations-Ästhetik jenseits der Dichotomie von Rezeptionsästhetik und Werkästhetik De la Motte wirft die Frage auf, ob nicht im Anschluss an meine starke Akzentuierung des sinnlichen Zeigens ein Umdenken geboten sei zugunsten einer „Rezeptionsästhetik“ an Stelle der bisherigen „Werkästhetik“. Dabei müssten dann wohl, so fragt sich De la Motte, „ästhetische Reflexionen über die kompositorische Intention im Mittelpunkt stehen?“ (Kap. 5) Ich nutze die Chance zur Beantwortung dieser Frage, um zwei Thesen zu profilieren: erstens die These, dass ich die ZuI-Ästhetik gar nicht mehr in dem älteren Würgegriff der Dichotomie von Rezeptionsästhetik und Werkästhetik sehe. Alles scheint mir vielmehr darauf anzukommen, jenseits dieser älteren Dichotomie Fuß zu fassen. Zweitens möchte ich die These formulieren, dass in der ZuI-Philosophie das Plädoyer für eine „Ereignisästhetik“ (Kap. 6) zwar favorisiert wird, deren nähere Konzeption allerdings nicht in einer Verbindung mit der Heideggerschen und auch postmodernistischen Rede vom ‚Ereignis‘ zu sehen ist. Zu These 1: Rezeptions- und Werkästhetik. Offenkundig steht mit der Dichotomie von Rezeptions- und Werkästhetik die grundsätzliche Frage im Raum, welche Kunstauffassung und Ästhetik und mit welchen Gründen in der ZuI-Philosophie vertreten werden kann. Zunächst sei angemerkt, dass die genannte Dichotomie einen meines Erachtens unzutreffenden und nicht vertretbaren Dua-
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lismus darstellt. Ihn zu vertreten wäre eine Verteidigung eines älteren Schemas, in dem Grundcharakteristika künstlerischer und speziell musikalischer Erfahrungswirklichkeiten nicht angemessen berücksichtigt werden. Im Kern bin ich einfach deshalb nicht mehr bereit, die älteren Beweislasten zu übernehmen, weil die tatsächlichen musikalischen Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten prinzipiell a-dualistischer Art, a-dualistische Vollzüge musikalischen Erlebens und Erfahrens sind. In diesen Erlebnissen benötigen wir glücklicherweise keine Vermittler und keine Brückenprinzipien zwischen Rezeptions- und Werkästhetik. In der ZuI-Ästhetik wird vielmehr die Auffassung vertreten, dass die ästhetische und speziell die musikalische Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeit dynamische, temporale, Möglichkeiten und Alteritäten eröffnende Prozesse, mithin im Kern prozessual verfasste ZuI-Prozesse sind. Es handelt sich dabei um a-dualistische Prozesse rückkoppelnder Schleifenbildungen zwischen den unterschiedlichen Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten musikalischer Klänge. Hier von rückkoppelnden Schleifenbildungen zu sprechen, meint einfach Prozesse der folgenden Art: Wir können sinnlich bzw. musikalisch affiziert werden und gehen dann aus diesem affizierten Zustand rückkoppelnd und in a-dualistischer Manier wiederum auf weitere sinnlich-klangliche Aspekte der musikalischen Klanggestalt zu, die in ihren Schleifenbildungen von Eindruck und Ausdruck zu der reichhaltigen musikalischen Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeit führen können, mit der wir es möglicherweise zu tun haben. In diesem Sinne geht es vornehmlich um den Prozesscharakter des Hörens oder Wahrnehmens. Aus diesem a-dualistischen Prozesscharakter heraus und auf ihn hin können wir dann durchaus auch heuristische, jedoch keine theoretischen und keine ontologischen Unterscheidungen zwecks weiteren Verständnisses ins Spiel bringen. Alles käme darauf an, die Gegenstände des Hörens und Sehens ganz auf der Innenseite der a-dualistischen und durch rückkoppelnde Schleifenbildungen gekennzeichneten Prozessnatur des Hörens und Sehens zu entfalten – nicht umgekehrt. Mit diesem Programm ist bis in heutige Theorien des Visuellen und Akustischen hinein ein enormes Desiderat der wissenschaftlichen wie der philosophischen Forschung formuliert. Auch in diesem Zusammenhang finde ich die von De la Motte berichtete Einstellung von Edgard Varèse besonders trefflich. Varèse habe einmal gesagt, dass er „beim Komponieren in den Klängen sitze“ und „deren eigenes materiales Leben kompositorisch“ (Kap. 5) nutze. Auch dies kann im Sinne der angesprochenen a-dualistischen rückkoppelnden Schleifenbildung verstanden werden. Zu These 2: ZuI-Ästhetik als prozessuale Ereignisästhetik. Mit Rekurs auf die bekannte Formulierung von Karl Philipp Moritz in Bezug auf ein Kunstwerk, dass „Es ist!“, plädiert De la Motte für eine „Ereignisästhetik“ (Kap. 6). In dieser geht es einer bei Heidegger und in der Postmoderne, zum Beispiel bei Lyotard und auch
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bei Günter Anders anzutreffenden Sicht zufolge um das Dass der Kunst, nicht um das Was. In diesem Dass bzw. darin, dass das Kunstwerk da ist, liege dessen verstörender und herausfordernder Charakter. De la Motte sympathisiert entschieden mit dieser Sichtweise. Das tue ich auch, allerdings mit einem grundlegenden Unterschied zu ihrer Position. Denn ich plädiere entschieden für eine Ereignisästhetik als ZuI-Prozessästhetik, nicht für eine Seins-Ästhetik Heideggerscher Prägung.Während De la Motte ihre Sichtweise in der Linie von Heideggers Kunstwerk-Abhandlung versteht, möchte ich eine Reihe von Bedenken gegen eine solche Sichtweise artikulieren. Zunächst (a) wende ich mich entschieden dagegen, die Rede von ‚Ereignis‘ in dem Kompositum ‚Ereignisästhetik‘ mit Heidegger aus der bekannten ontologischen Differenz zwischen dem konkret Seienden und dem nicht bestimmbaren Sein zu verstehen. ZuI-Philosophie ist keine Seins-Philosophie. Sodann (b) lebt Heideggers Sicht immer noch von einem (zwar immanenten, aber eben doch einem) Rest-Dualismus zwischen dem Seienden und dem Sein. Zwar wird bei Heidegger die Kunst in ihrem Dass-Charakter akzentuiert, aber die ontologische Differenz ist Ausgangspunkt und Leitfaden. Demgegenüber möchte ich mich für einen radikalisierten prozessualen Adualismus des Erlebens und Erfahrens künstlerischer Gestaltungen als ZuI-Erlebnisse und -Erfahrungen der skizzierten Art aussprechen. Schließlich (c) gibt Heideggers Auffassung nicht wirklich Raum für die oben skizzierten zeichen-interpretativ verfassten und rückkoppelnden Schleifenbildungen, die ich für ein prozessual-temporales Verständnis von Kunst sowie der künstlerischen Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten für entscheidend halte. Zugespitzt könnte man sagen: Heidegger hat die Zeichen und die Rückkopplungen im konkreten Erleben und Erfahren von Kunst, speziell der Musik vergessen. Weiterhin (d) ist aus meiner Sicht zu betonen, dass Heidegger im Lichte seiner Sein-Seiendes-Differenz letztlich und entgegen dem ersten Anschein doch nicht primär an den Kunstgestalten in ihren Eigenwertigkeiten und ihrer Sinnhaftigkeit induzierenden Rolle in unseren Ich-Wir-Weltbeziehungen interessiert ist. Er ist, so will es mir, provokant formuliert, scheinen, letztlich an der Kunst als Einfallstor der Frage nach dem Sein interessiert. Darüber hinaus (e) vermag eine prozessuale ZuI-Ästhetik angemessen auch die Gestaltungen neuester Kunst und die Klangkörper zeitgenössischer Musik zu adressieren. Auch in dieser Hinsicht vermag das heuristische Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse einen Beitrag zu leisten. So kann auf der ZuI3-Ebene zum Beispiel ein individuelles Gemälde von Piet Mondrian oder eine zwölftönige Klanggestaltung Arnold Schönbergs auftreten. Betrachten wir dann die Weisen näher, in denen uns diese Kunstgestalten organisiert sind und unser Auge oder Ohr sinnlich affizieren, so haben wir uns mit diesem Ansinnen auf die tieferliegende ZuI2-
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Ebene begeben. Im Falle Mondrians treten auf dieser Ebene organisierende und expressive Muster geometrischer Raster und Flächen in den Grundfarben zutage. Im Falle Schönbergs wird die spezifische Kompositionstechnik der Zweiten Wiener Schule deutlich, kraft deren Schönberg sein Klangmaterial organisiert und mit klang-expressiven Eigenschaften versieht. Fragen wir von hier aus noch weiter nach der existenziellen und sinn-eröffnenden sowie nicht weiter reduzierbaren ästhetischen Dimension, Wichtigkeit und Tragweite künstlerischen und des näheren des musikalischen Erlebens und Erfahrens, dann bewegen wir uns auf der ZuI1-Ebene. Auch in Sachen Kunstgestaltungen kann das (heuristische) ZuI-Stufenmodell sowohl top-down als auch bottom-up gelesen werden. Die wichtige Leistung dieses Modells besteht jedoch nicht darin, das Kunstwerk als Epiphanie, als Magie, als Menetekel, als Mysterium oder als das Undefinierbare erscheinen zu lassen. Diese Figuren sind letztlich noch im älteren Schema der Differenz, ja des Rest-Dualismus von Sein und Seiendem gedacht, mit dem unbestimmten Sein als der gegenüber dem konkreten Seienden vermeintlich wertvolleren Dimension. Demgegenüber versucht die ZuI-Ästhetik, sich dem Würgegriff dieses älteren Schemas zu entziehen. In ihr haben wir es mit einem Versuch zu tun, einem radikal a-dualistischen und durch die skizzierten rückkoppelnden Schleifenbildungen charakterisierten Bild Vorrang zuwachsen zu lassen. In diesem Bild werden die Kunstgestaltungen und Kunsterfahrungen in ihrer sinnlich-künstlerischen Dichte und existenziellen Sinn organisierenden Kraft in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Im Kern gehört dazu auch die Einstellung, dass die Gestaltungen und Erfahrungen nicht in Worten zu beschreiben sind und nicht in sprachlich-propositionalen Begriffen auch nur adressiert, geschweige denn erfasst und ausgedrückt werden können. Zugleich werden die Kunstgestaltungen und Kunsterfahrungen in der ZuI-Ästhetik in ihrer Bedeutsamkeit für die dynamische und temporale Grundstruktur unseres primordial ästhetisch und ethisch (nicht sprachlich-propositional und nicht begrifflich) verfassten Selbst-, Fremdund Weltverständnisses verstanden. Vor allem darin manifestiert sich die zutiefst humane Natur der Kunstgestaltungen und die grundlegende Stellung des Kunsterlebens und Kunsterfahrens für die jeweilige Gestaltung unserer Ich-Wir-Weltbeziehungen, die eben ihrerseits auch als ästhetische und vor allem als musikalische ZuI-Beziehungen beschrieben und modelliert werden können.
Literatur Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretationen, Berlin; [SZI]. Goodman, Nelson 1968: Languages of Art: An Approach to a Theory of Symbols, Indianapolis.
Kapitel 12: Architektur
Fritz Neumeyer
Figuren im Grund Architektonische Spurenlese, angeregt von Günter Abels Interpretationswelten Abstract: Built form produces figures of spatial enclosure written into the ground. As a sign language architecture provides a script of space. Seen as a figure, each ground plan is a sign speaking about communal forms of living and the politics of sharing space. Architectural theory needs to provide a theory of interpretation of spatial recognition with respect to techniques of spatial denotation on the level of figure and ground. It established the fundamental distinction between interior and exterior together with architecture′s capacity to allude to individual perception and collective motivation. The language of architectural form requires recognizable signs with reference to the public character of their use; at this point the symbolic logic of architectural form corresponds with its geometrical and collective nature.
„Wie ist es zu denken, daß unsere Zeichen und Wörter das bedeuten, was sie bedeuten, daß sie Bezug nehmen, worauf sie Bezug nehmen, und daß ihnen etwas Wirkliches entspricht?“ (ZdW 63) Die hier aufgerufenen Fragen betreffen jedes Wahrnehmen, Sprechen und Denken. Die Auseinandersetzung mit ihnen gehört zum Grundanliegen von Günter Abels Allgemeiner Zeichen- und Interpretationsphilosophie¹. Dass von ihr auch Denkanstöße für die theoretische Auseinandersetzung mit der Architektur gewonnen werden können, erklärt sich fast von selbst: In den Werken der Architektur ist gebaute Lebenswirklichkeit zeichenhaft aufgehoben und über lange Zeiträume gespeichert. Diese Bedeutung der Zeichenfunktion als eigentümlicher Bestandteil der gebauten Wirklichkeit hat die Theorie der Architektur bisher nur unzulänglich thematisiert. Auch ist die Behandlung der Zeichensprache der Architektur vornehmlich auf semantische Analysen von Bauformen beschränkt geblieben. Günter Abels Philosophie, die den öffentlichen Charakter eines jeden Zeichengebrauchs und der menschlichen Interpretationspraxis betont, fordert
Zur Allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie Abels siehe insbesondere seine Werke Interpretationswelten (1993), Sprache, Zeichen, Interpretation (1999) und Zeichen der Wirklichkeit (2004). https://doi.org/10.1515/9783110522280-054
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dazu auf, den architekturtheoretischen Fokus perspektivisch zu erweitern. Bildlich gesprochen regt sie dazu an, den horizontal und auch aufwärts gerichteten Blickwinkel, mit dem Architektur in ihrer körperlichen Erscheinung als gebautes Objekt betrachtet wird, auch auf den Boden zu senken und jene Formen ins Auge zu fassen, welche als Figuren der Raumbegrenzung in den Grund geschrieben sind. Erst durch diese Bezeichnung einer Raumgrenze wird architektonischer Raum konstituiert, erst durch sie kommt der Raum zu einer sichtbar wahrnehmbaren Gestalt. Diese den räumlichen Gebrauch betreffende Zeichensprache des Grundrisses, sei es der eines Hauses wie der einer Stadt, hat einen öffentlichen Charakter. Es sind Figuren im Grund, die vom Zusammenleben von Menschen sprechen, die einen Raum teilen. Eine Architekturtheorie der räumlichen Zeichenfunktionen und Interpretationspraktiken steht noch aus. Im Dialog mit Abels Zeichen- und Interpretationsphilosophie könnte sie an Kontur und Substanz gewinnen.
1 Eher beiläufig kolportiert Vitruv in seinen Zehn Bücher[n] über die Baukunst die Geschichte vom Philosophen Aristippos, einem Schüler des Sokrates, der mit seinen Jüngern Schiffbruch erleidet und am Ufer einer ihm unbekannten Insel strandet (Abb. 1). Nichtwissend, welche lebensbedrohenden Gefahren am Ufer auf die Ankömmlinge lauern könnten, begibt sich Aristippos als erster an Land, um gegebenenfalls seine Jünger noch rechtzeitig warnen zu können, damit sie sich in Sicherheit brächten. Als er den Strand betritt, entdeckt er dort in den Sand geritzte geometrische Figuren. Daraufhin soll er seinen Begleitern zugerufen haben: „Laßt uns guter Hoffnung sein! Ich sehe nämlich Spuren von Menschen.“ (Vitruvius 1964: 257) Die Frage, was das unmittelbare Vertrauen in die Geometrie als Zeichensprache des zivilisierten Menschen begründet, den Geist, Bildung und Sitte vom wilden Tier unterscheiden, hat Vitruv sich nicht gestellt. Seit der Antike zählt die Geometrie als anschauliche Form der intelligiblen, mathematisch-harmonisch verfassten Weltordnung zu den logischen und ästhetischen Grundbedingungen menschlichen Denkens. Selbstverständlich kann die Baukunst der Geometrie nicht als Grundlage entbehren. Ist es doch Aufgabe des Architekten, mittels eines Planes, der Linien auf die ebene Fläche bannt, die architektonische Wirklichkeit von Körpern zum Raum in Zahl und Maß vorauszubestimmen und adäquat zu bezeichnen. Leon Battista Alberti, der wichtigste Vertreter der Architekturtheorie der Renaissance, hat die Geistesarbeit des Entwerfens eines Bauwerkes mittels Linien
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Abb. 1: Aristippos nach überstandenem Schiffbruch
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und Winkeln nur „einem an Herz und Geist gebildeten Menschen“ (Alberti 1485: 14) zutrauen wollen und dabei möglicherweise an Vitruvs Geschichte von Aristippos gedacht. In diesem Zusammenhang steht vielleicht auch die Empfehlung zum Schmuck des Fußbodens „mit Linien und Figuren […], die sich auf Musik und Geometrie beziehen, daß wir überall zur Geistesbildung angeregt werden“ (382). In Albertis lineamenta-Begriff enthält die dreidimensionale Bestimmung eines Bauwerks selbstverständlich auch eine ästhetische oder symbolische Dimension, ist es doch unzweifelhaft, dass „es besonders auf den Zusammenhang und das Maß der Linien untereinander ankommt, woraus vor allem die Wirkung der Schönheit hervorgeht“ (14). Letztere entsteht aber nicht allein aus den abstrakten Zahlenverhältnissen eines systematisch bestimmten, geometrischen Körpers mit seinen Kanten. Erst in der Verlebendigung des Linienzusammenhangs in einem gegliederten Bau, wie er im plastischen Relief seiner Oberflächen vor uns steht, kann sich diese Wirkung konkretisieren. So geht es aus der bemerkenswerten Passage hervor, mit der Alberti das optische Architekturerlebnis als sinnlichen Vorgang feiert: „Und alles wird sich so erweisen, daß längs der Gesimse, längs der Unterbrechungen und über die ganze innere und äußere Erscheinung des Gebäudes das Auge voll Bewunderung gleichsam in freiem und sanftem Fluß immer von neuem mit größerem Vergnügen dahingeleitet, aus Gefallen an den Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten. Und die Beschauer sollen meinen, es nicht lange genug betrachten zu können, weil sie es immer wieder anschauen und bewundern müssen, wenn sie nicht sogar wiederholt beim Fortgehen zurückblicken.“ (513 f.) Mit diesem sinnlichen dreidimensionalen Erlebnis, das die Architektur mit ihrem plastischen Bezeichnungsvermögen von Pilastern, Nischen, Gesimsen und Rahmungen als Relief auf ihren Oberflächen als Linienspiel zu entfalten vermag, macht die Moderne des 20. Jahrhunderts Schluss. Im Eifer, alles vermeintlich Überflüssige zu eliminieren, wird architektonische Gliederung unter Ornamentverdacht gestellt. Die Säulenordnung, über Jahrtausende die höchste Würdeform der europäischen Architektur, wird zum Tabu. Folglich werden auch alle Profile und Gesimse im Namen vermeintlicher Sachlichkeit und Funktionalität von den Oberflächen der Bauten verbannt. Gemessen an dem sinnlichen Reichtum der historischen Architektur bieten die neuplatonischen „Freuden der Geometrie“, die der Architekt Le Corbusier dem modernen Menschen als alleinigen ästhetischen Genuss zubilligte, eine dürftige Kost. In seiner Schrift Vers une architecture fordert Le Corbusier 1923 die Eliminierung der plastischen Architektursprache zugunsten einer konsequenten Geometriesierung des Baukörpers und seiner Oberflächen. Anstatt sich weiterhin mit „Stilen“ oder „Strukturfragen“ (Le Corbusier 1923: 32) herumzuschlagen, sollte die „Wiedereinführung von einfachen
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Baukörpern“ (45) die Formensprache der Architektur „zum Ausgangspunkt“ zurückführen. Nicht Fragen der Konstruktion oder der Nutzung motivierten diesen Schritt zurück hinter alle geschichtlichen Formen zu ihrem vermeintlich geometrischen Ursprung sondern ein ästhetischer Platonismus, der die „großen primären Formen“ wie Würfel, Pyramide, Kugel oder Zylinder wegen ihrer universalen Zeichenfunktion in nackter Form zur Anschauung bringen will: würden diese doch „dem Auge Ruhe und dem Geist die Freuden der Geometrie vermitteln“ (46). Denn bei der Geometrie, so Le Corbusier, handele es sich um „Formen, die unsere Augen klar erkennen, die unser Geist mißt, […] ihr Bild erscheint uns rein und greifbar, eindeutig. Deshalb sind sie schöne Formen, die allerschönsten. Darüber ist sich jeder einig, das Kind, der Wilde und der Metaphysiker. Hier liegen die Grundbedingungen der bildenden Kunst.“ (32, 38) Man sieht, dass Le Corbusier, wohl anders als Aristippos, auch dem unzivilisierten Menschen einen genetisch ausgeprägten Hang zur Geometrie zutraut. Sie gilt gleichsam als die anthropologisch verbürgte Verständigungsgrundlage zu einer objektiven Ästhetik. In dieser Überzeugung erklärt die moderne Architektur den weißen, schwebend scheinenden, nackten Kubus zum Architektur-Ideal, das bis in unsere Gegenwart für sich den Alleinvertretungsanspruch in Sachen architektonischer Modernität reklamiert.
2 In der Architektur bezieht sich die Geometrie nicht nur auf die volumetrische Sprache des Körpers und dessen Oberflächen sondern ebenso auch auf die Bezeichnung des Raumes. Die körperliche Existenz der Architektur besteht nicht in skulpturaler Autonomie, sondern bezieht sich stets auf eine greifbare und begreifbare Einschließung von Raum. Im Akt des baulichen Abtrennens eines Innenraumes vom Außen vollzieht sich Architektur. Hohlräume und feste Masse lösen sich in einem Gebäude wechselseitig ab. Architektur ist eine bergende Kunst; sie dient dem Aufenthalt des Menschen. Deshalb ist auch das Ästhetische in der Architektur, anders als bei Malerei oder Skulptur, die der kontemplativen Rezeption vorbehalten sind, nicht vom räumlichen Gebrauch zu trennen. Zweck der Architektur ist die Schaffung lebensdienlicher Räume. Baukunst ist die sinnfällige Materialisierung von jeweiligen Raumvorstellungen oder, wie es Mies van der Rohe (1923) prägnant formuliert, „raumgefaßter Zeitwille“. Für August Schmarsow, der als einer der ersten Theoretiker 1894 nach den psychologischen und physiologischen Grundbedingungen des architektonischen Raumes fragt und der die Geschichte der Baukunst am liebsten in eine Geschichte des
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Raumgefühls umgeschrieben hätte, beginnt die Architektur mit dem „gewollten Raumausschnitt“, anders gesagt: mit der Raumvorstellung, in der sich der Mensch im Mittelpunkt eines horizontal begrenzten Raumes sieht. Diese Raumumschließung des Subjekts durch eine „Umwandung nach den Seiten“ herzustellen, ist für Schmarsow die „erste Hauptangelegenheit der Architektur“ (1894: 16). Sie geht der Begrenzung nach oben voran, die wir in der Regel stets mitdenken, was die Redewendung von den ‚eigenen vier Wänden‘ als völlig hinreichende Bezeichnung eines Zuhauses beweist; eine Bezeichnung, in der die Bedachung als vernachlässigbare Nebensächlichkeit nicht enthalten ist. Aus dem Bedürfnis, diese „innere Anschauung irgendwie in wirkliche Erscheinung umzusetzen“ (11), also den vorgestellten, gewollten Raumausschnitt in eine „sinnlich sichtbare Andeutung, Bezeichnung, Umgränzung […] im allgemeinen Raume“ (12) zu übersetzen, leitet sich für Schmarsow die psychologische Motivation der Architektur als Raumkunst ab. Ihre Aufgabe ist es, eine sinnlich wahrnehmbare Bezeichnung der Raumgrenze ins Werk zu setzen und dabei die Vielzahl der Möglichkeiten und Mittel voll zu entfalten. Für die einfachste Möglichkeit dieser Bezeichnungskunst gewollter Raumumschließung findet Schmarsow ein Vorbild, das wie bei Aristippos auf geometrische Figuren zurückgreift, die in den Sand gezeichnet werden. Spielende Kinder, die Striche in den Boden ziehen, um damit einen Raumausschnitt zu markieren, geben ein Beispiel solcher „ersten Versuche, eine räumliche Vorstellung in die Wirklichkeit zu setzen“ (ibd.). Schon diese „Anordnungen des Kindes“, so Schmarsow, geben „Zeugnis von der Organisation des menschlichen Intellekts“ und Aufschluss über das ganze „symbolische Verfahren“ (ibd.) der Bezeichnung der Raumvorstellung: „Ein paar sichtbare Zeichen für das Auge, das die Umgebung mit seinem Blick überschaut, genügen als Anhaltspunkte für die Phantasie, die Projektion in die Außenwelt anzuerkennen und sie befriedigt als Tatsache wieder zu erproben […]; der Machtspruch der Einbildungskraft richtet Wände auf, wo nur Striche sind“ (ibd.). In diesem „symbolischen Verfahren“ einer mit zeichnerischen Mitteln nur andeutungsweise in der Wirklichkeit vollzogenen architektonischen Raumproduktion spielt auch die ‚Neigung zum Gleichmaß‘ eine wesentliche Rolle, also die Regelmäßigkeit der in den Boden gezeichneten Figuren. Sie macht erst die Willensbekundung als Absicht – und nicht als Produkt des Zufalls – kenntlich und lässt den räumlichen Bezeichnungs- und Interpretationsvorgang gelingen. Einmal mehr offenbart sich der Verständigungswert der Geometrie als eine unserer Vorstellung entsprechende, ideale körperliche und räumliche Anschauungsform. Noch heute erfüllt dieses kindliche Verfahren seinen praktischen Zweck, denn jeder konkrete Bauvorgang beginnt mit geometrischen Strichen im Boden: in der Regel mit Furchen, die in den Grund geritzt werden, um die Position der Fundamente zu markieren. Damit wird das Raumgefüge eines Gebäudes im
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Grundriss fixiert. Schließlich verweist auch der Begriff ‚Grundriss‘ auf den Sachverhalt, dass eine Figur in einen Grund geritzt oder gerissen wird: sei es als Furche im Papier oder im Erdboden. Aus dieser handlungsbezogenen Perspektive betrachtet, macht es metaphorisch Sinn, von der Architektur als „Schrift des Raums“ (Derrida 1986: 216) zu sprechen. Im Bauvorgang verwandeln sich die gleichsam handschriftlich bezeichneten Raumgrenzen zu einer eindeutigeren, typischen und dauerhaft gesetzten Bezeichnung: etwa durch das lockere Aufhäufen von Feldsteinen oder das Pflanzen von Hecken, das Einschlagen und Verbinden von Holzstämmen oder schließlich durch das Errichten monolithischer Wände, die den Akt der gewollten Raumbegrenzung durch ihre massive physische Präsenz unmissverständlich bekunden und den Eindruck erwecken können, als seien sie für die Ewigkeit gedacht. Zur Kunst des Bauens gehört es, den ganzen morphologischen Reichtum zur systematischen Bewältigung dieser Bezeichnungs-Aufgabe zu beherrschen. Das gilt in handwerklicher, konstruktiver ebenso wie in ästhetischer Hinsicht, d. h. das sinnliche Repertoire entsprechend der Verfasstheit unserer Anschauungsformen zu verfeinern. Auf diese Einheit zielte Albertis lineamenta-Begriff, in dem konstruktive Logik und abstrakte Regelrichtigkeit des Linienzusammenhangs erst ein Bauwerk als in sich stimmiges gegliedertes Ganzes in die dreidimensionale Wirklichkeit treten lassen, das dem Auge Freude und Genuss, mehr noch, Lust verschaffen kann. Die Lesbarkeit von Raumgrenzen mit Alberti zum Sinnenfest zu überhöhen, ist allerdings nur eine der denkbaren künstlerischen Möglichkeiten. Auch das Verschwindenlassen dieser Grenze zu scheinbarer Nichtexistenz ist eine gestalterische Möglichkeit, von der die Baukunst der Vergangenheit Gebrauch gemacht hat. Allerdings taugten dazu weniger die Mittel der Architektur als die der Malerei. Die Wandgemälde in Pompeji oder Deckengemälde des Barock weiteten den Innenraum, indem sie die gebaute Raumgrenze illusionär entgrenzten. In den modernen Stahl-Glas-Bauten unserer Zeit wird die Illusion der Abwesenheit der Raumgrenze und eines grenzenlosen Raumes weitergetrieben, jetzt allerdings mit architektonischen Kunstgriffen, die gegenüber der Malerei den Vorzug haben, nicht als flächige Darstellung von der dreidimensionalen Wirklichkeit sondern als diese Wirklichkeit wahrgenommen zu werden. Mit ihrer Abneigung gegen das Festumgrenzte und ihrer Vorliebe für Immaterielles und Transparenz wollte die Moderne die Trennung zwischen Innen und Außen tendenziell aufheben. Der sogenannte ‚fließende Raum‘ der Moderne ist eine Umschreibung dafür, dass der praktisch unerläßliche Raumabschluß zwischen Innen und Außen optisch zum Verschwinden gebracht wird, damit sich die Vorstellung vom Kontinuum einstellen kann. Mit der raumhohen Glasscheibe als Ersatz für die Außenwand kann dieser Eindruck gelingen: Die eindeutig be-
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zeichnete Trennung zwischen Innen und Außen wird durch diese unsichtbare Schranke optisch aufgehoben, obgleich die materielle Existenz dieser Grenze physisch gegeben ist. Aus diesem Bezeichnungsdefizit kann sich allerdings das Problem ergeben, dass – zeichentechnisch gesprochen – ein auf unserer Wahrnehmung basierendes, kohärentes Interpretationsgeschehen unmöglich gemacht wird. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Immateriell wirkende Glasfronten können unter bestimmten Lichtverhältnissen in der räumlichen Wirklichkeit irdischer Lebewesen eine nicht zu unterschätzende körperliche Gefahrquelle darstellen. Die schmerzhafte Erfahrung einer solchen unzulänglichen architektonischen Grenzbezeichnung hat unlängst eine Rentnerin in Long Island gemacht, die sich an der Glasfront eines Apple-Stores einen Nasenbruch zuzog. „Sie habe nicht gemerkt, dass sie auf eine Wand aus Glas zuging, als sie das Gebäude erreichte,“ erklärte ihr Anwalt, der Apple, laut Zeitungsbericht, auf eine Million Schadensersatz verklagt haben soll; unter anderem mit dem Argument, dass man bei dieser „Art der Architektur, die Technikbegeisterte anspricht“, auch die Gefahr berücksichtigen müsse, „die eine Hightech-Architektur für andere Menschen darstelle“.² Vielerorts bleibt es nicht dabei, dass an Glasfronten schwarze Silhouetten von Raubvögeln zu finden sind. Auch für Fußgänger wird dem Bezeichnungsdefizit einer Architektur, der optisch die Masse entzogen ist, inzwischen abgeholfen, etwa mit breitflächigen Klebestreifen auf den Glaswänden oder auch mit aufgeklebten Verkehrsschildern, wie sie sonst nur am Ende von Einbahnstraßen anzutreffen sind.
3 Die Bedingungen der architektonischen Raumproduktion gründen nicht nur in den Bedingungen der Wahrnehmung, in der sich das Individuum im Mittelpunkt des Raumes sieht. Es gibt auch eine kollektive Wahrnehmungsmotivation, in der die Zentrierung auf das Subjekt zugunsten eines Zugehörigkeitsgefühls in den Hintergrund tritt und das Bewusstsein, einen physischen ebenso wie einen geistigen Raum mit anderen zu teilen, seine Bedingungen stellt. Dass die Baukunst als ein kollektives Phänomen und nicht als individuelle Schöpfung verstanden werden muss, ist bereits durch die älteste Quellenschrift der Architekturtheorie überliefert, durch Vitruvs Zehn Bücher über die Baukunst, verfasst zur Zeit von Caesar und Augustus. In seinem Kapitel Über den Ursprung
Siehe Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 3. 2012, S. 7: „Rentnerin verklagt Apple“.
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der Gebäude gibt Vitruv der Feuerstelle die Bedeutung des Ausgangspunktes für die gesellschaftliche und bauliche Entwicklung. Die Feuerstelle ist der räumliche und gesellschaftliche Mittelpunkt, der den nomadischen Menschen verortet. Durch Versammlung von Menschen um das wärmende Feuer entsteht Gesellschaft und mit ihr die Notwendigkeit der Kommunikation und der Unterkunft. Architektur und Sprache entstehen in Vitruvs Geschichte als kollektive Phänomene, und zwar als Konsequenz des Ansässigwerdens und Zusammenlebens einer Vielzahl von Menschen an einer Stelle. Demzufolge ist bei Vitruv der gesellschaftliche Fortschritt untrennbar mit dem baulichen verknüpft und umgekehrt. Mit dem Häuserbau nimmt die zivilisationsgeschichtliche Entwicklung Schritt für Schritt ihren Fortgang. Sie führt nicht nur zur Zivilisierung des Menschen „von einem tierhaften zu einem friedfertigen, gesitteten Leben“, sondern darüber hinaus auch zu seiner geistigen Entwicklung. Im Wetteifer von Beobachtungsgabe, Nachahmung und Erfindungskraft entwickelt sich das Bauwesen und die Menschen werden „von Tag zu Tag zu Menschen mit besserem Urteil“ (Vitruvius 1964: 81). Der Fortschritt in der Verständigung, im Zeigen und Erklären (demonstrare atque explicare) – jenem theoretischen Wissen, das die Arbeit des Architekten nach Vitruv als geistige Arbeit (ratio-cinatio) neben der handwerklichen Tätigkeit (fabrica) kennzeichnet – ist Grundlage dieses Prozesses. Die Geschichte der Philosophie hat Vitruvs Beobachtung bestätigt, indem sie das Denken als geistiges „Bauen“ aus architektonischer Perspektive interpretiert hat. Platon spricht vom ‚Weltgebäude‘ und dem ‚Bau des Weltalls‘ und bezeichnet den Schöpfer des Universums als ‚Baumeister‘ der Welt. Aber auch der in seiner Vorstellungwelt gedanklich behauste Mensch ist architektonisch charakterisiert. Platons Höhlengleichnis vom Gefängnis der Sinne, an das der Mensch gekettet ist, benutzt einen hermetisch von der Außenwelt abgeschlossenen Innenraum, in dem Schattenspiele stattfinden – einem Kino nicht ganz unähnlich –, als Bewusstseinsmodell. Dass dieses Bewusstsein auch als Wohnhaus methodisch organisiert werden kann, zeigt die Leibnizsche Metapher von einem zweistöckigen Haus, in dessen oberer, fenster- und türloser, dunkler Etage die Seele wohnt, die nur über heraufdringende Geräusche ahnen kann, was die fünf Sinne erregt und bewegt, die über das mit Fenstern in die Außenwelt ausgestattete Untergeschoß verfügen. Das Zeitalter der Wissenschaft greift auf die Sinnhaftigkeit architektonischer Gestaltlogik als Methodenmodell zurück, um der menschlichen Vernunft als Schlüssel zur Ordnung der Dinge angemessenen Ausdruck zu verleihen. Für Descartes verfährt richtiges logisches Denken, das auf festem Grund als Ursache ein in sich stimmiges Ganzes errichtet, ganz so, als würde man sich ein Haus bauen. Deutlicher noch bedient sich Immanuel Kant der Architekturmetapher. Er
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attestiert der menschlichen Vernunft nicht nur ein „architektonisches Interesse“. Mit der Formulierung, „die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach architektonisch,“ weil sie dazu neige, „alle Erkenntnisse als gehörig zu einem möglichen System“ zu betrachten (Kant 1781/87: A 474, B 502), unterstellt er gleichsam eine genetische Kodierung, die der Vitruvschen Ursprungs-Erklärung nahekommt. Dass Aspekte der Architekturtheorie von Vitruv und Alberti in Kants Philosophie in mancherlei Hinsicht wiederaufscheinen, ist nicht unbemerkt geblieben.³ „Architektonik“ ist, wie im Schlusskapitel der Kritik der reinen Vernunft ausgeführt, die „Kunst der Systeme“; Wissenschaft im Kantischen Sinne ist nichts anderes als der Systembau der Vernunft. Die systematische Einheit der Erkenntnis unter einer Idee ist das entscheidende Kriterium, das die Wissenschaft von der nur anhäufenden „gemeinen Erkenntnis“ unterscheidet. „Das Ganze ist also gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio)“ (Kant 1781/87: A 832 f., B 860 f.), – so lautet bei Kant der Schlüsselsatz, mit dem der wohlgeordnete Gliederbau eines mannigfaltigen, in sich fest und logisch gefügten Ganzen zur adäquaten Gestalt kommt; idealerweise in der Konstruktion eines planvoll in die Höhe geführten ‚Turmbaus‘ der reinen Vernunft (vgl. A 707, B 735). Architektonik gehört nach Kant zum methodischen Handwerk der Wissenschaft. Sie errichtet wohlbegründete Gedankengebäude, führt diese systematisch in die Höhe, baut sie aber auch um und ergänzt sie, wenn dies notwendig wird. Die Philosophie hat die Architektur als methodenleitende Metapher für die Vorstellung einer apriorischen Ordnung der Dinge und das Zusammenspiel von Teilen zu einem gegliederten Ganzen benötigt. Jaques Derridas Bezeichnung der Architektur als „letzte Festung der Metaphysik“ (1986: 221) gilt in der Hauptsache der Fragwürdigkeit jener Ganzheitsvorstellung. Der architektonische Bau diente in seiner körperlichen Selbständigkeit als Modell des gegenstandstheoretischen Denkens und der formalen Logik prämissenfolgernden, gültigen Schließens. Die Gegenwartsphilosophie hat den methodenleitenden Wechsel von der Architektonik zur Sprache vollzogen, denn von der abstrakten Welt der Baulogik wird unsere Lebenswirklichkeit und der Vollzug unserer Erfahrung nur bedingt beschrieben. Mit Günter Abel fragt die Interpretations- und Sprachphilosophie nach den „form- und gestalt-produzierenden Funktionen“⁴ von Zeichen in dem Verhältnis von Sprache und Welt. Damit kehrt sie aber nicht der Architektur den Rücken. Sie bewegt sich nach wie vor auf Vitruvschem Terrain, denn in dessen Schilderung des Ursprungs der Gebäude geht – dem Wortlaut des Textes nach – die Entstehung der Sprache, also die Fähigkeit des verbalen Bezeichnens, dem
Vgl. (Eichberger 1999) und (Purdy 2010). (Abel 1987: 112); vgl. (SZI 209).
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Bauen unmittelbar voran. Ob Vitruv damit auch ein methodenleitendes Verhältnis in der verwandtschaftlichen Beziehung zwischen Sprache und Bauen andeuten wollte, sei dahingestellt. Festzuhalten ist, dass im Kapitel Vom Ursprung der Gebäude die Beschreibung der Herstellung systematischer verbaler Verständigungsverhältnisse der Herstellung systematischer Behausungsverhältnisse vorgängig ist, und zwar in den folgenden Schritten: Nachdem die am Feuer zusammengelaufenen Menschen die angenehme und nützliche Seite des Feuer bemerkten, holten sie „andere Leute herbei und mit einer Gebärde wiesen sie darauf hin, welchen Nutzen sie davon hätten“ (Vitruvius 1964: 79). Das Mitteilungsbedürfnis ist demnach initiativ. Mittels gestischer Gebärden und „beim Atmen“ hervorgestoßener urartikulierter Laute erschufen sich die Menschen „durch tägliche Gewohnheit“ zunächst Wörter; „dann begannen sie dadurch, dass sie öfter Dinge (mit diesen Worten) beim Gebrauch bezeichneten, schließlich durch Zufall zu sprechen. Und so brachten sie es zu Gesprächen untereinander.“ (Ibd.) Erst jetzt, im Anschluss an diese Passage, kommt Vitruv auf das Bauen zu sprechen: dass nämlich „in dieser Gemeinschaft“ („in eo coetu“) – von der wir annehmen dürfen, dass sie durch die Sprache zu einer solchen erst geworden ist –, die einen begannen, „aus Laub Hütten zu bauen, andere, am Fuß von Bergen Höhlen zu graben“, andere wiederum „ahmten auch die Nester der Schwalben nach und stellten aus Lehm und Reisig Behausungen her, um dort unterzuschlüpfen“ (79 f.). Es wäre töricht, die komplexe Beziehung zwischen Sprache und Bauen auf eine lineare evolutionsgeschichtliche Abhängigkeit bringen zu wollen, etwa derart, die Sprache mit ihrem Satz-‚Bau‘ nach logischen Gesetzen und das Denken in begrifflichen ‚Bausteinen‘ der Architektur voranzustellen. Martin Heideggers zutreffender Bemerkung: „Die Frage, was das Erste sei und Maßgebende, der Satzbau oder der Dingbau, ist bis zur Stunde nicht entschieden“ (1960: 16), bleibt nichts hinzuzufügen. Der Mensch ‚wohnt‘, so Heidegger, in der Sprache; und man könnte ergänzen, er ‚spricht‘ auch durch seine Bauten. Die Sprache als geistiges Haus und der physische Bau geben beide dem Menschen existentielle Geborgenheit und ein Bewusstsein von sich selbst. Mit Blick auf die Sprache und das Bauen könnte man – auch im Sinne der Vitruvschen Schilderung – das Bedürfnis nach Mitteilung für beide als verbindliche kollektive Motivation gelten lassen: das Bedürfnis, etwas mit anderen zu teilen, sei es eine gemeinsame Sprache oder einen gemeinsamen Raum. Der Wille zur Verständigung, der in der Sprache seine Verwirklichung findet, drückt sich ebenso in der Architektur aus, in der nicht nur mehrere Menschen sich unter einem Dach zusammenfinden, sondern schon die früheste Architektur bereits Ansätze zum Städtebau erkennen lässt. Architektur ist, wie die Sprache, eine soziale Kunst. Architektonische Zeichen organisieren systematische Verständigungsver-
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hältnisse im Raum, organisieren das Verhältnis zwischen Privatem und Öffentlichen, Innen und Außen, sorgen für Orientierung im natürlichen Raum wie auch in der gebauten Mitwelt der Stadt. Die architektonische Zeichensprache ist wie die Lautsprache in lebendigen Verhältnissen entstanden und hat demzufolge auch eine Bedeutung für die Verständigung der an einem Ort zusammenlebenden Menschen. Architektur und Stadt organisieren Lebensformen. Alberti ist der erste gewesen, der aus dieser Einsicht die Architektur als die Kunst versteht, die das Verhältnis zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten nicht nur räumlich regelt, sondern dieser Beziehung auch eine eigenwertige Gestalt zu geben vermag. Die Hinwendung zur Öffentlichkeit und das Einfügen der Architektur in den Rahmen der städtischen Gemeinschaft, der civitas, ist der leitende Gedanke in Albertis Theorie. Sie ist aus der Sicht des modernen Stadtbürgers formuliert. Von diesem Standpunkt aus erklärt sich auch, dass Alberti die Öffnung als Schmuck eines städtischen Gebäudes betrachtet, nämlich als Zeichen der Zugehörigkeit und Teilhabe am räumlichen und sozialen Geschehen. Nicht das massiv abschottende Quaderwerk einer zyklopisch anmutenden Rustika, sondern der durch Säulen geöffnete und allgemein zugängliche Portikus, der „allen Bürgern zuliebe erfunden“ (Alberti 1485: 223) wurde, ziert das Haus des Privatmannes. Nicht die Geste einer sich gegenüber der Umwelt abschottenden Burg, sondern die einladende Geste der Pfeilerarchitektur einer jedermann zugänglichen Wandelhalle erscheint Alberti als der angemessene architektonische Symbolbau für soziales Verhalten im Raum der Stadt. Erst aus der Beziehung auf das Ganze der Stadt, dem großen ‚Haus‘ des Gemeinwesen, gewinnen die Architekturformen ihren Eigenwert, ähnlich wie sich Rang und Würde der Stadtbewohner von ihrem Beitrag zum allgemeinen Wohl herleiten. Diese kollektiv grundierte Zeichenlogik sollte es einem Bauherrn von selbst verbieten, sein Stadthaus mit Zinnen und Mauerspitzen zu schmücken, verweisen diese doch auf die Burg des Gewaltherrschers und haben, so Alberti, „mit friedlichen Bürgern und einem wohlbestellten Gemeinwesen nichts zu tun, da sie ja ein Zeichen gehegter Furcht oder begangenen Frevels sind“ (489).
4 Zusammenkommen und Zusammenleben haben, wie von Vitruv und Alberti zu lernen ist, form- und gestalt-produzierende Funktionen und geben der Sprache der Zeichen erst ihren Sinn. Formen der Verständigung im Raum entstehen auch in der spontanen Versammlung mehrerer Menschen unter freiem Himmel, sofern ein Ereignis als Mittelpunkt oder Brennpunkt sie dazu veranlasst. Unbewusst entsteht durch die Sich-Versammelnden selbst eine kollektiv gebildete Raum-
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begrenzung. Solche spontane Raumbildung unterscheidet sich von der gebauten Architektur im Grunde allein dadurch, dass diese unbewusst entstehende, anonyme, ephemere ‚Architektur‘ noch keine feste Form der Bezeichnung als Anschauungsform in der Wirklichkeit gefunden hat. Johann Wolfgang Goethe hat beim Besuch des antiken Amphitheaters in Verona (Abb. 2) diesen Zusammenhang intuitiv erfasst, als er sich die Entstehung eines solchen baulichen Monumentes zu erklären versucht. In der Italienischen Reise malt er sich einen Vorgang aus, in dem, ähnlich wie bei Vitruv, ein ‚Brenn‘Punkt den Ausgangspunkt bildet, mit dem Unterschied allerdings, dass hier ein theatralisches Geschehen als imaginäre Feuerstelle der Gemütserwärmung seine Anziehungskraft ausübt: „Wenn irgend etwas Schauwürdiges auf flacher Erde vorgeht und alles zuläuft, suchen die Hintersten auf alle mögliche Weise sich über die Vordersten zu erheben: man tritt auf Bänke, rollt Fässer herbei, fährt mit Wagen heran, legt Bretter hinüber und herüber, besetzt einen benachbarten Hügel, und es bildet sich in der Geschwindigkeit ein Krater.“ (Goethe 1989: 40) In dem Oval, das als Raumform von selbst entsteht, weil die Zusammenstehenden mit ihren Körpern eine dieser geometrischen Gestalt angenäherte Raumbegrenzung unbewusst erschaffen, sieht Goethe das Amphitheater in seiner Anlageform präfiguriert. Auch heute noch lässt sich – bevorzugterweise in Fußgängerzonen – die Entstehung dieser Raumform beobachten, wenn sich Menschen um einen Akteur versammeln, der ihr Interesse zu fesseln vermag. Auch in Darstellungen von Menschenversammlungen aus der Zeit vor Goethe, die das Treiben und Versammeln von Menschen in öffentlichen Räumen festhalten, zeigt sich dieses kollektive ‚architektonische‘ Phänomen der Raumumschließung im Oval. Der Bau eines Amphitheaters übersetzt demnach diese temporäre, bewegliche Raumfigur in eine feste, geometrisch vollkommene Form und verhilft damit der amorphen Raumgrenze zu einer stabilen und dauerhaften Bezeichnung. Das allgemein gewordene Bedürfnis nach Wiederholung des Schauspiel-Ereignisses, also die kulturelle Verfestigung eines Rituals in der Wiederkehr an einem dafür bestimmten Ort, ist das treibende Motiv für die Errichtung des entsprechenden öffentlichen Bauwerks. „Kommt das Schauspiel öfter auf derselben Stelle vor“, so die Schlussfolgerung Goethes in Analogie zur Vitruvschen Logik der Entwicklung von der primitiven Hütte zum Haus, „so baut man leichte Gerüste für die, so bezahlen können, und die übrige Masse behilft sich, wie sie mag. Dieses allgemeine Bedürfnis zu befriedigen, ist hier die Aufgabe des Architekten. Er bereitet einen solchen Krater durch Kunst, so einfach als nur möglich […]“ (ibd.). Die „Simplizität des Oval“ bewährt sich dabei nicht nur als geeignete Form des Zurschaustellens und Zuschauens. Sie ist darüber hinaus eine Raumform, die
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Abb. 2: Enea Vico (1523 – 67) Kupferstich des Amphitheaters in Verona
das Kollektive selbst vor Augen führt und bewußt macht, was Goethe mit den Worten ausdrückt: „eigentlich ist so ein Amphitheater recht gemacht, dem Volk mit sich selbst zu imponieren, das Volk mit sich selbst zum besten zu haben“ (ibd.). Das Bewusstsein, mit anderen einen gemeinsamen Raum zu teilen, drückt sich bereits in nonverbaler Verständigung aus. In der Sprache des Körpers kommt räumliches Verhalten direkt zum Ausdruck. Bereits in der Art und Weise, wie wir uns im Raum aufbauen, wie wir uns vor, neben oder hinter den anderen stellen, drücken wir ein Zugehörigkeitsgefühl zur Mitwelt aus. In Anlehnung an Kant könnte man hier auch von einem ‚architektonischen Interesse‘ der sozialen Vernunft sprechen, die uns in der unmittelbaren körperlichen Kommunikation als handelnde Wesen im sozialen Raum eigentümlich ist. Edmund T. Hall hat mit seiner Studie The Hidden Dimension (1966) die unterschiedlichsten Formen dieser ‚stummem Sprache‘ des räumlichen Verhaltens untersucht, in der Menschen in der Gesellschaft mit anderen Menschen durch ihren Körper kommunizieren. Halls Anthropologie des Raumes geht dem Phänomen nach, dass Individuen unbewusst Distanzzonen unterscheiden und darin ihr Zugehörigkeitsgefühl ausdrücken, denn je nach Grad der Vertrautheit räumen wir unterschiedlich große Abstände ein oder lassen Nähe zu. Dass diese Verhaltensformen kulturell unterschiedlich interpretiert werden können, versteht sich von selbst. Kulturelle Verhaltensmuster im privaten wie im öffentlichen Umgang haben durchaus architekturrelevante Komponenten. Zweckgebundenheit an den allge-
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meinen Lebenszusammenhang ist eine unabtrennbare Bedingung für die Architektur. In dieser sozialen Kunst ist jeder Grundriss ein Spiegel räumlicher Bedürfnisse und Vorstellungen, individueller wie kollektiver. Schließlich ist architektonische Wahrnehmung als leibliche Gegenwart im Raum unmittelbar an solche körperlichen Erfahrungs- und Vorstellungsrealitäten geknüpft. Schon in der simplen Unterscheidung, ob wir von einem Gebäude beispielsweise sagen „es steht“ oder „es liegt“ in dieser oder jener Straße, übertragen wir Bezeichnungsformen der eigenen Körpererfahrungen von Positionen im Raum, denen auch unser Gefühl für Ruhe, Bewegung, Ausdehnung, Aufgerichtetsein, Schwere etc. entstammt.
5 Architektonische Form ist gebaute Inbeziehungsetzung von privatem und öffentlichem Leben; sie bildet sich als Lebensform auf evolutionäre Weise im privaten und öffentlichen Gebrauch und ist Konsequenz aus der Eigenschaft des Bauwerks, ein Gebilde von Dauer und zugleich Ortsgebundenheit zu sein. Diese Bedingung prädestiniert die Architektur in besonderer Weise dazu, gesellschaftliche Konventionen und kulturelle Erfahrungen zu repräsentieren, zu speichern und über lange Zeiträume zeichenhaft zu veranschaulichen. Diese Zeichenfunktion der Architektur hat das geschichtsfeindliche funktionalistische Bauen des 20. Jahrhunderts mit seiner Einebnung kultureller Traditionen im Namen des International Style sträflich missachtet. Erst angesichts der Gesichts- und Geschichtslosigkeit ubiquitärer moderner Stadtlandschaften und monotoner Neubausiedlungen wird die zentrale Bedeutung von Erinnerung und Orientierung in Raum und Zeit wieder Gegenstand architekturtheoretischer Nachdenklichkeit. 1960 erhebt Kevin Lynch in der vielbeachteten Schrift The Image of the City die Forderung nach einer einprägsamen gebauten Umwelt, nach einem erinnerbaren Stadtbild und lesbaren Räumen. Lynch (1960) argumentiert mit dem Bedürfnis nach Identität und Struktur in der menschlichen Wahrnehmungswelt und verlangt die Umgestaltung städtischer Lebensräume in Formen, die das Auge begeistern und als Symbole für städtisches Leben dastehen können. Die Präsenz von Geschichte macht die europäische Stadt zu einem steinernen Erinnerungsbuch, in dem kollektive und individuelle Raumerfahrungen eingeschrieben und aufgehoben sind. In der Gestalt der Stadt sind viele Zeiten zugegen. Städte ohne sichtbare Hinterlassenschaften der Geschichte erscheinen uns deshalb wenig attraktiv. Es fehlt ihnen an sinnlichen Spuren, an Ablagerungen von gelebtem Leben. Bauliche und räumliche Strukturen einer Stadt, die sich über lange Zeiträume erhalten haben, bilden Kristallisationspunkte für biographische
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Erinnerungen ebenso wie für das Kollektivgedächtnis der städtischen Gemeinschaft. Diese Fixpunkte sind nicht nur passive Relikte, sondern können als Bedeutungsspeicher wieder aktiviert werden und Anstoß für neue bauliche Entwicklung geben. Diese Einsichten hat Aldo Rossi in seiner epochalen Schrift L’architettura della città von 1966 niedergelegt (Rossi 1966). In ihr wird die Stadt als ein kontinuierlicher Bauvorgang verstanden, in dessen Verlauf sie sich selbst bewusst und Gegenstand ihrer eigenen Erinnerung wird. Insofern lebt Stadt nicht nur mit ihrer Geschichte sondern in ihrer Geschichte. Rossi hat uns die Augen dafür geöffnet, dass Architektur – ebenso wenig wie die Sprache – nicht eine individuelle Schöpfung sondern Ausdruck des Gemeinschaftslebens ist: etwas vom kulturellen Leben und der Gesellschaft Untrennbares. Das moderne funktionalistische Denken, das die symbolische Bedeutung der Form und deren Eigenleben verdrängt, kritisiert Rossi mit dem Hinweis auf die Tatsache, dass bestimmte Bauwerke ebenso wie einzelne städtebauliche Phänomene über Jahrhunderte und länger bestehen bleiben, obgleich sie ihre Funktion in Bezug auf den Zweck, zu dem sie errichtet wurden, im Laufe der Zeit längst verloren haben. Ihr Überleben erklärt sich also nicht aus dem Zweck. Es ist die symbolische Bedeutung dieser Bauten – genauer gesagt, die Zeichenfunktion ihrer Gestalt –, die sie über die Jahrhunderte und Epochen hinweg vor dem Untergang bewahrt. Sie überdauern als Erinnerungs- und Bedeutungsträger, genannt ‚Denkmale‘, die Generationen. Den sich wandelnden Lebensbedürfnissen entsprechend werden sie als permanente Elemente und wichtige Bestandteile der Stadtlandschaft bewahrt, auch wenn im Laufe der Zeit ihre Bausubstanz mitunter Stein für Stein ausgetauscht wurde, sie längst andere Nutzungen angenommen haben. Als bauliche Zeichen, in denen sich eine Gemeinschaft ihrer selbst versichert, symbolisieren sie die Kontinuität dieser Gemeinschaft und die Identität der Stadt. Diese Permanenz der symbolischen Form im Wandel geschichtlicher Bedürfnisse kann sich auch als räumliche Chiffre behaupten, etwa als geometrische Figur, die in den Grundriss der Stadt und das Netz ihrer öffentlichen Räume und Wege auf Dauer eingeschrieben ist. So verhält es sich beispielsweise mit dem Stadtteil Santa Croce in Florenz (Abb. 3), wo an der Stelle des antiken Amphitheaters ellipsenförmig angelegte Häuserblocks errichtet wurden. Ein noch anschaulicheres Beispiel dafür, wie die Eigenart eines Bauwerkes die Eigenart der Stadt beeinflussen und wie ein historischer Monumentalbau im Laufe der Zeit zu einem städtebaulichen Phänomen werden kann, gibt die Stadt Lucca (Abb. 4). Hier zeichnet der Straßenverlauf der Via Anfiteatro nicht nur den äußeren Umriss des römische Amphitheaters in Gänze nach, auch der innere Umriss der Arena ist als intakte Raumfigur erhalten geblieben, als sich der ‚Krater‘ im Laufe der Jahrhunderte mit Wohnhäusern füllte. Auf diese Weise besteht das Oval der
Figuren im Grund
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Abb. 3: Grundriss des Stadtteils Santa Croce, Florenz
Freifläche des Theaters, auf dem einstmals Gladiatorenspiele stattfanden, als in den Boden der Stadt gezeichnete Figur fort, verwandelt in einen Stadtplatz. Auf ihm erinnert jetzt das urbane Treiben des Sehens und Gesehen-Werdens entfernt an den theatralischen Ursprung des antiken Monumentalbaus, wie ihn sich Goethe in Verona ausgemalt hat. Wer die Zeichensprache der Architektur zu lesen gelernt hat, dem wird es – angeregt durch Abels Allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie – nicht schwerfallen, die in den Grund der Stadt eingezeichneten Figuren als ein geistvolles Gespräch zwischen Baukörper und Raumkörper zu interpretieren. Auch wenn diese Raumfiguren in den seltensten Fällen geometrischer Vollkommenheit entsprechen, sind sie doch als solche lesbar, und es darf für sie jenes „Vestigia hominum video“ gelten, das Aristippos angesichts der in den Strand gezeichneten geometrischen Figuren ausgerufen haben soll.
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Abb. 4: Stadtplatz in Lucca
Literatur Abel, Günter 1987: Logik und Ästhetik, in: Nietzsche-Studien 16, S. 112 – 148. Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Alberti, Leon Battista 1485: De re aedificatoria, Florenz; [zitiert nach der dt. Übers.: ders.: Zehn Bücher über die Baukunst, ins Deutsche übertr., eingel. u. m. Anm. u. Zeichnungen vers. v. M. Theuer, Wien / Leipzig 1912; unveränderter Nachdr. Darmstadt 1975]. Le Corbusier 1923: Vers une architecture, Paris; [zitiert nach der dt. Übers.: ders.: Ausblick auf eine Architektur, übers. v. H. Hildebrandt u. überarb. v. E. Gärtner, Berlin / Frankfurt / Wien 1963]. Derrida, Jaques 1986: Am Nullpunkt der Verrücktheit – Jetzt die Architektur (1986), in: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, S. 215 – 232. Eichberger, Thilo 1999: Kants Architektur der Vernunft, Freiburg / München. Goethe, Johann Wolfgang 1989: Italienische Reise (Autobiographische Schriften III), in: Goethe. Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. XI, hg. v. E. Trunz, München.
Figuren im Grund
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Hall, Edmund T. 1966: The Hidden Dimension, Garden City, N. Y. Heidegger, Martin 1960: Der Ursprung des Kunstwerkes, Frankfurt a. M. Kant, Immanuel 1781/87: Kritik der reinen Vernunft, in: Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, Bd. 4, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1986. Lynch, Kevin 1960: The Image of the City, Cambridge / London; [dt. Ausg.: ders.: Das Bild der Stadt, Berlin / Frankfurt / Wien 1965]. Mies van der Rohe, Ludwig 1923: Bürohaus, in: G, Nr. 1, Juli 1923, S. 3; Nachdr. in: Neumeyer, Fritz (Hg.): Quellentexte zur Architekturtheorie, München 2002, S. 407. Purdy, Daniel 2010: On the Ruins of Babel. Architectural Metaphor in German Thought, Ithaca, N. Y. Rossi, Aldo 1966: L’architettura della città, Padova; erw. Ausg. 1969; [dt. Ausg.: ders.: Die Architektur der Stadt. Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen, Düsseldorf 1973]. Schmarsow, August 1894: Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig. Vitruvius Pollio, Marcus 1964: De Architectura Libri Decem / Zehn Bücher über Architektur, übers. u. m. Anm. vers. v. C. Fensterbusch, Darmstadt.
Abbildungsnachweise Abb. : Abb. : Abb. : Abb. :
aus: Jaques Ozanan: Récréation mathemathique et physique, Paris ; Archiv des Verfassers. aus: Archiv des Verfassers. in: Leonardo Benevolo: Die Geschichte der Stadt, aus d. Ital. v. J. Humbug, Frankfurt / New York (Campus) , Abb. . in: Vittorio Franchetti Pardo: Die Geburt der europäischen Stadt, aus d. Ital. v. E. Müller u. G. Russo, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) , S. , Abb. ; Bildnachweis: Bams-photo Rodella.
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Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Architektur Replik zum Beitrag von Fritz Neumeyer Fritz Neumeyer zufolge erklärt es sich „fast von selbst“, dass von der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] „Denkanstöße“ für die Architekturtheorie ausgehen. Dies sei vor allem deshalb der Fall, weil in den Werken der Architektur „gebaute Lebenswirklichkeit zeichenhaft aufgehoben und über lange Zeiträume gespeichert“ ist (Neumeyer-Beitrag, vor Kap. 1). Diese Auffassung Neumeyers teile ich nachdrücklich. Sie ist aus meiner Sicht einzubetten in die umfänglichere Überzeugung, dass zwischen Architekturtheorie und Philosophie eine Fülle wechselseitig aufschlussreicher und befruchtender Beziehungen bestehen. Dass dem so ist, zeigt sich an den Fragen, die in Architekturtheorie wie Philosophie relevant sind und einer zufrieden stellenden Antwort nur in Kooperation beider Disziplinen zugeführt werden können. In der Architekturphilosophie spielen unter anderem die folgenden Fragen eine zentrale Rolle: Welcher Art ist das Verhältnis von Theorie und Praxis der Architektur? Worin besteht die Ästhetik der Architektur? Welches ist die soziale Funktion der Architektur? Brauchen wir eine Ethik der Architektur? Ist Architektur eine Kunst oder eine techne oder beides zugleich, und wenn ja, in welchem Sinne? Welcher Art sind die Verbindungen zwischen Architektur und Sprache, zwischen Bauen und Sprechen? In welchem Sinne können architektonische Objekte als epistemische Objekte angesehen werden? Was heißt es, architektonische Realitäten zu schaffen und auf diese Weise die Welt zu verändern? Was zeichnet unsere sinnlichen und kognitiven Erfahrungen architektonischer Werke aus? Was heißt es, ein Werk der Architektur wahrzunehmen, zu erleben und zu verstehen? Alle diese Fragen sind intern mit Fragen nach spezifischen Zeichenfunktionen und Interpretationspraktiken, mithin mit Fragen verbunden, die im Zentrum der allgemeinen ZuI-Philosophie stehen. Architektur verstehen heißt des näheren, die Zeichen- und Interpretationssprache der Architektur lesen lernen. Fritz Neumeyer konzentriert sich in seinem Beitrag auf die in puncto Architektur basale und ganz am Anfang stehende Operation, nämlich auf die sich kraft Zeichen vollziehende „Bezeichnung einer Raumgrenze“, zum Beispiel mittels einer in Papier oder Sand oder ein anderes Medium geritzten Linie und rudimentären Umrissfigur (vor Kap. 1). Erst mittels dieser Abgrenzung werden überhaupt erst der Bezirk und die Grundform dessen abgesteckt, wo, was und wie gebaut werden https://doi.org/10.1515/9783110522280-055
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soll. In diesen elementaren Zeichenführungen sind Architekten, wie Neumeyer anmerkt, den Kindern ähnlich. Beide praktizieren gern ihre Fähigkeit, mittels einfacher Werkzeuge wie zum Beispiel eines Stockes oder Griffels (oder heute mittels eines elektronischen Cursors) einfache Figuren in den Boden, in den Grund zu zeichnen, kraft welcher Grund- und Umriss-Zeichen überhaupt erst markiert wird, wo und was gebaut werden soll. Das ist etwa der Fall, wenn heute ein Architekt, Hans Kollhoff etwa, mit einigen wenigen Bleistift-Strichen die zukünftige Kontur und Bebauung des Alexander-Platzes in Berlin skizziert und zum Beispiel Straßenzüge mit doppelten Linien und Hochhäuser mit kleinen Kringeln andeutet. In diesem Sinne ist die Raumabgrenzung in der Architektur die initiale Grundoperation. An sie schließen sich dann alle weiteren architektonischen Maßnahmen an. Auf diese Weise erweitert Neumeyer den Blick in Sachen Architektur über die gebauten Objekte und deren körperlich manifeste Erscheinungen hinaus auf den Anfang des Bauens, auf den elementaren Grundriss als erstem Zeichen und erster Interpretation eines architektonischen Denkens, Entwerfens und Gestaltens. Am anderen Ende des Bauprozesses steht das körperliche Bauwerk als Zeichen in Raum und Zeit. Neumeyer rückt, so möchte ich sagen, das architektonische ‚starting from scratch‘, den ersten Anfang bei einigen Kritzeln oder figürlichen Gestalten, in den Fokus der Aufmerksamkeit. Und bereits diese erste Grund- und Ausgangsoperation kann, wie er richtig sieht, als ein ZuI-Prozess charakterisiert werden. Denn es ist eine erste Differenz und Grenze gesetzt, welches Setzen eo ipso ein zeicheninterpretativer Schnitt ist. Durch diesen aktiven Schnitt werden zunächst ungegliederte und kontinuierliche Verhältnisse aufgetrennt. In der Architektur wird so vor allem zwischen Innen und Außen unterschieden. Und die jeweilige Grenzziehung hätte im Prinzip auch anders ausfallen können. Der ZuI-Charakter setzt sich dann fort auf der ganzen Linie vom ersten ‚scratch‘, der bereits als ein Grundriss fungiert, über die Vorstellungen der Realisierung zum expliziten Entwerfen und anschaulichen Modellieren bis hin zur konkreten Umsetzungsarbeit auf der Baustelle oder, im Falle eines städtischen Ensembles, in dem betroffenen Stadtteil. Im Detail können und sollen diese architektonischen ZuI-Prozesse an dieser Stelle natürlich nicht beschrieben werden. Das ist Thema für ein ganzes Buch. Im Folgenden beschränke ich mich lediglich auf zwei Fragen und Aspekte, die durch Neumeyers Beitrag angestoßen werden: zum einen auf die Frage nach dem Verhältnis von architektonischen ZuI-Praktiken und dem Konzept des architektonischen Raumes (1); zum anderen auf die Frage, in welchem Sinne die Werke der Architektur als Speicher zeichen- und interpretationshaft verfasster Wissensformen lebensweltlicher Wirklichkeiten verstanden werden können (2).
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1 Zeichen- und Interpretationsfunktionen und architektonische Raumbegrenzung Die Fähigkeit, symbolisierende Zeichen in ihren Verankerungen in lebensweltlichen Praktiken der Interpretation verwenden, verstehen und erfinden zu können, ist kennzeichnend für Menschen. Vermutlich ist es vor allem diese Fähigkeit, die uns Menschen ein gewisses Alleinstellungsmerkmal verleiht, uns einzigartig macht. Jedenfalls beruhen auf dieser Fähigkeit die für Menschen so charakteristische symbolische Kommunikation, Kooperation und Kognition ebenso wie die besonderen menschlichen Kulturleistungen (wie unter anderen die Hervorbringung von Sprache, von Moral, von Rechtordnungen, von Musik und von Mathematik). Jedenfalls sind die spezifisch menschlichen ZuI-Prozesse, so die Grundthese der ZuI-Philosophie, grundlegend in den menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnissen, kurz: konditionale und nicht hintergehbare Voraussetzungen für das flüssige und anschlussfähige Funktionieren des Triangels von Ich-WirWelt. Dass dementsprechend umgekehrt das Auftreten von Zeichen und Interpretationen dieser Art auf das Vorhandensein von Menschen schließen lässt, bringt Neumeyer anhand der schönen Geschichte trefflich vor Augen, die Vitruv von dem Sokrates-Schüler Aristippos berichtet (s. Kap. 1). Nachdem Aristippos mit seinen Anhängern Schiffbruch erlitten hat und an einer unbekannten Insel strandet, geht er als erster an Land, um mögliche drohende Gefahren für sich und seine Mitreisenden zu erkennen und letztere warnen zu können. Im Sand eingeritzt entdeckt Aristippos geometrische Figuren (siehe Abb. 1 im Neumeyer-Beitrag). Erleichtert ruft er seinen Begleitern zu: ‚Lasst uns guter Hoffnung sein! Ich sehe nämlich Spuren von Menschen (vestigia hominum video).‘ Die sinnlichen und symbolisierenden Zeichen resp. Linienführungen im Sand (in der Abbildung die geometrischen Figuren eines Dreiecks, Kreises und Quadrates) werden von Aristippos selbstverständlich Menschen und nicht etwa Tieren zugerechnet. Sie werden zum Beispiel nicht einer Ameise zugerechnet, die im Sand herumgekrochen ist und dadurch die figürlichen Gestalten hinterlassen hat – um an Hilary Putnams bekanntes Beispiel derjenigen Ameise zu erinnern, die mit ihrem Herumkriechen im Sand eine Figur produziert, die wie eine Karikatur von Winston Churchill aussieht (vgl. Putnam1981: Kap. 1). Wie erwähnt, adressiert Neumeyer das elementare Ziehen einer Zeichen- und Interpretations-Grenze als einen ersten symbolisierenden architektonischen „Grundriss“, als die initiale Grundoperation der architektonischen Raumbegrenzung. ‚Symbolisierend‘ möchte ich diese Operation aus dem einfachen Grunde nennen, dass ja mit dem Grundriss-Zeichen der fertige Baukörper noch
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keineswegs gegeben, mithin eine gehörige Portion antizipatorischer Vorstellungsund Einbildungskraft am Werke ist. Doch möchte ich die Rolle der Imagination auf dem Weg vom ersten ‚scratch‘ bis zum fertigen Bauwerk hier nicht verfolgen (vgl. dazu SZI Kap. 7). Zu beachten ist vielmehr, dass mit der Frage nach den Figuren im Grund die Frage des Verhältnisses von Baukörper und architektonischem Raum ebenso gestellt ist wie die Frage des Verhältnisses von Zeichen/Interpretation und Raum sowie nach dem inneren Zusammenhang beider. In Bezug auf diese Fragen möchte ich hier nicht näher auf die damit verbundenen philosophisch-epistemologischen Aspekte eingehen. Einige der entsprechenden Aspekte seien hier gleichwohl in Abbreviatur zumindest genannt, um die im Folgenden durchgeführte Konzentration auf den Aspekt der architektonischen Raumbegrenzung als eines zeichen- und interpretations-bestimmten Vorgangs noch deutlicher hervortreten zu lassen. Ich werde im Folgenden mithin nicht auf den Raumbegriff in den Naturwissenschaften und auch nicht auf den Raumbegriff in der Erkenntnistheorie der Philosophie eingehen. Und lediglich erwähnt sei, dass ich die von Fritz Neumeyer in Abschnitt 3 seines Beitrags betonte Relevanz der Architekturmetaphern in der Geschichte der Philosophie von Platon, Descartes, Leibniz, Kant bis Heidegger und in die Gegenwartsphilosophie für sehr trefflich halte. Was die philosophische Erkenntnistheorie betrifft, so sei lediglich erwähnt, dass die Frage des Raumes dort natürlich eine zentrale Rolle spielt. So erheben wir mit unseren deklarativen Erfahrungsurteilen und wissenschaftlichen Aussagen der Form ‚X ist ein F‘ Wahrheitsansprüche, die sich auf Objekte und Ereignisse im Raume außer uns beziehen und an diesen verifiziert oder falsifiziert werden können. Mithin ist die Frage des Verhältnisses der Form sprachlicher Sätzen und der Form des Raumes epistemologisch von grundlegender Relevanz. Im Unterschied zu diesen rein naturwissenschaftlichen und rein erkenntnistheoretischen Fragen halte ich die bei Fritz Neumeyer vorgenommene Fokussierung auf die Frage der architektonischen Raumbegrenzung aus vor allem einem Grund für besonders wichtig. Der entscheidende Punkt ist, dass es überhaupt erst mittels Grundriss-Zeichen/Interpretationen zu einer „Bezeichnung einer Raumgrenze“ kommt. Der „architektonische Raum“ wird durch diese bezeichnende Grenzziehung allererst „konstituiert“ (vor Kap. 1). Mit dieser Sicht bin ich mehr als einverstanden. Sie beschreibt auf treffliche Weise die Fundamentalstellung, die den ZuI-Prozessen in der aktiven Gliederung der zunächst ungegliederten und kontinuierlichen Verhältnisse unserer Welt-Fremd-und-Selbstverhältnisse zukommt. Es ist dieses elementare Vermögen zur Bezeichnung einer Raumgrenze, das überhaupt erst Differenzen, Auftrennungen, Schnitte, Grenzen, Unterscheidungen (in der Architektur vor allem die Unterscheidung von Innen und Außen) in die zunächst kontinuierlichen Verhältnisse legt. Das Ziehen von
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Grundriss-Zeichen/Interpretationen ist architektonische Grund- und initiale Anfangsoperation, ist erste Gestalt-erzeugende architektonische Aktivität, ist elementar individuierendes ‚starting from scratch‘. Die hohe Relevanz dieser architekturtheoretischen wie ZuI-philosophischen Sichtweise scheint mir mit Neumeyer darin zu bestehen, dass sie den Ausgangspunkt einer Architekturtheorie der „räumlichen Zeichenfunktionen und Interpretationspraktiken“ abgeben könnte. Doch eine solche Architekturtheorie „steht noch aus“, wie Neumeyer mit dem Ton eines Postulats feststellt (ebd.). Die philosophisch und des näheren erkenntnistheoretisch überaus wichtige Pointe dieser Zusammenhänge scheint mir die folgende zu sein. Der architektonische Raum ist nicht als etwas vorab fertig Gegebenes anzusehen, nach Art etwa eines zunächst leeren Gefäßes oder eines absoluten Koordinatensystems. Und offenkundig können wir, wie nicht nur Kant betonte, den Raum selbst wie auch die Zeit selbst nicht wahrnehmen. Der architektonische Raum wird überhaupt erst durch die ihn konstituierenden Zeichen- und Interpretationsschnitte und ‐begrenzungen und des näheren erst durch die ihn ausmachenden körperlichen Bauobjekte und städtebaulichen Ensembles zu dem architektonischen Raum, der er für uns ist und dessen Raumkörper wir dann erkunden, wahrnehmen, erleben, verstehen und erkennen können. Es liegt auf der Hand, dass es vornehmlich diese Eigenart des architektonischen Raumes ist, die ihn für die ZuI-Philosophie und dort für die Konzeption des Zusammenhangs von Zeichen/Interpretation und Raum aufschlussreich macht. Im Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse gesprochen wird nämlich an den skizzierten architektonischen Zusammenhängen deutlich, dass die Zeichenfunktionen und Interpretationspraktiken auf der ursprünglich abgrenzenden und raum-zeitlich lokalisierenden ZuI1-Ebene nicht erst als nachträgliche Prozeduren zu einer von diesen gänzlich unabhängigen Existenz des architektonischen Raumes hinzutreten und dann sekundär in diesem auch Objekte und Ereignisse bezeichnen können. Die ZuI-Abhängigkeit des architektonischen Raumes ist auf dieser fundamentalen Ebene vielmehr konstitutiv für den architektonischen Raum selbst. Dass, weiter im Stufenmodell gesprochen, Zeichen und Interpretationen auf der Ebene 3 durchaus und mit überaus großem Erfolg Dinge und Ereignisse in dem auf dieser Ebene vorausgesetzten Raume außer uns bezeichnen, ist offenkundig der Fall. Auf der grundlegenden Ebene 1 jedoch ist entscheidend, dass wir es mit einem architektonischen Raum überhaupt erst kraft der grenzziehenden architektonischen Zeichen-und-Interpretation1-Prozesse, erst kraft der ‚Zeichen im Grunde‘ zu tun haben.
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2 Architektur als Manifestation und Speicher zeichen- und interpretationsverfasster Wissensformen Mit Recht betont Neumeyer vor allem zwei der inneren Verbindungspunkte zwischen der ZuI-Philosopie und der Architekturtheorie. Da ist zum einen (a) die oben erörterte basale Stellung der Grundriss-Zeichen/-Interpretationen und die von dort aus erfolgenden weiteren und ebenfalls zeichen- und interpretationsbestimmten Fortentwicklungen über Skizze, Zeichnung, Entwurf, Modell bis zur operativen Arbeit auf der Baustelle oder in einem Stadtteil oder einer Landschaft. Und da ist zum anderen (b) die Feststellung, dass „in den Werken der Architektur […] gebaute Lebenswirklichkeit zeichenhaft aufgehoben und über lange Zeiträume gespeichert“ ist (vor Kap. 1). Die ZuI-Philosophie könnte also mit dazu beitragen, die offen zu tage liegenden ebenso wie die zeitlich zurückliegenden und eingekapselten Bedeutungen, Referenzen, Exemplifikationen und Relevanzen der Werke der Architektur ans Licht zu bringen und zugänglicher zu machen. Ohne Frage ist dies eine spannende, eine noble Allianz. Im Folgenden möchte ich diese Allianz lediglich im Blick auf die Frage verdeutlichen und unterfüttern, in welchem Sinne die Werke der Architektur als Manifestationen und Speicher unterschiedlicher Wissensformen (z. B. theoretischer, praktischer, technischer, ästhetischer oder ethischer Art) verstanden werden können. Die unterschiedlichen Wissensformen verstehe ich dabei für unsere Zwecke als unterschiedliche Zeichen- und Interpretationsformen. Dieser interne Zusammenhang von Wissensformen und Zeichen- und Interpretationsformen ist in der Sache deshalb geboten, weil jede der angeführten spezifischen Wissensformen intern an ihre Artikulation in Zeichen- und Interpretationsformen gebunden ist. Diese Artikulation ist nicht auf Sprache, mithin nicht auf sprachliche Zeichen begrenzt. Denn die Künste, wie zum Beispiel Musik und Malerei, artikulieren ihr Wissen auf nicht-sprachliche Weise. Aber sie artikulieren es offenkundig in Zeichen und wären ohne ihre Zeichen nicht die Künste, die sie sind. Bereits in den Naturwissenschaften sind die dortigen mathematischen Formalismen nur in einem übertragenen Sinne als Sprache anzusprechen. Man denke etwa an diagrammatische Darstellungen in der mathematischen Topologie. Ein Wissen gänzlich unabhängig von Zeichen und Interpretationen kann nach menschlichem Ermessen kein Wissen sein. Diese Feststellung gilt für den engen ebenso wie für den weiten Begriff von Wissen, wie diese Unterscheidung in der ZuI-Philosophie und des näheren dann in der Systematischen Wissensforschung eingeführt wurde (siehe ausführlich und programmatisch Abel 2012). Ja mehr
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noch, wenn Wissen sich in bzw. kraft Zeichen und Interpretation manifestiert, und wenn es ohne Zeichen und Interpretationen gar kein Wissen gäbe, dann können wir zu der weitergehenden These fortschreiten, dass die Unterschiede in den Wissensformen als Unterschiede in den Zeichen- und Interpretationsformen/ ‐funktionen gefasst und ausbuchstabiert werden können. So wären z. B. eine theoretische, eine praktische, eine technische, eine ästhetische oder eine ethische Art und Weise, Zeichen und Interpretationen zu verwenden, zu erfinden und zu verstehen, zu unterscheiden und diese Unterschiede deutlich zu machen. Damit ist ein Desiderat der ZuI-Philosophie bezeichnet, das in der vorliegenden Replik auf den Beitrag von Fritz Neumeyer natürlich nicht in Angriff genommen werden kann. Aber mit Blick auf die Architektur und ihre Theorie können doch erste Schritte in diese Richtung getan werden. Das Zusammenspiel der Wissensformen beginnt für den Architekten offenkundig nicht erst auf der Baustelle. Es beginnt gleichsam schon bei ihm zuhause, am Zeichenbrett oder Computer, und es fordert ihn auf dem ganzen Weg vom ersten Grundriss-Zeichen, vom ersten ‚scratch‘, über den Entwurf bis zum sinnlich gewollten, wahrnehmbaren und greifbaren Baukörper und zur komplexen Koordination der Arbeiten auf der Baustelle. Man denke hier nur an die mit den unterschiedlichen Formen von Wissen korrelierten Aktivitäten wie zum Beispiel: die erste architektonische Skizze (Bildwissen); das Entwerfen (Entwurfswissen); die formale Gestaltung (Gestaltungswissen); die intendierte Ästhetik (ästhetisches Wissen); und heute natürlich auch an CAD (Computer Aided Design) im Sinne eines elektronischen Zeichenbretts sowie an dessen Weiterentwicklung als CAAD (Computer Aided Architectural Design), das die Architekturgenerierung selbst betrifft und computer-graphisches Wissen voraussetzt und in Anspruch nimmt. Je komplexer das Bauvorhaben – man denke etwa an die gerade eingeweihte Elbphilharmonie in der Hafencity in Hamburg – desto vielfältiger die involvierten Wissensformen und desto komplexer das Verhältnis der distribuierten und integrierten Formen von Wissen. In der Architektur und ihrer Theorie sind jeweils mehrere und unterschiedliche Formen/Typen von Wissen erfordert, am Werke und manifest. Zugespitzt formuliert kann von dieser trivialen Einsicht aus der Versuch ausgehen, Architekturtheorie als zeichen- und interpretations-bestimmte architektonische Wissensforschung zu entfalten. Dieser Versuch soll hier jetzt nicht im Detail durchgeführt, sondern nur kurz skizziert werden.¹ Der Akzent liegt dabei darauf, dass wir es im Falle der Architektur mit einem geradezu exemplarischen Fall des Zu-
Im Folgenden greife ich teils wörtlich auf Materialien zurück, die ich umfänglicher und ausführlicher behandelt habe in meinem Aufsatz Die Wissensformen der Architektur (Abel 2014).
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sammenspiels unterschiedlicher Wissensformen/ZuI-Formen zu tun haben. Architektur ist „gebaute Lebenswirklichkeit zeichenhaft aufgehoben“ (vor Kap. 1), ist Baukörper gewordenes Wissen, gebautes zeichen- und interpretationshaftes Wissen. Dieser Befund gilt in Sachen Architektur sowohl für den engen wie für den weiten Begriff von ‚Wissen‘. Der enge Begriff von Wissen meint solches, das im Zuge methodisch geordneter Verfahren gewonnen und an Begründbarkeit, Rechtfertigung und Beweisbarkeit gebunden ist. Dieser enge Begriff steht in der Fachausbildung von Architekten in Universitäten und Hochschulen im Vordergrund und bestimmt die Lehrpläne, Module und Curricula. Der weite Begriff von Wissen bezeichnet in Sachen Architektur das umfänglichere Feld des architektonischen Könnens, der architektonischen Kompetenzen, Fähigkeiten, Praktiken und Kenntnisse. Zu den in der Theorie und der Praxis des Architekten, im Bauen und in den Werken der Architektur relevanten und interagierenden Wissensformen resp. Zeichenfunktionen und Interpretationspraktiken zählen aus dem Bereich des engen wie des weiten Verständnisses des Begriffs ‚Wissen‘, idealtypisch aufgelistet, die folgenden: Formwissen; Funktionswissen; Vorstellungswissen; Sinneswissen; Kulturwissen; Materialwissen; Gestaltungswissen; Theoriewissen; Knowing-How; Handlungswissen; Erfahrungswissen; szientifisches Wissen; künstlerisches und ästhetisches Wissen; ethisches Wissen; technisches Wissen; implizites und explizites Wissen; piktoriales Wissen; intuitives Wissen; und andere Wissensformen mehr. Ohne Frage ist das eine überaus stattliche, eine geradezu übermenschliche Liste von Wissensformen bzw. Zeichenfunktionen und Interpretationspraktiken. Angebracht sind daher zumindest die beiden folgenden Einschränkungen. Zum einen ist zu betonen, dass es sich um eine idealtypische Liste möglicher involvierter Wissensformen handelt, um eine Liste also, die allein den perfekten und gleichsam göttlichen Baumeister auszeichnen würde. Zum anderen ist hervorzuheben, dass bei konkreten Bauwerken jeweils verschiedene Wissensformen bzw. verschiedene Zeichen-und-Interpretationsformen, nicht jedoch alle möglichen, sondern bereichs- und problemspezifisch nur eine begrenzte Anzahl von Wissensformen mit unterschiedlichen Präferenzierungen und Abzweckungen gefordert sind. Wäre es hinsichtlich der konkreten Werke der Architektur in Geschichte und Gegenwart der Fall, dass diese alle in Architektur realisierbaren Wissensformen zugleich verkörpern und zur Darstellung bringen müssten, käme es mit Sicherheit zu ungenießbaren Produkten, auf die wir uns nicht verstehen würden. Vielmehr handelt es sich je nach Zweck, Aufgabe und angestrebter Wirkung eines Architekturwerkes um je spezifische Präferenzierungen, Dominanzen und Koalitionen
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bestimmter Wissens-, Zeichen- und Interpretationsformen in einer gegebenen Kultur und Zeit und darin stets nur um Dominanzen-auf-Zeit. Von einer ‚architectura perennis et universalis‘ sind wir (trotz der in Stein gebauten Werke) nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch abgeschnitten. Deutlich wird jedoch entlang der angeführten idealtypischen Liste zugleich, welch tiefen Sitz die Architektur in unserem Leben hat und welch hohe Relevanz ihr für die Gestaltung und Identität unserer Lebenswirklichkeit in deskriptiver wie normativer Hinsicht zukommt. Das ‚gute Bauen‘ ist intern mit der Idee des ‚guten Lebens‘ verknüpft oder zugespitzter noch formuliert: wer überhaupt baut, ist intern bereits auf die regulative Idee des ‚guten Bauens‘ in etwa so verpflichtet wie eine Person, die ihr physisches Überleben sichert, eben dadurch zugleich auch auf die (schon von Aristoteles formulierte) Idee des ‚guten Lebens (eu zen)‘ bezogen ist. Dieser Einstellung entspricht die generelle Ansicht, dass wir im Bauen nicht im Sinne eines spielerischen Relativismus der Beliebigkeit oder eines Anything Goes irgendwelche Zeichen setzen und in Stein speichern wollen. Aus den vielen möglichen Zeichen, wollen wir die in einer gegebenen Kultur und Zeit ‚richtigen‘ architektonischen Zeichen setzen und speichern, wie immer ‚richtig‘ im Einzelnen bestimmt werden mag. Ohne diesen bereits vorausgesetzten ethischen Bezug jedoch wären auch die teils heftig geführten Auseinandersetzungen in Architektur und Stadtplanung (wie in Berlin zur Zeit etwa die Debatte um die Baugestaltung des Alexanderplatzes) gar nicht möglich. Architektur ist Verkörperung und Speicher einer Pluralität unterschiedlicher Wissensformen und bringt in ihren Werken deren spezifische Konfigurationen zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Gestalten zur baulichen Manifestation. Dieser Befund gilt in ‚horizontaler bzw. synchroner Hinsicht‘ ebenso wie in ‚vertikaler bzw. diachroner Hinsicht‘. In horizontaler Hinsicht geht es um das Zusammenspiel mehrerer Wissensformen in einer gegebenen Zeit, Kultur und geschichtlichen Situation sowie im Lichte je unterschiedlicher Problemstellungen (wie z. B. beim Bau eines Wohnhauses, eines Flughafens, eines Museums oder eines Forschungslaboratoriums oder bei der Gestaltung des Alexanderplatzes). In vertikaler Hinsicht geht es zum einen um den ganzen Weg vom ersten GrundrissZeichen, vom ‚scratch‘ und ersten Entwurf bis zur konkreten Anleitung auf der Baustelle, zum anderen und entlang der Geschichte der Architektur um den Weg von den jeweils ersten Anfängen des Bauens bis zu den Architekturwerken der Gegenwart. Entsprechend können Bauwerke als horizontale Wissens-Speicher (und das heißt zeichenhaft auf gegenwärtige Lebenswirklichkeiten bezogene und diese kulturelle Gegenwart und deren Konventionen, Erfahrungen, Sitten und Gebräuche zeichen- und interpretationshaft zum Ausdruck bringende Bauwerke oder städtische Ensembles) und zugleich auch als vertikale Wissens-Speicher angesehen werden (wobei letzteres heißt als Bauwerke, in denen sich vergangene
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gesellschaftliche Konventionen und kulturelle Erfahrungen zurückliegender Zeiten manifestieren und gleichsam zu Stein geworden sind, wie z. B. der Kölner Dom oder, Neumeyers Beispiele, der Stadtteil Santa Croce in Florenz oder das städtebauliche Profil der Stadt Lucca). Die vergangene symbolische Bedeutung von Bauwerken und ganzen Stadtteilen, genauer gesagt, „die Zeichenfunktion ihrer Gestalt“ (Kap. 5) kann ihre Zeit weit überleben und oftmals auch nur schwer zugänglich sein, wie z. B. im Falle der ägyptischen Pyramiden. Sie können zu gestaltmäßigen und darin zugleich semantischen „Erinnerungs- und Bedeutungsträger[n]“, zu „Denkmale[n]“ werden (ebd.). Und die mit gegenwärtigen Bauwerken (z. B. eines Fußballstadions anlässlich der nächsten Weltmeisterschaft) zur Zeit verknüpften symbolischen Bedeutungen haben ihre ZuI-Zukunft erst noch vor sich.
Literatur Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2012: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52. Abel, Günter 2014: Die Wissensformen der Architektur, in: Eckert, Dieter (Hg.): Die Architektur der Theorie. Fünf Positionen zum Bauen und Denken, Berlin, S. 39 – 58. Putnam, Hilary 1981: Reason, Truth and History, Cambridge Mass.
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Entwurfslehren und ‚Grammatik architektonischer Form‘ Wissensbestände der Architektur von Vitruv bis zum Handbuch der Architektur Abstract: Günter Abel’s Philosophy of Signs and Interpretation contains, just like the “knowledge research” Abel developed, a number of possible connections to architecture, more precisely to the history of architecture and its bodies of knowledge, and to the theory of architecture. The history of architecture can be conceived as a history of signs and interpretation. And the theory of architecture is obviously concerned with different forms of knowledge and their interactions and dynamics. Philosophy of signs and interpretation is declaredly not a semiotics. Hence, in terms of architecture, it must not be confused with the topos “semiotic system architecture”, as it was used since the 1960ies. Abel’s approach avoids those theory constrictions that started since the change around 1900 for the developments of the theory of architecture and the entire discipline of architecture and that have been characteristic from the second half of the 20th century until today.
‚Zeichensystem Architektur‘ ist ein Topos der 1960er Jahre: in jenem Jahrzehnt wurden strukturalistische Metaphern als Analogien bemüht, utopische Architekturerfindungen für Raumstädte, Groß-Strukturen und wandernde Kunstbauten für Wüsten und Meere in Zeichnungen und Modellen evoziert. Bei der Übertragung semiologischer Diskurse auf das Feld Architektur wurden Begriffe und Denkfiguren aus Nachbarwissenschaften übernommen – von Max Benses ‚informationstheoretischer Ästhetik‘ (1969) und seiner ‚allgemeinen Theorie der Zeichen‘ (1967) bis hin zu Rossis ‚programmierten Strukturen und Ikonologie‘ (1971).¹ Hermeneutische Ansätze für die Deutung architektonischer Themen und Produkte entwickelten sich seit den 1960er Jahren aus älteren Denkfiguren; HansGeorg Gadamers Wahrheit und Methode (1986)² wirkte auf die Versuche, ‚allge-
Zu diesem Thema siehe (Dreyer 2003); zusammenfassend: (Broadbent / Bunt / Jencks 1981), darin: (Eco 1981). „Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins“ siehe (Gadamer 1982). https://doi.org/10.1515/9783110522280-056
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meine Theorien des Schönen‘ mit dem Bewusstsein von Zeitbezogenheit und wirkungsgeschichtlicher Aspekte zu versöhnen; Ecos ‚Semiotik‘ (1981) vermittelte dazu eindrückliche Beispiele aus der Welt der Architektur. Absicht und Auswirkung architektonischer Entwürfe sollten in jenen Jahren mit neuen Vokabeln beschrieben, ‚Zeichencharakter‘ und Bedeutung debattiert werden, autonome Neuerfindung architektonischer Form erschien denkbar. Kategorien und normative Überzeugungen bezogen sich zwar noch immer auf überlieferte Referenzen und Notationsgewohnheiten (klassifikatorischer und historischer Ordnungen); Begriffe von Semantik und Repräsentation (Goodman 1968) wurden für die Architektur neu diskutiert, den breiteren Fachdialog des 20. Jahrhunderts beherrschte aber eine Engführung theoretischer Reflexion, die sich in zunächst gegensätzlich erscheinenden Entwicklungen ausdrückte: – Die Utopie einer ‚allgemein-abstrakten Architektursemiotik‘ erleichterte Aufgabe und Ablehnung älterer Wissensbestände und historischer Ordnungssysteme, enzyklopädisches Denken und Kenntnisse über geschichtliche (Form‐)Grammatiken konnten aus dem Anwendungswissen herausgelöst, musealisiert und neu ‚historisiert‘ werden. (‚Baugeschichte‘ wurde zum Bildungsfach.) – Als Surrogat einer ‚allgemeinen Fachtheorie‘ etablierten sich der ‚Entwurf‘ als Methode einer Neu-Erfindung architektonischer Form und die Idee zeitlos gültiger ‚Architekturästhetik‘; technische und pragmatische Wissensbestände des Bauens wurden als hierarchisch weniger wertvoll, als Hilfs-Fächer begriffen, die dem als zentral empfundenen Ideal ‚des Entwerfens‘ – nicht als Konstruieren, sondern als Gestaltfindung begriffen – zugeordnet wurden. (Das Fach ‚Entwerfen‘ rückte ins Zentrum akademischer Lehre.³) In diesem Beitrag wird diskutiert, wie aus der Antike überlieferte ‚innerarchitektonische Wissensbestände‘ und symbolische Form bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert interagierten und an welcher Stelle die normativen Konzepte aufgegeben wurden. Tradierte Wissensformen der Architektur (und ihre Charakteristika) werden mit Neuentwicklungen des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts verglichen. Schwerpunkt der Betrachtung ist die Umbruchsituation um 1900: Damals wurde mit dem Handbuch der Architektur eine letzte Architekturenzyklopädie konzipiert, die den Übergang von der polytechnischen Denktradition zu neuen Vermittlungskonzepten sichtbar macht und letztmalig die (alte)
Nach dem Ersten Weltkrieg werden Fächer an den polytechnischen Schulen mit neuen Bezeichnungen versehen, der abstrakte Begriff ‚Entwerfen‘ ersetzt ältere Bezeichnungen, wie z. B. ‚Entwerfen im Stile der Renaissance‘ usw.
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‚gesamte Disziplin‘ in den Blick nimmt. Auswirkungen der Reformansätze des beginnenden 20. Jahrhunderts, die eine Engführung der Wissensfelder und die Uminterpretation überlieferter Schwerpunkte erzwingen (mit der Aufgabe sowohl der klassifikatorischen, wie der historischen Ordnungen), werden erst zur Jahrhundertmitte in der Breite sichtbar. Das Scheitern der Versuche der ‚Architektursemiotik‘ der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eine ‚allgemeine‘ und abgesicherte ästhetische Theorie zu erreichen, wird unter Bezug auf Günter Abels – grundlegend anders gelagerte – Zeichentheorie (die „Zeichen der Wirklichkeit“) diskutiert. Die Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels⁴ enthält ebenso wie die von ihm konzipierte ‚Wissensforschung‘ Bezüge zu Wissensbeständen und Geschichte der Architektur wie zur Architekturtheorie. Architekturgeschichte kann als Zeichen- und Interpretationsgeschichte gelesen werden; Architekturtheorie hat es offenkundig mit unterschiedlichen Wissensformen und deren Interaktionen und Dynamiken zu tun. Die Zeichen- und Interpretationsphilosophie ist erklärtermaßen keine Semiotik. Sie darf daher auch in Bezug auf die Architektur nicht mit dem Topos ‚Zeichensystem Architektur‘ verwechselt werden, wie dieser seit den 1960er Jahren verwendet wurde. Die Abel’sche Konzeption vermeidet genau jene TheorieEngführungen, die für Entwicklungen der Architekturtheorie und des Fachs Architektur insgesamt mit der Umbruchsituation um 1900 begannen und dann für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnend sind.
1 Wissensbestände der Architektur: die Tradition Vitruvs Vitruvs Zehn Bücher über Architektur ⁵ waren bis ins 20. Jahrhundert hinein kanonbestimmend und bestimmten Wissensbestände und Methoden des Fachs. Vitruv vermittelt zugleich mit der Information über Techniken und Fertigkeiten Kategorien und Wissensformen, und er gibt Beispiele – so gleich im ersten Kapitel: „Des Architekten Wissen umfasst mehrfache wissenschaftliche und mannigfaltige elementare Kenntnisse. Seiner Prüfung unterliegen alle Werke, die von den übrigen Künsten geschaffen werden. Dieses (Wissen) erwächst aus fabrica
Vgl. Iw, SZI und ZdW; siehe auch (Abel 2007, 2010 und 2014). Vitruvs Zehn Bücher über Architektur / Vitruvii de architectura libri decem werden im Folgenden gemäß (Vitruv 1964) zitiert.
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(Hand-Werk) und ratiocinatio (geistiger Arbeit). Fabrica ist die fortgesetzte und immer wieder (berufsmäßig) überlegt geübte Ausübung einer praktischen Tätigkeit, die zum Ziel eine Formgebung hat, die mit den Händen aus Werkstoff, je nachdem aus welchem Stoff das Werk besteht, durchgeführt wird“ (Vitruv 1964: 23). Planvolle Überlegung und Kenntnis der theoretischen Grundlagen (534) ist für Vitruv ebenso wichtig wie handwerkliche Geschicklichkeit: Seiner Auffassung nach „konnten Architekten, die unter Verzicht auf wissenschaftliche Bildung bestrebt waren, nur mit den Händen geübt zu sein, nicht erreichen, dass sie über eine ihren Bemühungen entsprechende Meisterschaft verfügten“ (23). Ebenso wenig dürfe man sich nur auf die Berechnung symmetrischer Verhältnisse und wissenschaftliche Ausbildung verlassen. Vitruv fordert ‚Begabung‘ und ‚Schulung‘, der Architekt müsse „im schriftlichen Ausdruck gewandt sein, des Zeichenstiftes kundig, in der Geometrie ausgebildet sein, mancherlei geschichtliche Ereignisse kennen, Kenntnisse in der Sternkunde und vom gesetzmäßigen Ablauf der Himmelserscheinungen besitzen“ (25). Die Aneignung von Kenntnissen vieler Wissenschaften und Künste sei nötig: „encyclopädische Bildung“ (31, vgl. 33) müsse die Kenntnisse verschiedener Wissenschaftszweige vereinigen, wenngleich die gleichermaßen exzellente Beherrschung aller Zweige für den Architekten nicht zu fordern sei („Die aber, denen die Natur soviel Talent, Scharfsinn und Gedächtnis verliehen hat, dass sie Geometrie, Sternkunde, Musik und die übrigen Wissenschaften voll und ganz beherrschen, wachsen über den Beruf des Architekten hinaus und werden Mathematiker“ (35)). Vitruv gibt als Grundbegriffe der Baukunst „Ordinatio […], Dispositio […], Eurythmia, Symmetria, Decor und Distributio“ (37). Die Formen der ‚Dispositio‘ beschreibt er mit „Ichnographia, Orthographia, Scenographia“ (ibd.) – damit gleichzeitig Darstellungs- und Vermittlungsmethoden ansprechend – Abstraktion und maßstäbliche Darstellung in Grundriss, Aufriss und Perspektive. Neben diesem eindrucksvollen Zeugnis von Methodenreflexion gibt uns der Autor eine Definition des Gesamtfelds. Zu den 10 Büchern gehören Anleitungen zum Maschinenbau (von den Grundfaktoren der Mechanik bis hin zu den Belagerungsmaschinen), Wissensbestände über Astrologie, Anleitungen zum Wasserbau bis hin zu materialwissenschaftlichen Grundlagen. Im zweiten Buch schreibt Vitruv über Grundstoffe und Qualitätskriterien guter Baumaterialien (74– 131); im siebten Buch schließlich erfahren wir von Techniken des Innenausbaus und der Ausstattung (vom Löschen des Kalks bis zum „künstlichen Ersatz“ für Berggrün und Indigo für Wandmalerei) (302– 353). Ein Grundproblem der Architekturlehre ist schon bei Vitruv evident: der systematische Konflikt zwischen einer ‚Bauplanungslehre‘ als abstrakter Methodenlehre und dem Vermitteln gebauter Beispiele als Anschauung aus der Geschichte.
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Drittes und viertes Buch sind daher in eher allgemeiner Diktion der Vermittlung von bereits als kanonisch betrachteten Lösungen in historischer Perspektive gewidmet (Drittes Buch: „Von den Symmetrien der Tempel“ (136 – 154), Viertes Buch: „[…] die Entstehung der drei Säulenordnungen und die Maße der korinthischen Kapitelle“ (166 – 200)), im fünften (202– 255) und sechsten Buch (256 – 301) erfahren wir konkretere Anleitungen zum ‚richtigen‘ Planen, eine ‚Gebäudelehre‘ nach Bauaufgaben. Der Autor vermittelt: – Überblickswissen zu kulturellen, historischen und ‚Bildungsfragen‘, – Methoden (Abstraktion, Darstellung, Geometrie), – Technische Grundlagen (Materialkunde, ‚Rezepte‘, Qualitätskriterien), und – Proportionssysteme als ‚Anleitung und Hilfsmittel zum Entwurf‘. Zu den ‚elementaren Kenntnissen‘ zählt Vitruv historisches Bewusstsein, Überblick, Urteilsvermögen, Abstraktionsfähigkeit – „bewusste vernünftige (theoretische) Überlegung“ (33), die er als Gemeingut aller wissenschaftlich Gebildeten sieht. Die vorgeschlagenen Kategorien einer ‚Aufteilung der Baukunst‘ in Bauten, Kalenderbauten und Maschinen, in öffentlich und privat und in militärisch, religiös und profan bleiben wirkmächtig bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, wie auch die von Vitruv geforderten Prinzipien guter Baukunst: „Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Anmut“ (45) („ratio firmitatis, utilitatis, venustatis“ (44)). Heiner Knell hat in einem Beitrag über die Hermogenes-Anekdote und das Ende des dorischen Ringhallentempels (1984) die Grenzen der Vitruv’schen Entwurfsprinzipien diskutiert und gezeigt, wie das hier formulierte Konzept einer Berechnung der Symmetrie der Glieder und die ästhetisch begründete Korrektur der Triglyphenanordnung des dorischen Tempels in Widerspruch geraten – warum also die von Vitruv angestrebte „generelle Regel“ (Knell 1984: 47) eines modularen Architekturaufbaus im Sinne „festumrissener Vorschriften“ (ibd.) zu Proportionsfiguren dort verletzt wird. Nach den Vitruv’schen Regeln würde nach Knell „trocken akademischer Schematismus“ (60) erreicht – ein wunderbares und frühes Beispiel für mögliche Grenzen einer ‚Lehre der Ästhetik‘.
2 Das Handbuch der Architektur als Endpunkt einer Denktradition Später Höhe- und Endpunkt der durch die antike Überlieferung etablierten Denktradition (und Kanonbildung) ist das Konzept des Handbuchs der Architektur (HDA) – einer Reihe, die in den 1870er Jahren mit dem Anspruch konzipiert wurde,
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gültige Wissensbestände des Fachs und Ergebnisse aktueller wissenschaftlicher Forschung abzubilden. Das Handbuch erreicht rund 140 Bände, die Weiterführung wird nach dem Zweiten Weltkrieg eingestellt.⁶ Rund 2000 Jahre nach Vitruv und als Ergebnis zweier Jahrhunderte polytechnischer Wissenschaftsgeschichte zeigen sich Fragestellungen und Grundüberzeugungen nahezu unverändert, selbst die Gliederung der Handbuchreihe folgt den Vitruv’schen Prinzipien. Teil I des HDA ist dem „Grundlagenwissen“ gewidmet und heißt „Allgemeine Hochbaukunde“, es folgen als Teil II Bände über die „Baustile“ in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive, die Bände zum „Entwerfen, zur Anlage und Einrichtung der Gebäude“ erscheinen als Teil IV, in umgekehrter Reihenfolge im Vergleich zu Vitruv, der die technischen Spezialgebiete an den Schluss seiner Bücher gestellt hat, während die „Hochbaukonstruktionen“ in der Handbuchreihe als Teil III direkt nach den Baustilen Platz finden (vgl. Jaeger 2006: 351– 364). Freilich hat sich der Umfang des Wissens über die Geschichte verändert, es sind neue technische Entwicklungen zu verzeichnen (vom Haustelegrafen über elektrische Beleuchtung bis zu den Stahlprofilen): Materialwissen wird jetzt mit naturwissenschaftlichen und experimentell begründeten Formeln vermittelt, die eigentliche ‚Anleitung zum Konstruieren‘, die Vermittlung der Prinzipien von Erfindung und Definition architektonischer Gestalt beginnt aber weiterhin mit historischer Anschauung, ähnlich wie bei Vitruv mit der Darstellung von Entwicklungsgeschichte, Proportionslehren und Beispielen historischer Bauten. Trotz erstaunlicher Kontinuität der Argumente spricht das Handbuch von einer neuen Systematik morphologischer Varianten: Die Vorstellung der „Bauformen“ (Essenwein / Exner 1880: 52) solle in Anlehnung an Haupt-Stilepochen „Gestalt und Bezeichnung der einzelnen Baustile in systematischer Weise vorführen“ (ibd.). Die Autoren der Handbuchreihe können noch immer postulieren, dass eine solche Bauformenlehre „feststehenden ästhetischen Grundprincipien“ (ibd.) entsprechen werde. In rund 2000 Jahren Baugeschichte blieben bis zum HDA erstaunlicherweise unverändert: ‒ die Auffassung der ‚innerarchitektonischen Wissensbestände‘ (wenn man davon absehen mag, dass der Maschinenbau seit dem 19. Jahrhundert eigenständige Fachentwicklungen verfolgte), ‒ das Ideal geschichtsbezogener Grundlegung architektonischer ‚Invention‘, und ‒ das Ideal von ‚Theorie-Praxis-Bezug‘.
Eine gut recherchierte Liste der Ausgaben ist bei (Jaeger 2006) zu finden.
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Die Herausgeber des HDA zitieren in der Einführung zur „Allgemeinen Hochbaukunde“ aus Sempers Stil (1860: 372): „Wer den Zwang der Säulenordnungen abwirft, muss sich dafür einen anderen Kanon schaffen oder Charakter und subjectiven Ausdruck in der Baukunst geradezu verläugnen, ihr nur das Recht allgemein typischen Inhaltes zuerkennen. Wer keinerlei Fesseln kennt, dessen Kunst zerfährt in form- und bedeutungsloser Willkür“ (Essenwein / Exner 1880: 51). Die Volumina des Handbuchs der Architektur belegen in eindrucksvoller Weise die von Semper beschriebenen Schwierigkeiten des Übergangs von tradierter Formengrammatik zum Versuch einer eigenständigen Theorie architektonischer Form; Einzel-Bände verschiedener Autoren verdeutlichen die zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits divergierenden Argumentationslinien exemplarisch. Die Handbuchreihe ist einerseits eine bedeutende, letzte, heroische enzyklopädische Anstrengung, die die seit der Antike tradierten Wertungen, die ‚Abgrenzung der Disziplin‘, Fachschwerpunkte und Rollenverständnisse nochmals in eindrucksvoller Weise belegt. Sie zeigt aber mit dem Aufbrechen eben jener Debatte über die ‚Willkür‘ das Ende des Konsenses über den Rang einzelner Wissensbestände und damit einen Epochenbruch an: Die Herausgeber sind zwar bemüht, divergente Auffassungen innerhalb der Reihe zur Sprache zu bringen und als Fachdebatte zu integrieren, dennoch wird deutlich, dass das tradierte Disziplinverständnis an zwei zentralen Punkten nicht mehr aufrechterhalten werden kann: – Die Relation der Themenfelder und ihre zuvor idealistisch apostrophierte ‚Gleichrangigkeit‘ verändern sich (zugunsten einer Betonung der Utopie autarken Entwerfens), und – das Verständnis der Bindung architektonischer Form an kodifizierte ‚Zeichenform‘, deren Bedeutung kulturell überliefert war, verändert sich hin zu einem Ideal ‚freier‘ Form. Als Illustration dieser Entwicklung sollen zwei Handbuchbände vorgestellt werden.
2.1 Josef Bühlmanns „Bauformenlehre“ – die Verallgemeinerung der entwicklungsgeschichtlichen Sicht Josef Bühlmann, Hochschullehrer an der TU München und Spezialist für die antike Architekturgeschichte⁷ sieht den von ihm vermittelten Formenschatz der
Bühlmann lebte von 1844 bis 1921 und war seit 1888 ordentlicher Professor der Baukunst, seit 1897 Professor der Bauformenlehre, Perspektive und Innendekoration an der TU München.
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Bauformenlehre als überzeitliches Kontinuum eines sich stetig vervollkommnenden Vokabulars architektonischer Form: „Ein aufmerksames Studium der Baugeschichte belehrt uns […], daß die Schmuckformen, welche die einzelnen Völker und Zeitalter in ihren Bauwerken anwendeten, nicht der Willkür entsprungen […] sind, sondern daß dieselben nach einer inneren Notwendigkeit allmählich folgerichtig sich entwickelten und durch viele Übergänge zur Vollkommenheit gelangten“ (Bühlmann 1901: 4). Bühlmann sieht jede Zeit als abhängig von ihren Vorgängern, „auf den Schultern derselben stehend“, die Kunstformen der Architektur seien nicht der Natur nachgebildet, sondern „frei erfunden“: Jene Erfindung sei aber nicht das Werk einzelner Künstler, sondern „das allmähliche Ergebnis einer langen Kunstthätigkeit“ (ibd.). So aus „erkennbaren Bedingungen“ (ibd.) hervorgehend entwickelten sich für bestimmte Perioden ‚Stile‘. Bauformen könnten Gegenstand einer systematischen Lehre sein. Ganz der Denktradition der Polytechniker folgend, gibt Bühlmann neben diesem entwicklungsgeschichtlichen Ansatz eine zweite Begründungslinie, die Abhängigkeit architektonischer Form von konstruktiven und künstlerischen Bedürfnissen. Ursprung der „funktionellen Bedeutung der Bauformen“ (5) sei die „zweckmäßige Gestaltung der einzelnen Bauteile“ (4) – durch künstlerisches Empfinden werde eine Steigerung des Ausdrucks möglich und so die „Kunstform“ (5)⁸ erreicht. Mit dem Begriff der „konstruktiven Bauform“ (8) wird dieser Gedanke weiterentwickelt, dennoch wird die Verbindlichkeit eines historisch begründeten Formenkanons nochmals eigens begründet: „Mit dem Wechsel der Konstruktionen und der Materialien ist der aus diesen beiden Faktoren hervorgehende Reichtum an Formen sowohl in der Vergangenheit, als auch in der Gegenwart ein unbegrenzter. Für die Bauformenlehre haben jedoch nur jene Formen ein besonderes Interesse, welche entweder stetig wiederkehren und daher für mannigfaltige Bildungen, sozusagen, grundlegend geworden sind, oder welche zu späteren dekorativen Bildungen die Veranlassung gegeben haben“ (21). Architektonischer Ausdruck, die historisch gewachsene „Bedeutung der konstruktiven Form“ (6 ff.), begründet hier die Unterscheidung von ‚Nützlichkeitsbauten‘ und „Bauten von geistiger Bedeutung“ (21) (im idealen Sinne von Baukunst); Schmuckform und Dekoration wiederum folgen den Bedingungen des „Kunstschaffens“ (24), die wiederum über eine ‚Schule der Wahrnehmung‘ vermittelbar werden. Josef Bühlmann bezeichnet das „Sehen als seelischen Vorgang“ (ibd.)⁹: Bühlmann diskutiert auch die „malerische[ ] Wirkung“ (Bühlmann 1901: 5). Der Autor weist auch auf Schnittmengen mit der Lehre der „Baustile“ hin, die „geschichtliche Entwickelung der behandelten Bauformen“ (ibd.) mache die Überschneidung unausweichlich. S. auch „Der Sehvorgang als Grundlage des Kunstschaffens. a) Das Sehen als seelischer Vorgang.“ (Bühlmann 1901: 24)
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Abb. 1: Fig. 149 aus (Bühlmann 1896)
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Die durch das Sehorgan übermittelten Elemente der Wahrnehmung würden mit einer „seelischen Rekonstruktion des Wahrgenommenen“ (25) verbunden, also mit früheren Eindrücken, mit ‚Erinnerung‘ verknüpft. Die individuelle Auffassung des Gesehenen schafft also Interpretationen und trägt zu einer ‚Gesamtvorstellung‘ idealer Charaktere und von weiterentwickelten idealtypischen Formenvokabularen bei. Bühlmann nennt ‚feststehende Formenzusammenstellungen‘ „Ordnungen“ (106) und weist auf Bindungen durch Materialwahl und Größe der Bauglieder hin, die Praxis erfordere „verschiedene Abänderungen“ (108) der „ideellen Formengebung“ (ibd.). Dennoch dürften Varianten und Neuerfindungen nicht „auf Kosten derjenigen Grundgedanken, welche das innerste Wesen der Baukunst“ (269) bildeten, verwirklicht werden – und hiermit meint Bühlmann das ‚Wesen der Tektonik‘, das Kontinuum der Formenvokabularien, mithin die überlieferte Grammatik architektonischer Form, die fortwährend weiterzuentwickeln sei, aber dennoch Bedeutung und Zeichencharakter aus der Gesetzmäßigkeit einer ‚langen Geschichte‘ erhalte.
2.2 Hermann Pfeifers „Formenlehre des Ornaments“ als Kompositionslehre und die Entdeckung der „Naturform“ Ebenfalls als Teil des Handbuchs der Architektur erschien 1906 eine Formenlehre des Ornaments von Hermann Pfeifer. Der Autor spricht von „ornamentalem Entwerfen“ (Pfeifer 1906: 6) und sucht, anders als Bühlmann, offene Abgrenzung zur historischen Überlieferung: „Wer möchte es leugnen, daß wir heute übersättigt sind mit den vielen historischen Schmuckformen, welche im XIX. Jahrhundert wieder aufgewärmt wurden, und daß wir nach frischer Kost verlangen, selbst wenn sie nicht mit allem Raffinement gewürzt ist“ (3). Heilmittel und Methode möglicher Auffrischung ist für Pfeifer nun vor allem das „vertiefte Studium der Natur“ (ibd.): „Nur ein inniges, dauerndes Verhältnis zur Natur kann uns vor Wiederholung und Maniriertheit bewahren“ (4). Der Bruch mit dem ‚Kanon‘ der überlieferten architektonischen Form ist hier programmatisch – der Autor verlangt die Abwendung von der „Nachahmung“ (ibd.) der bereits kanonisierten, symbolisch gewordenen Formüberlieferung, stellt dagegen nun aber die Natur als Gestaltgeber und Studienobjekt. Die neuen Natur-Vorbilder müssen gleichwohl ‚stilisiert‘, Grundlagen des „ornamentalen Entwerfens“ (6) sollen gelernt werden. Die akademische Tradition wird von Pfeifer zitiert, aber polemisch hinterfragt: Er qualifiziert die Auffassungen Gottfried Sempers als überholt, unter den für ihn nun populären Schriften ist Alois Riegls Stilfragen; Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik (1893) (Pfeifer 1906: 6). Pfeifer beginnt mit anthropomorphen Metaphern, führt ‚Gesetzmäßigkeiten der Natur‘ ein, um schließlich
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Blatt- und Pflanzenbilder als Vorbilder neuer Ornamentform zu präsentieren (14 ff.).Vorbildlich gilt ihm dabei das Werk von Maurice Pilard Verneuil Étude de la plante, son application aux industries d’art (1903). Die Naturform solle allerdings, so Pfeifer, „sinngemäß angewendet“ (Pfeifer 1906: 22), interpretiert werden, mit der „bloßen Naturalistik“ (23) sei noch nichts erreicht, Wirkung entstehe durch Komposition, ‚Übersetzung‘ der Naturform. In der Formenlehre des Ornaments (Pfeifer 1906) wird argumentiert, dass Ornament und Naturformen als Symbole wirkten, Wissen über deren Bedeutung aber stetig zurückgehe, tradierte Symbole deshalb immer weniger „hypnotische, fanatisierende“ (45)¹⁰ Kraft entfalteten. Die „Kompositionslehre des Ornaments im allgemeinen“ (66 – 129) zielt also auf eine nicht mehr durch wissenschaftliches oder gesellschaftliches Wissen abgesicherte Gestaltung, sie will eine auf eigenständige Kompositionsgesetze abgestützte Form, die ihre Berechtigung aus Naturähnlichkeit und Analogie zu ‚menschlichen Maßen‘ schöpft.¹¹ Dennoch werden tradierte Formvokabularien – nun allerdings als (naiv) ‚abstrahierte‘ Ornamentform weiter genutzt. Hermann Pfeifer diskutiert beispielsweise „Die Linie als Ausdruck der Bewegung“ (87), oder „die ornamentale Kraft der strahlenförmigen Motive: = Wiederholung um einen Mittelpunkt“ (118) und bringt, der Zeitmode entsprechend, Beispiele ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Lösungen (113). Seine Arbeiten weisen, obwohl er am Braunschweiger Polytechnikum lehrte, auf die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert etablierende kunstgewerbliche Bewegung. An den Kunstgewerbeschulen entstanden etwa mit Franz Sales Meyers Systematisch geordnete[m] Handbuch der Ornamentik zum Gebrauche für Musterzeichner, Architekten, Schulen und Gewerbetreibende sowie zum Studium im Allgemeinen (1911)¹² und weiteren ähnlichen Sammlungen Anleitungen zu freier dekorativer Gestaltung. Historische Lösungen sind jetzt weitgehend ohne Quellenangaben nach Formanalogien zusammengetragen, die Kontexte so bewusst ausgeschaltet, die Bedeutung der Einzellösungen wird damit uninteressant. Englische Vorbilder einer ‚entwicklungsgeschichtlichen‘ Darstellung hatten, bereits mit Owen Jones wirkmächtiger The Grammar of Ornament (1856), schon Mitte des 19. Jahrhunderts die „ever varying phases of Ornamental Art“ (Jones 1856: 1) gefeiert. Jones pos-
Vgl. Pfeifer über Beispiele religiöser Zeichen (45 ff.). In dieser Argumentationsweise übrigens nicht unähnlich späteren Ideologien – siehe etwa Ernst Neuferts Bauentwurfslehre (1936); auch Le Corbusiers Modulor (1953/58) zeigt analoge Argumente. Zur Einleitung betont Meyer: „Das Ornament ist der künstlerische Schmuck; die […] Ornamentierung ist die Anwendung desselben […].“ (1911: 1)
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Abb. 2: Fig. 94 aus (Pfeifer 1906)
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Abb. 3: Fig. 135 aus (Pfeifer 1906)
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Abb. 4: Fig. 127 aus (Pfeifer 1906)
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tulierte interessanterweise das Vorhandensein von „general Laws“ (ibd.), allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, die sowohl die Auswahl wie auch Ausprägung der historischen Entwicklungen bestimmt hätten (vgl. ibd.), glaubt aber früh, dass ein Rückbezug zur Natur („a return to nature“ (2)) geboten sei, um frische Inspiration zu gewinnen für künftigen Fortschritt. Die älteren Publikationen der wissenschaftlich engagierten Architekten des 19. Jahrhunderts waren dagegen baugeschichtlichem Interesse und dem Versuch der Systematisierung der geschichtlichen Überlieferung geschuldet, wie Karl Böttichers Architektonische Formenschule in Ornament-Erfindungen von 1861, das sich auf dessen Tektonik der Hellenen (1852) und seine Ornamentvorbilder (1858) beziehen konnte. Die Idealisierung der Naturform als autonomer (quasi-moralischer) Ersatzlösung anstelle des ‚Kanons‘ findet sich vermehrt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in wiederum vielfältigen Ausprägungen, von Meurers Pflanzenformen (1895) über die Urformen der Kunst von Karl Blossfeldt (1928)¹³ bis hin zu den Fiktionen ‚organischer Architektur‘.
3 Die Utopie der Gleichrangigkeit architektonischer Wissensbestände Den kontroversen Positionen ist gemeinsam, dass die Erfindung angemessener architektonischer Form als Kern baukultureller Tätigkeit gesehen wird: Schlüssel künstlerisch-architektonischen Gestaltens. Bühlmann wie Pfeifer – wiewohl gegensätzlicher Auffassung, was Lehrbarkeit und Bedeutung des überlieferten Kanons historischer Lösungen angeht – diskutieren Beispielsammlungen, vermitteln nicht explizierte ‚Theorie‘, sondern ‚Vorbilder‘. Beide Positionen verweisen damit auf ein Paradox architektonischer Wissensbestände: den Umstand, dass vergleichsweise wenige ‚reproduzierbare und wiederholbare‘ Schlüsse, kaum ‚kurzfristig beweisbare‘ Lehrsätze in einer überzeitlichen Selbstverständlichkeit zur Selbstvergewisserung bereitstehen. Architektur bewegt sich zwischen axiomatisch vermittelten Idealen (Schönheit), technisch vermittelbaren Wissensbeständen und entsprechenden Praktiken – aber auch zeitgebundenen Vorlieben und Hoffnungen. Deshalb ist Wissensvermittlung über Lehrbücher, sobald Fragen über den historisch-analytischen Bereich hinausgehen, schwierig, herausfordernd und heterogen. Der ‚Breite des fachlichen Felds‘ – ingenieurwissenschaftlichen Grundlagen, historischem Wissen, Materialwissenschaft, Konstruktion und Bautechnik, Prozessteuerung komplexer Vorha Karl Blossfeldt war in den 1890er Jahren Mitarbeiter von Moritz Meurer in Rom.
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ben – ist nach den Bemühungen zur Schaffung wissenschaftlicher Grundlagen im 19. Jahrhundert immer schwieriger Rechnung zu tragen.Viele Wissensbestände sind ‚implizit‘, nicht als Theorie und nicht in verallgemeinerter Form zugreifbar. Dazu gehören beispielsweise: – Techniken und Organisation der Baustelle (Materialverwendung, Fügen), – Übergänge und Spezialwissen handwerklicher Techniken (die oft nach Berufstraditionen entwickelt wurden). Evolutionär überlieferte ‚Kulturtechniken‘ sind unter anderen: – der Transport von Information (über Pläne, Zeichnungen, Modelle, handwerkliche Praktiken), – das Konstruieren als Fügen von Teilen, – die Tradierung von Bauaufgabe und ‚Typus‘. Expliziert und wissensgeschichtlich reflektiert sind dagegen (wiederum unter anderen): – Wissensbestände über die Geschichte des Bauens, – Wissensbestände über historische Baukonstruktion (auf Basis methodischer ‚Bauforschung‘), – physikalische und materialwissenschaftliche Themen. Im Bauwesen gibt es zudem eine große Zahl von ‚Übernahmen‘ aus Nachbardisziplinen (Programme, ‚Zweitverwendung‘ von Produktentwicklungen usw.). Die bei Vitruv diskutierten Felder – (1) Überblickswissen zu kulturellen, historischen und ‚Bildungsfragen‘, (2) Methoden (Abstraktion, Darstellung, Geometrie), (3) technische Grundlagen (Materialkunde, ‚Rezepte‘, Qualitätskriterien), (4) Proportionssysteme als ‚Anleitung zum Entwurf‘ – sind trotz der Abwendung vom Kanon und der Heterogenität der Wissensformen noch sichtbar, aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts keinesfalls mehr gleichrangig, die ‚Anleitung zum Entwurf‘ wird sich mehr und mehr verselbständigen, die Bereiche 1 bis 3 werden zunehmend als Dienstleistungsbereiche angesehen. Es wäre zu diskutieren, warum diese Felder marginalisiert, ausgelagert und unterschiedlich weiterentwickelt wurden – und warum nach der Überwindung der Vorstellung vom ‚Proportionssystem‘ als Basis des architektonischen Entwurfs sowohl der entwicklungsgeschichtliche Ansatz des 19. Jahrhunderts¹⁴ wie auch spätere ‚Sys-
Unter vielen anderen prominent hier Viollet-le-Duc’s Überlegungen zu ‚Form‘ und ‚Prinzip‘ und seine Formulierung „le beau ne peut être que l’ émanation d’un principe et non l’apparence d’une forme“ (Viollet-le-Duc 1869: 147).
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temansätze‘, wie die Bauentwurfslehre Ernst Neuferts (1936)¹⁵ als Theoriesurrogate nicht erfolgreich waren. Auch die Vorstellung, ein ‚immanent gültiger Zeichencharakter‘ sei wissenschaftlich abzusichern und als ‚architektonische Semiotik‘ direkt zugreifbar, scheiterte, die Gründe sind vielfältig (von der vordergründigen Verwendung von Bildmetaphern bis hin zur unterkomplexen Rezeption historischer Lösungen).
4 Vom Kanon zur ‚Erfindung‘ Adäquate architektonische Form ist im vorwissenschaftlichen Denken (und noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts) Tugend und Ergebnis breit angelegter Arbeit. Im Verfolgen gleichrangig wichtiger Bedingungen und Ziele (Stabilität, Solidität der Konstruktion, Wirtschaftlichkeit, Dauerhaftigkeit), abgestützt auf Fortschrittshoffnung durch wissenschaftliche Entwicklung, wird beim ‚Entwurf‘ nach hoher Qualität, bestem Mitteleinsatz und nach Eleganz der Erscheinung gesucht. Form und Ausdruck der Architektur entsprechen bis ins 20. Jahrhundert hinein aber einem Vokabular ‚erprobter Lösungsansätze‘ für Detail und Gesamtform, die „interpretative Praxis“ (ZdW 23) bleibt lange noch kanonbasiert und disziplinär begründet. Jüngere Wissenschaften, etwa die Mechanik oder der Maschinenbau, hatten den Anspruch auf ideale Einheit bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgegeben. Eine eindrückliche (wenngleich kritisch zu lesende) Illustration des Prozesses jenes Übergangs bildet Eugen Dührings Kritische Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mechanik von 1872, die noch eine historische Rückbindung der Mechanik versucht und das „Studium der mathematisch mechanischen Wissenschaften und die Lehren der Geschichte“ (Dühring 1887: XXVII) verknüpfen möchte¹⁶. Im Bauingenieurwesen zeigen sich tradiert-enzy-
Der Erfolg der Neufertschen Publikationen ist allerdings unbestreitbar, was die Verbreitung und Durchsetzung der Konzepte angeht; sein ‚Maß-System‘ ermöglichte eine standardisierte, industriell organisierte Breitenproduktion anonymer Bauprodukte. Dühring spricht von einer „Grundgestalt […] in welcher die rationelle Mechanik in neuster Zeit zu einer vornehmlich analytischen geworden“ (Dühring 1887: 2) sei, glaubt, hieraus das „Principielle im Werden der Wissenschaften“ (ibd.) verstehen zu können und nach dem Studium der „notwendigsten Elementarbegriffe“ (538) sich zu den „ursprünglichen Quellen des Wissens“ (ibd.) begeben zu sollen. Resümierend bemerkt Dühring: „die moderne Mechanik ist nun als ein Stück Physik in das Dasein getreten, und wer da glaubt, die eigensten Galileischen Wendungen oder diejenigen von Huyghens heut entbehren zu können, wird vom tieferen Geiste der Sache nicht viel in sich aufnehmen“ (577). Der „Schein der Lösung oder Lösbarkeit, den die symbolische Formulierung erregte“ (580), führe häufig zu einer Ablenkung „von dem unmittelbaren Wege“ (ibd.), auf dem die Aufgabe in Angriff genommen werden könne. Der Nationalökonom und
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klopädische Auffassungen¹⁷ im ausgehenden 19. Jahrhundert nur noch vereinzelt in Wortwahl und Bezeichnungen, Franz Kreuters deutsche Ausgabe von William Rankine’s Manual of Civil Engineering (1862) etwa heißt im Jahr 1880 Handbuch der Bauingenieurkunst und will „den Bauingenieur zu rationeller Ausübung seiner Kunst nach jeder Richtung“ (Rankine 1880: IV) anleiten, die Mathematisierung technischer Zusammenhänge war aber bereits auf dem Weg zu einer „Universaltheorie der Technik“ (Heymann 2005: 40), wie Matthias Heymann gezeigt hat (s. auch Hassler / Rauhut 2012). Für das akademische Lehrfach Architektur war die tradierte Position einer Rückbindung auf historische Muster im zitierten Handbuch der Architektur noch zur Wende zum 20. Jahrhundert greifbar. Seine Herausgeber beharrten noch auf der Fiktion der Gleichrangigkeit der Wissensfelder, die ‚Methodenreflektion über das Entwerfen‘ wurde noch eingebettet in einen allgemein-technisch-historischen Rahmen. Der „Vierte Teil“ der Handbuchreihe trägt die Bezeichnung „Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude“. Als programmatisch gedachtes erstes Volumen dieses Vierten Teils erschien die Architektonische Komposition (Wagner et al. 1904), darin finden sich: – Allgemeine Grundzüge (Heinrich Wagner aus Darmstadt) – Proportionen in der Architektur (August Thiersch) – Anlage des Gebäudes (Heinrich Wagner) – Gestaltung der äußeren und inneren Architektur (Josef Bühlmann) – Vorräume, Treppen, Hof- und Saalanlagen (Heinrich Wagner) – Akustik der Säle (Aurel Sturmhövel). Der Einführungstext betont den internationalen Anspruch des Werks und nimmt zuerst Bezug auf zwei bedeutende Wissenschaftler, den Engländer James Fergusson und den Franzosen Philibert de l’Orme (1). Ein Zitat aus Fergussons Hi-
Philosoph Dühring trat unter anderem durch seine kruden Theorien zu ‚Rassen-Gegensätzen‘ und Polemiken gegen Marx und Engels hervor. Unter vielen anderen etwa (Mahan 1850). Hier im wesentliche Baumaterialien und ‚erprobte Lösungsansätze‘ für Konstruktionen von Bauteilen. Zeitgleich das Vademecum für den praktischen Ingenieur und Baumeister (Schubert et al. 1850), nach Claudel’s Formules, Tables et Renseignements pratiques (1845) und den einschlägigen Werken von Morin, d’Aubuisson, Pouillet, Peclet, Brisson, Polonceau, Stephenson, v. Gerstner, Bélanger, Barlow u. A. m. Wie das zugrundeliegende französische Vorbild will das Vademecum „die Grundsätze auf welchen allein die Kunst der guten Konstruktion beruht, in einer Reihe von praktischen Regeln und theoretischen Formeln […] veranschaulichen“ (Schubert et al. 1850: Vf.), zeigt aber bemerkenswerterweise noch in einem Einlegeblatt „Die architektonischen Ordnungen“ (Bl. 1).
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story of architecture in all countries (1874: 10)¹⁸ steht zu Beginn: „A building may be said to be an object of architectural art in the proportion in which the artistic or ornamental purposes are allowed to prevail over the mechanical; and an object of engineering skill, where the utilitarian exigencies of the design are allowed to supersede the artistic. But it is nowhere possible to draw the line sharply between the two, nor is it desirable to do so. Architecture can never descend too low, nor need it ever be afraid of ornamenting too mean objects; while, on the other hand, good engineering is absolutely indispensable to a satisfactory architectural effect of any class.“ (Wagner et al. 1904: 3) Im weiteren wird im HDA die „architektonische Komposition“ als theoriebezogener Teil bezeichnet, „Anlage und Einrichtung der Gebäude“ (ibd.) als die ‚mehr praktische‘ Abteilung (vgl. ibd.). Diese Qualifizierung spiegelt natürlich indirekt die von den Autoren des Handbuchs vertretene Auffassung eines durch Bauforschung erweiterten wissenschaftlichen Wissens über das Kontinuum einer architektonischen Formtradition, aus dem sich die architektonische Komposition ergibt; sie sprechen emphatisch von Theorie als „Leuchte des Fortschritts“ und behaupten, die Architektur könne solche „am allerwenigsten entbehren“ (ibd.). Der architektonische Entwurf wird als ‚Erfindung‘ qualifiziert, die aber nur basierend auf wissenschaftlichem Wissen zur Umsetzung kommen könne. Heinrich Wagner wiederholt in seinem Text über Komposition die Kernpunkte dieses Selbstverständnisses: „Die Anlage des Gebäudes gibt sich im Entwurfe kund, und man muß, um ein Bauwerk entwerfen zu können, wie bereits gesagt, sowohl Herr der Konstruktion, als auch Herr der Form sein. Herr der Konstruktion sein, heißt: 1) mit Natur und Technik der Baustoffe vertraut sein und die statischen Gesetze genau kennen, um daraus Konstruktionselemente zu bilden und diese wiederum zu rationellen Konstruktionssystemen, zu funktionierenden Gliedern eines baulichen Organismus zu verbinden; 2) die Reife der Erfahrung besitzen, um der Technik des Handwerkes und den Anforderungen der Ausführung der Konstruktionen Rechnung zu tragen; 3) über diejenigen Kenntnisse verfügen, welche erforderlich sind, um die Einflüsse der Witterung möglichst unschädlich zu machen und das Gebäude den Vorschriften der Gesundheitstechnik gemäß anzulegen“ (8).¹⁹
Fergusson publizierte schon 1855 in London ein Illustrated Handbook of Architecture, ab 1865 als The History of Architecture. S. auch (Wagner et al. 1904: 5 – 10) („Architektonische Komposition. Aufgabe und Endziel des baukünstlerischen Schaffens“).
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Zur Beherrschung der zweiten Bedingung, der Form, brauche man hingegen „angeborene Begabung“, historische Bildung und „Reife des Urteils und Selbsterkenntnis“ (9).²⁰ Heinrich Wagner postuliert, architektonisches Erfinden müsse „die Wahrheit des Gedankens und die Schönheit der Form“ mit der Erfüllung des Zwecks verbinden, die Betrachtung existierender Lösungen, die „alle einzelnen Gattungen und Arten von Gebäuden“ vertreten würden, bezeichnet er dann als „‚Gebäudekunde‘ oder ‚Gebäudelehre‘“ (ibd.). Hoher moralischer Anspruch wird formuliert, nicht allerdings durch Methodendiskussion (die sich wiederum auf abgesicherte Theoriebildung beziehen könnte) direkt illustriert, sondern durch Hinweise auf Kultur und Tradition erläutert (regionale Überlieferung, Angemessenheit der Mittel, Zweckmäßigkeit, Festigkeit usw.). Dauerhaftigkeit der Konstruktionen werde beispielsweise nicht alleine durch die Berücksichtigung der ‚Regeln der Wissenschaft‘ für die Beanspruchung erreicht, sondern „in den meisten Fällen [durch] ein gewisses Übermaß von Stärke, welches unser Gefühlsverlangen nach absoluter Sicherheit der Struktur, sowohl gegen äußere Angriffe, als gegen die Wirkung innerer Kräfte, befriedigt“ (15). Der Theoriebildung der Ingenieurwissenschaft wird hier selbstbewusst ein eigenständiges Wertesystem entgegengesetzt, das charakteristische Erscheinung und Anspruch auf Dauer als (überzeitliche) architektonische Tugend fordert. Nach der Abkehr von den überlieferten ‚Proportionslehren‘ und Formengrammatiken (wie sie von August Thiersch in seinem Beitrag zum HDA über die Denkfigur der „Analogie“ diskutiert wurden (Wagner et al. 1904: 37– 141)) war methodisch und historisch abgesicherte Entwicklung architektonischer Form für Theorie und Praxis des Fachs Architektur nach dem Ersten Weltkrieg in der Breite nicht mehr erwünscht; das Konzept des Handbuchs wurde zwar weitergeführt (der letzte Band erschien 1943), inzwischen war allerdings der Bruch mit dem ‚ganzheitlichen Anspruch‘ polytechnischer Wissenswelt vollzogen. Gefragt war jetzt auch in der Welt der Hochschulausbildung für Architekten die ‚eigenständige Erfindung‘, die aber nun nur noch indirekt vermittelbar schien. Es entstanden Geschmackslehren, der Glaube an künstlerische Intuition ersetzte wissenschaftliches Wissen; Ideologien einer Rückbindung der Form an Bau-Konstruktion und Industrialisierungsutopien (die wiederum Produktion und Standardisierung der Bauprozesse zur Basis auch von Formentwicklungen zu machen suchten) folgten. Nach der Mitte des 20. Jahrhunderts suchte die Debatte über die ‚Architektursemiotik‘ neue Erklärungsmuster für architektonische Eleganz. Sie wurde begrüßt als „whole new approach to architecture, based on the theory of signs“ (Broad-
S. auch (Wagner et. al. 1904: 11– 36) („Architektonische Komposition. 1. Abschnitt. Allgemeine Grundzüge“).
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bent 1981: 1). Die meist innerarchitektonisch bleibenden Diskurse führten allerdings nicht zu probablen Ergebnissen. Geoffrey Broadbent, der sich als ‚design methodologist‘ (vgl. Broadbent 1974/81) bezeichnete, schrieb 1974 über die Schwierigkeiten, über die Analyse der Rahmenbedingungen (geologisch, topografisch, klimatisch) einer Aufgabe zu architektonischer Form zu kommen: „Yet something clearly was missing in this view; it simply was not possible for the overall form of a building to be generated in this way. It is true that unlike many methodologists, I had at least been concerned with Creativity […] and the Psychological Background to Design […]“ (120). Broadbent gesteht das Scheitern der Ideologie des ‚Funktionalismus‘ ein und zeigt, wie der Begriff ‚funktional‘ im architektonischen Diskurs für die Erscheinungsform eines Baus missbraucht wurde (121)²¹; er fordert eine präzisere Sprache (Linguistik) der Architektur und nennt in seinen Elementen einer neuen Architekturtheorie immerhin auch im Punkt 4 „The building as a cultural Symbol“ – um schließlich vier Entwurfsvarianten zu benennen: „four modes of designing: pragmatic, iconic, analogical and canonic“ (145).
5 Das ‚radikal Neue‘ und die Architektur Die Aufgabe wissenschaftlicher und tradiert-normativer Konzepte im 20. Jahrhundert hatte zur Folge, dass Wissenschaftlichkeit für die neue Kern-Disziplin des nun neu definierten ‚architektonischen Entwurfs‘ nicht mehr unbedingt zwingend schien: Der Entwurf wird seit dem Ersten Weltkrieg (weitgehend als Methode) ohne Bezug auf wissensgeschichtliche Grundlagen und Formen-Kanones gelehrt, Verzicht auf die entwicklungsgeschichtliche Perspektive eröffnete Räume für (nicht mehr durch Tradition begründete) Entwurfs-Heuristiken. Als Basis dieser Vorgehensweisen dienten unter anderem Maß-Systeme (auf menschliche Größen und Tätigkeiten ausgerichtet), Normungs-Ansätze für die industriell produzierten Materialien und aus den Vorgängen des Konstruierens selbst abgeleitete Regeln. Der Vorgang des ‚Entwerfens‘ wird in der Moderne als auf eigenständige ‚Neuerfindung‘, auf künstlerische Invention und ‚ideale Funktionserfüllung‘ gestützte kreative Entscheidung gesehen, Legitimationsdiskurse beziehen sich unter anderem auf nach Formvorlieben willkürlich ausgewählte Produkte aus dem Ingenieurbau²², die neue ‚Geschichtsnarrative‘ lieferten. Die innerarchitektonischen
An dieser Stelle erfolgt auch der Hinweis auf Nikolaus Pevsner. Zur ‚Erfindung einer modernen Tradition‘ siehe etwa Werner Oechslin (1989) über Giedion und besonders (Banham 1986).
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Wissensfelder begrenzten sich zunehmend auf Anwendungswissen, theoriebezogene Felder verloren an Bedeutung. Die Denkfigur des ‚radikal Neuen‘ wurde folglich im innerarchitektonischen Diskurs des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht mehr als Chance und Herausforderung wissenschaftlicher Weiterentwicklung begriffen, sondern als Möglichkeit der Entwicklung bzw. Erfindung neuer architektonischer Gestalt (zum Teil durchaus unter Zuhilfenahme technischer Neuentwicklungen). Empirische Urteile über Qualität und Erfolg der Ergebnisse werden jetzt begründet über Urteile ‚fachlicher Communitys‘, nicht mehr auf der Basis wissenschaftlichen Wissens. Günter Abel hat in seinem Grundlagenbuch Zeichen der Wirklichkeit 2004 auf die grundlegende Problematik einer Interpretation verwiesen (und damit eine Paradoxie der Architekturwelt indirekt angesprochen): – „Im Prinzip“, schreibt Abel, „kann jedes Objekt […] für uns zu einem Zeichen werden. Und es kann seinen Zeichencharakter auch wieder verlieren.“ (ZdW 22) – „Die Explikation des weiten wie des engen Zeichenbegriffs bedarf offenkundig einer Rekonstruktion der Praxis der Interpretation der Zeichen.“ (ibd.) – „Zeichen existieren nicht als vorab fertige und exakt umgrenzte, fest-stehende Entitäten. Sie haben eine Genealogie stets bereits hinter sich, sind in ihrer jeweiligen Bestimmtheit von der zugrundeliegenden Interpretations-Praxis, des näheren von Kontext, Situation, Zeit, Personen und kulturellem Hintergrund abhängig. Und sie haben eine Interpretationsgeschichte, einschließlich ihrer Modifikationen und Revisionen bis hin zu ihrem möglichen Vergessenwerden und Verschwinden stets erst noch vor sich.“ (ibd.) Der „perspektivische[ ] und konstruktionale[ ] Charakter der Zeichenverwendung“ (ibd.), die „Interpretationsgebundenheit eines jeden Zeichens“ (ZdW 23) ist nach Abel konstitutiv für die symbolisierende Kraft, Deutung setzt „flüssige Verständigung“ (ibd.) voraus. In seiner ‚Zeichen und Interpretationsphilosophie‘ geht es – im Unterschied zu den bisher zitierten, aus der Semiotik entwickelten (und damit für die Architektur nicht wirklich fruchtbaren) Zeichentheorien – um das „Zustandekommen der Gattungen und Arten von Zeichen, um deren Genealogie“ (ibd.). Wenn sich auf der „dritten Ebene“ (ZdW 31) der ‚normativen Elemente‘ eine „Deskription der Wirklichkeit, z. B. eine wissenschaftliche Theorie, als nicht erfolgreich“ erweise, „dann wird die Theorie, nicht jedoch die Wirklichkeit geändert“ (ibd.). „Wenn Zeichen- und Interpretationsfunktionen auf der zweiten Ebene variieren (sich etwa Konventionen und kulturelle Praktiken ändern), dann verändert sich unsere Wirklichkeit nicht auch ohne weiteres; und umgekehrt: Wenn bislang nicht oder noch nicht bekannte Phänomene auftreten, dann hat dies nicht unmittelbar auch eine Veränderung der tradierten Konventionen und Praktiken
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zur Folge.“ (ibd.) Die erste Ebene (der ‚Logik‘) fordert dagegen „kategorialisierende[ ] Zeichen- und Interpretations-Prozesse“ (ibd.). Wenn wir die Rede vom ‚Zeichencharakter‘ (vgl. ZdW 30 f.) in solcher dem Gegenstand angemessen abstrakten Denkweise auf die Fragen der Architektur anwenden, „die deutende, die gewohnheitsmäßige und die kategorialisierende Ebene“ (ZdW 31; vgl. 30 f.) unterscheiden, dann könnte eine neue kritische Reflexion über unverzichtbare und sich erneuernde Wissensbestände der Disziplin gewinnbringend sein. Sie wäre nicht eine ‚neue Zeichentheorie‘ als scheinrationale (oberflächenbezogene) Begründung architektonischer Form, sondern eine Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen des Fachs: – der „Generierung von Bedeutung“ (ZdW 43), – der „Rolle der Imagination“ (ibd.) in jedem Erkenntnisprozess, schließlich der – Suche nach neuem Wissen. Eine ‚allgemeine Theorie‘ bestünde in diesem Umfeld in einem Ausgleich kultureller und rationaler Ansprüche und Ideale. In diesen Hinsichten können sowohl die Geschichte der Architektur als auch die Architekturtheorie von der Zeichenund Interpretationsphilosophie Abels profitieren. Die Geschichte der Architektur kann als Zeichen- und Interpretationsgeschichte gelesen und rekonstruiert werden. Zugleich können Baugeschichte und Architekturtheorie im Blick auf die sich in ihnen vollziehenden Wechselspiele unterschiedlicher Wissensformen rekonstruiert werden. Die Zeichen- und Interpretationsphilosophie Abels stellt dafür aussichtsreiche Mittel und Instrumente bereit, insofern als Günter Abel seinen Ansatz im Blick auf eine Revision der klassischen Epistemologie in dem Sinne erweitert hat, dass die nicht-reduzierbare Pluralität von Wissensformen zutage tritt, deren systematische Erforschung dem vorbehalten ist, was er ‚systematische und reflektierte Wissensforschung‘ (vgl. Abel 2012) nennt. In diesem Ansatz werden Themen wie etwa ‚Wissen in der Architektur‘, ‚Wissensformen der Architektur‘ und deren mögliche Rollen auch für eine Revision gängiger zeitgenössischer Positionen der Architekturtheorie auf eine neue Weise thematisch. Diese Schnittstelle auszubuchstabieren ist ein Desiderat sowohl der baugeschichtlichen Forschung, der Architekturtheorie wie auch der auf Architektur bezogenen Teile von Abels Zeichen- und Interpretationsphilosophie.
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Rankine, William John Macquorn 1880: Handbuch der Bauingenieurkunst, dt. nach der 12. Aufl. des engl. Originalwerkes Manual of Civil Engineering, bearb. v. F. Kreuter, Wien. Riegl, Alois 1893: Stilfragen; Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin. Rossi, Aldo Loris 1971: Programmierte Strukturen und Ikonologie. Die städtische Szenerie als Feld der Überlagerung der räumlich-visuellen Kommunikation, in: Carlini, Alessandro / Schneider, Bernhard (Hg.): Architektur als Zeichensystem (Konzept 1), Tübingen, S. 69 – 72. Schubert, Fr. et al 1850: Vademecum für den praktischen Ingenieur und Baumeister in Formeln, Tabellen und praktischen Nachweisen über Mechanik, angewandte Wärmelehre, Maschinenlehre, Hochbau, Straßen-, Brücken- und Wasserbau, Eisenbahnen und Telegraphen, Stuttgart. Semper, Gottfried 1860: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, 2 Bände, Frankfurt a. M. Verneuil, Maurice Pilard 1903: Étude de la plante, son application aux industries d’art, Paris. Viollet-le-Duc, Eugène Emmanuel 1869: Dictionnaire raisonné de l’architecture française du XIe au XVIe siècle, Paris. Vitruv 1964: Zehn Bücher über Architektur / Vitruvii de architectura libri decem, hg. v. C. Fensterbusch, Darmstadt. Wagner, Heinrich et. al. 1904: Architektonische Komposition, (Handbuch der Architektur, 4. Teil: Entwerfen, Anlage und Einrichtung der Gebäude, 1. Halbbd.), 3. Aufl. Stuttgart.
Abbildungsnachweise Abb.: In: Josef Bühlmann: Die Bauformenlehre, (Handbuch der Architektur, . Teil: Allgemeine Hochbaukunde, . Bd.), Stuttgart , S. , Fig. . Abb.: In: Hermann Pfeifer: Die Formenlehre des Ornaments, (Handbuch der Architektur, . Teil: Allgemeine Hochbaukunde, . Bd.), Stuttgart , S. , Fig. . Abb.: In: Hermann Pfeifer: Die Formenlehre des Ornaments, (Handbuch der Architektur, . Teil: Allgemeine Hochbaukunde, . Bd.), Stuttgart , S. , Fig. . Abb.: In: Hermann Pfeifer: Die Formenlehre des Ornaments, (Handbuch der Architektur, . Teil: Allgemeine Hochbaukunde, . Bd.), Stuttgart , S. , Fig. .
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Architekturgeschichte als Zeichen- und Interpretationsgeschichte Replik zum Beitrag von Uta Hassler Der Beitrag von Uta Hassler befasst sich unter zwei Gesichtspunkten mit den Wissensbeständen der Architekturgeschichte von der Antike bis zum ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Die eine Perspektive zielt auf die Architektur und die Geschichte des in ihr verkörperten Wissens. Die andere und mit der ersten verschränkte Perspektive zielt auf Aspekte der architektonischen Form und Architekturästhetik. In der ersten Perspektive arbeitet Hassler materialreich und mit großer Kennerschaft die Kontinuität heraus, die über den langen Zeitraum zwischen den in Vitruvs Zehn Büchern über Architektur formulierten Wissensbeständen und dem Ende des 19. Jahrhunderts besteht, wie diese in dem monumentalen (und insgesamt rund 140 Bände umfassenden) Handbuch der Architektur, der letzten großangelegten „Architekturenzyklopädie“, summiert, bilanziert und präsentiert werden. Für Hassler ist die Zeit um 1900 in der Architekturgeschichte wie in der Architekturtheorie eine „Umbruchsituation“ (Hassler-Beitrag, vor Kap. 1) überaus folgenreicher Art. Im Handbuch wird letztmalig versucht, die gesamte Disziplin ‚Architektur‘ mit allen ihren Teilbereichen und unterschiedlichen Wissensbeständen kanonisch zur Darstellung zu bringen. Demgegenüber führen die Reformansätze des beginnenden 20. Jahrhunderts Hassler zufolge zu einer „Engführung der Wissensfelder“ und zur „Uminterpretation überlieferter Schwerpunkte“ (ebd.). Mit dieser neuen Entwicklung ist Hassler zufolge die Preisgabe des bis dahin verbindlichen Kanons in Sachen Architektur und architektonischen Wissens mit gravierenden Verlusten an „technische(n) und pragmatische(n) Wissensbestände(n) des Bauens“ (ebd.) ebenso verbunden wie die Etablierung teils modischer Surrogate für vormals solide allgemeine Fachtheorie. Zugleich kommt es, so Hasslers Befund, in puncto architektonische Form zur Vorherrschaft einer geschichtslosen resp. ungeschichtlichen und vermeintlich zeitlosen Architekturästhetik. Die zweite Perspektive von Hasslers Überlegungen betrifft (in ebenfalls kritischer Einstellung) die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verzeichnende Tendenz, Architektur als ein „Zeichensystem“ anzusehen und eine „Semiotik“ der Architektur als eine Architekturästhetik ohne konditionalen Bezug auf die Geschichte der Architektur zu entwickeln (vor Kap. 1). https://doi.org/10.1515/9783110522280-057
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In beiden Feldern und Hinsichten (Architekturgeschichte und Architekturästhetik) ist Uta Hassler davon überzeugt, dass die allgemeine Zeichen- und Interpretationsphilosophie sowie die ihr zugehörige systematische Wissensforschung produktive Beiträge leisten können. Entsprechend positive und gleichsam pro-aktive Bezüge liegen auch meines Erachtens offen zutage. Insbesondere möchte ich zwei Punkte hervorheben. Zum einen (a) stellt die Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] methodische Instrumente zur Verfügung, die es erlauben, die Architekturgeschichte, einschließlich der Fragen der Rekonstruktion architektonischer Werke, als eine ZuI-Geschichte zu verstehen und zu reformulieren. Zum anderen (b) ist, wie Uta Hassler mit Recht betont, die ZuI-Philosophie erklärtermaßen keine Semiotik. Diesen wichtigen Unterschied möchte ich noch etwas näher verdeutlichen.
1 Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Architektur vs. Semiotik der Architektur In der ZuI-Philosophie geht es, verkürzt formuliert, nicht, wie üblicherweise in der Semiotik (etwa bei Umberto Eco, aber auch bei Charles Sanders Peirce und vielen anderen Semiotikern), um eine wissenschaftliche und allgemeine Definition dessen, was ein ‚Zeichen‘ ist, um von dort aus dann eine ‚allgemeine Theorie der Zeichen‘ zu formulieren. Für sich genommen und im Sinne der Semiotik als Wissenschaft der Zeichen ist dieses Verfahren natürlich nicht zu beanstanden und überaus spannend. Wird diese Strategie der wissenschaftlichen Semiotik jedoch umstandslos und am Ende gar geschichtslos auf die Prozesse und Produkte der kulturellen Lebenswelten (wie z. B. Sprache, Musik, Moral, Recht) und im vorliegenden Falle auf die Werke der Architektur in Form einer Semiotik der Architektur und einer semiotischen Architekturästhetik übertragen, so tritt ein misslicher Effekt ein. Die Applikation einer allgemeinen Zeichentheorie auf architektonische Prozesse, Phänomene, Werke und Erfahrungen wirkt gleichsam wie von außen herangetragen, im Grenzfall wie eine Art zeichen-begrifflicher Subsumption der einzelnen architektonischen Werke und Erfahrungen unter das Dach und die Struktur einer allgemeinen wissenschaftlichen Zeichentheorie. Gefordert ist demgegenüber jedoch (und in dieser Forderung manifestiert sich eine der Grenzen einer rein semiotischen Zeichentheorie auch in puncto Architektur und Architekturtheorie), die inneren und genuinen Prozesse, Werke, Phänomene und Erfahrungen der Architektur in ihren architektonischen sowie sinnlich-vollblütigen Merkmalen, Funktionen und Wirkungen zu erfassen und zur Sprache zu bringen. Die Werke der Architektur und die Architekturtheorie können
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nicht als ein Spezialfall einer vorab gegebenen allgemeinen Definition von Zeichen und von Zeichentheorie verstanden werden. Architekturästhetik bewegt sich in Architektur, darin der Musikästhetik ähnlich, die sich in Musik, des näheren in musikalischen Klängen bewegt und ebenfalls nicht auf eine rein semiotische Perspektive verkürzt werden kann. Im Unterschied zur Semiotik der skizzierten Art geht es in der ZuI-Philosophie nicht darum, eine allgemeine Definition des Zeichens zu geben. Des näheren geht es dann auch nicht darum, von vorab fertig gegebenen Arten von Zeichen (wie z. B. im Falle von Verkehrszeichen) auszugehen und über diese dann eine Theorie aufzustellen. Und es geht nicht nur um die seit Aristoteles betonte und die Zeichenkonzeption der Tradition beherrschende Funktion zum Beispiel eines schriftlichen Zeichens (wie etwa des Wortes ‚Stuhl‘), für etwas anderes zu stehen, das es nicht selbst ist. Offenkundig kann man sich nicht auf das Zeichen ‚Stuhl‘ setzen. Dieser kognitiven Rolle von fertigen und konventionellen Zeichen wird im Stufenmodell der ZuI-Philosophie ein ganz und gar wichtiger Sinn zugesprochen. Diese instrumentalistische Funktion wird im Modell auf der ZuI3-Ebene angesiedelt und hat dort ihre hohe Relevanz (z. B. bei der Formulierung wissenschaftlicher Hypothesen, Theorien und Modelle). Aber dieser Sinn der Zeichen ist nicht der einzige und nicht der primordiale, nicht der ursprünglich-produktive Sinn von Zeichen. Zeichen besitzen darüber hinaus auch organisierende und strukturierende (und nicht bloß instrumentelle) Kraft auf den Ebenen 2 und 1, mithin auf den Ebenen des Habitus sowie der Konventionen (Ebene 2) und der ursprünglichen Individuationen, raum-zeitlichen Lokalisierungen und sortalen Klassifikationen (Ebene 1). In der ZuI-Philosophie geht es überhaupt nicht um Zeichen-Theorie, nicht um eine Theorie ‚über‘ gegebene Zeichen, sondern, wie bereits im Namen dieses Ansatzes manifest, um Zeichen-Philosophie. Letztere zielt auf so grundlegende Fragen wie etwa die, wie es denn überhaupt zu Zeichen und des näheren zu Gattungen und dann zu Arten von Zeichen und deren Unterscheidungen kommt. Keineswegs ist alles und vorab bereits Zeichen. Zudem kann die geschichtlich, kulturell, psychologisch und lebensweltlich mögliche Vielfalt neuer und bislang nicht gekannter Zeichen und Interpretationen nicht durch eine bestimmte Definition dessen, was als Zeichen gilt, und nicht durch eine Zeichentheorie vorab festgelegt werden. Selbst bei Zeichen, in Bezug auf die wir zur Zeit glauben, dass wir angesichts grundlegender Untersuchungen bereits alles über sie wissen, wie in der Mathematik z. B. über das Zeichen bzw. die Zahl 2, kann morgen der Fall
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eintreten, dass uns ein Mathematiker ein neues Rätsel um diese Zahl auf den Tisch legt.¹ Auf die Architektur und ihre Theorie bezogen heißt dies, dass die architektonischen Werke, Prozesse und Phänomene nicht unter die Allgemeinheit einer Zeichentheorie subsumiert und nicht als ein Fall der allgemeinen Struktur einer Zeichentheorie verstanden werden können. Im Unterschied dazu lautet die These der ZuI-Philosophie, dass sich die Werke, Prozesse, Phänomene und Erfahrungen der Architektur in Zeichen und Interpretationen manifestieren und vollziehen und dass auch das Denken der Architektur, die Architekturtheorie, nicht nur an eine Artikulation in Sprache, Zeichen und Interpretation gebunden, sondern lebenswichtiger Ausdruck von Zeichen- und Interpretations-Praktiken ist. In diesem Sinne kommt die Architektur in der ZuI-Philosophie – und grundlegend anders als in der Zeichentheorie – in ihrer genuinen Eigenwertigkeit zum Zuge, nicht lediglich als ein spezifischer Fall einer allgemeinen Zeichentheorie. Darüber hinaus möchte ich auch an dieser Stelle betonen, dass sehr unterschiedliche Dinge zu Zeichen werden können, in Bezug auf die wir dann nach ihrer Bedeutung und etwa auch nach dem Zusammenhang von Denken und Realität fragen können. Auch können meines Erachtens die Fragen nach der ‚Bedeutung‘, der ‚Referenz‘, dem ‚Sinn‘ und der ‚Expressivität‘ von Zeichen nicht bloß mit den Mitteln einer allgemeinen semiotischen Zeichentheorie beantwortet werden. Vielmehr sind Bedeutung, Referenz, Sinn und Expressivität in jeder Zeichentheorie stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Das heißt freilich nicht, dass sie in dem weiten und primordialen Sinn von Zeichen und Interpretation, wie dieser in der ZuI-Philosophie verstanden wird, gänzlich ZuIunabhängig und als ZuI-freie Entitäten anzusehen sind. Im Stufenmodell der ZuIVerhältnisse gesprochen sind sie ZuI3-unabhängig, nicht jedoch ZuI2+1-unabhängig. Zeichentheorie ist aus meiner Sicht letztlich (ebenso wie wissenschaftliche Theorien, Hypothesen und Modelle) eine überaus wichtige Anstrengung auf der ZuI3-Ebene. Die ZuI-Philosophie jedoch konzentriert sich nicht nur auf diese Ebene, sondern sucht in einem umfänglicheren Sinne um zufrieden stellende Antworten auf die Fragen der Bedeutung, Referenz, des Sinns und der Expressivität. Eine andere und überaus zentrale Frage der ZuI-Philosophie lautet: Welche Rolle spielen Zeichenfunktionen und Interpretationspraktiken in unseren Lebenswirklichkeiten? Die ZuI-Philosophie spricht der ZuI-Praxis eine fundamentale und unter kritischem Vorzeichen nicht hintergehbare Rolle zu. So ist es
Zu den Details des in der ZuI-Philosophie leitenden Zeichen- und Interpretationsbegriffs vgl. die Einleitung meines Buches Zeichen der Wirklichkeit (ZdW).
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die ZuI-Praxis, die in einem zeichen- und interpretations-pragmatischen (nicht metaphysischen) Sinne die, in einem bekannten Bild der Peirceschen Semiotik gesprochen, im Prinzip unbegrenzte Semiose der Zeichen- und Interpretationsprozesse zu einem jeweils pragmatischen, zweck-gebundenen und auf Kommunikation und Kooperation verpflichteten ‚Ende‘-auf-Zeit bringt. Auch in diesem Sinne greift die ZuI-Philosophie hinter eine rein semiotische Betrachtung zurück. ZuI-Philosophie ist keine abstrakte Zeichentheorie. Sie ist vielmehr Ausdruck der philosophischen Anstrengung, die unsere Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse ausmachenden lebendigen Zeichen- und Interpretationsprozesse in ihren charakteristischen Eigenschaften in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, zu erfassen und ein Stück weit auszubuchstabieren. Im Vergleich zur Semiotik als einer Zeichentheorie erscheint die ZuI-Philosophie, wenn eine solche Formulierung erlaubt ist, als die phänomenal und begrifflich vollblütigere Veranstaltung mit tieferem Sitz in unseren kulturell und geschichtlich geprägten Lebenswirklichkeiten, einschließlich der Architekturwirklichkeiten. Diese Grundeinstellung manifestiert sich auf der epistemologischen und methodologischen Ebene natürlich vor allem in dem vertikalen Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse und in dem horizontalen Modell des Zusammenwirkens von ZuILogik, ZuI-Ästhetik und ZuI-Ethik (vgl. hierzu ausführlich Abel 1989). Mit dieser, um einen leicht modischen, aber doch trefflichen Ausdruck zu gebrauchen, zeichen- und interpretationsphilosophischen ‚tool-box‘ kann die ZuI-Philosophie einen Beitrag zur Konzeption der Architekturgeschichte ebenso wie der Architekturtheorie leisten. In dieser Einschätzung stimme ich Uta Hassler gern und nachdrücklich zu. Stenogrammartig und in Abbreviatur ruft Uta Hassler weitere Charakteristika der ZuI-Philosophie auf (Kap. 5), um die mögliche Leistungsfähigkeit des Ansatzes in Sachen Architektur, Architekturtheorie und Architekturästhetik zu stützen. In meiner Replik auf den Beitrag von Fritz Neumeyer habe ich mich ganz auf den Zusammenhang von Architekturtheorie und ZuI-Philosophie sowie systematischer Wissensforschung konzentriert und für die Vernetzung von Wissensforschung und Architekturtheorie plädiert. Alles, was ich dort ausgeführt habe, könnte ich hier als zweiten Teil meiner Replik auf den Beitrag von Uta Hassler (nach der Präzisierung des Verhältnisses von ZuI-Philosophie und Semiotik) wiederholen. Ausdrücklich also sei auf diese Replik verwiesen. Im Folgenden konzentriere ich mich auf drei weitere Themenfelder neben der in Abschnitt 1 erfolgten Abgrenzung von einer Semiotik der Architektur: 2. Architekturgeschichte als ZuI-Geschichte. 3. Architektur als Wissenschaft und Kunst. 4. Die Kreativität in der Architektur.
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2 Architekturgeschichte als Zeichenund Interpretationsgeschichte Wenn Architektur in dem oben erläuterten Sinne als ein sich in ihren Werken manifestierender Ausdruck symbolisierender Zeichen- und Interpretationsverhältnisse angesehen werden kann, die es aus der Sicht des Rezipienten und Betrachters eines Gebäudes zu verstehen, aufzunehmen und zu leben gilt, dann ist es nur konsequent, auch die Architekturgeschichte unter diesem Blickwinkel zu sehen. Architekturgeschichte kann als die beschreibende, erklärende und verstehende Rekonstruktion der Geschichte der architektonischen Werke und ihrer Theorien und darin als architektonische Zeichen- und Interpretations-Geschichte verstanden und betrieben werden. Dass dabei kultur- und epochensowie stilspezifische Dominanzen unterschiedlicher Art in ihren geschichtlichen Zusammenhang und in eine Entwicklungslinie gebracht werden müssen, ist offensichtlich. Beide Anstrengungen haben den Charakter der Bildung von geschichtlichen architektonischen ZuI-Konstrukten. Schon ein erster und flüchtiger Blick in die Geschichte der Architektur und ihrer Theorie zeigt unterschiedliche Zeichen- und Interpretations-Ketten, -Netzwerke und -Kontexte. Dabei stoßen wir schnell nicht einfach nur auf linear-progrediente Kontinuitäten, gar solche mit teleologisch eingebautem Fortschritt hin zu immer besseren und letztlich perfekten Gebäuden und Stadtteilen (etwa von der Renaissance bis heute). Auch der Historiker der Werke der Architektur, der Baugeschichte und der Denkmalpflege, ist ein Rekonstrukteur von Vergangenem, der, so die bekannte Formulierung Johann Gustav Droysens, aus den überlieferten ‚Resten‘ sowohl die wirksamen Ideen als auch den historischen Zusammenhang rekonstruiert und eben dadurch die historischen Tatsachen erst verständlich macht. Ein einfacher Blick auf und Vergleich zwischen zum Beispiel der Gestaltung öffentlicher Plätze in der italienischen Renaissance (in Rom, Siena, Florenz oder anderen Städten) und einiger heute gestalteter öffentlicher Plätze zeigt, dass eine Teleologie des Fortschritts hier nicht angebracht ist. Brüche, Diskontinuitäten, Zäsuren, Unterbrechungen, Wiederaufnahmen und nicht zuletzt auch Rückschritte programmatisch-bewusster ebenso wie naiv-unbewusster Art sind offenkundig. Sie alle gehören zu einer ZuI-Geschichte der Architektur und der Architekturtheorie, die im Detail auszuarbeiten meines Erachtens ein Desiderat der Forschung ist. Hinzu kommt, dass in anderen Kulturen und zu anderen Zeiten offenkundig anders gebaut wurde und wird als bei uns in Mitteleuropa und in der angelsächsischen Welt. Die ZuI-Philosophie stellt einen Betrachtungsrahmen und methodische sowie epistemologische Instrumente bereit, die es erlauben, solchen
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kulturellen, geschichtlichen und programmatischen Unterschieden und Differenzen in ihrer Eigenwertigkeit gerecht zu werden, sie also nicht unter das Joch eines Universalismus der Kunst des Bauens, nicht in das Prokrustesbett einer ‚architectura perennis‘ zwängen zu müssen. In den Bereichen Architektur, Baugeschichte und Denkmalpflege ist der Begriff der ‚Rekonstruktion‘ überaus wichtig. Daher möchte ich im Folgenden exemplarisch die ZuI-philosophische These verdeutlichen, dass und in welchem Sinne die architektonische Geschichte der Rekonstruktion eines Gebäudes oder eines ganzen baulichen Ensembles, etwa eines Stadtteils, als Zeichen-, Übersetzungs- und Interpretationsgeschichte konzipiert und betrieben werden kann.² Rekonstruktionen, sei es der Geschichte oder einzelner Bauwerke und ganzer Ensembles, artikulieren und drücken sich stets in Zeichen aus und sind stets interpretativ verfasst. Eine nicht-interpretative Rekonstruktion kann es nicht geben. Selbst die Götter könnten nicht nicht-interpretativ und gänzlich zeichen-frei rekonstruieren, wenn sie dies denn überhaupt wollten. Bereits der erste Schritt im Akt des Rekonstruierens ist ein interpretativer Akt. Denn es kann, egal wie eng die Restriktionen gefasst werden, stets mehrere und gleichermaßen gültige erste Schritte des Rekonstruierens geben, die alle gleich gut zum Reconstruendum passen können. Architekturgeschichte und Denkmalpflege müssen sich in einer Sprache und Darstellung artikulieren und sind eben dadurch auf die Grammatik solcher Sprache und Darstellung ebenso verpflichtet wie auf die Grammatik der architektonischen Formen, die sie zur Sprache und zur Darstellung bringen möchten. Eben deshalb können sie als ZuI-Geschichte und ihre Resultate als ZuIKonstruktbildungen angesprochen werden. An der Rekonstruktion von Bauwerken im Sinne der Baugeschichte und Denkmalpflege lassen sich viele derjenigen Mechanismen ablesen, die für die Rekonstruktion im Sinne der Architekturgeschichte zentral sind. Im Folgenden möchte ich lediglich einige wenige dieser Mechanismen ansprechen. In jeder Rekonstruktion muss vom ersten Schritt an unweigerlich unter anderem konjizierend, projizierend, perspektivierend, ergänzend, präferenzierend, tilgend und/oder komplettierend vorgegangen werden. Daher können bereits die Rekonstruktions-Hypothesen als Übersetzungs- und Interpretations-Hypothesen und die Rekonstrukte (genauer die Rekonstruktionskonstrukte) als Zeichen-, Übersetzungs- und Interpretationskonstrukte angesehen und analysiert werden. Das jedenfalls ist der Vorschlag der allgemeinen ZuI-Philosophie.
Zu den Einzelheiten dieses Punktes vgl. ausführlicher (Abel 2010); auf das dort im Detail entfaltete Material greife ich hier direkt und teils wörtlich zurück.
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Übrigens heißt dies auf der Theorieebene und in systematischer Hinsicht zugleich, dass einer erfolgreichen Rekonstruktions-Theorie, wie sie in der Rekonstruktion der Architekturgeschichte ebenso wie in der Rekonstruktion einzelner Bauwerke und baulicher Ensembles vorausgesetzt werden muss, stets bereits eine Übersetzungs-Theorie und vor allem eine ZuI-Theorie im Rücken liegen. Rekonstruktionsarbeit, wie im Falle der Baugeschichte und Denkmalpflege, kann daher als Zeichen-, Übersetzungs- und Interpretationsarbeit beschrieben werden. Es sei lediglich angemerkt, dass damit jede Rekonstruktion (die ja in Bezug auf das fragliche Bauwerk und seine Geschichte stets zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt) von vornherein vor der Schwierigkeit steht, die vormalige direkte soziale und kulturelle Identifikation über den Zeitenabstand ebenso wie über den architektonischen, ästhetischen und poetologischen Abstand hinweg für eine spätere Generation wieder herzustellen. Auch dies ist ohne Zweifel ein ZuI-Vorgang. Natürlich kann auch die Geschichte der Veränderungen, Erweiterungen, Ergänzungen, Schrumpfungen und unterschiedlichen Nutzungen von Bauwerken als Zeichen-, Übersetzungs- und Interpretations-Geschichte beschrieben werden. Dies ist möglich, weil darin die folgenden Komponenten nicht nur relevant, sondern konstitutiv sind: Deutungen, perspektivische Gesichtspunkte, Konjekturen, Projektionen, Kontext-Abhängigkeiten, Kontext-Sensitivitäten, Zeit-Bezug, Kulturstandards, Interessenslagen, unterschiedliche Techniken und Materialien, Weltbilder. Als extreme Beispiele hierfür denke man an die Entwicklungen und Nutzungen der Vatikanischen Paläste seit dem 5. Jahrhundert bis heute oder an die Veränderungen und unterschiedlichen Nutzungen der Grabeskirche in Jerusalem seit dem 4. Jahrhundert. Rekonstruktion bzw. Architekturgeschichte und Baugeschichte sind bereits überaus schwierig, solange es nur um die syntaktische Rekonstruktion der Werke und Ensembles sowie deren Geschichte geht. Richtig schwierig jedoch wird die Sache, sobald es zugleich auch um die semantische Rekonstruktion, mithin um die Rekonstruktion der semantischen Merkmale (Bedeutung, Sinn, Referenz, Expressivität) von Bauwerken und baulichen Ensembles geht. Die Semantik architektonischer Werke ist nicht schon mit deren Syntax, nicht schon mit der syntaktischen Bauform gegeben. Spätestens an dieser Stelle wird überdeutlich, wie sehr es in der Sache geboten ist, Architekturgeschichte als Zeichen-, Übersetzungs- und Interpretations-Geschichte zu konzipieren und zu betreiben. Eine nicht-interpretative und nicht-zeichenverfasste Architekturgeschichte kann es streng genommen gar nicht geben. Und entsprechend gilt auch, dass alle bereits vorliegenden Architekturgeschichten, einschließlich der diesen zugehörigen Architekturtheorien, als aufschlussreiche ZuI-Geschichten und ‐Konstrukte ange-
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sehen werden müssen – wie sehr Architekturgeschichte und Architekturtheorie sich auch darum bemühen mögen, dieses Setting vergessen zu machen.
3 Architektur als Wissenschaft und Kunst Durch den Beitrag von Uta Hassler zieht sich auch die Frage, in welchem Sinne die Architektur eine Wissenschaft und/oder eine Kunst oder beides ist. Im Unterschied zu einer seit der Antike geläufigen methodologischen Verortung der Architektur zwischen ‚Wissenschaft‘ und ‚Kunst‘, plädiere ich für eine Sicht der Architektur, die diese als ein Zusammenspiel vielfältiger und unterschiedlicher Wissensformen versteht. Entsprechend kann man die Architekturtheorie primär nicht mehr so sehr von dem klassischen zweipoligen und inzwischen nicht mehr so ganz fruchtbaren Begriffspaar von Theorie und Praxis des Bauens her, sondern von der Pluralität und Interaktion unterschiedlicher Wissensformen her verstehen. Jedenfalls scheint mir eine solche Perspektive einen Versuch wert. Das habe ich an anderer Stelle im Detail zu entwickeln versucht (vgl. Abel 2014 sowie SZI Kap. 10). Unter diesen Wissensformen finden sich selbstverständlich auch das wissenschaftliche (szientifische) und das künstlerische Wissen. Des Öfteren werden die Architektur und ihre Theorie zum einen einzig auf dieses Begriffspaar und zum anderen dann innerhalb des Begriffspaars von Wissenschaft und Kunst alternativ sogar auf entweder die wissenschaftliche oder die künstlerische Wissensform verkürzt. Je nach Zeitgeist scheint dann entweder der Wissenschaftler oder der Künstler die Oberhand zu erlangen. Der bis in unsere Tage teils heftig geführte Streit innerhalb der Zunft der Architekten wie der Architekturtheoretiker hinsichtlich der Frage, ob Architektur eine Wissenschaft oder eine Kunst sei (oder etwa hinsichtlich der Frage, ob das architektonische Entwerfen eine Wissenschaft sei oder einer solchen zugeführt werden sollte oder nicht), ist Beleg für solche Vereinseitigungen und Verkürzungen. Nicht selten werden die beiden Wissensformen bzw. Typen von Wissen (Wissenschaft und Kunst) entweder gegeneinander ausgespielt oder als eine alternativlose Dichotomie angesehen. Jede dieser beiden Positionen geht jedoch gründlich an der Komplexität der tatsächlich in die Architektur, in die Praxis des Bauens und in das Sprechen und Denken über Architektur involvierten Vielfalt der Wissensformen vorbei. Sofern wir Architektur gleichwohl auch (jedoch keineswegs nur) in der Perspektive des Begriffspaars ‚wissenschaftliches‘ und/oder ‚künstlerisches‘ Wissen thematisieren, handelt es sich meines Erachtens nicht um das Verhältnis eines Entweder-Oder oder um die Position eines Zwischen.Vielmehr handelt es sich um ein Sowohl-als-auch, eben um ein Zusammenspiel, um ein in phänomenaler und
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theoretischer ebenso wie in praktischer Hinsicht stets bereits fusioniertes Ineinander beider Wissenstypen, unter Einschluss einer Reihe anderer Typen von Wissen. Außerdem ist wichtig zu betonen, dass Wissenschaft und Kunst als unterschiedliche Wissensformen keineswegs strikt gegeneinander isoliert oder gar wechselseitig ausgestochen werden können. Gegenüber diesem Bild vertritt die ZuI-Philosophie die These, dass Wissenschaft und Kunst als unterschiedliche Wissensformen in einer Fülle von sachlichen und formalen Interdependenzen und Wechselspielen stehen und dass die Unterscheidung beider einen heuristischen (und keinen theoretischen) Status hat, nicht also eine logische Kluft zwischen beiden bezeichnet (vgl. SZI Kap. 9 und 10).
4 Die Kreativität der Architektur Die Frage nach dem Neuen in der Architektur hat bei den Architekten und hinsichtlich der architektonischen Werke ebenso wie bei den Architekturtheoretikern stets eine wichtige Rolle gespielt. Uta Hassler spricht in ihrem abschließenden Punkt 5 und unter dem Titel „Das ‚radikal Neue‘ und die Architektur“ dieses Thema an. Dies gibt mir Gelegenheit, diese Thematik aus der Perspektive der ZuIPhilosophie sowie der systematischen Wissensforschung zu adressieren und etwas näher ausbuchstabieren (vgl. Abel 2014). Dass die Frage des Neuen, mithin die Frage der Kreativität, eine wichtige Rolle spielt, gilt selbstredend auch im Blick auf die beiden oben genannten Wissensformen, das szientifische und das künstlerische Wissen. In beiden Wissensformen sowie an deren Schnittstellen kommt der Generierung neuen Wissens eine ausgezeichnete und in der Regel hoch prämierte Stellung zu. Kreativität hat im Kern damit zu tun, Neues in die Welt zu bringen. Das ist in der Architektur ganz offenkundig der Fall. Die Architektur bringt neue Gebäude und bauliche Ensembles sowie ganze Stadtteile und Städte hervor, die zuvor noch nicht existierten. Sofern Architektur und Architekturtheorie nun, wie in der ZuIPhilosophie und der systematischen Wissensforschung vorgeschlagen, von den jeweils involvierten Wissensformen her gedacht werden, liegt der innere Zusammenhang der Trias von Architekturtheorie, Systematischer Wissensforschung und Kreativitätsforschung auf der Hand. Diese Zusammenhänge aufzuklären, ist ein höchst anspruchsvolles Desiderat der Forschung. Daher möchte ich entschieden dafür plädieren, die Architekturtheorie mit der Wissensforschung und der Krea-
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tivitätsforschung zu verschränken.³ Bei dem Versuch, diese Verhältnisse zu explizieren, sind auch im Blick auf Architektur und Architekturtheorie die beiden folgenden Unterscheidungen relevant. (a) Zunächst ist der Unterschied wichtig zwischen (i) bloßer Neuartigkeit im Sinne des erstmaligen Auftretens von etwas, in der Architektur zum Beispiel eines neuartigen, aber typgleichen Bürohauses oder Museumsbaus und (ii) genuiner Kreativität im Sinne des Hervorbringens von etwas grundlegend Neuem, zum Beispiel bei der baulichen Gestaltung eines öffentlichen Platzes oder eines ganzen Stadtteils. In der Architektur wimmelt es von Neuartigkeiten. Genuin Kreatives aber ist nicht leicht zu finden. Diese Diagnose trifft auch auf die Architekturtheorie und manche ihrer Themen zu, die zudem nicht selten so gebaut sind, dass sie dem jeweiligen Zeitgeist kräftig Zucker geben. Bloß Neuartiges kommt dadurch zustande, dass bereits bekannte Elemente nach bereits bekannten Regeln auf eine bislang unbekannte Art kombiniert werden. Die Unwahrscheinlichkeit solcher Kombinationen signalisiert ohne Frage bereits ein kreatives Moment. Wir können viele solcher Neuartigkeiten bzw. Kombinationen produzieren. Das kreativ Neue dagegen ist stets das in einem radikaleren Sinne sachlich Aufschlussreiche und das deshalb positiv bewertete Neue, das es vorher noch gar nicht gab. Das ist in der Architektur nicht anders als in den Wissenschaften, in den Künsten und in unseren alltäglichen Lebenspraktiken. (b) Vor diesem Hintergrund kann man die folgenden drei Typen von Kreativität unterscheiden und diese Unterscheidungen auch auf die Architektur anwenden: (i) Schwache Kreativität im Sinne des kombinatorischen Neu-Arrangierens bereits vorhandener Elemente, Materialien, Formen und Strukturen. (ii) Starke Kreativität im Sinne der Transformation, der Modifikation und des Ersetzens vorheriger durch neue Prinzipien, Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Diese Zweiteilung (zu deren Verständnis ich ausdrücklich auf Hausmann 1998: 454 verweise) möchte ich um eine dritte Variante erweitern, nämlich (iii) die intuitive Kreativität. Darunter verstehe ich die Kreativität in Prozessen, in denen die menschliche Imagination resp. Einbildungskraft wesentlich bereits im Spiele ist, ohne dass es zu neuen Regelsetzungen oder zu Regelverletzungen bisheriger Praktiken kommt oder gar kommen muss. Intuitive Kreativität ist in jeder Arbeit eines Architekten und eines Architekturbüros gefordert, sobald es, am Beispiel des Entwerfens illustriert, darum geht, Vorstellungsbilder und Wahrnehmungen in einen Entwurf einzubringen. In solchen Situationen ist Imaginationskraft im Sinne der individuellen und team-
Zu einer Philosophie der Kreativität vgl. ausführlich (Abel 2006 und 2009); im Folgenden greife ich teils wörtlich auf einige der Aspekte aus diesen Texten zurück.
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sowie prozessbezogenen Fähigkeit gefordert, kraft derer in einen gegenwärtigen Vorgang gegenwärtig nicht aktuale Komponenten, z. B. frühere Vorstellungsbilder und frühere Wahrnehmungen, eingebracht werden (vgl. dazu im einzelnen SZI Kap. 7). Diese intuitive (und gleichsam alltägliche und professions-praktische) Kreativität geht über die schwache Kreativität hinaus. Denn sie kombiniert nicht einfach nur gegebene Elemente auf eine neue Weise. Sie ruft vielmehr gegenwärtig nicht-aktuale Aspekte auf und bringt diese wesentlich mit in die Problemlösungen ein. Man sieht, auch in der Architektur beginnt Kreativität nicht erst in den extravaganten Ausnahmebereichen, Köpfen und Büros. Kreativität beginnt bereits und ist schon erfordert in der erfolgreichen normalen Profession und ist bereits auch in jedem Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln, mithin explizit auch in phantasievoll arbeitenden Architekturbüros am Werke. Die Unterscheidung zwischen ‚bloß Neuartigem‘ und ‚genuiner sowie sachlich aufschlussreicher Kreativität‘ ist mir übrigens auch aus einem noch anderen Grund wichtig. Mit den in der Architektur seit dem 19. Jahrhundert wirksamen Tendenzen des Avantgardismus, Modernismus und Dekonstruktivismus ist oftmals eine eher unreflektierte Vorstellung des ‚Neuen‘ verbunden, die zudem nicht selten an das proklamierte Ende des jeweils vorausliegenden Typs der Baukultur gekoppelt wurde. Das Neue soll dann, wie Fritz Neumeyer einmal zutreffend konstatierte, vermittels des Endes des Vorhergegangenen als zwingendes historisches Erfordernis dargestellt und legitimiert werden. In immer schnelleren Abfolgen löst eine Neuartigkeit und Mode die nächste ab. Die Beschleunigungen wachsen und die Halbwertzeiten werden immer kürzer. Es findet, in unseren Tagen forcierter denn je, so etwas wie ein Beschleunigungs- und Überbietungswettlauf in Sachen architektonischer Kreativität statt. Am Rande sei angemerkt, dass das Syndrom des Überbietens durchaus Kennzeichen der abendländischen Metaphysik war. Metaphysik konnte bzw. kann geradezu als die Anstrengung des immer weiteren Überbietens einer Position und Einsicht durch eine nächste angesehen werden. Im Falle der Metaphysik diente diese Einstellung zur Untermauerung der ambitionierten Hoffnung, im Überbietungswettlauf irgendwann einmal in einem Reich definitiver, allgemein verbindlicher und letzter Wahrheiten an- und zur Ruhe zu kommen. Im Falle der Architektur tritt dieses Phänomen, wenngleich wohl nicht mit dem Ziel eines ultimativen Abschlusses in der Sache, in Form des, wie Fritz Neumeyer in einem Vortrag in Istanbul 2011 anmerkt und sich dabei der Zustimmung Uta Hasslers sicher sein kann, „heutigen Originalitäts-Kult des Star-Architekten“ auf, in Kombination mit dem „medialen Wettlauf“ zwischen den Metropolen unserer Zeit, zwischen etwa Dubai, Peking, Mailand oder Tokyo (vgl. auch Neumeyer 2014). In vielen Fällen des vermeintlich ‚kreativ Neuen‘ handelt es sich bei näherem Hinsehen um ‚bloß spektakulär Neuartiges‘. In Bezug auf die Dimension der sachlich
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wie formal radikalen Kreativität sollten wir die Architektur ebenso wie die Architekturtheorie meines Erachtens schon auch an den Leistungen bahnbrechender und stilbildender Architekten und Architekturtheoretiker messen, nicht einfach nur an den bloß neuartigen Moden eines beschleunigten Zeitgeistes. Nicht selten scheint letzterer dem bloß Neuartigen ausgeliefert zu sein.
Literatur Abel, Günter 1989: Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch 96, S. 1 – 19. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2006: Die Kunst des Neuen. Kreativität als Problem der Philosophie, in: Abel, Günter (Hg.): Kreativität. Kolloquiums-Vorträge des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie, TU Berlin, September 2005, Hamburg. Abel, Günter 2009: The Riddle of Creativity: Philosophy’s View, in: Meusburger, Peter / Funke, Joachim / Wunder, Edgar (Hg.): Milieus of creativity. An Interdisciplinary Approach to Spatiality of Creativity, (Knowledge and Space, Bd. 2), Dordrecht, S. 53 – 72. Abel, Günter 2010: Das Prinzip Rekonstruktion, in: Hassler, Uta / Nerdinger, Winfried (Hg.): Das Prinzip Rekonstruktion, Zürich, S. 64 – 75. Abel, Günter 2014: Die Wissensformen der Architektur, in: Eckert, Dieter (Hg.): Die Architektur der Theorie. Fünf Positionen zum Bauen und Denken, Berlin, S. 39 – 58. Hausman, Carl R. 1998: Creativity, in: Kelly, Michael (Hg.), Encyclopedia of Aesthetics, Oxford. Neumeyer, Fritz 2014: Vom Nutzen und Nachteil der Theorie für den Architekten, in: Eckert, Dieter (Hg.): Die Architektur der Theorie. Fünf Positionen zum Bauen und Denken, Berlin, S. 87 – 101.
Kapitel 13: Orientierung und Perspektivität
Werner Stegmaier
Orientierungsmittel Wissen nach Nietzsche, Luhmann und Abel Abstract: Günter Abel has recently demonstrated the actuality of Nietzsche’s philosophy of science. Nietzsche viewed knowledge, everyday knowledge as well as scientific knowledge, not as much in terms of ‘reference’, its connection to a an ‘external world’, but rather in terms of the conditions of its communicability. Niklas Luhman, whose sociological system theory includes philosophy, did this in the most resolute way. That makes it interesting to illuminate the actuality of Nietzsche’s philosophy of science. Nietzsche’s, Luhmann’s, and Abel‘s concepts of knowledge can however be merged in the perspective of the philosophy of orientation. Knowledge then seems as a means of orientation. To it belongs, above all, knowing how, which Abel, compared to Nietzsche and Luhmann, particularly addressed.
Günter Abel hat in seinem Beitrag Die Aktualität der Wissenschaftsphilosophie Nietzsches (2012) gezeigt, wie sich Nietzsches Philosophie der Wissenschaft in zahlreichen Punkten Positionen der sich vor allem durch Willard Van Orman Quine, Hilary Putnam, Donald Davidson und Nelson Goodman Schritt für Schritt vertiefenden Analytischen Philosophie zuordnen und schließlich gar zu deren Maßstab machen lässt. Nietzsches Position komme dem ‚internen Realismus‘ Putnams am nächsten, der, sofern ‚Realismus‘ zunächst als ‚externer‘ verstanden wird, also eine erkenntnisunabhängige Welt an sich voraussetzt, zugleich ein Anti-Realismus sei und dennoch die Realität unserer Interpretationspraxis hinreichend beschreiben könne. Realismus und Interpretation sind hier entlang der ‚Referenz‘, des Bezugs auf eine – gleichwohl nicht erfassbare – ‚Außenwelt‘ gedacht. Nietzsche hat das Wissen, das alltägliche ebenso wie das wissenschaftliche, jedoch zumindest auch in einer Tradition, die, wie vor allem Josef Simon und Tilman Borsche gezeigt haben, Hamann, Herder, Kant, Hegel und Humboldt anbahnten, von den Bedingungen seiner Kommunikabilität her gedacht; schon in seinem frühen Entwurf Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [WL] überschrieb er die Frage nach der Referenz des Wissens durch die Frage nach seiner Kommunikabilität. Die kommunikative Wende (auch) im Verständnis des Wissens hat aktuell am entschiedensten Niklas Luhmann vollzogen. Seine soziologische Systemtheorie bezieht überall auch die Philosophie ein, behandelt https://doi.org/10.1515/9783110522280-058
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ihre Themen mit, findet ihre Vorgeschichte in ihr und transformiert sie in einem Modus, den Nietzsche ‚fröhliche Wissenschaft‘ genannt hat, zu einer Wissenschaft, die sich von sich selbst distanzieren und in ihrem Ernst für die Wahrheit beobachten kann. Zu ihrer Selbstreflexion schuf Luhmann eine ‚Supertheorie‘, wie sie zuletzt nur Hegel gelungen war. Er verstand sich als ‚Konstruktivisten‘ und damit seinerseits als entschiedenen Anti-Realisten – mit dem Anspruch, die ‚Realität‘ (oder genauer: unsere Beschreibung der ‚Realität‘) am treffendsten beschreiben zu können. So könnte ein Versuch lohnend sein, die Aktualität von Nietzsches Wissenschaftsphilosophie auch in der Perspektive von Luhmanns soziologischer Systemtheorie zu überprüfen. Wir beziehen ihre Konzepte hier in der Perspektive einer aktuellen Philosophie der Orientierung aufeinander und fragen dabei, wie sie die Funktion des Wissens für die Orientierung verständlich machen können.¹ Da beide das wollten und eine Philosophie der Orientierung ihrerseits von beiden viel zu lernen hat, könnte in ihrer Perspektive am ehesten deutlich werden, was Nietzsche und Luhmann verbindet. Beide haben sich auf das wissenschaftliche Wissen konzentriert, das unter dem Wahrheitsanspruch steht. Mit Abel fragen wir darüber hinaus, wie Wissen im weiteren Sinn des Knowing-How zum Mittel der Orientierung wird. Angesichts der weitläufigen Ausführungen ebenso Nietzsches wie Luhmanns und Abels ist hier nur eine sehr grobe Skizze möglich; philologische Evidenz, Methodenreflexion und Differenzierungen müssen umfassenderen Arbeiten vorbehalten bleiben; wir legen hier so etwas wie ein incentive paper vor.² Bei Nietzsche wird auf die reifen Werke aus den Jahren 1886 und 1887, Jenseits von Gut und Böse [JGB], das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft [FW] und Zur Genealogie der Moral [GM] fokussiert, mit der die betont kämpferische Zuspitzung seines Denkens einsetzt.³ Luhmann hat seine Theorie des Wissens selbst in Die Wissenschaft der Gesellschaft (1990a) zusammengeführt,⁴ Abel die seine in Sprache, Zeichen, Interpretation (1999) und drei ergänzenden Aufsätzen (2001; 2010; 2012).
Nietzsche hat den Begriff der Orientierung gemieden, Luhmann gebrauchte ihn regelmäßig und hat ihn auch eigens thematisiert (Stegmaier 2008: 147 ff.). Der von 2012 stammende Beitrag ist inzwischen in verschiedene Kapitel meiner Monographie Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche (Stegmaier 2016) eingegangen. Zu den beiden letzteren Werken habe ich bereits die nötige philologische Evidenz zu schaffen versucht (Stegmaier 1994a u. 2012). Vgl. ferner neben dem zuvor verfassten wissenschaftshistorisch angelegten Entwurf (Luhmann 1981) den späteren wissenssoziologiehistorisch angelegten Beitrag (Luhmann 1995).
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1 Luhmann und Nietzsche Nietzsche ist bisher kaum mit Luhmann, Luhmann kaum mit Nietzsche gelesen worden.⁵ Luhmann selbst, dessen stupendes Lektürerepertoire auch in der Philosophie vermutlich Nietzsches Schriften einschloss, mied ihn auffällig. Nietzsche mag ihm zu wenig Theorie in seinem Sinn geliefert haben,⁶ könnte ihm in entscheidenden Punkten seines Denkens aber auch so nahegestanden haben, dass er, wie wir es etwa von Freud wissen, sich dem Anregungspotential seiner Schriften entziehen musste, um die eigenen Wege weitergehen zu können oder, wie Nietzsche es in vergleichbaren Fällen nannte, nicht ‚verwechselt‘ zu werden.⁷ Doch selbst wenn Luhmann keine wesentlichen Inspirationen von Nietzsche bezogen haben sollte (er nannte ansonsten, im Unterschied zu Nietzsche, sehr bereitwillig seine Quellen) – Nietzsche hatte ein Jahrhundert zuvor schon bahnbrechende philosophisch-wissenschaftliche Grundentscheidungen getroffen, von denen Luhmann ebenfalls ausging, und derselbe Bruch mit Essentials der philosophischen Tradition brachte auch ihm noch das Schicksal ein, fürs erste kaum verstanden zu werden, jedenfalls von Philosophen (Clam 2000).⁸ Das lag auch an der Art der Vertextung ihres Denkens. Beide setzten in ihren Werken immer wieder neu an, ließen es nie, auch der ‚Systemtheoretiker‘ Luhmann nicht, zu einem abgeschlossenen ‚System‘ kommen. Sie erschlossen stattdessen ihrem Denken mit Bedacht immer neue Kontexte, um es gleichsam mit ihnen reagieren zu lassen, Nietzsche in der Reihe seiner Aphorismen-Bücher, die sich thematisch schwer voneinander abgrenzen lassen, Luhmann auch in seinen Hauptwerken zu den Funktionssystemen der Kommunikation der Gesellschaft, die wohl als klassische Abhandlungen auftreten, aber in ihrem locker komponierten Aufbau etwas Es blieb bisher weitgehend bei partikulären Bezugnahmen, bloßen Nebeneinanderstellungen oder Entgegensetzungen. Körnig (1999), der einen Theorienvergleich versuchte, hing noch am Subjekt, dem bei Luhmann nur noch bleibe, „all die kleinen Schalter umzulegen, die als Zustände das System determinieren“ (293), und mit Bataille klagt er bei ihm eine „‚Ökonomie des Untergangs‘“ ein (290). Luhmann wird das nicht gerecht. Die Frage nach dem Wissen berührt Körnig nicht. Vgl. (Luhmann 1997: 35). Luhmann konnte bei Nietzsche nur „recht simple Theoriemanöver“ einer „Umkehrsophistik“ erkennen (Luhmann 1981: 198) und in seinem Nihilismus nur eine „Ermüdung“ der Philosophie (Luhmann 1990a: 548). Er (1997: 33) zählte Nietzsche mit Kenneth Burke neben Marx und Freud immerhin zu den „großen Sophisten des 19. Jahrhunderts“. Luhmann (1990a: 719) schließt mit einer Warnung vor „‚Nihilismus‘“. Seither scheint sich da nicht viel verändert zu haben. Clam selbst gibt eine gute Übersicht für philosophische Anschluss-, Klärungs- und Widerspruchsmöglichkeiten. Nietzsche erwähnt er nicht. Horster (1997: 51), der Luhmann persönlich kannte, teilt „den Eindruck“, er habe sich von Nietzsches Gedanken leiten lassen, dass Ideale die Realität verstellten.
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Essayistisches und Aphoristisches behalten. Wie Nietzsches Aphorismen kann man auch Luhmanns Kapitel innerhalb eines Buchs weitgehend unabhängig voneinander und in selbstgewählter Reihenfolge lesen; er entwickelte von jedem neuen Thema aus seine Theorie wieder neu und entfaltete sie wie Nietzsche in einer Vernetzung von Perspektiven, ähnlich dicht, einfallsreich, überraschend, oft genug rätselhaft und immer wieder selbstironisch. Wie Nietzsche sah er sich, so entschieden auch er seine eigenen Wege einschlug, nicht naiv als Herr seiner Theorie, sondern ließ sich selbst von den Folgen seiner Einfälle überraschen. Beide, Nietzsche und Luhmann, schätzten das wissenschaftliche Wissen hoch, ohne einfach an es zu glauben. Beide verpflichteten sich, was wir hier nicht ausführen können, allein auf Kritik des Wissens als Frage nach Bedingungen seiner Möglichkeit – nun ohne eine allen gemeinsame Vernunft vorauszusetzen. Beide gaben sich als Immoralisten, um Vorselektionen des Wissens durch eine sich selbst tabuierende Moral sichtbar zu machen und abzuwehren. Beide befreiten das Wissen nicht nur von der Referenz auf eine von ihm unabhängig bestehende Welt, sondern auch von der Ersatzreferenz eines zugrundeliegenden, feststehenden und steuernden Subjekts, das sich zur Objektivität entsubjektivieren, also selbst transzendieren kann. Beide machten die Rede von ‚Wissen‘, ‚Vernunft‘‚ Subjekt‘ usw. als Orientierungsentscheidungen erkennbar, die auch anders getroffen werden können.
2 Befreiung des Wissens zu fremdbezüglicher Selbstbezüglichkeit und zur Nutzung von Paradoxien Wenn eingesehen ist, dass Wissen nicht bei etwas anderem anfangen kann, das ihm an sich vorgegeben wäre, weil man dann auch von diesem anderen wissen müsste, kann man nur selbstbezüglich beim Wissen selbst anfangen. Selbstbezüglichkeit (mit der Möglichkeit der Negation von Fremdbezüglichkeit) war das, womit Descartes begonnen (an allem zweifeln, nur nicht am Zweifeln, von allem denken können, es sei nicht, nur nicht vom Denken) und worauf Kant seine Kritik gestützt hatte (Kritik der Vernunft durch die Vernunft selbst), und Selbstbezüglichkeit war für Nietzsche und Luhmann das, was nach dem Unglaubwürdigwerden transzendenter und transzendentaler Epistemologien zurückblieb. Sie stellte sich als das bleibend Neue des neuen Anfangs der Moderne heraus. Zuvor gefürchtet, weil sie in infinite Regresse führen kann, und deshalb als sigillum falsi wahrgenommen, hatte man in der Moderne buchstäblich mit infiniten Regressen zu rechnen gelernt: in der von Newton und Leibniz auf den Weg gebrachten In-
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finitesimalrechnung. Im Deutschen Idealismus wurden Selbstbezüglichkeiten methodisch eingesetzt, auf neue Weise auch von Nietzsche in Gestalt nicht nur von Selbstkritik, Selbstüberwindung und Selbstaufhebung, sondern auch von (ernster) Selbstbejahung und (fröhlicher) Selbstparodie. Nietzsche dachte sie jedoch nicht mehr als ‚reine‘ Selbstbezüge, die zu bloßen Tautologien führen, sondern als Selbstbezüge über Fremdbezüge: Was etwas ist, erfährt es daran, wie anderes auf es reagiert. Aber erst Luhmann setzte explizit bei fremdbezüglicher Selbstbezüglichkeit an. Die Systeme, von denen er sprach, sind solche, die sich selbst schließen und als in diesem Sinn ‚geschlossene‘ sich Fremdem öffnen, es also gezielt beobachten können und darin zugleich ‚offen‘ sind. Nicht-Selbstbezügliches dagegen ist anderem einfach ausgesetzt. In der Sprache der Orientierung ist das unmittelbar plausibel: Man kann sich (fremdbezüglich) nur an anderem und anderen orientieren, wenn man (selbstbezüglich) Spielräume hat, sich auch nicht an ihm zu orientieren, und man orientiert sich (selbstbezüglich) zugleich daran, ob man sich dabei jeweils (fremdbezüglich) erfolgreich orientiert oder nicht. Orientierungserfolg aber setzt keine gemeinsame, einheitliche Orientierung, sondern getrennte Orientierungen mit ihren unterschiedlichen Standpunkten, Horizonten und Perspektiven voraus, die sich in wechselseitiger fremdbezüglicher Selbstbezüglichkeit aneinander orientieren. Fremdbezügliche Selbstbezüglichkeit ist Perspektivität. Durch eine Perspektive wird, um im Bild zu bleiben, ‚hindurchgesehen‘ (per-spicere) wie durch ein ‚Perspektiv‘, ein Beobachtungsrohr, das eine Beobachtung eben dadurch ermöglicht, dass es sie begrenzt, das sich aber nicht selbst beim Beobachten beobachten kann. Eine Perspektive kann auch andere Perspektiven nur in der eigenen beobachten; sie kann nicht mit ihnen eins werden. Perspektiven sind, davon gingen Luhmann wie Nietzsche aus, getrennt und auf sich selbst angewiesen; Übereinstimmung, Verschmelzung, Konsens bleiben unerfüllbare Wünsche. Und sie brauchen nicht noch ein Subjekt als Steuerungszentrum. Beide, Nietzsche und Luhmann, sahen, dass die indo-europäischen Sprachen mit ihrem Subjekt-Prädikat-Schema dazu verführen, zu jedem Tun oder Geschehen, auch zum Denken selbst, als „Normalillusion“ (Luhmann 1990a: 61) einen ‚Täter‘ hinzuzudenken. Sie besetzten die Subjekt-Stelle nicht mehr.⁹ Perspektiven liegt nichts zugrunde und sie stehen auch nicht fest: auch ihre Standpunkte und Horizonte können variieren. Sie unterscheiden: Sie scheiden, was sie sehen und was sie nicht sehen, und sie können nach unterschiedlichen Wie stark die Widerstände gegen den Verzicht auf die Subjekt-Stelle weiterhin sind, zeigen z. B. (Zima 2000) und (Weber 2005). Weber unterstellt Luhmann unter Aufbietung zahlreicher Zeugen im „Absolutismus des autopoietischen Systems“ (33) gar einen „gigantischen Subjektivismus“ (43) und beklagt zugleich, dass Luhmann sich damit nicht mehr auseinandersetzen wollte.
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Unterscheidungen unterscheiden. Nach Luhmanns Unterscheidungstheorie (im Anschluss an George Spencer Brown) haben Unterscheidungen stets zwei Seiten, einen positiven und einen negativen Wert: Der positive wird in die Perspektive / das System eingeschlossen und gehört dann zu der darin gesichteten Welt, der negative wird ausgeschlossen und bleibt als Reflexionswert zurück. In der Regel (oder nach Luhmann der Beobachtung I. Ordnung) wird nur der eingeschlossene Wert beachtet. ‚Sieht‘ eine Perspektive (um notgedrungen subjektivistisch zu sprechen) aber, dass eine andere Perspektive anders unterscheidet, kann sie beide Seiten der Unterscheidung zugleich und damit die Unterscheidung als solche sehen und (in fremdbezüglicher Selbstbezüglichkeit) ihre eigene Unterscheidung davon unterscheiden. Werden Unterscheidungen in diesem Sinn auf sich selbst bezogen (in einer Beobachtung II. Ordnung), führt das, wenn der positive Wert verwendet wird, zu Tautologien (es ist die Wahrheit, dass ich die Wahrheit sage), wird aber der negative Wert verwendet, zu Paradoxien (es ist die Wahrheit, dass ich die Unwahrheit sage, oder: es ist die Unwahrheit, dass ich die Wahrheit sage), nicht nur zu rhetorischen, sondern zu logischen Paradoxien im Sinn von Antinomien, einander widersprechenden Behauptungen, die gleichermaßen gültig sind. Sie gelten noch immer als sigilla falsi. Dagegen hat Luhmann, wie Newton und Leibniz im infiniten Regress, in Paradoxien ein neues Denkwerkzeug erkannt, und das könnte sein revolutionärster Schritt in der Epistemologie sein. Danach blockieren Paradoxien das Denken, indem sie es zwischen den einander widersprechenden Behauptungen oszillieren lassen, ohne Handhabe, zwischen ihnen zu entscheiden. Es orientiert sich dann neu und entscheidet sich entweder, willkürlich oder unwillkürlich, zwischen den Alternativen oder aber für die Alternative als solche. Im zweiten Fall macht es einen von Grund auf neuen Anfang, ohne eine Letztbegründung, die, sofern man auch wieder nach deren Begründung fragen kann, wieder in eine Paradoxie führt. Nietzsche hat geradezu vergnüglich Alternativen eröffnende logische Paradoxien aufgedeckt, auch und gerade im ‚Glauben‘ an die Wahrheit („Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit?“, JGB 1), an die Moral (Könnte es unmoralisch sein, nach moralisch und unmoralisch zu unterscheiden?) und insbesondere an die Moral im Glauben an die Wahrheit („Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit mehr werth ist als Schein“, JGB 34). Dies, „mit der Paradoxie von sich selbst negierenden Unterscheidungen arbeiten und die expressiven Möglichkeiten des Vertextens nutzen [zu können], um genau dies mitzuteilen“ (Luhmann 1990a: 94), schätzte Luhmann an Nietzsche.
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3 Anfang bei Willen zur Macht / Beobachtungen Nietzsche und Luhmann paradoxierten methodisch transzendente und transzendentale Epistemologien, um selbst neu anzufangen – mit Paradoxien. Paradoxien müssen, so Luhmann, entparadoxiert werden, damit es weitergehen kann. Das geschieht zumeist so, dass sie unsichtbar gemacht, ‚invisibilisiert‘ werden, durch eine Metapher, ein Wort, einen Begriff, die die Paradoxie so einschließen, dass sie nicht mehr auffällt. Nietzsche tat das meist unauffällig, weshalb ihm häufig Widersprüche und Ambivalenzen vorgeworfen wurden, Luhmann machte es auffällig. Er lässt nun auch Nietzsches Wege der Paradoxierung und Entparadoxierung leichter erkennen. Auch wenn beide in der Darlegung ihres Denkens immer wieder anders anfangen, führen sie regelmäßig auf ein Prinzip hin, aus dem es im Ganzen zu verstehen sein soll. Bei Nietzsche sind das die Willen zur Macht, bei Luhmann die Beobachtungen. So fremd die Wörter einander scheinen, so nah sind die Begriffe einander, die beide mit ihnen verbinden. Willen zur Macht und Beobachtungen sind keine Prinzipien im Sinn von grundlegenden Sätzen über die Ordnung der Welt, sondern von Methoden, die Welt zu ordnen. Es sind paradoxe Prinzipien der Paradoxierung und Entparadoxierung. Sie machen die Paradoxie im Wissen vom Wissen heimisch. Nietzsche hat im Kontext seiner Paradoxierung der metaphysischen Prinzipien, dem ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse, seine „Methode“ „Principien-Sparsamkeit“ genannt – und mit ihr zugleich, scheinbar widersprüchlich, sein „Prinzip“ des „Willens zur Macht“ eingeführt (JGB 13).¹⁰ Der Widerspruch löst sich auf, wenn man die Rede von Willen zur Macht mit Luhmann als paradoxes Prinzip der Prinzipien-Einsparung versteht. Denn hütet man sich, wozu Nietzsche eindringlich auffordert, der Welt selbst irgendwelche Ordnungen nach irgendwelchen Prinzipien zu unterstellen (vgl. FW 109), dann ist in ihr nichts lokalisiert, identifiziert, definiert, relationiert, legitimiert usw., steht nichts vorab fest. Stattdessen ist alles als einander in allem ausgesetzt zu denken, als in jedem Moment ohne erkennbares Gesetz aufeinander reagierend, regellos sich mit anderem verbindend oder von ihm trennend, es einverleibend oder ausstoßend, es überwältigend oder von ihm überwältigt (vgl. GM II 12). Doch das Denken loka-
Nietzsche verwendet den Begriff des Prinzips im veröffentlichten Werk großzügig und oft auch spöttisch, in ihm selbst vorbehaltenen Notaten aber auch für seine erklärtermaßen „hypothetische“ (JGB 36) „Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden Macht-Willens“ (GM II 12).Vgl. (Nachlass 1887, 9[1], KSA 12.339), und (Nachlass 1888, 14[136], KSA 13.320), und dann auch Der Fall Wagner (WA, Epilog, KSA 6.51).
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lisiert, identifiziert, definiert usw., es kann nicht anders, und so ist die Aufforderung an es, probeweise darauf zu verzichten, paradox: sie zeigt ihm seine Grenzen. Dass Nietzsche von ‚Willen‘ sprach, hatte fraglos mit Schopenhauer zu tun, der mit dem Begriff des Willens den Begriff der Vernunft und den Glauben unterlaufen hatte, die Vernunft stelle für alle gleich gültige Gründe bereit, – um diesen grundlosen Willen zum bloßen Dasein sogleich als neues metaphysisches Prinzip anzusetzen. Nietzsche dagegen führte, um mit dem späten Wittgenstein zu sprechen (2001: 812, § 116), die metaphysische Verwendung des Begriffs ‚Wille‘ auf seine alltägliche zurück. Kommt er alltäglich ins Spiel, geht es in der Tat nicht mehr um Begründungen, denen andere zustimmen sollen, sondern darum, etwas auch ohne Gründe durchzusetzen. Dann steht, wie man sagt, ‚Wille gegen Wille’, und so, plural, gebrauchte, wie Müller-Lauter (1971) gegen Heidegger gezeigt hat, Nietzsche den Begriff. Mit dem pluralen Prinzip von Willen, die sich in unablässiger Auseinandersetzung miteinander erst strukturieren und unablässig neu strukturieren und dadurch immer neue Ordnungen schaffen, schuf sich Nietzsche einen „Gegen-Begriff“¹¹ gegen scheinbar vorgegebene Ordnungen der Welt, in der „absolut die Gesetze fehlen“ (JGB 22), einen Begriff, der alle Alternativen offenhielt, auch zu sich selbst (denn auch der Begriff des Willens zur Macht könnte schon aus einem Willen zur Macht kommen). So ist es ein Prinzip, das alle Prinzipien in Frage stellt, ‚einspart‘, also ein paradoxes oder Anti-Prinzip, aus dem auch das Wissen (eingeschlossen das Wissen von ihm selbst) neu und komplexer verstanden werden sollte. Sofern aber jede Ordnung eine Macht voraussetzt, die sie schafft und erhält (Anter 2004), müssen diese Willen Willen zur Macht sein, und sofern Macht in Auseinandersetzungen nie feststeht, sondern gefährdet bleibt, kann sie ihrerseits nur Wille zur Macht sein. Versteht man die Formel vom Willen zur Macht als Anweisung, den paradoxen Ursprung von Ordnungen, darunter auch den Ordnungen des Wissens, aus Nichtordnung denkbar zu machen, dann sieht man, dass Luhmann mit anderen Begriffen dasselbe bezweckte. Sich in der Auseinandersetzung miteinander strukturierende Willen zur Macht sind nach seinen Begriffen nichts anderes als fremdbezügliche Selbstbezüge. Luhmann, der ebenfalls paradox von einer „prinzipiell kontingenten Welt“ (1990a: 332), also vom Prinzip einer Welt ohne Prinzipien, ausging, gebrauchte dafür den kühleren Begriff der Beobachtung. Vordergründig scheinen auch Luhmanns ‚Beobachtungen‘, wie Nietzsches ‚Willen zur Macht‘, etwas attraktiv Handfestes zu sein, und ohne attraktive und handfeste
Vgl. Nietzsche (Nachlass 1888, 23[3]3, KSA 13.603): „Ich habe diese starken Gegen-Begriffe nöthig, die Leuchtkraft dieser Gegen-Begriffe, um in jenen Abgrund von Leichtfertigkeit und Lüge hinabzuleuchten, der bisher Moral hieß.“
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Vordergründe ließe man sich nicht auf paradoxe und subtile Hintergründe ein; insofern verfährt auch Luhmann unvermeidlich, nur weniger faszinierend, rhetorisch. Auch Beobachtungen, mit deren Begriff er die traditionellen epistemologischen Entgegensetzungen des Denkens zum Wahrnehmen, zum Wollen und zum Sein einzieht, sind bloße Perspektiven auf Perspektiven, nicht schon Beobachtungen von Menschen oder anderer Subjekte.¹² Sie sind ‚Operationen‘ (kühler für ‚Willen‘) und Ergebnisse von Operationen (kühler für ‚Macht‘), an die ‚rekursiv‘ neue Operationen anschließen können (kühler für ‚überwältigen‘ und ‚einverleiben‘). Sie transzendieren die beobachtbare Welt nicht, noch liegen sie ihr zugrunde; sie beobachten und werden beobachtet (sonst ‚gibt es‘ sie nicht); die Welt strukturiert sich in Beobachtungen von Beobachtungen (kühler für ‚Auseinandersetzungen von Willen zur Macht‘) und ist darin real. Wie Nietzsches Willen zur Macht ändern sich auch Luhmanns Beobachtungen mit dem, was sie beobachten, und ändern das, was sie beobachten, eben dadurch, dass sie es beobachten (wovon u. a. auch die Quantenphysik ausgeht). Indem BeobachtungsOperationen rekursiv, also wiederum fremdbezüglich-selbstbezüglich, auf frühere Beobachtungs-Ergebnisse zurückgreifen, bilden sie Strukturen aus, die sich zu ‚Systemen‘ in Luhmanns Sinn schließen können, die, auf fremdbezüglichselbstbezüglichen Umwegen und bei hinreichender Komplexität der Kommunikation der Gesellschaft, sich als ‚Funktionssysteme‘ ‚ausdifferenzieren‘ können. So ergibt sich, in gröbster Abkürzung, aus dem paradoxen Prinzip der Prinzipiensparsamkeit für Luhmann die Ordnung der modernen ‚funktional differenzierten Gesellschaft‘. Man kann immer nur auf eine bestimmte Weise beobachten. Die Welt ist darum stets die Welt eines Beobachtungssystems, die von ihm unterschiedene und bezeichnete und dann auch gewusste Welt. Alles Übrige, auch die Welten anderer Beobachtungssysteme, sind für ein Beobachtungssystem unbeobachtete Umwelt, von der es zu derselben Zeit nichts weiß, die es zu einer andern Zeit aber weiter erschließen kann. So läuft bei allem Wissen als andere Seite immer NichtWissen mit, vermehrt und vermindert sich mit ihm, und so ist Wissen immer zugleich Nicht-Wissen dessen, was es ausschließt, also prinzipiell paradoxes Wissen (JGB 24, 230; Luhmann 1990a: 134 ff.).¹³ Man kann auch sagen: Strukturierte Willen zur Macht oder Beobachtungssysteme sind Orientierungen, und die andern Willen zur Macht, mit denen sie sich auseinanderzusetzen haben, oder die jeweiligen Umwelten von Beobachtungssystemen sind Situationen, die sie, wie Hier sträubt sich auch der Luhmann sonst wohlgesonnene Clam (2000: 314). Vgl. dagegen (Kerger 1990 u. 1991). Von hier aus wird auch Nietzsches Formel vom Nihilismus neu verständlich, die eben das meinen könnte (Stegmaier 2016).
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man sagt, ‚bewältigen‘ müssen, ohne vorab schon wissen zu können, was dabei im Spiel ist. Die Unterscheidungen von sich miteinander auseinandersetzenden Willen zur Macht und von System und Umwelt kommen in der Unterscheidung von Orientierung und Situation zusammen. Orientierungen müssen sich gegen Prinzipien und Methoden offenhalten, um sich die Situation nicht schon durch sie zu verstellen, und dürfen sie erst ins Spiel bringen, wenn sie hinreichend erfasst haben, ob sie für die Situation passen. Indem sich Orientierungen an etwas orientieren, ohne sich darauf festzulegen, halten sie sich Spielräume für Alternativen offen und müssen sie sich offenhalten, um auf andere Situationen anders reagieren zu können. Indem sie sich aber zugleich (rekursiv) an ihren früheren Orientierungsoperationen und -ergebnissen orientieren, also lernen, werden sie sicherer im Umgang mit neuen Situationen, können sie schließlich ‚beherrschen‘, gewinnen Ordnungsmacht – im günstigen Fall; im ungünstigen Fall versetzen sie neue Situationen wieder in Desorientierung. Orientierungen (Willen zur Macht, Beobachtungssysteme) bleiben so in Evolution. Evolution im Darwinschen Sinn bedeutet ihrerseits nicht mehr als Strukturierung und Umstrukturierung von Lebewesen in der Auseinandersetzung mit unablässig wechselnden Umweltbedingungen, darunter und vor allem mit anderen Lebewesen. Die Evolutionstheorie geht nicht mehr von zeitlosem Allgemeinem, sondern nur noch von zeitlichen Individuen aus. Nietzsche und Luhmann schlossen darin entschieden an Darwin an, ohne die (paradoxen) Formeln von der Selbsterhaltung (in der Evolution kann sich auf lange Sicht nur erhalten, was sich ändert) und der Anpassung an die Umwelt (für die die Umwelt vorab bekannt sein müsste) zu übernehmen.¹⁴ Beide verzichteten auf alle „Zwecke des Daseins“ (FW 1; Luhmann 1990a: 371, 559), warnten vor „überflüssigen teleologischen Principien“ (JGB 13; Luhmann 1990a: 285) und setzten lediglich auf Variation und Selektion (unter den Variationen), die Erzeugung (abstrakter: Generierung) immer anderer Individuen (abstrakter: Elemente), die unter Lebensnöten (abstrakter: Knappheit) mit ausgewählten, seligierten Individuen immer neue Individuen (Elemente) zeugen (generieren), die dann die Lebensnöte (Knappheit) überstehen oder nicht. Steigert sich die Not, hilft der Aufbau komplexerer Strukturen sie leichter und damit wahrscheinlicher zu überstehen. Die Kontingenz bleibt dabei immer erhalten; ein zeitloses Allgemeines, biologisch eine Konstanz von Arten, an die sich Aristoteles in der Bildung seines Begriffs des
Das schließt für beide auch eine jetzt so genannte evolutionäre Erkenntnistheorie aus, wie sie schon zu Nietzsches Zeit Herbert Spencer propagierte, soweit sie einen stetigen Fortschritt der Anpassung der Erkenntnis an die ihr vermeintlich vorgegebene Welt vorsieht und damit Wahrheit für garantiert hält.
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Begriffs gehalten hatte, kommt nicht zustande. Damit steht auch das Schema von Gattung und Art nicht mehr zur Verfügung, das a) die Kontingenz des Unterscheidens abblendet und b) mit der Evolution die Zeit ausschließt (Luhmann 1990a: 381). Nietzsche paradoxierte es gezielt, indem er z. B. aus dem Gegensatz Wahrheit / Irrtum eine Unterordnung machte (Wahrheit als Art des Irrtums) oder Not als Oberbegriff auch für ihren Gegensatz, den Überfluss, ansetzte.¹⁵ Luhmann begriff Begriffe als „strukturelle Einheiten, die rekursive Vorgriffe und Rückgriffe sowie Wiederholungen ermöglichen“, als „Kondensate von und Kondensatoren für Erwartungen, die dem laufenden autopoietischen Prozess wissenschaftlicher Kommunikation Struktur geben“ (384), und folgte damit explizit Kants funktionaler Definition des Begriffs als Regel für die Herstellung von Einheit angesichts einer Mannigfaltigkeit.¹⁶ Dabei kann, wie es schon Nietzsche in seinem frühen epistemologischen Entwurf WL dargestellt hatte, ein Reiz, eine Metapher, ein Wort „als Startmechanismus dienen“ (Luhmann 1990a: 384), und Begriffe können sich, wie schon Kant eingeräumt hatte, mit jedem neuen Gebrauch in einer neuen Situation verschieben.¹⁷ Sie evoluieren ihrerseits oder sind fluktuant. Nietzsche und Luhmann haben Wissen darum, auch wo es sich, wie in der Wissenschaft, in Begriffen kristallisiert, aus Nöten von Evolutions- oder kontingenten Variations- und Selektionsprozessen rekonstruiert. Dabei wird das scheinbar Selbstverständliche (z. B. dass man etwas weiß) wiederum paradox als nicht-selbstverständlich oder das Wahrscheinliche als unwahrscheinlich genommen (Luhmann 1990a: 331), um Alternativen sichtbar zu machen und dadurch zu einem komplexeren Verständnis dessen zu kommen, was gegenüber jeder perspektivischen Erkenntnis „unsäglich anders complicirt“ ist (Nietzsche, Nachlass 1885, 34[249], KSA 11.505). Das schloss für beide, ohne Furcht vor Paradoxien, Selbstkritik ein, die Erschließung von Bedingungen der Möglichkeit auch der Kritik selbst, zeitlose Formen im Sinn Kants nun aber aus. Mit ihrem Anfang bei Willen zur Macht bzw. Beobachtungen setzten sie alles, einschließlich des eigenen Denkens, vorbehaltlos der Zeit aus, einer Zeit wiederum ohne vorgegebene Form, in der alles anders werden kann, einschließlich des Begriffs der Zeit selbst (Luhmann 1990a: 614). Die Zeit in diesem radikalen Sinn wurde schon in der Antike als Paradoxiegenerator entdeckt: Jetzt ist zugleich immer dasselbe und immer ein anderes; um Zeit festzustellen, braucht man seinerseits Zeit, stellt
Vgl. Nachlass 1881, 11[325], KSA 9.568; Nachlass 1885, 34[247], KSA 11.503; JGB 2; FW 370. Vgl. in der Terminologie abweichend, doch in der Sache übereinstimmend Abel 2001. Danach sind Begriffe, soweit sie „als realitätshaltig und orientierend akzeptiert“ werden, „eine öffentliche, andere Personen einbeziehende Angelegenheit“ (25), ohne dass dafür „Intersubjektivität“ in Anspruch genommen werden müsste (30). Vgl. Kant (KrV A 728 / B 756); Nietzsche (GM II 12); Luhmann (1990a: 108, 312, 375).
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man also schon etwas anderes fest. Mit Zeit können Paradoxien aber auch wieder entparadoxiert werden: was zugleich nicht möglich ist, kann nacheinander ohne weiteres möglich sein. Wissen muss realistisch also von Grund auf als zeitliches konzipiert werden. Es ist ein Orientierungsmittel auf Zeit und lässt darum keine Zukunftssicherheit mehr zu (FW 1; Luhmann 1990a: 611 ff.).
4 Wissenschaftliches Wissen als Orientierungsmittel: Nietzsches Entwurf, Luhmanns Theorie Nietzsche hat die Begriffe des Wissens und der Wissenschaft in seinem Werk vielfach gebraucht, aber keine Theorie des Wissens und der Wissenschaft ausformuliert. Das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft macht zusammen mit der neuen Vorrede, die er zu dessen Veröffentlichung verfasst hat, jedoch gut deutlich, wie er ‚Wissen‘ im reifen Stadium seines Denkens begriffen hat und was er zu einer Theorie des Wissens beitragen kann. Wir entnehmen den Kontexten acht Anhaltspunkte, zwei Prämissen von, wie Nietzsche schreibt, „Wissenden“, vier Thesen zum Wissen und zwei Anweisungen für „furchtlose“ Philosophen.¹⁸ (1) Delimitierungsprämisse: Unter ‚Wissen‘ wird in der Regel ‚wahres Wissen‘ verstanden. Nach dem 2. Aphorismus der neuen Vorrede handelte es sich „bei allem Philosophiren“ jedoch „bisher gar nicht um ‚Wahrheit‘, sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben…“ Nietzsche gibt nicht vor zu wissen, worum es sich dabei handelt, äußert nur den „Verdacht“, dass es bei der „‚Wahrheit‘“ noch um „etwas Anderes“ geht, von dem man zumindest zugleich nicht weiß. Er entgrenzt, delimitiert die Horizonte der Wahrheit des Wissens und damit auch des Wissens selbst. Wissen und Wahrheit beziehen sich weder auf etwas an sich selbst noch sind sie allein aus sich selbst zu verstehen. (2) Limitationalitätsprämisse: ¹⁹ Nach dem 4. und letzten Aphorismus der neuen Vorrede „wissen“ wir dennoch „Einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr lernen, gut zu vergessen, gut nicht-zu-wissen, als Künstler!“ Wissende reflektieren das Wissen und wissen, dass alles Wissen durch Nicht-Wissen begrenzt ist und sein muss, dass es eben darin seinen Halt hat, durch NichtWissen begrenzt zu sein (vgl. JGB 230). Für solche Wissende ist, fährt Nietzsche
Vgl. dazu die Revisionen in Stegmaier (2016: 221– 234). Zum Begriff der Limitationalität vgl. Luhmann (1990a: 391– 397).
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fort, der Wille „zur ‚Wahrheit um jeden Preis‘“ zum „schlechten Geschmack“ geworden. Der „Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit“ ist nicht widerlegt, man kann ihn nicht widerlegen: Sein Horizont ist, wie man inzwischen sehen kann, beschränkt. (3) Funktionalitätsthese: Führt man beide Prämissen zusammen, geht man also davon aus, dass Wissen durch Nicht-Wissen entgrenzt und zugleich durch es begrenzt ist, so wird Wissen in seiner Funktion für die Orientierung verständlich: Sie kann sich an es halten, glaubt sie aber an den Halt, kann sie jederzeit in NichtWissen, Desorientierung abstürzen. Der Wille zum Wissen, zu einem unbezweifelbaren, Nicht-Wissen ausschließenden Wissen ist, so Nietzsche in (FW 347), „noch das Verlangen nach Halt, Stütze, kurz, jener Instinkt der Schwäche, welcher Religionen, Metaphysiken, Ueberzeugungen aller Art zwar nicht schafft, aber – conservirt“. Nach Halt im Wissen zu verlangen, ist eben dann eine Schwäche der Orientierung, wenn sie ihn jenseits eigener Orientierungsmöglichkeiten sucht. Das gilt nicht nur für das alltägliche, sondern auch für das wissenschaftliche Wissen. (4) Autoritätsthese: Religionen, Metaphysiken, Ideologien, Weltanschauungen werden plausibel durch „priesterliche Naturen“ mit Autorität beim „Volk“ (Nietzsche fügt in Parenthese hinzu „(und wer ist heute nicht ‚Volk‘? –)“): „Das Volk empfindet solche geopferte stillgewordne ernste Menschen des ‚Glaubens‘ als weise, das heisst als Wissend-Gewordene, als ‚Sichere‘ im Verhältniss zur eigenen Unsicherheit“ (FW 351). Ernste Menschen des Glaubens sind nach FW 344 und 347 auch Wissenschaftler, die in ihrem „ungestümen Verlangen nach Gewissheit“ noch an eine sichere metaphysische Wahrheit glauben. (5) Sozialitätsthese: In FW 354 trägt Nietzsche zwei, wie er sie nennt, „ausschweifende Vermuthung[en]“ vor, Hypothesen, die vorerst kaum plausibel sein werden,²⁰ zunächst (a), dass „die Feinheit und Stärke des Bewusstseins immer im Verhältniss zur Mittheilungs-Fähigkeit eines Menschen (oder Thiers) [steht], die Mittheilungs-Fähigkeit wiederum im Verhältniss zur Mittheilungs-Bedürftigkeit“, dann (b), dass, in äußerster Konsequenz, „Bewusstsein überhaupt sich nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses entwickelt hat“. Danach besteht auch das sogenannte Bewusstsein, das die Philosophie der Moderne an die Stelle des Seins gesetzt hat, um darauf alles Wissen zu begründen, nicht an sich, ist ebenfalls kein ‚Sein‘. Stattdessen hat es sich dadurch entwickelt, dass es in Lebensnöten eine raschere Verständigung mit anderen ermöglichte – durch abkürzende „Mittheilungszeichen“, nicht nur, aber vor allem Zeichen der Sprache, also Worte. Worte können jedoch, eben weil sie abkürzen, in neuen Situationen
Auch Abel 2012 berührt sie mehrfach, Abel 2001 geht ausführlich auf sie ein.
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anders und so auch immer missverstanden werden, und man kann mit ihnen täuschen. Mit der weit rascheren Orientierung an anderer Orientierung durch Sprache wird so auch eine weit riskantere Desorientierung möglich. Eben darum fordert der Gebrauch von Sprachzeichen besondere Aufmerksamkeit, Bewusstheit, wie Nietzsche in FW 11 zunächst sagte. Nach seinen Vermutungen ist Bewusstheit ein dauerndes Begleitphänomen der Kommunikation, und deshalb wird ihr in der Kommunikation über die Kommunikation leicht und zu Unrecht ein andauerndes Bewusstsein unterstellt. Als bloßes Begleitphänomen der Kommunikation wird Bewusstsein von Grund auf durch Kommunikation strukturiert, ist es also ein von Grund auf soziales Bewusstsein. Es gehört „nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen […], vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Heerden-Natur ist“. Es ist also seinerseits paradox: Was wir ‚Bewusstsein‘ nennen, ist, weil es für andere nicht einsehbar ist, einzeln, getrennt von allen andern ‚Bewusstseinenʻ, und ist in dem, was darin bewusst und gewusst wird, zugleich gemeinschaftlich, sozial, aber mit unscharfen Rändern. Es ist zugleich individuell und (vage) allgemein und kein Subjekt, das sich zur Objektivität entsubjektivieren kann. Sprachliches Bewusstsein ermöglicht dem Menschen, dem „gefährdetsten Thier“, wohl „selbst zu ‚wissen‘ was ihm fehlt, zu ‚wissen‘, wie es ihm zu Muthe ist, zu ‚wissen‘, was er denkt“, er ‚weiß‘ es, wie alle es zu ‚wissen‘ scheinen, weil alle dieselben Zeichen gebrauchen; aber er kann nicht wissen, ob andere mit denselben Zeichen dasselbe verbinden (FW 354; vgl. Wittgenstein 2001: 943, § 504). Darüber hinaus haben wir „gar kein Organ für das Erkennen, für die ‚Wahrheit‘: wir ‚wissen‘ (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel als es im Interesse der Menschen-Heerde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier ‚Nützlichkeit‘ genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung“. Nietzsche entparadoxiert die Paradoxie des bewussten Wissens, indem er den „eigentlichen Phänomenalismus und Perspektivismus“ als den einer „Oberflächen- und Zeichenwelt“ versteht, die immer schon „eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt“ ist, von der die Individuen aber dennoch individuellen Gebrauch machen können – wenn sie es können. Wir gebrauchen zur Mitteilung unseres individuellen Erlebens das Repertoire einer gemeinsamen Sprache und folgen ihren Regeln, beides aber in – mehr oder weniger – individuellen Spielräumen. (6) Disziplinaritätsthese: Wissenschaftler, ‚Gelehrte‘, werden in den Organisationen der Wissenschaft ferner so sozialisiert, dass ihr Wissen einer bestimmten ‚Disziplin‘ folgt, Theorien und Methoden, die sie einen bestimmten Ausschnitt der Welt schärfer und die übrige Welt entsprechend unschärfer oder gar nicht sehen lassen. Das führt in der Sache zu perspektivischen Schematisierungen, Klassifizierungen und Beweisverfahren (FW 348), in den Persönlichkeiten zur Beschränkung der Willen zur Macht auf einen Willen zur Wahrheit (FW 349) und zur
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Furcht, die disziplinierten Perspektiven in Frage zu stellen (FW 359), im Ganzen zur „Ueberschätzung des Winkels“ der Perspektive des Fachs (FW 366). (7) Anweisung zur Verunsicherung: Philosophen, die kritisch den Bedingungen des Wissens nachgehen, sehen dagegen, dass die scheinbare Sicherheit des Wissens, des alltäglichen ebenso wie des wissenschaftlichen, gefährlich ist. Führt man Fremdes auf Bekanntes zurück, will man sich damit beruhigen; auch das „Frohlocken des Erkennenden“ ist zumeist „das Frohlocken des wiedererlangten Sicherheitsgefühls“. Nietzsche stellt in FW 355 die Unterscheidung Beruhigung / Beunruhigung vor die Unterscheidung Wissen / Nicht-Wissen. „Das Bekannte, das heisst: das woran wir gewöhnt sind, so dass wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgend eine Regel, in der wir stecken, Alles und Jedes, in dem wir uns zu Hause wissen“.Wissen ist mit einem Wort Routine-Wissen: Routinen folgt man, ohne noch nach ihnen zu fragen, sie sind selbstverständlich geworden, weil sie ‚funktionieren‘, und dass sie funktionieren, beruhigt, auch in der Wissenschaft. Aber eben nur, solange sie funktionieren. Beunruhigung ist die Grundstimmung der Orientierung, die immer möglicher Desorientierung ausgesetzt ist, immer auch ihren ‚Halt‘ verlieren kann, und so beruhigt es, in kritischen Situationen andere sich gleich orientieren zu sehen. Doch wenn alle sich – mehr oder weniger – aneinander orientieren, können sich umso mehr alle miteinander desorientieren. Hier sieht Nietzsche die Aufgabe eigentlicher Philosophen, nämlich „furchtlos“ dem „Instinkt der Furcht“ entgegenzutreten und gerade das Bekannte, das „Nicht-Fremde“, zu ihrem Gegenstand zu machen, das scheinbar Sichere wieder zu verunsichern. (8) Anweisung zur Paradoxierung: Damit verlangt er „fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges“ von ihnen (FW 355), also gezielte Paradoxierung. Sie ist jedoch nur „fast“ widerspruchsvoll und widersinnig, nämlich dann nicht, wenn sie ein neues Wissen vom Wissen ermöglicht und dadurch die Orientierungsmöglichkeiten im Ganzen erweitert. Die Delimitierungs- und die Limitationalitätsprämisse, die Funktionalitäts-, Autoritäts-, Sozialitäts- und Disziplinaritätsthese und die Anweisungen zur Verunsicherung und Paradoxierung geben den Rahmen vor, in dem Luhmann seine Theorie des Wissens entfaltet. Dass er die beiden Prämissen (1– 2) teilt, haben wir eingangs schon geklärt. Dass er als Soziologe die Funktionalitäts-, Autoritäts-, Sozialitäts- und Disziplinaritätsthese (3 – 6) unterstützt, bedarf kaum weiterer Ausführungen. Alltägliches Wissen ist (3) auch nach Luhmann „selbstverständliches Immer-schon-Vertrautsein im rechten Umgang mit Dingen und Ereignissen“ (Luhmann 1990a: 342): „Es bewährt sich, man weiß nicht wie“ (333) – durch bloße Rekursivität. Weicht man vom eingespielten Zeichengebrauch zu stark ab, wird man (4) von Autoritäten, zunächst Eltern und Lehrern, später Vorgesetzten, Kollegen usw., korrigiert (nach Wittgenstein 2001: 747, § 5, ‚abgerichtet‘) und erhält so
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(5) Halt in der Sozialität des Wissens. Sie ist jedoch, schon nach Nietzsche, nur die eine Seite seiner Bedingtheit. In Also sprach Zarathustra hatte er das Bewusstsein (und mit ihm das Denken, die Vernunft, den Geist) als Perspektive des Leibes gedacht, dessen ‚Werk- und Spielzeug‘ es sei und der seinerseits die Welt in der Perspektive seiner Bedürfnisse und Nöte sehe. In Luhmanns Systemtheorie werden alle drei, Leib, Bewusstsein und soziale Kommunikation, zu drei voneinander unabhängigen und nur ‚strukturell gekoppelten‘ Beobachtungssystemen, physischen, psychischen und Kommunikationssystemen (Kerger 1991: 300 – 304) und das individuelle Bewusstsein dabei zum Begleitphänomen oder zur Umwelt sozialer Funktionssysteme. Hängt man, wie auch Nietzsche, noch am Begriff des Menschen, scheint das unplausibel. Doch offensichtlich durchschaut das Bewusstsein nicht den Körper, von dem es lebt, sondern erhält von ihm nur äußerst limitierte Informationen, z. B. Hunger, Schmerz, Lust; da Bewusstseine auch einander nicht durchschauen, können sie auch nur sehr begrenzt voraussehen, wie Kommunikationen weiterlaufen, und die Körper reagieren ihrerseits nur limitiert auf Bewusstsein und noch weniger auf Kommunikation. So sind alle drei Systeme im Sinn Luhmanns Umwelt füreinander. Wenn aber Körper und Bewusstsein als Beobachtungssysteme verstanden werden können, was einleuchtet, dann auch die Gesellschaft: eben sofern sie auf ihre eigene Weise, durch Kommunikation, beobachtet. Nietzsche hat hier von der „Gewalt“ der Sprache und Kommunikation gesprochen (JGB 268). Luhmanns These ‚strukturell gekoppelter‘ Beobachtungssysteme macht dann auch verständlich, wie Wissen sich auf jene externe Welt bezieht, von der es nicht wissen kann, wie sie an sich beschaffen ist. Er kehrt dabei in der Sache zu Nietzsches Anfängen zurück. Danach werden ‚Irritationen‘ – Nietzsche sprach in WL von ‚Nervenreizen‘ – vom Bewusstsein (einem jeweiligen Zustand der Bewusstheit) in ‚Informationen‘ umgesetzt, darunter, aber nur zu einem verschwindend geringen Teil, wie in FW 11 deutlich machte, in solche, die kommuniziert werden. Dazwischen liegt eine mehrfache metabasis eis allo genos, nach Nietzsche ein metaphorisches „Übertragen“ und „Ueberspringen“ (WL 1, KSA 1.879), nach Luhmann ein Umsetzen in andere Beobachtungen anderer Beobachtungssysteme nach anderen Unterscheidungen. Die Umsetzung verläuft nach Nietzsche in „einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre“ (884), die es nicht zulässt, „weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns“ (878). Dennoch verfährt sie nicht beliebig. Das Gehirn und dann das ‚Bewusstseinʻ haben, wie man leicht sehen kann, zwar erhebliche Spielräume sowohl im Annehmen als auch im Ausdeuten von Irritationen, können aber nicht alles aus allem machen. Die Spielräume sind eben durch das Gelingen oder Nicht-Gelingen von Orientie-
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rung in der natürlichen und der sozialen Umwelt begrenzt.²¹ Das Bewusstsein oder was man so nennt hat dabei nach Luhmann wie nach Nietzsche die Funktion, ‚Wahrnehmungen‘ kommunikabel zu machen: „Das Bewußtsein konstruiert auf der Grundlage der laufenden, geräuschlosen, unbemerkten Aktivität des Nervensystems eine Welt, in der es dann die Differenz des eigenen Körpers und der Welt im übrigen beobachten und auf diese Weise sich selbst beobachten kann.“ (Luhmann 1990a: 19 f.) Es ist – das sagt Luhmann, nicht Nietzsche – „parasitär“ (35), es „setzt den Körper gleichsam unter die Illusion, etwas über die Umwelt zu wissen“ (43). Kommunizieren aber kann es nur, was sich in der Sprache kommunizieren lässt und so von der jeweiligen Gesellschaft, also eingespielten Kommunikationen, akzeptiert wird. Bei Wissenschaftlern wird das durch die Disziplinarität (6) verstärkt: „das geschulte Wahrnehmungs- und Denkvermögen des Wissenschaftlers“ richtet seine Wahrnehmungen, Einfälle, Formulierungen immer schon so zu, dass sie sich möglichst in die Fachperspektive einfügen und in ihr zustimmungsfähig werden (Luhmann 1990a: 570). Nach Nietzsches Frühschrift bilden sich so wiederum „Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“, „moralisch ausgedrückt […] Verpflichtung[en] nach einer festen Convention zu lügen“ (WL 1, KSA 1.881). Dabei ist er geblieben. Wenn er später notiert, wir dächten auch schon in einem „Schema, welches wir nicht abwerfen können“, und langten „gerade noch bei dem Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehn“ (Nachlass 1886/87, 5[22], KSA12.193 f.; vgl. Luhmann 1990a: 164), und dann in seinem Lenzer Heide-Entwurf hinzufügt, „man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht ‹ist›, sich nicht foppen zu lassen“ (ebd., 5[71], KSA 12.213.), so heißt es dann bei Luhmann: „Auch wenn wir sagen können, daß es sich um eine Illusion handelt, können wir sie nicht vermeiden, sondern – ähnlich wie bei Wahrnehmungsillusionen – nur durchschauen und uns in der Theorieentwicklung davon unabhängig machen.“ (Luhmann 1990a: 165) Das ist (7– 8) die Anweisung zur Verunsicherung und Paradoxierung, nun für Systemtheoretiker. Was Nietzsche noch wollte, ist für Luhmann schon der Fall: Wissenschaft ist „das Mittel, durch das die Gesellschaft die Welt unkontrollierbar macht“ (371). Indem sie (a) durch „Steigerung des Auflöse- und Rekombinations-
Nach Abel 2012 kommt angesichts der eingespielten Interpretations-Praxis in der Zeichenwelt die Frage nicht auf, wie sie sich an der Welt ‚festhakt‘, so dass man von einem „Voll-Realismus“ sprechen könne (497 f.). Dennoch wird man fragen müssen, wie sich eine solche InterpretationsPraxis einspielt, was sie begrenzt und wie Zeichen „welthaltig“ werden oder wie im Sinn von Abel (2001: 40) die „Lebenswelt ‚getroffen‘“ wird. Abel (2001: 33) setzt darüber hinaus den Leib, um ihm nicht erneut eine metaphysische Stellung zu geben, dezidiert nicht in der „äußeren Welt“ an und scheint dadurch seine Vermittlungsfunktion zwischen dem Bewusstsein und eben jener, wie immer an sich unzugänglichen, Welt zu kappen.
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vermögens“, der „Auflösung (externer Vorgaben) und [der] Rekombination (als intern kontrollierter Rekonstruktion)“ (326 f.), die Welt nicht abbildet, sondern transformiert in Spielräumen, die sie selbst schafft und selbst begrenzt, (b) durch definierbare Begriffe, wählbare Methoden und überprüfbare Theorien anstelle von „primären Evidenzen“ (328) bestreitbare Alternativen anbietet und (c) in praktischen Umsetzungen und technischen Anwendungen sichtlich ebenso schaden wie nutzen kann, schafft sie wohl Sicherheit, aber ebenso Unsicherheit (325, 371). Und so sehr sie die Welt bereichern kann, lässt sie sie auch verarmen. Durch methodische Welt-Interpretationen wird die Welt, so Nietzsche in FW 373, ihres „vieldeutigen Charakters entkleidet“ und – er hatte noch den Mechanismus in den Naturwissenschaften vor sich, mit dem sie bald auch die letzten ‚WeltRätsel‘ zu lösen hofften – „sinnarm“, wenn nicht „sinnlos“, so wie Musik, wenn sie auf das beschränkt würde, was an ihr „gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne“. Um so mehr forderte er die Philosophen auf, die dem seit alters her Vorschub geleistet hätten, „die Musik des Lebens“ wieder hören zu lernen (FW 372). Bei Luhmann wird daraus das ‚Rauschen‘ der Welt in unablässig anbrandenden Irritationen, die die Wissenschaften nur hochselektiv akzeptieren. Nach Nietzsche wie nach Luhmann schafft Wissenschaft Wahrheit, aber ihre Wahrheit. Die Logik verstehen beide wie schon Kant als Prüfinstrument für die Richtigkeit von Folgerungen; werden ihre Standards der Welt an sich zugeschrieben, wird sie, so Nietzsche, zum „Muster einer vollständigen Fiction“ (Nachlass 1885, 334[249], KSA 11.505). Dass wissenschaftliche Wahrheit immer eine Wahrheit historischer ‚Paradigmen‘, also kontingent ist, war Nietzsche schon klar und ist, so Luhmann, auch für Wissenschaftstheoretiker spätestens mit Kuhn deutlich geworden. Und Luhmann wiederholt auch die paradoxierende Initialfrage von Nietzsches Wissenschaftsphilosophie: „Gibt es eigentlich eine Präferenz für den positiven und gegen den negativen Wert, für Wahrheit und gegen Unwahrheit, wenn zugleich akzeptiert werden muß, daß es falsch sein kann, etwas als wahr zu bezeichnen, und richtig sein kann, etwas als unwahr zu bezeichnen?“ (Luhmann 1990a: 200) Die Feststellung von Unwahrheit kann in der Wissenschaft viel weiterführen; wissenschaftliches Wissen als Orientierungsmittel muss für beide Werte offen sein. Luhmann hat Wahrheit darum nicht als Ergebnis oder Ziel, sondern als Medium der Wissenschaft gefasst. Sie produziert Sätze, die sowohl wahr als auch falsch sein können, und trägt sie als vermutlich wahre vor; falsche wären uninteressant. Durch Überprüfung der Sätze gibt sie dem Medium Form. Medium und Form unterscheiden sich nicht essentiell, sondern durch ‚lose und rigide Kopplung‘ der jeweiligen Elemente: „Die rigidere Form setzt sich gegenüber dem weicheren Medium durch, prägt sich ein, bestimmt das Unbestimmte“ (183). Genau so hat der frühe Nietzsche das Zustandekommen von Wahrheiten gedacht: als zeitweilige Verfestigung oder „Hart- und Starr-Werden“ fließender Metapho-
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risierungen (WL 1, KSA 1.883 f.), die die Wissenschaft mit ihren Mitteln weiter ‚härtet‘. Die Unterscheidung lose / rigide aber ist nach Luhmann die von „Schwäche und Stärke“ (183) – durch die der spätere Nietzsche Willen zur Macht unterschied. Der Wille zu wissenschaftlicher Wahrheit, der lose gekoppelte Sätze über die Welt rigide koppelt, wäre danach auch in Luhmanns Theorie ein Wille zur Macht. Damit kommen Nietzsche und Luhmann auch in der Kernfrage der Wahrheit des Wissens zusammen.
5 Prozedurales Wissen als Orientierungsmittel: Routinen des Knowing-How Nach der Befreiung des wissenschaftlichen Wissens von metaphysischen und transzendentalphilosophischen Vorgaben, die es als Orientierungmittel verstehen lässt, wäre noch von seinen Bindungen zu sprechen: von Nietzsches Bindung des Wissens der Wissenschaft an die Kunst und Luhmanns Bindung des Wissens der Wissenschaft an die Autopoiesis, von Nietzsches Bindung wissenschaftlicher Probleme an Persönlichkeiten und ihren Rang, der ihnen erst das Recht gibt, sich ihnen zu stellen (FW 345), und Luhmanns Einhegung dieses Rangs in das Funktionssystem Wissenschaft, das als „Orientierungshilfe“ den Reputationscode ausgebildet hat (Luhmann 1990a: 245 – 251, 352 ff.; vgl. Nietzsche: JGB 206; Stegmaier 2016: 348 – 375), und von Nietzsches Bindung seines Philosophierens an den Gott Dionysos und Luhmanns Bindung seiner Systemtheorie an einen paradoxiefreudigen Gott, der sich vom Teufel beobachten lässt. Wir müssen uns hier auf den ersten Punkt beschränken. Mit der Bindung an die Kunst erweitert Nietzsche den Horizont der Wissenschaftsphilosophie: Wissenschaft wird darin zur ‚fröhlichen Wissenschaft‘ (Stegmaier 2012a: 25 – 64). Mit ihr wird jedoch nicht nur die Disziplinarität des Wissens überschritten, sondern, wenn Kunst im weiten Sinn eines Könnens, eines ‚Wissens, wie …‘ oder, mit Abel, eines Knowing-How gefasst wird (Abel 2010), auch seine Bewusstheit und damit das wissenschaftliche Wissen überhaupt. Dennoch bleibt ein solches Wissen ein Orientierungsmittel – und ein stärkeres, als es das wissenschaftliche je sein kann. Auch Kunst als Können ist ein Wissen, das Wissen, wie man etwas ‚macht‘, z. B. aufrecht gehen, geschmeidig Rad fahren, geschickt ein Werkzeug gebrauchen, gewandt eine Sprache sprechen, schnell sich in überraschend neuen Situationen orientieren, aber auch wissenschaftliches Wissen sinnvoll einsetzen, elegant mathematische Beweise führen, neue wissenschaftliche Theorien und Methoden entwerfen und natürlich Kunstwerke schaffen. Ein solches ‚prozedu-
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rales‘ Können, wie Abel es nennt, fällt nicht unter die wahr/falsch-Unterscheidung. Es kann sich explizites, propositionales und theoretisches Wissen zunutze machen, setzt es aber nicht voraus und geht nicht in ihm auf; es lässt sich nicht nur nicht durch schriftliche Anweisungen und Theorien lernen, sondern kann durch sie sogar behindert werden, vor allem in der Kunst der Kunstwerke. Der Rang, nach dem Nietzsche ‚Erkennende‘ und ‚Wissende‘ unterscheidet, orientiert sich an einem solchen Können, auch im ‚Geistigen‘ (Stegmaier 2012a: 397– 402); seinen Fluchtpunkt hat es für Nietzsche nicht in einem göttlichen Alles-Wissen, sondern Alles-Können. Für das Können ohne Theorie gebrauchte er den Begriff der Praktik. In Der Antichrist konzipierte er für seinen ‚Typus Jesus‘ eine ‚evangelische Praktik‘ vor allen lehrbaren Dogmen; ‚die Musik des Lebens‘ wieder hören zu lernen (FW 372), verlange von Philosophen, sich auf Praktiken dieser Art einzulassen (Stegmaier 2012a: 519 f.). Luhmann unterschied in seiner Theorie ein nicht-explizites alltägliches vom expliziten wissenschaftlichen Wissen; im Gegensatz zum reflexiven wissenschaftlichen Wissen schafft das rekursive alltägliche Wissen fraglose Sicherheit (Luhmann 1990a: 147 f., 325, 333, 654). Auch wenn das wissenschaftliche Wissen als das „bessere“ gilt, kann es für den Alltag bedeutungslos sein (z. B. das Wissen, dass am Morgen die Sonne nicht aufgeht, sondern man sich ihr entgegendreht, dass da kein Wind weht, sondern Luftmassengegensätze sich ausgleichen oder dass nicht ich, sondern ‚mein‘ Gehirn denkt). Trotz dieser „Paradoxie von Dominanz und Irrelevanz der Wissenschaft“ (654) zog Luhmann das alltägliche Wissen jedoch nur zur Abgrenzung des wissenschaftlichen heran; als fragloses und selbstverständliches entzieht es sich der theoretischen Rekonstruktion oder macht sie paradox. Kunst als ausdifferenziertes Funktionssystem der Kommunikation der Gesellschaft führe Weltkonstruktionen als solche exemplarisch vor, indem sie (paradox) am Beobachtbaren das Unbeobachtbare beobachtbar mache, und könne in diesem Sinn „Weltkunst“ sein (Luhmann 1990b: 20 f.). Abel hat im Rahmen seiner Interpretationsphilosophie das Knowing-How als grundlegende Art des Wissens eingestuft; es habe „eine kognitive, eine handlungsstabilisierende und eine orientierende Rolle und Funktion“ (2010: 321). Die „basal-künstlerische Tätigkeit“ (Abel 2012: 526) sei durch Erfahrung erworben und zeige sich in „erfolgreichem und passendem Handeln“ (Abel 2010: 322). Dass zu den „Fähigkeiten, Fertigkeiten, Geschicklichkeiten und habituellen Gewohnheiten“ auch die „Fähigkeit des Rechtfertigens und Begründens“ in der Wissenschaft gehöre, mache den „vermutlich tiefsten Sitz des Knowing-How im Leben“ deutlich (Abel 2010: 325 ff.). Theoretisches Wissen verkürze es immer schon und könne es nur „paradox“ erfassen (Abel 2012: 526). Die Frage nach dem Wissen als Orientierungsmittel erhält so auch gegenüber Nietzsche und Luhmann ein neues Schwergewicht.
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Eine Philosophie der Orientierung wird das gerne aufnehmen, zugleich aber beobachten, dass hier auch Abels Interpretationsphilosophie an eine Grenze kommt. Die Paradoxie, von der diese ausgeht, dass der Begriff der Interpretation etwas voraussetzt, das interpretiert wird, eben dies aber zugleich geleugnet wird (Stegmaier 1994b: 120), kehrt in Abels Konzeption des Knowing-How in neuer Weise wieder: Es sei im Sinn Wittgensteins ohne „Deutung“ und müsse doch die „Anwendung“ einer „Regel“ sein (Wittgenstein 2001: 861, § 201; Abel 2010: 331). Abel hält auch für das Knowing-How am Begriff einer Regel fest, die für mehrere gelten und darin allgemein sein muss, zieht sich angesichts der Schwierigkeit, sie explizit zu benennen, dann aber auf den Begriff einer „deutungs- und propositions-freien Regularität“ zurück (Abel 2010: 332), die in „nicht-propositionalen praktischen Selbstverständlichkeiten“ bestehe und „nicht Gegenstand der logischen Semantik“ sei (339). Ist eine Regel, die man nicht benennen kann, eine Regel? Eine Philosophie der Orientierung erspart dieses Problem. Sie behandelt das in allem Verhalten, Handeln, Sprechen und Denken mitwirkende vielfältige Knowing-How als Routinen, die sich in gelingenden und misslingenden Orientierungsprozessen allmählich einspielen, meist ohne bewusst zu werden, solange sie nicht gestört werden (Stegmaier 2008: 291– 320). Routinen können zwar von andern als regelmäßiges Verhalten beobachtet werden und der Handelnde kann solche Beobachtungen dann in Reflexionen seines Verhaltens für sich übernehmen; in seinem Handeln fungieren sie jedoch nicht als Regeln, denen er folgen kann oder nicht; er handelt bis auf weiteres fraglos und selbstverständlich so. Er kann in wechselnden Situationen jedoch nicht immer gleich handeln; hätte er in seinen Routinen Regeln, müsste er situationsbedingt laufend von ihnen abweichen. Routinen lassen stattdessen Spielräume für Anpassungen an immer andere Situationen, und im Zug solcher Anpassungen können sie sich auch wandeln. Spielräume zu lassen, ist aber konstitutiv für die Orientierung überhaupt: statt Regeln zur Richtschnur seines Handelns zu machen und ihnen bewusst oder blind zu folgen, orientiert man sich, wie man sagt, an etwas, an ‚Anhaltspunkten‘, denen gegenüber man sich eigene Orientierungsentscheidungen vorbehält; man hält sich nur mit Vorbehalt an sie (Stegmaier 2008: 226 – 268). In der alltäglichen Orientierung sind auch Regeln nur Anhaltspunkte; im routinierten Handeln aber sind die Orientierungsentscheidungen schon gefallen – bis auf weiteres. Auch Routinen der Orientierung implizieren Allgemeinheit, aber zunächst nicht für eine Vielzahl von Individuen (die natürlich Routinen anderer bis zu einem gewissen Grad übernehmen können), sondern für das jeweilige Individuum in einer Vielzahl von Situationen. Sie sind es, in denen seine Orientierung zunächst und zumeist ihren Halt findet. Zugespitzt kann man die Orientierung eines Individuums als Inbegriff seines Knowing-How verstehen. So ist es nach Abel „das lebenspraktische Knowing-How, das ihn in die Lage versetzt, sein Leben zu
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führen, mit seinem Leben klar zu kommen. Das Knowing-How der richtigen Weise, sein Leben zu führen, kann als die höchste und anspruchsvollste Form des für Menschen möglichen lebenspraktischen Knowing-How angesehen werden.“ (Abel 2010: 327) Und dieses lebenspraktische Knowing-How, die „genuinen und primordialen Organisations-Leistungen“, die „unser Welt-, Fremd- und Selbstverhältnis [präfigurieren]“ (335), führen Abel denn auch wie von selbst zum Begriff der Orientierung, vor allem dort, wo er einen „gemeinsamen Boden“ für Wissen und Handeln sucht (SZI 299 – 339). Die vielfältigen Modi des KnowingHow im situationsbedingten Wissen und Handeln seien die „basalen Operationen unserer Weltorientierung“ (Abel 2010: 336).²²
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Abel rekurrierte zunächst auf den Begriff der Lebenswelt, um sie dann als Interpretationswelt zu fassen (SZI 301). Der Hintergrund des schwer abgrenzbaren und entsprechend umstrittenen Begriffs der Lebenswelt (Blumenberg 2010) lässt dann auch fragen, ob sich darin zahlenmäßig fassbare Stufen oder Ebenen der Interpretation hinreichend unterscheiden lassen (SZI 328 – 336).
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Orientierung als Herausforderung der Philosophie Replik zum Beitrag von Werner Stegmaier Im Zentrum von Werner Stegmaiers Beitrag steht die Frage nach der Rolle des Wissens in unseren Ich-Wir-Welt-Beziehungen. Des Näheren liegt der Fokus auf den Funktionen des Wissens als Orientierungsmittel bei Nietzsche, Luhmann und in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] sowie in der mit letzterer korrelierten Wissensforschung. Stegmaier eröffnet auf diese Weise einen Trialog zwischen Nietzsches Philosophie, Luhmanns Systemtheorie und der ZuI-Philosophie sowie der Wissensforschung. Erklärtermaßen konzentriert er sich auf denjenigen Typus von Wissen, den wir ‚wissenschaftliches/szientifisches Wissen‘ oder das Wissen der Wissenschaften nennen. Das ist eine legitime Eingrenzung. Jedoch ist zu betonen, dass es neben dem wissenschaftlichen/szientifischen Wissen eine irreduzible Vielfalt weiterer Typen von Wissen gibt, die in unseren triangulären Fremd-, Selbst- und Welt-Beziehungen von hoher Relevanz sind. Diese treten besonders dann in den Blick, wenn es um Fragen der Orientierung in der Welt, anderen Personen und sich selbst gegenüber geht. Hier ist beispielsweise an Typen von Wissen zu erinnern wie: alltägliches, ethisches, künstlerisches (z. B. musikalisches oder piktoriales), ästhetisches, implizites, praktisches, diagrammatisches, technisches, prozedurales, erlebnis- und erfahrungsbasiertes, emotionales Wissen und anderes Wissen mehr. Ohne Einbeziehung dieses umfänglicheren Spektrums von Wissenstypen wären wir nicht in der Lage, unser Leben zu führen. Detailliert entfaltet Werner Stegmaier Parallelen zwischen Nietzsches und Luhmanns Konzeption und Funktion des wissenschaftlichen Wissens. Auf diese Dimension des Beitrags von Stegmaier gehe ich in meiner Replik jedoch nicht ein. Vielmehr möchte ich im Sinne der ZuI-Philosophie und der Systematischen Wissensforschung vor allem die folgenden drei Punkte adressieren und in ihren Grundzügen deutlich machen: 1. ZuI-Philosophie der Orientierung. 2. Vielfalt der Wissensformen und Systematische Wissensforschung. 3. Orientierung im Modell der Wissensforschung.
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1 Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Orientierung 1.1 Orientierung in offenen, instabilen und indeterministischen Prozessen In der Regel funktionieren unsere Beziehungen zu anderen Personen, zur Welt und zu uns selbst flüssig, anschlussfähig und weitgehend selbstverständlich. Treten Störungen in den Ich-Wir-Welt-Beziehungen auf, dann fahnden wir nach Orientierung. Sie soll uns dann aus der misslichen Lage herausführen, in der wir uns eingestehen müssen, dass wir uns nicht mehr auskennen oder uns auf die neue Situation nicht bzw. noch nicht verstehen. In diesen Fällen drängen unterschiedliche Orientierungsbedarfe nach vorn.¹ Das Spektrum der Orientierungsbedarfe kann beispielsweise von der Frage nach räumlicher Orientierung in einer fremden Stadt bis hin zu Fragen existenzieller und moralischer Orientierung reichen. Und oftmals steht viel auf dem Spiel, im Grenzfall Leben und Tod. Letzteres ist etwa dann der Fall, wenn auf der Intensivstation einer Klinik die Entscheidung erforderlich ist, ob lebenserhaltende Medizintechnik weiterhin eingesetzt oder ob abgebrochen werden soll. Geraten wir in solche Situationen, dann hoffen wir zunächst, dass uns unsere bisherigen Orientierungen nicht im Stich lassen. Aber eine Garantie gibt es dafür keineswegs. Zudem befinden wir uns oftmals in Entscheidungssituationen mit konfligierenden Orientierungen, in denen wir es (wie etwa im Falle der Entscheidung auf der Intensivstation) gegebenenfalls mit zwei oder mehreren gleichermaßen legitimen und verantwortbaren Alternativen zu tun haben. Der damit verbundene tragische Charakter gehört zur Signatur solcher Entscheidungen selbst. Hinzu tritt der weitere Aspekt, dass unsere Ich-Wir-Welt-Beziehungen als triangulär zu charakterisieren sind. In solcher Rede greife ich bewusst das Bild des musikalischen Triangels auf: Wird eine der drei Seiten des Triangels angeschlagen, schwingen die anderen beiden sogleich mit. Im Orientiertsein ebenso wie in puncto Orientierungs-Störung haben wir es in der Regel mit solch triangulären Beziehungen zu tun. Nur in den seltensten Fällen liegen strikt gegeneinander isolierbare Dimensionen, Komponenten, Zustände und Prozesse vor. Diesem Bild
In der folgenden Skizze einer ZuI-Philosophie der Orientierung greife ich teils wörtlich auf einige der Materialien zurück, die ich ausführlicher entwickelt habe in dem Aufsatz ‚Quellen der Orientierung‘ (Abel 2016).
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zufolge ist eine Ich-Orientierung nicht ohne Beziehung auf andere Personen, mithin nicht ohne Du-/Wir-Orientierung, und beide nicht ohne Einbeziehung der Weltorientierung konzipierbar.
1.2 Orientierung im 3-Stufenmodell der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Wird ein gegebenes Orientiertsein aktualisiert oder eine neue Orientierung zustande gebracht, so können beide Prozesse beschrieben werden als komplexe und dynamische Zusammenspiele (a) unterschiedlicher ZuI-Prozesse und (b) unterschiedlicher Typen von Wissen. In diesem Sinne sind beide, ZuI-Philosophie und Wissensforschung, grundlegend für die Dimensionen und Ausrichtungen der Orientierung in unseren Ich-Wir-Welt-Beziehungen. Orientierte und orientierende Einstellungen und Praxen werden als ZuI-Einstellungen und -Praxen sowie in Verbindung mit unterschiedlichen Wissenstypen als Orientierungsmittel angesehen, realisiert und modelliert. Auch in puncto Orientierung arbeitet die ZuIPhilosophie mit ihrem 3-Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse. Mit beispielhaftem Bezug zum einen (a) auf das kommunikative Sprechen einer Sprache und zum anderen (b) auf psychische Zustände einer Person kann dieses Modell im Blick auf die Problematik der Orientierung wie folgt verdeutlicht und fruchtbar gemacht werden. Geht es beispielsweise um die semantischen Merkmale (Bedeutung, Referenz und Erfüllungsbedingungen) von Wörtern, Handlungen oder psychischen Zuständen auf Seiten der Sprecher, Hörer, Akteure oder Erlebnissubjekte, so wird diese Ebene in der ZuI-Philosophie als ZuI3-Ebene adressiert. Auf dieser Ebene sind auch die wissenschaftlichen Theorien und Modelle über bestimmte Phänomene, Prozesse und Zustände angesiedelt. Konkrete Beispiele wären etwa: die Linguistik der Farbprädikate oder die Psychopathologie der Schizophrenie. In beiden Feldern (Sprache und psychische Zustände) sind wir zunächst bereits orientiert, finden uns in unserer Welt, anderen Personen und uns selbst gegenüber gut zurecht. Im Falle flüssig funktionierender Sprache beziehen wir uns in diesem Sinne orientiert auf Wirklichkeit. Im Falle flüssig funktionierender psychischer Prozesse bewegen wir uns weithin fraglos in den triangulären Ich-WirWelt-Beziehungen. Jederzeit jedoch können Störungen auf der ZuI3-Ebene eintreten. Diese können sich beispielsweise in Form von Ungereimtheiten oder Inkonsistenzen der jeweiligen Einstellungen, Theorien und Modelle sowie in mangelnder Passgenauigkeit zu den adressierten Phänomenen manifestieren. Ein Störfall kann sich etwa daran zeigen, dass nach den semantischen Merkmalen der bis dato flüssig
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funktionierenden Wörter einer gesprochenen Sprache gefragt wird. Im Falle psychischer Zustände kann die Störung etwa darin bestehen, dass die im bisherigen psychischen Erleben gegebenen Selbstverständlichkeiten nicht mehr fraglos gegeben sind. Treten solche Störungen ein, dann suchen wir nach Lösungen, sie zu beheben. Möglicherweise erfolgt dies zunächst einfach dadurch, dass wir auf die in der Regel flüssig funktionierenden und in unseren lebensweltlichen Praktiken verankerten Gewohnheiten und Konventionen, kurz: dass wir in die umfänglichere und tieferliegende ZuI2-Ebene zurückgehen. Die Hoffnung ist dann, dass wir im Rekurs auf die funktionierenden Mechanismen und Dynamiken der ZuI2-Ebene die Störungen auf der ZuI3-Ebene beheben können. Im Falle des Sprechens einer Sprache gehen wir in die Ebene der selbst im Störfall noch vorausgesetzten Sprache (zum Beispiel des Deutschen) zurück. Ohne die stillschweigende Voraussetzung einer funktionierende Sprache könnten sprachlich-semantische Störfälle erst gar nicht identifiziert, re-identifiziert und adressiert werden. Im Falle einer psychischen Erlebnisstörung gilt Ähnliches. Ohne Rekurs auf ein stillschweigend vorausgesetztes psychisches Netzwerk habitueller, öffentlich geteilter ebenso wie individueller und inter-individueller psychischer Erlebniswirklichkeiten könnten Störungen erst gar nicht identifiziert, re-identifiziert, adressiert und entsprechend auch nicht therapiert werden. Im glücklichen Falle gelingt es, im Rekurs auf die Mechanismen und Dynamiken der ZuI2-Ebene die Störfälle auf der ZuI3-Ebene zu beheben und ein erneut flüssiges und anschlussfähiges Funktionieren zu gewährleisten – bis auf weiteres. In Bezug auf psychische Erlebniszustände könnte man im gelingenden Falle sagen, dass eine Desorientiertheit auf der ZuI3-Ebene durch Rückgang in das Orientiertsein der ZuI2-Ebene behoben werden konnte. In diesem Zusammenhang meint die Rede von ‚beheben‘ so viel wie, sich erneut flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich auf die triangulären Ich-Du/ Wir-Welt-Beziehungen zu verstehen, mithin wieder erfolgreich orientiert zu sein. Im Falle psychischer Störungen heißt dies, erneut leidensfreie psychisch-leibliche Erlebnisse haben zu können. Eine Garantie, dass mit dem Rückgang in die ZuI2Ebene die Störung beseitigt wird, gibt es jedoch keineswegs. Der nächste Sprecher/Hörer kann in der Sprache beispielsweise erneut nach der Bedeutung der Wörter ‚Tisch‘ oder ‚Heiterkeit‘ fragen. Und in Fällen psychischer Erlebnisse kann es durchaus so sein, dass der Konflikt sich schnell erneut einstellt oder dass es nicht zuletzt die gegebenen Konventionen und habitualisierten Normen der ZuI2Ebene selbst sind, die als Auslöser oder Verstärker des Konflikts und der Störung wirken. Gelingt es im Rekurs auf die ZuI2-Ebene nicht, die fragliche Störung zu beheben, dann greifen wir in vielen Fällen auf die noch tieferliegende ZuI1-Ebene zurück. Wir gehen dann in die primordiale Ebene der Generierung von Bedeut-
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samkeit, Relevanz und Sinn sowie der Formierung und Individuation unserer Lebens- und Erfahrungswirklichkeiten zurück. Auf diese Weise reflektieren wir uns nicht auf einen vermeintlich höchsten Punkt hinauf, sondern in diejenige Ebene unseres Lebens zurück, die wir als endliche Geister und nach Menschenermessen nicht ihrerseits noch einmal hintergehen können. In dieser Ebene des heuristischen 3-Stufenmodells der ZuI-Philosophie stoßen wir auf die offene, indeterminierte und instabile Verfasstheit unserer Lebenswirklichkeiten sowie der diese eröffnenden und individuierenden Prozesse. Die selbst auf dieser Ebene intern noch mitgesetzten Alteritäten und Temporalitäten bringen sich etwa entlang der Frage nach dem zur Geltung, was unsere Lebenswirklichkeiten und des Näheren unsere Ich-Wir-Welt-Beziehungen eröffnet, gestaltet und in ihrem identitäts-stabilisierenden Sinn zusammenhält. In den beiden angeführten Beispielen (Sprache und psychische Zustände) bedeutet der Rückgang in die ZuI1-Ebene Unterschiedliches. Im Falle der Sprache bedeutet er, in die Dimension der Sprachlichkeit unserer Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse zurückzugehen. Im Falle psychischer Prozesse bedeutet er, in die Ebene der phänomenalen, leiblichen, funktionalen sowie sub-personalen und sub-interpersonalen Dispositionen und Genealogien psychischer Erlebniswirklichkeiten und Zustände sowie in die Generierung des Raums möglicher Bedeutsamkeit, Relevanz und existenziellen Sinns zurückzugehen. Mit Bezug auf die jederzeit möglichen Störungen lassen sich die angeführten Aspekte wie folgt zusammenfassen. Im 3-stufigen ZuI-Modell werden in einem ersten Schritt (a) Störungen als diejenigen Brüche, Diskontinuitäten, Unterbrechungen und Rupturen detektiert und angesehen, die dazu führen, dass das in der Regel flüssige, anschlussfähige und selbstverständliche, jedoch überaus fragile Zusammenspiel der drei ZuI-Ebenen nicht mehr gegeben ist. Zwecks Behebung der Störung machen wir dann einen zweiten Schritt. Wir gehen nämlich (b) in die ZuI2-Ebene und, erforderlichenfalls, von dort weiter in die ZuI1-Ebene zurück. Ziel dieser Rekurse ist es, Störungen zu beheben und Orientierung zu gewährleisten bzw. wiederherzustellen. Der Rückgang in die jeweils tieferliegende und präsupponierte ZuI-Ebene vermag in der Regel diejenigen Mittel bereitzustellen, die zur (Wieder)Herstellung eines flüssigen, anschlussfähigen und selbstverständlichen Zusammenspiels zwischen den drei ZuI-Ebenen ebenso führt wie zwischen unterschiedlichen Komponenten innerhalb der jeweiligen Ebene. In diesem Sinne geht es in den Fällen psychisch-leiblicher Störungen darum, die Erlebniswirklichkeiten erneut als flüssige, anschlussfähige und selbstverständliche Zustände der triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen zu realisieren. Auf diese Weise könnte, im glücklichen Falle, die Störung behoben und damit die korrelierte Leidenserfahrung ein Stück weit erträglicher werden. Gelingt dieses Unterfangen, dann haben wir es zugleich auch mit einer tiefenorientierten Wie-
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derherstellung der zuvor in Turbulenzen geratenen existenziellen, psychischleiblichen, einstellungs- und handlungs-bezogenen Orientierung individueller Personen in ihren Welten, sich selbst und anderen Personen gegenüber zu tun.
2 Vielfalt der Wissensformen und Systematische Wissensforschung 2.1 Irreduzible Vielfalt unterschiedlicher Typen von Wissen Im Folgenden möchte ich die von Werner Stegmaier in seinem Beitrag aus operativen Gründen vorgenommene Begrenzung auf den Typus wissenschaftlichen/ szientifischen Wissens erweitern. Ich möchte (a) die Vielfalt irreduzibler Typen von Wissen hervorheben und (b) das Konzept der Systematischen Wissensforschung im Blick auf die Schwerpunkte der vorliegenden Replik erläutern.² Zunächst (a) ist die oftmals vernachlässigte Tatsache in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, dass wir es mit einem Spektrum unterschiedlicher Formen von Wissen zu tun haben, die mit ihren je eigenen Evidenzweisen ausgestattet sind. Das Spektrum reicht von alltäglichem und lebensweltlichem Wissen (wie z. B. wissen, wie man eine Haustür öffnet oder wie man seinen Tag organisiert) bis hin zu erlebnismäßigem und künstlerischem Wissen (wie z. B. wissen, wie sich ein Zustand der Heiterkeit von innen anfühlt, oder wissen, wie man etwas zum Ausdruck bringen kann, etwa in Musik, Tanz oder Malerei) und weiter zu szientifischem und technischem Wissen (wie z. B. wissen, wie man ein Experiment in den Wissenschaften methodisch geordnet durchführt, oder wissen, wie technische Maschinen bedient und eingesetzt werden können). Sodann (b) ist es sinnvoll, zwischen einem engen und einem weiten Sinn der Rede von Wissen zu unterscheiden. Der enge Sinn von Wissen meint Wissen, das an methodisch geordnete Verfahren sowie an Begründung, Wahrheit, Rechtfertigung und Beweisbarkeit gebunden ist.Von diesem Wissen gilt, dass man über es sprechen können muss und dass es mitteilbar, tradierbar, intersubjektiv überprüfbar und salva veritate substituierbar ist. Dieser Sinn von Wissen ist vornehmlich für die Wissenschaften kennzeichnend. Der weite Sinn von Wissen meint zum einen die Fähigkeiten, angemessen zu erfassen, worum es jeweils geht und wovon etwas (z. B. eine Geste, ein Bild oder ein Wort) handelt. Zum anderen
Dabei greife ich auch auf Materialien zurück, die ich im Einzelnen entwickelt habe in (Abel 2012a, 2015a und 2015b).
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adressiert der weite Sinn den Bereich des basalen menschlichen Könnens, menschlicher Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Praktiken. In diesem weiten Sinne des Ausdrucks ist Wissen nicht-suspendierbarer Bestandteil der Faktizität menschlichen Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens. Mit diesem weiten und basalen Sinn von Wissen sind wir nicht nur im Alltag (z. B. in alltäglichen Praktiken und im Gewusst-wie), sondern auch in den Wissenschaften und in den Künsten bestens vertraut. In Bezug zum Beispiel auf die Physik ist in solch weiter Rede von Wissen auch die Kompetenz und Fähigkeit gemeint, wissenschaftliche Beobachtungen durchführen, einen mathematischen Formalismus verwenden und diesen gegebenenfalls auf die Welt der physikalischen Objekte und Ereignisse applizieren zu können. Schließlich (c) können spezifische Wissenstypen unterschieden werden, wie beispielsweise: lebenspraktisches Wissen (wissen, wo der nächste Briefkasten ist); theoretisches Wissen (wissen, dass 2 + 2 = 4 ist); Handlungswissen (wissen, wie man ein Automobil steuert); moralisches Wissen (wissen, was man in einer gegebenen Situation zu tun oder zu unterlassen hat).
2.2 Systematische Wissensforschung und ihre Gegenstände In der Regel verstehen wir uns direkt auf Wissen im skizziert weiten Sinne der Bedeutung des Ausdrucks, und zwar in unseren alltäglichen Lebenswelten ebenso wie in den Wissenschaften und den Künsten. Die Eigenprofile und die Wechselspiele der unterschiedlichen Typen von Wissen zu klären, das sind die beiden Grundaufgaben einer systematischen und reflektierten Wissensforschung. Mit dieser sind erklärtermaßen auch Erweiterungen, Modifikationen und Revisionen der traditionellen Epistemologie verbunden. Denn bevor wir in epistemologischer Einstellung Fragen nach der Geltung, der Begründung und den Grenzen des Wissens sinnvoll stellen können, müssen wir bereits eine Vorstellung und ein Verständnis davon haben, mit welchen Wissensformen, mit welchen Wechselspielen und mit welchen unterschiedlichen Evidenzweisen wir es jeweils zu tun haben. In diesem Sinne liegt die systematische Wissensforschung der klassischen Epistemologie bereits im Rücken. Epistemologie wird – provokant formuliert – zu einem Zweig der umfänglicheren Wissensforschung, nicht umgekehrt. Mit dieser Erweiterung der Betrachtung ist mithin auch eine Neu-Orientierung der Erkenntnistheorie verbunden. Kaum eigens erwähnt zu werden braucht, dass es in der Wissensforschung um Wissensforschung und nicht nur um Wissenschaftsforschung geht (in der die Produktion und Rezeption von Wissenschaft untersucht wird). Wissensforschung schließt, wie betont, das ganze Spektrum von Wissensformen neben dem szien-
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tifischen Wissen von vornherein und gleichberechtigt mit ein. In der Wissensforschung wird mithin das traditionelle Bild von einer Pyramide der Wissenstypen (mit dem mathematischen Wissen an der Spitze) ersetzt durch das Bild eines Spektrums und präziser noch eines Raumes unterschiedlicher Typen von Wissen. Szientifisches Wissen verkörpert in diesem Spektrum bzw. Raum eine kardinal wichtige und bestens gesicherte Form unseres Wissens. Sie ist aber nicht die überhaupt einzige, gar die metaphysisch einzig seriöse. Praktisches, moralisches, ästhetisches und nicht zuletzt auch das so überaus prägnante Wissen unserer Sinnlichkeit lassen sich leicht in ihren gleichermaßen zentralen Rollen in unseren Ich-Wir-Welt-Beziehungen, mithin in unseren Lebens- und Erfahrungswirklichkeiten auszeichnen. Auch ist es beispielsweise kein kategorischer Imperativ, Wissenschaft treiben zu müssen. Aber gänzlich ohne die anderen genannten Wissenstypen würden wir nicht durch den Tag kommen, wären wir schlicht nicht lebensfähig. Kardinal ist zudem, dass sich die unterschiedlichen Wissensformen nicht auf (großgeschrieben) ‚Die Eine und allen Wissensformen zugrunde liegende Wissensform‘ und nicht auf ein Drittes als deren gemeinsamen Nenner zurückführen lassen. Tertium non datur. Angesichts dieser irreduziblen Vielfalt unterschiedlicher Wissensformen ohne ein Drittes sind wir nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch auch von der Möglichkeit abgeschnitten, dass alles überhaupt nur Wesentliche in puncto Wissen aus nur einer Perspektive, beispielsweise einzig aus der szientifischen Perspektive gesagt werden kann und sich auch überhaupt nur aus dieser einen Perspektive sagen lässt. Nur am Rande sei erwähnt, dass die irreduzible Pluralität der Wissensformen keineswegs in einen Relativismus der Wissensformen führt. Es geht hier nicht um Relativismus der Wissensformen, sondern um deren Wechselspiele und Komplementaritäten. Mithin handelt es sich um eine Pluralität unter strengen sowohl lebensweltlichen als auch theoretischen sowie praktischen Restriktionen und den damit verbundenen Kohärenzanforderungen.
2.3 Wissensforschung im Einsatz. Drei Beispiele zum Wechselspiel unterschiedlicher Wissensformen Zumeist funktionieren die Prozesse unserer (im skizziert weiten Sinne des Ausdrucks) wissens-basierten Lebens- und Erfahrungswirklichkeiten flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich. Explizit gefragt wird nach ihnen überhaupt erst angesichts auftretender Störfälle (oder in Seminaren und wissenschaftlichen Forschungen). Vor allem im Zuge akuter Störfälle und der anschließenden Anstrengungen des Wiederherstellens des flüssigen und selbstverständlichen
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Funktionierens unseres Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens stoßen wir auf den herausfordernden Punkt, dass wir bemerkenswert wenig über die Mechanismen und Dynamiken der Wechselspiele und Interaktionen der Wissensformen untereinander und deren Situiertheit in unseren Praktiken und Lebenswirklichkeiten wissen. Im Folgenden möchte ich diese Herausforderungen dadurch plastischer vor Augen führen, dass ich sie an drei konkreten Beispielen erläutere. (a) Begriffliches und nicht-begriffliches Wissen. – Wissen, dass der nächste Briefkasten an der nahegelegenen Straßenkreuzung steht, heißt, über ein propositionales Wissen-dass und über ein begriffliches Wissen zu verfügen. Begriffliches Wissen ist an die Artikulation in einer Sprache gebunden und in einer Sprache mitteilbar. Diese beiden Merkmale treten in den Sprachen der Wissenschaften besonders deutlich hervor, beispielsweise in der Sprache der Physik. Sie sind freilich auch in der Alltagssprache anzutreffen und wichtig.Wissen dagegen, wie man eine Haustür öffnet, Zimtplätzchen backt, Ski fährt oder wie es ist, eine Farbempfindung zu haben oder eifersüchtig zu sein, sind Beispiele für Formen nicht-begrifflichen Wissens. Beispiele von Interaktionen lassen sich leicht finden. Man denke etwa an eine Cello-Spielerin, die ihre nicht-begriffliche ästhetische Erfahrung, ihr nicht-begriffliches Wissen um Klangfarbe und Klangempfindung sowie ihr praktisches Knowing-How der Handhabung des Instruments verbindet mit ihrem begrifflichen Wissen um die Struktur und Eigenart der Notation und Partitur, z. B. des Konzerts für Violoncello und Orchester von György Ligeti von 1966. In einer feinkörnigeren Betrachtung untersucht die systematische Wissensforschung sowohl die Wechselspiele der Typen begrifflichen Wissens untereinander als auch die Wechselspiele der Varianten nicht-begrifflichen Wissens. Vornehmlich in letzterem Bereich sind uns die Mechanismen und Dynamiken der Zusammenspiele noch weitgehend unbekannt. Zugleich jedoch sind wir mit den entsprechenden Phänomenen und Prozessen bestens vertraut. Denn in der Regel verstehen wir uns auf die Wechselspiele und bewegen uns zumeist flüssig und selbstverständlich in ihnen. Entsprechend haben wir auch keine Schwierigkeit, Beispiele für solche Zusammenspiele in Alltag, Wissenschaften und Künsten zu benennen. Ein schlagendes Beispiel für das Wechselspiel unterschiedlicher begrifflicher Formen von Wissen in den Wissenschaften ist das Zusammenspiel von mathematischem und physikalischem Wissen in der Physik. Beide Formen von Wissen sind begrifflicher Art (und beider Interaktionen waren und sind weiterhin für den Siegeszug der modernen Naturwissenschaften grundlegend). Auch mit Wechselspielen nicht-begrifflicher Wissensformen untereinander sind wir in Alltag, Wissenschaften und Künsten bestens vertraut. Man denke hier
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etwa an Wechselspiele zwischen Wahrnehmungs-Wissen, Erlebnis-Wissen und Knowing-How-Wissen. Ein Beispiel wäre auch hier wiederum das Zusammenspiel praktisch-handwerklicher Fähigkeiten unserer Cellistin (als eines nicht-begrifflichen praktisch-prozeduralen Knowing-How), der Klangwahrnehmung seitens der Cello-Spielerin ebenso wie der Hörer im Konzertsaal (als eines nicht-begrifflichen sinnlich-anschaulichen Wissens) und der Verbindung der Wissensformen mit einem Erlebniswissen etwa um die Expressivität des intonierten musikalischen Klangs. Als weitere Beispiele sei etwa an die Wechselspiele zwischen Körperbewegungen, Klängen und Gesten (etwa im Falle eines Ballett-Tanzes) erinnert. (b) Explizites und implizites Wissen. – Im Wissen steckt mehr, als man weiß, und wir wissen mehr, als wir sagen können. Auf dem ganzen Spektrum von basalfaktiven Zuständen des Wissens im weiten Sinne praktischer Lebens- und Handlungssituationen bis hin zum Wissen im engen und explizit sprachlichpropositionalen Sinne stecken in jeweiligem Wissen beispielsweise: Fähigkeiten, Kompetenzen, Kontexte, Hintergrund-Bedingungen, Einstellungen, Ziele, Zwecke, Netzwerke von Überzeugungen, Gewohnheiten, habitualisierte Muster, fraglos unterstellte Annahmen somatischer, neuronaler und physischer Art (wie z. B. Leistungen des zentralen Nervensystems) und viele andere Komponenten mehr. Michael Polanyis Beispiel in puncto implizites Wissen ist bekannt (s. Polanyi 1964): Ich schlage einen Nagel mit einem Hammer in die Wand; die bewusste Aufmerksamkeit ist distal ganz auf den Nagel und den Hammer gerichtet; ich achte nicht explizit auf die vielen anderen Komponenten, die im Spiele sind und ohne die es mir nicht gelingen würde, den Nagel in die Wand zu bringen, wie z. B. meine Handbewegung, die Stellung der Finger zur Handinnenfläche, die Festigkeit des Handdrucks auf den Hammerstiel und vieles andere mehr. In diesem Sinne ist vielfältiges und umfangreiches implizites Wissen stets bereits in Anspruch genommen, wenn und damit es überhaupt zu Handlungen, Gestaltungen, Kommunikation und Kooperation sowie deren erfolgreicher Ausrichtung, Durchführung und Orientierung in den Ich-Wir-Welt-Beziehungen kommen kann. Jedoch darf dieses implizite Wissen im Vollzug der entsprechenden Handlung (im Beispiel des Einschlagens eines Nagels in die Wand oder, in den Wissenschaften, während der Durchführung einer Messung in einem physikalischen Experiment) selbst nicht explizit werden. Im Falle des Nageleinschlagens treffe ich anderenfalls wohl eher meinen Daumen und finde mich eventuell in der Notaufnahme einer Klinik wieder. Der Erfolg einer Handlung steht auch unter der Kondition, dass nicht alle Komponenten des involvierten impliziten Wissens explizit gemacht werden. Anderenfalls droht Paralyse durch Analyse. (c) Knowing-How und Knowing-That. – Bestens vertraut sind wir auch mit den durch den Ausdruck ‚Knowing-How‘ (‚Wissen-wie‘, ‚Gewusst-wie‘) bezeichneten
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Fähigkeiten, Praktiken, Prozeduren, Kompetenzen, Fertigkeiten, Geschicklichkeiten und eingespielten Gewohnheiten. Wissen, wie man beispielsweise das Gleichgewicht beim Radfahren hält, kann nicht so beschrieben werden, als würden wir zu diesem Zwecke in einem metaphysischen Call Center anfragen, um von dort den Set der erforderlichen theoretischen Sätze zu erhalten. Vielmehr ist Radfahren eine Praxis, nicht eine Theorie. Erfolgreiches Radfahren erfordert auf Seiten des Radfahrers glücklicherweise keineswegs ein explizites sprachlichpropositionales Wissen zum Beispiel um die Physik und die Mathematik des Radfahrens. Wäre solch theoretisches Wissen konditional, um überhaupt Radfahren lernen, praktizieren und beim Radfahren das Gleichgewicht halten zu können, dann könnten nur wenige Geister, letztlich wohl nur die Götter – als perfekte Physiker und Mathematiker gedacht – erfolgreich und unter Wahrung des Gleichgewichts Rad fahren. Das Regelfolgen, das zum Beispiel in der Praxis erfolgreichen Gleichgewichthaltens beim Radfahren vorliegt, ist kein Fall des Befolgens einer vorab durch physikalische und mathematische Gesetze festgelegten Regel. Es ist vielmehr eine kraft Übung, Training, Abrichtung, praktischen Vor- und Nachmachens erworbene und im Fortgang dann weiter verfeinerte und ausgebeutete Fähigkeit, Kompetenz und Technik – es ist das, was ich an anderer Stelle die mit dem Vollzug einer Praxis intern verbundene Regularität, die ‚praxis-interne Regularität‘ im Unterschied zu ‚kriterialen Regeln‘ genannt habe (vgl. Abel 2010 und 2012b). Im Blick auf die Natur der tatsächlichen Vollzüge unserer Praxen (nicht nur zum Beispiel des Radfahrens, sondern überhaupt des Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Gestaltens und Handelns) ist mir, wie Werner Stegmaier in seinem Beitrag richtig sieht (Stegmaier-Beitrag, Kap. 5) der Unterschied zwischen der irrigen Auffassung von ‚Regeln als Sollens-Vorschriften bzw. Kriterien‘ und der in den Praxis-Vollzügen selbst erst formierten ‚Regularitäten‘ sehr wichtig. Nicht überraschend ist natürlich zu hören, dass man mithilfe dieser Unterscheidung auch Licht in die von Wittgenstein mit Recht betonte Problematik des Regelfolgens bringen kann. Bei näherem Hinsehen lässt sich die Differenz zwischen Regel und praxis-interner Regularität in den Sinn der Rede vom Regelfolgen eintragen (siehe dazu im Einzelnen Abel 2010).
3 Orientierung im Modell der Wissensforschung 3.1 Orientierung in Wissensformen In den letzten Jahren habe ich das 3-Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse ergänzt um das epistemologische Modell der Wissensformen (siehe im Einzelnen schon ZdW
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Teil III; dann vor allem Abel 2012a, 2012b, 2015a und 2015b). Die beiden Modelle sind intern miteinander verzahnt und stehen reziprok verstärkend zueinander. Denn alle unterschiedlichen Formen von Wissen (im engen wie im weiten Sinne des Ausdrucks) sind in ihrer Artikulation, Perspektivierung, Kommunikation sowie ihren individuierten Gehalten an ZuI-Prozesse gebunden und können sich auch nur in diesen darstellen. Zugleich können alle unterschiedlichen Wissensformen als Typen von Orientierungswissen angesehen werden. Vor diesem Hintergrund möchte ich mit Rekurs auf das Modell der Wissensforschung die Frage nach dem Orientiertsein in vertrauten Situationen ebenso thematisieren wie die Frage nach erforderlicher Um- und Neu-Orientierung angesichts herausfordernder neuer Situationen. In erfolgreichem Orientiertsein ist das flüssige und anschlussfähige Zusammenspiel unterschiedlicher Wissensformen nicht nur gegeben. Es ist eine der Voraussetzungen für belastbares Orientiertsein ebenso wie für Orientierung nach vorn angesichts neuer Situationen. Des Näheren möchte ich für die These argumentieren, dass genuine Orientierungsleistungen auch als ein effektives Zusammenspiel unterschiedlicher Wissensformen beschrieben, analysiert, modelliert und gestaltet werden können.³ Ein Beispiel für die Art von Wissensforschung, die ich dabei im Auge habe, habe ich ausführlich in der Replik auf Hinderk M. Emrich angebracht. Es sei hier kurz noch einmal skizziert. Es geht dabei um die Frage an einen Neurochirurgen, worauf er sich denn verlasse und woran er sich orientiere, wenn er eine Operation unter Risikobedingungen am offenen Gehirn durchführt. Er antwortet ohne Zögern: Er verlasse sich auf seine Augen, die auf den Monitor gerichtet sind, denn er möchte ja mit dem Laserskalpell den Hirntumor und nicht das Sprachzentrum treffen, also auf piktoriales und perzeptionales Wissen. Er verlasse sich auf die Geschicklichkeit seiner Hände beim Führen des Laserskalpells, also auf haptisches und praktisches Wissen und Können. Er verlasse sich auf seine Erfahrung, die darin bestehe, dass er schon viele neurochirurgische Eingriffe durchgeführt habe, also auf Erfahrungswissen, einschließlich des ‚learning by doing‘. Und natürlich verlasse er sich auch auf seine Ausbildung, mithin auf sein Hörsaal- und Lehrbuchwissen. Wenn die Operation gut verläuft, liegt ein störungsfreies, weil flüssig und anschlussfähig funktionierendes Zusammenspiel dieser (und weiterer) unterschiedlicher Wissensformen vor. Beispiele für solch effektive Zusammenspiele lassen sich leicht auch aus anderen Bereichen liefern. Man denke auch hier etwa an das Steuern eines Automobils, ein erfolgreiches Tennisspiel, die Durchführung eines Experiments in einem Physik-Laboratorium oder an die gelungene Aufführung eines Musikstücks durch unsere Cellistin.
Dabei greife ich auf Gesichtspunkte zurück, die ich detaillierter entwickelt habe in (Abel 2016).
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Mit Fokus auf den beiden Themenfeldern (a) der psychischen Störungen und deren Behebung sowie (b) der Wiedergewinnung verlustig gegangener Orientierung bzw. erforderlicher Neu-Orientierung eröffnen sich auch Schnittstellen zwischen ZuI-Philosophie, Systematischer Wissensforschung und Psychologie bzw. Psychiatrie. In einer kurzen und sehr vereinfachenden Skizze möchte ich solche explorativen und kooperativen Schnittstellen ansprechen. Alle drei Ansätze (ZuI-Philosophie, Systematische Wissensforschung und Psychologie bzw. Psychiatrie) möchte ich dabei erklärtermaßen als Orientierungsanstrengungen verstehen (siehe ausführlicher Abel 2016: Abschnitt C). Solange wir es in unseren Erlebnis- und Lebenswirklichkeiten mit flüssig funktionierenden und anschlussfähigen Prozessen, Phänomenen und Zuständen zu tun haben, ist störungsfrei und bis auf weiteres alles in Ordnung. Die sich gleichgewichtsstabil vollziehenden Prozesse können im Rekurs auf die Figur des flüssigen und strukturierten Zusammenspiels der ZuI-Ebenen ebenso beschrieben werden wie im Rekurs auf das dazu korrelierte effektive Zusammenspiel der beteiligten Wissensformen. Störungen und deren Beseitigung können als Störungen und als Wiederherstellen des strukturierten Zusammenspiels der ZuI-Ebenen sowie der mit diesen intern verknüpften unterschiedlichen Wissensformen analysiert, diagnostiziert und therapiert werden. Wenn unsere Orientierung in der Welt, anderen Personen und uns selbst gegenüber flüssig und anschlussfähig funktioniert, dann liegen, so die These, genau diese strukturierten Zusammenspiele der ZuI-Beziehungen sowie der Wissensformen vor. Wir vollbringen dann auf nahezu spielerische Weise genau diese multiplen und komplexen Orientierungsleistungen. Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass in der ZuI-Philosophie ein Bild psychischer Probleme und psychisch-leiblichen Leidens verwandt wird, demzufolge Störungen vornehmlich als Störungen in den normalerweise flüssigen, selbstverständlichen und anschlussfähigen Ich-Wir-Welt-Beziehungen erscheinen. In dieser Perspektive und mit Blick auf das Feld der Psychopathologie sehe ich eine Reihe von Verbindungen generell zwischen Philosophie und Psychiatrie, des Näheren zwischen der phänomenologischen Psychopathologie, der ZuI-Philosophie und der Systematischen Wissensforschung. Was die Seite der phänomenologischen Psychiatrie angeht, so denke ich hier etwa an einschlägige Arbeiten beispielsweise von Wolfgang Blankenburg und von Thomas Fuchs (Blankenburg 1971; Fuchs 2014: 128 – 163). Aus Sicht phänomenologischer Psychiatrie wie auch aus Sicht der ZuI-Philosophie haben psychisch-leibliche Störungen und Erkrankungen ihren Sitz weder einfach unter der Schädeldecke im Gehirn noch in einem mysteriösen Reich verborgener innerer psychischer Zustände und Entitäten. Sie können vielmehr als Störungen in unseren Ich-Wir-Welt-Beziehungen und das heißt in den unser Leben
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ausmachenden ZuI-Prozessen beschrieben und modelliert werden. Des Näheren kann es sich bei Störungen unter anderem um Dysfunktionalitäten, Diskontinuitäten, funktionelle Abweichungen, Inkohärenzen und um Verluste von stabilen Gleichgewichten und Stimmigkeiten in den zeichen- und interpretationsverfassten Ich-Wir-Welt-Beziehungen handeln. Dass in diesen Beziehungen der Dimension der Leiblichkeit eine besondere Rolle zukommt, habe ich von Seiten der ZuI-Philosophie an vielen Stellen betont.⁴ Die Dimensionen der Verkörperung und der enaktiven Leiblichkeit werden in der ZuI-Philosophie nicht erst sekundär ins Spiel gebracht. Sie sind vielmehr von vornherein von grundlegender Relevanz. Zudem entspricht es dem holistischen Bild der ZuI-Philosophie, dass diese im Blick auf das Themenfeld psychischleiblicher Störungen und Erkrankungen ihre ganze Betrachtung diesseits der reduktionistischen Opposition von neurophysiologischem Gehirn und reiner Psyche versteht. Die drei Ansätze (ZuI-Philosophie, Systematische Wissensforschung und phänomenologische Psychiatrie) könnten – im Zeichen der Orientierung – integral zusammenwirken und wechselseitig voneinander profitieren. Darin würden sie zugleich auch zur Stärkung des Humanitäts-Prinzips der Wissenschaften und der Philosophie beitragen, in dessen Zentrum der Mensch steht.
3.2 Implizites Wissen als Ressource der Orientierung Im erfolgreichen Orientiertsein ebenso wie im effektiven Orientieren angesichts von Störfällen und Herausforderungen seitens neuer Situationen greifen wir stets auch auf das Arsenal unseres impliziten Wissens zurück. Implizites Wissen ist, wie betont, ein Typus von Wissen, der in unserem Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten selbst nicht eigens thematisiert wird. Zwecks Orientierung beuten wir auch diesen Typus von Wissen aus. Oben habe ich bereits betont, dass im Wissen mehr steckt, als wir explizit wissen, und ich habe auf Fähigkeiten, Kompetenzen, Erfahrungen, Hintergründe und Gewohnheiten verwiesen. Ein Beispiel für explizites Orientierungswissen wäre etwa das wissenschaftliche Wissen, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Solches Wissen ist bewusst, in einer Sprache artikuliert, mitteilbar sowie empirisch und intersubjektiv überprüfbar. Ein Beispiel für das darin zugleich bereits in Anspruch genommene implizite Wissen wäre etwa das Wissen, wie man eine physikalische Hypothese überprüft oder eine Messapparatur in einem Observa-
Hinweisen möchte ich in diesem Zusammenhang auf meine Repliken zu den Beiträgen von Hinderk M. Emrich, Jesús Conill und Rogerio Lopes. Siehe auch (Abel 1990 und 1998).
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torium bedient. Um ein explizites Orientierungswissen in Bezug auf etwas zu besitzen, muss man bereits sehr viel vom tieferliegenden vor-expliziten, sub-intellektuellen und umfänglicheren impliziten, das heißt noch unspezifizierten, unthematisierten und unterschwellig mitlaufenden impliziten Wissen in Anspruch nehmen. In der Regel wird Orientierung auf den Bereich des expliziten Wissens begrenzt. Die mit dem Netzwerk des impliziten Wissens gegebenen Möglichkeiten des Orientiertseins treten nicht unmittelbar in den Blick. Dies ist nicht zuletzt deshalb der Fall, weil sich dann leicht das bekannte Tausendfüßler-Syndrom einzustellen droht. Diesem Syndrom zufolge können unsere selbstverständlichen und unthematisierten Fähigkeiten ihre orientierende Kraft verlieren, sobald sie zu sehr befragt und explizit gemacht werden sollen. Die hier lauernde Gefahr liegt auf der Hand: Verlust der bis dato selbstverständlichen Orientierungskraft durch zu viel Bewusstheit und Analyse.Wer an der falschen Stelle zu viel und zu intensiv analysiert, kann durchaus Gefahr laufen, den Kopf zu verlieren und in Desorientierung oder gar Orientierungslosigkeit zu enden. Von diesem Syndrom können auch Tennis- oder Billardspieler ein Lied singen, deren Leistung oft massiv abfällt, sobald sie sich ihre ansonsten intuitiv ausgeführte Spielweise bewusst zu machen versuchen. Gleichwohl hängen die Verbesserung ihres Spiels sowie das effektive Orientiertsein unseres Handelns auch davon ab, auf das implizite Wissen als Ressource der Orientierung zurückgreifen zu können. Im impliziten Wissen schlummern Möglichkeiten für orientierte und orientierende Problemlösungen. Das sind oftmals wahre Wissensschätze, die es zu heben gilt.⁵
Literatur Abel, Günter 1990: Interpretatorische Vernunft und menschlicher Leib, in: Djurić, Mihailo (Hg.): Nietzsches Begriff der Philosophie, Würzburg, S. 100 – 130. Abel, Günter 1998: Zeichenlogik, Bedeutung und Rationalität, in: Simon, Josef / Stegmaier, Werner (Hg.): Fremde Vernunft. Zeichen und Interpretation IV, Frankfurt a. M., S. 52 – 77. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2010: Knowing-How. Eine scheinbar unergründliche Wissensform, in: Bromand, Joachim / Kreis, Guido (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das nicht-begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin, S. 319 – 340. Abel, Günter 2012a: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52.
Zu ersten Überlegungen in dieser Richtung siehe Abel ‚Das ungenutzte Wissen‘ (2013).
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Martina Plümacher
Die Perspektivierung der Wirklichkeit
Abstract: What conception of perspectivity is the Philosophy of Signs and Interpretation based on? How exactly are interpretativity, creativity, and perspectivity intertwined? Based on a short report on the development of the idea of perspectivity in thinking and knowing, the paper explains different concepts of perspectivity in order to answer both questions. In the conclusion, two points are emphasized: (a) The Philosophy of Signs and Interpretation contextually refers to different concepts of perspectivity. (b) In order to constructively and creatively design their own lifeworlds, people are well advised to use their liberty of changing perspectives, signs, and interpretations by taking into consideration the practical relevance and range of perspectives.
1 Menschliche Geister: endlich, frei, kreativ und perspektivisch Ein Leitmotiv der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Günter Abels ist der Gedanke, dass Menschen zwar endliche, jedoch freie und kreative Geister sind. Als endlich werden sie charakterisiert, insofern sie nicht alles, was es gibt oder geben könnte, auch tatsächlich wahrnehmen, denken und handelnd realisieren. Sie sind begrenzt durch ihre Interpretationsmuster und Interpretationen. Jenseits dieser Interpretationen liegen Alternativen, mögliche wie sinnvolle Interpretationen, in deren Licht Anderes wahrgenommen werden würde und Lebensprozesse anders gestaltet werden könnten. Was für Menschen ‚wirklich‘ ist und werden könnte, ist durch ihre Interpretationen von Wirklichkeit und Welt bestimmt und vorgezeichnet. Als interpretativ bezeichnet Günter Abel bereits die elementaren perzeptiven Formen des phänomenalen Diskriminierens, des Identifizierens und Re-Identifizierens sowie das Erkennen von etwas als etwas. Er erweitert den Interpretationsbegriff bekanntlich um die Vorgänge der Individuation und Kategorisierung, da deren Prinzipien nicht naturgegeben sind und anders hätten ausfallen können. Auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Verstrickung in gegenstands- und wahrheitsbegründend wirkende Interpretations1+2-Praxen erscheinen Menschen als endliche Geister. Besonderes Augenmerk richtet Günter Abel auf die habituell gewordenen Gleichförmigkeitsmuster der Interpretationen2. Diese Interpretationen wären veränderlich, ohne zugleich die menschliche Welt in ihren Grundfesten https://doi.org/10.1515/9783110522280-060
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zu verändern (Iw 16). Doch werden habitualisierte Interpretationen oftmals erst dann fragwürdig, wenn der Zeichenvollzug nicht mehr flüssig funktioniert, Zeichen z. B. nicht mehr direkt verstanden werden, somit Deutung und Auslegung von Sinn erforderlich scheinen (ZdW 180; vgl. SZI 245).¹ Für die Zeichen- und Interpretationsphilosophie ist sowohl der Satz der grundsätzlichen Interpretativität jedes Selbst-, Fremd- und Weltverständnisses zentral als auch „der Satz ‚Alles, was so ist, könnte auch anders sein‘“ (SZI 65; vgl. Iw 504). Das Wörtchen ‚könnte‘ signalisiert die prinzipielle Freiheit zu alternativen (auch Welt ändernden) Sichtweisen. Interpretation ist an sich eine freie, kreative Handlung (SZI 243 – 260; s. auch Abel 2006: 12 f.). Bei näherer Betrachtung entpuppen sich auch die Interpretationspraxen2 als keinesfalls durchgängig strikt gleichförmige und stur regelfolgende Aktivitäten. Gleichförmigkeit kann sich nur durchhalten, wo Störungen und Verunsicherung nicht auftreten. Im öffentlichen Raum des Sprach- und Zeichenhandelns sind jedoch Irritationen des Selbstverständlichen vorprogrammiert. Denn, wie Günter Abel nachdrücklich verdeutlicht, gibt das „freie Verhältnis“ zwischen einem Zeichen und seinem gelingenden Folgezeichen die Pluralität der Bedeutungen frei (SZI 247). Da Personen in ihrem Sprach- und Zeichengebrauch nicht exakt übereinstimmen, sind in den Verständigungsprozessen Unbestimmtheiten des Verstehens und der Übersetzung zu bewältigen. Somit erfordert das „Gelingen von Verständigungsverhältnissen […], daß Sprecher und Interpret bereit sind, ihre die Bedeutung der Zeichen bestimmenden Interpretationshypothesen, mit deren Hilfe Verständigung in Gang gekommen ist, zu erweitern, abzuändern oder gar zu revidieren“ (95). Gefragt sind kreative Fähigkeiten, wozu auch gehört, „zur rechten Zeit das rechte Zeichen zu finden und es situationsgemäß und verständigungsfördernd zu plazieren“ (246). Auch in den Bereichen routinierter Handhabung von Werkzeugen und Geräten (dem Kernbereich habitualisierter Gleichförmigkeit) wirkt sich das „freie Verhältnis von Zeichen und Folgezeichen“ aus, sobald neue Situationen zu meistern sind. Dann sind in den Bewegungs- und Wahrnehmungsabläufen neue Aspekte mit zu berücksichtigen. Infolge dessen können sich das Spektrum der handlungs-relevanten Aspekte sowie die Handlungsstruktur selbst verändern. In diesem Fall verändern sich die „praxis-internen Regularitäten“ (Abel 2010: 332; vgl. 2012: 258).² Doch Menschen reagieren nicht nur auf neue Anforderungen. Als Ein weiterer Aspekt der Endlichkeit, den Günter Abel verschiedentlich hervorhebt, ergibt sich aus der Endlichkeit der Zeit, die Menschen sowohl für einzelne Vorgänge als auch für ihr Leben insgesamt zur Verfügung steht. Auch das Können (Knowing-How) hat Günter Abel als Zeichen- und Interpretationsprozess charakterisiert und es als grundlegend für sprachlich-propositionale Prozesse ausgezeichnet, da
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freie und kreative Geister können sie ihre Handlungen jederzeit spielerisch variieren, ihnen eine neue Note oder gar eine neue Richtung geben. Die Zeichen- und Interpretationsphilosophie akzentuiert nicht nur den interpretatorischen, sondern genauer den „perspektivischen und interpretatorischen Charakter des menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses“ (Iw 13). Günter Abel charakterisiert Menschen auch als „perspektivische Geister“ (Iw 45, 153, 439, 449, 456, 499; ZdW 324). Interpretation kennzeichnet er als perspektivische, konjekturale, konstruktionale, ein- und auslegende Tätigkeit (SZI 59). Sie sei perspektivisch, insofern sie stets durch spezifische Gesichtspunkte geprägt sei (254). Trotz der deutlichen Akzentuierung der Perspektivität und ihrer zentralen Stellung innerhalb der Zeichen- und Interpretationsphilosophie hat Günter Abel seinen Perspektive-Begriff sowie Verhältnisse der Perspektivität in den Interpretationsvollzügen nicht näher expliziert. So sind die Leser seiner Texte auf das direkte Verstehen der Ausdrücke ‚Perspektive‘ / ‚perspektivisch‘ angewiesen. Diesem steht angesichts der eingespielten Verwendung der Ausdrücke im alltäglichen Sprechen zunächst nichts im Wege. In den alltagssprachlichen Verwendungen ist das Wort ‚Perspektive‘ gut verständlich und in der Regel im jeweiligen Kontext ausreichend präzise. Man denke etwa an Redewendungen wie z. B. „Er hat die Perspektive des Rechtsanwalts: für ihn spielt allein das Justiziable des Konflikts eine Rolle“ oder „Wechseln wir einmal die Perspektive und betrachten die Sache unter einem rein technischen Gesichtspunkt“. Meistens wird der Gesichtspunkt (die Hinsicht oder der Aspekt) benannt, dem die Aufmerksamkeit gilt oder gelten sollte. Doch im Kontext der Philosophie ist eine Klärung des verwendeten Perspektive-Begriffs aufschlussreich. Zu unterschiedlich sind hier die Interpretationen der Perspektivität und die philosophiehistorischen Bezüge der ins Spiel gebrachten Begriffe. Mit Bezug auf sie eröffnet sich ein beträchtlicher Spielraum, die Ausdrücke zu deuten, die Günter Abel verwendet, z. B. ‚Perspektive einer Person‘ (IW 524); ‚interpretativ-perspektivische Verfaßtheit der Zeichenfunktion selbst‘ (ZdW 23); ‚der perspektivische Charakter menschlicher Handlungen‘ (87, 346); ‚die Erste-Person-Perspektive des Handelnden‘ (347); ‚perspektivische Weltbilder‘ (123); ‚Perspektivismus der inneren Erfahrung‘ (252). Vor dem philosophiehistorischen Hintergrund unterschiedlicher Perspektivitäts-Verständnisse erhebt sich die Frage, welche Interpretationen und Begriffe der Perspektivität der
die Meisterung von Handlungspraxen genuines Wissen induziert (Abel 2010; 2012). Eine vereinheitlichte Theorie von Wissen und Handeln skizzierten schon frühere Arbeiten (SZI Kap. 13; ZdW Kap. 9).
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Interpretations- und Zeichenphilosophie angemessen sein könnten. In welchem Sinn sind Menschen perspektivische Geister? Wie sind Interpretativität, Perspektivität und Kreativität miteinander verschränkt? Dieser Aufsatz versucht eine Klärung dieser Fragen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektive-Begriffe, die in Philosophie, Wissenschaften und Alltagssprache zum Tragen kommen. Der folgende Abschnitt 2 skizziert die Entstehung des Gedankens der Perspektivität von Erkenntnis und Wissen. Abschnitt 3 kennzeichnet sechs Perspektive-Begriffe, die in den Reflexionen auf Wahrnehmung, Erkennen und Handeln eine Rolle spielen. In Abschnitt 4 wird der Versuch unternommen, die Frage zu beantworten, welche Perspektive-Begriffe im Rahmen der Zeichen- und Interpretationsphilosophie verwendet werden könnten.
2 Die Entstehung des Gedankens der Erkenntnisperspektivität Ursprünglich war der Ausdruck ‚Perspektive‘ mit der Euklidischen Tradition der Optik verbunden, die das Sehen zurückführte auf Sehstrahlen, die vom Auge auf Objekte fallen. In Analogie zu dieser geometrischen Konzeption des Sehens wurde im 15. Jahrhundert dem geometrischen Verfahren der Raumdarstellung in der Bildenden Kunst die Bezeichnung ‚Perspektive‘ gegeben.³ Die Optik ebenso wie die perspektivische Malerei regten Analogien zwischen dem Wahrnehmen und dem Erkennen an; und schließlich hielten die Termini ‚Perspektive‘, ‚Gesichtspunkt‘, ‚Standpunkt‘ und ‚Horizont‘ Einzug ins alltägliche Sprechen über Erkennen und Erkenntnis.⁴ Die Analogien zwischen perspektivischem Sehen und Erkennen bzw. perspektivischer Raumdarstellung und Erkennen stellten heraus, dass auch dem Erkennen eine Fokussierung auf spezifische Gegenstände und Gegenstandsaspekte zugrunde liegt und es wie der Blickwinkel begrenzt ist. Niemals können sich Menschen allen Gegenständen in allen möglichen Hinsichten gleichzeitig gedanklich widmen.
Vgl. (Grimm / Grimm 1889: 1568 – 1569), (Lindberg 1987), (König 1989), (Schulte-Sasse 2002), (Sukale / Rehkämper 2010). Die Perspektive-Semantik war schon Mitte des 18. Jahrhunderts im alltäglichen Sprechen über Erkenntnis weit verbreitet. (Chladenius 1752) und (Lambert 1764) führen zahlreiche Beispiele an. In der philosophischen Literatur tritt die Perspektive-Metapher gegen Ende des 17. Jahrhunderts zunächst sporadisch auf, parallel zu dem älteren Bild vom Erkennen als „Licht über eine Sache bringen“ bzw. „eine Sache ins Licht setzen“ (Lambert 1764: 658, 725 f.), (vgl. Hume 1748: 88 f.), (Hume 1751: 190). Zur Rede vom ‚Standpunkt‘ im Kontext des Erkennens siehe (Röttgers 1994), zu ‚Horizont‘ siehe (Elm 2004).
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Einen größeren Bekanntheitsgrad hat Cusanus’ Charakterisierung des Erkennens als perspektivisch erlangt, obgleich Cusanus den Terminus ‚Perspektive‘ noch nicht verwendete. In De visione Dei (1453) erläutert er, die menschliche Erkenntnis könne niemals dem göttlichen Blick gleich alles gleichzeitig und jedes Einzelne erfassen.⁵ Wie der menschliche Blick, der an einen Blickwinkel von begrenzter Größe gebunden ist, erfasse die menschliche Erkenntnis nur diejenigen Gegenstände, die innerhalb ihres Blickwinkels liegen. Leibniz stellt den Gedanken der Perspektivität und der Standpunktgebundenheit des Erkennens ins Zentrum seiner Metaphysik. Seinem Verständnis zufolge ist die Perspektivität des Erkennens dadurch bedingt, dass Lebewesen unterschiedlich sensitiv, aufmerksam und interessiert sind. In seiner Metaphysik entfaltet er die These, dass jede Monade (d. h. jedes Lebewesen)⁶ das ganze Universum spiegle, jedoch aus seinem je eigenen Gesichtspunkt heraus. Die Lebewesen unterscheiden sich Leibniz zufolge darin, welche Aspekte des Universums sie in welchen Graden der Klarheit repräsentieren. Viel zitiert ist das Leibnizsche Gleichnis für diese Perspektivität des Wahrnehmens und Erkennens: „Und wie eine und dieselbe Stadt, die von verschiedenen Seiten betrachtet wird, als eine ganz andere erscheint und gleichsam auf perspektivische Weise vervielfacht ist, so geschieht es in gleicher Weise, daß es durch die unendliche Vielheit der einfachen Substanzen gleichsam ebenso viele verschiedene Universen gibt, die jedoch nur die Perspektiven des einen einzigen gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade sind.“ (Übers. v. Lyssy 2009: 151, s. Leibniz 1714: 616) Dieses Gleichnis setzt das Erkennen in Beziehung zur visuellen Wahrnehmung, für die gilt, dass sich abhängig vom jeweiligen Gesichtspunkt und Standort die Gegenstände von anderen Seiten zeigen. Doch Vorsicht ist geboten, diesen optischen Aspekt perspektivischen Sehens ins Zentrum der Interpretation des Leibnizschen Verständnisses der Erkenntnisperspektivität zu rücken. Der Begriff der Perspektivität, den Leibniz im Sinn hat, akzentuiert nicht die thematische Begrenzung des Erkennens relativ zu einem Standpunkt, nicht z. B. die Konzentration der Erkenntnisbemühungen auf ein Problem (etwa der Teilchenphysik) unter der Voraussetzung einer bestimmten Hypothese. Schließlich betont Leibniz, dass jede Monade das gesamte Universum
Cusanus griff im Versuch, seinen Glaubensbrüdern den allumfassenden Blick Gottes zu demonstrieren, zu einem eindrucksvollen didaktischen Hilfsmittel. Er verwendete ein Porträt, zu dessen überraschender Bildwirkung gehörte, dass der Blick der dargestellten Person den Betrachter zu fixieren scheint, ganz gleichgültig welchen Standort er einnimmt. Leibniz spricht von „points animés“ (beseelten Punkten) und „centres substantielles“ (substantiellen Zentren), die er als Ausstrahlungen der Gottheit denkt, vgl. (Leibniz 1714: 609 f., 614), (Leibniz 1695) und (Leibniz 1686: 434, 439 f.); s. auch (Busche 1997).
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repräsentiere. Unterschiedlich sei lediglich, worauf eine jede besonders anspreche und was sie graduell deutlicher als anderes aufnehme. Diese selektive Ausrichtung in den Prozessen der Repräsentation der Welt bringt Leibniz mit einem ganzen Ensemble von Bedingungen der Repräsentation in Zusammenhang. Zu diesem Ensemble gehören zum einen die körperlich-sensorischen und kognitiven Grundlagen der Fähigkeit, empfinden, streben, leiden, wahrnehmen, erinnern, erkennen und handeln zu können. Zu reflexiver Erkenntnis beispielsweise sind Leibniz zufolge nicht alle Lebewesen, sondern nur Menschen fähig. Zum anderen erfährt die Repräsentation eine spezifische Ausrichtung durch Faktoren, die die Ausübung dieser Fähigkeiten beeinflussen und das Empfinden, Wahrnehmen, Denken und Handeln orientieren, wie beispielsweise die jeweilige körperlichseelische Verfassung, Bedürfnisse, Motivationen und Handlungsziele. In diesem komplexen Sinn hat jedes Lebewesen Leibniz zufolge „seinen je eigenen Gesichtspunkt“, d. h. es unterscheidet sich in seiner Empfindsamkeit, im Fühlen, Wahrnehmen, Erinnern, Denken, Streben und Agieren von jedem anderen Lebewesen, da kein Lebewesen sowohl hinsichtlich des Ortes, von dem aus es agiert, als auch in Bezug auf seine körperlich-seelische Verfassung mit einem anderen exakt identisch sein kann (vgl. Leibniz 1686: 458 f.; 1714: 617 f.). Leibniz hat ein spezifisches Verständnis der Perspektivität von Personen geprägt, das die Hermeneutik nachhaltig beeinflusste. Dass jede Person ihren je eigenen Gesichtspunkt hat, bedeutet demzufolge, dass sie die Welt, andere Personen und sich selbst im Lichte ihrer jeweiligen Empfindungen, Gefühle, Bedürfnisse, Einstellungen, Überzeugungen, Interessen, Wünsche und Erwartungen wahrnimmt. Hermeneutiker und Historiker versuchten, diesen Begriff des Gesichtspunkts für die Auslegung von Reden und Schriften fruchtbar zu machen. Johann Martin Chladenius z. B. erklärt den Begriff des Gesichtspunktes zum methodischen Grundbegriff der Geschichtswissenschaft (Chladenius 1752: 100 f.), da die Reflexion auf die Perspektivität von Augenzeugenberichten für die kritische Beurteilung der historischen Quellen unumgänglich sei. Er empfiehlt zu klären, inwiefern die Perspektive der berichtenden Person deren Bericht gefärbt haben könnte. Den Gesichtspunkt definiert Chladenius angelehnt an Leibniz als „diejenigen Umstände unserer Seele, Leibes und unserer ganzen Person, welche machen, oder Ursach sind, daß wir uns eine Sache so, und nicht anders vorstellen“ (Chladenius 1742: 187). Um den Gesichtspunkt einer Person zu erfassen, sind demnach diejenigen Ursachen und Gründe zu ermitteln, die eine Person bewegt haben könnten, bestimmten Ereignissen Aufmerksamkeit zu schenken, sie als diese oder jene aufzufassen, zu deuten, zu bewerten und in bestimmter Weise zu kommunizieren. Chladenius nennt zu diesem Zweck Parameter, an denen sich die Interpretation der Perspektivität einer Person orientieren kann (z. B. soziale und berufliche Rolle
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der Person; Bildungsstand; kulturelle und religiöse Prägung; Parteilichkeit oder Neutralität im politischen und kulturellen Setting; Charakter und Gestimmtheit) (vgl. Chladenius 1752). Doch Historiker wie Hermeneutiker haben zu vergegenwärtigen, dass sie mit ihren Versuchen der Bestimmung des Gesichtspunkts einer Person die inneren Beweggründe dieser Person und somit den Sinn der fremden Rede niemals vollständig erfassen können. Jede ihrer Interpretationen deckt andere und neue Zusammenhänge auf. Es gibt keine Gewissheit der Wahrheit der Rekonstruktion, nur vielfältige verschiedene Möglichkeiten des Verstehens. Friedrich Schleiermacher betrachtet aus diesen Gründen die Interpretation des Sinns einer fremden Rede als eine unendliche Aufgabe (Lenk 1993: 59 f.), (s. auch Schleiermacher 1974: 57, 84, 132).⁷ Die Einsicht in die grundsätzliche Perspektivität jedes Berichts über Ereignisse, jeder Rede sowie auch jeder Interpretation der Beweggründe einer anderen Person führt den Historiker ebenso wie den Hermeneutiker zu dem Eingeständnis, dass auch er selbst sich von Perspektivität nicht befreien kann (Chladenius 1752: 150), (s. auch Koselleck 1977). Für die hermeneutischen Wissenschaften ist die Pluralität der Deutung von Geschehnissen, von Texten, Gesten und Bildern schon deshalb unhintergehbar, da jeder Interpret eine neue Frage aufwerfen und einen neuen Aspekt entdecken kann. Wo jedoch auf unterschiedliche Interpretationen z. B. eines Ereignisses oder eines Textes reflektiert wird, interessiert weniger der Gesichtspunkt des Interpreten im Leibnizschen Sinn des Wortes. Es wird zumeist nicht der Versuch unternommen, jede Interpretation im Licht der Persönlichkeit des Interpreten zu reflektieren. In Iteration des Prinzips, die personalen Kontexte einer jeden Perspektive verstehen zu wollen, ginge womöglich der rote Faden der vergleichenden Betrachtung verloren. Statt der Persönlichkeit der Interpreten wird vielmehr den Frage- und Zielstellungen Aufmerksamkeit geschenkt, infolge derer die Interpretationen unterschiedlich ausfallen. In dieser Praxis spiegelt sich ein von Leibniz abweichender Begriff der Perspektive und des Gesichtspunkts.
3 Begriffe der Perspektivität Bedingt durch die Geschichte seiner Verwendung ist der Ausdruck ‚Perspektive‘ in unterschiedlichen Kontexten verankert und meint je nach Kontext anderes. Im
Schleiermacher und Dilthey verstehen die Perspektive einer Person als eine individuelle Sinnstiftung, die auf die Identität der Person im biographischen Zusammenhang bezogen ist.
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Kontext der Bildenden Kunst bezieht er sich zumeist auf das geometrische Verfahren der Raumdarstellung; im Zusammenhang mit der visuellen Wahrnehmung ist vornehmlich die standortabhängige optische Erscheinung der Gegenstände gemeint; im Kontext von Erkenntnis, Interpretation und Urteil verweist der Ausdruck auf die vom Fokus der Aufmerksamkeit und des Interesses abhängige Art und Weise, „wie das Denken seine Objekte in den Blick nimmt“ (Kaulbach 1990: VIII), d. h. wie es sie individuiert, kategorisiert, akzentuiert und in welche Zusammenhänge es sie rückt. So können die perspektivische Raumdarstellung, die Perspektive im optischen Sinn und die epistemische Perspektive unterschieden werden.⁸ Da der Ausdruck ‚Perspektive‘ in der Regel ohne ein präzisierendes Adjektiv verwendet wird, ist zu beachten, in welchem Sinn er jeweils gemeint ist. In Bezug auf die visuelle Wahrnehmung kann es hilfreich sein auseinanderzuhalten, ob von der Perspektive im optischen Sinn oder der epistemischen Perspektive die Rede ist. Die optische Perspektive ist durch das Gesichtsfeld bestimmt. Sie kann für zwei Personen mit annähernd gleichem Standort und gleicher Blickrichtung dieselbe sein, während sich die epistemischen Perspektiven der beiden Personen deutlich unterscheiden. Man denke etwa an folgende Situation: Zwei Personen richten ihren Blick auf die ihnen gegenüberliegende Straßenzeile, wobei ihr Gesichtsfeld in etwa dasselbe ist. Doch die eine Person interessiert sich für das Antiquariat, die andere dagegen fokussiert die Espresso-Bar. Da wir niemals sicher sein können, was eine andere Person wahrnimmt, die sich mit uns in einer annähernd gleichen Wahrnehmungsposition befindet, kommunizieren wir, was wir wahrnehmen und wofür wir die andere Person interessieren möchten. Wir fragen z. B.: „Siehst Du die Espresso-Bar dort drüben?“ Die jeweilige epistemische Perspektive ist durch dasjenige bestimmt, was im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Der Begriff der epistemischen Perspektive markiert und artikuliert den spezifischen Gegenstandsbezug des Erkenntnissubjekts – die perzeptive Fokussierung eines sinnlich Gegebenen ebenso wie die jeweilige Individuation, die Kategorisierung und Bewertung des Gegenstands. Die „Espresso-Bar dort drüben“ könnte eine andere Person ebenso korrekt als „die Eisdiele dort drüben“ bezeichnen. Sie würde mit ihrer Kategorisierung einen anderen Aspekt in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Durch die Verwendung der Ausdrücke ‚Perspektive‘ und ‚Gesichtspunkt‘ kann einerseits deutlich gemacht werden, dass sich und wie sich Personen in ihrem Gegenstandsbezug unterscheiden. Andererseits kann der Ausdruck ‚Gesichtspunkt‘ auch dazu verwendet werden, den jeweiligen Aspekt zu benennen, auf den
Auch wird das Wort ‚Perspektive‘ im Sinne von Zukunft bzw. Zukunftsaussicht gebraucht.
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hin sachliche Bestimmungen vorgenommen werden (sollen). Ein Beispiel für Letzteres geben sprachliche Wendungen wie „Die Interpretation der Ereignisse erfolgt unter dem Gesichtspunkt, die Rolle der Nichtregierungsorganisationen in der Entwicklungszusammenarbeit herauszustellen“ oder „Lassen wir die persönlichen Gesichtspunkte einmal beiseite und konzentrieren uns auf die Frage, wie wir zu einer zufriedenstellenden Arbeitsaufteilung finden, d. h. auf die strukturellen Aspekte des Konflikts“. Redewendungen wie diese werden nicht von dem Leibnizschen Verständnis des Gesichtspunkts einer Person getragen. Denn sie geben nicht den Impuls, uns mit den Beweggründen einer Person zu befassen. Vielmehr weisen sie uns auf die Möglichkeit hin, Gegenstände in verschiedenen Hinsichten zu thematisieren, und fordern uns auf, solche Hinsichten gedanklich zu separieren. Im Folgenden werden sechs unterschiedliche Begriffe epistemischer Perspektivität näher erläutert. Sie alle erfassen und artikulieren den selektiv-fokussierenden Gegenstandsbezug eines Erkenntnissubjekts und bringen insofern ein allgemeines begriffliches Schema epistemischer Perspektivität zum Tragen: Eine Person P wendet sich einem Gegenstand x unter dem Aspekt a zu. Die jeweiligen Verständnisse epistemischer Perspektivität unterscheiden sich darin, wie sie die selektive, spezifische Aspekte fokussierende Bezugnahme auf Gegenstände akzentuieren, zum Beispiel (i) als Ausdruck der unverwechselbaren Art und Weise, wie eine Person empfindet und denkt; (ii) als Ausdruck einer unsachgemäßen (etwa voreingenommenen, parteilichen) Einstellung; (iii) als Ausdruck bestimmter charakteristischer Einstellungen einer Überzeugungsgemeinschaft; (iv) als Ausdruck einer Orientierung auf ein spezifisches Erkenntnisund Handlungsziel; (v) als Ausdruck eines spezifischen Zeichenvollzugs; oder (vi) als Ausdruck eines theoretisch und methodisch spezifisch konzipierten Erkenntnisprojekts. Das allgemeine begriffliche Schema hat zumeist einen den jeweiligen Begriff spezifizierenden Zusatz:⁹ Eine Person P wendet sich einem Gegenstand x unter dem Aspekt a zu, orientiert durch y. Dieser Zusatz birgt, wie deutlich werden wird, je eigene Implikationen mit folgenreichen praktischen, methodologischen und epistemologischen Konsequenzen.
Ausnahmen bilden Situationen, in denen Personen lediglich daran interessiert sind, ihren unterschiedlichen Gegenstandsbezug zu markieren, z. B. im Museum festzustellen, was jede Person in den Blick nimmt.
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3.1 Der individuelle Blickpunkt Von Leibniz ausgehend verbreitete sich ein Verständnis der Perspektivität einer Person, demzufolge jede Person einen je eigenen Blickpunkt auf die Welt hat. Wem oder was eine Person Aufmerksamkeit schenkt, wie sie das jeweils Wahrgenommene auffasst, interpretiert und anderen Personen darstellt, ist gemäß diesem Verständnis orientiert durch die Motive, Wünsche, Interessen und Einstellungen dieser Person. Einer holistischen Auffassung personaler Intentionalität folgend werden diese Motive, Wünsche, Interessen und Einstellungen nicht als bloß situativ bedingt betrachtet, sondern in einen Zusammenhang zum Wissen, zur Lebenserfahrung und Lebensorientierung der Person gesetzt. In diesem Sinn ist der ‚Blickpunkt auf die Welt‘ die Personen-spezifische, mit der individuellen Lebensorientierung direkt verbundene Sinnstiftung. Wer gemäß diesem Verständnis des Begriffs auf die Perspektive einer Person reflektiert, bringt Äußerung und Verhalten dieser Person in einen Zusammenhang mit deren Einstellungen und Beweggründen. Er folgt dem begrifflichen Schema: (i) Person P wendet sich dem Gegenstand x unter dem Aspekt a zu, orientiert durch ihre spezifischen Einstellungen, Wünsche, Interessen und Ziele. Dieses Perspektive-Verständnis ist primär in Kontexten beheimatet, in denen es gilt, eine Person oder das Lebenswerk einer Person, z. B. ihr künstlerisches oder wissenschaftliches Werk, zu verstehen. Doch diese Auffassung der epistemischen Perspektivität findet sich auch im Kontext der Epistemologie und Wissenschaftsphilosophie. Nicholas Rescher gibt hierfür ein Beispiel. In seiner Verteidigung des Pluralismus – „against the demand for consensus“ (Rescher 1993: Untertitel) – erläutert er, dass der Pluralismus in der Wissenschaft, wie überhaupt hinsichtlich der Auffassung und Beurteilung von Gegenständen, unvermeidlich sei, da Personen aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrung und Wissensprofile in ihren Erkenntnisinteressen, Frage- und Problemstellungen divergierten. „The salient fact is that it is ultimately the particular course of our experience with this world that determines what is important and what is incidental, what is central and what is peripheral, what is normal and what is aberrational. […] People’s cognitive commitments – philosophical positions included – reflect a variably personal background“ (Rescher 1994: 124 f.; s. auch 1993: Kap. 4). Den Vorwurf, mit dieser Position unweigerlich dem Relativismus zu erliegen, weist Rescher zurück. Das Relativismusproblem bestehe in einer relativistischen Erkenntnishaltung, der zufolge jede Perspektive als gleichwertig begriffen werde (eine Position, die Rescher als „perspectival egalitarianism“ bezeichnet) (Rescher 1991: 130). Nicht-relativistisch verhalte sich, wer in Debatten Position beziehe. Doch jede Person könne nur gemäß den rationalen Gründen, die ihr zur Verfügung stehen, zu einer Position finden und diese rechtfertigen. „We have no alternative
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to proceeding as best we can on the basis of what is available to us. That others agree with us is no proof of correctness; that they disagree, no sign of error.“ (Rescher 1993: 89) So sind in Konsequenz dieses Perspektive-Verständnisses Rationalität und Wahrheit letztlich personal verankert. Eine besondere Variante des auf Leibniz zurückgehenden Perspektive-Verständnisses bringt Friedrich Nietzsche ins Spiel, der die jeweilige epistemische Perspektivität der Lebewesen als Ausdruck ihrer lebens-pragmatischen Strategie der Existenzbehauptung betrachtet. Jedes „organische Geschöpf hat seinen SehWinkel vom Egoismus, um erhalten zu bleiben“, betont Nietzsche (Nachlass 1884, 26[37], KSA 11.157). Generalisierend spricht er vom „Willen zur Macht“, der die Lebewesen orientiere.¹⁰ Indem das durch Leibniz vorgezeichnete Verständnis epistemischer Perspektivität die personalen Komponenten der Subjektivität betont, orientiert es auf die Entdeckung Personen-spezifischer, auch so genannter ‚subjektiver Färbungen‘ des Wahrnehmens, Charakterisierens und Beurteilens von Gegenständen. Einerseits öffnet dieses Verständnis den Blick für die spezifisch individuellen Akzentsetzungen im Verstehen von Wirklichkeit, die mit der unverwechselbaren Art zusammenhängen, wie eine jeweilige Person denkt und sich im Leben orientiert. Andererseits können andere allgemeine (nicht spezifisch personale) Komponenten der Perspektivierung, z. B. mediale, handlungsorientierte oder Erkenntnisprojekt-orientierte Komponenten, aus dem Blick geraten.
3.2 Subjektive Färbung von Wahrnehmung und Erkenntnis Die Charakterisierung von Urteilen und Darstellungen als ‚subjektiv gefärbt‘ setzt neue Akzente hinsichtlich des subjektiven Gegenstandsbezugs. Häufig ist sie abwertend und kritisch konnotiert, z. B. wenn sie in der Absicht erfolgt, auf Engführungen im Gegenstandsverständnis, Fehleinschätzungen, Vorurteile, eine Leidenschaft oder Parteilichkeit hinzuweisen. Als ‚subjektiv gefärbt‘ bezeichnet werden gemeinhin unsachliche, tendenziöse, voreingenommene, parteiische Darstellungen eines Sachverhalts. Der Historiker sieht sich allerdings schon aus methodologischen Gründen gezwungen, Berichte über Ereignisse unter den Verdacht einer subjektiven Färbung zu stellen und die Art der Brille zu untersuchen, mit der Ereignisse wahr Günter Abel zieht Parallelen zwischen Nietzsches Willen-zur-Macht und Leibniz’ Monaden, betont jedoch unterscheidend, dass für Nietzsche die Interpretation der Wirklichkeit in einer für das Lebewesen vorteilhaften Perspektive keine Spiegelung einer göttlichen Ordnung sei.Vielmehr weise Nietzsche auf den Welt-erzeugenden Charakter des Interpretierens hin (N 23).
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genommen und gedeutet werden. Für Naturwissenschaftler ist die Figur der subjektiven Färbung von Urteilen und Darstellungen insbesondere im Blick auf die Reflexion der konstruktionalen Aspekte des Erkennens attraktiv. So formulierte z. B. Heinrich Lambert 1764 eine „Theorie des Scheins“, da das Verstehen der Gründe, weshalb einer Person eine Sache auf spezifische Weise erscheine, ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur Erfassung des „Realen und Wahren“ sei.¹¹ Denn reflektiertes Wissen bedarf der Explikation der impliziten Voraussetzungen und Vorannahmen (etwa in Bezug auf die Theoriebildung und das Experimentdesign). Zum Fortschritt der Erkenntnis gehört schließlich auch die Erkenntnis von Irrtum, Täuschung und Voreingenommenheit. Lambert zufolge entwickelt sich die Erkenntnis der Wirklichkeit in der Vielfalt der Perspektiven. Für ihn ist die Perspektivität der Erkenntnis unhintergehbar. Doch die Idee einer sukzessiven Erweiterung der Erkenntnis in Korrektur von Irrtümern und Unzulänglichkeiten motivierte auch zu einem enggeführten Begriff epistemischer Perspektivität, der ausschließlich die Färbung des Erkenntnisurteils durch subjektive oder kulturelle Faktoren als ‚perspektivisch‘ qualifiziert. In Konsequenz einer solchen Gleichsetzung des Perspektivischen mit dem subjektiv oder kulturell Gefärbten scheinen epistemische Perspektivität und Erkenntnis unvereinbar zu sein. Das Konzept einer a-perspektivischen (von jeder Perspektivität befreiten) Erkenntnis formuliert beispielsweise Thomas Nagel in The View from Nowhere. Ausgehend von der These „An objective standpoint is created by leaving a more subjective, individual, or even just human perspective behind“ (Nagel 1986: 7) transformiert er das Prinzip des Überwindens personal-subjektiver Bezugspunkte im Urteilen und in der Theoriebildung und formuliert die Idee der Überwindung selbst der menschlichen Perspektive, d. h. der Überwindung von Bezugnahmen auf die eigentümlich menschliche Erscheinungsweise der Wirklichkeit. Etwas ‚perspektivisch‘ wahrnehmen, vorstellen und beurteilen bedeutet gemäß diesem Verständnis epistemischer Perspektivität, etwas ‚nicht ganz richtig‘, ‚einseitig‘, ‚voreingenommen‘, ‚parteiisch‘ wahrzunehmen, vorzustellen oder zu beurteilen, geleitet z. B. von Prämissen und Vorannahmen, die sich als falsch oder irrelevant erweisen. Der hier in Anspruch genommene Perspektive-Begriff folgt dem Schema:
„Die Phänomenologie [die Theorie des Scheins] beschäftigt sich überhaupt damit, daß sie bestimme, was in jeder Art des Scheins real und wahr ist, und zu diesem Ende entwickelt sie die besondern Ursachen und Umstände, die einen Schein hervorbringen und verändern, damit man aus dem Schein auf das Reale und Wahre schließen könne.“ (Lambert 1764: 824)
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(ii) Person P wendet sich dem Gegenstand x unsachgemäß unter dem Aspekt a zu, orientiert durch unsachgemäße Beweggründe (z. B. eine Leidenschaft) und / oder unsachgemäße Annahmen und Voraussetzungen. Um eine Position in diesem Sinn als ‚perspektivisch‘ qualifizieren zu können, muss eine epistemisch vorteilhaftere epistemische Position gegeben sein, von der aus Voreingenommenheit, Irrtum und Täuschung erkannt, expliziert und geltend gemacht werden können.¹²
3.3 Perspektivität sozialer Gruppen Handlungen und Äußerungen von Personen werden nicht nur im Blick auf die jeweiligen Lebensumstände und individuellen Lebensorientierungen der Personen wahrgenommen. Weit häufiger wird das Verhalten eines Menschen in einen gesellschaftlichen Kontext gerückt, wird z. B. in Verbindung gesetzt zur sozialen und beruflichen Rolle der Person oder auch zu deren Identifizierung mit einer sozialen Gruppe (etwa einem Verein, einer Partei, einer Subkultur). Die Interpretation der Perspektive der Person nimmt in solchen Fällen Bezug auf bestimmte Einstellungen, Interessen und Ziele einer sozialen Gruppe. Insofern kommt ein gegenüber (i) abgewandeltes begriffliches Schema epistemischer Perspektivität zum Tragen: (iii) Person P (als Angehörige der Gruppe g / sich mit der Gruppe g Identifizierende) wendet sich dem Gegenstand x unter dem Aspekt a zu, orientiert durch Einstellungen, Wünsche, Interessen und Ziele der Gruppe g. Worauf eine Person achtet und was ihr wichtig erscheint, wird beispielsweise als Ausdruck des Ethos einer Berufsgruppe, als charakteristische Einstellung von Personen in einer bestimmten sozialen Funktion oder als Ausdruck des Ideals einer bestimmten kulturellen Gruppe betrachtet (etwa des Fair-Play-Gedankens
Ein anderes Beispiel für das Konzept a-perspektivischer Erkenntnis gibt (Daston 1992). Sie bezieht sich auf (Hume 1757: 276) und (Smith 1759). Doch weder Hume noch Smith plädierten für Einsichten jenseits jeder Perspektive. Vielmehr forderten sie, dass die Bezugspunkte des ästhetischen bzw. moralischen Urteils erweitert werden, indem weitere sachlich relevante Aspekte Berücksichtigung finden. Sie argumentierten z. B. dafür, dass Personen ihren egozentrischen Bezugspunkt moralischen Fühlens, Wahrnehmens und Urteilens überwinden könnten und sollten, indem sie sowohl den Aspekten, die aus Sicht anderer Personen wichtig erscheinen, als auch der Rolle des Respekts, der Fairness und Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Zusammenleben Beachtung schenken (s. auch Hume 1751: 228 f., 272). Hume, Smith und viele andere Autoren des 18. Jahrhunderts bezeichneten die Erweiterung der Grundlagen des Urteils auch als Einnahme eines ‚allgemeinen Standpunkts‘. Dieser sollte u. a. dadurch gewonnen werden, dass man sich in den ‚Standpunkt‘ einer anderen Person versetzt (s. auch Kant 1790: 295).
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im Sport). Solche Interpretationen der Perspektive einer Person schreiben nicht nur der jeweiligen Person eine bestimmte Perspektive zu, sondern zugleich auch der betreffenden sozialen Gruppe, insofern unterstellt wird, dass die Einstellungen, Interessen und Ziele der Gruppe eine spezifische Sensitivität und ein bestimmtes Präferenzverhalten ausbilden. Interpretationen der Perspektive einer Person gemäß Schema (iii) erfolgen zumeist nicht mit dem Anspruch, die komplexen Beweggründe der Person oder gar der Gruppe erfassen zu wollen. Oftmals bezwecken sie lediglich, auf einen spezifischen Aspekt aufmerksam zu machen, wollen ihn herausstellen und näher erläutern, beispielsweise eine Äußerung als Ausdruck einer bestimmten Einstellung markieren (z. B. als Fremdenfeindlichkeit; sportliche Einstellung; religiöse Orientierung; kultureller Protest; mit einer sozialen Rolle verbundenes Interesse).
3.4 Sachliche Gesichtspunkte Schon im 18. Jahrhundert tritt der Ausdruck ‚Gesichtspunkt‘ in epistemischen Kontexten auf zweierlei Weise in Erscheinung. Neben einem Wortgebrauch, der sich auf die Motivation einer Person bezieht, findet sich ein Gebrauch, der akzentuiert, mit welchem Erkenntnisziel bzw. in welcher Hinsicht Gegenstände betrachtet werden (sollten). Jean-Jacques Rousseau z. B. erklärt in seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, er rekonstruiere die menschliche Geschichte unter „un seul point de vue“ (Rousseau 1755: 52), nämlich zu zeigen, wie der Begriff des Eigentums auftreten konnte. Rousseau spricht von dem Gesichtspunkt seiner Interpretation. Ein anderes Beispiel findet sich bei Lambert, der erläutert, was es heißt, in Handlungskontexten (z. B. der Planung einer Unternehmung) eine Vielzahl von Gesichtspunkten einzunehmen und durchzuspielen: Ein Vorhaben „von allen Seiten betrachten, will sagen, auf die Ursachen, Mittel, Hindernisse, Umstände, Schwierigkeiten, Folgen etc. sehen, und alles durchgehen, was damit in Verbindung steht, davon abhängt etc. In so vielerlei Absichten eine Sache betrachtet werden kann, so viele einzelne Gesichtspunkte hat sie auch.“ (Lambert 1764: 658) Je nach Gesichtspunkt erscheine eine Sache von einer spezifischen Seite. Lambert erläutert auch das Wort ‚Seite‘: „die Seiten der Sachen“ seien „die Verhältnisse […], die sie zu andern Sachen hat“ (ibd.). ‚Gesichtspunkte‘ einer Sache sind demnach die Hinsichten der Betrachtung von Dingen und Prozessen. David Hume gibt ein Beispiel für die normative Wendung dieses Wortgebrauchs: Einem Erkenntnisproblem, so betont er, könne ein Gesichtspunkt angemessener sein als ein anderer, wenn durch ihn das Problem einer Lösung zugeführt werde. Hume glaubt, dass es für jedes Erkenntnisproblem den einen
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richtigen Gesichtspunkt gebe, durch den Klarheit in Bezug auf das Problem erzielt werde (Hume 1748: 79; s. auch 1757: 276 f.). Obwohl vom Gesichtspunkt einer Sache die Rede ist, darf das mit diesem Sprachgebrauch verbundene begriffliche Schema epistemischer Perspektivität personen-bezogen formuliert werden, insofern Personen sich Aufgaben und Ziele geben sowie Fragen und Probleme aufwerfen, auf die hin sie ihre Wahrnehmung, ihre Erkenntnisaktivität und ihr Handeln ausrichten: (iv) Person P wendet sich dem Gegenstand x unter den Aspekten a, b, c zu, orientiert durch das Handlungs-, Interpretations- oder Erkenntnisziel Z. Dieses Verständnis epistemischer Perspektivität markiert den Umstand, dass je nach Handlungs- oder Erkenntnisabsicht unterschiedliche Gegenstände und Gegenstandsaspekte Aufmerksamkeit finden und ein und derselbe Gegenstand unter verschiedenen Absichten (Gesichtspunkten) betrachtet werden kann. Beispielsweise ist ein Vorhaben wie der Bau eines Hauses unter funktionalen, finanziellen, ästhetischen, ökologischen, baustatischen, baustofflichen, organisatorischen und vielen anderen Gesichtspunkten zu planen. Je nach Gesichtspunkt rücken andere Details und Zusammenhänge in den Blick. Gemäß diesem Verständnis epistemischer Perspektivität ist der selektiv-fokussierende Gegenstandsbezug unabdingbar für jedes Handeln, Denken, Sprechen und Erkennen. Denn im Handeln wie im Sprechen und Erkennen muss die Aufmerksamkeit auf das im jeweiligen Zusammenhang Relevante gerichtet werden und gerichtet bleiben. Was in den jeweiligen Kontexten als relevant zu beachten ist, steht nicht allein im Belieben einer Person. Handlungspraxen geben Standards für ein Aufgaben- bzw. Problem-angemessenes Verhalten vor. Man denke etwa an Instruktionen und Vorgaben zur Ausführung einer Handlung (z. B. zur Führung eines Messers beim Schälen) oder auch an Richtlinien bezüglich der Gesichtspunkte, die bei der Aufgabenbewältigung beachtet werden sollten (vgl. Plümacher 2012: 162– 167). Erwachsene Personen verstehen sich im Allgemeinen spielend auf solche in Handlungspraxen verankerten Perspektivierungsprozesse, wenngleich sie ihre Perspektivierungen kaum als solche reflektieren. Das Einnehmen und Durchspielen unterschiedlicher Gesichtspunkte gehört schlicht zu der Art und Weise, wie man etwas macht. Viele der alltäglichen Handlungen sind mit einem Wechselspiel von Perspektiven verbunden: Eine Handlungsperspektive z. B. (etwa die Planung eines Gebäudes) wird entfaltet, indem unterschiedliche Gesichtspunkte teils separat, teils in ihrem Verhältnis zueinander durchdacht werden. Explizit reflektiert wird auf Perspektiven, Handlungs- und Erkenntnisinteressen insbesondere dann, wenn (in Diskussionen z. B.) eine Vielfalt sachlich unterschiedlicher Gesichtspunkte unterschieden und geordnet werden sollen. Häufig werden dann auch die spezifische Leistung, Geltung und Geltungsgrenze
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der einzelnen Perspektiven zur Sprache gebracht. Die Leistung einer Perspektive besteht darin, spezifische Gegenstände und Gegenstandsaspekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und sie in bestimmter Hinsicht als relevant zu markieren, um sie gegebenenfalls näher zu explizieren, zu untersuchen oder zu gestalten. Perspektiven eröffnen Richtungen des Verstehens, der Untersuchung und der Gestaltung. Doch zugleich blenden sie mit ihrer Fokussierung andere Richtungen aus. Diese Dialektik der Perspektivierung zu verstehen ist vor allem in Kontexten wichtig, in denen es darauf ankommt (z. B. bei der Durchführung eines Projekts), unterschiedliche Perspektiven zueinander ins Verhältnis zu setzen und zu koordinieren.
3.5 Zeichenvermittelte Perspektivität des Erkennens Heinrich Lambert wies schon darauf hin, dass auch vom Darstellungsmedium (z. B. Theater, Bildhauerei, Poesie) abhängt, was prägnant dargestellt und bewusst gemacht werden kann (Lambert 1764: 825). Die perspektivierende Wirkung von Zeichen markierte aber erst Friedrich Nietzsche mit der These, dass das menschliche Wirklichkeitsverständnis zeichenvermittelt sei. Im zeichenvermittelten Wahrnehmen und Erkennen gerate (so seine These) die facettenreiche, vielfältig nuancierte sinnliche Wirklichkeit und deren unablässiger Wandel aus dem Blick, da Zeichen auf Allgemeines, im Wandel Beständiges, Reguläres, sich Wiederholendes orientierten. „Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie in’s Bewusstsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr … Diess ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie ich ihn verstehe: die Natur des thierischen Bewusstseins bringt es mit sich, dass die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt, – dass Alles, was bewusst wird, ebendamit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Heerden-Merkzeichen wird, dass mit allem Bewusstwerden eine grosse gründliche Verderbnis, Fälschung,Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist.“ (FW 354, KSA 3.592 f.) Nietzsche akzentuiert den Umstand, dass Individualität, Wandel und Werden der Wahrnehmung entgleiten, wenn sie auf allgemeine Merkmale, ‚Gleiches‘ und Reguläres gerichtet ist (s. auch FW 111, KSA 3.471 f.). Die besondere Leistung der Sprache qualifiziert er zwar als ein „Logisiren“ (Nachlass 1887, 9[106], KSA 12.395 f.) und eine Verfälschung von Wirklichkeit ab, doch öffnet er zugleich den Blick für die durch Sprache erst entstehende Welt stabiler Sachverhältnisse.
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Nietzsche operiert mit zwei Begriffen epistemischer Perspektivität. Einerseits betont er gemäß dem oben markierten begrifflichen Schema (i), dass jedes Lebewesen und jede Person seine / ihre Sichtweise auf Wirklichkeit entwickle.¹³ Andererseits hebt Nietzsche auch die eigentümliche Ausrichtung des Wahrnehmens und Erkennens durch Zeichen hervor und folgt damit einem anderen Perspektivitätsbegriff, dessen Schema lautet: (v) Person P wendet sich infolge ihres spezifischen Zeichenvollzugs V dem Gegenstand x unter dem Aspekt a zu. In diesem Verständnis epistemischer Perspektivität ist jeder Zeichenvollzug in spezifischer Weise perspektivierend. Eine zentrale Rolle spielt dieses Verständnis epistemischer Perspektivität bei Ernst Cassirer, der in seiner Philosophie der symbolischen Formen die These expliziert, dass sich infolge der Perspektivierung von Zeichen unterschiedliche Richtungen des Verstehens und Erkennens von Wirklichkeit herausbilden und menschliche Wirklichkeit somit „mehrdimensional“ wird (Cassirer 1929: 15).¹⁴ Gegen lebensphilosophische Positionen wie auch Nietzsches Sicht der Zeichen gewendet argumentiert Cassirer, dass der Wert der Zeichen nicht in der naturgetreuen Abbildung der sinnlichen Welt liege. Schließlich würde eine solche Abbildung diese Welt lediglich verdoppeln. Was Zeichen und Zeichensysteme leisteten, verdanke sich gerade der Abweichung. Durch sie könnten spezifische Merkmale und Beziehungen („die allgemeinen Form- und Relationsmomente“) artikuliert, somit wahrgenommen, reflektiert und gestaltet werden (Cassirer 1923: 42). Eine Landkarte z. B. repräsentiert nicht die direkt sinnlich erfahrbare Landschaft, nicht die Vielfalt der Gegenstände im Raum, sondern räumliche Relationen zwischen ausgewählten Orten, die rein symbolisch dargestellt sind. Karten dienen der Orientierung im Handeln und eröffnen Handlungsoptionen, die es ohne sie nicht gäbe. Durch sie erst entsteht der geographische Raum als Gegenstand des Denkens wie der Gestaltung. Cassirers Erläuterung der Bedeutung der Zeichen und Zeichensysteme für die Herausbildung spezifischer Erkenntnisgegenstände berücksichtigt nicht nur die
Die Gewinnung der eigenen Perspektive versteht Nietzsche als eine intellektuelle Organisationsleistung, da jede Person den Streit der in ihrer Kultur artikulierten Perspektiven mit sich auszutragen habe (Ibbeken 2008: 81). Zwar verwendet Cassirer den Ausdruck ‚Perspektive‘ nicht mit Bezug auf Zeichen. Doch er betont, dass das Auftreten von Sinn auf den Umstand zurückzuführen sei, dass ein sinnliches Etwas in einer bestimmten „Hinsicht“ resp. unter einem gewissen „Gesichtspunkt“ aufgefasst wird: „Immer muß das ‚Gegebene‘ schon in einer bestimmten ‚Hinsicht‘ genommen und sub specie dieser Hinsicht erfaßt sein: Denn sie erst ist es, die ihm seinen ‚Sinn‘ verleiht“ (Cassirer 1929: 150).
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theoretischen Gegenstände der Wissenschaften (wie z. B. Energie, Materie, Gen, soziales System), sondern auch Gegenstände des gestaltenden Erkennens (z. B. die architektonischen Räume der Architektur; Klang, Rhythmik, Melodik, Harmonik als Gegenstände der Musik; die Werkzeuge und technischen Geräte, die Gegenstände des Handwerks, des Werkzeugbaus und der Technikwissenschaften). Ohne Zeichen und Zeichensysteme würde es weder solche Erkenntnisgegenstände geben noch die menschliche Kulturen auszeichnenden Tätigkeitsfelder – d. h. weder die Wissenschaften, noch die Künste, noch die verschiedenen beruflichen Tätigkeitsfelder und die in deren Rahmen gestalteten Artefakte, Regelwerke und Institutionen, in deren Licht Menschen Wirklichkeit erfahren und Lebensprozesse gestalten.
3.6 Perspektivierte Erkenntnisprojekte Um die jeweilige Ausrichtung der Erkenntnisprozesse feinkörniger zu erfassen und zu verstehen, wie Erkenntnisgegenstände perspektivisch konzipiert, umgrenzt und akzentuiert sind, eignet sich ein Begriff der epistemischen Perspektivität, der die unterschiedlichen Faktoren erfasst, welche die Aufmerksamkeit lenken sowie das Erkennen und Gestalten ausrichten. Die jeweiligen Erkenntnisgegenstände sind in den Wissenschaften, in den Künsten und in den Berufen durch eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren bedingt. Nicht bloß grenzen die jeweiligen Zielsetzungen, Aufgaben-, Frage- und Problemstellungen ein, was als relevant gelten und Beachtung finden sollte. Auch von der Wahl der Materialien, der Instrumente und Apparaturen gehen perspektivierende Effekte aus, da von den Materialien, Instrumenten und Apparaturen abhängt, was beobachtbar, messbar, gestaltbar und realisierbar ist. Zudem richten der jeweilige theoretische Rahmen, die Vorannahmen, Prämissen und Hypothesen, die zum Einsatz gebrachte Modellierung, die jeweilige Methode und Verfahrensweise das Wahrnehmen, Denken und Erkennen spezifisch aus.¹⁵ Im Zusammenspiel solcher Faktoren kristallisieren sich die jeweiligen Erkenntnisgegenstände überhaupt erst heraus. Das begriffliche Schema, das diesen Umstand erfasst und artikuliert, lautet: (vi) Gegenstand x wird unter den Aspekten a, b, c … konzipiert, bedingt durch die theoretischen, praktischen und methodischen Bedingungen des Erkennens B1, B2, B3 … .
Zur Perspektivität von Modellen siehe auch (Mahr 2012), zur Perspektivität wissenschaftlicher Beobachtung und Theoriebildung vgl. (Giere 2006), (van Fraasen 2008).
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Dieser Begriff der epistemischen Perspektivität, der das Ensemble der Bedingungen und Faktoren des Erkennens in ihrem Zusammenspiel erfasst, eignet sich insbesondere dazu, dieses Zusammenspiel in Bezug auf einzelne Erkenntnisprojekte zu explizieren, um davon ausgehend diese Projekte in ihrem Profil deutlich voneinander unterscheiden, koordinieren, aufeinander abstimmen oder auch kontrastieren zu können.
4 Die Perspektivität der Interpretation Die skizzierten Perspektive-Verständnisse sind allesamt selbst perspektivisch, insofern sie die Aufmerksamkeit auf spezifische Zusammenhänge lenken. Da die Interpretations- und Zeichenphilosophie besonders den Zusammenhang von Interpretation und Zeichen akzentuiert, scheint ihr vor allem ein Perspektive-Verständnis angemessen zu sein, das die perspektivierende Funktion der Zeichen betont. Von ihm ausgehend lassen sich – etwa entlang der Argumentation Cassirers – vor allem die kreativen Aspekte der Perspektivierung explizieren, so z. B. der Umstand, dass neue Zeichen, neue Zeichensysteme, neue Instrumente der Beobachtung sowohl die Aufmerksamkeit in andere Gefilde navigieren als auch gänzlich neue Erkenntnisgegenstände hervorbringen und neue Dynamiken in der Entwicklung des Wissens in Gang setzen können. Grundsätzlich ist jedoch zu erwägen, dass die Zeichen- und Interpretationsphilosophie für mehrere Perspektivitäts-Begriffe offen ist und diese in Anspruch nimmt. Mit Ausnahme des Perspektive-Verständnisses (ii), für das die epistemische Perspektive nichts anderes als eine unsachgemäße, tendenziöse oder parteiliche Sichtweise ist, stehen die skizzierten Perspektive-Verständnisse nicht zwangsläufig in einem Konflikt zueinander. Sie akzentuieren unterschiedliche Faktoren der Aufmerksamkeitslenkung und der epistemischen Orientierung auf Gegenstände. Das folgende Beispiel zeigt, wie Günter Abel das Perspektive-Verständnis sowohl gemäß dem begrifflichen Schema (v) als auch den Schemata (iv) und (iii) in Anspruch nimmt. Interpretation sei perspektivisch, betont Günter Abel, insofern sie aus einem Gesichtspunkt heraus erfolge (SZI 254). In welchem Sinn der Ausdruck ‚Gesichtspunkt‘ gemeint ist, klärt der Textzusammenhang: Günter Abel erörtert die Unterschiedlichkeit der sprach- und grundbegrifflichen Schematisierungen, durch welche sich die Welt nach Gattungen und Arten einteilt. Er erläutert, dass Einteilungen und Klassifikationen auch im Hinblick auf bestimmte Zwecke erfolgten: Ein Biologe etwa werde einen Wal unter einem physiologischen Gesichtspunkt als Säugetier klassifizieren, während z. B. ein Tierschutzverein stärker daran interessiert sein könnte, Tiere unter dem Gesichtspunkt ihres Lebensraums
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zu unterscheiden, so beispielsweise in Meerestiere, Tiere auf dem Land und Tiere in der Luft. Günter Abels Beispiel verdeutlicht die Rolle von Erkenntnis- und Handlungszielen für die Perspektivierung des Gegenstandsbezugs (gemäß Schema iv); es bringt die Ziele in den Zusammenhang mit sozialen Gruppen (gemäß Schema iii); und expliziert, wie Sprachzeichen Individuation und Kategorisierung orientieren und Gegenstände akzentuieren (gemäß Schema v). Die Interpretations- und Zeichenphilosophie kann mit diesen drei Perspektive-Verständnissen konfliktlos spielen, wobei allerdings aufgrund ihrer antiessentialistischen Grundthese die Perspektivität sozialer Gruppen nicht essentialistisch verstanden werden darf. Jede Charakterisierung sozialer Gruppen wird sie als Interpretation markieren, d. h. als eine perspektivisch motivierte Zuschreibung bestimmter Merkmale und Eigenschaften. Ohne Zusatzannahmen und Inkohärenz kann die Zeichen- und Interpretationsphilosophie auch einen Perspektive-Begriff aufnehmen, der die perspektivierenden Faktoren des Erkennens feinkörniger erfasst (gemäß dem oben skizzierten Schema vi). Er eignet sich vorzugsweise zur vergleichenden Betrachtung unterschiedlicher Interpretationen und ganzer Erkenntnisprojekte. Kontroversen (Differenzen auf der Interpretation3-Ebene) ließen sich im Blick auf das Wechselspiel der perspektivierenden Faktoren explizieren und darauf aufbauend Streitpunkte genauer bestimmen. Die Perspektive-Terminologie ist ein sprachlichbegriffliches Instrumentarium, mit dem sich Unterschiede hinsichtlich der Sensitivität und der Einschätzung, was in welcher Weise als relevant gelten soll, gut markieren lassen. Denn sie macht sowohl auf den Zusammenhang zwischen Erkenntnis- bzw. Handlungszielen und Gegenstandsbezug aufmerksam (gemäß Begriffsschema iv) als auch auf Individuation und Kategorisierung relativ zum jeweiligen Zeichenvollzug (gemäß Schema v) sowie (gemäß Schema vi) auf die Effekte, die Schematisierungen, Denkfiguren, Modelle, Theoreme und Theorien auf das Wahrnehmen und Handeln haben. So rückt sie in den Blick, wie Beobachtung und Erfahrung jeweils organisiert werden. Für eine vereinheitlichte Theorie von Wissen und Handeln könnte dieser Effekt der Terminologie von Vorteil sein. Die Frage, ob auch das Leibnizsche Verständnis der Perspektivität von Personen mit der Zeichen- und Interpretationsphilosophie konform geht, ist nicht leicht zu beantworten. Günter Abel betont wiederholt die Spiegelung der Individualität von Personen in deren Zeichen- und Interpretationsvollzügen (Iw 219, 405, 491; SZI 90 f., 167, 352, 373; ZdW 88, 261 f., 295). Allerdings weist er auch nachdrücklich auf den öffentlichen Charakter des Zeichengebrauchs hin. Jedes Zeichenverstehen und Handeln einer Person sei in gemeinsame, mit anderen Personen geteilte Interpretations- und Handlungspraxen eingebunden. Die Ori-
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entierung der Personen an der gemeinsamen Praxis ermögliche flüssige Prozesse der Verständigung und der Kooperation (vgl. ZdW 63 f., 173 – 188; SZI 69 – 100). Eingebunden in die Interpretationspraxen seien Personen an der Beliebigkeit ihrer Vorstellungen gehindert (Iw 43; ZdW 57). Der öffentliche Charakter des Zeichengebrauchs und des Handelns schließt aus, dass Personen in ihrem Denken und Handeln eine Perspektive einnehmen, die nur die ihre im strikten Sinn des Leibnizschen Verständnisses wäre. Sie folgen in ihren Zeichenvollzügen den Perspektivierungen der in praktischen Kontexten eingespielten Zeichen und Zeichensysteme und nehmen handelnd die gebotenen handlungsrelevanten Gesichtspunkte ein. Der öffentliche Charakter der Zeichen- und Handlungsprozesse erlaubt jeder zuschauenden oder zuhörenden Person, die in die Zeichen- und Handlungspraxis eingeweiht ist, den Perspektivierungen einer anderen sprechenden, darstellenden oder handelnden Person zu folgen. Schenkt eine handelnde Person beispielsweise einem Detail Aufmerksamkeit, dem in Handlungsroutinen bislang kaum Beachtung zuteil wurde, so können andere Personen dies bemerken, an dieser Perspektivierung teilhaben, deren Sinn verstehen und reflektieren (vgl. auch ZdW 99). Selbst wenn wir voraussetzen, dass individuelle Erfahrungs- und Wissensprofile der Personen sich in deren Handlungen und Zeichenvollzügen niederschlagen, somit Handlungen wie Zeichenvollzüge in dieser Hinsicht als individuell betrachtet werden dürfen, bleibt anzuerkennen, dass der öffentliche Charakter von Handlungen und Zeichen die Möglichkeit des Nachvollzugs der Perspektivierung bietet, obschon beobachtet werden kann, dass Personen die Perspektiven anderer Personen häufig nicht bis ins letzte Detail nachvollziehen und imitieren, sondern diese vielmehr kreativ perspektivisch wahrnehmen, nämlich hinsichtlich der sie jeweils interessierenden Aspekte. Solipsistischen Tendenzen wirkt die alltägliche Kooperation der Menschen entgegen. Denn es lohnt sich, die Gesichtspunkte anderer Personen zu beachten. Zum einen erleichtert dies das gemeinsame Handeln und die Verständigung. Zum anderen bringen andere Personen oftmals weitere, noch nicht bedachte Gesichtspunkte ins Spiel, die für die Gewinnung optimaler Problemlösungen und befriedigender Formen der Lebensgestaltung wertvoll sind. Auch unter dem Gesichtspunkt der Perspektivität ihrer Interpretationen sind Menschen endliche Geister, da sie in die Dialektik der Perspektivierung verstrickt sind: Perspektivisch ist ihre Aufmerksamkeit stets auf spezifische gegenständliche Aspekte und Zusammenhänge fokussiert, währenddessen andere Aspekte und Kontexte ausgeblendet bleiben. Um die ausgeblendeten Aspekte in den Blick nehmen zu können, ist die Perspektive zu wechseln. Wechselspiele unterschiedlicher Perspektiven etwa im Kommunizieren und Handeln sind allerdings zumeist selbst perspektivisch ausgerichtet, insofern sie im Blick auf ein Thema (etwa eines Gesprächs) oder einen Handlungszweck erfolgen. Werden unterschiedliche Per-
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spektiven zusammen in den Blick genommen und reflektiert, so geschieht auch dies in einer bestimmten Hinsicht, bezüglich der sie verglichen, bewertet und geordnet werden (vgl. Plümacher 2012: 166 f.). Die thematische Begrenzung der Perspektivierung selbst ist grundsätzlich nicht zu überwinden. Dieser Befund zur perspektivischen Kognition des Menschen ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Als freie, kreative Geister können Menschen ihre Perspektiven wechseln, sie durch andere Sichtweisen ergänzen, sie modifizieren, in ein Wechselspiel mit anderen Perspektiven bringen, können neue Zusammenhänge herstellen und neue Aspekte entdecken. Die Perspektivierung steht ihnen frei. In dieser Freiheit liegt die Chance zur Erkenntnis. Nietzsche sah die im Perspektivenwechsel liegende Kreativität und plädierte für den freien Geist (JGB 41, KSA 5.59). Nur entstehen im bloßen Wechsel von Perspektiven allein noch keine Erkenntnis und kein Gestaltungskonzept. Im Wechsel rückt Anderes und womöglich auch Neues in den Blick. Erkenntnis- und gestaltungsrelevant werden Perspektivierungen erst dann, wenn sie sinnvoll in Handlungs- und Erkenntnispraxen und das sie leitende Wissen eingebunden und adaptiert werden können. Die Fähigkeit, die Leistung und Grenze einer jeweiligen Perspektivierung einschätzen zu können, ist dafür relevant. Diese Fähigkeit zeigt sich nicht nur im Theoretisieren über Perspektiven, sondern oftmals bereits im praktischen Erkennen, was man mit einer bestimmten Perspektivierung anfangen kann, z. B. welche Richtungen des Erkennens und Gestaltens sie freigibt, welchen ‚Sitz im Leben‘ sie haben kann. Mit dieser Fähigkeit, die praktische Relevanz von Perspektiven beurteilen zu können, hängt die Fähigkeit zu geordneten PerspektivenOperationen aufs Engste zusammen. Beispielsweise verstehen es erwachsene Personen im Allgemeinen, komplexe Probleme zu lösen, indem sie Fragen separieren und Gesichtspunkte unterscheiden. Sie verstehen sich auf Arbeitsteilungen, wissen etwa, wer mit welcher Spezialisierung für was zuständig ist, wie Handlungs- und Erkenntnisperspektiven einander ergänzen können und zusammenspielen sollten. Sie verfügen insofern über ein (im wesentlichen praktisches) Wissen, welche Perspektivierung in welchem Kontext relevant ist und Beachtung finden sollte. Schließlich wissen sie auch aus Erfahrung, dass Perspektivierungen einerseits Möglichkeiten der genaueren Betrachtung und Gestaltung eröffnen, andererseits jedoch auch spezifische Grenzen der Geltung haben. Nicht jede Perspektive ist in einem gegebenen Kontext sinnvoll. Ordnungen im Wissen orientieren das Denken wie die Einbildungskraft hinsichtlich der Frage, welche Perspektivierungen kontext-, aufgaben- oder problembezogen wichtig und gefordert sind oder sein könnten (s. auch Plümacher 2012: 167– 170; 2011: 150 – 155). Um in Handlungs- und Erkenntnisprozessen über unterschiedliche Perspektiven frei verfügen zu können, ist somit nicht nur die Freiheit entscheidend, Perspektiven wechseln zu können. Gefragt sind ebenso Fähigkeiten der
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Ordnung und Koordination von Perspektiven unter sinnkritischen, praxisorientierten Gesichtspunkten. Günter Abel betont, dass Menschen nicht nach Belieben und wahllos interpretieren und Interpretationen sich nicht ins Endlose verlieren (SZI 41 f.). Dies hängt auch damit zusammen, dass Menschen als perspektivische Geister die praktische Relevanz und Reichweite von Interpretationsperspektiven einzuschätzen wissen.
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Perspektivismus in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Replik zum Beitrag von Martina Plümacher Das Verhältnis von Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuIPhilosophie] und epistemischem Perspektivismus ist von grundlegender Wichtigkeit. Martina Plümacher geht diesem Verhältnis in ihrem Beitrag nach. Sie ist sowohl mit den Frage- und Zielstellungen der ZuI-Philosophie als auch mit den systematischen und philosophiehistorischen Aspekten des philosophischen Perspektivismus bestens vertraut. So stellt Plümacher mit Recht die folgenden Aspekte der ZuI-Philosophie heraus: (a) das Quadrupel von Endlichkeit, Freiheit, Kreativität und Perspektivität des Menschen; (b) die für Menschen grundlegende Ebene der Erfahrungswirklichkeiten; (c) das 3-Stufenmodell der ZuI-Philosophie; (d) die Verhältnisse der Kommunikation und Kooperation zwischen Personen im öffentlichen Raum; (e) die basale Relevanz von Zeichen, Interpretation, Handlung und Gestaltung im Blick auf eine vereinheitlichte Theorie von Wissen und Handeln; (f) den nichthintergehbaren ZuI-Charakter des menschlichen Selbst-, Fremd- und Weltverständnisses sowie des Denkens, Handelns und Gestaltens; und (g) die ZuI-Verfasstheit, -Prozessualität und -Dynamik unserer Erfahrungswirklichkeiten selbst. Unter dem Titel „Perspektivierung der Wirklichkeit“ thematisiert Martina Plümacher einen bedeutsamen Aspekt der ZuI-Philosophie und buchstabiert diesen weiterführend aus. Für die entsprechenden Präzisierungen und Ergänzungen bin ich dankbar, und gern trete ich in den Dialog zum Verhältnis von ZuIPhilosophie und epistemischem Perspektivismus ein. Dieser Dialog kann vor dem Hintergrund der von Plümacher zu Recht herausgestellten vierfachen Charakterisierung des Menschen in der ZuI-Philosophie entfaltet werden. Ich meine die Charakterisierung des Menschen als: (a) ‚endlich‘ im Sinne von begrenzt durch physische, kognitive, leibliche, sinn-bezogene und zeitliche Grenzen; (b) ‚frei‘ im Sinne der Möglichkeit des Wechsels von Perspektiven und der nicht-deterministischen Natur des Menschen; (c) ‚kreativ‘ im Sinne der Möglichkeit, radikal Neues in die Welt bringen zu können; und (d) ‚perspektivisch‘ im Sinne der Gebundenheit an Weisen des Auffassens und Verstehens von Welt, anderen Personen und eigenem Selbst. In meinen Texten finden sich unterschiedliche Verwendungen der Ausdrücke ‚perspektivisch‘, ‚Perspektivität‘ und ‚Perspektivismus‘. Plümacher ist darauf konzentriert, den in der ZuI-Philosophie verwendeten Begriff der Perspektive https://doi.org/10.1515/9783110522280-061
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sowie die Verhältnisse der Perspektivität zu erfassen, zu klassifizieren und näher zu explizieren. Sie entwickelt zunächst sechs unterschiedliche Perspektive-Begriffe, die sie sodann aufschlussreich daraufhin prüft, welche von ihnen im Rahmen der ZuI-Philosophie Verwendung finden könnten. In meiner Replik auf den Beitrag von Martina Plümacher möchte ich die folgenden Themenfelder in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken: 1. Das Verhältnis von Zeichen- und Interpretationsphilosophie und epistemischem Perspektivismus. 2. Wissen, Information und Perspektivismus. 3. Kreativität des Perspektivismus.
1 Das Verhältnis von Zeichen- und Interpretationsphilosophie und epistemischem Perspektivismus Offenkundig sind ZuI-Philosophie und epistemischer Perspektivismus nicht gleichzusetzen. Aus meiner Sicht sind die ZuI-Prozesse die basaleren und vorgängigeren Prozesse. Entsprechend ist das ZuI-Modell das basalere und vorgängigere Modell. In diesem Zusammenhang möchte ich an die grundlegenden ZuI1‐Prozesse des sinnlich-phänomenalen Diskriminierens, des raum-zeitlichen Lokalisierens, der Leiblichkeit, der Kategorialisierung, der Individuation, des sortalen Klassifizierens und der Zeitlichkeit erinnern. Diese Prozesse sind im Perspektivismus ebenso vorausgesetzt und in Anspruch genommen wie die Annahme von Subjekten, Gegenständen, anderen Personen und Welt. Das heißt jedoch keineswegs, dass den Perspektiven eine vorfabriziert fertige Welt-an-sich vorausliegt.Voraus liegen vielmehr ZuI1-geformte Wirklichkeiten. An ihnen setzen Perspektiven zwecks spezifizierender Organisation und Ordnung an, – Perspektiven, die gewählt und auch gewechselt werden können und mittels derer wir unsere Welten gestalten. In den angeführten ZuI1-Prozessen werden überhaupt erst diejenigen Räume der Bedeutsamkeit, des Sinns und der Relevanz eröffnet, innerhalb derer dann dem epistemischen Perspektivismus eine organisierende und ordnende Funktion im Blick auf unsere Ich-Wir-Welt-Beziehungen zukommen kann. Zugespitzt möchte ich sagen: Leben und Wirklichkeit vollziehen sich als ZuI-Prozesse und innerhalb dieser Prozesse spielen Perspektiven im Sinne von Gesichtspunkten, Sichtweisen und Weisen des Verstehens eine überaus wichtige Rolle. Perspektivität ist ein Modus der Zeichenfunktionalität und Interpretativität, nicht umgekehrt. Die Werkzeuge des Perspektivismus fungieren dann ähnlich wie die Werkzeuge etwa des Konstruktionalismus, Operationalismus, Konjekturalismus
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oder der Auslegungskunst der Hermeneutik. Sie sind sehr relevant, aber nicht uranfänglich, nicht primordial im strengen Sinne des Ausdrucks. Diese Verortung des Perspektivismus innerhalb des umfänglicheren Rahmens der ZuI-Philosophie nimmt ihm nichts von seiner Wichtigkeit. Im Gegenteil. Denn nach Menschenmaß kann es gänzlich perspektive-freie Wirklichkeiten ebenso wenig geben wie gänzlich perspektive-freies Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten. Und selbst die Suche nach einem absoluten Gesichtspunkt bezöge sich ja offenkundig wiederum nur auf ‚eine‘ Perspektive, nicht auf ‚Die Eine und einzig metaphysisch seriöse Perspektive‘. Aufgefordert, diesen Befund in einen Slogan zu fassen, möchte ich sagen: „ZuI-Prozesse zunächst, Perspektivismus sodann“. Jedoch ist ausdrücklich zu betonen, dass epistemische Perspektivität auf der ihr eigenen Ebene für ein jedes spezifisches Selbst-, Fremd- und Weltverständnis nicht eliminierbar und nicht überspringbar ist. In diesem Rahmen ist bereits der Titel von Martina Plümachers Beitrag „Perspektivierung der Wirklichkeit“ trefflich. Mit dieser Formulierung sind für mich zwei Fragen verbunden, denen ich kurz nachgehen möchte: (a) Welches ist hier der Sinn der Rede von ‚Wirklichkeit‘? und (b) Was genau adressiert die Rede von ‚Perspektivierung‘? Zu (a): Mit Bedacht verwendet Plümacher den Ausdruck ‚Wirklichkeit‘. Dies möchte ich so verstehen, dass sie bewusst weder von ‚Welt‘ noch von ‚Realität‘ spricht. Dieser Sprachgebrauch kommt mir in der Sache an einem zentralen Punkt sehr entgegen. Die Pointe meiner eigenen Rede von ‚Wirklichkeiten‘ und ‚Erfahrungswirklichkeiten‘ (vgl. etwa Abel 2015a) besteht darin, dass damit weder die Welt physikalischer Realitäten noch die Welt innerpsychischer Erlebnisse gemeint ist. Beide Denkfiguren stehen in der Gefahr verkürzender Reduktionismen, zum einen des Physikalismus, zum anderen des Mentalismus oder Psychologismus. Demgegenüber meint die Rede von Wirklichkeiten und des Näheren von Erfahrungswirklichkeiten unsere menschlichen und phänomenalen Wirklichkeiten des Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens. Philosophie nach Menschenmaß, aber ohne kurzgeschlossene Reduktionismen, das ist, worauf sich ein humanes, mithin menschen-, lebens- und weltzentriertes Philosophieren meines Erachtens zu konzentrieren hat. Und auf dieser Ebene der Wirklichkeitsprozesse und Erfahrungswirklichkeiten sind der ZuI-Philosophie zufolge unsere Zeichen, Interpretationen und geistigen Prozesse weder einfach Spiegel der Wirklichkeit noch ist Wirklichkeit ein bloßes Konstrukt der Zeichen, der Interpretationen und des menschlichen Geistes. Dieses ältere Schema wird in der ZuI-Philosophie zugunsten adualistischer und ganzheitlicher ZuI-Prozesse zurückgelassen. Martina Plümacher platziert ihre Überlegungen zur Perspektivierung der Wirklichkeit auf genau dieser Ebene.
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Zu (b): ‚Perspektivierung‘ meint bei Plümacher ebenso wie in der ZuI-Philosophie die Wahl epistemischer und praktischer Gesichtspunkte, Sichtweisen und Verfahren, mittels derer wir unsere Erfahrungswirklichkeiten ziel-, zweck- und handlungsbezogen organisieren, ordnen, gestalten, ausrichten und bewerten. In solchen Perspektivierungen der Wirklichkeit sind die skizzierten ZuI1Prozesse der Eröffnung von Räumen der Bedeutsamkeit, der Relevanz und des Sinns bereits in Anspruch genommen. Der Perspektivismus setzt bereits eine Dimension voraus, die ihrerseits nicht wiederum als das Resultat der ‚Wahl‘ eines epistemischen Gesichtspunkts angesehen werden kann. Wie betont meine ich damit vor allem die formierenden ZuI1-Prozesse, die allererst diejenigen Verhältnisse bereitstellen, die dann epistemischen Perspektivierungen zugänglich und ausgesetzt sind, soll es denn zu spezifizierten Erfahrungswirklichkeiten kommen können. Entsprechend können wir zwar sinnvoll die Frage nach den ZuI1-Abhängigkeiten epistemischer und epistemologischer Perspektiven, nicht jedoch die nach der Perspektiven-Abhängigkeit der ZuI1-Prozesse stellen. Beispielsweise können in puncto Ich-Wir-Welt-Beziehungen weder unser eigenes Selbst noch die anderen Personen und natürlich auch nicht die Existenz der Welt einfach als Produkte der Perspektivierung angesehen werden. Vielmehr zählen Selbst, andere Personen und Welt zu den intern präsupponierten Bedingungen kohärenter epistemischer und ordnender Perspektiven. Auch hier zeigt sich das Zusammenspiel von Differenz und Kooperation zwischen ZuI-Philosophie und epistemischem Perspektivismus. Die ZuI-Philosophie konzipiert den Menschen erklärtermaßen als zeichen-interpretatorisches Wesen, das gleichursprünglich in ZuI-Relationen zu anderen Personen, zur Welt und zu sich selbst steht. Auf dieser Grundlage können Perspektivierungen dann, wie Martina Plümacher mit Recht herausstellt, als Weisen des Auffassens und Verstehens von Welt (und ich ergänze: von Selbst, Ich/Wir und anderen Personen) angesehen werden. Diesen Befund könnte ich unter Rückgriff auf das überlieferte Schema von Gattung und Art auch wie folgt ausdrücken: die ZuI-Prozesse sind Gattung und die epistemischen Perspektiven sind Art, – nicht umgekehrt. Es dürfte auch deutlich geworden sein, dass ich nicht eine Metaphysik von Perspektiven-Welten verteidige, wie beispielsweise Leibniz dies tut. Vielmehr operiere ich auf dem Boden von humanen, mithin zeichen-, menschen- und handlungsbezogenen ZuI-Wirklichkeiten. Und innerhalb dieser spielen dann epistemische Perspektivierungen die skizziert unverzichtbare Rolle. Zur Illustration dieses Punktes möchte ich kurz auf den Sinn des Kantischen Konzepts der ‚Einbildungskraft‘ hinweisen. Auch dieser Hinweis möge dazu dienen, den basalen Sinn der ZuI-Prozesse zu verdeutlichen, die den epistemischen Perspektiven bereits vorausliegen.
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Einbildungskraft meint bei Kant mehr als bloß Perspektive oder als Imagination. Die basale Rolle der Einbildungskraft liegt Kant zufolge letztlich in der Bereitstellung von Raum-Zeit-Stellen, mithin in der ursprünglich-produktiven Möglichkeit, Gegenstände und Ereignisse überhaupt raum-zeitlich lokalisieren zu können. Ähnlich möchte ich die ZuI1-Ebene vor den epistemischen Perspektiven individueller Personen ansiedeln, welche Perspektiven dann jedoch in puncto Spezifität und Organisation lebenswichtig und unverzichtbar sind. Diesen Punkt darf ich an noch zwei weiteren Aspekten verdeutlichen. Zum einen (a) sind wir als endliche Geister nicht in der Lage, alle Aspekte bzw. alle möglichen Perspektiven auf einen Gegenstand (beispielsweise auf einen Baum oder auf die Zahl 2) zu realisieren und sie am Ende gar alle gleichzeitig präsent zu haben. Jede Fokussierung auf bestimmte Aspekte eines Gegenstandes ist abhängig von einer zuvor gewählten Perspektive. Offenkundig aber ist in dieser Einsicht die Existenz des Gegenstandes (im Beispiel des Baumes oder der Zahl 2) bereits vorausgesetzt. Diese Voraussetzung kann nicht selbst wiederum als Produkt einer Perspektive angesehen werden. Insofern jedoch der Baum der Baum und die Zahl 2 die Zahl 2 ist, die sie für uns sind, liegt ihnen bereits eine ZuI1Genealogie im Rücken, die umfänglicher und primordialer ist als die anschließenden, spezifizierenden und epistemisch-organisierenden Perspektiven. Die epistemischen Perspektiven werden von uns gewählt. Demgegenüber sind die ZuI1-Prozesse nicht Gegenstände unserer Wahl. Wir können sie beispielsweise nicht in dem Sinne wählen, wie wir im Falle unterschiedlicher Hypothesen, Theorien und Modelle in den Wissenschaften wählen können. Die ZuI1-Prozesse gehören vielmehr zur Conditio Humana, gehören zur Faktizität unseres Lebens sowie unserer triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen. Zum anderen (b) können wir die ZuI1-Prozesse in ihrer grundlegenden Funktion adressieren, überhaupt erst diejenigen Räume der Bedeutsamkeit (mit dem englischen Ausdruck gesprochen: der significance, im Unterschied zu bloß linguistischer meaning), des Sinns und der Relevanz zu eröffnen, ohne die es gar nicht zu Perspektiven auf etwas kommen könnte.¹ Ohne präsuppositive Voraussetzung von ZuI1-Prozessen hätten epistemische Perspektiven keine Bodenhaftung, keine Anhaltspunkte effektiver Organisation, Ordnung, Orientierung und Spezifikation. Sie würden gleichsam im Leeren drehen. Ich möchte sagen, dass die ZuI-Prozesse unsere Wirklichkeiten und Erfahrungen in dem Sinne allererst spezifisch bewerkstelligen, in dem wir umgangssprachlich wie terminologisch von einem making sense sprechen. Der Sinn solcher Rede ist für mich freilich nicht
Dieser grundlegende Punkt spielt eine wichtige Rolle in meinen Repliken auf Gama Barbosa und Hans Lenk, auf die ich hier ausdrücklich verweisen möchte.
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der des worldmaking bzw. des making worlds, nicht also der von Welterzeugung im Sinne Nelson Goodmans. Vielmehr handelt es sich um Genealogien dessen, was als Welt, Wirklichkeit, Relevanz und Sinn zu zählen vermag. Innerhalb des 3-Stufenmodells der ZuI-Philosophie haben die als Weisen des Auffassens und der Spezifikationen fungierenden Perspektiven ihren Sitz vor allem auf der ZuI3-Ebene. Ein Beispiel dafür ist etwa der perspektivierende Charakter von Theorien, Modellen und Hypothesen. Im Blick auf die Wissenschaften können diese Perspektiven dann als wissenschaftliche (im Unterschied etwa zu sprachlichen Sprecher-Hörer-Perspektiven) angesprochen werden. Solche Perspektiven können zugleich auch als ZuI3-Perspektiven konzipiert werden. Auf diese Ebene 3 gehören natürlich auch die epistemologischen Perspektiven. In einem begrenzteren Sinne sind letztere auch auf der ZuI2-Ebene anzutreffen und wirksam. Der begrenztere Sinn hängt damit zusammen, dass die auf der ZuI2-Ebene relevanten Gewohnheiten, Verhaltensmuster, Konventionen sowie zumeist fraglos funktionierenden Übereinstimmungen in Urteilen und Erfahrungen nicht einfach als die Einnahme und Durchführung von epistemischen und epistemologischen Perspektiven konzipiert werden können. Auf der ZuI2Ebene haben wir es eher mit kulturell, sozial und durch Konventionen tradierten und in diesem Sinne mit gleichsam gegebenen Perspektiven zu tun. Doch offenkundig prägen und präfigurieren die ZuI2-Einstellungen oftmals die auf der ZuI3Ebene explizit eingenommenen Perspektiven des Meinens, Glaubens und Wissens. Auf der ZuI1-Ebene dagegen können wir nur in einem übertragenen Sinne von epistemischen Perspektiven sprechen. Denn, wie betont, wird auf dieser Ebene überhaupt erst der Raum der Bedeutsamkeit, Relevanz und Sinnhaftigkeit aufgespannt, innerhalb dessen es dann auf den Ebenen 2 und 3 zur Einnahme und Durchführung von epistemischen und epistemologischen Perspektiven kommt. Sehr zu Recht betont Martina Plümacher, dass der Ausdruck ‚Perspektive‘ in unterschiedlichen Kontexten „verankert“ ist und dass er „je nach Kontext anderes“ meint (Plümacher-Beitrag, Kap. 3). Detailliert und trefflich beschreibt sie unterschiedliche Typen von Perspektivität, etwa „geometrische Verfahren der Raumdarstellung“, „standpunktabhängige optische Erscheinung der Gegenstände“ und vor allem die „epistemische Perspektivität“, die den Objektbezug des Denkens im Zentrum hat (ebd.). Die epistemische Perspektive „markiert und artikuliert den spezifischen Gegenstandsbezug des Erkenntnissubjekts“ (ebd.). Hier geht es also vornehmlich um den Gegenstandsbezug von Subjekten und natürlich auch um das, worin sich Personen in ihren Perspektiven unterscheiden. Im Kern geht es Plümacher in puncto Perspektivität um die Möglichkeit, „Gegenstände in verschiedenen Hinsichten zu thematisieren“ und diese „Hinsichten gedanklich zu separieren“ (ebd.).
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Überzeugend entwickelt sie sechs unterschiedliche Begriffe epistemischer Perspektivität, die sie dann daraufhin befragt, welche von ihnen in der ZuI-Philosophie Verwendung finden könnten. Die sechs Begriffsbestimmungen erfolgen vor dem Hintergrund eines allgemeinen begrifflichen Schemas, das sie wie folgt formuliert: „Eine Person P wendet sich einem Gegenstand x unter dem Aspekt a zu, orientiert durch y.“ (Ebd.) In Abbreviatur sind die sechs Typen epistemischer Perspektivität, denen ich nur zustimmen kann, die folgenden: (a) Perspektivierung nach Maßgabe des je „individuellen Blickpunkts“ (Kap. 3.1) bzw. der unverwechselbaren „Art und Weise, wie eine Person empfindet und denkt“, beispielsweise unter Einfluss ihrer Einstellungen, Wünsche, Interessen und Ziele, sich im Leben zu orientieren. (b) Perspektivierung im Sinne der „subjektiven Färbung“ von Wahrnehmung und Erkenntnis (Kap. 3.2) bzw. als Ausdruck einer „unsachgemäßen (etwa voreingenommenen, parteilichen) Einstellung“. (c) Perspektivierung im Sinne der „Perspektivität sozialer Gruppen“ (Kap. 3.3) bzw. „charakteristischer Einstellungen“ einer „Überzeugungsgemeinschaft“, beispielsweise einer sozialen Gruppe in ihrem gesellschaftlichen Kontext. (d) Perspektivierung im Sinne epistemischer Gesichtspunkte (Kap. 3.4) sowie in Orientierung auf ein „spezifisches Erkenntnis- und Handlungsziel“. (e) Perspektivierung im Sinne „zeichenvermittelter Perspektivität des Erkennens“ (Kap. 3.5), der zufolge jedes Wahrnehmen und Erkennen an Zeichen und Zeichensysteme gebunden ist und daher auf je spezifische Weise perspektivierend wirkt. (f) Perspektivierung im Sinne spezifischer „perspektivierter Erkenntnisprojekte“ bzw. Forschungsprojekte (Kap. 3.6) und der innerhalb dieser eingesetzten perspektivierenden Hypothesen, Theorien oder Modelle entlang unterschiedlicher Ziel-, Aufgaben-, Frage- und Problemstellungen. Den von Plümacher vorgenommenen Zuordnungen der Typen epistemischer Perspektivität zum Rahmen der ZuI-Philosophie stimme ich nachdrücklich zu. Dabei stellt sie zu Recht fest, dass die ZuI-Philosophie „für mehrere Perspektivitäts-Begriffe offen ist und diese in Anspruch nimmt“ (Kap. 4). Ich möchte sogar sagen, dass ich für alle von Martina Plümacher angeführten Begriffe der Perspektivität nicht nur offen bin. Ich habe sie implizit im Einsatz und sehe sie durch Plümachers Taxonomie und Unterscheidungen jetzt in einem expliziten und präzisen Sinne in Anwendung. Insofern profitiere ich ausdrücklich von der vorgelegten Taxonomie der unterschiedlichen Weisen epistemischer Perspektivierungen. Aus meiner Sicht bilden die unterschiedlichen epistemischen Perspektiven ein zusammenhängendes Spektrum, genauer: einen Raum unterschiedlicher, sich ergänzender, kooperierender, verteilter und integrierter Perspektiven. Die unterschiedlichen Perspektiven müssen keineswegs in jedem einzelnen Falle alle zugleich und in gleichem Maße zum Zuge gebracht werden. Das würde zu unge-
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nießbaren Resultaten führen. Vielmehr sind hier Auswahlen, Präferenzierungen, Kooperationen, Koalitionen und Adoptionen gefragt. Zudem können Perspektiven einander auch durchaus widerstreiten sowie in Konflikt und Dissens geraten, beispielsweise in der Frage, „wie Beobachtung und Erfahrung jeweils organisiert werden“ sollen (ebd.). Man denke hier auch an Fälle, in denen unterschiedliche Präferenzierungen von Absichten, Zwecken und Zielen sowie kompetitive Perspektiven-Dominanzen und teils heftige Perspektiven-Streitigkeiten etwa in wissenschaftlichen Forschungsprojekten gegeben sein können. Zugleich auch vermag die explizite Reflexion auf die zumeist stillschweigend unterstellte „Perspektive-Terminologie“ (ebd.) zu helfen, Hintergrund-Relevanzen explizit ans Licht zu bringen und sie auf ihren forschungsleitenden Sinn hin zu thematisieren. Eines der Ziele sollte dabei auch sein zu wissen, was man da eigentlich tut, wenn man seine Wissenschaft so betreibt wie man sie betreibt. In puncto Perspektivismus treffen wir auf eine Reihe von Fragen, deren Beantwortung von den jeweils verfolgten Zielen und Zwecken abhängt. Solche Fragen sind beispielsweise: (a) Welche Weisen des Perspektivierens kommen zum Einsatz? (b) Wie viele unterschiedliche Weisen werden in einer Taxonomie bereitgestellt? (c) Welche Perspektiven werden aus welchen Gründen ausgeschlossen? (d) In welche „Dialektik der Perspektivierung“ (ebd.) sind wir verstrickt? Die Antworten auf diese Fragen hängen auch von unserer Offenheit und Freiheit ab, mit Verschiebungen, Wechsel und Wandel bis hin zur Verabschiedung und Preisgabe bestimmter Perspektiven rechnen zu müssen. Dieser Befund zeigt meines Erachtens auch im Rahmen der epistemischen Perspektivität den heuristischen Charakter der entsprechenden Einteilungen und Ordnungen. Die Dinge liegen hier in puncto Perspektivismus ganz ähnlich wie im Falle des heuristischen Charakters etwa des 3-Stufenmodells der ZuI-Philosophie. Je nach Bedarf und Zielsetzung können die Stufen und die stufeninternen Gliederungen feinkörniger ausfallen oder nicht. Eine ontologische und metaphysisch einzig legitime Taxonomie der Perspektiven ist nicht zu haben. Sie ist aber glücklicherweise auch nicht erforderlich, und sie ist auch nicht wünschenswert. Sie würde uns in allzu bekannte und letztlich nur dogmatisch abzubrechende Probleme der Begründung,Vollständigkeit und Abschließbarkeit solcher Taxonomien führen. Die Figur des Selbsteinschlusses und die Figur der Stufungen sind für die ZuI-Philosophie grundlegend. Beide (Selbsteinschluss und Stufungen) sind auch in puncto epistemischer Perspektivismus geboten.
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2 Wissen, Information und Perspektivismus Die Relevanz des epistemischen Perspektivismus möchte ich auch entlang der Frage nach den Voraussetzungen von Wissen und Information vor Augen führen. Information und Wissen sind von Anfang an verstrickt in epistemische Perspektiven, Werte und Normen. Beide sind darin ineins abhängig von zeichen-verfassten und interpretativen Schemata der Organisation und Gestaltung unserer Erfahrungswirklichkeiten. Erst der Einsatz epistemischer Perspektiven und Schemata führt dazu, dasjenige, was als informations-relevanter Aspekt zählt, umgrenzen, auszeichnen und spezifizieren zu können. Information ist nicht Information-an-sich. Stets ist sie Information im Lichte bereits vorausgesetzter ZuIProzesse und des Näheren auch epistemischer Perspektiven. Damit beispielsweise eine Hell-Dunkel-Differenz auf einem MRT-Bild als eine neurologisch relevante Information zählt, sind im Lesen des MRT-Bildes epistemische ZuI-Prozesse bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen, einschließlich des in solchen Bildern materialisierten mathematischen und technologischen Wissens. Entsprechend führen unterschiedliche epistemische Perspektivierungen und Schematisierungen zu unterschiedlichen Informationen, einschließlich der als abweichend, irritierend und unerwartet eingestuften Informationen. Zudem kann ein und derselbe Sachverhalt als Verkörperung unterschiedlicher Informationen angesehen werden. Auch in Bezug auf Information und Wissen sind ZuI-Prozesse sowie epistemische Perspektiven Kondition, nicht bloß eine Option, die im Prinzip auch entfallen könnte. In diesem Sinne sind Generierung, Bedeutung, Sinn und Relevanz von Wissen und Information ebenso wie beider Transfer und Rezeption stets bereits abhängig von epistemischer Perspektivität und Normativität.² Dieses Argument möchte ich auch in Sachen Wissen und Information das Argument der epistemischen Perspektivität nennen. Wollte man die epistemische Perspektivität gänzlich aus unserem tatsächlichen Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln, Gestalten und Wissen sowie aus den Prozessen der Wirklichkeitserfahrung herausziehen, so bliebe am Ende nicht reines Informations-Sein oder reines Informations-Wissen, sondern vielmehr, im Bild des Zwiebel-Modells gesprochen, nichts übrig. Auch die Information lebt von epistemischen Perspektiven, Werten und Normen. Anderenfalls wäre sie nichts. Diesem Befund entspricht umgekehrt, dass der Rekurs auf nicht-zeichenhafte und nicht-interpretative sowie nicht-epistemische ‚reine‘ Informationen zum ei Auf Fragen der epistemischen Normativität bin ich näher in meiner Replik auf Catherine Z. Elgin eingegangen.
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nen nicht gelingt und zum anderen nicht weiterhilft bei der Klärung der Rolle epistemischer Werte und Normen in unserem Erkennen und Handeln. Dieses Defizit zeigt sich beispielsweise auch bei der Analyse so zentraler Begriffe wie: Akteur, Rationalität, Handlung, Fähigkeit, Kompetenz, Orientierung, Gedächtnis, Erinnerung und Bildung. Erst die Einbeziehung epistemischer Perspektiven,Werte und Normen öffnet den Blick für die Frage, worum es im Handeln, Wahrnehmen, Sprechen und Wissen und entsprechend auch in der Epistemologie eigentlich geht. Übrigens findet in Bezug auf diese grundlegende Frage zur Zeit ein wichtiges Umdenken in der Philosophie statt. Denn fortan geht es nicht mehr bloß um reine Begriffsanalyse entlang traditioneller Was-Fragen (wie zum Beispiel: Was ist Wissen? Was ist Information? Was ist Rechtfertigung?). Vielmehr sind Erweiterungen und Revisionen der Epistemologie erforderlich. Die ZuI-Philosophie und innerhalb dieser vor allem die Systematische Wissensforschung verstehen sich als Beiträge in dieser Richtung (siehe dazu des Näheren Abel 2012; deutsch in Abel 2015b). Eine Pointe der skizzierten Befunde besteht in der Revision des traditionellen Bildes, demzufolge uns in einem ersten Schritt das Rohmaterial (Daten, Informationen) rein passivisch gegeben ist und dieses Material dann in einem zweiten Schritt mittels unserer kognitiven Aktivitäten interpretiert, organisiert und geordnet wird. Diesem Bild gegenüber ist jedoch die Einsicht zu betonen, dass wir es in unseren Erfahrungswirklichkeiten von Anfang an stets mit adualistischen Verhältnissen, stets mit bereits zeichen-verfassten, gestalteten, interpretierten und interpretatorischen Informationen sowie mit zeichen-verfassten, perspektivisch gestalteten, interpretierten und interpretatorischen Wissensgestalten zu tun haben. In Konsequenz dieses komplexen Szenarios ist natürlich auch Wissenstransfer keineswegs einfach bloß Informationstransfer. Wenn Wissen transferiert wird, in den Wissenschaften ebenso wie im Alltag oder in den Künsten, dann werden nicht einfach bloß interpretierte Daten transportiert und rezipiert. Transferiert und rezipiert wird zugleich und vor allem auch die zugrunde liegende ZuI-Praxis sowie das Setting der epistemischen Perspektiven, der epistemischen Werte und Normen einschließlich der in der jeweiligen Praxis dominanten Wissensordnung. Würden diese Dimensionen nicht mit transferiert, könnte der Empfänger von Materialien diese nicht einmal als Daten identifizieren. Denn er wüsste ja gar nicht, welche Aspekte warum wozu weshalb und wie überhaupt relevant sind oder nicht. Empfänger ebenso wie Sender wären nicht einmal in der Lage, das diffuse Etwas als Daten oder als Informationen zu identifizieren. Es handelte sich dann bestenfalls um ein bloßes Zeichenrauschen.
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Was die Frage der Daten (einschließlich der heute so prominenten Big Data) angeht, so ist es meines Erachtens eine irrige Vorstellung zu glauben, man müsse zunächst den Daten- und Informationsberg besteigen und dieser einmal bestiegene Daten- und Informationsberg führe dann aus sich heraus direkt zum Übergang ins Wissen. Der Daten-/Informationsberg würde dann, so die fehlgeleiteten Annahmen, entweder selbst bereits Wissen verkörpern, oder die Daten- und Informations-Kette würde sich aus sich selbst heraus nahtlos in Wissen fortschreiben. Wissen wäre dann lediglich ein weiterer kausaler Schritt in der Informations-Kette. Doch dies ist offenkundig nicht der Fall. Denn das einheimische Reich des Wissens verkörpert gegenüber der ihm vorausliegenden InformationsKette einen qualitativ und materialiter neuen Schritt. Übersprungen würde in dem Bild der Informations-Kette die produktive Rolle epistemischer und Handlungssowie Akteur-bezogener Perspektiven, Werte und Normen im Blick auf das, was überhaupt als eine Information und als ein Datum zu zählen vermag.
3 Kreativität des Perspektivismus Martina Plümacher sieht richtig, dass für mich die Auffassung der Menschen als „freie“ und „kreative Geister“ von besonderer Wichtigkeit ist. Dass Menschen aufgrund ihrer Conditio Humana nicht aus den Verstrickungen in Perspektivitäten heraustreten und einen gänzlich perspektive-freien Gesichtspunkt einnehmen können, ist die eine Seite. Plümacher betont aber sehr zu Recht die dazu komplementäre Seite: „Als freie, kreative Geister können Menschen ihre Perspektiven wechseln.“ (Kap. 4) Ich möchte die These formulieren, dass es eine Disposition des Menschen zur Kreativität gibt. Mit dieser Rede von Disposition meine ich, dass wir die Möglichkeit kreativen Perspektivengebrauchs und kreativer Wechselspiele von Perspektiven ergreifen oder auch liegenlassen können. Es besteht die Möglichkeit, aber es gibt keine natur- oder wesensgesetzliche Determination, kreativ zu sein bzw. entsprechende Potentiale und Fähigkeiten zu aktualisieren. Kreativ zu sein ist weder ein physio-biologisches Naturgesetz noch ein kategorischer Imperativ. Es ist eine Disposition.
3.1 Wissensformen und Kreativität Der Rekurs auf Wechselwirkungen und Interaktionen unterschiedlicher Wissensformen und Perspektivierungen vermag auch zu einer Antwort auf die Frage beizutragen, wie es überhaupt zu radikal Neuem kommen kann. Unter dem
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Stichwort der Vielfalt von Wissensformen denke ich hier beispielsweise an sprachliches, bildliches, theoretisches, praktisches, explizites, implizites, technisches, ästhetisches oder ethisches Wissen. Und unter dem Stichwort der Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven denke ich beispielsweise an individuelle, sozialkollektive, epistemische, zeichen-abhängige oder auf spezifische Ziele orientierte Gesichtspunkte. Kreativität im Alltag, in den Wissenschaften und Technologien ebenso wie in der Philosophie und in den Künsten ist, so die These, nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, dass in diesen Bereichen unter Einbeziehung unterschiedlicher, aber wechselwirkender Wissensformen und Perspektivierungen assoziiert, imaginiert, gedacht, experimentiert, gestaltet und agiert wird. Die ZuIPhilosophie und die systematische Wissensforschung stellen Instrumente für eine umfängliche Philosophie radikaler Kreativität bereit.³ Mit Blick auf radikale Revolutionierungen in den Wissenschaften sei als Beispiel, mit dem ich eine Anregung aus Nelson Goodmans Transfer-Modell der Metapher aufnehme, an eine der wirkmächtigsten Wechselwirkungen zweier unterschiedlicher Wissensformen und Perspektivierungen erinnert: an die Anwendung der Mathematik auf den Bereich der physikalischen Objekte und Ereignisse. Es sind die mathematischen Formalismen und die zugrunde gelegten mathematischen Gleichungen, kraft derer überhaupt erst umgrenzt und festgelegt wird, was in der theoretischen Physik als ein relevanter Gegenstand physikalischer Forschung zählt, der dann auch einer mathematischen Modellierung, in der Astrophysik beispielsweise der Urknall-Theorie, zugeführt werden kann. Des Näheren haben wir es hier mit einem Wechselspiel mathematischen und physikalischen Wissens zu tun. Denn um von den mathematischen Formalismen zu deren Anwendung im Bereich der physikalischen Gegenstände überzugehen, bedarf es erst noch eines expliziten Schrittes. Zugleich ist in dieser Übertragung und Anwendung der einen Wissensform im Feld der anderen ein Wechselspiel von theoretischem Wissen und von Anwendungswissen im Spiel und im Blick auf die Generierung neuen Wissens in Anspruch genommen. In der systematischen Wissensforschung zählt die Klärung der Prozesse und Phänomene der Kreativität erklärtermaßen zu den grundlegenden Themenfeldern. Wissens-, Perspektivitäts- und Kreativitäts-Forschung befördern einander wechselseitig. Offenkundig vermag der Rekurs auf die Zusammenspiele unterschiedlicher Wissensformen und unterschiedlicher Perspektivierungen zur Bearbeitung von Desideraten auch der Kreativitätsforschung beizutragen. Man denke hier an die in puncto Kreativität so grundlegenden Operationen wie:
Zu ersten Schritten in dieser Richtung vgl. etwa (Abel 2009), überarbeitete englische Version von (Abel 2006). Zum Folgenden siehe auch (Abel 2015c).
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Analogien zwischen unterschiedlichen Wissensformen und Perspektivierungen zu riskieren; zwischen Wissensformaten und Perspektiven zu wechseln; Wissensformen und Perspektiven nicht nur in ihren einheimischen, sondern auch in zunächst fremden Bereichen zum Einsatz zu bringen; in unterschiedlichen Wissensformen und Perspektivierungen sowie deren Kombinationen zu assoziieren; die unterschiedlichen Weisen der Evidenzgenerierung in wechselseitige und komplementäre Interaktion zu setzen.
3.2 Kreativität als emergenter Effekt der Wechselspiele von Wissensformen und von Perspektiven Die These lautet, dass wir im Rückgang in die Wechselspiele zwischen unterschiedlichen Wissenstypen sowie zwischen unterschiedlichen Perspektiven aufschlussreiche Hinweise in Bezug auf die Prozesse der Kreativität, mithin darüber erhalten, wie radikal Neues generiert werden kann. Diese These möchte ich im Folgenden am Beispiel der Architektur entwickeln und präzisieren (siehe ausführlicher Abel 2016). Die Merkmale von Personen, die von uns als kreativ bezeichnet werden, treffen mutatis mutandis auch auf die Mechanismen kreativer Prozesse zu. Im Folgenden gebe ich eine kurze Phänomenologie der Kreativität, deren Elemente ich als präsuppositive Annahmen in puncto Kreativität verstehe. Des Näheren geht es um Anforderungen, die wir als erfüllt unterstellen, wenn wir Personen und/oder Prozesse als kreativ bezeichnen. Die Beispiele, die ich im Folgenden zur Illustration von Merkmalen der Kreativität anführe, entstammen zwar dem Bereich der Architektur. Leicht jedoch könnten entsprechende Beispiele auch aus unserem alltäglichen oder aus dem wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Leben gegeben werden. Einige der Charakteristika kreativer Prozesse, die mit Wechselspielen unterschiedlicher und teils distribuierter Wissensformen sowie epistemischer Perspektiven zu tun haben, sind die folgenden: (a) Der Versuch, neue problemlösende Methoden, Praktiken und Strategien auf neue Weisen zum Einsatz zu bringen, beispielsweise durch Transfer natürlichorganischer Bauprinzipien auf architekturale Artefakte, etwa von der Bionik in die Architektur. (b) Der Vorrang Problem-orientierter vor Disziplinen-orientierter Strategien, beispielsweise mit dem Fokus auf den spezifischen Herausforderungen beim Bau eines Hospitals im Unterschied zu denen eines Museums. (c) Multidimensionales Assoziieren, beispielsweise unter Einschluss visueller, Materialbezogener, ästhetischer und konstruktionaler Wissenstypen und Perspektiven. (d) Verknüpfung von gedanklichen, visuellen und sprachlichen Prädikaten und Subjekten zu bislang ungewohnten Urteilen und Praktiken, beispielsweise im
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Günter Abel
Zusammenschluss bis dato noch nicht realisierter visueller Kombinationen architekturalen Bauens und Gestaltens natürlicher oder urbaner Umwelten. (e) Etablierung von neuen Analogien zwischen zunächst entfernt zueinander liegenden Bereichen, die bislang kaum oder gar nicht miteinander verknüpft wurden, beispielsweise in der Verbindung Asiatischer und Afrikanischer Komponenten des Bauens sowie der in diesen manifesten Wissensformen und Perspektiven mit westlicher Kultur des Bauens, wie etwa die Integration einer Art von Harmonie, die manchmal in Asiatischen Gebäuden verkörpert ist. (f) Transfer von Weisen bzw. Perspektiven des Bauens von einem Bereich in einen anderen zwecks innovativer Neu-Organisation von beispielsweise Materialien, Formen, Ideen und Praktiken, etwa in Übernahme organischer, geometrischer oder Computer-gestützter Verfahren in Konstruktionen der Architektur. (g) Simultanes Aktivieren unterschiedlicher Ideen, Bilder, Gedanken und Praktiken und der Versuch, diese zu produktiven Interaktionen anzustiften, beispielsweise angesichts unterschiedlicher Herausforderungen beim Gestalten eines Fußballstadions, eines Bahnhofs oder eines öffentlichen Platzes sowie der mit diesen jeweils korrelierten unterschiedlichen technisch-praktischen und ästhetischen Wissensformen und Perspektiven. (h) Die Produktion von Gedankenexperimenten, beispielsweise im Einbringen imaginierter oder fiktionaler Weisen des Wissens und Perspektivierens. (i) Modifikationen bislang üblicher Weisen des Sehens und des anschaulichen Denkens, beispielsweise durch gezieltes Provozieren verschiedener Perspektiven des Sehens, Wahrnehmens und Lesens von Gebäuden, Ensembles und Landschaften. (j) Das Aufbrechen und die Pluralisierung von monothematischen Ideen, in Form beispielsweise der Kritik an rein ästhetizistischen Konstruktionen des Bauens. (k) Das Risiko von Diskontinuitäten, beispielsweise im Bruch mit einem rein formalistischen Baustil. (l) Leben mit Ungewissheiten, beispielsweise eine neue Idee nicht gleich fallenzulassen, wenn die ersten Versuche sich nicht ohne weiteres realisieren lassen. (m) Wechsel visueller, handlungsorientierter und kognitiver Perspektiven, wie beispielsweise der Wechsel der Perspektiven von Form auf Material, oder von einer funktionalistischen auf eine sinnlich-ästhetische oder ethische Perspektive des Bauens. (n) Wechsel konstruktionaler und technischer Perspektiven, beispielsweise angesichts neuer Herausforderungen in puncto akustischer Klangmuster beim Bau einer Musikhalle. (o) Erfinden neuer Gesichtspunkte, beispielsweise im Übergang von rein geometrischen zu Lebenswelt-bezogenen Gebäuden oder Ensembles. (p) Kooperation von Methoden einer Disziplin mit Methoden anderer Disziplinen, beispielsweise in der Verbindung von funktionalistischen Methoden mit Methoden der Verwendung neuer synthetischer Materialien oder mit ästhetischen und ethischen Methoden eines guten Bauens für ein gutes Leben. (q) Kategorienfehler tentativ riskieren, beispielsweise im Über-Kreuz-Einsatz von visuellen, fiktionalen, ästhetischen, ethischen oder
Perspektivismus in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie
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material-bezogenen Perspektiven. (r) Hin- und Hergehen zwischen unterschiedlichen epistemischen Perspektiven und deskriptiven Systemen, beispielsweise im Wechsel von visuellen Systemen zu Systemen sprachlich-semantischer Deskription in Theorie und Praxis der Architektur. (s) Aufdecken und Modifizieren von verdeckten systemischen Kooperationen, Regeln, epistemischen und praktischen Werten und Normen, beispielsweise im Modifizieren und Wechseln von Hintergrund-Konstellationen hinsichtlich des Zusammenspiels etwa einer funktionalistischen, einer ästhetischen und einer ethischen Perspektive des Bauens. (t) Modifikation, Transformation und gegebenenfalls auch Verletzung etablierter Regeln, Prinzipien, Muster, Leitbilder, Werte und Normen, beispielsweise durch Wechsel bisheriger Beschreibungssysteme und Generierung neuer Regeln. Solche und weitere Merkmale betreffen die phänomenologischen und die strukturellen Merkmale von Kreativitäts-Prozessen selbst, nicht nur Persönlichkeitsmerkmale kreativer Personen. Nachdrücklich zeigen die aufgelisteten Kreativitäts-Merkmale, dass Kreativitäts-Prozesse von den Wechselspielen unterschiedlicher und teils distribuierter Wissensformen sowie von unterschiedlichen epistemischen Perspektivierungen abhängig sind und sich diesen verdanken. Kreativität kann daher verstanden werden als ein nicht vorhersagbarer Effekt im Wechsel und Wandel von unterschiedlichen Wissensformen und Perspektiven. Wenn es zu überraschenden, nicht prognostizierbaren und nicht kalkulierbaren, doch erfreulichen Emergenzen von Kreativität kommt, dann haben unterschiedliche Wechselspiele der skizzierten Art ihr Werk bereits getan. Und dann haben wir allen Grund, uns darüber zu freuen, – was wir ja auch tatsächlich tun.
Literatur Abel, Günter 2006: Die Kunst des Neuen. Kreativität als Problem der Philosophie, in: Abel, Günter (Hg.): Kreativität. Kolloquiums-Vorträge des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie, Hamburg, S. 1 – 21. Abel, Günter 2009: The Riddle of Creativity: Philosophy’s View, in: Meusburger, Peter / Funke, Joachim / Wunder, Edgar (Hg.): Milieus of Creativity, Dordrecht, S. 53 – 72. Abel, Günter 2012: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52. Abel, Günter 2015a: Interpretationswelten. Direkte und abgeleitete Wirklichkeiten, in: Fenomenologia 13, S. 69 – 87. Abel, Günter 2015b: Wissensforschung – Erweiterungen und Revisionen der Epistemologie, in: Koppelberg, Dirk / Tolksdorf, Stefan (Hg.): Erkenntnistheorie – Wie und Wozu? Münster, S. 385 – 434. Abel, Günter 2015c: Formen des Wissens im Wechselspiel, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 40/2 – 3, S. 143 – 160.
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Günter Abel
Abel, Günter 2016: Distributed Types of Knowledge, Epistemic Perspectives, and Creativity, in: Abel, Günter / Plümacher, Martina (Hg.): The Power of Distributed Perspectives, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 10), Berlin / Boston, S. 35 – 60.
Kapitel 14: Pluralität und Kreativität
Logi Gunnarsson
Warum es nur eine Welt gibt Abstract: Firstly, I argue that Abel and John McDowell share basic assumptions about experience and the way in which we directly experience the world. Secondly, I point out a central difference: Abel thinks that the interpretive nature of experience implies that – given the plurality of interpretations at the fundamental level – our experiences cannot be of one world. McDowell believes that our experiences must be of one world. Thirdly, I argue that McDowell’s criticism of coherentism is applicable to Abel’s conception of experience: If interpretatively different experiences correlate with different worlds, then experiences are not rationally constrained by the world and are “a frictionless spinning in a void.” Fourthly, I argue that, though pluralism needs to be taken more seriously than McDowell does, the issue of pluralism can only arise against the background of the assumption of one world. I thereby offer a belated response to Abel’s reply to my criticism in a 1996 journal symposium.
Günter Abel und John McDowell sind zwei der wichtigsten Gegenwartsphilosophen. Sie sind sich darin im Wesentlichen einig, welches Verhältnis zwischen Geist und Welt bestehen muss, damit Denken möglich ist. Sie sind sich aber darin uneinig, ob dieses Verhältnis notwendigerweise nur zu einer Welt bestehen muss. McDowell denkt, dass es so ist. Abel geht von vielen Welten aus. Im vorliegenden Beitrag geht es um diese Kontroverse. Indem ich Argumente von McDowell aufgreife, argumentiere ich für die Annahme von nur einer Welt.
1 Gemeinsamkeiten: „Zeichen der Wirklichkeit“ und „The Unboundedness of the Conceptual“¹ Die Gemeinsamkeiten von Abel und McDowell kann man sich anhand ihrer Auffassungen von nicht-irrtümlicher Erfahrung klar machen. Nach Abel gilt: „jede gehaltvolle und nicht-irrtümliche Erfahrung ist immer schon Erfahrung von Wirklichkeit“ (ZdW 13). McDowell zufolge können wir Erfahrung verstehen als „openness to the layout of reality“ (1996: 26). Grundlage für diese Behauptungen Die deutsche Formulierung ist der Buchtitel eines der Bücher von Abel und die englische Phrase die Überschrift der Vorlesung II von (McDowell 1996). https://doi.org/10.1515/9783110522280-062
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Logi Gunnarsson
ist eine bestimmte Auffassung von Erfahrung und Wirklichkeit. In seiner Version dieser Auffassung geht Abel von Zeichen und Interpretationen aus, während McDowell von Begriffen spricht. Dieser Unterschied ändert nichts an der Gemeinsamkeit, um die es hier geht. Nach Abel ist Erfahrung zeichenverfasst und interpretationsabhängig. Wirklichkeit muss verstanden werden als zeichenverfasste und interpretativ formierte Wirklichkeit. So ist das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit ein „drehtürartiges“ (Iw 177; vgl. SZI 50; ZdW 13, 15): Einerseits muss Erfahrung als zeichenverfasste und interpretationsabhängige Erfahrung von einer zeichenverfassten und interpretativ formierten Wirklichkeit verstanden werden und andererseits muss Wirklichkeit als eine in Zeichen- und Interpretationsprozessen formierte Wirklichkeit verstanden werden. Dadurch, dass Erfahrung ein die Wirklichkeit formierender Zeichen- und Interpretationsprozess ist und Wirklichkeit eine immer schon in Zeichen- und Interpretationsprozessen formierte Wirklichkeit ist, kann keine (überbrückte) Kluft zwischen nicht-irrtümlicher Erfahrung und Wirklichkeit bestehen. Erfahrung ist kein Etwas, das im Nicht-Irrtumsfall mit einer von der Erfahrung begrifflich unabhängigen Wirklichkeit übereinstimmt, sondern in nicht-irrtümlicher Erfahrung wird die Wirklichkeit selbst erfahren (vgl. Iw 175 ff.; SZI 46 – 51; ZdW 13 – 18). Diesen Gedankengang findet man auch bei McDowell, wenn er schreibt: „That things are thus and so is the conceptual content of an experience, but if the subject of the experience is not misled, that very same thing, that things are thus and so, is also a perceptible fact, an aspect of the perceptible world.“ (1996: 26) Es ist für unsere Zwecke nicht entscheidend, dass McDowell den Inhalt von Erfahrung begrifflich und propositional versteht.² Wichtig ist, dass bezüglich Erfahrung und Wirklichkeit bei McDowell die Begrifflichkeit der Erfahrung die gleiche Rolle spielt wie bei Abel die Zeichenverfasstheit und die Interpretativität.Wie nach Abel das Verhältnis zwischen Erfahrung und Wirklichkeit ein drehtürartiges ist, versteht McDowell es als ein Verhältnis, in dem weder Erfahrung noch Wirklichkeit ‚Priorität‘ hat (1996: 28): Einerseits muss Erfahrung aufgrund ihrer begrifflichen Struktur im Nicht-Irrtumsfall als Erfahrung der begrifflichen Struktur der Wirklichkeit verstanden werden. Andererseits muss die Struktur der Wirklichkeit als etwas verstanden werden, das gedacht und erfahren werden kann und somit die begrifflichen Strukturen von Gedanken und Erfahrungen hat (vgl. 1996: 24– 29).³ In (McDowell 2009a) wird die Auffassung, dass Erfahrung propositionalen Inhalt hat, aufgegeben, aber es wird an ihrem begrifflichen Inhalt festgehalten. Interessanterweise verweisen Abel sowie McDowell in diesem Kontext auf Paragraf 95 von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen, in dem Wittgenstein schreibt (vgl. ZdW 17; McDowell 1996: 27): „Wenn wir sagen, meinen, daß es sich so und so verhält, so halten wir mit
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Zusammenfassend ist die Grundlage für die Behauptung, dass nicht-irrtümliche Erfahrung „immer schon Erfahrung von Wirklichkeit“ (Abel) bzw. „openness to the layout of reality“ (McDowell) ist, bei beiden Autoren dieselbe: Erfahrung und Wirklichkeit müssen so verstanden werden, dass sie die gleiche interpretative bzw. begriffliche Struktur haben.
2 Unterschiede: „Interpretationswelten“ vs. „Mind and World“⁴ Es ist eines der zentralen Anliegen von Abel, für die radikale Auffassung zu argumentieren, dass wir von vielen Welten ausgehen müssen. Nach McDowell hingegen müssen wir annehmen, dass es nur eine Welt gibt. In diesem Abschnitt geht es um diesen Unterschied. Die „ursprünglich-produktiven und sich in den kategorialisierenden Zeichenfunktionen selbst manifestierenden konstruktbildenden Komponenten, die in jeder Organisation von Erfahrung bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen sind“ werden von Abel „Interpretationen1“ genannt (Iw 14 f.; vgl. SZI 27). Davon sind zwei andere „Ebenen“ (Iw 14) bzw. „Stufen“ (SZI 26) des Interpretationsbegriffs zu unterscheiden: Interpretationen3 sind „die aneignenden Deutungen, z. B. die Vorgänge des Beschreibens, Theoriebildens, Erklärens, Begründens oder Rechtfertigens“, während „die durch Gewohnheit verankerten und habituell gewordenen Gleichförmigkeitsmuster“ als „Interpretationen2“ bezeichnet werden (Iw 15; vgl. SZI 27). Abels Argument für die Annahme vieler wirklicher Welten bezieht sich auf die erste Stufe. Auf dieser Ebene ist es nicht möglich, die Interpretationsprozesse als Interpretationen von einer Welt zu verstehen, die gegeben ist und die es besser zu verstehen gilt. Interpretationen1, die in jeder Erfahrung in Anspruch genommen werden, sind weltformierend. Alternative Interpretationen1 bedeuten deshalb alternative Welten. Daher muss man „von so vielen Welten ausgehen, wie es kohärente Interpretation1-Welten gibt“ (Iw 127; vgl. Iw 157– 160, 472 ff.; SZI 31 f.).⁵
dem, was wir meinen, nicht irgendwo vor der Tatsache; sondern meinen, daß das und das – so und so – ist.“ (Wittgenstein 1953: 294). Dies sind natürlich Titel von Büchern von Abel und McDowell. Nach Abel können wir aber immer nur in einer Interpretation1-Welt leben (Iw 477) und können die Grenze dieser Welt „nicht von außen betrachten“ (Iw 114); mehr dazu in (Gunnarsson 1996: 871 f.).
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Nach McDowell setzt Denken über die Welt der Erfahrung voraus, dass es dabei um die Erfahrung einer einzigen Welt geht. Dies ist, denke ich, ganz klar einer der zentralen Gedanken seiner Philosophie. Er spricht auch durchgehend von ‚der Welt‘, zu der wir in der Erfahrung offenen Zugang haben. Es besteht also meines Erachtens kein Zweifel, dass McDowell Abels Annahme einer Weltenvielfalt ablehnen würde. Um diese Interpretation zu untermauern und den Kontrast zwischen den Positionen der beiden Autoren zu verdeutlichen, möchte ich aber auf einige konkrete Stellen und Themen bei McDowell eingehen. McDowell grenzt sich klarerweise von Richard Rortys Perspektivismus ab. Nach Rorty gibt es eine Pluralität gleichlegitimer Interpretationen oder Vokabulare. Die Wirklichkeit kann über die Richtigkeit solcher Interpretationen oder Vokabulare nicht entscheiden (vgl. Rorty 1989; Rorty 1998). McDowells Ablehnung von Rortys Position beruht u. a. darauf, dass die Wirklichkeit auf diese Weise in Rortys Konzeption keine Rolle spielt (vgl. McDowell 1996: 146 – 156; McDowell 2009c): Rorty zufolge ist die Welt „well lost“ (Rorty 1982). In Abels Konzeption ist dies anders. Interpretationen3 können an den in Interpretationen1 formierten Welten „scheitern“ (Iw 15, 176). Auch wenn es meines Wissens in McDowells Schriften keine explizite Auseinandersetzung mit solchen Positionen wie der von Abel gibt (beispielsweise auch nicht mit dem Ansatz Nelson Goodmans, der Abels Theorie ähnlich ist⁶), lehnt er dennoch solche Positionen sicherlich ab. Diese Interpretation McDowells möchte ich zusätzlich begründen, indem ich auf einige seiner Äußerungen im Kontext einer Diskussion von Hans-Georg Gadamer eingehe, um dann einige Worte über seine Metapher der „openness to reality“ zu sagen (1996: 26). McDowell kritisiert Michael Friedmans Interpretation von Gadamers Rede von unterschiedlichen Welten und legt diese Rede in Kontrast zu Friedman folgendermaßen aus:⁷ „This talk of different ‚worlds‘ is only vivid imagery for the undisputed idea of striking differences between mutually accessible views of the one and only world.“ (McDowell 2009b: 140) Dabei geht es aber nicht nur um die Kritik einer Interpretation Gadamers, sondern auch um die Erläuterung der Auffassung, die McDowell meint mit Gadamer zu teilen, „that there is only one world“ (2009b: 141). Nach McDowell beruht die Legitimität der Rede von „openness to reality“ auf zwei Grundlagen. Die eine Legitimierung wurde bereits im ersten Abschnitt erläutert: Wahrnehmung und Welt haben die gleiche begriffliche Struktur. Die an-
Zu den Gemeinsamkeiten und Differenzen der Positionen von Abel und Goodman siehe (Gunnarsson 1996: 867– 872). Gemeint ist die Diskussion in (Gadamer 1986: 450 ff.).
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dere Grundlage besteht in der Passivität von Erfahrung: „The image of openness is appropriate for experience in particular; and to bring the image into play, we need to appeal to the distinctive passivity of experience.“ (1996: 29) Die Passivität von Erfahrung bedeutet nicht, dass Erfahrung keinerlei Aktivität involviert. Aber: „one’s control over what happens in experience has limits; one can decide where to place oneself, at what pitch to tune one’s attention, and so forth, but it is not up to one what, having done all that, one will experience.“ (1996: 10n) Was man in Erfahrung passiv erfährt, ist die Welt: „in enjoying an experience one is open to manifest facts, facts that obtain anyway and impress themselves on one’s sensibility“ (1996: 29). Auch wenn McDowell es an dieser Stelle nicht explizit sagt, ist klar, welches Bild hier gezeichnet wird. Es ist das Bild einer Welt, die auf das Wahrnehmungsvermögen von Personen einwirkt und die bei erfolgreicher Ausübung dieses Vermögens sich ihnen offenbart (vgl. McDowell 2009d). Mit seiner Rede von „openness to reality“ meint McDowell also den Zugang zu einer einzigen Welt, nicht einer von vielen Welten. Es ist natürlich eine weitere Frage, ob McDowell damit Recht hat, dass die Rede von „openness to reality“ mit einer Vielfalt von Welten unvereinbar ist. Dafür werde ich erst im vierten Abschnitt argumentieren.
3 Die Gespenster des Kohärentismus und Idealismus McDowell wird von Abel nicht oft direkt diskutiert, aber folgende Stelle enthält eine bemerkenswerte These über McDowells Position: „Sofern die Zeichen direkt verstanden werden, müssen sie nicht erst noch mit der Welt und dem Sinn verbunden werden. Diese Verbindung ist in der Tiefe einer eingespielten Interpretations-Praxis, mithin im gelingenden und erfolgreichen Verwenden und Verstehen der Zeichen stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen. In diesem Sinn kann die Position der Interpretationsphilosophie geradezu als ein Voll-Realismus angesehen werden. Das ältere Konfrontations-Modell von Idealismus und Realismus wird durch ein zeichen- und interpretationsphilosophisches Drehtür-Modell ersetzt. In letzterem ist Realismus in einer deutlich stärkeren Weise konzipierbar, als dies in ersterem Modell möglich ist. So sieht sich der Interpretationist auch nicht in der Situation etwa John McDowells, die Welt gegen idealistische oder kohärentistische Positionen der Gegenwartsphilosophie zurückgewinnen zu müssen, um verständlich machen zu können, daß wir unsere
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Konzeptionen erfolgreich auf die Welt anwenden.⁸ Der Interpretationist hatte die Welt erst gar nicht verloren, da der direkte Gebrauch und das direkte Verstehen der Interpretationszeichen, mithin der realitätshaltigste Zeichengebrauch überhaupt, die Welt gar nicht verlieren kann.“ (SZI 50 f.) Die Themen des Kohärentismus einerseits und des Idealismus andererseits tauchen in (McDowell 1996) an zwei dialektisch unterschiedlichen Stellen auf. McDowell geht davon aus, dass Denken über die Erfahrungswelt nur möglich ist, wenn das Denken rationalen Einschränkungen seitens der Erfahrung und der Welt ausgesetzt ist. Die Position des Kohärentismus, die er Donald Davidson zuschreibt, schließt solche rationalen Einschränkungen aus. Nach dem Kohärentismus bestehen zwischen Überzeugungen und Erfahrung keine rationalen Verbindungen, sondern nur rein kausale Beziehungen. Begründungsbeziehungen kann es nur zwischen Überzeugungen geben. Nach McDowell würde dies aber bedeuten, dass es keine Gedanken über die Welt geben kann. Da nach dem Kohärentismus unsere Überzeugungen von der Erfahrung nicht rational eingeschränkt werden, kann das Denken seitens der Welt keinen rationalen Einschränkungen unterliegen und so kann es überhaupt keinen Bezug des Denkens auf die Welt geben (vgl. 1996: 13 – 18). ‚Das Denken‘ wäre kein Denken über die Welt, sondern „a frictionless spinning in a void“ (11). McDowells eigener Ansatz soll erklären, wie man den Kohärentismus vermeiden und die rationalen Einschränkungen seitens der Erfahrung erklären kann, ohne dem „Myth of the Given“ zu verfallen (vgl. 1– 18). In (McDowell 1996) taucht der Idealismus erst auf, nachdem McDowell seine Position als Alternative zum Kohärentismus und Mythos des Gegebenen entwickelt hat. Sein Ansatz soll Wahrheitsmomente in den beiden Auffassungen aufgreifen, ohne die Fehler dieser Positionen zu begehen: Von Vertretern des Kohärentismus wird richtig gesehen, dass die Einschränkungen des Denkens rational sein müssen; von Verfechtern des Mythos des Gegebenen wird richtig gesehen, dass Überzeugungen Einschränkungen von außerhalb der Überzeugungen brauchen (vgl. 13 – 18). Der Idealismus hingegen wird nicht als eine Position präsentiert, in der ein Wahrheitsmoment steckt. Nachdem McDowells Position im Wesentlichen entwickelt worden ist, taucht der Idealismus als der Einwand auf, dass McDowells Position auf einen Idealismus hinauslaufe: Es wäre Idealismus, die Welt als begrifflich strukturiert zu verstehen (vgl. 25 f.). Beide Teile seiner Antwort in (McDowell 1996) auf den Idealismusvorwurf sind z.T. erläutert worden (vgl. aber auch McDowell 2009b: 134– 141): Einerseits
An dieser Stelle im Zitat habe ich Abels Fußnotenverweis auf McDowells Mind and World weggelassen.
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verweist er auf das nicht-prioritäre (in Abels Terminologie: drehtürartige) Verhältnis zwischen Gedanken und Welt. Andererseits unterscheidet er zwischen gedanklichen Inhalten und Akten des Denkens.Wenn davon die Rede ist, dass das Denken rationalen Einschränkungen von außerhalb des Denkens unterliegt, ist damit gemeint, dass diese Einschränkungen außerhalb von Denkakten liegen, nicht aber außerhalb von gedanklichen Inhalten. Das aktive Denken wird von Erfahrungen einschränkt, in denen der Denker passiv durch die gedanklichen Inhalte der Erfahrung direkt Aspekte der Welt erfährt (vgl. 1996: 27 ff.). Bezüglich der Themen des Kohärentismus und des Idealismus sitzen Abel und McDowell – von der Motivation und dem inhaltlichen Anspruch ihrer Theorien her betrachtet – im selben Boot. Die Motivationen für ihre Positionen sind vergleichbar. In der Gegenwartsphilosophie bzw. in der Philosophie der Neuzeit ist die Welt verloren gegangen. Es gilt nach Abel und McDowell deshalb eine Position zu entwickeln, in der keine Brücke vom Geist zur Welt gebaut werden muss, da ein solches Unterfangen aussichtslos wäre. Wenn man von einer Kluft zwischen Geist und Welt ausgeht, die es zu überbrücken gilt, hat man bereits verloren. Wie im ersten Abschnitt erläutert, bieten Abel und McDowell im Wesentlichen inhaltlich die gleiche Lösung für den Verlust der Welt in der Gegenwartsphilosophie an: Das Verhältnis zwischen Geist und Welt muss als ein drehtürartiges verstanden werden, damit es die Kluft zwischen Geist und Welt gar nicht erst geben kann. Dies ist keine Lösung eines ‚Problems‘, sondern die Entwicklung einer Position, die es einem ermöglicht zu sehen, dass es kein ‚Problem‘ einer Überbrückung einer solchen Kluft gibt (vgl. McDowell 2009d: 243 – 246). Deshalb denke ich, dass Abels Kritik an McDowell im obigen Zitat nicht gerechtfertigt ist. Der zweite Satz in der Einleitung zu Abels Zeichen der Wirklichkeit lautet: „Grundanliegen des vorliegenden Buches ist es, eine Position jenseits der Dichotomie von passiver Spiegelung und bloßer Konstruktion und zugleich jenseits von Essentialismus und Relativismus zu gewinnen.“ (ZdW 13) Dies ist auch das Grundanliegen von McDowell: In McDowells Terminologie handelt es sich um eine Position jenseits vom Mythos des Gegebenen und Kohärentismus. Nachdem die Autoren eine solche Position gewonnen haben, gilt nach beiden Autoren, dass sie „die Welt erst gar nicht verloren“ (SZI 50) hatten. Es gibt allerdings die wichtige inhaltliche Differenz, dass Abel von vielen Welten ausgeht. Macht dies einen Unterschied, wenn es um die Gespenster des Kohärentismus und Idealismus geht? Ich denke, ja. Im nächsten Abschnitt werde ich dafür argumentieren, dass Abels Annahme der Weltenvielfalt bedeutet, dass er den Problemen ausgesetzt ist, die McDowell beim Kohärentismus feststellt.
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4 „A frictionless spinning in a void“ McDowells Kritik des Kohärentismus kann nicht direkt auf Abels Interpretationismus übertragen werden. Im Kohärentismus ist keine rationale Verbindung zwischen Überzeugungen und Erfahrung möglich. In der Interpretationsphilosophie hingegen können Interpretationen3 an den durch Interpretationen1 geprägten Erfahrungen scheitern. Wie ich jetzt zeigen möchte, ist die Interpretationsphilosophie aber schließlich demselben Problem wie der Kohärentismus ausgesetzt: Die Interpretationen1 sind „a frictionless spinning in a void“. Abel betont, dass es nicht beliebig viele Interpretationswelten gibt: „Denn es geht hier nicht um Varianten eines ‚anything goes‘, sondern um Vielheit und Relativität unter strengen Einschränkungen. Vor allem ist die Kohärenzanforderung hervorzuheben, die über die formale Konsistenz hinaus auch die Bedingungen der empirischen Gültigkeit einschließt.“ (Iw 158) So wird die Pluralität legitimer Interpretationen1 eingeschränkt. Was man aber nicht sagen kann, ist, dass die Welt Interpretationen1 legitimiert oder als richtig erweist. Dies möchte ich anhand eines Beispiels erläutern. Abel schreibt in einer Auseinandersetzung mit Hilary Putnams internem Realismus: „Außerdem akzentuiert der Interpretationist die Pluralität der Welten stärker als dies der interne Realist tut, für den es sich in einem bestimmten Sinne doch noch um ‚ein und dieselbe‘ Welt handelt, da die unterschiedlichen Versionen ‚deeply related‘⁹ seien. Hier ist die Vorstellung leitend, daß es ‚dieselbe‘ Welt sei, die das eine Mal z. B. als aus Tischen und Stühlen, das andere Mal z. B. als aus Partikeln und Feldern bestehend beschrieben wird. Der Interpretationist dagegen betont zunächst, daß mit jeder der unterschiedlichen Verwendungsweisen der kategorialisierenden Grundbegriffe strenggenommen nicht nur eine andere Version ‚derselben‘ Welt, sondern in dem erläuterten Sinne […] eine andere Welt verbunden ist.“ (Iw 476) Begriffe von Tischen und Stühlen einerseits und Partikeln und Feldern andererseits sind also Beispiele für Interpretationen1, die zwei unterschiedliche Welten formen. McDowell (und der interne Realist) können sagen, dass die Begriffe Tisch, Stuhl, Partikel und Feld alle zu einer richtigen Beschreibung der Welt taugen, weil die Welt so ist, dass sie mithilfe dieser Begriffe richtig beschrieben werden kann. Dies kann Abel nicht sagen. Wenn die zwei Interpretationen1 zwei Welten bedeuten, muss der Unterschied zwischen den Welten auf die Interpretationen1 zurückgeführt werden. Die relevanten Interpretationen1 können deshalb nicht durch die Beschaffenheit der Welt legitimiert werden. Die An dieser Stelle im Zitat habe ich Abels Verweis auf Putnams The Many Faces of Realism weggelassen.
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Interpretationen1 formen die Welt und können nicht an ihr scheitern oder durch sie legitimiert werden. Wenn Interpretationen1 durch die von diesen Interpretationen1 formierte Welt nicht legitimiert werden können, ergeben sich interessante Konsequenzen. Eine erste Konsequenz betrifft die Drehtürmetapher. Im ersten Abschnitt hatte ich erläutert, dass Abel sowie McDowell das Verhältnis zwischen Geist und Welt als ein drehtürartiges verstehen wollen. Diese Gleichsetzung von Abel und McDowell beruhte u. a. darauf, dass McDowell das Verhältnis von Geist und Welt als ein Verhältnis ohne Priorität versteht. Wenn mein Argument stimmt, zwingt Abels Annahme einer Vielfalt von Welten ihn dazu, den Interpretationen1 der Welt gegenüber eine gewisse Priorität zu verleihen. Die Identität einer Welt – ihre Unterscheidung von anderen Welten – ist von der relevanten Interpretation1 abhängig. Deshalb kann eine Interpretation1 nicht durch die von ihr formierte Welt legitimiert werden. In diesem Sinn hat eine bestimmte Interpretation1 gegenüber der relevanten Welt Priorität. Es stellt sich hier die Frage, ob aufgrund dieser Priorität die Drehtürmetapher noch angebracht ist. Da jedoch nichts Substantielles davon abhängt, ob Abels Ansatz treffend durch die Drehtürmetapher beschrieben wird, werde ich dieser Frage aber nicht weiter nachgehen. Eine zweite Konsequenz ist aber schwerwiegend. Es stellt sich heraus, dass McDowells Kritik des Kohärentismus doch auf Abels Interpretationsphilosophie zutrifft. Da nach McDowell in Davidsons Kohärentismus keine rationalen Verbindungen zwischen Überzeugungen und Erfahrungen bestehen, konzentriert sich seine Kritik auf dieses Verhältnis. Die Pointe seiner Kritik ist aber eigentlich, dass Überzeugungen im Kohärentismus keinen rationalen Einschränkungen seitens der Welt unterliegen. Dies gilt nun genauso für Interpretationen1 in der Interpretationsphilosophie. Daraus folgt: Wenn man von einer Vielfalt der Welten ausgeht, können Interpretationen1 sich nicht auf die Welt beziehen: Sie sind „a frictionless spinning in a void“. Ich habe nicht gezeigt, dass McDowells Kritik am Kohärentismus richtig ist. Gezeigt wurde nur, dass sie auch auf Abels Interpretationsphilosophie zutrifft. Wenn McDowell Recht hat, macht der Kohärentismus es unmöglich, dass es Denken über die Welt der Erfahrung gibt. Das gleiche müsste dann für Abels Interpretationsphilosophie gelten.
5 Pluralität der Interpretationen Es ist eine zentrale Aufgabe der Philosophie zu erklären, wie es eine Vielzahl richtiger Interpretationen der Welt geben kann, die dennoch miteinander anscheinend nicht vereinbar sind. Auch wenn ich mit Abels Lösung dieses Problems
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nicht einverstanden bin, ist seine Position zu diesem Thema sicherlich einer der wichtigsten Beiträge zur Gegenwartsphilosophie. McDowell scheint an diesem Thema aber relativ wenig interessiert zu sein. Wie soll man nun die Pluralität von richtigen und konkurrierenden Interpretationen verstehen, wie sie sich beispielsweise in den Begriffen Tisch und Stuhl einerseits und Partikel und Feld andererseits zeigt? Wenn meine bisherige Argumentation stimmt, muss man sie als Interpretationen ein und derselben Welt verstehen. Die Frage ist dann, wie es richtige aber unterschiedliche Interpretationen ein und derselben Welt geben kann. Meines Erachtens gibt es zwei Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten. Einerseits könnte man bestreiten, dass es wirklich konkurrierende Interpretationen1 gibt. Wir können verstehen, dass man die Welt sowohl mithilfe der Begriffe Tisch und Stuhl als auch mithilfe der Begriffe Partikel und Feld richtig beschreiben kann. Wenn das aber so ist, sind diese Begriffe dann nicht auf einer höheren Ebene als der Ebene der Interpretationen1 zu verorten (d. h. auf den Ebenen der Interpretationen2+3)? Mit anderen Worten: Kann man nicht immer für jeden Kandidaten für Begriffe, die angeblich der Ebene der Interpretationen1 zuzuordnen sind und miteinander in Konkurrenz stehen, zeigen, dass diese Begriffe einer höheren Ebene zuzuordnen sind und den höheren Ebenen eine einheitliche Interpretation1-Ebene zugrunde liegt? Auf diese Möglichkeit habe ich in (Gunnarsson 2001) kurz hingewiesen und sie soll hier nicht weiter diskutiert werden. Eine andere mögliche Antwort auf diese Frage würde mit dem Zugeständnis beginnen, dass es auf der Ebene der Interpretationen1 in der Tat richtige aber konkurrierende Interpretationen1 gibt. Die Aufgabe wäre dann zu zeigen, wie diese Annahme damit vereinbar ist, dass es nur eine Welt gibt, deren Verhältnis zum Geist als ein drehtürartiges aufzufassen ist – also eine begrifflich strukturierte bzw. in Zeichen verfasste Welt. Dieser Aufgabe bin ich in (Gunnarsson 1996) nachgegangen. Im vorliegenden Aufsatz will ich diese Frage aber nicht weiter thematisieren. Zum Schluss möchte ich nur betonen, an welcher Stelle in der philosophischen Debatte die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wirklichkeit und der Pluralität von Interpretationen auftaucht. Putnam mag mit seinem internen Realismus die Position vertreten, dass es nur eine Welt gibt, von der es aber viele unterschiedliche richtige Interpretationen geben kann. In einem Symposium zu Abels Interpretationswelten habe ich selbst eine solche Auffassung vertreten und sie den „interpretationspluralistischen Monismus“ genannt (vgl. Gunnarsson 1996). In seiner Antwort auf meinen Beitrag hat Abel geschrieben, dass der Vertreter des interpretationspluralistischen Monismus zeigen müsse, dass „die Annahme ‚der Ein und Derselben Welt‘ konditional ist, wir es mithin gar nicht mit einer bestimmten Welt und nicht mit bestimmten Interpretationen zu tun haben könnten, wenn nicht ‚Die Eine Welt‘
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angenommen wäre.“ (Abel 1996: 909) Der vorliegende Beitrag liefert den von Abel erbeteten Nachweis: Bestimmte Interpretationen kann es nur dann geben, wenn es nur eine Welt gibt. Sonst wären unsere Interpretationen nur „a frictionless spinning in a void“. Aus meiner Sicht ist die Argumentationssituation also die folgende: Damit Denken möglich ist, müssen wir von einer und nur einer Welt ausgehen, die begrifflich strukturiert bzw. in Zeichen verfasst ist. Die Frage nach der Pluralität von Interpretationen taucht erst vor diesem Hintergrund auf. Wir können also die Tatsache, dass es mehrere richtige und anscheinend konkurrierende Interpretationen gibt, nicht verwenden, um für die Pluralität wirklicher Welten zu argumentieren. Die eigentliche Frage bezüglich der Pluralität von Interpretationen ist deshalb: Wie kann man die Annahme von einer einzigen Welt und die Annahme von vielen unterschiedlichen richtigen Interpretationen miteinander vereinbaren, ohne in einen metaphysischen Realismus zu verfallen?¹⁰
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1996: Interpretationsphilosophie. Kommentare und Repliken, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44/5, S. 903 – 916. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Gadamer, Hans-Georg 1986: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 5. durchges. u. erw. Aufl., in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen. Gunnarsson, Logi 1996: Jenseits von Gegebensein und Machen. Interpretationspluralistischer Monismus als Alternative zu Abels Weltenvielfalt, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44/5, S. 867 – 878. Gunnarsson, Logi 2001: Günter Abels Interpretationismus im Kontext der Gegenwartsphilosophie, in: Information Philosophie 29/4, S. 30 – 35. McDowell, John 1996: Mind and World. With a New Introduction, Cambridge, Mass. McDowell, John 2009a: Avoiding the Myth of the Given, in: ders.: Having the World in View. Essays on Kant, Hegel, and Sellars, Cambridge, Mass., S. 256 – 272. McDowell, John 2009b: Gadamer and Davidson on Understanding and Relativism, in: ders.: The Engaged Intellect. Philosophical Essays, Cambridge, Mass., S. 134 – 151. McDowell, John 2009c: Towards Rehabilitating Objectivity, in: ders.: The Engaged Intellect. Philosophical Essays, Cambridge, Mass., S. 204 – 224. McDowell, John 2009d: Experiencing the World, in: ders.: The Engaged Intellect. Philosophical Essays, Cambridge, Mass., S. 243 – 256.
Ich danke Nadja El Kassar für die gründliche redaktionelle Hilfe.
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Logi Gunnarsson
Rorty, Richard 1982: The World Well Lost, in: ders.: Consequences of Pragmatism, Minneapolis, S. 3 – 18. Rorty, Richard 1989: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge, Mass. Rorty, Richard 1998: The Very Idea of Human Answerability to the World. John McDowell’s Version of Empiricism, in: ders.: Truth and Progress. Philosophical Papers, Volume 3, Cambridge, Mass., S. 138 – 152. Wittgenstein, Ludwig 1953, Philosophische Untersuchungen, in: Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 1, 6. Aufl., Text v. J. Schulte neu durchges., Frankfurt a. M. 1989, S. 225 – 580.
Günter Abel
Die Einheit der Welt und die Vielheit der Wirklichkeiten Replik zum Beitrag von Logi Gunnarsson Der Beitrag von Logi Gunnarsson entwickelt wichtige Argumente zugunsten der These, dass und warum es nur eine Welt, nicht jedoch eine Pluralität von Welten gibt. Insofern die Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuIPhilosophie] in einem bestimmten und noch zu erläuternden Sinne mit der Möglichkeit vieler Welten rechnet, betrifft der entsprechende Dialog eine grundlegende Problematik. Gunnarsson setzt damit das Gespräch zwischen uns in puncto Einheit und Vielheit der Welten fort, das wir nach Erscheinen der Interpretationswelten (Iw) im Rahmen des in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie veröffentlichten Symposiums zu diesem Buch begonnen haben.¹ Bestens ist Logi Gunnarsson mit dem Profil und den Argumentationslinien der ZuI-Philosophie vertraut. Überaus trefflich hat er die Analysen, Positionen und Perspektiven der ZuI-Philosophie in Beziehung gesetzt zu den wichtigsten Strömungen der Gegenwartsphilosophie und ihren spezifischen Charakter innerhalb dieses Szenarios markiert (siehe Gunnarsson 2001). Im vorliegenden Beitrag zeigt sich diese Vertrautheit mit der ZuI-Philosophie vor allem darin, dass er sie in einen direkten Dialog zwischen John McDowell und mir schickt. Gunnarsson ist für diesen Dialog bestens ausgewiesen, da er intimer Kenner nicht nur der ZuI-Philosophie, sondern gleichermaßen auch der Philosophie John McDowells ist. So vermag er präzise und trefflich zunächst die Gemeinsamkeiten zwischen McDowells Mind and World (1996) auf der einen und den Zeichen der Wirklichkeit (ZdW) sowie den Interpretationswelten (Iw) auf der anderen Seite herauszuarbeiten. Zugleich greift er Argumente von McDowell auf, um seine Annahme von nur einer Welt zu begründen. Meine Replik auf den Beitrag von Gunnarsson möchte ich in den folgenden fünf Hinsichten entfalten: 1. Das adualistische Verhältnis von Erfahrung und Wirklichkeit. 2. Interne und konditionale Pluralität. 3. Die Relevanz der Annahme einer Welt. 4. Realitätsannahmen in der ZuI-Philosophie. 5. ZuI-Philosophie diesseits von Kohärentismus und Mythos des Gegebenen.
Siehe die verschiedenen Beiträge sowie meine Kommentare und Repliken in (Abel 1996). https://doi.org/10.1515/9783110522280-063
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1 Das adualistische Verhältnis von Erfahrung und Wirklichkeit Sehr zu Recht stellt Gunnarsson die Gemeinsamkeiten zwischen vor allem den Zeichen der Wirklichkeit (ZdW) und Mind and World (McDowell 1996) hinsichtlich der adualistischen Verschränktheit von nicht-irrtümlicher Erfahrung und Wirklichkeit heraus. In der ZuI-Philosophie wird betont, dass nicht-irrtümliche Erfahrung immer schon Erfahrung von Wirklichkeit ist (wie Gunnarsson aus Iw, SZI und ZdW zitiert). Und sehr zu Recht sieht er hier eine grundlegende Gemeinsamkeit mit McDowells Position, Erfahrung als „openness to the layout of reality“ (McDowell 1996: 26) zu konzipieren. Dass diese adualistische Verschränktheit von Erfahrung und Wirklichkeit sowie beider Binnenverfassungen in der ZuI-Philosophie als zeichenverfasst und interpretationsabhängig, bei McDowell dagegen als begrifflich und propositional konzipiert wird, ist für Gunnarssons Zwecke nicht entscheidend. Sofern es jedoch grundsätzlich auch um das Verhältnis dieser beiden Weisen des Philosophierens geht (mit Rekurs entweder auf die ZuI-Prozesse oder auf das Begriffliche und Propositionale) halte ich diesen Unterschied freilich für überaus relevant. In der Sicht der ZuI-Philosophie ist die Erfahrungswirklichkeit keineswegs primordial begrifflich und propositional verfasst. Aber ich folge Logi Gunnarsson, wenn er in seiner Argumentation vor allem auf die adualistische Verschränkung von Erfahrung und Wirklichkeit abhebt. Und in dieser Hinsicht stimme ich mit McDowell nachdrücklich überein. Zwischen Erfahrung und Wirklichkeit besteht keine Kluft, nicht einmal eine Priorität der einen Dimension vor der anderen oder vice versa. Es bedarf weder eines Brückenschlags, um die vermeintliche Kluft zu schließen, noch ist das Bild überzeugend, dass die Kluft zwar akzeptiert, aber bereits als überbrückt gedacht werden müsse. Dieses ganze Bild geht an dem ursprünglich einheitlichen Charakter von Erfahrung und Wirklichkeit, wie ich sie in dem Ausdruck ‚Erfahrungswirklichkeit‘ auch sprachlich zum Ausdruck bringen möchte, gründlich vorbei. In der ZuI-Philosophie wird diese immer schon adualistische Verschränktheit von Erfahrung und Wirklichkeit als Aus-Gestaltung, als Resultat der formgebenden, gestaltenden und einschränkenden Funktionen der in sich gestaffelten und rekursiven ZuI-Prozesse konzipiert. Diese Grundeinstellung kommt bereits in dem Titel des Buches Zeichen der Wirklichkeit (ZdW) zum Ausdruck, welche Titelformulierung ganz mit dem adualistischen Genitiv ‚der‘ spielt, mithin unsere Erfahrungswirklichkeiten adressieren möchte. Gunnarsson sieht nicht nur die Grundpunkte der ZuI-Philosophie trefflich. Er nimmt diese in seine eigenen Überlegungen nachdrücklich und positiv auf. In
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diesem Zusammenhang sind vor allem die folgenden und sich sowohl auf die ZuI‐Philosophie insgesamt als auch auf die spezifische Frage nach der ‚einen Welt‘ oder einer Weltenvielfalt bezogenen Punkte zu nennen (vgl. in diesem Sinne auch meine frühere Replik in Abel 1996: 907 f.): (a) der bereits nachdrücklich betonte Adualismus von Erfahrung und Wirklichkeit; (b) der Sinn der Rede vom zeichenverfassten und interpretativen Charakter menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses; (c) das vertikale 3-Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse; (d) der grundlegende, weil kategorialisierende, formgebende, gestaltende, individuierende und raum-zeitlich lokalisierende Status der ZuI1-Prozesse; (e) das Zusammenspiel der unterschiedlichen ZuI-Ebenen in den tatsächlichen Erfahrungswirklichkeiten; (f) die Auffassung, dass die in ZuI-Prozessen formierten und gestalteten Erfahrungen und Wirklichkeiten keineswegs als Welten und Wirklichkeiten ‚ex nihilo‘ angesehen werden können; (g) dass in der ZuI-Philosophie die Rede und Annahme von ‚einer Welt‘ sehr wohl guten Sinn macht und nachdrücklich betont wird; (h) dass die Pluralitätsthese unterschiedlich ausfällt, je nachdem, auf welcher Ebene der ZuI-Verhältnisse wir uns bewegen; (i) dass es in einem dynamischen und prozessualen Sinne durchaus unterschiedliche, aber gleichermaßen ‚richtige‘ ZuI1-Systeme geben kann; (j) dass dies jedoch keineswegs heißt, dass es so viele Welten gibt, wie es mögliche ZuI1-Prozesse gibt; (k) dass keineswegs alle ZuI-Prozesse auch zu Welt- und Sozialitäts-haltigen und zu nicht-irrtümlichen Erfahrungen und Wirklichkeiten führen; und (l) dass die Rede von ‚vielen ZuI-Welten‘ und die Rede von ‚einer Welt‘ sich nicht nur nicht ausschließen, sondern wechselseitig erfordern und zusammengehören. Gunnarsson interessiert sich insbesondere für den folgenden Unterschied zwischen McDowell und meiner Position: Während ich betone, dass unterschiedlich kategorialisierende, individuierende und raum-zeitlich lokalisierende ZuI1-Prozesse die Möglichkeit alternativer Welten im Sinne eines Auch-anderssein-könnens mit sich führen können, setzt McDowell im Blick auf die Möglichkeit des Denkens über die Erfahrung voraus, „dass es dabei um die Erfahrung einer einzigen Welt geht“ (Gunnarsson-Beitrag, Kap. 2). Auf diesen Unterschied bezogen möchte ich Folgendes zu bedenken geben.
2 Interne und konditionale Pluralität (a) In der ZuI-Philosophie geht es nicht nur um ein ‚Denken über Erfahrung‘. Innerhalb des 3-Stufenmodells ist das Denken-über auf der Stufe 3 angesiedelt. Und insofern es offenkundig unterschiedliche Weisen des ‚Denkens über Erfahrung‘ gibt (wie etwa theoretisches, sprachlich-propositionales, sinnlich-ästhetisches, ethisches, technisches, diagrammatisches Denken) lässt sich sinnkritisch
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nicht wirklich ausbuchstabieren, was es heißen soll, dass die unterschiedlichen Weisen des Denkens über Erfahrung über strikt ‚ein und dieselbe Welt‘ gehen. Eine solche These müsste bereits auf der ZuI3-Ebene zeigen, (i) dass alle unterschiedlichen ZuI3-Versionen verlustfrei und ohne Indeterminiertheiten ineinander übersetzbar sind und die Regeln solcher Übersetzung (z. B. von sinnlich-ästhetischem in sprachlich-begriffliches Denken) angegeben werden könnten – was bislang niemand hat zeigen können; (ii) dass es selbst noch in den Fällen konfligierender und kontradiktorischer ZuI3-Versionen strengen Sinn macht, von einer ontologischen Unterstellung ‚einer einzigen Welt‘ ausgehen zu müssen. An diesem Punkt finde ich nach wie vor Nelson Goodmans Überlegung schlagend, dass es angesichts zweier unversöhnlich widersprüchlicher ZuI-Versionen (die nicht aufeinander reduziert und nicht auf ein gemeinsames Drittes zurückgeführt werden können) intellektuell konsequenter ist, von zwei unterschiedlichen Welten zu sprechen. Doch wohlgemerkt, diese Pluralität hat ihren Sitz auf der Ebene der ZuI-Systeme und des sich in diesen vollziehenden ZuI-Denkens-über-Erfahrung, nicht auf der Ebene der phänomenalen Erfahrungswirklichkeiten selber, ist also eine epistemologische, keine ontologische Annahme. Die Rede von ‚ein und derselben einen Welt‘ kann (iii) streng genommen auch in dem Sinne nicht in ihr Ziel gebracht werden, dass es darum gehe, unsere unterschiedlichen Aktivitäten und Erfahrungswirklichkeiten des ZuI1-Formierens, -Gestaltens und -Einschränkens zu vereinheitlichen. Denn erstens führte ein solcher Versuch zu einer blutleeren, abstrakten Vereinheitlichung und letztlich ungenießbaren Welt. Zweitens stoßen wir auch in den Fällen solcher Vereinheitlichungs-Bestrebungen von dem Moment an auf Schwierigkeiten, wo es sich um inkompatible, jedoch gleichermaßen ‚richtige‘ Zeichen-Interpretationen handelt, die gleichermaßen gut selbst die stärksten Erfüllungsbedingungen und Restriktionen der Konsistenz, der Kohärenz und der empirischen Gültigkeit erfüllen. Hier geht es also nicht nur um den bereits kardinalen Punkt, dass vorab nicht ausbuchstabierbar ist, was als ‚Die Eine und Einzige Welt‘ gelten könnte, sobald man zugestehen muss, dass eine logische Kluft zwischen ZuI-Prozessen und Faktizität nicht expliziert werden kann, mithin die von den ZuI1-Prozessen gänzlich unabhängige ‚eine Welt‘ sinnkritisch nicht mehr zu Gebote steht. Jetzt geht es darüber hinaus schlicht um den Punkt, dass auch die Vereinheitlichung in ‚Die Eine und Einzige Welt‘ als einer geformten, gestalteten und eingeschränkten Welt nicht mehr zu Gebote steht. (b) Erklärtermaßen wird in der ZuI-Philosophie nicht eine Ontologie vieler Welten vertreten. Es wird also nicht behauptet, dass es eine Vielheit von Welten in einem ontologisch starken Sinne ‚gibt‘. Vielmehr handelt es sich um eine in epistemologischer Einstellung ins Spiel gebrachte Konsistenz- und KohärenzAnforderung, um anderenfalls auftretende, jedoch widersprüchliche EinheitsUnterstellungen zu vermeiden. Die Pluralitäts-Betrachtung erfolgt erklärtermaßen
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auf der Ebene intellektueller Strenge-, Redlichkeits-, Konsequenz-, Widerspruchsfreiheits- und Konsistenz-Anforderungen an unterschiedliche Beschreibungen, Analysen und Modellierungen. Diese Innenseite unserer Welt-Beschreibungen (die in einigen Fällen auch, wie Goodman betont, zu konfligierenden und kontradiktorischen Beschreibungen führen können) ist es, die uns dazu führen kann, mehrere Welten anzunehmen, anstatt einander ausschließende Welt-Beschreibungen doch auf irgendeine Weise in das gemeinsame Korsett ein und derselben Welt zwängen zu wollen. (c) Die ZuI-Philosophie verteidigt das Konzept (i) einer internen und (ii) einer konditionalen Pluralität (siehe dazu auch bereits Abel 1996: 908 f.). ‚Intern‘ heißt die Pluralität, da es unter anderem der ZuI-Charakter der kategorialisierenden (mithin der perspektivierenden, formgebenden, gestaltenden und einschränkenden) ZuI1-Systeme selbst ist, der von innen her die Möglichkeit des Auch-anders-sein-könnens, der Alterität und Variabilität mit sich führt. ‚Konditional‘ heißt die Pluralität im Sinne der These, dass die Möglichkeit vieler ZuI-Welten unterstellt werden muss, wenn es denn überhaupt eine, diese unsere eine formierte, gestaltete und individuierte Welt geben können soll. Dies zu sagen heißt nicht, mit einem Blick von außen auf eine ontologische Vielheit von Welten zu schauen und dann zu konstatieren, dass unsere eine Welt eine von diesen ist. Ein solcher externer ontologischer Gottesgesichtspunkt ist gerade nicht das, was die epistemische Situation endlicher Menschen ausmacht. Epistemische und epistemologische Vielheit wird nicht durch einen Blick von außen konstatiert. Von einem solchen Standpunkt sind wir nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch abgeschnitten. Vielheit ist intern und konditional in dem doppelten Sinne gemeint: (i) dass ‚von innen her‘ die bereits angesprochene Alterität unterschiedlicher Weisen der Kategorialisierung, Individuation, raum-zeitlichen Lokalisierung, Formgebung, Gestaltung und Klassifikation und in diesem Sinne eine Pluralität von Welten möglich ist; und (ii) dass immer dann, wenn es um unsere eine Welt geht, zugleich und konditional auch bereits ein Bezug auf andere (möglicherweise unterschiedlich kategorialisierte, gestaltete und individuierte) Welten mitgesetzt ist, damit unsere eine Welt überhaupt die genuin eine so-und-so-individuierte Welt für uns sein kann, die sie für uns ist. Im Vokabular der epistemischen Perspektivität lässt sich dieser Punkt auch wie folgt ausdrücken: In der Tatsache, dass diese unsere eine Welt diese unsere eine Welt ist, sind intern und konditional stets bereits perspektivisch andere mögliche Welten mitgesetzt, gegen die gelesen unsere Welt überhaupt erst die Welt ist, die sie ist. Wohlgemerkt, das ist kein ontologisches, sondern ein epistemisches und epistemologisches, des näheren ein Argument grundbegrifflicher Relativität (nicht eines Relativismus vieler Welten). Und erst gar nicht zu betonen brauche ich, dass dies alles keineswegs heißt, dass wir in vielen disjunkten
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Welten gleichzeitig leben und uns auf diese verstehen müssten. Wäre das eine Kondition, unser Leben führen zu können, wir würden aufgrund der damit verbundenen Welt-Fremdheiten wohl keinen einzigen Schritt machen können.
3 Die Relevanz der Annahme einer Welt Gunnarsson sieht sehr richtig, dass der Sinn der Rede von einer Vielheit der ZuIWelten von mir in dem soeben skizzierten Sinne mit der Rede von ‚einer Welt‘ verbunden wird. Diese Betonung der einen Welt spielt übrigens in der ZuI-Philosophie eine bei weitem wichtigere Rolle als im Konstruktionalismus der Weltenpluralität Nelson Goodmans. Die entscheidende Frage jedoch lautet, wie diese Annahme zu verstehen und wo sie anzusiedeln ist. Ich fasse sie in dem dargelegten Sinne als eine interne und konditionale Präsupposition auf der Ebene unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses sowie als eine interne Präsupposition unseres tatsächlichen Wahrnehmens, Erlebens, Sprechens, Denkens und Handelns auf. Erklärtermaßen also meine ich nicht die Vorstellung, dass Die-Eine-und-Dieselbe-Welt in unterschiedlichen ZuI-Prozessen zum Ausdruck komme bzw. sich manifestiere. Eine solche Welt müsste übrigens dann auch eine gänzlich nicht-zeichenverfasste und gänzlich nicht-interpretierte Welt hinter allen unseren ZuI1+2+3-Prozessen sein. Doch eine solche Sicht ist erstens unter kritischem Vorzeichen nicht explizierbar, und sie wäre zweitens und unvermeidlicher Weise als wiederum kleingeschrieben ‚eine Welt‘ (nicht großgeschrieben ‚DIE-EINE-WELT‘) stets zeichenverfasste und interpretierte Welt und in diesem Sinne stets bereits von der Internität und Pluralität der ZuI-Prozesse abhängig. Eine gänzlich zeichen-freie und nicht-interpretierte Welt wäre eine Unwelt, wäre nicht Welt im weiten Sinne des Ausdrucks als Inbegriff der Erscheinungen. Auf eine solche Welt würden wir uns auch in keiner Weise verstehen. Zugespitzt möchte ich geradezu sagen, dass wir es in beiden für uns nicht-lebbaren Szenarien (schlechte Pluralität diffundierender vieler Welten ohne eine Welt oder Die-Eine-und-Dieselbe-Hintergrund-Welt, auf die wir uns nicht verstehen) mit so gravierenden Verlusten an Vertrautheit, flüssigem Fortsetzenkönnen, Anschlussfähigkeit und fraglosen Selbstverständlichkeiten zu tun hätten, dass auf der doxastischen und sub-doxastischen Ebene lebenszerstörende Orientierungsverluste auch psychischer und psychiatrischer Art die Folgen wären. Diese lebens- und überlebens-dienliche Funktion der Vorannahme einer Welt möchte ich nachdrücklich herausstellen. Komplementär wird in der ZuIPhilosophie sogar versucht, die Diagnose existenzieller und psychischer Leidenssituationen als einen Verlust und die mögliche Heilung dann als eine Wiedergewinnung unserer einen Welt und ihrer flüssig, anschlussfähig und selbst-
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verständlich funktionierenden Ich-Wir-Welt-Beziehungen zu fassen. Dass die ZuIPhilosophie mit ihrem 3-Stufenmodell möglicherweise auch in diesem Zusammenhang einen Beitrag leisten könnte, habe ich in dem Aufsatz Quellen der Orientierung (Abel 2016) darzulegen versucht. Drängt auf der Ebene erlebter und erfahrener Wirklichkeit die Pluralität zu stark in den Vordergrund, dann können sich existenzielle, psychische sowie verhaltensmäßige Probleme und schließlich Orientierungsverluste in den bislang flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich funktionierenden Ich-Wir-Welt-Beziehungen einstellen. In vielen Welten gleichzeitig zu leben, kann in diesen Fällen zu überlebens-gefährdenden Situationen der Welt- und Selbst-Fremdheit führen. Nach der anderen Seite hin ist zu betonen, dass sich die Grenzen einer bzw. meiner Welt, die ich mit anderen (zum Beispiel in öffentlichen Kommunikations-, Wahrnehmungs- und Handlungskontexten) gemeinsam teile, verschieben, erweitern, diffundieren oder gefährlich verengen können. Kommen darin andere Prinzipien der Organisation, der Individuation, der raum-zeitlichen Lokalisierung und damit auch der Formgebung, Gestaltung und perspektivierenden Einschränkung ins Spiel, bedeuten solche Veränderungen den Übergang in jeweils eine veränderte Welt. Streng genommen bewegen wir uns von da an in einer anderen, jedoch ihrerseits wiederum ‚einen‘ Welt. Doch diese eine und meine Welt ist, es sei betont, nicht ‚Die Eine Welt‘, die Gunnarsson im Rekurs auf McDowell konzipiert. Denn sie ist gerade nicht gänzlich unabhängig von allen form- und gestaltgebenden ZuI1-Prozessen. Vielmehr ist sie eine intern von der Möglichkeit des Auch-anders-sein-könnens induzierte Welt. Gunnarsson müsste zeigen, dass wir auf dieser Ebene und in den genannten Hinsichten das ursprünglich einheitliche Verhältnis von Zeichenhaftigkeit, Interpretativität und Faktizität wieder auftrennen könnten und dann doch wieder Prioritätsverhältnisse innerhalb des Verhältnisses von Erfahrung und Wirklichkeit etablieren könnten – was jedoch unter kritischem Vorzeichen nicht vertretbar ist und auch Gunnarsson selbst für nicht explizierbar hält. Entschieden also betone ich, dass wir keineswegs in disjunkten Welten leben, sondern stets unter der Vorannahme einer Welt und in diesem Sinne immer nur in einer ZuI1-Welt leben, deren Grenzen wir jedoch, wie betont, nicht von außen betrachten können. Auch hier sieht Gunnarsson (s. Kap. 2, Anm. 5) meine Position sehr richtig. In diesem Zusammenhang möchte ich die folgenden Anmerkungen machen. Zum einen (a) sei betont, dass angesichts dieses Befundes die AlteritätsPluralität möglicher anderer ZuI1-Welten und des weiteren möglicher ZuI1+2+3Welten im Prinzip natürlich jederzeit in Kraft bleibt. Zum anderen (b) möchte ich in dem bereits skizzierten Sinne und deutlich stärker als ich dies in bisherigen Texten getan habe, für die These plädieren, dass wir, um unser Leben führen zu können, die Pluralität möglicher Welten in der Regel reduzieren müssen, um nicht
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in eine schlechte Pluralität zu diffundieren und bislang erfolgreiche Identitäten nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Dass gleichwohl zum Beispiel Künstler, aber auch Wissenschaftler und überhaupt neugierige Individuen genau solche Risiken eingehen und gezielt Leben in unterschiedlichen Welten anstreben, ist kein Einwand gegen diese These, vielmehr eine ihrer Bestätigungen. Die Kombination möglicher pluraler Welten mit der für uns Menschen so wichtigen Vorannahme einer Welt im Sinne der ‚gelebten Welt‘ und unserer Erfahrungswirklichkeit(en) möchte ich weiter akzentuieren. Die Rede von adualistischer Erfahrungswirklichkeit ist für mich im Laufe der Jahre immer wichtiger geworden. Solche Rede adressiert den Raum unserer tatsächlichen Erfahrung und Wirklichkeit so, dass dieser weder auf einen äußeren Materialismus oder Physikalismus noch auf einen Raum inner-psychischen Erlebens reduziert werden kann. Und nicht zuletzt mit diesem Bild des Raums unserer Erfahrungswirklichkeit ist die Vorannahme bzw. Präsupposition einer Welt intern verknüpft. Zugleich mag an diesem Bild deutlich werden, welch hoher Stellenwert der Phänomenologie innerhalb der ZuI-Philosophie zukommt. Die Phänomenologie beschäftigt sich gleichsam von Hause aus mit den Formen, Gestalten und Einschränkungen unserer Erfahrungswirklichkeiten. Erinnert sei im Zusammenhang der Einheit-Vielheit-Frage auch daran, dass es einen grundlegenden Unterschied macht, ob wir als ‚Bausteine‘ der Welt etwa ‚Dinge‘ (im Sinne Raum-Zeit-Stellen besetzender materieller Körper) oder ‚Prozesse‘ ansetzen. Eine Ding-Welt ist eine andere Welt als eine Prozess-Welt (siehe zum Folgenden detailliert Abel 1985). Die eine lässt sich nicht auf die andere reduzieren oder aus dieser ableiten und vice versa. Und in beiden Fällen sind die Vokabulare in ihren semantischen Merkmalen (das heißt in puncto Bedeutung, Referenz, Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen) keineswegs synonym. Man denke hier etwa auch an die offenkundig unterschiedlichen Welten der Musik, der Malerei, der Sprache oder des Begrifflich-Propositionalen. Die Annahme, dass sich diese unterschiedlichen Weisen der ZuI-Prozess-Artikulation einfach auf ein und dieselbe vorfabriziert fertige Welt beziehen, ist eine Annahme, die weder in ontologischer noch auch nur in epistemologischer Hinsicht ausgewiesen ist.
4 Realitätsannahmen in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Dass und in welchem Sinne die ZuI-Philosophie durchaus starke Realitäts- und Wirklichkeits-Annahmen ebenso wie starke Rationalitäts-Annahmen im Spiel hat und diese dezidiert auch gegen drohende Verhältnisse eines „frictionless
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spinning in the void“, so die Formulierung McDowells mit Anklang an Wittgenstein (McDowell 1996: 11), verwendet, sei kurz anhand des spezifischen Charakters solcher Realitäts- und Rationalitätsunterstellungen erläutert. Die Grundthese lautet, dass in unserem Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und aktiven Gestalten stets bereits auch Realität und Rationalität vorausgesetzt und in Anspruch genommen werden. Beide Voraussetzungen sind nicht bloß im Sinne von intuitiven Meinungen oder von Theorien zu verstehen. Sie sind vielmehr mit der jeweiligen Erfahrung selbst gegeben. Auch dies markiert einen der Gründe, warum ich vorzugsweise die Formulierung „Erfahrungswirklichkeit(en)“ verwende. In diesem markanten Sinne entzieht sich die ZuI-Philosophie dem Würgegriff der klassischen Dichotomien von Realismus und Idealismus sowie von Empirismus und Rationalismus, und (für McDowell und Gunnarsson wichtig) von bloßem Kohärentismus und absolutem Gegebenem. Der im Folgenden zu erläuternde Rekurs auf Realitäts- und Rationalitäts-Annahmen wird auch verdeutlichen, dass und warum ich die Argumentation von Logi Gunnarsson, die ZuIPhilosophie falle unter die Kohärentismus-Kritik, die John McDowell gegen den Kohärentismus Donald Davidsonscher Prägung vorgebracht hat, nicht für erfolgreich halte. Die Grundüberlegung ist auch hier wiederum einfach. Wenn wir unserem eigenen Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten ‚über den Weg trauen‘ wollen – und das tun wir offenkundig! – dann können wir nicht umhin, davon auszugehen, dass es das, was wir in unserem Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, formierenden Handeln und aktiven Gestalten adressieren, auch tatsächlich gibt. Niemand von uns möchte als jemand dastehen, der sich in einer Welt bloß eingebildeter, konstruktivistischer oder fiktionalistischer Halluzinationen, Illusionen, Irrealismen und Irrationalismen bewegt. In diesem Sinne interner Präsuppositionen sind wir auf Realität einer Welt verpflichtet, haben ein ‚commitment‘ (Quine) auf Realität und Rationalität, das wir nicht einfach (postmodernistisch) suspendieren können, ohne damit die genannten Weisen der Erfahrungswirklichkeit selbst zu zerstören. Dieses Commitment darf mithin nicht als eine Art intuitive Meinung missverstanden werden. Vielmehr gehört es zur nicht-suspendierbaren und primordialen Struktur unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses und der dieses ausmachenden, formgebenden, gestaltenden und einschränkenden, weil initial individuierenden und perspektivierenden ZuI1+2+3-Prozesse. Die Verpflichtung auf Realität lässt sich in den einzelnen Bereichen des Spektrums vom Wahrnehmen bis zum aktiven Gestalten präzisieren und durch Beispiele erläutern. So ist für die Prozesse des (als bestimmter, nämlich perzeptionaler ZuI1+2+3-Prozess beschreibbaren) Wahrnehmens kennzeichnend, dass wir die Gehalte unserer Sinneserfahrung und perzeptiven Erfahrungswirklichkeit als
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zuverlässig und so erfahren und verstehen, dass sie drehtürartig mit den Objekten des Wahrnehmens verbunden, im Normalfall also keine Halluzinationen oder Illusionen sind. Letztere sind die erklärungsbedürftigen Phänomene, nicht jedoch die basalen Wahrnehmungs-Gegebenheiten. Im tatsächlichen Sprechen (das als aktive und reziproke ZuI1+2+3-Aktivität beschrieben und analysiert werden kann) gehen wir von einem bestimmten Punkt an davon aus, dass es das, wovon da die Rede ist, auch tatsächlich ‚gibt‘. Anderenfalls wäre die Kommunikation zwischen Sprecher und Hörer insbesondere von dem Moment an nicht mehr gewährleistet, wo es um das Eintreten in eine konkrete Handlung oder Gestaltung geht. Wenn Peter zum Beispiel sagt ‚Wir gehen jetzt zur Pizzeria am Savigny-Platz‘ und wir uns daraufhin in Richtung SavignyPlatz in Bewegung setzen, dann präsupponiert dieses durch das Sprechen induzierte Eintreten in die Handlung, dass es den Savigny-Platz und dort eine Pizzeria gibt. In den Bereichen des Handelns und Gestaltens (welche beiden Aktivitäten als spezifische ZuI1+2+3-Prozesse beschrieben und analysiert werden können) sind unsere Realitäts- und Rationalitäts-Annahmen am stärksten ausgeprägt. So verlässt sich beispielsweise die NASA darauf, dass sich die Dinge im Weltall so verhalten, wie die NASA sie in epistemischer Einstellung modelliert hat, wenn sie die Astronauten in die Raumkapsel setzt und in den Orbit schickt.
5 Die Zeichen- und Interpretationsphilosophie diesseits von Kohärentismus und Mythos des Gegebenen Die vorgenannten Punkte sind mir auch gegenüber dem Einwand Gunnarssons wichtig, die von McDowell formulierte Kritik am Kohärentismus Davidsonscher Prägung treffe auch die ZuI-Philosophie. Im Lichte dessen, was ich soeben zu den Realitätsunterstellungen ausgeführt habe, ist zunächst festzuhalten, dass die ZuIPhilosophie offenkundig kein Kohärentismus in dem von McDowell kritisierten Sinne eines „spinning in the void“ ist. Und natürlich fällt die ZuI-Philosophie auch nicht unter die berechtigte Kritik am ‚Mythos des Gegebenen‘. Der Mythos eines absolut Gegebenen kann deshalb erst gar nicht gegen die ZuI-Philosophie mobilisiert werden, weil wir es auf der ZuI1-Ebene gar nicht mehr mit der Trennung zwischen den formierenden ZuI1-Prozessen auf der einen und der vermeintlichen Faktizität eines rein Gegebenen auf der anderen Seite zu tun haben. Eher schon sehe ich die Annahme ‚Der Einen und Einzigen Welt‘ gänzlich unabhängig von den ZuI1-Prozessen und den Einsatz dieser Annahme zwecks sinnkritischer Ein-
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schränkung der ZuI-Prozesse ‚von außen‘ als einen möglichen Rest-Mythos der verborgenen Einen Welt an. Dass die Kohärentismus-Kritik von McDowell und Gunnarsson die ZuI-Philosophie nicht zu treffen vermag, möchte ich anhand der folgenden vier Punkte verdeutlichen. (a) Die ZuI1-Prozesse dürfen nicht verwechselt oder gar gleichgesetzt werden mit der Funktion von Urteilen, die ‚über‘ ein X gehen und dieses als ein F bestimmen. Zugleich dürfen die ZuI1-Prozesse nicht als bloße Überzeugungen angesehen werden, deren Intentionalität darin besteht, einen Gehalt X zu haben und auf ein X gerichtet zu sein. Im Zentrum der ZuI-Philosophie steht vielmehr die Erfahrungswirklichkeit selbst, weder das auf diese bezogene Urteil „X ist ein F“ noch, dass die Überzeugung A von B handelt und auf B gerichtet ist, welche Merkmale dann in sprachlich-propositionaler Form artikuliert und dargestellt werden können. Die ZuI1-Prozesse und -Gestaltungen greifen hinter bzw. vor diese Komponenten (Urteil, Überzeugung, propositionale Sprache) zurück. Mit dieser Formulierung meine ich, dass es die formgebenden, gestaltenden und eben darin einschränkenden ZuI1-Prozesse sind, die auf einer Stufe erster Ordnung überhaupt erst dasjenige formieren, gestalten und individuieren, was wir dann auf einer Stufe zweiter Ordnung als Welthaltigkeit, Realitätshaltigkeit, Verkörperung, Verankerung, Fundierung, Bodenhaftung, nicht-irrtümliche Erfahrung, doxastische und sub-doxastische Zustände ansprechen, mitteilen, beurteilen und mit Hilfe von Metakonstrukten ordnen und klassifizieren. Und natürlich werden in der ZuIPhilosophie die drei genannten und auf den Ebenen 2+3 relevanten Komponenten (nämlich Urteile, Überzeugungen und propositionale Sprache) ihrerseits als ZuIKonstrukte angesehen, modelliert und behandelt. Wir haben es also mit einer vertikal gestaffelten ZuI1+2+3-Organisation und ‐Ordnung zu tun. Diese Beschreibung schließt ein, dass die jeweiligen ZuI1-Prozesse dynamisch, mithin nicht für alle Zeiten unveränderlich dieselben sind und bleiben. Und sie schließt ein, dass ZuI-Prozesse, einschließlich der ZuI1-Prozesse, auch scheitern können. Offenkundig ist nicht jede ZuI1-Perspektive per se eine erfolgreich organisierende und orientierende Perspektive. Zudem können ZuI1-Perspektiven alt werden, ihre Organisationskraft verlieren, im Wettstreit mit anderen auf der Strecke bleiben, sobald sich in Praxis und Theorie herausstellt, dass sie nicht wirklich zu den in ihnen adressierten und ausgedrückten Erfahrungswirklichkeiten ‚passen‘ oder ihre bisherige Spitzenstellung in der Hierarchie der Präferenzen verlieren. Erfolgreiches Passen ist eine überaus komplexe und anspruchsvolle Sache. Es umfasst unter anderem die Passgenauigkeit im Netzwerk mit anderen ZuI1-Prozessen, die empirische Gültigkeit und das flüssige, anschlussfähige und selbstverständliche Funktionieren und Orientieren unseres Handelns.Was die Orientierungskraft angeht, so besteht die Nagelprobe einer ZuI-
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Perspektive nicht nur in deren bislang gewährter Orientiertheit. Sie besteht nicht zuletzt auch darin, ob zukünftige Orientierung auch angesichts völlig neuer Situationen gewährleistet ist. Die ZuI1-Prozesse sind Grundvorgang, Formierungsund Gestaltungsort sowie Motor dessen, was als ‚eine Welt‘ oder (unter strengen Restriktionen) als ‚plurale Welten‘ gilt. Aber bislang erfolgreiche ZuI1-Weisen können ihre Orientierungskraft eben auch einbüßen, von veränderten und neuen ZuI1-Weisen abgelöst, modifiziert, revidiert und schließlich auch preisgegeben werden. (b) Die Kohärentismus-Kritik McDowells und Gunnarssons bezieht sich auf den Bereich der Überzeugungen, die mit anderen Überzeugungen in einem lediglich kohärenten bzw. nicht-widersprüchlichen Verhältnis stehen. Damit aber geht der Kohärentismus-Verdacht ebenso wie die Kohärentismus-Kritik am ursprünglich-produktiven, am Welt-, Sinn- und Relevanz-generierenden Kern der ZuI-Prozesse vorbei. Die ZuI-Prozesse bewerkstelligen, formieren, gestalten, bringen zustande, verkörpern und realisieren überhaupt erst dasjenige Szenario des making sense (im Sinne des Settings von Bedeutsamkeit, Sinn und Relevanz), auf das bezogen dann auch die tatsächlich auftretenden ZuI1-Weisen einer kritischen Prüfung ausgesetzt und gegebenenfalls korrigiert werden können. Widersprüche, Selbstwidersprüche und Revisionsbedarfe können im Zuge weiterer Analysen jederzeit auftreten. Schon Leibniz wusste, dass wir gut beraten sind, uns mit unseren Analysen nach Maßgabe der verfolgten Zwecke zufrieden zu geben, da mit jedem weiteren Schritt bislang nicht bemerkte Widersprüche und Selbstwidersprüche zutage treten könnten. ZuI1-Prozesse und die ihnen korrelierten Ansprüche auf Organisation und Orientierung sind keineswegs sakrosankt und keineswegs der Kritik entzogen. Sie können ihrerseits der Modifikation, der Revision unterzogen werden und nachhaltig scheitern. Im Kern ist dies auch eine Folge des Umstands, dass ZuI1-Weisen intern Erfüllungsbedingungen mit sich führen und auf diese verpflichtet sind. Nicht jede ZuI1-Regel ist automatisch auch eine erfolgreiche und vernünftige Regel. Scheitern ist auf der Innenseite der ZuIProzesse mitgesetzt – egal wie langlebig einzelne ZuI1-Mechanismen auch sein mögen. Dies ergibt sich bereits auch aus der dynamischen Prozessnatur der ZuIVerhältnisse selbst. Vor diesem Hintergrund möchte ich nachdrücklich auch auf meiner Rede vom Drehtüreffekt zwischen den ZuI1-Prozessen und den in diesen Prozessen formierten, gestalteten und eingeschränkten ZuI-Wirklichkeiten und ‐Welten bestehen. Mithin spreche ich mich gegen Gunnarssons Auffassung aus, ich müsste die Drehtürmetapher aufgeben, da es nicht ‚von außen‘ zu einer Kontrolle der ZuI1Prozesse durch eine gänzlich unabhängige externe Welt kommen könne (s. Kap. 4). Aus der Sicht der ZuI-Philosophie wird die erforderliche Kontrolle vielmehr bereits ‚von innen‘ mitgeliefert. In meinem Verständnis hat Philosophie stets in-
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terne Kritik, nicht bloß externe Kritik zu sein. Ja mehr noch: externe Kritik (die überaus wichtig und unverzichtbar ist) muss letztlich als eine Version interner Kritik entfaltet werden – nicht umgekehrt. In diesem Sinne können die ZuI1-Weisen als selbstorganisierende und selbstreferentielle, geradezu als autopoietische Organisationsweisen und eben darin zugleich auch als Einschränkungen der ZuI1-Annahmen selbst wirken, ja im Grenzfall sogar zu deren Revision und Preisgabe führen. Offenkundig kann das Ergebnis der ZuI-Prozesse den es formierenden Akteur, den Generator und Gestalter, durchaus einschränken und korrigieren. Der Kern dieser Kraft der Einschränkung-von-innen erwächst einfach aus dem Umstand, dass es sich um interpretierte und eben dadurch einschränkende und eingeschränkte Verhältnisse handelt. Hilfreich mag an dieser Stelle auch der erneute Hinweis darauf sein, dass die ZuI-Philosophie nicht als eine Philosophie einer umfassenden Totalität missverstanden werden darf. Vielmehr geht es in der ZuI-Philosophie um die grundlegende Tatsache, dass wir es mit individuierten, formierten, gestalteten und perspektivierten ZuI-Wirklichkeiten zu tun haben, die eben deshalb andere Mechanismen der Individuation und Perspektivierung automatisch mit ins Spiel bringen, die zu internen Einschränkungen und Modifikationen der ZuI1+2+3-Prozesse führen können. Andere basale Perspektivierungen sind jederzeit möglich, und gegebene basale Perspektivierungen führen im Zuge ihrer Individuiertheit und epistemischen wie handlungspraktischen Spezifität stets auch die Möglichkeit der kontrollierenden Einschränkung mit sich. Ja, mehr noch: da die ZuI1-Prozesse die formierenden, gestaltgebenden und darin zugleich einschränkenden Prozesse der Generierung und der Welthaltigkeit von spezifischen Erfahrungswirklichkeiten bewerkstelligen, kann es streng genommen gar keine leeren ZuI1-Prozesse geben. Daher können die ZuI1-Prozesse keineswegs Prozesse eines „spinning in the void“ sein. Ihre eigene Natur und Funktion schneidet sie von dieser Möglichkeit ab. Nicht nur darin unterscheiden sich die erfahrungs-wirklichen und nicht-irrtümlichen ZuI1-Prozesse von Illusionen, Fiktionen, Phantasien, bloßen Imaginationen oder Halluzinationen. (c) Zur Verdeutlichung dieser These möchte ich das soeben bereits angesprochene und im Blick auf die ZuI-Prozesse kennzeichnende Bild eigens in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Die ZuI-Prozesse können auf den Ebenen 1+2+3 des Stufenmodells als selbstorganisierende Prozesse angesehen und behandelt werden. Ich vertrete mithin die These, dass sich die formgebenden und gestaltenden ZuI1-Mechanismen nicht nur aus der eigentümlichen Natur der adualistischen ZuI1-Prozesse selbst ergeben, sondern, dass sie sich auf selbstreferenzielle Weise auf diese zugleich beziehen und Auswirkungen auf die nachfolgenden ZuI1+2+3‐Prozesse haben. Die ZuI1-Prozesse wirken mithin auf sich selbst und ihre
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zukünftige Ausrichtung zurück. Diese in sich zurücklaufenden Schleifenbewegungen (oder, wenn man so will, diese ‚loops‘) sind überaus kennzeichnend für die ZuI-Prozesse. Sie sind meines Erachtens auch entscheidend im Hinblick auf die einschränkenden Komponenten, die für McDowell und Gunnarsson eine so zentrale Rolle in ihrem Bemühen spielen, eine zufriedenstellende Erklärung dafür zu finden, dass es sich bei unserem Denken über Erfahrung nicht um ein „spinning in the void“ handelt.² Dieser These vom selbstorganisierenden Charakter der ZuI-Prozesse entspricht konsequenterweise die These, die ich explizit vertrete, dass die ZuI-Prozesse lernfähige Prozesse sind – egal wie tiefsitzend die jeweiligen Mechanismen, Prinzipien, Grundsätze und Maximen auch verankert sein mögen. Der dynamische Charakter der Prozesse verpflichtet intern auf epistemische ebenso wie praktische Festlegungen, Einschränkungen, Reduzierung von Komplexität, Selektivität und Lernfähigkeit. Am deutlichsten manifestieren sich diese Merkmale der ZuI-Prozesse im Bereich des pragmatischen und intervenierenden Handelns. Offenkundig können aus ZuI1-Prozessen Handlungsmöglichkeiten und Handlungswirklichkeiten erwachsen. Und deren Durchführung führt auch zu Veränderungen und Einschränkungen der vormals formgebenden ZuI1-Weisen und ‐Mechanismen. ZuI1Prozesse können als rekursive und darin zugleich als sich selbst organisierende und sich selbst korrigierende und eben dadurch lernende Prozesse beschrieben werden. Genau das macht die Dynamik der ZuI1+2+3-Prozesse aus und führt dazu, dass Gunnarssons Kritik, der zufolge die ZuI1-Prinzipien in der ZuI-Philosophie keiner rationalen und empirischen Einschränkung unterliegen, ihr Ziel nicht zu erreichen vermag. Zugespitzt und in metaphorischer Sprache könnte man geradezu sagen, dass die ZuI1-Prozesse selbst so intelligent sind, nicht ihrerseits den Fehler zu wiederholen, sich für absolut, undynamisch, statisch und ultimativ zu halten. Wäre letzteres der Fall, hätten sie kaum eine Chance, die wirklich lebendigen ZuI1-Prozesse zu sein, die sie sind, und kaum eine Chance, denjenigen Raum aufzuspannen, aus dem heraus und auf den hin sich unser Leben so vollzieht, wie es sich nun einmal vollzieht. Ich möchte an dieser Stelle noch einen Aspekt hinzufügen, der auch von McDowell und Gunnarsson betont wird, nämlich den Rekurs auf die „Passivität der Erfahrung“ (Kap. 2). Solche Rede heißt natürlich nicht, dass in Erfahrung Die Verhältnisse so zu beschreiben, wie ich es hier tue, zeigt zugleich, dass es sich bei den adualistischen ZuI-Prozessen nicht im Sinne der Systemtheorie um Systeme operationaler Geschlossenheit handelt. Die ZuI-Prozesse sind vielmehr bis ‚hinab‘ in die ZuI1-Ebene durch die mehrfach betonten Offenheiten und Indeterminiertheiten charakterisiert. Zur zentralen Rolle der Indeterminiertheiten siehe auch meine Replik auf Chung-ying Cheng im vorliegenden Band.
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keinerlei Aktivität involviert ist. In der ZuI-Philosophie wird zwar in der Tat (im Sinne von Husserls trefflicher Formulierung einer ‚Passiven Synthesis‘) das aktive Moment so stark gemacht, dass Passivität als Grenzwert von Aktivität, nicht umgekehrt verstanden wird. Aber, mit McDowell’s Mind and World gesprochen, „one’s control over what happens in experience has limits“ (McDowell 1996: 10n). Diesen Punkt betont die ZuI-Philosophie gleichermaßen stark und sieht ihn als eine Konsequenz des adualistischen Ineinanderstehens von Erfahrung und Wirklichkeit. Bei McDowell ist dieser Aspekt eine Konsequenz dessen, was er in metaphorischer Sprache als „openness to reality“ adressiert, welcher Figur ich mich hier ausdrücklich anschließen möchte. Anders als McDowell und Gunnarsson jedoch sehe ich in dieser Offenheit keinen Anhalt für die Annahme, dass sich in dieser Offenheit „the one and only world“ (McDowell 2009: 140) manifestiere. In den Raum des Offenen der Erfahrung kann, so meine These im Unterschied zu McDowell und Gunnarsson (ebd.), nicht nur ‚eine Welt‘, sondern können im Prinzip unterschiedliche Welten eintreten. Es ist vornehmlich diese Offenheit, die anderen und unterschiedlichen Erfahrungswirklichkeiten und Erfahrungswelten Raum gibt. Künstler zum Beispiel, aber auch Wissenschaftler ebenso wie neugierige Personen im Alltag wissen sehr wohl von solchen Pluralitätserfahrungen zu berichten. Aus der Offenheit folgt nicht, dass es sich um nur ‚eine und einzige Welt‘ handeln kann. (d) Was die Frage des Kohärentismus der Überzeugungen angeht, so ist mir abschließend wichtig hervorzuheben, dass sich die ZuI-Philosophie gar nicht mehr in dem traditionellen Überzeugungs-Modell (mithin zum Beispiel auch nicht mehr in irgendeiner Spielart der seit Platon zentralen Auffassung des Wissens als wahrer und gerechtfertigter Überzeugung) bewegt. Entscheidend ist nicht das Überzeugungs-Modell, sondern vielmehr das ZuI-Prozess-Modell, das, wie dargelegt, hinter bzw. vor das Überzeugungs-Modell zurückgreift. Im ZuI-ProzessModell werden sowohl die Genese als auch das Wechselspiel unterschiedlicher Überzeugungen stets bereits als genealogische Resultanten aus ZuI-Prozessen angesehen. In diesem Modell werden Überzeugungen nicht als Ausgangspunkt und nicht als Leitfaden der Betrachtung angesetzt. Die von McDowell und Gunnarsson vorgebrachte Kohärentismus-Kritik kann letztlich überhaupt nur vor dem Hintergrund des älteren Überzeugungs-Modells auf die Bahn gebracht werden. Im Blick auf die ZuI1-Prozesse, in denen formierte und gestaltete Welthaltigkeit allererst bereitgestellt wird, gibt es im Grunde gar keinen Anhaltspunkt, von dem aus die Kohärentismus-Kritik McDowellscher und Gunnarssonscher Prägung gegen die ZuI-Philosophie mobilisiert werden könnte. Beide bewegen sich in deutlich unterschiedlichen Modellen.
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Literatur Abel, Günter 1985: Einzelding- und Ereignis-Ontologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39, S. 157 – 185. Abel, Gü nter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1996: Interpretationsphilosophie. Kommentare und Repliken, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44/5, S. 903 – 916. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2016: Quellen der Orientierung, in: Bertino, Andrea / Poljakova, Ekaterina / Rupschus, Andreas / Alberts, Benjamin (Hg.): Zur Philosophie der Orientierung, Berlin / Boston, S. 141 – 170. Gunnarsson, Logi 2001: Günter Abels Interpretationismus im Kontext der Gegenwartsphilosophie, in: Information Philosophie, 29/4, S. 30 – 35. McDowell, John 1996: Mind and World, Cambridge, Mass. McDowell, John 2009: Gadamer and Davidson on Understanding and Relativism, in: ders.: The Engaged Intellect. Philosophical Essays, Cambridge, Mass., S. 134 – 151.
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Onto-Generative Hermeneutics of Creativity: Interpretation of Indeterminancy From Creative Experience to Abel to Yijing Abstract: This article deals with issues of experience, meaning and truthfulness of creativity. I shall consider creativity in light of Quine’s ideas of indeterminacy and Abel’s account of radical creativity. Specifically, I develop a notion of ‘ontogenerative cosmology’ and a theory of human mind as vehicle of ‘creative creativity’. I refer to the philosophy of the Yijing as providing a beginning and a theoretical framework of a fundamental philosophy of creativity. Finally, I accentuate the importance of mind as embodying a free function of creative determination in a Hilbert space of open possibilities.
1 Creativity as Onto-Generativity and Interpretation Creativity as a phenomenon in our experience of life and the world has not been fully understood. As we shall see, understanding of creativity is much called for in breaking through debacles and problems in the areas of metaphysics, epistemology and even ethics in contemporary scenes. Perhaps it is because of our lack of sufficient understanding creativity in metaphysics, epistemology and ethics as we have in aesthetics and art, that we have not always been able to develop a new metaphysics, a new epistemology and a new ethics for the humankind in light of the challenge of the dialogic exchanges between the Western and the Eastern traditions. With regard to the Chinese philosophy tradition, this need is actually strongly felt. We have to ask whether the practicality and ethical worldview in Chinese philosophy already presuppose a metaphysical view of reality as creativity.¹ Fortunately, in recent literature we encounter a penetrating, ingenious and comprehensive analysis of creativity as focused in a germinal concept
It is indeed the case that we have to understand creativity of creativity (shengsheng) in some process of leading from being none to being one and then to being many and creative return (fan) or reversion (fu) in the texts of the Yijing and Zhongyyong, Daodejing and Zhuangzi in the axial classical period of Chinese philosophy (770 – 221 BCE). https://doi.org/10.1515/9783110522280-064
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in the works of Günter Abel. What Abel has done is to bring creativity to the very front of the study of science, philosophy and art and even daily life. What is important is that he has distinguished between two kinds of creativity, the ordinary one and the radical one.² It is in the latter that meaningful change in reality and advancement of value in the human world become possible and explainable. In this article I shall explore into the problem of creativity in ontology and understanding as emergence of events, human experiences of such as well as human conceptual grasp of reality which is in the process of transformation due to both nature and our efforts to engage and form conceptions and relations based on synthetic understanding from cognitive-emotive-volitive functions of the human mind in physical-conative personal contexts of existence. Here we have to recognize a human person as occupying three-level positions in the world of existence, namely a position in the world of matter and quantum energy, a position in the world of vitality and life, and a position in the world of humanity and human mind, all under our eyes of comprehensive observation.³ Being three in one and one in three, we come to see activities of the world and humanity as types of creativities or creative events, which take place in any time and in any place. They are best and clearly articulated in the 17 sorts of creativities in Abel’s important and insightful work on the Riddle of Creativity (Abel 2009). In my view, in this open and broad sense of creativity, not only creativity can be traced to Whitehead, it should be ultimately traced to the Yijing as the Book of Creative Changes in the ancient Chinese tradition. But nowhere is creativity in the radical sense be more manifest than we can see in the three levels of reality in which human being occupies a position. Hence there are natural creativities to do with cosmic changes on the levels of quantum entities and material energies. They can also be extended to world of biology and life in terms of which we can speak of evolutionary creativities. Then we can also see how creativity can be related also to knowledge, religion, morality and arts by way of human consciousness and development of language and interpretation. Thus we can come to see creativities not only as discovery and invention but also as our perceptive, conceptive and interpretative activities that lead to creation of knowledge, value beliefs and aesthetic objects and human understanding and actions on morality and values. In this sense we see the relevance of theory
See his stimulating paper on the Riddle of Creativity (Abel 2009). Comprehensive observation or guan is an unrestricted open viewing, reviewing and overviewing of the world in a continuing process of inclusion and integration of sensible experiences from which meaning and understanding of the order of the world emerges spontaneously and creatively. It is based on the primary experience of the xiang and gua of the Yijing as described in the Xici of the Yijing. See (Cheng 1995).
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of signs and its associated ontology and epistemology in Peirce, philosophical hermeneutics with its Heideggerian ontology and Hegelian dialectics in Gadamer, philosophy of language and logic with naturalized epistemology and relativity of ontologies in Quine and others. In some detail, I shall discuss Abelian conception and view of radical creativity in relation to three topics: creativity and interpretation, onto-generative cosmology and theory of humanity and mind. The first topic will relate creativity to Quine through the consideration of concepts of indetermination, the second to Yijing and Whitehead through the possibility of change and transformation, and the third to philosophy of science and my reflections on a theory of mind. I shall then argue that the radical creativity (which I also refer to as creative creativity or onto-generativity) is well presented in Quine’s philosophy of science and naturalized epistemology (even with ‘things of mind’) without recognition and even scheduled for reduction (see Quine 1995). The idea is also presupposed in some indeterminate way in the concept of reality in Hilary Putnam.⁴ It is further presupposed in the pre-understanding and fusion of horizons in the philosophical hermeneutics of Gadamer. But in all the three authors this idea of creativity has not been fully acknowledged and brought to discussion or explanation. Next, there is no doubt that Abel’s idea of radical creativity is deeply rooted in the Philosophy of Changes (Yijing), which, when combined with Plato, gives rise to Whitehead. As we see, this idea is clearly and explicitly presented in the interpretative epistemology of Abel as he approaches knowledge by way of an open theory of signs and approaches the theory of signs by way of an open epistemology. I believe that it is in combining both that we can speak of Abel’s notion of ‘rational creativity’. With this understanding, I wish to suggest that we can formulate an ‘ontogenerative or onto-creative hermeneutics of creative experience and knowledge’ which enables us to reach for a realistic understanding of reality at the same time as we reach for self-understanding and practicality of our knowledge of the world, others and ourselves in an indeterminate world of infinite possibilities and potentiality. Then we can even speak of ‘Radical Creativity’ as ‘Creative Creativity’, a powerful concept from the Yijing. Some other important aspects of this creativity on methodology and metaphysics and even ethics could be consequently drawn.
Putnam’s Realism with a Human Face (1990) seems to undergird a view of creative understanding of reality based on creative influences of human sensibility and mind. Also confer his book The Threefold Cord: Mind, Body, and World (1999).
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2 What is Creativity? What is then creativity? This is an issue that has always attracted the attention of scientists and philosophers through human history. As creativity is such a unique and yet universal phenomenon, no answer, which tries to define or identify creativity, can be regarded as having a lawlike generality, that is, as something we can explain and predict as an event of human creativity in precise qualitative and quantitative terms. In other words, we cannot explain and predict the physical phenomenon according to physical laws. But even in physics, contemporary development has shown that we cannot make absolute prediction without assuming an objective order governed by absolute laws. This would also lead to the presupposition that our universe changes according to absolute laws, which includes second-order laws of preserving validity of first-order laws. We shall see, in quantum physics we can only make probabilistic prediction and explanation of location and momentum of a particle. Here probability could mean objective inductive regularities or our subjective assessment of a situation in taking account of all known factors. In some limited sense it appears that creativity in its minimum sense is simply happening of events that cannot be predicated or explained by existing laws without bringing in contextual considerations. It is possible that we just do not know enough about the world so that we cannot see how something “x” could surprisingly happen. Once we do our inquiry, then we would come to know that our previous knowledge is not sufficient to predict such a surprising event. We must admit that our knowledge system, or for that matter our science, is built on the premsises that we always have new things to learn and this learning has to continue as some coming events will continue to surprise us. The creative in this sense is simply that we do not have knowledge so that the world may look unpredictable and unexplainable for a while. But then we can learn later that the laws still hold and yet our ignorance is that we do not know that there could be circumstances which would appear to neutralize the law and yet still implicitly follow the law. A good example is that a live chicken was born from a mother hen. It is a truly surprising event. Investigation then shows that the chicken actually came out from the egg of the hen, which was not delivered due to unknown causes. At least this shows that no fundamental law regarding the birth of a chicken is broken. Even so, there is no reason to say that nature may not have creativity in a genuine sense, namely in the sense that new things or novelty could come about which follow a new law or which have the power of defying and changing the existing order or law. I believe that we can see this possibility on the level of quantum entities. It is simply the
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nature of quantum entities or the way that the universe is developing that new things are created on their own grounds without strictly following the existing order of things. In fact, we can see that it is indeed the way that this universe is created if we take the cosmological theory of big bang seriously.⁵ We must account for the fact that this universe is created from a state where there is no such universe. We must face the radical change of non-being to being so that we have our sense of ultimate origin be satisfied. If we do not consider any human intentionality but concentrate on the objective beginning of an objective world, we have to confront the thesis of creatio ex nihilo. We may not adopt the theological model of explanation, but we must face this creatio ex nihilo as an objective phenomenon that suggests a natural process of moving from non-being to being. This means that we should interpret the non-being in such a way that it would give birth to being and that such a process is in consistency with what we could know from our experience. I think we can do this by simply seeing the nihilo as not deadwood nothingness but rather a state of statelessness envisioned as full of possibilities of moving or transformative force that due to its own tension gives rise to initial state of things. Whitehead has taken this route of explanation by defining just what creativity means in his creativity principle. He postulates that creativity is the principle of novelty. “An actual occasion is a novel entity diverse from any entity in the many which it unifies”. Thus “creativity” introduces novelty into the content of the many, which are the universe disjunctively. The creative advance is the application of this ultimate principle of creativity to each situation that it originates (Whitehead 1929: 21). In order to explain the novelty Whitehead further introduces the ‘eternal ideas’ as another principle of explanation, namely the explanation of novelties and creative advance in the world. This may create another problem of asking where ‘eternal ideas’ come from. Instead we could make creativity so self-sufficient that it may have a way of generating all things by way of its own transformation of the possibilities into actualities. For this reason we have to conceive ultimate reality as having integrated two forms of genesis of existence which are the form of ontogenesis of being from non-being and the form of ontogenesis of non-being from being. The former has to do with thinging of nothing and the latter has to do with no-thinging of thing. We may see this as having to do with a comprehensive and creative circulation of the ultimate creativity, which could lead to evolving of higher and higher orders of beings in the sense of achieving better qualities in things and stronger capabilities in human beings. If we do
Of course this depends on how we interpret the big bang theory.
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this, we would approach the philosophical position of the Yijing as we shall explain. Now we see creativity could be objectively understood, we have to advance to the human level creativity that would have explained our entrance to culture, morality and science and our humanities and sciences. In this sense of creative creativity it is simply the humanity derived from primordial creativity of the universe. And this is quite understandable as we can regard us humans as part of this universe. In so far as this universe is creative, we can be creative so that we simply display or exhibit the creativity of the universe in our own activities. In that case, at least we must see that part of our creativity is not separable from direct influx or impact of the primordial creativity of this universe now. Even we may regard our consciousness and mind as concrescent emergence from universe so that we can become consciously and conscientiously creative. Because we have not yet reached any clear and stimulating conclusion on this topic, the issue is always an open one. What is amazing is that whereas we have no clear understanding of creativity as a source of successful design or discovery or theoretical construction in science or in arts, we must be aware that we are always as human beings engaged in creative activities. Besides, we can recognize what is creative achievement and what is not in a relevant sense of creativity. In current American intellectual circles I see that creativity is identified and discussed as a brain and neural ability to achieve success in human survival and to production of values in sciences and arts. Perhaps we can make a distinction here between social traits or character traits for creative success of one kind or another and the explanation of such traits in terms of genes and evolutionary forces. For example, the well-known biologist E. O. Wilson has argued that all social animals have altruistic genes, which enables the development of the species on the earth, which he calls the ‘social conquest of earth’ (see Lumsden / Wilson 1981). He sees altruistic genes as creative forces which enable our creation of civilization and cultures for ourselves as human beings. In this sense we can see again two levels of creativity at work: the natural creativity which realizes ‘genetic fitness’ through natural selection or some mechanism which, as we may say, leads to advance of species in the tree of life. On the other hand, there is the human creativity which sees fit to sacrifice one’s self-interest for the achievement of group survival and even group prosperity. This altruistic love is creative because it leads to creation of group values and success of sustainability of life itself. Since this creativity requires self-overcoming in some sense and is not to be expected of everyone in the group, it takes the mind power of determination and spiritual devotion of an individual. Hence it is a form of creativity that is rooted in natural creativity of creation of life and human consciousness and
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even conscientious engagement of the human mind and human will, so that one is able to reduce greed and deceit which characterize harmful egoistic inclinations of the individuals. At this point we may indeed allow that selfishness and egoism could lead to ingenious design in deceit and other artful skills for winning which yet encroaches on well-being of both the individual and the group. However, we would not call these works of creativity. They are instead ‘creatively destructive’, not ‘creatively creative’.⁶ But one must see that altruism is a creative force which is required for success of the group to which one belongs. A still larger force is required from a successful group to overcome its selfishness and egoism in order to transcend the group interests for a larger group interest, not just a group’s larger interest. This makes personal creativity a matter of virtuous transformation. It is perhaps in light of these altruistic abilities that one can observe the diminishing of violence in the world in the last 50 years in comparison with past histories of mankind as pointed out by Steven Pinker, the evolutionary psychologist.⁷ Again, it is pointed out from an evolutionary psychologist point of view that human beings have evolved language as a means of communication based on human innate abilities. This amounts to recognizing the natural creativity inherent in the human nature, which can be seen as a part of the larger nature. But this point of view needs not to deny the importance, and perhaps, the necessity, of conscious efforts for making connections among things by the working of human mind. One can see that one of the important functions of mind is to see and look for connections of things so that one can create a better and desirable world for living. Hence there are both adaption to the present circumstances and yet creation of circumstances for adaption in human effort for thriving and success of living. In this sense one must recognize the power of mind, which is an organ for prospective and retrospective thinking for the purpose of creating a better present environment for living. It is in fact in improving one’s present condition of living that one can learn from past. It is also in light of a vision for a better future that one tends to modify the present toward a more desirable form of life in which we may see morality and virtues as co-reigning with knowledge of sciences in holistic life-world. From this point of view one sees that the world has to make progress because we have native tendencies to improve our actions in the Economist Joseph Schumpeter has something called ‘creative destruction’, but that is where we see how benefits may result from such creative efforts that call for ‘destruction’ of certain obviously bad obstructive elements. See his book The Better Angels of our Nature: Why Violence has declined (Pinker 2011).
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interest of harmonizing human relationships and we also have drive and passion for such improvement because of our abilities to creatively imagine and invent a future to our liking. Based on the similar recognition of the natural creativity in our being and the human brain-mind creativity (we may call such human creativity on the basis of the cognitive scientist’s efforts to ground mind on brain), we can then come to see how creativity in science and creativity in art could be said to be rooted in the same creativity to fulfill a creative motive or initiative inherent in our being and at the same time to create a better world for humanity in the future. We have to recognize the multi-functions and multi-goal nature of our creativity as humans. In this sense we can see creativity in science, which is to do with discoveries and theoretical construction for depicting a truer reality to match or to go together with creativity in religion and in arts if we could come to see the core spirit of religion and art as genuine creativity. First, let us have a clearer understanding of the creativity in science, religion and art.
3 Creativity in Science, Religion and Art Creativity in science is the ability to discover what reality is in terms of our observations and calculations. It has two sides: the observational-experimental which is geared to produce a better and more coherent picture of the world we have experienced so that we may make correct explanation and prediction of phenomena and events which we may encounter in our life. How do I understand thunder? How do I understand the rotation of the night and day? How do I understand the movements of planets and stars in the sky as we see them? To understand is to produce a theory based on our observations of events and things. But our observations may not yield all the reality connected with and behind the phenomena, and hence sooner and later, theoretical constructions of connections of types of phenomena are necessary for understanding. For based on our logical thinking and reason, we understand only when we see how and why we relate this character of a thing to that character of this or other thing in a law so that we may predict what would happen or what it would become under like or unlike circumstances. It takes insight to see these connections in terms of objective entities that we may eventually describe in laws of nature. But as Quine points out, we may be able to make our first observation categorical if we can identify objects by seeing or imagining how they
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form sorts of entities which exhibit certain traits across space and time.⁸ In other words, we begin with reification or identification of things in terms of observation sentences, which are quantified or restricted under certain qualities or traits. Then we need to explain those traits by discovering connections and thus constructing laws for governing those traits and actions of the identified objects. This is no doubt a form of creativity that is conspicuous in scientific inquiries. As we can see from Quine there is continuity from common sense to scientific knowledge construction. In this sense we see scientific knowing as a matter of insightful knowing the nature. In light of this insightful knowing we move on from one theory of narrow scope and broad precision to another theory of broad scope and narrow precision. This is how we move from Ptolemaic astronomy to Newtonian physics and then to relativity theory and quantum mechanics.⁹ Once knowledge is established, what appears in nature can also be seen as sign of what is invisible or hidden behind, a sign as index, as icon or as symbol as Charles Peirce suggests in his theory of signs. Since our discoveries of laws of nature may lead to implications which could be ontological, or even axiological and normative, we can argue for a metaphysical theory or even an axiological and moral philosophy, to satisfy our needs and interests in values and actions. Now for religion and art we can say something like this too. If we see religion in the ultimate sense as revealing some ultimate reality so that we can believe not only for its truth, but for its moral and practical value of life support or life salvation in face of death, we may appreciate its creativity in its offering such an ingenious and attractive picture of reality. Religious life hence can be conceived as a form of life that is an adaptation to exigencies of life and has degrees of creativities exhibited. What makes a world religion standing out is that its ultimate sense of reality is often conveyed by a record or story of a vivid historical event that could inspire and even command our beliefs under certain conditions beyond our scientific knowledge. A genuine belief in a respectable religion therefore requires not only suspense of science, but also a creative imagination that appeals to our feelings. For art, it is not just the sensible form that we can become captivated with; it is the underlying or behind-the-scene life and spirit of the artist which shines out from the artwork and which enables us to see something deeper and something unique behind a form or a gesture. In this sense there is also a discovery process Confer (Quine 1995: chap. 3) on how reification takes place through formation of observation categoricals. For a clear and concrete account of the shift of paradigms and construction of new theories, see (DeWitt 2010: chap. 7– 26).
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or procedure as we see in religion and in science. There are in arts simply new ways of discovering something deeper, truer and better or something more desirable and more valuable. In this sense we need to apply ourselves whole-heartedly to relevant situations so that we can come to see what is ultimate for this or for that in an aesthetic way. Of course, in general we need cool reason in observation and reasoning for achieving or appreciating scientific creativity, but for achieving creativity in religion and art, or for that matter, for engaging religion and appreciating art, we need passions beside reason if not beyond reason, namely the passion for finding the true in the form of belief or beauty which supports our application of our reason. For religion and art it is necessary to point out that we need feelings or passions even more than in science, as we have to find something to do with ourselves in a personal and intimate way. Hence we need will, feelings or passions and reason to work together for reaching a goal that can move not just myself but also move others who seek the same and who can take beauty as revelation of the true or the real in a beautiful form. What we need to stress perhaps is more than the intellectual virtue involved in the construction of a religious belief or in the construction of art. It is obvious that we need to explain and justify our religious beliefs so that we may convince ourselves and others. For this purpose we therefore need an intellectual discourse and argument for doing so, whether successful or not. In art we need to do designs of our art so that we may produce a beautiful form with content that carries or can carry a spirit that moves us as audience or viewers. This would have to involve knowledge and considerations of truth. In light of this understanding, the creativity in religion and art is not necessary to be separated from creativity in science. If one worries about this possible integration of creativity in science and in art or religion, we may stress that we must first recognize this underlying unity of creativity in ourselves or in our minds, which are sustained by both our reason and our feelings or passions. Besides, as we have known since 2000, our brain neurons and its physiological base in protein molecules are involved in our memory activities and this means that for science as for art and religion or philosophical thinking there are similar molecular movements in our brain which provide our memory which supports our thinking and imagination about our present and our future. It is not that the inventive and creative discoveries of religion and art are the same as science. It is that their respective discoveries require the same neuronal resources and together they support a common humanity so that humanity could prosper better and live sounder. Creativity in this sense is just insight into our minds so that we can see how and why our minds could be said to be creativity-oriented or creativity-based because it has come to recognize and knows itself through experience and thinking.
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In contemporary Western philosophy, although we have witnessed a linguistic turn in the 60’s, after 60’s there is a return to issues of understanding being and knowledge which goes beyond the question of meanings of words and terms in language as we witnessed in developments in cognitive science and naturalized epistemology. After all, it is we as human beings who invent and use language and who are concerned with what we come to know and with a world in which we find ourselves. The experience of reality and the reflection, whether skeptical or veridical of human self as center of knowing, believing and willing, are fundamentally real and command us to seek again the truth of the matter for any question or any answer to any question. There is a need to go to the basic, the simple and the obvious, which we may need to see subject to interpretation and explanation. The purpose is not to necessarily deny their status as such but to see how they can be related and interwoven with other experiences not as primary premises but perhaps as emerging phenomena or results. Under the growing demand for global understanding and communication we have to look for more connections and feedbacks and even hermeneutical circles in which whole and parts are mutual premises for mutual understanding.
4 Indeterminancy and the Indeterminate Quine has summarized his philosophy in terms of his concern with pursuit of truth in terms of cognitive meaning and objective reference as well as empirical evidence in terms of perception and observation of things and events in the world (see Quine 1992). He has focused on the beginning of philosophy in observation and through observation he comes to see formulating of theories that makes reference to things in the world on both empirical and theoretical levels. He wishes to abolish meaning as an independent entity and see it explained in terms of the translatability of terms in one’s own language or across two radically different languages. In this sense meaning is a matter of cross understanding between two individual agents. With this as a background one can see how Quine wishes to suspend ‘things of mind’ and hopes to build a physicalized theory of human understanding, offering the vision of truth as a result of inquiry and pursuit of truth based on the complex of evidence and intention. Unfortunately, he has encountered the problem of anomalous monism and find difficult to reduce each thinking action to physiological term. He speaks of psychophysical dualism of predicates even though we may have to speak of monism of sub-
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stance. He says, “There is no (sic) token identity, to give it the jargon, but the type identity”.¹⁰ I consider this to be where the concept of indeterminancy of understanding can be clearly introduced. The fact is that we can always predicate two synonymous or two non-synonymous meaningful expressions of the same type of physical phenomenon. For example, we can call the same person a bachelor or an unmarried person. We can identify the same planet as morning star and evening star without knowing their referential identity. We can further see the same figure as ears of a rabbit or the beak of a bird as we have in the famous gestalt of a certain drawing. We can therefore say that there is certain indeterminancy in the objective phenomenon as we experience it or that there is certain indeterminancy in the subjective mind as we experience the objective phenomenon or that such indeterminancy exists in both the objective and the subjective. What is revealing from these examples is that whether subjective or objective the indeterminancy seems to involve both the phenomenon and the human mind as reader of the phenomenon as a sign. One must see that there is simply an ontological indeterminate which makes both objective indeterminancy and subjective indeterminancy possible. Even in matters of translational indeterminancy of which Quine speaks there is this referential indeterminancy, which could cause two incompatible subjective translations. The translator’s mind has to respond to some initial reference which renders not only his translation possible but renders what is to be translated in a term or phrase or sentence possible. Eventually, the so-called truth of a theory or a translation has to be subject to at least two types of indeterminancies, the theoretical and the translational. As we see in Quine’s book From Stimulus to Science (1995), these two indeterminacies as renamed or alternatively described as indeterminacy of reference or ostension and as intersubjective and for that matter intrasubjective indetermination of translation. It is obvious that we have indeterminacy of meaning and reference not only with regard to external objects, or with regard to other’s minds which we shall regard as intersubjective, but with regard to one’s own mind which we shall regard as transubjective or intrasubjective which of course applies to one’s own language as a discourse.¹¹ With this idea of indeterminacy brought out in Quine’s naturalistic philosophy, we have to recognize that we have to go back to ontology and epistemology See Quine’s discussion of anomalous monism in (Quine 1995: 87 f.). Quine has first focused on this problem of anomalous monism in his book Pursuit of Truth (Quine 1992). We may perhaps simply call these two kinds of indeterminancy as referential and intentional.
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again. This time we have to appeal to questions of reference and meaning as a starting point of understanding creativity. I suggest now that the issue of indeterminancy has multiple dimensions, namely an ontological dimension, an epistemological dimension and also an ethical dimension. It is because that we have to raise ontological, epistemological and ethical questions based on our sense of indeterminancy. What is indeterminacy at all? Is it merely a matter of limitation of our knowledge or has it something to do with what reality is? What is that we can still make use of in our efforts to understand the world and other human beings? For example, we can still speak of mountains and rivers even if our reference can be questionable or being questioned. Here we have ontological indeterminacy. Similarly, we have to recognize that our knowledge of the world is dependent on our experience and our experience again is open to interpretation with regard to its content and form. Hence we have the epistemological indeterminacy. As to ethical issues, we may regard the ethical as open to determination by different kinds of values such as virtues, utilities or deontic duties or combinations of them. Here we have arrived at the indeterminancy of ethics that we need to explain and resolve for ethical action. It is to be pointed out that as the same reality may prompt two or more than two incompatible perceptions or theorizations, so we may find the same ethical demand for action may lead to two or more incompatible theoretical justifications, the utilitarian and the deontological or the deontological and virtue-theoretical. But unlike theoretical indeterminancy, indeterminancy in the ethical understanding has to be resolved each time action is called for. The moral will has to assume responsibility for such a resolution. With these indeterminacies, we may ask the question as to what situation or condition has made them possible. We may ask how to understand them so that we may know how to deal with them or how to evaluate our knowledge and judgment about them. In order to answer these questions, it is important that we must recognize them as facts of life that we must encounter in our seeking knowledge and decision on moral judgments. We must see that there is just no unique way of characterizing a situation or no unique perspective on looking at a problem. Although there are situations where there is only one correct answer, there are other situations that this needs not to be the case. As Quine has presented, the theoretical form of indeterminancy comes from reality, while the translational form of indeterminancy seems to come from us as a perceiver, as a knower and as a decision maker in translation. As we have shown, there are more than two or three forms of indeterminancy in so far as various fields of philosophy are concerned. In fact, any evidence of such indeterminacy is to be seen in the non-uniqueness of acceptable perceptual reports or judg-
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ments, or in the formation of incompatible theories or in the ambivalence of translations. In either case, the source of trouble is seen in the faculty of our perception, theorization and translation, but is in the given situation of the objective that we may call the indeterminate. That is, due to our limitations in our perception, observation and reflection, we are not able to cover all relevant aspects of a situation. That is, we are not able to collect sufficiently enough empirical data to arrive at a unique conclusion. We have to come to different perceptions, different theories and different linguistic understandings of a situation as individual persons or groups of individuals. It may be assumed that once we have more complete data we are able to eliminate the indeterminacies in our perception, conception and translation. But as we shall see, there is no complete data in any absolute sense, as we live a life of time and change that is not restricted in either direction of time. The cause of trouble is the indeterminate in the objective world that we have inherited as our own, and one can imagine that the indeterminancy may deepen because of its objective and subjective character of the indeterminate. One way to deal with the indeterminancy is provided very well by seeing indeterminacy as a matter of creativity that is not defined or explored. The question becomes why this is a significant way of identification of creativity. The answer is this: Both indeterminancy and creativity are not precisely defined concepts and yet they share something in common: namely they are the indeterminate to be determined in any specific way so that it may become specifically different. There is even some element of non-being in them that is to be conceived as not restricted by whatever is known as being and also conceived as subject to specification of a new kind. In this sense of specifically determining the determined or the undetermined, and by the same token, in the sense of creating the created or the un-created, they resonate with each other and even enhance and reinforce each other in the direction of determining as creating and also in the direction of creating as determining, with regard to the formation or transformation of concrete things or events or states. We see then indeterminancy as a condition for creation or creativity, for what is indeterminate is subject to creative transformation; similarly, we see then creativity as a condition for indetermination so that it can be here or there, this or that, yin or yang. The point is that indeterminancy reflects the static aspect of creativity whereas creativity reflects the dynamic aspect of indeterminancy. When we see determinancy and creativity as mutually determining or defining, a whole vision of creativity as indeterminancy and indeterminancy as creativity emerges so that we can see both as unified in a unity of ontology and epistemology of the indeterminate. Besides, one can see indeterminancy as a state
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and see creativity as an action, just as we can see indeterminacy as more or less an objective phenomenon and creativity as more or less a subjective potential activity. It is interesting to note that as a subject I can more or less identify with creativity because we experience freedom of choice and action in one way or another. On the other hand, we experience indeterminancy as an objective condition perhaps because we could be in doubt for lack of belief and knowledge as Peirce argues in his writing on fixation of belief and habit.¹² Given the above analysis of indeterminancy and creativity, we can no doubt identify indetermination as creativity in potential state while we can also identify creativity as indeterminacy becoming active and developing so that some determinateness of a thing could be created out of a state of non-determination or indeterminancy. We may use the same concrete example of gestalt for an illustration: When we see a gestalt image of bird-rabbit, we have a state of indeterminancy, and yet we may project our experience onto the presentation and come to decide what it is, a bird or a rabbit. This is of course to do with our perceptual indeterminancy, which has both the objective and subjective sides. For a theoretical understanding, we have the principle of relativity in Einstein’s specific theory of relativity: between two trains, if one moves, one cannot decide which one moves in observation from one’s own train as our common experience shows. Einstein’s theory justifies making this observation an objective fact of the world so that we can assert one or the other train as moving as a truthful fact. Similarly, we make our difference of experience and difference of concept in transformation of the Aristotelian-Ptolemaic system of planets to the Copernican-Newtonian system of planets. For translation, the native could wonder what and why rabbit is called “rabbit” in English instead of “gavagai” in the native language. The indeterminancy is a matter of mental learning and the creativity is the ability to learn and to relearn or unlearn so that one can become bilingual in translational determination. All these examples bring out a third element into the picture of understanding reality as indeterminate and creative, that is the interpretational element which, when ontologically understood, is a principle of transformation of reality from the indeterminate to determinate by way of creativity. This will make interpretation a mediating principle of transformation as having both an objective meaning and a subjective meaning. Objectively, interpretation assumes a state of indeterminancy of meaning, intention, and evidence as possibilities from Are we more creative when we are dubious and indeterminate in our beliefs or more creative when we are more settled in opinions? On reflection it seems clear that we must be metaphysically determinate so that we can free ourselves from determination in order to experience creativity as indeterminancy.
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which a new understanding becomes possible. It also assumes a power of creativity by virtue of which novelty and a scheme of new understanding would emerge. But then what is exactly interpretation as an enabling principle of new understanding? What kind of activity in our understanding would generate a new understanding? How therefore is interpretation efficacious in transforming our mental outlook and our mental attitude? To answer to these three questions is to bring out three characteristics of interpretation as an synthetic activity of mind which gives rise to a view or viewpoint, a horizon of creative synthesis, and a total transformation of practicality. In the first place, interpretation is a holistic view and viewpoint of reality by itself that is formed from interaction of the objective cognition and subjective thinking. It is intended to bring out a conceptual scheme to be applied to the world so that we may come to understanding of the world based on consistency and coherence of ideas or feelings. Second, interpretation is an integrative activity between the objective and the subjective, which maps an emerging image or possible world as forming from between the objective and subjective and thus representing the link and fusion between the two. It is therefore a process and an achievement of significance and meaningfulness, which increases the depth of our understanding of reality and ourselves as dynamic powers of creativity. Finally, interpretation as an oriented presentation of integrative viewpoint and view can be practically moving and enabling in the direction of creating constructive values such as harmony among people or in the direction of forming destructive disvalues such as conflict and war among people. In this sense interpretation is always efficacious and has axiological and moral effects on people. Of course it needs not to be simply moral or simply political: it can be religious, aesthetic or artistic as well and thus has the effect of a work of art. To understand interpretation in the light of these considerations which are respectively ontological, epistemological, and practical is what makes interpretation an onto-generative activity and process, namely an activity and process which gives rise to a new presentation of reality and hence a new understanding of the new presentation or aspect of reality, with reality as profoundly indeterminate and profoundly creative. It is premised on an onto-generative reality, an onto-generative mind and an onto-generative value or value system. This is thus titled the onto-hermeneutic point of view of interpretation as versus simply historical-effective hermeneutics of view as founded possibly on a narrow basis of metaphysics of nothingness as Heidegger presents. As a matter of fact, the onto-generative point of view of interpretation can be said to incorporate the philosophical hermeneutics of Gadamer as an important layer, but provides a deepening understanding of reality as creativity of creativity which would give
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rise to order and structure of the world and the consequent human understanding of the world. As this understanding is always an interaction between two opposites rooted in the emerging reality of creativity, it also incorporates the function of hermeneutics as resolution of conflict and tension as recognized by Paul Ricœur.
5 Interpretation of the Indeterminate: Abel and Extension Abel in his article Indeterminacy and Interpretation has focused on translation and communication as fundamental activities of interpretation that he regards as “a creative and interpretative-constructional activity” (Abel 1994: 403). He applies this activity to generate communication and a picture of the world and makes it an active principle of construction with interpretation-as over interpretation-of to indicate an implicit action of the mind. Besides, he offers a threelevel theory of interpretation, which consists of the primary level of categorizing construction, the second level of conventional construction and the tertiary level of individual construction of action or speech. The three-level theory of interpretation demonstrates how interpretation can be a cognitive-emotional event which is deeply rooted in reality of subject-mind or subject-existence which would give rise to cognitive activities from fundamentality of existential types to specific tokens of human language articulation in logic, aesthetics and ethics. Abel shows how on each level there is indeterminancy that makes interpretation possible and necessary. What is remarkable and important in Abel’s constructional view of interpretation is he is able to avoid the reductive empiricism of Quine so that one sees that interpretation is not merely a linguistic affair but a mental affair which goes beyond empirical translation but look for holistic and overall conceptual consistency and coherence of language and behavior. It is in this sense Abel even tries to give a new meaning to Quine’s thesis on indeterminancy of translation and approaches the view of onto-generative hermeneutics which sees all possible understanding as interpretative and constructive, so that we can justify analytical hypotheses within holistic contents, and also provides a basis and reason for construction of holistic systems based on considerations of experiences on all levels. As we have seen, it is because of these considerations that we can see how a system of onto-generative understanding can be developed or emerge. We shall further argue that it is not just a matter of practical necessity but also a matter of observational emergence. It is in this sense Abel can
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speak of his ‘interpretative realism’ whereas I can speak of the onto-generative philosophy of hermeneutics or onto-generative hermeneutics, which includes a generative ontology and a generative understanding as two components. Abel has the insight of relating indeterminancy to underdetermination of theories in science so that one can see why two different scientific theories could be incompatible on the basis of the same experience. Quine has the insight to show why this is the case as he shows that our scientific theory or theory of knowledge is always an extrapolation form our possible experiences and there is therefore more in our theory than in our experience. One might add that our theorizing is a matter of conceptualizing the reality from which reification could be made as recognized by Quine. In a sense we see reification as unavoidable and even necessary even though logical strategy has been suggested to teach us how to bring all our quantificational variables to the front of our theoretical senses as in Ramsey sentences in order to eliminate them. Quine in fact has suggested such a “defusion of ontology”, which will make ontology indifferent (Quine 1992: 33). But one may also point out that without reference in our reification we would not have our imagination to construct and interpret what those objects reified would have shown and effected, because we simply do not have ontology as relevant. Reification there works in both ways: it gives us a burden of proof and traps us in one underdetermined system instead another, yet it also gives us a freedom within the limits of our imagination to work out relations between objects and experiences and to dig into deeply rooted indeterminacy of reality as posited by our reification. Perhaps what we need is a balanced view between reification and indeterminacy so that we see any theory as underdetermined on one hand, and on the other, as creatively or constructively determining. The question is not only to recognize incompatible scientific theories but also to inquire why and how their incompatibility suggests ontologically and epistemologically how we may bridge their ontological restrictions or lighten their ontological burdens to form a more open and perhaps less underdetermined theory. Yet at the same time we need not deny the ever presence of indeteminancy of translation and construction. As Abel makes the distinction between the indeterminacy of translation and underdetermination of theory, we are led to see that the indeterminacy of translation could lead to a theory of mental meanings and ideas which are underdetermined. We have to face the issue of mental objects just as we face the issue of physical objects in the world. Whether mental objects can reduce to physical objects eventually is a moot point, but on a phenomenological level one has to say that there is the deeply rooted indeterminacy of mental reality just as there is the deeply rooted indeterminancy of physical reality. One cannot eliminate either of
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them and yet one could posit their ultimate oneness as depicted in two ways. If we wish not to worry about an ontological reductionism in either physical or mental direction, we may have to analytically consider a monistic version of cartesianism of the mental and the physical as sharing the deep indeterminancy of reality. Because of this indeterminancy, we are encouraged to explore interpretations and constructions of object-mind consonance and resonance in a framework and process of onto-generation and mutual generation of mind and body, body and object, just as we see in our organic unity of body and mind that share an indeterminate content of onto-generative reality. As indeterminacy of translation cannot be eliminated, we must see it as an intrinsic feature of language and also an intrinsic feature of human understanding. If we understand only on the basis of language communication alone, we may always face the practical issue of non-communication and immensurability. As it is, human language is open to interpretation, and human mind has the power of empathy and charity so that we may conduct our communication and description of reality as if it were universally shared in relevant and crucial basic aspects. Human mind is not a translation machine but a function that could consider translation in individual co-personal contexts so that sharable meanings could be established. In this sense indeterminancy does not necessarily present a practical problem, rather it becomes a useful base for resolving practical issues, as indeterminancy implies new possibilities and therefore could lead to creative insights and creative constructions as well. This of course presupposes and leads to the view as suggested in the above, namely, indeterminancy is a matter of creativity and thus to be creatively resolved by relevant interpretation and construction. Once we recognize that indeterminancy is creativity in an ontological sense, we shall see the world in a different light so as to allow the possibility of modern science for relativity and quantum mechanics and to allow insights from our minds to explore ways of articulation and communication which lead to creative achievements in arts and human relations. Let me first go back to the question of creativity in the Abelian sense of radical creativity. Abel has indeed listed 17 cases of challenges of radical creativity in his insightful paper on the Riddle of Creativity as indicated above. However, he did not specifically relate these 17 cases of challenges of radical creativity to indeterminancy as reality and to the creativity of our mind as part of reality. In fact, we may see the 17 cases of challenges of radical creativity as leading to our conception and experience of radical creativity if we see them as a matter of resolving indeterminancy into determinations by way of creativity of an onto-generative mind. This view on radical creativity needs to be explored on two stages: the first stage is to see how our knowledge of the world and mind is a creation
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from creativity in the indeterminancy and thus creates a new front of indeterminancy waiting for and inviting us to move on creatively. This means we need to see radical creativity as creation of a new system of new knowledge or improved knowledge based on what we have achieved. Let us identify five forms of our knowledge of the world that could be arguably said to represent the 17 challenges of creativity in Abel: 1) Observation of reality for new discoveries, 2) Association of thinking and metaphorical use of language, 3) Predication and formation of meaningful and truthful sentences based on reification, 4) Theoretical thinking and theoretical constructions on the basis of the above three, 5) Perspectives of worldviews based on systematization of our knowledge. We can see that our knowledge is formed on several levels. First of all, it is formed on the observational level and then moves to the second level of relating and associating of ideas so that we may produce concepts of things and their relations in laws of motion and causation. This means that we started to have language signs to stand for the observation of categorical relations in observation sentences. Based on observation we may exhibit our creativity of understanding and knowledge in theoretical thinking that leads to construction of theories on the basis of experience and predication of future experiences. This is where our systematic knowledge begins. Any system of knowledge has to be based on our wide experience and observation of the world. Different ways of observation and experience prompt different theories and belief systems on the part of human beings. They are bases for formulating values and norms as they could combine with our emotions and will to form meaningful understanding of agency of the human person and the evolving nature of reality. All these activities can be taken as bona fide forms of his creative engagement of the human person with the world and with other people and himself. It is clear that we were born in the middle of things of this kind, and even if we may not actually know what is be known, we can learn from and our minds can be shaped by it. Learning itself is creative and a form of transformation of the indeterminate into the determinate. Once we have the learned knowledge system, our creativity is to be continued or found in how we act out our known knowledge and in how we may enlarge our knowledge or refine and perfect it on the basis of our knowledge and our explorations into reality or experiences of reality. Hence in a sense radical creativity is to be found in breaking down our known knowledge in order to construct an unknown form of knowledge. It is to modify and revise what we have in
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order to succeed in presenting a novel view of reality by which we could be better enlightened if not better related. I have in mind the example of relativity theory of Einstein in relation to Newton and the mechanical view of Newton in relation to Ptolemy. What is not familiar may be true in an important sense. But they are still results of wide observation and theoretical thinking with support from wider and longer experiences. Hence we see creativity in Newton and in Einstein. We may even see creativity in Ptolemy in reference to his idea of epicycles that did perform an explanatory function in his time with his empirical observation. With this said, we may perhaps define radical creativity as formation of new system, new theory, new predication, new association, new metaphor and new perception or discovery of reality on the perceptual level. Then we have to face the question as to how radical creativity is possible. Abel has suggested that this radical creativity is possible because of our use of signo-interpretational construction. This no doubt provides an ingenious answer to radical creativity. Yet one could still ask what ontological reason can be given so that we can see how radical creativity works as it has worked in Ptolemy, Newton and Einstein. If we generalize this process of radical creation, we have to see it as embodied in any construction of valuable perception, vision, theory and system in any field, be it science or philosophy and art. For all these different fields of human endeavor to know and act on the world, others and oneself, one could come to different forms of articulation and presentation. Hence we have to see radical creativity as simply a matter of coming to new ideas and new art and new knowledge of significance. Our question then becomes how such knowledge is possible, how radical creativity is sourced and how it surges out to give us spiritual freedom and vision of reality and ways of action for selffulfillment and self-perfection. The answer I wish to reach is to show that we are sourced in a deep indeterminancy of reality that is manifested in both nature and our own mind and nature. It is through the deep stirring of the nature that new things and new life appear in the world. It is equally the case that it is through the stirring of our nature and mind that new creative actions will take place. On the basis of an objective creative universe and a subjective creative mind we are justified to expect to develop creativity in our works, as we are part and parcel of a creative universe. Since we have hearts and minds that are based and rooted in such a creative onto-generative world of nature, we are both ontological and onto-generative. Since the ultimate deep source of creativity in which our own creativity is rooted are natural changes, we may redefine radical creativity as ‘creative creativity’ with the first creative to refer to actual creativity of nature and human beings and with the second creativity as to refer to a deep source of indeterminan-
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cy, which is deeply creative, and which is directly related to nature and mind as inexhaustible source and resource for creative modification and creative construction-interpretation. In terms of nature-interpretation, it is simply a matter of new forms of natural regeneration and evolutionary changes of things. In terms of human interpretation, it is a form of realizing new understanding of the world and self in light of new knowledge of the world, others and ourselves. We may articulate the relationship between creativity and indeterminancy in some kind of potentiality and actuality language: Indeterminancy is creativity in dormancy whereas creativity is the indeterminancy in activity. It requires our mind to transform indeterminancy into creativity and to explore creativity in terms of recognition of indeterminancy. We may now represent the relationship of creativity, interpretation and indeterminacy as follows:
Diagram 1
We have observed that creativity and indeterminancy are mutually conditioning in such a way that indeterminancy makes creativity possible whereas creativity projects indeterminancy so that its constitution of reality can be realized. It is through interpretation that creativity brings out from indeterminancy the possible determinations while indetermination challenges creativity to create new forms of determination. But what is this power of interpretation or agent of translation and transformation? It is to be seen as our minds of understanding that are active forces of creative engagement of the indeterminancy for meaningful understanding and action based on indeterminancy. Mind is itself the creative force of transformation but it is to be supported or stimulated by objective creativity of nature that is changing of the world in which new experiences are made possible. So here we must see the creativity as something given in the world and something exhibited in the formation of things in the world. If we interpret the interpretation as activity of mind, it is clear that it is mind that would act on the basis of its power of imagination, association, reification and theorization that would transform indeterminancy of any form or action into meaningful action and form. If we see this creativity as shown and shining out in multitude of things and events of the world, it can be represented by things as its signs or indexes or
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symbols, depending on how our minds read these things. Then we can see that indetermination as simply things whose meaningfulness is brought out by creativity in signs of creativity. We could of course see indeterminancy within things because they are in change and can not be said to be determinate, then creativity becomes the source of new changes which would have impute new meaning to the things. In either way, creativity and indetermination could be seen as representing a relation of signs to things as in the theory of signs of Peirce. Then interpretation is simply the human person as the interpretant of things transcribing things into signs so that a language can be constructed for representation and communication. In this understanding we can see the above diagram become the following:
Diagram 2
From this we can see how knowledge could be construed as signo-interpretational construction as Abel has argued. Knowledge is therefore the result of interpretation of the human mind with its roots in creatively using signs or seeing things in meaningful relations and connections so that we can understand reality of objects. It might also be said that it is in light of observation of objects that signs are constructed so that we may develop semantically meaningful and scientifically truthful discourse of reality by the interpretant’s mind. It is to be observed that the interpretant’s mind is like the natural creativity in transforming the indeterminate into the determinate and yet introducing indeterminancy into its interpretation of the meaningfulness of things. The interpretant’s mind is the combination of creativity and indeterminancy. As we see later, this triangular relationship is precisely the relationship of yin and yang under the power of agency of the taiji when we see the issue of the representation as one of showing how nature generates itself, and consequently, as how human mind regenerates itself as well.
6 Onto-Generative Foundation of Indeterminancy and Creativity Since Quine we seldom talk about the ontological foundation of epistemology. Part of reason is that if knowledge is interpretative-constructive, we do not
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need to introduce metaphysical entities or relations for what we can understand in terms of interpretative-constructive activities. Yet in adopting such an approach we may also forget that for non-constructive concepts that could be introduced for explanatory purpose, we still need a realistic explanation based on experience. Here I am making three important observations: First, by non-constructive concept we mean a concept that we come across not by construction, but by metaphysical positing. Indeterminancy is a good example of this. Quine came to indeterminancy through his observation in regard to uncertainty of translation between two languages. Indeterminancy is simply the state of being not capable of a unique determination and in a way becomes reified as a state that seems to account for the rise of two or more incompatible theories or two or more different translations. We may therefore see indeterminancy as a metaphysical entity that has the power of explanation of the phenomenon of two incompatible theories or two incompatible translations. It becomes such an entity because it is first seen as a phenomenon and then seen as a cause for the phenomenon which gives rise to it. It is often the case that our observation of a phenomenon leads to a non-constructive concept that becomes a metaphysical cause for the rise of the phenomenon. Epistemology if it is not to be identified as phenomenology leads to ontology of one sort or another. Even in the case of Quine, unlike Carnap, he has to recognize a realistic basis for our language so that our linguistic experience of sensation could be explained and defined instead of defying what is conceptually realistic. The above point is to argue why certain metaphysical entity could be useful for explanation and the reason is that what is metaphysical entity is given rise to because of sheer need for explanation and prediction as well. Similarly what is so posed as metaphysical entity will have its life in itself as a phenomenon that is not subject to becoming an explanation. Now the substantial point is that we need to explain the indeterminate, despite the fact that in its present form no question of its explanation is raised. What needs to be asked is what is that which has brought our understanding and translation of a text to indeterminancy. Let us therefore pose the following question: Could we give some experienceable and observational reason for the indeterminancy as a phenomenon independent of the contexts of theorization and translation? On the other hand, could we also explain how indeterminancy as so construed lead to incompatible theories and conceptual incongruence? I believe that both of these questions could be best answered by the Comprehensive Observational Theory of Change in the Book of Change (Yijing).¹³
The Book of Change is the leading Chinese Classic formed in 12th Century BCE through a long
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It is to be noted that the original purpose of the authors of the Book of Change is to show a picture of the world that has constant change as its observable feature so that we have to do divination instead of simple prediction of the future. Divination is to consult spirits or the unknown to find out what is in the future. But in essence it is prediction shrouded in the belief of the spiritual or the supernatural that leads to an emotional or mystified state of mind. In the development of divination in use of the Yijing, such emotional and mysterious appeal is reduced to the minimum and empirical observation of changes is required at maximum, and thus what remains is prediction of the future under knowable and controllable conditions of human behavior. What stands out is prediction of course of events that gives reason to moral and prudential judgments. In fact as the Book of Change is recognized as recognizing both constant change and constant nonchange, there is no reason why scientific prediction could not be made, or to say the least, there is no reason why scientific reason is not included. Since there is constant change, no thing can be said to be fixated in the middle of change. Again since everything is also subject to non-change, there is still determination of patterns and laws of nature, even sometimes only in a probabilistic sense. In this sense the world is change and not for a moment to stop and yet there is implicit or tacit order of nonchange. Hence it is said by the Xici ¹⁴: “The Book of Change is not far from the truth. The way of truth frequently changes. It is moving without abiding. It roams in six places of voidness and shows no constancy up and down. (This refers to the six lines of a hexagram). There is always the exchange of the firm and the soft, and there is no absolute standard to be taken for granted. The change changes to what is appropriate and fitting in a situation.” “易之为书也不可远。为道也屡迁, 变动不居。周游六虚,上下无常,刚柔 相易,不可为典范, 唯变所适” Thus, change is to point to the flux of qi (vital energy) that constitutes what all things are in a constant flux and yet there is always the exchange of firm and
history of development in terms of cosmological observation (comprehensive observation known as guan) and divination practice. The received text consists of a system of 64 hexagrams with their primary divinatory judgments and as a whole is transformed into an onto-cosmological theory and moral philosophy through Confucius and his disciples in terms of the Ten Commentaries. This text has been recognized by leading scholars today as the living fountainhead for the rise of Confucianism and Daoism and remains as the ever-fresh source of philosophical thinking in the history of Chinese philosophy. See my book The Onto-Generative Theory of the Yi Philosophy (Cheng 2006). See Xici Xia 8 of the Commentaries of the Yijing in any standard text of the Yijing such as Zhu Xi’s Zhouyi Benyi (Original Meanings of the Book of Change from Zhou).
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soft. Although there is no fixed norm, there is change always seeking what is suitable and fitting. The point is to indicate that where there is change there is also non-change amidst the change. The question is to recognize the order of change even though there is no fixed way of forming the change and enabling the transformation. We may mention the following principles of change in the Yijing as showing how change is possible and how change will bring novelty and at the same time creates a state of indeterminacy so that things could be continue to form and emerge. This in fact amounts to bringing out the indeterminate as the creative and the creative as the indeterminate as confirming our early understanding of the mutual determining and reciprocal conditioning of the two situations. The comprehensive change is first to be seen as a way of polar forces yin and yang that correlate to transform each other and at the same time reaches a productive harmony which gives rise to new things. It is said that “one yin and one yang is called the dao”. In this manner yin and yang will continue to give rise to yin and yang and doing so on the basis of what is given. Hence the world is seen as a embedding of the yin and yang within the change of the yin and yang so that we see not only how an open hierarchy of beings becomes formed, beings which are mutually sustaining and supporting. It is because of this ordered relations among things in both vertical and horizontal manners that new individual things arise and acquire relevant places in an open space of all other things. In this sense things are naturally to emerge as if following a cosmic multilevel principle and an ultimate law of onto-generative creativity. Human beings being the most recent entities to emerge from the world, they are not simply seen as arbitrary contingencies as Heidegger conceives it, but as creative entities from a creative process of the yin and yang through balancing and harmonization. Hence human beings are seen to inherit the good of the dao and form their nature of creativity. As there is constant change even though there is constant unchange, we have a situation that we may call “order in chaos of vital force” (qizhongyouli) and “vital force in order of the world” (lizhong youqi). The content and form, the force and the order, the micro and the macro, the internal and the external, the up and down, the hidden and the manifest, just like the yin as the invisible and the dark and yang as the visible and the bright, all are to be seen in a cosmic balancing and yet are capable of finding their proper places in the cosmic order of ceaseless onto-generativity. It is in this fashion that the indeterminacy is a natural consequence of the comprehensive change and yet there is no reason why it is not compatible with order and even temporal relative determination for anything in time and in space. The reason, we say, that there is indeterminancy and yet determination in reality, is that we see the change as a pattern and
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that there could be double exchange and yet there is nature of things which maintains the determination. Hence indeterminacy is to be explained by determinacy and the latter is also explained by the former. This onto-generative cosmological explanation of indeterminancy is however also accompanied by epistemologically observable processes of comprehensive observation of guan. Guan is a necessary process that we need to go through so that we will be enabled to recognize what is more determinate and what is not. With guan 观 as a principle of verification and for harmonization, we are able to see eventually different phenomena of change and transformation without any prior prejudices. We could also know why indeterminancy could be formed and how determination could be established. Our comprehensive observation eventually will bring out the particular and the universal as well as our reflections on feeling-responses, enabling us to see for ourselves how the yin and yang work. This is a state and flow of vital energy (qi) that enables to see how the indeterminate is formed and how we could manage change under perception and experience of indeterminancy and make a suitable and useful transformation of qualities and being. The inexhaustible source of energy is however called the taiji. Given the taiji’s initial and ceaseless creative movement, we see how the functioning of qi as the correlate of the li (pattern and structure) can be so described that we can say that order of li gives rise to vital energy of qi and simultaneously that vital energy of qi gives rise to the order of li. The bringing out of the yin and yang is no arbitrary or random happening: there is both naturalness and necessity in such happening to be explained as inherent tendency of the ultimate creativity. It is simply a matter of formation of a particle or particular wave under no conditions and it is in this sense the ultimate creativity is defined as ultimate or initial creativity. As things multiply, there is of course growing complexity of mutual sustaining and mutual conditioning. What is naturally happening can be seen as causally happen and even as necessarily happen because of causality. But on the other hand, what is necessarily to happen can be also seen as causally happen when we take away our sense of necessity, and what is casually happen can be seen as made possible because of the ultimate creativity. In light of this understanding, our knowing of the indeterminate is both a matter of observational ontology and also a matter of reflective evaluation and formulation of normative principles that are seen to govern all the entities in the world. Our faculties of thinking, theorizing and systematization could produce incompatible theories and visions among one another with reference to this ultimate creativity. We are posed to know the source of change as causing ontological indeterminancy and consequently to give rise to creativity. Therefore
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there is a sense of naturalness of nature, which is neither contingent as if by chance, nor necessary as if by logic. We can therefore come to appreciate the importance of explanation in the commentaries of the Yijing in light of the creative dialectics and logic of the enhancing relations among things emerging from interactions of the yin and yang in a sequence of events.¹⁵ Here we can present this onto-generative diagram on how the taiji functions as yin and yang and how yin and yang functions as taiji. There is no way that the taiji is separable from the way of the yin and yang and the reverse is equally true, and there is also no way that the yin and the yang can be separated in the ultimate creativity of the taiji.
Diagram 3
It is obvious that there is a corresponding mapping between Diagram 3 and the Diagram 1 or / and the Diagram 2 of the above. My purpose is clear: I use Diagram 3 as a metaphysical or cosmological foundation model for the hermeneutic and semiotic relations of interpretation in perception, theory and translation in which indeterminancy arises.
7 Conclusion: Mind as Hilbert Space of Creativity Mind can be conceived as a complex Hilbert space as composed of different vectors that are potential forces which would move or act in certain mode with certain directions.¹⁶ If mind is composed of memory, feeling, reason, imagination, and will, we can see that the Hilbert space of mind has at least the vectors See Xugua or Treatise on Order of Sequence in the Hexagrams of the Yijing. In general, the mathematical concept of a Hilbert space, named after David Hilbert, generalizes the notion of Euclidean space of two dimensions to spaces of any finite or infinite number of dimensions, involving complex numbers. It is defined to contain vectors as potential forces of configuration and formation and operators as initiative and actualizable forces of transformation through possible measurements according to methods of vector algebra and calculus. It is by way of Hilbert space we can talk of principle of uncertainty, law of complementarity and Bell’s Theorem of Non-Locality. Confer also (DeWitt 2010: 362– 363). This idea of Hilbert space suggests a model of mind in which dispositions, feelings and nature are vectors that could be acted on reason and will which could be regarded as representing operators of the Hilbert space.
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from these functions of mind which operates to certain ways of action which can be hardly describable as laws of nature or as rules of deductive or inductive logic. Yet there are rules or meta-rules that enable us to speak of mind as source of orderly thoughts, creative insights and normative action or aesthetic judgments. We can thus see mind as a creative freedom that requires a free space that allows all kinds of possibilities of moves. Perhaps, when we speak of the Hilbert space of mind, we have also underdetermined mind and hence we need to see our description of mind as Hilbert space as merely a minimum model that could approximate mind depending on our further understanding of mind. As there are different vectors from different functions of mind, we can see that there are other forces that could act or operate on these vectors in the Hilbert space of the mind in which we can speak of operators of these forces. Each operator is a function that could act on certain vectors in the Hilbert space mind. In doing so we have certain consequences resulting from such operation, namely the action or operation on a vector would give rise to certain outcome which we may call eigenvalue which we can identify as knowledge k and certain other operation operating on k or any other vector force and thus producing another eigenvalue which we may call value v or norm n. It is in this manner we come to a normative knowledge system each member of which is composed knowledge and value as a natural unit. This way of explaining how our mind works points to the fact that mind can be creative if it could interact with the world and that it comes to depend on what it has been exposed to and in which way it has been exposed. The mind could generate insights on connections or relevant laws or sources of change. It is in this sense mind is simply a place or field in which vector forces have to interact with operator forces of the universe in order to reach a freedom and novelty. This then would be our hypothetic explanation as to how creativity of the cosmos is reflected in actions of mind and therefore explains how mind is a creative agency rooted in the cosmic and yet has the power to reach for the cosmic, and therefore, to bring out under different circumstances different kinds of creativities as we see in scientific discoveries, philosophical insights and artisticaesthetic activities and even in moving of hearts and minds in religion and morality.
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Bibliography Abel, Günter 1994: Indeterminacy and Interpretation, in: Inquiry 37, 403 – 419. Abel, Günter 2009: The Riddle of Creativity: Philosophy’s View, in: Meusburger, Peter / Funke, Joachim / Wunder, Edgar (eds.): Mileus of Creativity. An Interdisciplinary Approach to Spatiality of Creativity, Vol. 2, Dordrecht, 53 – 72. Cheng, Chung-ying 1995: On Onto-Hermeneutics of Guan (Comprehensive contemplative observation) in the texts and commentaries of the Yijing, in: International Journal for Yijing Studies 1, 59 – 79. Cheng, Chung-ying 2006: The Onto-Generative Theory of the Yi Philosophy (Yixue Benti Lun), Beijing. DeWitt, Richard 2010: Worldviews: An Introduction to the History and Philosophy of Science, 2nd ed., Oxford. Lumsdon, Charles J. / Wilson, Edward O. 1981: Genes, Mind, and Culture, the Coevolutionary Process, Cambridge, Mass. Pinker, Steven 2011: The Better Angels of our Nature: Why Violence has declined, New York. Putnam, Hilary 1990: Realism with a Human Face, ed. by J. F. Conant, Cambridge, Mass. Putnam, Hilary 1999: The Threefold Cord: Mind, Body, and World, New York. Quine, Willard Van Orman 1992: Pursuit of Truth, rev. ed., Cambridge / London. Quine, Willard Van Orman 1995: From Stimulus to Science, Cambridge, Mass. Whitehead, Alfred North 1929: Process and Reality, New York / London 1978.
Günter Abel
Zeichen-interpretative Prozessphilosophie Replik zum Beitrag von Chung-ying Cheng Der Beitrag von Chung-ying Cheng stellt auf höchst spannende Weise Verbindungen zwischen der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] und Mustern des östlichen bzw. asiatischen, speziell des von Cheng repräsentierten chinesischen Denkens her. Den Faden in diesem Dialog greife ich gern auf. Im Folgenden möchte ich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in diesem Verhältnis adressieren. Cheng ist ein geschätzter Dialogpartner auch deshalb, weil er in den für diesen Dialog relevanten drei Welten gleichermaßen zuhause ist. Zum einen (a) ist er selbst ein Vertreter des chinesischen Denkens und dessen großer Tradition. Zum anderen (b) ist er Kenner der in Bezug auf den Dialog einschlägigen Themen der westlichen Philosophie und hier insbesondere auch der Tradition der analytischen Philosophie; und schließlich (c) ist er gut mit dem Profil der ZuI-Philosophie und deren 3-Stufenmodell vertraut, dessen heuristischen ebenso wie ethisch-praktischen Wert er hoch veranschlagt und trefflich erörtert. Im Zentrum seines Beitrags stehen die beiden Themen (a) der Kreativität und (b) der Indeterminiertheit. Bei der Behandlung dieser Themen geht Cheng davon aus, dass beide eine ontologische und kosmologische Fundierung besitzen, die er als „onto-generative foundation“ anspricht (Cheng-Beitrag, insb. Kap. 6). Vor diesem Hintergrund möchte ich meine Replik wie folgt gliedern: 1. Zeichen und Interpretation in der ZuI-Philosophie und im chinesischen Denken. 2. Grenzen einer Ontologie der Kreativität. 3. Grenzen einer Ontologie der Indeterminiertheit. 4. Radikal dynamisches Prozess-Modell.
1 Zeichen und Interpretation in der ZuI-Philosophie und im chinesischen Denken Die Berührungspunkte des von Cheng eröffneten Dialogs ergeben sich aus gemeinsam geteilten Grundeinstellungen. Zentral ist darin die Auffassung, dass unsere menschlichen Erfahrungswirklichkeiten und Welten als ZuI-Wirklichkeiten/ ‐Welten adressiert und konzipiert werden können. Aus meiner Sicht sind zunächst die folgenden vier Gemeinsamkeiten und im Anschluss daran drei Unterschiede wichtig. https://doi.org/10.1515/9783110522280-065
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(a) Erklärtermaßen schließt Cheng sich der Auffassung der ZuI-Philosophie an, dass wir von der starken Stellung und Funktion der Zeichen und ZeichenProzesse auszugehen haben. Das ist sowohl in einem engen als auch in einem weiten Verständnis der Rede von Zeichen der Fall.¹ Als sinnlich wahrnehmbare Gebilde fungieren Zeichen (wie zum Beispiel Wörter, Bilder, Gesten oder Klänge) zum einen (i) als denotierende und referierende Zeichen im engen Sinne des Ausdrucks. Im weiten Sinne des Ausdrucks fungieren Zeichen zum anderen (ii) aber auch und vor allem als ausdrückende und expressive Zeichen. Darunter seien diejenigen sprachlichen wie nicht-sprachlichen Gebilde verstanden, die bislang unauffällig waren, dann aber in den Fokus unserer Aufmerksamkeit treten und schließlich als Zeichen-Gestalten angesehen werden, in Bezug auf die (sofern wir von solchen Gestalten affiziert werden) die Frage nach der Bedeutung gestellt werden kann und es etwas zu verstehen gibt. Wir fragen dann: „Was bedeutet das?“ Beispiele für solche Zeichen im weiten Sinne des Ausdrucks wären etwa das plötzliche Auftreten eines audio-visuellen Reizes, einer körperlichen Geste, einer farbigen Fläche, eines Geräuschs, eines Blicks oder eines Aromaduftes. Der weite Sinn von Zeichen ist jedoch stets bereits und konstitutiv auch dann im Spiel und grundlegend, wenn es um die Bedeutung von Zeichen im engen Sinne geht. Dies manifestiert sich vor allem an lebensweltlich- und hintergrundbedingten Verschiebungen der Bedeutungen von Wörtern, Bildern und anderen Zeichen. In der natürlichen Sprache stellen Wörter wie etwa ‚Erfolg‘, ‚Leben‘, ‚Handlung‘, ‚Sinn‘, ‚Relevanz‘, ‚Fortschritt‘, ‚Vertrauen‘, ‚Ehre‘ und deren Bedeutungs-Nuancierungen und Bedeutungs-Verschiebungen einleuchtende Beispiele dar. Über den rein denotierenden, buchstäblichen und lexikalischen Wortgebrauch von z. B. ‚Erfolg‘, ‚Vertrauen‘ oder ‚Ehre‘ hinaus sind für die Bedeutungen dieser Wörter ebenso wie für deren nuancierende Verschiebungen unter anderem die folgenden und dem weiten Sinn von Zeichen zugehörigen Komponenten konditional: die Situiertheit, der Sitz im Leben, der bislang übliche Wortgebrauch, die Hintergrund-Annahmen, die Kontext-Sensitivität, die jeweilige Nuance der Bedeutung, die korrelierten mentalen Bilder, die expliziten Bewertungen und die in den Zeichen bereits verkörperte Kraft der Orientierung. Die hohe Relevanz des weiten Sinns der Zeichen ist mithin vornehmlich in zwei Hinsichten gegeben. Zum einen (i) sind die so wichtigen Phänomene der Bedeutungs-Verschiebungen und Bedeutungs-Nuancierungen nicht ohne Rekurs auf diesen weiten Sinn des Ausdrucks verständlich zu machen. Zum anderen (ii) werden erst kraft dieser Komponenten des weiten Sinns der Rede von Zeichen
Zu den folgenden Unterscheidungen in puncto Zeichen und Interpretationen siehe ausführlich (ZdW 13 – 49).
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und Interpretation die semantischen Merkmale eines Zeichens (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- und Erfüllungsbedingungen) umgrenzt und das Zeichen bzw. Wort eben dadurch auch überhaupt erst in Kommunikationen, Handlungen und Kooperationen brauchbar und relevant. Zugespitzt formuliert könnte man sagen: ohne den weiten Sinn von Zeichen gäbe es erst gar nicht deren engen Sinn. Der ZuI-Philosophie zufolge liegen Bedeutsamkeit, Sinn und Relevanz (im Sinne von significance) der Zeichen der jeweiligen lexikalischen Bedeutung von Zeichen (im engeren Sinne von meaning) stets bereits im Rücken. Diese Komponenten sind es auch, die in einem vor- und sub-semantischen Sinne zu Verschiebungen und Nuancen der semantischen Merkmale führen können und, wie unmerklich auch immer, ja auch tatsächlich führen. Zeichen (und Interpretationen) im engen Sinne verkörpern stets mehr als ihre bloß buchstäblich-lexikalische Bedeutung. Sie sind in dem skizzierten Sinne stets in einer gegebenen Kultur und Zeit situiert und verankert. Der operative Sinn von ‚Bedeutung‘ im Sinne von meaning ist enger und zweckgebundener als die umfänglichere und grundlegendere Bedeutsamkeit, Relevanz und Sinnhaftigkeit der Zeichen. Vor diesem Hintergrund wird übrigens auch ein weiteres und hin und wieder entweder geleugnetes oder als mirakulös angesehenes Phänomen verständlich. Da wir nicht stets alle Komponenten des weiten Sinns der Zeichen bewusst präsent halten können – das würde uns schon allein in zeichen-ökonomischer Hinsicht überfordern –, wird auch das bemerkenswerte Phänomen verständlich, dass wir Zeichen, Wörter, Bilder oder Gesten oftmals direkt verstehen (und daraufhin etwa auch in eine Handlung eintreten, zum Beispiel den Raum verlassen), noch bevor wir in der Lage sind, die semantischen Merkmale solcher Zeichen, Wörter, Bilder oder Gesten angeben zu können. Dass sich unser Leben im Geflecht derartiger ZuI-Prozesse im skizziert weiten wie engen Sinne vollzieht, ist eine Grundeinstellung, die von Chung-ying Cheng mit Rekurs auf das frühe chinesische Denken betont und die in der ZuI-Philosophie entschieden in die Aufmerksamkeit gerückt wird. Dieser Betonung der Zeichen und Zeichen-Prozesse schließt Cheng sich explizit an. Hier also liegt eine erste und tiefe Gemeinsamkeit zwischen Chengs Auffassung und meiner eigenen Sichtweise. Die ZuI-Philosophie hat es in ihrem 3-Stufenmodell mit beiden Formen von Zeichen, der engen und der weiten Form sowie mit beider skizziertem Zusammenspiel zu tun – bei genealogischem und sinnkritischem Vorrang freilich des weiten Sinns vor dem engen. Verdeutlichen lässt sich dieser Punkt übrigens auch entlang der schlichten Beobachtung, dass in Wörterbüchern, etwa im Brockhaus, von den lexikalisch aufgerufenen Wörtern (wie zum Beispiel der Wörter ‚Erfolg‘, ‚Vertrauen‘ oder ‚Ehre‘, aber auch bereits von Art-Termini wie z. B. ‚Rotkehlchen‘) nicht Definitionen, gar analytische Definitionen, sondern Erläu-
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terungen gegeben werden. Der Erläuterungs-Modus ist der genuine Modus des weiten Sinns der Rede von Zeichen. (b) Chengs Beitrag unterstützt zugleich auch die in der ZuI-Philosophie betonte starke Funktion und Stellung, die (gleichursprünglich zu den Zeichen und Zeichen-Prozessen) der Interpretativität, den Interpretationen und InterpretationsProzessen zukommen. Zeichen und Interpretation treten als siamesische Zwillinge auf. Man könnte diese immer schon monadische Fusioniertheit von Zeichen und Interpretation terminologisch als das Kompositum Interpretierte-Zeichen resp. Zeichenverfasste-Interpretation, oder kurz als: Zeichen-Interpretation ansprechen. Genau das ist in der Rede von ZuI-Prozessen der Fall. Konsequenterweise habe ich, wie soeben unter Punkt (a) für die Zeichen, auch in Sachen Interpretation zwischen einem engen und einem weiten Sinn solcher Rede unterschieden. Der enge Sinn meint die Prozesse der nachträglichen Deutung und Auslegung sowie des perspektivischen Aneignens von etwas Gegebenem, z. B. von Wörtern, Texten, Bildern, Handlungen, Naturphänomenen (wie etwa physikalischen Prozessen) oder Kulturprodukten (wie etwa Gemälden, Skulpturen oder Bauwerken). Im 3-Stufenmodell der ZuI-Philosophie werden diese Aktivitäten auf der Stufe 3 beschrieben. Der weite Sinn von ‚Interpretation‘ meint in der ZuI-Philosophie den adjektivischen und adverbialen Gebrauch der Ausdrücke ‚Interpretation‘, ‚interpretativ‘ und ‚interpretatorisch‘ im Sinne der aktiv perspektivierenden, projizierenden, konjizierenden, konstruierenden und gestaltenden Aktivitäten. Diese reichen bis hinunter in die Prozesse der Individuation, der raum-zeitlichen Lokalisierung, der sinnlich-bildhaften Gestaltung und der sortalen Klassifikation unserer Erfahrungswirklichkeiten, unserer triangulären Ich-Wir-Welt-Beziehungen. Im 3-Stufenmodell der ZuI-Philosophie werden diese Aktivitäten auf der Stufe 2 und der Stufe 1 und in den Vokabularen dieser Stufen beschrieben und analysiert. Und ganz analog zur oben beschriebenen Situation der Zeichen gilt auch hier: Der weite Sinn von Interpretation ist der gegenüber dem engen Sinn in genealogischer, bedeutungs-umgrenzender und gestalterischer Hinsicht primordiale. Bei alledem liegt in der ZuI-Philosophie der Fokus der Betrachtung auf dem direkten Verwenden und Verstehen der Zeichen-Interpretationen. Diese beiden prozessualen Modi der Zeichen-Interpretationen bestimmen die Prozesse unseres Empfindens, Wahrnehmens, Erlebens, Sprechens, Denkens und Handelns. Und der ZuI-Philosophie zufolge bedürfen sie im Falle des direkten Verwendens und Verstehens jeweils nicht noch zusätzlicher epistemischer Vermittler. In der Regel funktionieren die ZuI-Prozesse vermittlungsfrei, eben direkt, obzwar in sich höchst komplex organisiert. Diese grundlegende Rolle der direkten Zeichen-Interpretationen manifestiert sich vor allem darin, dass wir die angeführten Prozesse in der Regel flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich praktizieren und fortsetzen
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können. Gelingt dies, dann haben wir allen Grund, uns darüber zu freuen – und das tun wir ja auch, auch übrigens in den Fällen gelingender interkultureller Dialoge. (c) Aus der Sicht der ZuI-Philosophie ist auch die starke Funktion und Stellung der Bilder und Bildzeichen zu betonen (vgl. dazu auch meine Replik auf Horst Bredekamp). Auch dieser Aspekt ist im Hintergrund von Chengs Beitrag deutlich. Ebenso tritt das dezidiert nicht-duale Verständnis von zum Beispiel Körper und Umwelt und von Gefühl und Sprache/Denken, überhaupt das durchgängig adualistische Denken hervor. Was die ZuI-Philosophie angeht, so darf ich die zentrale Stellung der adualistischen Konzeption des Verhältnisses von Wirklichkeit und Zeichen/Interpretation in Erinnerung rufen, die für das Buch Zeichen der Wirklichkeit (ZdW) leitend war. Die Zeichen/Interpretationen und unser menschlicher Geist sind weder Spiegel einer vorfabriziert fertigen Wirklichkeit noch ist Wirklichkeit und des näheren unsere Erfahrungswirklichkeit ein bloßes Konstrukt der Zeichen/Interpretationen und des Geistes.Vielmehr wird dieses ältere Schema als Ganzes zurückzulassen. In der ZuI-Philosophie bildet das Quadrupel von Adualität, Komplexität, Prozessualität und Holismus den Leitfaden der Betrachtung. Diese Aspekte werden im Beitrag Chengs ebenso wie in der ZuI-Philosophie zugleich durch ein deutliches Plädoyer zugunsten des letztlich fortwährenden Wechsels und Wandels aller Dinge komplettiert. In der Modellierung seitens der ZuI-Philosophie werden auf diese Weise unterschiedliche ZuI-Räume, des näheren unterschiedliche Theorie-, Praxis- und Verhaltens-Räume indeterminierter, offener und freier Art aufgespannt, in denen sich, so die These, unser Leben vornehmlich kraft unserer symbolisierenden Zeichen-Interpretationen so vollzieht, wie es sich nun einmal vollzieht. (d) In der ZuI-Philosophie und auch, wenn ich es richtig sehe, im Denken des von Cheng hochgeschätzten Buches Yijing wird hervorgehoben, dass sich unsere menschlichen Ich-Wir-Welt-Verhältnisse zunächst und zumeist flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich vollziehen. Freilich schließt diese Einstellung, wie ich an anderer Stelle betont habe (siehe Abel 2016a), Störfälle, Diskontinuitäten, Rupturen und Brüche im Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln keineswegs aus. Diese können vielmehr jederzeit eintreten – und das tun sie ja auch, und oftmals zudem mit nachhaltigen Auswirkungen zum Beispiel auf mentale Zustände, Orientierung, Identitäten oder den weiteren Verlauf der Lebensgeschichte einer Person oder Gemeinschaft. In günstigen Fällen kann auch die philosophische Reflexion und Meditation für Personen und Gruppen Mittel bereitstellen, die zur Auflösung eines Störfalls und zu neuen Kontinuitäten und Identitäten, mithin zu einem erneut flüssigen, anschlussfähigen und in seinen Ich-Wir-Welt-Beziehungen selbstverständlichen Leben beitra-
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gen. Weder in der Sicht Chengs noch in der Sicht der ZuI-Philosophie darf die Philosophie aus dieser Verpflichtung auf Humanität entlassen werden. Freilich bestehen zwischen der ZuI-Philosophie und dem Typus des chinesischen Denkens, wie dieses von Chung-ying Cheng vor allem vor dem Hintergrund des Yijing, des Buches des Wechsels und Wandels, vertreten wird, auch deutliche Unterschiede. Diese sehe ich vor allem in den folgenden drei Hinsichten: (a) Durchgängig wird bei Chung-ying Cheng hinter der Prozess-Natur der Erfahrungs- und Naturwirklichkeiten eine Struktur-Ontologie angesetzt. Dieser Ontologie, die Cheng unter dem Titel onto-generative foundation adressiert, soll sich letztlich das, was als Realitäten, Dinge, Prozesse und Relationen gilt und erfahren wird, generativ verdanken. Eine solch starke Ontologie-Annahme teilt die ZuI-Philosophie nicht. Ja, sie hält (entgegen auch jüngster Tendenzen innerhalb der westlichen Philosophie) eine starke Ontologie unter kritischem Vorzeichen für letztlich nicht explizierbar, aber, glücklicherweise, auch für nicht erforderlich in Sachen Bedeutsamkeit, Sinn, Relevanz und Orientierung unseres Empfindens, Wahrnehmens, Erlebens, Sprechens, Denkens und Handelns. Die ZuI-Philosophie versteht den Status von heuristisch eingesetzten ontologischen Annahmen (mit denen auch sie durchaus im Sinne sinnkritischer Präsuppositionen innerhalb ihres 3-Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse arbeitet) nicht im Sinne starker metaphysischer, essentialistischer oder realistischer Ontologien. Vielmehr handelt es sich um heuristische, epistemologische und praxis-relevante sowie lebensdienliche Präsuppositionen. Dieser Unterschied zwischen traditioneller Ontologie auf der einen und heuristischen und lebensdienlichen Präsuppositionen auf der anderen Seite ist mir sehr wichtig (vgl. hierzu auch meine Replik auf Luis Eduardo Gama Barbosa). (b) Der bei Chung-ying Cheng anzutreffenden ontologisch-generativen Fundierung korrespondiert zugleich eine kosmologische Fundierung. Auch dieser Fundierung gegenüber möchte ich eine Doppelhaltung einnehmen. Einerseits kann man natürlich auch die kosmologische Dimension im Sinne einer heuristischen und präsuppositiven Annahme durchaus ins Spiel bringen. Andererseits jedoch sollten die sinnkritischen Grenzen einer solchen Annahme nicht überschritten werden. Wie genau diese Grenze zu verstehen ist, werde ich in den Abschnitten zu Kreativität (2), Indeterminiertheit (3) und Prozess (4) darlegen. Hier sei lediglich angemerkt, dass ich in den beiden für Cheng fundamentalen Hinsichten (Ontologie und Kosmologie) folgendes Vorgehen praktiziere. Ich möchte (i) in den Dialog mit Chung-ying Cheng eintreten, (ii) in den Positionen ein Stück weit mitgehen, dann jedoch (iii) die sinnkritischen Grenzen benennen, die nach Maßgabe der ZuI-Philosophie nicht überschritten werden sollten.Wie bereits betont entwickelt Cheng seine ontologischen und kosmologischen Auffassungen
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des näheren als onto-generative foundation der Indeterminiertheit und der Kreativität. Diese Denkfigur macht seinen Beitrag so spannend und zugleich herausfordernd. Denn Cheng bewegt sich damit auf zwei Themenfeldern, die, wie er selbst betont, erklärtermaßen Herzstücke der ZuI-Philosophie sind. Aber ebenso erklärtermaßen ist die ZuI-Philosophie weder eine Ontologie noch eine SeinsPhilosophie im traditionellen Sinne dieser Ausdrücke. Diesen Punkt habe ich an anderen Stellen nachdrücklich betont und verteidigt. Er soll hier nicht wiederholt, aber doch erwähnt werden (vgl. z. B. meine Repliken zu Riccardo Dottori, Luis Eduardo Gama Barbosa und Andrzej Przylebski). (c) Ein dritter Unterschied betrifft Chung-ying Chengs Verständnis der Rede von ‚Interpretation‘. Damit ist natürlich ein weiterer grundlegender Punkt im Spiel. Cheng ist von einem bestimmten Hintergrund-Bild geleitet. Dieses Bild führt ihn auf ein aus meiner Sicht bei weitem zu enges und letztlich hermeneutisches Verständnis von Interpretation.² Cheng versteht Interpretation als das Prinzip der Auslegung und als Prinzip der Transformation der Indeterminiertheiten zu Determiniertheiten. In dieser Sichtweise wird die klassische Hermeneutik zwar um die aktive Komponente der Transformation erweitert, die über bloß passives Auslegen hinausgeht. Aber Cheng versteht Interpretation als eine gleichsam nachträgliche ‚synthetic activity‘, nicht jedoch, wie die ZuI-Philosophie, als die ursprünglich-produktive Prozessualität selbst. Mithin versteht er Interpretation nicht in ihrem Rang als primordiale und konstitutive Grundoperation. Cheng verteidigt (mit seinen eigenen Titelworten gesprochen) eine „onto-generative hermeneutics“. Dagegen lebt die ZuI-Philosophie von dem entscheidenden Punkt, dass Zeichen-und-Interpretations-Prozesse irreduzibler Grundvorgang sind. Des näheren bedeutet dies, dass die von Cheng durchaus ins Auge gefassten individuierten, perspektivierten und konstruktionalen Welten, Handlungen und Erfahrungswirklichkeiten in der ZuI-Philosophie stets bereits als Resultat basaler ZuI-Prozesse angesehen und im heuristischen 3-Stufen-Modell modelliert werden. Dieser grundlegende Unterschied lässt sich auch wie folgt formulieren: Nicht erst erfordert der Übergang von Indeterminiertheiten zu Determiniertheiten Interpretation – die erfordert dieser Übergang allemal, sofern er in sich ein InterpretationsVorgang ist –, sondern Interpretation liegt als Grundvorgang stets den nicht einfach fertig daliegenden Indeterminiertheiten und ebenso dann den resultie-
Dass die ZuI-Philosophie zwar viele Bezüge zur Hermeneutik aufweist, in keinem Falle aber mit dieser gleichgesetzt werden kann, habe ich an anderen Stellen ausführlich dargelegt. Siehe neben meinen Repliken auf Riccardo Dottori, Marco Brusotti, Andrzej Przylebski und Emil Angehrn vor allem (Abel 2012).
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renden Determiniertheiten, die als ZuI-Konstrukte angesehen werden, bereits im Rücken. Diese genealogische Umkehrung der epistemischen Perspektive zwischen Interpretationen bzw. Zeichen auf der einen und ontologischen und kosmologischen Indeterminiertheiten bzw. Determiniertheiten auf der anderen Seite ist von basaler Wichtigkeit. Des näheren meint die Formulierung ‚ZuI-Prozesse sind Grundvorgang‘ auf den drei Stufen des ZuI-Modells Unterschiedliches. Auf der ZuI3-Stufe haben wir es mit Zeichen und Interpretationen im Sinne aneignender Deutungen, aber etwa auch wissenschaftlicher Theoriebildungen und hinsichtlich der Sprache zum Beispiel mit individuellen Sprecher-Bedeutungen zu tun. Alle diese Prozesse sind ZuI3-abhängig. Die tieferliegende ZuI2-Stufe umfasst das Reich habituell verankerter Konventionen (wie zum Beispiel gegebener Verhaltensmuster oder, im Falle von Sprachen, zum Beispiel des Chinesischen und des Deutschen, gegebener Grammatiken und Sprachkonventionen). Offenkundig sind diese Muster, Grammatiken und Konventionen ZuI2-abhängig und vollziehen sich als ZuI2-Prozesse. Und die noch grundlegendere ZuI1-Stufe umfasst unter anderem die Mechanismen der Individuation, der raum-zeitlichen Lokalisierung, der Klassifikation und, im Falle der Sprache, die Sprachlichkeit des Selbst-, Fremdund Welt-Verständnisses/-Verhältnisses selbst. Diese kategorialisierenden und ursprünglich gestaltenden Prozesse sind nicht nur ZuI1-abhängig. Sie vollziehen sich als ursprünglich-produktive und unsere Erfahrungswirklichkeiten formierende und gestaltende ZuI1-Prozesse. Bezogen auf diese ZuI-Grundvorgänge erscheinen die Unterscheidungen in Sachen Indeterminiertheiten und Determiniertheiten als genealogische Produkte aus ZuI-Prozessen heraus und auf diese hin. In diesem Sinne greifen die ursprünglich-produktiven ZuI-Prozesse noch vor die Indeterminiertheiten, Determiniertheiten und Kreativitäten zurück. So haben Kreativitäten zum Beispiel viel mit dem zugrunde liegenden oder aktiv praktizierten Wechsel und Wandel der ZuI-Perspektiven zu tun, aus denen heraus radikal Neues hervortreten kann (vgl. dazu Abel 2016b).
2 Grenzen einer Ontologie der Kreativität Trefflich rekonstruiert Chung-ying Cheng die wichtigsten Aspekte meiner Sicht der Prozesse der Kreativität, welcher Sicht er sich erklärtermaßen anschließt. Cheng tut dies vor allem im Ausgang meines Textes The Riddle of Creativity: Philosophy’s View (Abel 2009). In diesem Aufsatz habe ich in puncto Kreativität die folgenden Aspekte betont und einer ZuI-philosophischen Behandlung zugeführt: die Unterscheidung zwischen einer schwachen Kreativität im Sinne von Neuartigkeiten,
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einer moderaten Kreativität im Sinne unserer intuitiven Neubildungen im Wahrnehmen, Erleben, Sprechen, Denken und Handeln und einer starken Kreativität in dem Sinne, dass, auch unter Verletzung bisheriger Regeln und Normen, etwas radikal Neues und nicht bloß Neukombinationen von bereits bekannten Elementen in die Welt gebracht wird. Cheng ist vor allem an dem Konzept der radikalen Kreativität interessiert, das er ausführlich erörtert, und zwar im Blick auf die unterschiedlichen Formen und Gestalten von Kreativität in Alltag, Wissenschaften, Künsten, Religion, Ethik und Humanität. Besonders interessant finde ich die Verbindungen, die Cheng zwischen dem Konzept der radikalen Kreativität in der ZuI-Philosophie und den Prozessen kreativen Wechsels und Wandels, so wie diese in der Philosophie des Yijing dargestellt werden, herausarbeitet. Seine diesbezüglichen Überlegungen finde ich sehr erhellend und höchst spannend. Auf die von Chung-ying Cheng trefflich erörterten Aspekte des riddle of creativity möchte ich hier nicht im Detail eingehen. Vielmehr möchte ich einige Erweiterungen des Kreativitäts-Konzepts in die Aufmerksamkeit rücken, die zum einen in einen Dialog mit Chengs Überlegungen eintreten, sich zum anderen aber auch von Chengs Position in dem Sinne unterscheiden, dass ich nicht in eine Ontologie und Kosmologie der Kreativität übergehe, sondern die sinnkritischen Grenzen solcher Transitionen markieren möchte. Ich möchte dies in den folgenden vier Schritten tun:³ (a) den inneren Zusammenhang von Kreativität, Zeichen und Interpretation betonen; (b) den Arbitraritäts-Raum der Zeichen und Interpretationen als Kreativitäts-Raum auszeichnen; (c) den Unterschied zwischen logischen Possibilitäten und kreativen Potentialitäten hervorheben; und (d) Kreativität als ein Emergenz-Phänomen ansehen. (a) Kreativität, Zeichen und Interpretation. Das Verwenden und Verstehen symbolisierender Zeichen ist das vielleicht grundlegendste Merkmal des menschlichen, insbesondere des kreativen Geistes (zum Folgenden siehe Abel 2006: 10 f.). Mentale kreative Prozesse vollziehen sich als Zeichen- und Interpretations-Prozesse und in symbolischen ZuI-Räumen. Dies meint nicht einfach nur die für die Kognitionswissenschaften und die computationale Psychologie charakteristische Auffassung, geistige und kognitive Tätigkeiten bestünden in nichts anderem als im operativen Manipulieren gegebener oder neu erfundener Symbole oder, wie die Kombinations-Theorie der Kreativität behauptet, im neuartigen Kombinieren bereits vorhandener Elemente. Die Metapher des Raumes benutze ich in diesem Zusammenhang übrigens ganz gezielt. Das Bild eines topologischen Raumes scheint mir gut geeignet, den nicht-dualen bzw. adualisti-
Dabei greife ich auf Materialien zurück, die ich in (Abel 2006) entwickelt habe.
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schen und dynamischen Charakter der kreativen Prozesse ebenso zu adressieren wie deren Situativität, Kontextualität und irreduzible Vielfalt. In diesem Kreativitäts-Raum geht es des weiteren auch nicht um eine bloß externe Zeichen- und Interpretations-Abhängigkeit des kreativen Geistes, etwa in der Art, dass er vermittelnde Zeichen und Interpretationen gleichsam nur als Werkzeuge benötigt, um seine Gehalte darstellen und sie anderen Personen kommunizieren zu können. Man muss, mit Charles S. Peirce, einen wesentlichen Schritt weitergehen: „We have no power of thinking without signs.“ (Peirce 1960 Bd.V, Nr. 5.265 u. 5.251 ff.) Und ich spitze zu: no creative mind without signs. Mithin geht es zentral um den Gesichtspunkt, dass kreatives Denken intern auch ein Zeichen- und Interpretationsprozess ist. Wir denken und sind kreativ nicht vermittels, sondern kraft der Zeichen. Ein kreativer Kopf ist ein Geist und ein kreatives Team sind Geister, der/die diese Fundamentalprozesse in neue Bahnen zu lenken vermögen und darin regel-setzend, neu-orientierend und stil-bildend wirken. Der radikal kreative Geist verwendet gegebene Zeichen und Interpretationen auf neue Weise, er erfindet neue Zeichen und Interpretationen und implementiert neue Regeln ihres Funktionierens. Cheng hält diese „signo-interpretational“ Antwort auf die Frage, wie radikale Kreativität möglich ist, für eine „ingenious answer“ (Kap. 5). Angespornt durch diese Einschätzung möchte ich diesen Aspekt noch etwas näher erläutern. (b) Der Arbitraritäts-Raum als Kreativitäts-Raum.Von grundlegender Relevanz in Sachen Kreativität ist das, was ich den Potentialitäts-Raum der Kreativität nennen möchte (zum Folgenden siehe Abel 2006: 13 – 15). Jedes tatsächliche Zeichenverwenden kann in dem Sinne neu genannt werden, dass es nicht bloß eine vorab gegebene Konvention reproduktiv wiederholt. Schon allein der Zeitenabstand hat zur Folge, dass sich ein Zeichen und eine Interpretation nicht zweimal absolut identisch verwenden lassen. Auch dieser Aspekt öffnet den Kreativitäts-Raum. Sprache zum Beispiel ist kein konventionelles System mit vorab klar definierten Strukturen, die erlernt und dann in identischer Repetition auf gegebene Situationen appliziert werden. Die Codes natürlicher Sprachen sind nicht vorab und nicht ein für alle Mal garantiert. Sie leben, wie Ferdinand de Saussure einmal anmerkt, „à la merci de lendemain“, von der Gnade des folgenden Tages (De Saussure 1957: 72). Natürlich-sprachliche Kreativität nutzt diese Offenheit der Zeichen, Interpretationen und Sprachen. Radikale Kreativität manifestiert sich darin, die bisherigen und nicht vorab fest-gestellten Strukturen eines Sprach- und Zeichengebrauchs zu überschreiten, zu transformieren und gegebenenfalls durch andere zu ersetzen. Witz, Ironie und Metapher sind Beispiele dafür. Von grundlegender Bedeutung im Blick auf den Kreativitäts-Raum ist die Arbitrarität des Zeichens, also das, was wir seit De Saussure als ‘déplacement du
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rapport entre le signifié et le signifiant‘, als die mögliche Verschiebung der Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem fassen. Starke Zeichen- und Interpretations-Kreativität bis hin zum Erfinden neuer Zeichen und Interpretationen und der damit möglicherweise verbundenen Konstruktion neuer epistemischer Objekte und Erfahrungswirklichkeiten macht sich diesen Spielraum zunutze. Die Arbitrarität des Zeichens und der Interpretation öffnet diesen Kreativitäts-Raum. Er kann als indeterminiert, unterbestimmt, unkalkulierbar, nicht-algorithmisierbar, nicht-prognostizierbar und unberechenbar angesehen werden. Und in diesem Raum kann jederzeit und unvorhergesehen radikal Neues passieren. Kann es die Kraft des kreativen Geistes ohne Zeichen nicht geben, dann kommt dem offenen und indeterminierten Verhältnis eines Zeichens zu seinem Folgezeichen kardinale Bedeutung zu. Das ist ein Punkt fundamentaler Wichtigkeit. Denn mit dieser Sicht ist ein Modell der Sprache zu verabschieden, demzufolge es im erfolgreichen kreativen Sprach- und Zeichengebrauch um Prozesse gehe, in denen implizite Strukturen explizit gemacht werden und eine inferentielle Semantik zugrunde zu legen sei (wie gegenwärtig etwa bei Robert B. Brandom). Ein solches Modell kann weder die Kreativitäts-Frage noch Fragen in Bezug auf eine Fülle anderer Phänomene beantworten, wie z. B. die des abweichenden, des metaphorischen, des ironischen oder des fiktiven Zeichengebrauchs. Aus der Sicht der ZuI-Philosophie ist entscheidend, dass das Verhältnis von Zeichen und Folgezeichen kein inferentielles und kein deterministisches, weder ein logisch noch ein kausal determiniertes, kein apriorisch vorab geordnetes, sondern ein offenes und freies Verhältnis ist, in dem ein erfolgreiches Folgezeichen gleichwohl direkt verstanden wird. Man denke hier zum Beispiel an eine Folgezeile oder an ein evoziertes Folgebild in einem Gedicht. Oder an einen Geistesblitz, der ein in der Mathematik bislang nicht für lösbar gehaltenes Problem mit einem Schlag auflöst. In solchen Fällen ist die Kreativität des Erfindens direkt verstandener neuer Folgezeichen und Folgeinterpretationen offenkundig essentiell, und zwar vornehmlich auch dann, wenn die bis dahin geltenden Regeln der Zeichenverwendung und Interpretation revidiert, überschritten, verletzt und durch andere ersetzt werden. In diesem Zusammenhang möchte ich auf Unterschiede zwischen der skizzierten ZuI-Philosophie der Kreativität und der Auffassung von Cheng hinweisen. Cheng schätzt, wie betont, das Konzept der radikalen Kreativität überaus. Aber er möchte diesem Konzept eine ontologische und kosmologische Fundierung unterlegen. Seiner Auffassung nach ist radikale Kreativität „simply […] derived from primordial creativity of the universe“ (Kap. 2). Dies sei einfach deshalb der Fall, weil wir als Menschen eben Teil des Universums sind. „Natural creativity“ wird so zum Ausgangspunkt und zur Grundlage der „human creativity“ (ebd.). Vor allem aus drei Gründen kann ich diese Auffassung nicht teilen.
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Zunächst (i) ist es in dem dargelegten Sinne keineswegs so, dass das radikal Neue direkt aus der kosmischen und physikalischen Materialität des Universums abgeleitet werden kann. Das Neue tritt vielmehr unvorhergesehen und unerwartet ein. Das Set der Ausgangsbedingungen wird nicht einfach bloß um einen weiteren Schritt fortgesetzt. Vielmehr tritt genuin Neues hinzu, das nicht reduktionistisch auf die Verfassung des (wenn auch seinerseits kreativ gedachten) Kosmos zurückgeführt und nicht aus diesem abgeleitet werden kann. Diese Überlegung erstreckt sich sowohl auf den Versuch einer kosmologischen als auch auf den einer ontologischen Grundlegung der radikalen Kreativität. Daher auch ist das oben angesprochene Verhältnis von Zeichen/Interpretation und Folgezeichen/Folgeinterpretation und die damit verbundene Offenheit und Freiheit von so kardinaler Wichtigkeit. Das aus solcher Offenheit und Freiheit hervortretende radikale Neue gilt es zu verstehen. Das ist die Herausforderung, die wir annehmen und vor der wir nicht einfach nur unsere Waffen strecken sollten. Sodann (ii) ist auch in puncto radikale Kreativität zu betonen, dass wir Menschen es sind, die mithilfe unserer kognitiven, wissenschaftlichen und technischen Fähigkeiten in der Lage sind, das Universum als ‚kreativ‘ zu kennzeichnen und entsprechende Hypothesen, Theorien und Modelle zu formulieren. Offenkundig ist es nicht das Universum selbst, das als sein eigener KreativitätsQualifikator und -Klassifikator auftritt. Freilich möchte ich mit dieser Bemerkung keineswegs einem erneuten Dualismus zwischen Mensch und Natur, Mensch und Kosmos, das Wort reden. Aber innerhalb der adualistischen Einheit beider ist gleichwohl vor voreiligen Reduktionismen und Naturalismen zu warnen. Durchaus habe ich dabei an die von Safranski so pointiert formulierte Grundidee Schellings gedacht: „Die Natur schlägt im Menschen ihre Augen auf und bemerkt, dass sie da ist.“ (Safranski 2003: 229). Aber dieses Bild bedeutet gerade keinen Freibrief für Reduktionismen und Naturalismen. Vielmehr zeigt eine genauere Analyse des Satzes und seines Kontextes, dass eher das Gegenteil der Fall ist. Schließlich (iii) möchte ich schlicht an eine weitere Tatsache erinnern. Zwar sollten wir als Menschen – und hier stimme ich Chung-ying Cheng mit allem Nachdruck zu – unsere Kreativität dazu nutzen „to improve our actions“ und die Harmonie der „human relationships“ (Kap. 2). Aber ebenso offenkundig ist, dass Kreativität destruktiv zu sein vermag. In Abwandlung des bekannten und eindringlichen Wortes Schellings, dass das Böse intelligent ist, könnte man sagen, dass das Böse auch kreativ ist. Freilich macht dies die Forderung einer Humanität des Kreativen nur umso dringlicher. (c) Von logischen Possibilitäten zu kreativen Potentialitäten. Dass Neues eintritt, zeigt, dass es möglich ist. Das Verhältnis von Kreativität und Möglichkeit ist
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mithin fundamental.⁴ Allerdings muss diese Feststellung über die Kombinatorik gegebener Possibilitäten (auch im Sinne der possible world semantics) hinausgehen. Es muss der Übergang vollzogen werden von logischen Possibilitäten zu kreativität-disponierenden Potentialitäten. Schwache Kreativität hat mit Possibilitäten zu tun. Starke Kreativität mit Potentialitäten. Deren Reich ist weit umfänglicher als das der logischen Possibilitäten. Offenkundig sind Dinge möglich und wirklich, die unter dem Kriterium logischer Möglichkeit im engeren Sinne als unmöglich einzustufen wären. Man denke z. B. an die Malerei, etwa an das, was in Gemälden von René Magritte oder in Zeichnungen von M. C. Escher dargestellt wird und uns, mit Recht, als höchst trefflich, auf den ersten Blick als das Natürlichste der Welt erscheint – von Lebensformen, mentalen Zuständen und anderen Dingen erst gar nicht zu sprechen. In kreativen Prozessen, Personen und Produkten ist das Modale in diesem tieferen Sinne im Spiele. Der Witz einer Sprache zum Beispiel ist nicht, dass sie aus den Buchstaben eines Alphabets besteht, die in möglichen Kombinationen zu Wörtern, Sätzen und ganzen Diskursen zusammengesetzt werden. Der Witz ist vielmehr, dass Sprache ein Potential ist. „La langue“, schreibt Ferdinand de Saussure einmal, „est quelque chose de potentiel, la parole est du réalisé“ (De Saussure 1957: 10). Die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung von Potentialität und Aktualität kann helfen, einen Unterschied zu verdeutlichen, der in Sachen Kreativität von grundlegender Bedeutung ist, den Unterschied zwischen: Nichts, Noch-Nicht und Aktual-Wirklich. Sofern wir nicht bereit sind, Kreativität einfach als creatio ex nihilo zu fassen, können diese Unterscheidungen hilfreich sein. In der Linie Whiteheads sieht auch Cheng radikale Kreativität vor allem in der „transformation of the possibilities into actualities“ (Kap. 2) am Werke. Und ich finde wichtig, dass und wie er den menschlichen Geist als eine „free function of creative determination“ in einem Hilbert-Raum von Möglichkeiten verortet (Abstract u. Kap. 7). (d) Kreativität als Emergenz. Wie aber passt der kreative Geist in unser naturalistisches und wissenschaftliches Weltbild? Ein Vorschlag lautet: Kreativität kann als ein Emergenz-Phänomen, als Phänomen des überraschenden Auftretens verstanden werden, und zwar in einem an den terminologischen Gebrauch von ‚Emergenz‘ in der Philosophy of Mind sowie in den Wissenschaften direkt anknüpfenden Sinne (siehe Abel 2006: 18 – 22). Einige Kerncharakteristika von emergenten Phänomenen und von kreativen Prozessen sind sehr vergleichbar, vor allem in den drei Hinsichten, die ich zur Charakterisierung von Kreativität her-
Siehe zum Folgenden (Abel 2006: 16 f.); in Sachen Möglichkeit und Modalitäten siehe meine Replik auf Pirmin Stekeler-Weithofer.
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angezogen habe: (i) Neuartigkeit; (ii) Unvorhersagbarkeit; und (iii) Nichtreduzierbarkeit auf antezedente Elemente. Hinzu tritt die meta-theoretische Perspektive, in der heute der EmergenzBegriff vor allem in den Bereichen Synergetik, Selbstorganisation und Chaosforschung erneut Karriere macht. Der entscheidende Punkt ist hier, dass der genuine Prozess-Charakter von Ereignissen weder im Rekurs auf die Elemente der Ausgangs- noch in denen der Endkonstellation beschrieben werden kann. Phänomene dieser Art bezeichnen wir als emergente Phänomene. Der Übergang von einer derartigen Prozess-Philosophie zu kreationistischen Prozessen (und etwa auch zu der Idee des kreativen Universums) ist einfach und schnell: Die Prozesse können als solche des dynamischen Variierens, des schöpferischen Entwickelns, der dynamischen Um- und Neu-Organisation, kurz: als Prozesse fortwährender Bildung von Neuem, mithin im weiten Sinne als kreative Prozesse charakterisiert werden. Jedes (um einen Ausdruck Whiteheads zu verwenden) ‚Konkreszieren‘ zu einem modifizierten, weiterentwickelten, umund neugeordneten Gebilde kann in diesem weiten Sinne des Ausdrucks als eine Bildung von Neuem angesprochen werden. Das Spektrum reicht dann von der Ebene der Elementarteilchen bis hin zur prozessualen Entstehung neuer Sterne im Universum und zum Auftreten radikal kreativer Ideen in den Köpfen einzelner Individuen. Die Auffassung, dass das Universum ein „kreatives Fortschreiten ins Neue“ sei, wurde vor allem von Alfred North Whitehead entwickelt. Sie ist aber heute bei weitem nicht mehr nur mit seinem Namen verbunden, sondern auch in der gegenwärtigen Astrophysik anzutreffen (vgl.Whitehead 1979: 407 und Kanitscheider 1993). Der Unterschied zwischen der Whiteheadschen Konzeption, die von Chungying Cheng geteilt wird, und dem ZuI-philosophischen Zugang in dieser Frage ist, dass ich nicht direkt von einer Ontologie und Kosmologie der ‚actual entities‘ ausgehe. Ausgangs- und Einstiegspunkt sind in der ZuI-Philosophie vielmehr die Sinn-Präsuppositionen unserer Gedanken, Handlungen, Sätze, Erlebnisse und Erfahrungswirklichkeiten. Unter kritischem Vorzeichen gelangt man auch von dieser epistemischen Perspektive aus dazu, die Welt als eine Prozess-Welt und die Prozesse in einem nächsten Schritt als im weiten Sinne kreative Prozesse anzusehen. Diesen Punkt werde ich unten weiter spezifizieren.
3 Grenzen einer Ontologie der Indeterminiertheit Chung-ying Cheng teilt meine Hochschätzung für Quines berühmte These der Indeterminiertheit (indeterminacy) der Übersetzung. Des näheren stimmt er auch
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der spezifischen Rekonstruktion dieser These im Rahmen des 3-Stufen-Modells der ZuI-Philosophie zu. Innerhalb dieses Modells habe ich (siehe Abel 1994: 403 – 419) die Indeterminiertheits-These im Rahmen der umfänglicheren These, dass das Verwenden und Verstehen einer Sprache als kreative und interpretativ-konstruktionale Aktivität konzipiert werden kann, rekonstruiert und erörtert. Dass diese epistemische Perspektive sinnvoll ist, zeigt sich vornehmlich an den Übersetzungs-Hypothesen (Quines ‚analytical hypotheses‘), die als zeichen-interpretationale Konstrukte, als ZuI-Konstrukte adressiert und modelliert wurden. Die Übereinstimmung zwischen Chengs und meiner Sichtweise erstreckt sich auf alle drei Typen von Indeterminiertheit, die wir bei Quine finden (siehe Abel 1994: 413 f.). Indeterminiertheit liegt vor erstens (i) in dem Sinne, dass Wahrheit unbestimmt sein kann. So kann es zwei Theorien der Wahrheit bzw. zwei Handbücher der Übersetzung geben, die beide alle empirischen Constraints gleichermaßen gut berücksichtigen. Und doch kann die eine Theorie einen bestimmten Satz als wahr auszeichnen, während die andere Theorie denselben Satz als falsch ansieht. Zweitens (ii) kann die logische Form von Sätzen unbestimmt sein. Zwei gleichermaßen zufriedenstellende Theorien könnten jeweils recht unterschiedliche Elemente als, zum Beispiel, singuläre Terme oder Prädikate einstufen. Und drittens (iii) können zwei Theorien gleichermaßen akzeptabel sein, sich aber dadurch unterscheiden, dass sie verschiedene und sogar inkompatible Referenten ein und denselben Wörtern und Sätzen zuordnen. In Bezug auf alle drei Typen von Indeterminiertheit habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht, dass wir die Sachlage mit Hilfe und innerhalb des 3-StufenModells der rekursiven ZuI-Verhältnisse modellieren können. Vor allem gelang es, die folgenden drei entscheidenden Aspekte im Rekurs auf das ZuI-Modell zu unterfüttern: erstens (i), dass Unbestimmtheit nicht eine Unbestimmtheit ‚of facts of the matter‘ ist; zweitens (ii) dass es einen signifikanten Unterschied zwischen der Indeterminiertheit der Sprache und Übersetzung auf der einen und der Unterbestimmtheit (underdeterminacy) von Theorien auf der anderen Seite gibt. Unterbestimmtheit ist dadurch gegeben, dass wir es, mit Quines Formulierung gesprochen, stets mit einem bloß ‚meager input‘ an Daten zu tun haben, auf diesen Input dann jedoch eine in der Regel enorme Reichweite, einen ‚torrential output‘ aufsatteln (wie zum Beispiel trotz letztlich magerer Big-Data eine ganze Theorie über die Geschichte des Universums vom Urknall bis heute); und drittens (iii) ließ sich im Rekurs auf das ZuI-Modell der interne Zusammenhang von Unbestimmtheit, Interpretation und der Unabdingbarkeit des ‚Prinzips der Nachsichtigkeit (charity)‘ erläutern und präzisieren. Eine der Pointen in Sachen Indeterminiertheit scheint mir in Folgendem zu liegen. Stellen wir uns vor, Peter könnte mit den Göttern telefonieren und erhielte die Auskunft, dass es letztendlich doch eine von Indeterminiertheiten freie on-
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tologische Letzt-Fundierung gäbe. Unter kritischem Vorzeichen gäbe es für uns endliche Geister gleichwohl keinen Grund, der uns rationalerweise zwingen könnte, ihm dies auch glauben zu müssen. Angesichts der epistemischen Situation endlicher, perspektivisch wahrnehmender, erlebender, sprechender, denkender und handelnder Menschen erweist sich die Indeterminiertheit als nicht eliminierbar, als nicht noch einmal hintergehbar, als nicht ihrerseits (was Chung-ying Cheng gern möchte) ontologisch fundierbar. Cheng plädiert für genau diese Möglichkeiten einer ‚onto-generativen‘ und kosmologischen Fundierung auch der Indeterminierheiten aller Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse/-verständnisse. Ganz ohne Frage sieht und betont Cheng höchst trefflich die epistemische und handlungsbezogene Indeterminiertheit aller unserer sprachlichen und anderen Aktivitäten in ihrer hohen Relevanz. Da bin ich ganz bei Chung-ying Cheng. Gleichwohl aber möchte er nicht bei der epistemischen, handlungsbezogenen und heuristischen Indeterminiertheit, wie sie für uns endliche Geister aufgrund unserer epistemischen Situation nun einmal kennzeichnend ist, stehenbleiben. Er möchte die Indeterminiertheiten in einer Ontologie und Kosmologie fundiert sehen. In dieser Hinsicht argumentiert Cheng in puncto Indeterminiertheit mit der gleichen Denkfigur, die wir bei ihm auch bereits in Sachen Kreativität angetroffen haben. Mit Hilfe meiner Beschreibung der Verhältnisse möchte ich auch in Sachen Indeterminiertheit (und Indeterminismus) zum einen die breite Übereinstimmung mit Cheng, zum anderen aber auch den Punkt der Differenz markieren. ‚Indeterminiertheit und Kreativität ohne essentialistische Ontologie und Kosmologie‘, so könnte man zugespitzt meine Positionierung charakterisieren. Die ZuI-Philosophie geht zwar durchaus über eine bloß subjekt-bezogene und eine zu eng konzipierte epistemische Perspektive deutlich hinaus und auch in Dimensionen der Naturphilosophie hinein. Sie tut dies vor allem dadurch, dass sie sich als eine umfängliche dynamische Prozess-Philosophie versteht. Ich möchte jedoch nicht aus der ZuI-Perspektivität als ganzer und überhaupt herausspringen. Die ZuIPhilosophie konzentriert sich (darin der Kantischen Philosophie nahe) auf die epistemische Situation und Perspektivität des Menschen. Konsequenterweise lässt sie das, was sich in ihrer Perspektivität nicht einholen lässt, durchaus außen vor. Und die in ihr unter kritischem Vorzeichen durchaus eingesetzten ontologischen Präsuppositionen sind durchgängig heuristischer Natur. Erklärtermaßen ist die ZuI-Philosophie keine Philosophie der Totalität. Sie betreibt Philosophie strikt nach Menschenmaß, nicht nach Gottesmaß. Cheng unterlegt der Indeterminiertheit „the Indeterminate“ im Sinne einer ontologischen Struktur (s. Kap. 4). Ich selbst verwende den Ausdruck ‚das Indeterminierte‘ erklärtermaßen nicht. Eine solche Nominalisierung und Reifikation steht schnell in der Versuchung ontologischer Annahmen von der Art ‚Es gibt das
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Indeterminierte‘ in einem ontologisch fundamentalen Sinne. Cheng macht genau diese Annahme. „One must see that there is simply an ontological indeterminate [Hervorhebungen: G.A.] which makes both objective indeterminacy and subjective indeterminacy possible.“ (Ebd.) Parallel spricht Cheng von der „onto-generative cosmological explanation of indeterminancy“ (Kap. 6). Zwar macht er einen Unterschied zwischen „ontological indeterminacy“ und „epistemological indeterminacy“ (Kap. 4). Aber entschieden betont er die Priorität der ontologischen vor der epistemologischen Indeterminiertheit, ja er sieht eine „ontological foundation of epistemology“ (Kap. 6). Epistemologie setzt seiner Auffassung nach eine Ontologie voraus, – es sei denn Epistemologie werde, wie er aufschlussreich hinzusetzt, „identified as phenomenology“ (ebd.) Hier unterscheide ich mich von Cheng in den folgenden zwei Punkten, in Bezug auf die ich gern den Dialog mit ihm fortsetzen möchte. Erstens (i) vertrete ich die Auffassung, dass die Ontologie von der Epistemologie, mithin auch die ontologische von der epistemologischen Indeterminierheit abhängig ist und philosophische Priorität hat – nicht umgekehrt. Dem korreliert, dass Philosophie meines Erachtens primär Philosophie von einem epistemologischen Standpunkt zu sein hat. Wir müssen bereits epistemische Perspektiven, Werte und Normen im Einsatz haben, bevor wir überhaupt sinnvoll von ontologischen Entitäten und des näheren von ontologischer Indeterminiertheit sprechen und diese denken können. Ontologische Argumente sind stets ZuIabhängige sowie ZuI-bestimmte Argumente. Zweitens (ii) plädiere ich (angesichts der zentralen Stellung unserer Erfahrungswirklichkeiten sowie unserer Selbst- und Weltgestaltungen für unser Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln) dafür, das Verhältnis von Phänomenologie und Epistemologie in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Je enger dieses Band geflochten wird, desto schwieriger wird es auch, der Epistemologie eine Ontologie als deren Voraussetzung zu unterlegen. Denn die Konzentration liegt dann vor allem auf den erfahrungs-wirklichen, den handlungsund welt-gestaltenden Phänomenen, die für uns Menschen von letztlich alles entscheidender Relevanz sind.
4 Radikal dynamisches Prozess-Modell In ontologischer Hinsicht ist entscheidend, was jeweils als die ‚Bausteine‘ der Natur und Welt sowie, in denklogischer Hinsicht, als die Individualien in der Argument-Stelle angesetzt wird. So ist von kardinaler Bedeutung, ob als Bausteine der Natur Dinge im Sinne Raum-Zeit-Stellen besetzender materieller Körper oder Prozesse angesetzt werden. Ohne Umschweife möchte ich mich der Auffassung
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derjenigen anschließen, die die Welt als eine Welt von Prozessen verstehen (zum Folgenden vgl. ausführlicher ZdW Kap. 7.3. und Abel 2006: 20). Diese Auffassung trifft sich auch mit Vorstellungen der modernen Physik. In den Naturwissenschaften ist die Sicht leitend geworden, dass Objekte im Grunde Ereignis-Sequenzen sind, die nicht mehr den kategorialen Status von Dingen haben. Den mikrophysikalischen Strukturen eignet, obwohl noch als Partikel bezeichnet, kaum etwas, was sie mit den makroskopischen Körpern, dem Paradigma der DingOntologie, vergleichbar macht. Ein Objekt im Sinne der modernen Physik wird als eine Serie zeitlich miteinander verknüpfter Ereignisse konzipiert, die untereinander art-identisch sind. Die physikalische Identität von Einzeldingen über eine Zeitstrecke beruht dann auf der Art-Identität der beteiligten Ereignisse. Die Annahme von Prozessen ist auch im Blick auf die logische Form sprachlicher Sätze geboten. Im Bereich der analytisch orientierten Philosophie ist nach Vorarbeit von Hans Reichenbach vor allem von Donald Davidson gezeigt worden, dass die logische Form eines großen Teils der Sätze unserer natürlichen Sprache ohne die Annahme von Prozessen als genuiner Individualien nicht konstruiert werden kann. Dies betrifft z. B. Verhältnisse der Zeitfolge, der Kausalität, der Erklärung oder der Handlung. Wenn wir Sätze wie „Der KreativitätsKongress begann im Audimax der TU Berlin und fand dann auch in anderen Hörsälen der TU und über mehrere Tage statt“ verstehen (und das tun wir offenkundig), so ist in solchem Verstehen stillschweigend vorausgesetzt, dass es Prozesse und nicht nur Dinge gibt, an denen sich etwas abspielt, dass Prozesse selber Dasein haben.⁵ Chung-ying Cheng ist in seinem Beitrag solchen Überlegungen gegenüber sehr aufgeschlossen. Den Unterschied zwischen seiner Version des diesbezüglichen östlichen Denkens und der ZuI-Philosophie möchte ich einfach darin sehen, dass Cheng als Grundlage dieser dynamischen Prozess-Welt wiederum seine ontogenerative Struktur-Ontologie und Struktur-Kosmologie ansetzt, der sich alle dynamischen Prozesse verdanken sollen. Hier zeigt sich auch in Sachen ProzessWelt der Unterschied zu seinen Überlegungen, den wir auch in Sachen Kreativität und Indeterminierheit angetroffen haben. Zwar geht die ZuI-Philosophie in ihren Betrachtungen deutlich über eine bloß subjekt-zentrierte Sichtweise hinaus und in dem skizzierten Sinne auch in den Bereich der Naturphilosophie hinein. Aber auch in Sachen Prozess-Welt möchte sie die sinnkritischen Grenzen ontologischer und kosmologischer Annahmen nicht im Sinne metaphysischer und realistischer Ontologien und Kosmologien überschreiten.
Vgl. (ZdW 222 ff.); detailliert zu diesem Komplex und zum Folgenden siehe (Abel 1985: 157– 187).
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In methodologischer Hinsicht möchte ich abschließend vor allem die folgenden beiden Punkte herausstellen: Erstens (a) liegt entsprechend der skizzierten Einstellung der für die ZuI-Prozess-Philosophie charakteristische Ausgangspunkt nicht bei ontologischen Vorab-Annahmen und Vorab-Setzungen, sondern bei einer sinnkritischen Analyse der Präsuppositionen zum Beispiel von Zeitfolge-, Handlungs- und Kausalitätssätzen. Auf diese Weise den Vorrang der Prozesse und des Werdens vor den Dingen und vor einem ontologischen Sein ins Spiel zu bringen, ist mithin keineswegs revisionär gegenüber dem gewöhnlichen Gebrauch unseres sprach- und grundbegrifflichen Systems, mit dem wir ausgestattet sind und das wir verwenden. Die Annahme von Prozessen erweist sich daher als das Resultat auch einer Klärung der Form unseres Empfindens, Erlebens, Sprechens, Denkens und Handelns, genauer: des Umstandes, dass die Sinnhaftigkeit eines Großteils der Sätze unserer natürlichen Sprache die Annahme von Prozessen erforderlich macht. Zweitens (b) möchte ich schlicht auf die Erfahrung des fortwährenden Wandels und Flusses aller Dinge, des Vergehens ebenso wie des unerwarteten Auftretens von Neuem in den Feldern unseres Empfindens, Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns hinweisen. Eine grundlegende Philosophie (ebenso übrigens wie eine grundlegende Wissenschaft oder grundlegende Künste), die darauf verzichtet, dieses Grundphänomen zu adressieren, zu beschreiben, zu erfassen und darzustellen, kann nicht als eine zufriedenstellende Philosophie im vollblütigen Sinne dieses Ausdrucks angesehen werden. Entschieden also möchte ich dies in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Wird das akzeptiert, dann zeigt sich, radikal den dynamischen Vollzugscharakter der Prozesse selbst in den Blick genommen, dass die Verpflichtung auf Prozesse gerade nicht zu einer Rehabilitierung einer hinter den Prozessen vermeintlichen Ontologie metaphysischen Seins führt. In der ZuI-philosophischen Terminologie legt sich dann auch in Bezug auf das verwendete Vokabular der Übergang von der Prozess-Ontologie zur Prozess-Philosophie und im Sinne der ZuI-Philosophie dann weiter zur Prozess-Logik/-Ästhetik/-Ethik nahe.⁶ Die ZuI-Prozess-Philosophie ist keine Ontologie mehr im traditionellen, essentialistischen, metaphysischen oder substanz-entitativen Sinne dieses Ausdrucks. Zugleich aber wird ‚Prozess‘ auf diese Weise zum Grundbegriff der Rede von Wirklichkeit, des näheren unserer Erfahrungswirklichkeiten.
Zu letzteren Dimensionen der ZuI-Philosophie siehe ausführlich (Abel 1989).
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Günter Abel
Literatur Abel Günter 1985: Einzelding- und Ereignis-Ontologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39, S. 157 – 187. Abel, Günter 1989: Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch 96, S. 1 – 19. Abel, Günter 1994: Indeterminacy and Interpretation, in: Inquiry, 37, S. 403 – 419; wiederabgedruckt in: Føllesdal, Dagfinn (Hg.): Philosophy of Quine, Vol. 3: Indeterminacy of Translation, New York / London, 2001, S. 367 – 383. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2006: Die Kunst des Neuen. Kreativität als Problem der Philosophie, in: Abel, Günter (Hg.): Kreativität. Kolloquiums-Vorträge des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie, TU Berlin, September 2005, Hamburg, S. 1 – 21. Abel, Günter 2009: The Riddle of Creativity: Philosophy’s View, in: Meusburger, Peter / Funke, Joachim / Wunder, Edgar (Hg.): Milieus of creativity. An Interdisciplinary Approach to Spatiality of Creativity, (Knowledge and Space, Bd. 2), Dordrecht, S. 53 – 72. Abel, Günter 2012: Sprache, Welt und Handlung. Ein trans-analytischer und trans-hermeneutischer Ansatz, in: Dottori, Riccardo (Hg.): 50 Jahre Wahrheit und Methode. Beiträge im Anschluss an H.-G. Gadamers Hauptwerk / Fifty years after H.-G. Gadamer’s Truth and Method. Some considerations on H.-G. Gadamer’s main philosophical work, (The Dialogue. Yearbook of Philosophical Hermeneutics / Das Gespräch. Jahrbuch für philosophische Hermeneutik / Il Dialogo. Annuario di Filosofia ermeneutica, Bd. 5), Berlin u. a., S. 77 – 101; überarbeitete Fassung in: Philosophische Begegnungen zwischen Ost und West, Comparative Philosophy: East and West 3 (2014), S. 40 – 74. Abel, Günter 2016a: Quellen der Orientierung, in: Bertino, Andrea / Poljakova, Ekaterina / Rupschus, Andreas / Alberts, Benjamin (Hg.): Zur Philosophie der Orientierung, Berlin / Boston, S. 141 – 170. Abel, Günter 2016b: Distributed Types of Knowledge, Epistemic Perspectives, and Creativity, in: Abel, Günter / Plümacher, Martina (Hg.): The Power of Distributed Perspectives, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 10), Berlin / Boston, S. 35 – 60. De Saussure, Ferdinand 1957: Cours de linguistique générale, Introduction (d’après des notes d’étudiants), hg. von R. Godel, in: Cahiers Ferdinand de Saussure 15, 3 – 103. Kanitscheider, Bernulf 1993: Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum. Zu einem neuen philosophischen Verständnis der Natur, Darmstadt. Peirce, Charles S. 1960: Collected Papers, hg. von Ch. Hartshorne u. P. Weiss, 2. Aufl., Bd. V, Cambridge MA. Safranski, Rüdiger 2003: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt a. M. Whitehead, Alfred North 1979: Process and Reality. An Essay in Cosmology, London 1929, deutsche Übersetzung, Frankfurt a. M.
Kapitel 15: Skeptizismus und Naturalismus
Tim Koehne
Skeptizismus und Interpretationismus Abstract: The epistemological, philosophy-theoretic and justificational relation between skepticism and interpretationism as expounded by Günter Abel is explored. His interpretationism is understood as being validated by its capacity to refute skeptical arguments with their unpalatable, i. e. nihilistic, relativistic, irrationalistic, anarchic or simply self-contradictory conclusions. It is shown that the conditions of the skeptical arguments propounded by Sextus Empiricus, Agrippa, Hume, Descartes and – a modern specimen – Wright are not satisfied in interpretationism. Furthermore, in line with its internalistic and transitory selfconception, three direct skeptical attacks are dismissed and new ones are encouraged. On a practical side, Abel’s argument for a democratic form of government by showing its coherence with interpretationism and by discounting its alternatives via skeptical arguments is considered.
1 Übersicht Mit dem Interpretationismus ist gemäß Abel kein „theoretischer Anspruch“ verbunden der Art, dass behauptet würde, „daß es in einem realistischen Sinne die drei Stufen der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse ‚gibt‘“ (ZdW 29). Als philosophische Theorie verstanden geht es vielmehr um die Lösung philosophischer Probleme, die „durch die Angabe derjenigen sinnkritischen Bedingungen ‚auf-gelöst‘ [werden], unter denen sie nicht mehr entstehen“ (SZI 31). Diese Probleme werden konstituiert durch „Paradoxien“ (SZI 32) oder einer Teilmenge von diesen, den skeptischen Argumenten. In Abwesenheit derartiger Inkohärenzaufweise in unserem Standpunkt sollten wir die Dinge analog dem „flüssigen“ (ZdW 343) Gebrauch von Zeichen oder fraglos funktionierender Vollzüge der Lebenspraxis (ZdW 392) eben so denken, wie wir sie denken, und die sinnkritische Frage „Wie ist es zu denken, daß …“ (SZI 32) stellt sich erst gar nicht. In dieser komfortablen Lage befinden sich die meisten Standpunkte jedoch nicht. Die auf den gängigen Dichotomien Geist und Körper / Gehirn, Mensch und Welt, Schema und Inhalt, Subjektives und Objektives basierenden Skepsisreaktionen naturalistischer, funktionalistischer, reduktionistischer, eliminativer, relativistischer oder absolutistischer Art (Iw 438) sind nicht konsistent zu entwickeln und führen per ex falso quod libet in den Nihilismus (Iw 110). Andererseits „kann dem philosophischen Skeptizismus im Rekurs auf unsere Interpretationspraxis, die nun einmal so funktioniert, wie sie funktioniert, eine umfassende und zufriedenstelhttps://doi.org/10.1515/9783110522280-066
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lende Antwort gegeben werden“ (Iw 105). „Der radikale philosophische Skeptizismus führt somit in die Interpretationsphilosophie“ (Iw 106) – zumindest zu dieser Zeit, denn „sowohl die Skepsis-Anfälligkeit als auch die Skepsis-Immunität [haben] ihre Zeit“ (Iw 120). Der Wert des Interpretationismus als kreative, spekulative, reflexiv-rekonstruktionale Skepsisreaktion bemisst sich darüber hinaus daran, ob dieser „einen fruchtbaren Ansatz darstellt für die Behandlung etwa anthropologischer, sprachphilosophischer, wissenschaftstheoretischer, hermeneutischer, ethischer oder ästhetischer Fragen und Probleme“ (SZI 32). Auch in diesen Bereichen gelten die oben ausgeführten, kohärentistischen Bedingungen für Problemkonstitution und Problemlösung. Dieses so skizzierte Verständnis Abels bezüglich der Beziehung zwischen Interpretationismus und Skeptizismus wird im Folgenden expliziert. Wir werden in Kapitel 2 einige skeptische Argumente betrachten und ein Verständnis für den Umgang mit diesen in Kapitel 3 entwickeln. In Kapitel 4 untersuchen wir exemplarisch einige, letztlich nicht erfolgreiche Skepsisreaktionen und in Kapitel 5 arbeiten wir heraus, wie genau der Interpretationismus Skepsisstabilität auf Zeit erreicht. Wir untersuchen die Wechselwirkung zwischen Interpretationismus und Skeptizismus und geben einen Ausblick auf intellektuelles Arbeiten jenseits des Mythos des Gegebenen, der Letztbegründungsillusion, eines metaphysisch überhöhten Rationalitätsbegriffs und eines Relativismus der Beliebigkeit.
2 Skeptische Argumente In diesem Kapitel interpretieren wir exemplarisch einige klassische und moderne skeptische Argumente als Reductio ad paradox Argumente – also als Argumente mit scheinbar plausiblen Annahmen, scheinbar triftigen Folgerungen und einer scheinbar nicht-akzeptablen, der üblichen, allgemein gebilligten Meinung (= endox) entgegenstehenden Konklusion. Dies ist die philosophische Problemkonstitution, und die Lösung besteht in der Angabe der „Bedingungen“ (SZI 31, s.o.), unter denen diese Reductio ad paradox nicht mehr ‚entsteht‘ und keine neue entwickelbar ist. Prinzipiell kommen konservative oder revisionäre Reaktionen in Frage: (i) Die konservativen Reaktionen bestehen in dem Aufweis, dass die Reductio ad paradox eine Annahme oder einen Begriff oder einen Folgerungsschritt enthält, der in unserem Standpunkt nicht gültig ist, und das Argument insoweit fehlerhaft ist und wir somit nicht rational auf dessen nicht-akzeptable Konklusion verpflichtet sind. In diesem Fall werden wir uns unseres Standpunkts bewusster. (ii) Die revisionären Reaktionen bestehen in der Abänderung einer oder mehrerer Fürwahrhaltungen oder Begriffe oder Folgerungsregeln, so dass das skeptische
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Argument dann im so geschaffenen neuen Standpunkt nicht mehr formuliert werden kann. Eine historisch durchaus häufige Revision ist, die auf den ersten Blick nicht-akzeptable skeptische Konklusion doch in unseren Standpunkt zu integrieren. Sowohl die konservativen als auch die revisionären Reaktionen beinhalten „die Angabe derjenigen sinnkritischen Bedingungen […], unter denen sie [philosophische Probleme, skeptische Argumente] nicht mehr entstehen“ (SZI 31). Beispielhaft seien im folgenden einige skeptische Argumente skizziert.¹ Sextus Empiricus (1993: 103 ff.) folgert aus der Prävalenz gleich glaubwürdiger und widerstreitender Erscheinungen und Urteile über Dinge, dass wir uns enthalten müssen zu vertreten, ob etwas so oder so ist. Lediglich Aussagen der Form ‚x erscheint E relativ zu Perspektive P‘ sind begründbar. Agrippas Trilemma (Sextus Empiricus 1993: 126 ff.) geht aus von der Annahme, dass eine Fürwahrhaltung nur durch begründete Fürwahrhaltungen begründbar ist. Die somit entstehende Begründungssequenz führt entweder ad infinitum, zirkelt auf eine bereits enthaltene Begründung zurück oder wird abgebrochen. In Abwesenheit einer vierten Möglichkeit in der so gedachten Struktur von Begründung sind Fürwahrhaltungen prinzipiell unbegründbar. Die Reichweite von Agrippas Trilemma ist global: Eine Meinung über die Außenwelt, die Vergangenheit, die Zukunft oder den mentalen Zustand anderer Geister ist so gut wie jede andere. Descartes’ (Descartes 1993: 15 – 20) Aufweis der Unmöglichkeit begründeter Fürwahrhaltung über die Außenwelt im sogenannten Argument vom Traum basiert wesentlich auf der Annahme, dass zunächst die Traummöglichkeit begründet ausgeschlossen werden müsste, was jedoch prinzipiell nicht möglich ist. Die Erweiterung von Descartes’ Überlegungen auf sämtliche Erkenntnisbereiche erfolgt durch die analoge Betrachtung der mit begründeter Fürwahrhaltung nichtkongenialen Möglichkeit, von einem Dämonen getäuscht zu werden. So ist die Meinung ‚1 + 1 = 2‘ so begründet wie deren Negation. Mit Hume (1993: 44 ff.) ist Induktion weder deduktiv ableitbar, noch lässt sie sich ohne offensichtlichen Zirkelschluss induktiv begründen. Per Tertium non datur ist unser Prinzip zur Formierung von Fürwahrhaltungen über die Zukunft, und somit sind diese selbst, unbegründbar. Die Meinung ‚morgen geht die Sonne auf‘ ist so begründet wie das Gegenteil. Wright (1985: 434– 447) bildet für verschiedene Erkenntnisbereiche jeweils drei Kategorien von Propositionen. Außenwelt: I: Phänomenale Beschreibung meiner Hand vor meinen Augen, II: Ich habe eine Hand, III: Es gibt eine externe
Für eine detaillierte Darstellung und Analyse dieser und weiterer skeptischer Argumente siehe (Koehne 2000: 15 ff.). Der vorliegende Text ist eine stark gekürzte und modifizierte Fassung.
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Welt; Andere mentale Zustände: I: Jones’ Schienbein ist sichtbar zersplittert; sein Gesicht ist verzerrt, und er schreit, II: Jones hat Schmerzen, III: Es gibt andere Geister; Geschichte: I: Schriftstücke etc., die aussagen, dass Caesar im Jahre 49 v.Chr. den Rubikon überschritt, II: Caesar überschritt im Jahr 49 v.Chr. den Rubikon, III: Die Welt begann nicht vor einer Stunde; Zukunft: I: Brot hat bisher ernährt, II: Brot ernährt, III: Es gibt Uniformität. Nun sind Kategorie-II-Propositionen nur begründbar durch Kategorie-I-Propositionen und ebenso sind Kategorie-III-Propositionen nur begründbar durch Kategorie-II-Propositionen. Allerdings, so die wesentliche Annahme in Wrights skeptischen Argumenten, begründen Kategorie-I-Propositionen Kategorie-II-Propositionen nur, falls Kategorie-III-Propositionen bereits begründet sind, und es folgt die Unmöglichkeit begründeter Fürwahrhaltung über die Außenwelt, andere mentale Zustände, die Geschichte und die Zukunft.
3 Der philosophische Skeptizismus Paradoxa / Reductio ad paradox Argumente oder skeptische Argumente, wie beispielhaft in Kapitel 2 skizziert, konstituieren zumindest prima facie triftige Argumente mit wohl nicht nur prima facie inakzeptablen Konklusionen. Sie zeigen somit eine, wiederum zumindest bei erster Betrachtung, Inkonsistenz in unserem Standpunkt auf. Nun folgt aus einem Widerspruch, i. e. einer notwendigerweise falschen Aussage, logisch jede beliebige Aussage P: Wir nehmen an, dass wir durch das skeptische Argument rational auf die paradoxe Konklusion nonA verpflichtet sind. Darüber hinaus sei unsere endoxe Fürwahrhaltung aufzugeben nicht akzeptabel. Unsere Hypothese ist also A und nonA. Gemäß der Wahrheitstafel der Disjunktion gilt: Wenn nonA wahr ist, dann ist auch nonA oder P wahr, für beliebige P, welches aussagenlogisch äquivalent ist zu A → P. Mit Modus Ponens ((A und (A → P) → P) folgern wir aus A und nonA logisch die Aussage P, für beliebige P; oder kurz: ein Widerspruch impliziert P, für beliebige P; (q. e. d.). Dieses logische Phänomen wird mit ex falso quod libet bezeichnet. Der inkohärente Standpunkt ist somit per ex falso quod libet und dem unproblematischen Transmissionsprinzip – der Abgeschlossenheit von Begründung bezüglich logischer Implikation – zufolge rational auf eine jede Proposition P verpflichtet. P könnte z. B. besagen, dass Gras blau ist, 1 + 1 = 5 ist oder auch das jeweilige kontradiktorische Gegenteil. Der Rationalitätsbegriff wäre aufgelöst und unsere tatsächliche Lebenswelt nicht zu verstehen. „Der Pragmatismus hebt die Irrationalität des Meinens hervor, und die Psychoanalyse betont die Irrationalität des Verhaltens. Beide haben viele Menschen zu der Ansicht verführt, daß es so etwas wie ein Rationalitätsideal, nachdem sich
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Meinen und Verhalten nutzbringend richten könnten, nicht gibt. Daraus müßte man dann folgern, daß, wenn Sie und ich verschiedener Meinung sind, es keinen Zweck hat, mit Argumenten zu kommen oder einen unparteiischen Dritten entscheiden zu lassen; uns bliebe nichts anderes übrig, als die Sache mit Rhetorik, Propaganda oder Krieg auszufechten, entsprechend unserer jeweiligen finanziellen und militärischen Stärke. Ich halte einen solchen Standpunkt für sehr gefährlich und auf die Dauer für die Zivilisation verhängnisvoll.“ (Russell 1964: 39) Den Widerspruch in unserem Standpunkt stehen zu lassen ist keine zulässige anti-skeptische Reaktion. Wir betrachten zwei Missverständnisse der skeptischen Problematik. (i) Das erste bezeichnen wir als den ad hominem Fehler oder in der Diktion Abels als terminalen Skeptizismus (Iw 14). So argumentiert Aristokles von Messene gegen global skeptische Argumente, wie z. B. Agrippas Trilemma: „When he puts forward clever arguments of this sort, we should like to ask him whether he knows that things are as he says or rather speaks from ignorance. For if he does not know, why should we believe him? And if he does know, then he is perfectly silly – for he asserts that everything is unclear and at the same time says that he knows all this.“ (Eusebius 1985: 44) Diese Einsicht, so wird dann gefolgert, löse das durch das skeptische Argument konstituierte Problem. Bevor wir diese Folgerung betrachten, untersuchen wir zunächst, worin die Einsicht denn besteht. Wir betrachten die Konklusion der globalen Skepsis und einen dem Aristokles ähnlichen Gedankengang, wobei wir allerdings nicht auf die Figur des Skeptikers selbst Rekurs nehmen. Wir wollen wissen, ob es überhaupt denkbar ist, dass die Konklusion durch skeptische Argumente oder sonst wie begründet ist. Wir beginnen mit der Annahme der global-skeptischen Konklusion: 1 1 Es gibt keine begründete Fürwahrhaltung. Dann untersuchen wir die Implikationen der Annahme, dass die Konklusion selbst begründet ist. Wir gehen also den indirekten Weg: 2 2 ‚Es gibt keine begründete Fürwahrhaltung‘ ist begründet. Mit der Annahme 2 haben wir dann allerdings eine begründete Fürwahrhaltung, nämlich die skeptische Konklusion selbst. Also: 2 3 Es gibt eine begründete Fürwahrhaltung. 1, 2 4 Widerspruch. 1 5 ‚Es gibt keine begründete Fürwahrhaltung‘ ist unbegründet. Eine noch klarere Darstellung: 6 1 ⇒ 1 ist unbegründet. Aus der Annahme der global skeptischen Konklusion folgt also per Reductio ad absurdum, dass, entgegen dem dafür vorgebrachten Argument, die global skeptische Konklusion unbegründet ist. Das skeptische Argument kann die
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Konklusion als These notwendigerweise nicht begründen. Die These, dass es keine begründete Fürwahrhaltung gibt, ist unbegründbar. Der Skeptiker vertritt die These, dass es keine begründete Fürwahrhaltung gibt, als Konklusion des von ihm vorgebrachten Arguments. Eine These mit Argument zu vertreten, impliziert fürwahrzuhalten, dass diese begründet ist. Nun haben wir gezeigt, und dem muss der Skeptiker zustimmen, dass die These prinzipiell unbegründbar ist. Es folgt, dass der Skeptiker sowohl fürwahrhält, dass die These begründet ist, als auch, dass sie dies nicht ist, seine Fürwahrhaltungen also inkohärent sind. Und wenn die Fürwahrhaltungen des Skeptikers inkohärent sind, dann sollten wir diese nicht teilen. Gemäß Aristokles befinden wir uns also in einem Streitgespräch mit dem Skeptiker. Durch Aufzeigen der Unhaltbarkeit der skeptischen Position durch Aufweis der Inkohärenz haben wir dann gegen den Skeptiker ‚gewonnen‘, und das durch das skeptische Argument konstituierte Problem ist ‚gelöst‘. Bedauerlicherweise, in dem Fall, dass das skeptische Argument ein Problem konstituiert, sind wir der Skeptiker: Wenn das skeptische Argument uns überzeugt, dann sind wir rational auf die skeptische Konklusion verpflichtet. Der Aufweis, dass die skeptische Konklusion notwendigerweise unbegründet ist, zeigt dann auf, dass wir sowohl rational auf dessen Begründet- als auch dessen Unbegründetsein verpflichtet sind und damit einen inkohärenten Standpunkt vertreten. Anders ausgedrückt folgt aus Aristokles’ ‚Einsicht‘, dass die Konklusion nicht akzeptabel ist und die Auflösung des skeptischen Problems durch Akzeptanz der Konklusion damit nicht zu Gebote steht. Die Konklusion als These zu vertreten, wäre negativer Dogmatismus. Das von skeptischen Argumenten konstituierte Problem zu verstehen, als ob ein Gegner, der Skeptiker, uns von einer absurden These zu überzeugen versucht, ist also unhaltbar. Da die Rede von ‚der Skeptiker macht dies und jenes‘ dieses irreführende, adversäre Verständnis suggeriert, sollten wir davon absehen. Der Dialog des Skeptikers mit dem Anti-Skeptiker ist ein Dialog von uns mit uns selbst.² Es bestätigt sich also, dass skeptische Argumente im interessanten Fall unsere Annahmen gebrauchen.³ Der Skeptiker, so wir denn diese Fiktion gebrauchen wollen, ist ein immanenter Kritiker unseres Standpunktes. Er hinterfragt und
Vergleiche dies mit der Äußerung des Fremdlings in Platons Sophistes: „Denken also und Aussage sind dasselbe; nur daß das erstere ein Gespräch der Seele innerhalb mit sich selbst ohne sprachliche Äußerung ist, weshalb es denn eben diesen Namen von uns erhielt: denken“ (Platon 1993: Soph. 263e). Damit ist die folgende Kritik Richters verfehlt: „Denn alle konsequenten Zweifler sind auch immer so inkonsequent gewesen, ihre Ansichten mit Hilfe der logischen Normen zu beweisen“ (Richter 1908: 121).
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prüft unseren Standpunkt, ohne selber Position zu beziehen. „Der Witz ist vielmehr, daß der interne Skeptizismus [= philosophischer oder kritischer Skeptizismus] bei genau dem System, das wir verwenden, seinen Ausgang nimmt und auch nur mit Bezug auf dieses zufriedengestellt werden kann.“ (Iw 46) Abel personifiziert die Methode des Skeptizismus ebenfalls. „Vielmehr möchte er [der Skeptiker] die ganze Architektonik solcher [dichotomischer, dualistischer oder solipsistischer Konzeptionen] unterlaufen. Und exakt dadurch öffnet er den Blick für den praktischen interpretatorisch-konstruktbildenden Charakter eines jeden Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses.“ (Iw 28) Er vermeidet jedoch den betrachteten, systematischen Fehler: „Der interpretationistischen Betrachtung geht es auch hier wiederum nicht um einen terminalen Skeptizismus [= ad hominem Fehler]. Es geht mithin nicht darum zu behaupten, wir könnten überhaupt keine Gründe zur Rechtfertigung des Induktionsverfahrens angeben. Es geht vielmehr um die Frage, wie es zu denken ist, daß das Induktionsverfahren die wichtige Rolle spielt, die es nun einmal spielt.“ (Iw 136) (ii) Wir betrachten nun das zweite Skepsis-Missverständnis. Der berühmteste Vertreter hiervon ist George Edward Moore: „Ich kann jetzt z. B. beweisen, daß zwei menschliche Hände existieren. Wie? Indem ich meine beiden Hände hochhebe, mit der rechten Hand eine bestimmte Geste mache und sage ‚Hier ist eine Hand‘, und dann hinzufüge, wobei ich mit der linken Hand eine bestimmte Geste mache, ‚Hier ist noch eine‘. Und wenn ich, indem ich dies tue, ipso facto die Existenz von Außendingen bewiesen habe, werden sie alle einsehen, daß ich es auch auf eine Vielzahl von anderen Weisen tun kann: es ist überflüssig, noch weiter Beispiele anzuhäufen.“ (Moore 1969: 178) In Hinblick auf skeptische Argumente schreibt Moore: „Nay more: I do not think it is rational to be as certain of any one of these four propositions [premisses of a sceptical argument], as of the proposition that I do know that this is a pencil.“ (Moore 1970: 226) Moore führt also ein Reductio ad absurdum Argument gegen die Annahmen des skeptischen Argumentes an: Die skeptischen Annahmen implizieren eine Proposition, die inkompatibel ist mit der Fürwahrhaltung, dass ich begründet fürwahrhalte, dass das hier ein Bleistift ist oder das hier eine Hand ist. Diese Fürwahrhaltung ist aber evidenter als jede einzelne der skeptischen Annahmen und daher deren Konjunktion. Also stimmt etwas nicht in den Annahmen eines jeden skeptischen Argumentes. Es ist zu betonen, dass Moore keine Diagnose durchführt, was genau in den Annahmen falsch ist. Er behauptet also, dass das skeptische Argument befriedigt ist, falls die Annahmen eine Proposition implizieren, die inkompatibel ist mit einer Fürwahrhaltung, welche eine höhere Evidenz hat als die Annahmen des Arguments. Anders ausgedrückt, Moore betrachtet das skeptische Argument als befriedigt, falls die skeptische Konklusion absurd ist. Moores Reaktion ist analog zu dem Versuch zu sehen, Zenons Paradox
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der Bewegung durch Umherhüpfen zu ‚lösen‘ und damit ein Missverständnis des Problems: Dass wir umherhüpfen und Bewegung also möglich ist, ist bereits vorausgesetzt, falls Zenons Beweis der Unmöglichkeit der Bewegung überhaupt ein Problem konstituiert. Moore affirmiert also lediglich, dass die skeptische Konklusion absurd ist, und damit die Inkohärenz und Unhaltbarkeit des entsprechenden Standpunktes. Nach Betrachtung des ad hominem Fehlers und Moores Missverständnis entwickeln wir nun ein fruchtbares Verständnis des Skeptizismus und vergleichen es mit dem von Abel gebrauchten Skeptizismus-Begriff. Wir gehen aus von einem mehr oder weniger reflektierten, „flüssig“ (ZdW 343) funktionierenden Welt-, Fremd- und Selbstverständnis. Dieses kann ebenso als Bezugssystem, als der „‚überkommene‘ Hintergrund“ (Iw 116), als Weltbild (ZdW 117 ff.) oder als (Ausgangs‐)Standpunkt bezeichnet werden.⁴ Konfrontieren wir durch Selbst-Reflexion oder durch Aufweis eines Dritten nun ein anscheinend skeptisches Argument / einen Reductio ad paradox Aufweis, dann sind alle im Argument gebrauchten Annahmen und Begriffe in Frage gestellt. Ohne einen solchen Aufweis sollten wir eben so denken und handeln, wie wir denken und handeln, und unser möglicherweise unbewusster Zustand ist begründet, und wir befinden uns in dem paradiesischen Zustand der Fraglosigkeit. Grundsätzlich kann die Inkohärenz aufgelöst werden entweder durch, bei näherer Betrachtung, Auffinden eines Fehlers im Argument relativ zu unserem Standpunkt oder durch Revision des Standpunkts, so dass das Argument nicht mehr zu entwickeln ist. Für den Nachweis eines Fehlers wäre aufzuzeigen, dass entweder eine Annahme, ein Folgerungsschritt oder ein Begriff in unserem Standpunkt nicht zulässig ist. Eine Revision besteht aus der Abänderung von Fürwahrhaltungen oder Begriffen in unserem Standpunkt, so dass das Argument nicht mehr triftig oder die Konklusion nicht mehr nicht-akzeptabel ist. Gemäß dem Prinzip der Konservation oder auch, verhaltenspsychologisch formuliert, dem status quo bias, wäre die Verteidigung des Standpunktes der Revision vorzuziehen. Die Revision des Standpunktes ist unbestimmt und erfordert Kreativität: Ein Reductio ad paradox Argument zeigt, wie auch ein Reductio ad absurdum Argument, nur, dass im Standpunkt etwas nicht stimmt, und nicht, was nicht stimmt. Wir betrachten die Situation im Anschluss an die Anwendung einer dieser Skepsisreaktionen. Durch Zurückweisung der Triftigkeit des skeptischen Arguments oder durch Revision unseres Standpunktes haben wir uns der durch das Argument konstituierten, rationalen Verpflichtung auf die absurde Konklusion entledigt. Wie ist die Begründung einer Reaktion auf ein skeptisches Argument zu denken? Ohne eine
Wittgenstein schreibt: „Der Zweifel kommt nach dem Glauben“ (1992: 49).
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Begründung, warum eine Annahme, und nicht etwa eine beliebige andere Annahme des skeptischen Arguments, negiert wird, wäre die Entscheidung willkürlich, was absurd ist. Es bedarf eines Kriteriums, um zwischen guten und schlechten bzw. zulässigen und unzulässigen Reaktionen auf skeptische Argumente zu unterscheiden: Eine Reaktion auf ein skeptisches Argument ist begründet genau dann, wenn im durch die Reaktion erreichten Standpunkt kein skeptisches Argument zu entwickeln ist. Der ‚durch die Reaktion erreichte Standpunkt‘ ist der ursprüngliche Standpunkt im Falle der Zurückweisung des Arguments und der neue Standpunkt im Falle der Revision. Allerdings gilt auch, dass es sich in dem Maße, in dem wir uns durch den Aufweis der nicht-Triftigkeit des Arguments unseres Standpunktes bewusster geworden sind, im Anschluss an eine konservative Reaktion in einem zulässigen Sinne ebenfalls um einen ‚neuen‘ Standpunkt handelt. Eine skeptische Reaktion ist also begründet genau dann, wenn der neue Standpunkt skepsisresistent ist. Damit ist die Begründung des neuen Standpunktes, nämlich Abwesenheit skeptischer Argumente, identisch gedacht mit der des Ausgangsstandpunkts. Und das sollte auch so sein, da die Eigenschaft, Ausgangsoder neuer Standpunkt zu sein, zufällig ist. Diese Methode ist auf sich selber anwendbar und in diesem Sinne selbstverstärkend und undogmatisch, also begründet, ohne als Ausgangspunkt gesetzt zu sein. Unser Begriff von Begründung einer skeptischen Reaktion, oder allgemeiner eines Standpunktes, ist wesentlich zeitlich. Der Standpunkt ist begründet durch Abwesenheit skeptischer Argumente. Doch Abwesenheit skeptischer Argumente ist nur bis zu diesem Zeitpunkt feststellbar und Begründung damit in genau diesem Sinne zeitlich. Es mag das Bedürfnis beim Leser bestehen, diese Zeitlichkeit, insbesondere das Element des Zufalls beim Auffinden skeptischer Argumente, zu eliminieren. Doch auch hier trifft zu, dass das Vorhandensein eines (metaphysischen) Bedürfnisses die Möglichkeit seiner Erfüllung nicht beweist. Eine weitere Konsequenz unseres Verständnisses des Skeptizismus als Methode zur Explizierung und kohärenteren Entwicklung unseres Standpunktes besteht darin, dass es gilt, skeptische Argumente möglichst stark zu machen, also im Falle einer erfolgreichen Reaktion auf ein skeptisches Argument dieses triftiger zu reformulieren zu versuchen. Diese Konsequenz hat einen hohen praktischen Stellenwert. Wir fassen zusammen: Gemäß der skeptischen Methode ist unser Standpunkt begründet durch fortwährende, immanente Kritik. Skeptische Argumente sollten gesucht werden und skeptische Reaktionen sollten skeptisch hinterfragt werden. Wir haben es mit einem iterativen Verfahren zu tun: (1.) Suche nach skeptischen Argumenten im Standpunkt, (2.) Reaktion auf skeptisches Argument, (3.) Suche nach skeptischem Argument im ‚neuen‘ Standpunkt, … . Wir unterscheiden heuristisch zwischen der Skepsis der 1. Stufe, der Formulierung eines
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skeptischen Argumentes, und der Skepsis der 2. Stufe, der Formulierung eines skeptischen Argumentes in Bezug auf die Reaktion auf das skeptische Argument der 1. Stufe. Unser Standpunkt ist begründet bei Abwesenheit trotz Suche eines skeptischen Argumentes. Die Beweislast fällt, in diesem nicht offensichtlichen Sinne, auf uns. Ein Modell, wie die skeptische Methode zu denken ist, lässt sich durch Betrachtung des bekannten Barbier-Paradoxes aufzeigen. Das Argument geht aus von der Annahme, dass der Barbier genau diejenigen Dorfbewohner rasiert, die sich nicht selber rasieren, und folgert in mehreren Schritten den formalen Widerspruch. Die erfolgreiche Skepsisreaktion besteht in der Negation eben dieser Annahme: Es ist nicht wahr, dass der Barbier genau diejenigen Dorfbewohner rasiert, die sich nicht selber rasieren. Und das Argument für die Negation dieser Annahme ist, dass der so eingenommene Standpunkt keine nicht-akzeptablen / absurden Konsequenzen enthält – das Ergebnis des Skeptizismus der 2. Stufe. Oder hat jemand schon einmal ein solches Dorf gesehen? Philosophische Redewendungen lassen sich in der skeptischen Methode aufschlussreich interpretieren. Wir befinden uns im ‚paradiesischen Zustand der Fraglosigkeit‘, falls wir uns keines skeptischen Argumentes in unserem Standpunkt bewusst sind. Werden wir uns eines solchen Argumentes bewusst, dann ist unser Standpunkt ‚unter kritischem Vorzeichen nicht mehr zu explizieren‘ und das Ziel ist dann ‚den Zustand der Fraglosigkeit auf Zeit / bis auf Weiteres wiederherzustellen‘, also einen vorerst skepsisresistenten Standpunkt einzunehmen. Darüber hinaus ist ‚etwas so nicht zu denken / zu verstehen‘, falls in einem solchen Verständnis ein skeptisches Argument besteht. ‚Einen Standpunkt / eine Theorie kritisch zu hinterfragen‘ bedeutet zu versuchen, in ihm / ihr skeptische Argumente zu entwickeln. Abel gebraucht den Skeptizismus-Begriff doppeldeutig. Zum einen umfasst er den Cartesianischen, Humeschen, metaphysischen, reduktiven oder terminalen Skeptizismus (Iw 555), welche (gescheiterte) Skepsisreaktionen darstellen. Zum anderen ist sein philosophischer, interner oder kritischer Skeptizismus eine Methode, wie der Umgang mit skeptischen Argumenten zu verstehen ist, welche große Ähnlichkeiten mit der oben entwickelten, skeptischen Methode hat. In Abwandlung einer Formulierung Wittgensteins bei Abel bezüglich ZeichenDeutung und Zeichen-Vollzug denken und handeln wir in unserem Standpunkt „blind“ (ZdW 343). Erst durch ein Paradox, welches zeigt, dass so, wie wir es denken, es nicht zu denken ist, ist das philosophische Problem konstituiert, und die Aufgabe besteht darin, „diejenigen sinnkritischen Bedingungen“ (SZI 30) anzugeben, unter denen es nicht mehr entsteht. Der Skeptizismus ist notwendigerweise internalistisch oder in unserer obigen Diktion ein immanentes Verfahren. Wir sind von „einem externen, neutralen oder Gottesgesichtspunkt nicht nur
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kontingenterweise, sondern systematisch abgeschnitten“ (Iw 125). „Unser Skeptiker ist […] kein Externalist, sondern Internalist. Und die skeptische Herausforderung beginnt gewissermaßen schon zu Hause, d. h. bezogen auf die Eigenart der Funktionen innerhalb eines Schemas und Systems.“ (Iw 168) Abels Argument für diese These lautet, dass ein Mensch, der eine externalistisch gedachte Perspektive zu haben behauptet, keinen Grund angeben könnte, ihm das zu glauben. Bieri formuliert ein weiteres skeptisches Argument für den grundlegenden Perspektivismus: „Wir versuchen, von den subjektiven Erscheinungen zur objektiven Wirklichkeit fortzuschreiten, in Richtung auf eine losgelöste, ungetrübte Sicht der Welt. Doch was haben wir für einen Grund zu der Annahme, daß das, was wir dabei erreichen, weniger trügerisch ist als die ursprünglichen Erscheinungen? Um darüber Gewißheit zu haben, müßten wir eine externe Perspektive auf uns selbst einnehmen können, welche Elemente in unserem Weltbild der Wirklichkeit entsprechen und welche sich nur unserer zufälligen Konstitution verdanken. Das jedoch ist unmöglich, denn es müßten ja wir sein, die diese Perspektive einnehmen, und dann wäre sie natürlich nicht mehr extern“ (Bieri 1987: 51). Dieses skeptische Argument hat eine große Reichweite. Sämtliche metaphysischen Theorien, welche implizit oder explizit einen derartig externalistischen Standpunkt voraussetzen, werden ad absurdum geführt. Vielmehr nimmt „der interne Skeptizismus bei genau dem System, das wir verwenden, seinen Ausgang […] und [kann] auch nur mit Bezug auf dieses zufriedengestellt werden“ (Iw 46). Abels interner Skeptizismus enthält ebenfalls die Elemente der Skepsis der 2. Stufe und die Iterativität. „Denn es sind vornehmlich die mit dem Skeptizismus verbundenen Momente der Kritik und der Negativität, die dazu führen, nicht bei einer einmal aufgetretenen Form des Sprechens und Denkens positivistisch stehenzubleiben“ (Iw 104). Die Einstellung Abels zur Zeitlichkeit des Skeptizismus mit Blick auf den Interpretationismus ist unklar. „Gewißheit ist stets nur ‚Gewißheit auf Zeit‘.“ (ZdW 392) „[Es] haben sowohl die Skepsis-Anfälligkeit als auch die Skepsis-Immunität ihre Zeit.“ (Iw 120) Der philosophische Skeptizismus ist „nichtterminal“ (Iw 192). Das Gegenteil könnte bei Abel jedoch ebenfalls vermutet werden. „Der philosophische Skeptizismus kommt in der Interpretationsphilosophie, in die er führt, zugleich auch zu sich selbst.“ (Iw 112) Er hält die Einführung eines „Zeitindexes“ (Iw 118) lediglich hinsichtlich des Bezugssystems für begründet, nicht jedoch für den Interpretationismus selbst. Abel stellt dem Missverständnis des terminalen Skeptizismus den radikalen Skeptizismus gegenüber, der ein kontinuierliches, immanentes Hinterfragen des eigenen Standpunkts auf Kohärenz beinhaltet und welcher, so Abel, „den interpretatorischen Charakter des Welt- und Selbstverständnisses […] ins Licht zu heben vermag“ (Iw 146).
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Diese These Abels betrachten wir in den nun folgenden beiden Kapiteln. In Kapitel 4 untersuchen wir exemplarisch Reaktionen auf skeptische Argumente, die letztlich an der Skepsis der 2. Stufe scheitern. Abel entwickelt auf der Grundlage der Verallgemeinerung dieser Beispiele eine weitere Begründung für den Interpretationismus. „Weiterhin ist zu beachten, daß der Satz der Interpretation eine apagogische, eine indirekte Stütze durch den Aufweis der Unrichtigkeit des Gegenteils erhält. Man müßte, soll der Satz [des Interpretationismus] erst gar nicht formuliert werden können, zeigen: (i) daß Wirklichkeit als vorfabrizierte und individuierte fertig daliegt und auf ihre neutrale und passive Wiedergabe von unserer Seite wartet; und komplementär (ii) daß so etwas wie eine ‚absolute Konzeption‘ (B.Williams) kohärent entfaltet werden kann, die genau diese ‚Wahre Natur der Sachen selbst‘ erfaßt. Beide Vorstellungen müssen als gescheitert angesehen werden.“ (SZI 58) Nun ist (i) gemäß dem obigen skeptischen Argument für den Perspektivismus nicht möglich, und im nachfolgenden Kapitel werden wir beispielhaft das Scheitern von Standpunkten, welche eine These entsprechend (ii) explizit oder implizit beinhalten, nachweisen in dem Sinne, dass diese nicht kohärent die betrachteten, skeptischen Argumente auflösen können. Die in seinem apagogischen ‚Beweis‘ enthaltene stille Annahme des Tertium non datur wird von Abel nicht thematisiert. Die Skepsisstabilität des Interpretationismus ist Gegenstand von Kapitel 5.
4 Skeptische Reaktionen Humes Naturalismus ist eine Reaktion auf sein skeptisches Argument und beinhaltet (i), dass skeptische Argumente rational triftig sind und (ii) dass die skeptischen Argumente müßig sind, da wir auf Grund unserer Natur an die Falschheit skeptischer Konklusionen glauben müssen. Die skeptischen Implikationen dieses Standpunktes sind nicht akzeptabel: (a) Unter der Annahme der These (i) folgt, dass wir keine begründete Fürwahrhaltung bezüglich irgendetwas haben. Damit ist jede Fürwahrhaltung so gut wie jede andere, und insbesondere ist die Fürwahrhaltung, dass die These (ii) wahr ist, so glaubwürdig wie das kontradiktorische Gegenteil. (b) Der Naturalismus beinhaltet gemäß der These (ii) die gewöhnliche Fürwahrhaltung, dass wir begründete Fürwahrhaltung haben, und er ist gemäß der These (i) rational auf das kontradiktorische Gegenteil verpflichtet, d. h. der Naturalismus ist widersprüchlich und ist auf die Folgen des ex falso quod libet rational verpflichtet. (c) Der Naturalismus beinhaltet gemäß der These (i) den Selbstwiderspruch der global-skeptischen Konklusion. (d) Die Affirmation der Negation der skeptischen Konklusion gemäß These (ii) ist Moores Fehler.
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Diese skeptischen Probleme der 2. Stufe sind die Konsequenz für die vom Naturalisten akzeptierte Spannung und Widersprüchlichkeit zwischen der menschlichen Fakultät der philosophischen Vernunft und dem alltäglichen, natürlichen menschlichen Denken. Nun wird eine Spannung innerhalb eines Standpunktes oder ein Selbstwiderspruch nicht dadurch erträglicher, dass man sich dessen bewusst wird. Kohärenz eines Standpunktes ist eine notwendige Bedingung für dessen Zulässigkeit. Russell formuliert ein plakatives skeptisches Argument der 2. Stufe: „Humes Philosophie […] ist der Bankrott der Vernunft des 18. Jahrhunderts. […] Daher ist es wichtig herauszufinden, ob es im Rahmen einer Philosophie […] eine Antwort auf Hume gibt. Wenn nicht, dann gibt es keinen erkenntnistheoretischen Unterschied zwischen Vernunft und Wahnsinn. Der Verrückte, der sich für ein Rührei hält, ist nur deshalb zu verurteilen, weil er sich in der Minderheit befindet […].“ (1946: 698) Russell führt also ein pragmatisches Argument gegen den Naturalismus an: Würde dieser vertreten werden, dann hätte das unangenehme praktische Folgen für das menschliche Zusammenleben. Es könnte eingewendet werden, dass ein pragmatisches Argument theoretisch irrelevant ist und Russells Einwand damit insbesondere kein skeptisches Argument der 2. Stufe gegen den Naturalismus darstellt. Dem ist allerdings nicht so. Für die Effektivität eines skeptischen Argumentes der 2. Stufe gegen einen Standpunkt (oder allgemeiner: gegen eine jede Reaktion auf ein skeptisches Argument der 1. Stufe) ist es unerheblich, ob die nicht-akzeptable Konsequenz pragmatischer oder theoretischer Art ist oder sonst irgendeiner Kategorie angehört. Entscheidend ist die nicht-Akzeptabilität der Konklusion und die Triftigkeit des Arguments. Nun zeigt Russell, wie ich meine, inakzeptable Konsequenzen des Naturalismus auf und formuliert damit ein erfolgreiches skeptisches Argument der 2. Stufe: Der Naturalismus ist nicht vertretbar. Abel weist darauf hin, dass der Naturalismus nicht „die Bedingungen angibt, unter denen das in Frage stehende Problem nicht mehr auftreten kann. Genau dieses Ziel einer indirekten und radikalen Problemlösung wird […] im Naturalismus noch nicht erreicht. Denn dem philosophischen Skeptizismus werden hier keineswegs die Bedingungen seiner Möglichkeit entzogen.“ (Iw 96) Darüber hinaus entwickelt Abel ein skeptisches Argument der 2. Stufe, welches sämtliche Standpunkte, in denen das ex falso quod libet anwendbar ist, ad absurdum führt. „[Es] ist schlicht hervorzuheben, daß es in der philosophischen Behandlung des Skepsisproblems selbstverständlich um den Skeptizismus geht, wie er sich aus der Natur des kritischen und selbstreflexiven Denkens selbst ergibt. Zugleich ist zu bedenken, daß der Naturalismus eine mögliche skeptische Depotenzierung von lebensweltlichem Sinn und den in deren Gefolge drohenden Nihilismus unterschätzt. Und wenn Sinn, ebenso wie Sinnlosigkeit oder Nihilismus, eine Angelegenheit nicht der Psychologie und nicht der Wissenschaft, sondern wesent-
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lich der Logik, Angelegenheit der sinn-erzeugenden Gedanken ist, dann kann man Lebenswelt und philosophische Reflexion nicht mehr so voneinander getrennt halten, wie der Naturalismus dies für möglich hält.“ (Iw 110) Der Aufweis dieser inakzeptablen Konsequenzen ist komplementär zu den bisherigen Betrachtungen zum ex falso quod libet Prinzip. Dem naturalistischen Standpunkt geistig nahe ist der Fideismus. Der Fideismus läßt einen dem Naturalismus analogen Dualismus zu. Hier ist es der Dualismus zwischen der Vernunft und religiösen Wahrheiten. Der Fideist vertritt die These, dass, wie die skeptischen Argumente zeigen, wir keine begründete Fürwahrhaltung haben, und er sieht das als Anlass zum religiösen Glauben. Er begründet also seinen religiösen Glauben durch skeptische Argumente. Skeptische Argumente werden als Reductio ad absurdum einer rein rationalen Weltsicht verstanden.⁵ Wie das bei einer inkohärenten Weltsicht helfen soll, ist allerdings nicht einsichtig. Im Reduktionismus wird die Aussage ‚Hier ist ein Baum‘ analysiert in phänomenalem Vokabular als: ‚Jeder so und so positionierte Beobachter hat solche und solche Vorstellungen‘. Diese Proposition wird begründet von Aussagen der Art: ‚x, y, z hatten solche und solche Vorstellungen, so und so positioniert‘. Per Äquivalenz und Abgeschlossenheit von Begründung bezüglich logischer Folgerung wäre dann auch die Aussage ‚Hier ist ein Baum‘ begründet. Kategorie-IPropositionen begründen nicht Kategorie-II-Propositionen bedingt durch die vorherige Begründung der Kategorie-III-Proposition, wie in Wrights skeptischem Argument vorausgesetzt. Sie sind in diese übersetzbar. Somit ist die rationale Verpflichtung auf die nicht akzeptable skeptische Konklusion dieses Arguments aufgehoben. Ist dieser Standpunkt skepsisresistent? Es könnte die Idee aufkommen, dass die Inferenz von Kategorie-I-Propositionen in phänomenalem Vokabular (Beobachter x, y und z hatten solche und solche Vorstellungen so und so positioniert) zur Kategorie-II-Proposition in phänomenalem Vokabular (jeder so und so positionierte Beobachter hat solche und solche Vorstellungen) induktiver Skepsis ausgesetzt ist. Doch dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Dass wir induktiv argumentieren ist ja gerade das Problem skeptischer Argumente gegen die In-
Ein Vertreter dieses Standpunktes, insbesondere des Glaubens an die Triftigkeit des Arguments vom Irrtum sowie des somit vorausgesetzten Glaubens an infallibles Wissen, in der islamischen Tradition ist Abu Hamid al-Ghazālī. „Yet his exposure to logic and philosophy led him to seek a certainty in knowledge beyond that assumed by his profession. At first he attempted to address his problem academically, but after five years in Baghdad he resigned, left his family, and embarked on the mystic’s solitary quest for al-Haqq […] The light of truth came to him, he believed, only through divine grace; he considered his senses and reasoning powers all susceptible to error.“ (Ivry 1995: 19)
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duktion. Wir bemerken jedoch die folgenden, hinreichend schwer wiegenden Probleme: (i) Propositionen über Gegenstände sind nicht äquivalent übersetzbar in phänomenale Aussagen: In der Beschreibung des so und so Positioniertseins muss prinzipiell auf die materiale Außenwelt rekurriert werden und z. B. auch darauf, dass die Augen der Beobachter offen sind oder keine halluzinogenen Drogen eingenommen worden sind.⁶ (ii) Eine Übersetzung von Aussagen über die Außenwelt in phänomenale Aussagen ist noch nicht angegeben worden. Aus (i) folgt, dass begründete Fürwahrhaltung bezüglich der Außenwelt im Reduktionismus unmöglich ist. Alternativ folgt aus (ii) ihre nicht-Existenz – die absurden Konklusionen dieser skeptischen Argumente der 2. Stufe. Gemäß dem Verifikationismus sind Propositionen der Art ‚Es gibt eine externe Welt‘ Scheinaussagen. Das I-II-III-Argument gebraucht explizit und das Traum- / Dämonenargument von Descartes gebraucht implizit eine derartig sinnlose Aussage und diese sind somit nicht triftig. Der Vorwurf gegen den Verifikationismus, dass bei nicht-Existenz begründeter Fürwahrhaltung über die Außenwelt auf der Grundlage des Sinnkriteriums sämtliche derartige Aussagen darüber hinaus auch sinnlos wären, geht fehl. Der Verifikationist ist nicht auf die skeptische Konklusion zumindest dieser beiden Argumente rational verpflichtet. Das Problem ist ein anderes. Günther Patzig schreibt in seinem Nachwort zu Carnaps Scheinprobleme in der Philosophie, dass bei der Anwendung des Sinnkriteriums „große Teile der Wissenschaften selbst als sinnlos gelten müßten, während andere, absurde Theorien wie die Astrologie, magische Vorstellungen usw., dem Kriterium genügen könnten.“ (Patzig 1966: 111) Im Behaviourismus werden Propositionen über Geisteszustände anderer Personen als Propositionen über Verhaltensdispositionen analysiert. Die im I-IIIII-Argument vorausgesetzte, inferentielle Begründungsstruktur wird zurückgewiesen. Der Behaviourismus ist jedoch nicht kohärent explizierbar. Harman (1973: 11) zeigt auf, dass eine derartige Übersetzung noch nicht durchgeführt worden ist, und prinzipiell, dass die Geisteszustände ‚fürwahrhalten‘ und ‚eine Absicht ha Diese Angaben zum Ziel, dass es sich um ‚normale‘ Beobachtung handelt, sind notwendig, um inkompatible Vorstellungen von derselben Position – Alkoholiker sieht entgegen einem ‚normalen Beobachter‘ weiße Mäuse – auszuschließen. Siehe hierzu auch (Harman 1973: 11) Das Analysans wäre dann, wie das Analysandum ‚Hier sind keine weißen Mäuse‘, nicht begründet. Es mag scheinen, dass es genügt, die Bedingung, dass die Augen der Beobachter offen sind, dadurch im phänomenalen Vokabular zu erfüllen, dass andere Beobachter die Wahrnehmung haben, dass die ersteren Beobachter offenen Auges beobachten. Doch dem ist nicht so: Dieselbe Bedingung gilt für die Beobachter der Beobachter usw. ad infinitum. Der infinite Regress kann nur aufgehalten werden durch Zirkularität – die beiden Gruppen von Beobachtern stützen sich gegenseitig – oder durch die Feststellung, in nicht-phänomenalem Vokabular, dass die Augen eines Beobachters in diesem Regress offen sind. Doch Ersteres ist nicht zulässig, also Letzteres.
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ben‘ nur dann in behaviouristisches Vokabular übersetzbar sind, wenn der Andere bereits so übersetzt ist. Darüber hinaus hätte der Kritiker einer mentalen Selbstzuschreibung mit Verweis auf Dispositionen und Verhaltensweisen analytisch Recht, was absurd ist. Mill (1867: 237 ff.) argumentiert, dass man auf der Grundlage seiner begründeten Fürwahrhaltungen bezüglich seiner eigenen mentalen Zustände einen schwachen, aber ausreichenden induktiven Grund habe, von der begründeten Fürwahrhaltung bezüglich der Affektion und dem Verhalten Dritter auf deren mentale Zustände zu schließen, und zeigt so ein zu Wrights Argument alternatives Verständnis auf, wie Begründung zu denken ist. In diesem Verständnis sind jedoch die Annahmen von Wittgensteins Privatsprachenargument erfüllt und es folgt, dass Kommunikation über mentale Zustände unmöglich ist – eine nichtakzeptable, skeptische Konklusion der 2. Stufe. Im Fundamentalismus ist die Begründung der im ‚Fundament‘ enthaltenen Fürwahrhaltungen nicht wiederum durch andere Fürwahrhaltungen gedacht, sondern diese sind qua ‚Gegebensein‘ epistemisch prior. Somit wäre Agrippas Trilemma aufgelöst. Jedoch ist die „Faktizität der Fakten“ selbst „kein Faktum“ (Iw 475) und so sind die Fürwahrhaltungen im Fundament nicht im Rekurs auf die Natur und darüber hinaus auch nicht im Rekurs auf Unfehlbarkeit oder Inkorrigibilität begründbar. Es folgt, dass sie prinzipiell kritisierbar sind, und zwar insbesondere auf der Grundlage der nicht im Fundament enthaltenen Fürwahrhaltungen, welches der fundamentalistischen These des Gerichtetseins von Begründung widerspricht. Agrippas Trilemma ist auf diese Position wieder anwendbar, und es steht ausschließlich eine kohärentistische Auffassung von Begründung zu Gebote. Abel diagnostiziert in Interpretationswelten, dass „Konzeptionen, die reduktionistische, dualistische oder solipsistische Grundannahmen und Konsequenzen enthalten, weder auf skeptische Herausforderungen noch auf die genuin philosophische Frage, wie es zu denken ist, daß unsere Erfahrung so ist, wie sie ist, zufriedenstellende Antworten liefern können. […] Von hier aus tritt dann in einem zweiten Schritt die Praxis unseres wirklichen Verwendens und Verstehens sprachlicher und nicht-linguistischer Zeichen ins Zentrum der Betrachtung. Diese Praxis kann […] nicht mehr in den Termini dichotomischer, dualistischer oder solipsistischer Konzeptionen beschrieben werden. Nicht also plädiert unser Skeptiker innerhalb der traditionellen Entgegensetzungen für das jeweils unwahrscheinlichere Extrem als Möglichkeit. Vielmehr möchte er die ganze Architektonik solcher Zweiteilungen und Entgegensetzungen unterlaufen. Und exakt dadurch öffnet er den Blick für den praktischen interpretatorisch-konstruktbildenden Charakter eines jeden Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses.“ (Iw 27 f.)
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Die Skepsisstabilität des Interpretationismus ist der Gegenstand des folgenden Kapitels.
5 Ist der Interpretationismus skepsisstabil? Wir werden im Folgenden den Anspruch Abels, dass „der radikale philosophische Skeptizismus […] somit in die Interpretationsphilosophie [führt]“ (Iw 106, s. auch 122, 146, 171), untersuchen und einige Konsequenzen aufzeigen. Der Interpretationismus müsste Bedingungen enthalten, mit welchen die exemplarisch betrachteten skeptischen Argumente ungültig sind. Darüber hinaus sollten, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, keine neuen skeptischen Argumente gegen ihn entwickelt werden können. Ist der Interpretationismus skepsisstabil? Die Hauptannahme in Agrippas Trilemma ist im kohärenztheoretischen Verständnis von Begründung im Interpretationismus falsch. Eine jede Fürwahrhaltung wird nicht durch eine Sequenz von Begründungen begründet, die letztlich ad infinitum oder zirkulär verläuft. Begründung einer Fürwahrhaltung im Kohärentismus ist eine Frage des Passens. Ein offensichtliches Problem des lediglich durch diese These charakterisierten Kohärentismus besteht darin, dass Propositionen einer kohärenten Fiktion begründet wären. Doch diese sind per definitionem falsch und damit auch nicht begründet für wahr zu halten. Der Interpretationismus löst dieses, auf der in unserem Weltverständnis nicht integrierbaren Beliebigkeit basierende, skeptische Argument der 2. Stufe durch das dreistufige Interpretationsmodell auf. Die Frage von Begründung und Wahrheit ist erst auf dem Hintergrund einer durch die nicht beliebigen, nicht konstruierten und nicht willentlich abänderbaren Interpretations1-Prozesse hervorgebrachten Wirklichkeit zu verstehen. „Die Natur der Interpretativität1 selbst besorgt […] [gegen einen drohenden infiniten Regress von Interpretationen als Vorbedingungen für Vorbedingungen für Vorbedingungen von Interpretationen] hier alles, was zu besorgen ist, um zum Handeln, Sprechen, Denken, Wahrnehmen und Empfinden, kurz: um zum Interpretieren zu kommen. […] Dies ist der interpretatorische Charakter von jenem ‚harten Felsen‘, von dem Wittgenstein sagt, daß ich auf ihn stoße, wenn ich die Reihe der Begründungen des Regelfolgens erschöpft habe und ‚mein Spaten (…) sich zurück(biegt)‘.“ (Abel 1989: 11) Die Interpretation1-Produkte sind epistemisch prior. Das „‚Gewühle‘“ (Iw 163) Kants, also das, was sich auch in der Rede von Interpretationen anbietet, nämlich das Interpretandum der Interpretation1, hat keinen Einfluss auf unser System von Fürwahrhaltungen. Es ist in keiner Weise als begründend zu denken. In der Tat, ein solcher nicht interpretierter Einfluss müsste, um Einfluss zu haben, bewusst oder unbewusst, als etwas, was Einfluss auf unser System von Fürwahrhaltungen hat, und damit eben als
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unter den Begriff ‚relevant für unser rationales Weltbild‘ fallend interpretiert werden. Damit ist es natürlich kein nicht-interpretierter Einfluss mehr. Z. B. muss ein Sinnesreiz als Ursache und diese dann als Grund interpretiert werden (vgl. Iw 242), um eine Funktion in unserem System von Fürwahrhaltungen zu haben; oder auch: Damit etwas ein Grund sein kann, müssten wir uns dessen bewusst sein. Aber wir sind uns immer nur von etwas als etwas bewusst. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. […] Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.“ (Kant 1990: B 75 f., S. 95) Die gegenteilige Auffassung ist der Mythos des Gegebenen. Die zehn Tropen des Sextus Empiricus sind im perspektivistischen Interpretationismus akkomodierbar. Durch die „intepretations-praxeologische Relativität unter starken [und nicht durchgängig transparenten, sowie unter der Bedingung empirischer Gültigkeit stehenden] Kohärenz-Restriktionen“ (SZI 44) sind die im bei Sextus vertretenen Relativismus der Beliebigkeit entwickelbaren Unmöglichkeitsaufweise für die aktualen Phänomene Sprache, intersubjektive Realität, Differenzierung zwischen Schein und Sein, begründete und falsche Fürwahrhaltung, Ethik und Moral blockiert. In Bezug auf das Argument vom Traum oder vom Dämonen hält der kohärentistische Interpretationist für wahr, dass wir im Großen und Ganzen und bei Abwesenheit von Kontraindikation nicht träumen und unter keiner Illusion leiden, und wir halten es ohne Einschränkung für wahr, dass wir nicht von einem Dämon getäuscht werden. Dies tun wir nicht etwa, weil wir in unserer Erfahrung oder in unseren Vorstellungen oder durch sonst wie epistemisch privilegiert gedachte Fürwahrhaltungen Gründe für diese Hypothese hätten, denn solche haben wir, wie uns die skeptischen Argumente gezeigt haben, nicht. Sondern wir halten diese für wahr, weil unser System von Fürwahrhaltungen dazu besser passt als zu der skeptischen Alternative. Dass dies so ist, kann der Interpretationismus als Arbeitshypothese einfach annehmen. In Abwesenheit inakzeptabler Konsequenzen der Arbeitshypothese ist diese begründet. Ebenso kann der Interpretationismus als Kohärenztheorie Wrights I-II-IIIArgumente in sämtlichen Erkenntnisbereichen zurückweisen. Die Kategorie-IIIPropositionen – es gibt eine externe Welt, es gibt andere Geister, die Welt begann nicht vor einer Stunde, es gibt Uniformität – sind begründet, falls sie die Kohärenz des Systems von Fürwahrhaltungen steigern und müssen nicht inferentiell von Kategorie-I-Propositionen via Kategorie-II-Propositionen begründet werden, was, zur Erinnerung, gemäß der Struktur des Arguments ihr eigenes Begründetsein bereits voraussetzte. Der Interpretationismus nimmt die KategorieIII-Proposition als Arbeitshypothese an. Bei Kohärenz der Arbeitshypothese mit dem Standpunkt, also sozusagen bei Abwesenheit skeptischer Argumente, ist
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diese dann begründet. Dieses Vorgehen neutralisiert ebenso Humes Argument gegen die Induktion. Zusammengefasst: Der Interpretationismus hat sich als skepsisstabil angesichts der exemplarisch betrachteten, kanonischen Argumente und eines modernen skeptischen Arguments erwiesen. Graeser und Löhrer versuchen vergeblich, skeptische Argumente der 2. Stufe gegen die These des Interpretationismus, „Alles was ist, ist Interpretation“ (Abel 1996: 272), zu entwickeln. Graeser behauptet: (i) „Wenn nämlich wahr ist, daß alles Interpretation ist, dann ist es auch Interpretation, daß alles Interpretation ist.“ (1996: 255) (ii) „[Die These ist] selbstwidersprüchlich. […] Sagen, daß alles Interpretation sei, heißt implizieren, daß etwas existiert, das seinerseits nicht Interpretation ist, aber das ist, wovon x Interpretation ist.“ (255 f.) Löhrer argumentiert: (iii) „[Die These ist auch nicht auf der Interpretation3 Stufe zu verorten. Interpretationen3 können] nicht sinnvoll als solche verstanden werden […], die über Totalitäten operieren (Allquantor). Andernfalls tauchten sie nämlich zugleich sowohl auf der Objekt- als auch auf der Metaebene auf, wären zugleich dimensionierende und durch sich selbst dimensionierte Sätze.“ (1996: 266) Die ‚skeptische Konklusion‘ zu (i) ist im Interpretationismus enthalten und somit akzeptabel. Gegen den Einwand (ii) erklärt Abel, dass es „[e]ntscheidend ist […], ‚interpretativ‘ in seiner adjektivischen und in seiner adverbialen Verwendungsweise zu nehmen und ‚Interpretation‘ als [einstelliges] Prädikat aufzufassen.“ (1996: 272) Abel weist also das Verständnis von Interpretation als eines zweistelligen, nicht-symmetrischen Prädikats zurück. Der dritte Einwand basiert auf einem grundsätzlichen, logischen Irrtum. Totalität und Selbstbezug stellen keine hinreichenden Bedingungen für einen Selbstwiderspruch dar. Dieser Selbstbezug müsste negativ, wie zum Beispiel in dem Ausdruck ‚Die Menge aller Mengen, die sich nicht selber enthalten‘, sein. Durch die Entfaltung eines kohärenten, internalistischen Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses jenseits des Mythos des Gegebenen und der Beliebigkeit des Relativismus ist der Interpretationismus skepsisstabil. Er rettet uns somit vor den für unsere Lebenswelt grausamen nihilistischen Konsequenzen des Irrationalismus. Wir betrachten zum Abschluss zwei Beispiele für die von Abel als Kriterium für die Bewertung einer Theorie angeführte Fruchtbarkeit des Interpretationismus auch in anderen Wissensbereichen. (i) So ist für Abel der „philosophische Skeptizismus […] auch für die Bereiche Ethik und Politik von zentraler Bedeutung“, und ebenso spielt „in jeder moralphilosophischen und ethischen Debatte […] der moralische Skeptizismus […] eine wichtige Rolle“. „Es gibt gute Gründe, die Fragen der Ethik und der politischen Herrschaftsorganisation mit der Anforderung zu verbinden, dem internen Skeptiker eine zufriedenstellende Antwort geben zu müssen.“ (SZI 353 f.) So sind zur
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Demokratie alternative Herrschaftssysteme, wie z. B. die Oligarchie, die Diktatur oder die Theokratie, auf die Annahmen der bei Sextus in den Tropen Nr. 2 und Nr. 10 entwickelten skeptischen Argumente rational verpflichtet und damit auf die in diesem Standpunkt inkohärente Konklusion, dass keine Person und keine Weltsicht ausgezeichnet ist. Dieses Ergebnis folgt ebenso aus dem oben durchgeführten Perspektivismusargument. Die Ideologie dieser Herrschaftssysteme ist somit selbstwidersprüchlich und lediglich dogmatisch aufrecht zu erhalten, womit sich deren Vertreter aus dem rationalen Diskurs verabschieden. Der im Verständnis von Sextus aufgezeigte, durchgängige Relativismus steht jedoch nicht im Einklang mit unserer tatsächlichen Lebenswelt und führt theoretisch in die Anarchie. Ebenso sind die Annahmen des Privatsprachenarguments erfüllt. In dieser ethischen und politischen Diskussion ist der Ausgangspunkt für Abel, dass „wir uns unter kritischem Vorzeichen (und zwar in theoretischer wie in praktischer Hinsicht) nicht in der Position befinden, eine Instanz als die metaphysisch einzig seriöse, definitive und allgemein verbindliche auszeichnen zu können, so daß andere Interpretations-Horizonte anderer Personen mit metaphysischer Legitimation unter diese gezwungen werden könnten“ (SZI 348). Die Rede vom ‚kritischen Vorzeichen‘ bedeutet, wie auch in den anderen betrachteten Themenbereichen, dass die Annahme des Gegenteils nicht kohärent zu explizieren ist, sondern vielmehr nicht-akzeptable, skeptische Argumente entwickelt werden können. „Der interpretationistischen Verknüpfung von Freiheit und Gleichheit wäre […] eine Ordnung affin, […] die wir freiheitliche und pluralistische Demokratie nennen.“ (SZI 350) Argumentativ entscheidend ist, dass die Demokratie hierbei nicht als deduktive Folgerung aus dem Interpretationismus begründet verstanden wird. Oder gar, dass der Interpretationismus aus möglicherweise vorhandenen, vorurteilsbasierten Präferenzen für die Demokratie als Herrschaftsform im Umkehrschluss gestützt würde. In der kohärentistischen Theorie des Interpretationismus ist die Begründung der Demokratie eine Frage des Passens. „Demokratie […] wird nicht ‚begründet‘, nicht aus einem Fundament heroder abgeleitet. Die Stärke des Demokratiegedankens liegt vielmehr gerade darin, keinen Essentialismus politischer Herrschaftsform mehr verkörpern zu müssen und gleichwohl nicht in einen Relativismus der Beliebigkeit zu führen.“ (SZI 362) (ii) Das Gefangenendilemma ist problematisch für den Rationalitätsbegriff und zentral in den Sozialwissenschaften wegen seiner großen Reichweite und Auswirkung auf das Gemeinwohl und das Wohl jedes Einzelnen.⁷ Das Gefange-
Für einen guten Überblick: (Campbell / Sowden, 1985). In den Sozialwissenschaften lautet das Problem: Wie ist freiwillige Kooperation bei kollektivem Nutzen erzielbar, wenn Kooperation individuelle Kosten beinhaltet?
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nendilemma ist seinem Wesen nach ein Paradox. Auf der einen Seite sollte der Gefangene das tun, was für ihn in den beiden möglichen Fällen jeweils das Beste ist, nämlich petzen. Auf der anderen Seite gibt es die sehr starke Intuition, dass es irrational ist, eine Entscheidung zu fällen, die wissentlich zu dem Pareto-suboptimalen Ergebnis führt, welches sich ergibt, wenn beide nicht kooperieren. Dies ist ein Beispiel, wie philosophische Kritik zu denken ist: „Sie besteht im Kern darin, auftretende Geltungsansprüche auf ihre sinn-präsuppositive Konsistenz und Kohärenz zu prüfen. Dies ist möglich und erforderlich, da wir als endliche Geister im Regelfall mit Erheben und Aussprechen eines Geltungsanspruchs eine solche kritische Prüfung nicht schon absolviert haben“ (SZI 358). Abel erklärt somit die Kritik und Verbesserungsmöglichkeit unseres Standpunkts mit Verweis auf die nicht-Überschaubarkeit und fehlende Transparenz unserer Interpretationsverhältnisse. Dies entspricht der Einschätzung Iltings über die Sokratische Philosophie, „daß der Mensch ein Wesen ist […], das die Bedingungen seines Handelns und Lebens […] [niemals] vollkommen durchschauen und erkennen könnte. Die Erfahrung der Aporie wird so als der Beginn der Einsicht in die aporetische Verfassung menschlichen Daseins gedeutet.“ (Ilting 1972: 111) So „kommt es darauf an, das Implizite explizit zu machen und es auf Widersprüchlichkeit zu prüfen“ (SZI 345). Nun bedeutet „die Anbindung [des Interpretationismus] an unsere [vorsystematischen] Intuitionen […] nicht, daß wir diesen kritiklos auf den Leim gehen müßten“ (Iw 174), wie Abel anhand der kopernikanischen Wende (ZdW 399, Iw 359) aufzeigt, welche zu ihrer Zeit ebenfalls ein Paradox darstellte. „Skeptisches Fragen kann Veränderungen eines bislang gewohnten Welt- und Selbst-Verhältnisses zur Folge haben.“ (Iw 172) In unserem Fall handelt es sich um eine lokale, inkrementelle Veränderung innerhalb unseres Verständnisses von Rationalität und Ethik: Das Gefangenendilemma, oder besser: Gefangenenparadox, sollte, so denke ich, durch Zurückweisung der o.g. Intuition aufgelöst werden, und es sollte versucht werden, pragmatisch Aspekte in der Welt derart zu verändern, dass die Bedingungen des Gefangenendilemmas in der diese abbildenden Auszahlungsmatrix für die betroffenen Personen nicht mehr erfüllt sind. Damit erntet die Gesellschaft den Mehrwert der Kooperation und die in unserem Rationalitätsbegriff tief verankerte Eigenwertoptimierung bleibt unangetastet. Wir fassen zusammen: Der Skeptizismus führt in den Interpretationismus in dem Sinne, dass er nicht auf die nicht-akzeptablen Konklusionen der bekannten skeptischen Argumente rational verpflichtet ist. Diese skeptischen Argumente sind im Interpretationismus nicht entwickelbar. Damit ist der Interpretationismus ein skepsisstabiles Welt-, Fremd- und Selbstverständnis zu dieser Zeit. Darüber hinaus ist der Interpretationismus, wie wir in den zwei skizzierten Anwendungen auf Politiktheorie und das Gefangenendilemma gesehen haben, ein fruchtbarer
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Ansatz auch für andere Fragen und Probleme. In einem kohärenztheoretischen Begründungsverständnis unterstützt dies ebenfalls den Interpretationismus. Gemäß der skeptischen Methode gilt es, neue skeptische Argumente in dem so erreichten Standpunkt zu suchen und die Folgen des Interpretationismus auch in anderen Bereichen auszuarbeiten. Mit Waldenfels: „Ein Denken, in dem die Frage nicht mehr lebendig ist, ist erstorben; ein Denken, das sich nicht für weitere Fragen offenhält, sieht seinem Ende entgegen.“ (1961: 154) Wie Platon im Symposion argumentiert, ist es nun „eben das Arge am Unverstande, daß er, ohne schön und gut und vernünftig zu sein, doch sich selbst ganz genug zu sein dünkt“ (Platon 1968: Symp. 204a). Im Sophistes führt er weiterhin aus, „daß die Reinigenden glauben, […] daß die Seele nicht eher von den ihr beigebrachten Erkenntnissen Nutzen haben könnte, bis durch prüfende Zurechtweisung einer den Zurechtweisenden beschämt [durch den Aufweis eines Selbstwiderspruchs im Rahmen eines sokratischen Dialogs; T. K.], die den Erkenntnissen hinderlichen Meinungen ihm fortnimmt und ihn rein darstellt als jemanden, der nur zu wissen glaubt, was er weiß, mehr aber nicht“ (Platon 1993: Soph. 230c f.). In Anbetracht seiner theoretischen und praktischen Eigenschaften, insbesondere in seiner Wechselwirkung zum Skeptizismus, wäre eine einem breiteren Publikum zugängliche Darstellung des Interpretationismus wünschenswert.
Literatur Abel, Günter 1989: Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch 96, S. 1 – 19. Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1996: Interpretation und Realität. Erläuterungen zur Interpretationsphilosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21, S. 271 – 288. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Campbell, Richmond / Sowden, Lanning 1985: Paradoxes of Rationality and Cooperation, Vancouver. Bieri, Peter (Hg.) 1987: Analytische Philosophie der Erkenntnis, Frankfurt a. M. Descartes, René 1993: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, übers. v. A. Buchenau, Hamburg. Eusebius 1985: Preparation for the Gospel, in: Annas, Julia / Barnes, Jonathan: The Modes of Scepticism: Ancient Texts and Modern Interpretations, Cambridge, S. 44. Graeser, Andreas 1996: Interpretation, Interpretativität und Interpretationismus, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21, S. 253 – 260. Harman, Gilbert 1973: Thought, Princeton.
Skeptizismus und Interpretationismus
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Günter Abel
Grenzen des Skeptizismus Replik zum Beitrag von Tim Koehne Ziel des Beitrags von Tim Koehne ist es, die innere Beziehung zwischen dem Interpretationismus und dem Skeptizismus (a) zu explizieren (s. Koehne-Beitrag, Kap. 1) und (b) den Interpretationismus auf seinen Anspruch hin zu prüfen, als eine bis auf weiteres zufriedenstellende Antwort auf den Skeptizismus bzw. als ein im Vergleich mit den wichtigsten systematischen Skepsisreaktionen der Tradition ‚skepsisresistenter‘ bzw. ‚skepsisstabiler‘ Ansatz (s. insb. Kap. 5) gelten zu können. Beides gelingt Tim Koehne auf ausgezeichnete Weise. Zum einen ist dies der Fall in puncto inhaltlicher Rekonstruktion der Strukturen und Intentionen der Interpretationsphilosophie. Zum anderen sind die Trefflichkeit der gedanklichlogischen Analyse und die Eleganz sowie die Scharfsinnigkeit von Koehnes Argumentationen hervorzuheben.¹ Meine Replik bezieht sich mithin auf die beiden zentralen Aspekte: 1. Das Verhältnis von Skeptizismus und Interpretationismus. 2. Der skepsisstabile Charakter der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie].
Zwei Bemerkungen seien meiner Replik vorangestellt. Zum einen (a) konzentriert Tim Koehne sich innerhalb dessen, was ich die Zeichen- und Interpretationsphilosophie nenne, auf die Komponente des ‚Interpretationismus‘. Das ist ganz in Ordnung und entspricht der Linie von Koehnes ausgezeichnetem Buch zur Thematik: Skeptizismus und Epistemologie. Entwicklung und Anwendung der skeptischen Methode in der Philosophie (2000). Im Blick auf die Erweiterung des Interpretationismus in die allgemeine ZuI-Philosophie möchte ich betonen, dass alle von Koehne formulierten Befunde nicht nur auf einen methodologisch gedachten Interpretationismus, sondern auf die umfänglicher und grundlegender gedachte ZuI-Philosophie uneingeschränkt zutreffen. Wenn ich also im Folgenden von ‚Interpretationismus‘ oder ‚Interpretationsphilosophie‘ spreche, meine ich in solcher Rede stets zugleich den umfänglicheren Sinn der Rede von ZuI-Philosophie; und wenn ich von ‚ZuI-Philosophie‘ spreche, meine ich nicht, dass durch diese terminologische Erweiterung Aspekte ins Spiel kommen, die in Koehnes Beitrag nicht bedacht seien. Dem entsprechend ist zum anderen (b) deutlich hervorzuheben, dass Koehne sich im vorliegenden Beitrag über die Befunde seines Buches von 2000 hinaus intensiv mit den Weiterentwicklungen der ZuI-Philosophie in den zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorliegenden Büchern Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI) und Zeichen der Wirklichkeit (ZdW) auseinandersetzt und deren Befunde breit aufnimmt. Koehnes Analysen und Erörterungen beziehen sich daher auf das Programm der ZuI-Philosophie insgesamt bis heute. https://doi.org/10.1515/9783110522280-067
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1 Das Verhältnis von Skeptizismus und Interpretationismus In Koehnes Beitrag wird richtigerweise vorausgesetzt, dass es in der Interpretationsphilosophie nicht nebensächlich auch, sondern in epistemologischer und methodologischer Hinsicht grundlegend darum geht, den philosophischen Skeptizismus nicht von außen und etwa gar beweis-deduktiv widerlegen zu wollen, sondern darum, ihm von innen, und das heißt im Rekurs auf die interpretatorischen (sowie zeichen-verkörperten und zeichen-kontextuellen) Eigentümlichkeiten unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses eine zufriedenstellende Antwort zu geben. Mit Recht stellt Koehne meine beiden Komplementärthesen in den Mittelpunkt seiner Erörterungen: (a) dass der interne Skeptizismus in die Interpretationsphilosophie führt und (b) dass der interne Skeptizismus in der Interpretationsphilosophie bzw. in der Aufdeckung des interpretatorischen Charakters unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses gleichsam zu sich selbst, nach Hause, ins einheimische Reich der Antriebe seines Zweifelns gegenüber inkohärenten und darin unbegründeten Ansprüchen auf Wissen und Erkennen kommt. Zugleich und mit Recht zitiert Koehne aus den Interpretationswelten (Iw), wo ich im Blick sowohl auf die Skepsis-Anfälligkeit als auch die Skepsis-Immunität nachdrücklich dafür plädiere, diese beiden Aspekte keineswegs als irgendwie zeitlose oder gar eternalistische Phänomene, sondern vielmehr so zu verstehen, dass beide „ihre Zeit“ haben (Iw 120). Mit hoher terminologischer Prägnanz interpretiert Koehne zunächst einige klassische und moderne skeptische Argumente² als „Reductio-ad-absurdum-“ bzw. als „Reductio-ad-paradox-Argumente“ (Kap. 2), als Argumente also „mit scheinbar plausiblen Annahmen, scheinbar triftigen Folgerungen und einer scheinbar nicht-akzeptablen […] Konklusion“ (ebd.). Der philosophische Skeptizismus prüft, ob Standpunkte, Begriffe, Folgerungsschritte, Urteile, Überzeugungen, Fürwahrhaltungen und Meinungen offen oder verdeckt Annahmen enthalten, die deshalb zu inkohärenten und irrationalen Konsequenzen führen, weil sie innerhalb des geprüften Standpunkts, Begriffs, Folgerungsschrittes, Urteils und Fürwahrhaltens streng genommen nicht auftauchen dürften und nicht akzeptabel sind. Gelingt ein solcher skeptischer Prüfnachweis, dann ist der ent-
Sextus Empiricus: Agrippas Trilemma; Descartes: Traum- und Dämon-Argument; Hume: Induktions- bzw. Zukunfts-Argument; und Wright: Argument der I-II-III-Kategorien im Blick auf Außenwelt, andere mentale Zustände, Geschichte und Zukunft.
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sprechende Standpunkt durch eben diesen Aufweis interner Inkohärenz skeptisch und damit auch rational diskreditiert. Sehr gut nimmt Koehne in diesem Zusammenhang meine dreifache Annahme auf, dass (a) sowohl jede Problemkonstitution als auch jede Problemlösung stets bereits unter kohärentistischen Bedingungen bzw. Vorannahmen steht, es also keineswegs vom Himmel gefallen ist, was wie und warum überhaupt als ein Problem gilt und was nicht; und dass (b) in der ZuI-Philosophie die Lösung von Problemen nicht als eine beweis-deduktive Demonstration, sondern als ‚Auf-lösung‘ in dem Sinne verstanden und praktiziert wird, dass diejenigen Bedingungen angegeben werden, unter deren Geltung das in Frage stehende Problem erst gar nicht mehr auftreten kann; und dass (c) klassische ebenso wie moderne Skepsisreaktionen (bei Sextus Empiricus, Descartes, Hume, Crispin Wright und anderen) nicht konsistent entwickelt werden können (wie Koehne detailliert und überzeugend vorführt). In Bezug auf die Skeptizismus-Frage bedeutet der zweite der drei genannten Punkte schlicht, dass das zu Recht Inkohärenzen aufdeckende Reductio-ad-absurdum-Argument (A und non-A; ex falso quotlibet) auf zwei für die ZuI-Philosophie grundlegende Punkte führt. Von hohem Wert sind skeptische Argumente als Reductio-Argumente im Rahmen der ZuI-Philosophie vor allem in zwei Hinsichten. Zum einen (i) führen sie ihrerseits in die ZuI-verfasste Struktur unseres Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses und darin den internen Skeptizismus gleichsam zu sich selbst. Zum anderen (ii) können auf diesem ZuI-verfassten Boden zur Zeit bzw. bis auf weiteres auch keine neuen skeptischen Argumente entwickelt werden. Ohne Frage sind damit zwei tiefgehende und weitreichende Befunde im Blick auf das Verhältnis von Skeptizismus und Interpretationismus in den Fokus der philosophischen Aufmerksamkeit gerückt worden. Mit argumentativer Eleganz entwickelt Koehne die Position, dass Standpunkte, Begriffe und ganze Ansätze (wie vornehmlich die ZuI-Philosophie) genau dann als ‚begründet‘ anzusehen sind, wenn sie durch Abwesenheit von Reductio-ad-absurdum-Konsequenzen ausgezeichnet sind. In diesem Sinne kann der interpretationsphilosophische (und erweitert der ZuI-philosophische) Ansatz nicht nur als philosophisch überaus wohlbegründet, sondern zugleich als ein Ansatz angesehen werden, der auch aufgrund seiner Skepsisresistenz bzw. Skepsisstabilität einen grundlegenden Vorteil gegenüber einer Reihe anderer Ansätze aufweist, wie Koehne mit Bezug auf den Naturalismus, den Reduktionismus, den Verifikationismus, den Behaviourismus und den Fundamentalismus trefflich vor Augen führt. Überzeugend entwickelt er in Kapitel 3 seines Beitrags ein Verfahren, wie mit skeptischen Argumenten sinnvollerweise umzugehen ist.Wie subtil Koehne dabei unterwegs ist und auf welch effektive Weise er den Zusammenhang mit der in der
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ZuI-Philosophie vertretenen Auffassung des philosophischen Skeptizismus zu adressieren vermag, zeigt sich auch an den beiden diagnostizierten ‚Missverständnissen‘ der skeptischen Frage: (a) Das erste Missverständnis, das Koehne als den „ad hominem Fehler“ (Kap. 3) bezeichnet, besteht darin, dem Skeptiker zu unterstellen, er wolle uns mittels seiner skeptischen Argumentation dies oder das gleichsam zum Kauf anbieten, z. B. die These ‚Es gibt keine Außenwelt‘, in etwa so als sei der Skeptiker ein Gemischtwarenhändler in Sachen Epistemologie, der eigene Produkte zum Kauf anzubieten hätte. In der Regel wird in diesem Szenario gegen den Skeptiker zu argumentieren versucht, dass er doch wohl den Satz ‚Es gibt keine begründeten Fürwahrhaltungen‘ für begründet halte, er sich genau damit aber in der inakzeptablen Situation befinde, den Satz zugleich für begründet und für unbegründet zu halten. Und mit Hinweis auf diesen Punkt scheint die Sache dann für den Skepsis-Gegner erledigt. Das ist aber offenkundig nicht der Fall. Denn in Übereinstimmung mit und in Aufnahme der explizit formulierten Position der ZuIPhilosophie (im Sinne der Kritik an dem, was ich den ‚terminalen Skeptizismus‘ genannt habe) deckt Koehne den gegenüber diesem irreführenden Gesamtbild zentralen Aspekt sehr schön auf, dass der Dialog zwischen Skeptiker und AntiSkeptiker eben gerade nicht ein externer Dialog zwischen zwei externen Kontrahenten, sondern ein interner Dialog, ein Dialog auf der Innenseite unseres ZuIverfassten Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses selbst ist. „Der Dialog des Skeptikers mit dem Anti-Skeptiker ist ein Dialog von uns mit uns selbst.“ (Ebd.) Koehne zitiert die entscheidende Figur: Unter kritischem Vorzeichen nimmt der philosophische, interne Skeptizismus seinen Ausgang „bei genau dem System, das wir verwenden“, und er kann „auch nur mit Bezug auf dieses zufriedengestellt werden“ (Iw 46). Es geht nicht darum, dem Skeptiker formale Inkonsistenz extern vorzurechnen. Es geht vielmehr darum, die Aufnahme, Adoption und Kompatibilität seines Einwands innerhalb unseres eigenen ZuI-Systems so aufzuweisen, dass bis auf weiteres keine skeptischen Zweifel bestehen und zur Zeit auch keine neuen entstehen können. Und genau das heißt es, unser ZuIverfasstes und ZuI-bestimmtes Welt-, Fremd- und Selbstverständnis und ‐verhältnis als ‚begründet‘ ansehen zu können bzw. als dasjenige (und über das klassische Modell der Begründung selbst noch hinausgehende) bis auf weiteres selbstverständliche und in diesem Sinne selbstevidente Geflecht unserer ZuIVerhältnisse, aus denen heraus und auf die hin sich unser Empfinden, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln so vollziehen, wie sie dies bis auf weiteres nun einmal tun. Nach zusätzlichen Begründungen und Rechtfertigungen fahnden wollen, ginge an der besonderen und Hintergrund-stabilisierenden und skepsisstabilen Natur der ZuI-Verhältnisse, aus denen heraus und auf die hin wir so leben, wie wir leben, gründlich vorbei. Mit dieser Feststellung ist auch die
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Unterstellung verbunden, dass wir uns, insbesondere wenn es um die ZuI1-Ebene geht, um die Gewissheit unseres Empfindens,Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns im Grunde nicht wirklich beunruhigen müssen, ihnen also vertrauen können. Beinahe könnte man mit Artikel 3 aus dem Rheinischen Grundgesetz sagen: ‚Et hätt noch emmer joot jejange‘. Unsere ZuI-Welten sind die Welten, auf die wir uns am besten und sichersten verstehen. Wohlgemerkt, das heißt nicht, wir könnten gar keine Gründe beispielsweise zur Rechtfertigung des Induktionsverfahrens angeben; in der ZuI-Philosophie geht es vielmehr um die Frage, „wie es zu denken ist, dass das Induktionsverfahren die wichtige Rolle spielt, die es nun einmal spielt“ (Iw 136). (b) Das zweite Missverständnis, von Koehne „Moores Missverständnis“ (Kap. 3) genannt, besteht darin, dem skeptischen Argument den Aufweis seiner absurden Konsequenzen vorzuhalten, die nicht mit dem übereinstimmen, was wir üblicherweise für begründet halten. Das Beispiel, das Koehne vorbringt, ist die berühmte Demonstration George Edward Moores in Bezug auf seine beiden Hände. Die skeptische Annahme, dass meine beiden Hände, auf die ich direkt zeigen kann, nicht existieren, verstößt, so Moores Überlegung, gegen den im Vergleich höheren Grad an Evidenz zugunsten unserer Fürwahrhaltung, dass ich zwei Hände besitze. Moore setzt also ein Reductio-ad-absurdum-Argument gegen den Skeptiker ein. Koehne konstatiert trefflich: Moore „betrachtet das skeptische Argument als befriedigt, falls die skeptische Konklusion absurd ist“ (ebd.). Bemerkenswert dabei ist, dass Moore, und hier stimme ich Koehne zu, weder eine genaue Analyse dessen liefert, was in der skeptischen Annahme eigentlich falsch sei, noch eine Argumentation liefert, die über die bloße Behauptung hinausgeht, dass die skeptische Konklusion absurd sei. Auch auf Moores Pfaden ist eine zufriedenstellende Antwort auf die Herausforderung des internen Skeptizismus nicht zu erreichen. Koehne entwickelt ein Verfahren zum Umgang mit skeptischen Argumenten und vergleicht dieses in seinem Kern „immanente Verfahren“ mit dem innerhalb der ZuI-Philosophie gebrauchten Skeptizismus-Begriff (ebd.). Mit Recht konstatiert er, dass mein Skeptizismus-Begriff auf zwei Komponenten Rücksicht nimmt: zum einen (a) auf die Konzeptionen, wie sie mit Descartes, Hume und anderen philosophischen Skeptikern gegeben sind, einschließlich der diesbezüglichen Skepsisreaktionen; zum anderen (b) für die ZuI-Philosophie systematisch entscheidend auf denjenigen Typus von Skeptizismus, der sich in dem bereits skizzierten Sinne mit dem Vorschlag der ZuI-Philosophie und dessen Konzeption eines ‚immanenten (und nicht terminalen) Skeptizismus‘ trifft. Dieser zweite Sinn ist der in der ZuI-Philosophie ebenso wie bei Tim Koehne entscheidende, den es zu explizieren gilt.
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Zentral ist für Koehne, dass der Ausgangspunkt der Betrachtung durch die ZuI-philosophische Auffassung gegeben ist, dass wir es stets, grundständig, basal und in jedem Falle mit unserem in der Regel flüssig funktionierenden Welt-, Fremd- und Selbstverständnis und ‐verhältnis zu tun haben. Ein vernünftiger Umgang mit skeptischen Argumenten muss daher im Rekurs auf dieses System erfolgen, soll er ins Ziel sowohl der skeptischen Herausforderung als auch der ZuIverfassten Natur unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses/-verhältnisses führen. Zugleich wendet Koehne das Reductio-ad-absurdum-Verfahren auch auf die skeptischen Argumente selbst an. Skeptische Argumente gehen also nicht nur selbst Reductio-mäßig vor (d. h. sie suchen nicht nur inkonsistente und inkohärente Selbstwidersprüche in den Annahmen und Konsequenzen eines Standpunktes). Skeptische Argumente werden in Koehnes Sicht auch ihrerseits einer Reductio-Prüfung unterzogen, das heißt es wird danach gefahndet, ob in den Annahmen, Begriffen, Folgerungsschritten und Konsequenzen eines skeptischen Argumentes ihrerseits Inkohärenzen selbstzerstörerischer Art zu finden sind. Erweist sich ein skeptisches Argument als frei von derartigen inkohärenten Annahmen und Konsequenzen, gilt es bis auf weiteres als begründet. Koehne fordert also auch für die Reaktion auf ein skeptisches Argument eine Begründung dieser Skepsisreaktion. Das läuft in seiner Sicht, und hier stimme ich zu, auf die These hinaus, dass es eines „Kriteriums“ bedarf, „um zwischen guten und schlechten bzw. zulässigen und unzulässigen Reaktionen auf skeptische Argumente zu unterscheiden“ (Kap. 3). Konsequenterweise gilt Koehne zufolge an dieser Stelle: „Eine Reaktion auf ein skeptisches Argument ist begründet genau dann, wenn im durch die Reaktion erreichten Standpunkt kein skeptisches Argument zu entwickeln ist.“ (Ebd.) Begründet ist die skeptische Reaktion mithin dann, „wenn der neue Standpunkt skepsisresistent“ ist (ebd.). Vor diesem Hintergrund teile ich auch das von Koehne vorgeschlagene „iterative Verfahren“: „(1.) Suche nach skeptischen Argumenten im Standpunkt, (2.) Reaktion auf skeptisches Argument, (3.) Suche nach skeptischem Argument im ‚neuen‘ Standpunkt“. In diesem Sinne kann man mit Koehne zwischen der „Skepsis der 1. Stufe“ und „Skepsis der 2. Stufe“ unterscheiden (Kap. 3). Gleichwohl aber möchte ich gegenüber diesem iterativ gestuften Verfahren auf den wichtigen Schritt hinweisen, dass es zugleich darauf ankommt, in eine in sich zurücklaufende Schleifenbildung dieser Methode des Umgangs mit skeptischen Argumenten einzutreten. Erst dann wird deutlich, dass die skizzierte Methode „auf sich selbst anwendbar“, „selbstverstärkend und undogmatisch“ (Kap. 3) ist, ohne dass dabei ein vorab gesetzter Ausgangspunkt der Skepsisreaktionen-Bewegungen gedacht werden müsste. Wenn man so will, ziehe ich einer
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primär kriterialen Betrachtung stets die intern präsuppositive und darin reflexive Betrachtung und Behandlung der Skepsis-Problematik vor. Koehne sieht ganz klar, dass diese Struktur der Methode des von ihm propagierten Umgangs mit skeptischen Argumenten ganz mit dem zusammenstimmt, was in der ZuI-Philosophie als die Einbettung, Situierung, Verankerung und Begründung des immanenten Skeptizismus in den Binnenstrukturen der ZuIWelten/-Praxen selbst adressiert wird. Wie sehr er damit den Nerv der adualistischen Schnittstelle zwischen Skeptizismus und Interpretationismus trifft, wird auch an dem von ihm nachdrücklich betonten Umstand deutlich, dass weder die Skepsis-Anfälligkeit noch die Skepsis-Stabilität/Immunitat als eine ungeschichtliche, nicht-zeitliche, zeitlose, eternalistische Eigenschaft unseres Systems der Welt-, Fremd- und Selbstverständnisse/-verhältnisse konzipiert werden darf. Eine solche irreführende Annahme würde der Pointe unseres Arguments in den Rücken fallen und ihm den Boden entziehen, wäre ein Rezidiv im Sinne der These, dass wir auf diese Weise der Zeitlichkeit doch wieder (wie vormals dogmatische, aber eben inkohärente Metaphysik) entspringen könnten. Diesen Punkt möchte ich nachdrücklich hervorheben, auch deshalb, weil Koehne meine Formulierung „Der philosophische Skeptizismus kommt in der Interpretationsphilosophie, in die er führt, zugleich auch zu sich selbst“ (Iw 112) so versteht, als wolle ich damit der Zeitlichkeit des Skeptizismus wie des Interpretationismus auf irgendeine Weise doch entkommen. Das ist erklärtermaßen nicht der Fall. Leitend ist bei mir vielmehr die bereits betonte Vorstellung, dass die Skepsis-Anfälligkeit ebenso wie die Skepsis-Stabilität/-Immunität in dem Sinne ‚auch zu sich selbst kommt‘, dass sie in das einheimische Reich ihrer nicht-suspendierbaren Zeitlichkeit eintritt, wo zur Zeit zwar keine weiteren skeptischen Argumente vorhanden sind und bis auf weiteres auch keine neuen entwickelt werden können, dass dies jedoch gerade nicht ein metaphysisches, sondern lediglich ein pragmatisches und zeitgebundenes Ende des Suchens nach neuen Zweifeln bedeutet. Die weitere Suche nach neuen skeptischen Argumenten ist vielmehr systematische Verpflichtung des ZuI-philosophischen Ansatzes selbst. Unter Einschluss dieser Dimension möchte ich die ZuI-Philosophie insgesamt als einen zeitgemäßen Ausdruck der Reflexion auf die Situation des Philosophierens selbst, keineswegs jedoch als einen in der Sache definitiven und allgemein verbindlichen Endpunkt verstanden wissen wollen. Einer irregeleiteten Ambition steht die ZuI-Philosophie erklärtermaßen nicht zu Gebote. Zugleich sei nachdrücklich betont, dass die irreduzible und dynamische Pluralität der ZuI-Verhältnisse in der ZuI-Philosophie keineswegs in ein System gepresst werden soll. Das Gegenteil ist der Fall. Es werden vielmehr Konsequenzen aus dem Umstand gezogen, dass Philosophieren im Sinne abschließender, definitiver, ultimativer
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und allgemein verbindlicher, geradezu eschatologischer Systeme als gescheitert gelten und nicht verfeinert, sondern verabschiedet werden müssen. Dass und in welchem Sinne bestimmte Reaktionen auf die Herausforderungen des Skeptizismus (vornehmlich: Humescher Naturalismus, Fideismus, Reduktionismus, Verifikationismus, Behaviourismus und Fundamentalismus) scheitern, demonstriert Koehne unter Einsatz der von ihm skizzierten skeptischen Methode auf überzeugende und scharfsinnige Weise in Abschnitt 4 seines Beitrags. Dabei liegen die jeweiligen Demonstrationen des Scheiterns (Koehnes skeptische Argumente der 2. Stufe) ganz in der Linie der zeichen- und interpretationsphilosophischen Argumentationen gegen die vermeintlichen Skepsisresistenzen der genannten Positionen. Die genannten Ansätze verkörpern keine den immanenten Skeptizismus zufrieden stellenden Antworten. Sie sind vielmehr selbst in ihren eigenen Annahmen, Folgerungsschritten und Konsequenzen der Reductio-ad-absurdum-Konsequenz und damit auch der ex-falso-quodlibet-Folgerung ausgesetzt. Sie können daher nicht nur nicht als rationale Antworten auf die Herausforderungen des philosophischen Skeptizismus gelten. Sie stellen darüber hinaus in Bezug auf die Frage, wo uns der Schuh wirklich drückt bzw. wo, wie und warum es überhaupt zur Konstituierung eines Problems kommt, Scheinprobleme und Scheinlösungen dar. Setzt man die skeptische Methode als epistemologische Methode des Philosophierens selbst an, sind sie ihrerseits als Positionen rational nicht zu verteidigen. Fehlende anti-skeptische Kapazität des im jeweiligen Ansatz vertretenen Arguments geht also mit der fehlenden Triftigkeit des jeweiligen Ansatzes selbst einher. So erweist sich zum Beispiel der Humesche Naturalismus angesichts seiner eigenen Annahmen, Folgerungsschritte und Reductio-ad-absurdum-Konsequenz als eine rational nicht verpflichtende und nicht explizierbare Position. Entsprechendes gilt, wie Koehne mit Recht betont, etwa auch für die Position des Glaubens an einen Infallibilismus, mithin des Glaubens an infallibles Wissen. Mit Recht bringt Koehne meine Grundüberzeugung auch im Blick auf seine eigene Argumentation entscheidend ins Spiel, dass die „Faktizität der Fakten“ selbst „kein Faktum“ ist, sondern Interpretation sein muss (Iw 475). Im Blick auf die epistemologische Position des Fundamentalismus der Fürwahrhaltungen (welche die These vertritt, dass Fürwahrhaltungen nicht selbst wiederum durch andere Fürwahrhaltungen, sondern vielmehr qua ‚Gegebensein‘ begründet sind) bedeutet dies, wie Koehne sehr richtig sieht, dass die ‚fundamentalen‘ Fürwahrhaltungen „nicht im Rekurs auf die Natur und darüber hinaus auch nicht im Rekurs auf Unfehlbarkeit oder Inkorribilität begründbar“ sind (Kap. 4). Fundamentalistische Konzeptionen (und ebenso die reduktionistischen, naturalistischen, dualistischen und solipsistischen Konzeptionen) sind mithin nicht als kohärente und rational verpflichtende Positionen vertretbar. Von hier aus ist der
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„Blick frei für den praktischen interpretatorisch-konstruktbildenden [und, wie ich später hinzugefügt habe, den zeichen-verkörperten und zeichen-bestimmten] Charakter eines jeden Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses“ (Iw 27 f.). Zugespitzt gilt unter Anwendung der skizzierten Denkfigur: Aus Gründen und Anforderungen der gedanklichen Kohärenz kann der epistemologische Naturalismus ebenso wenig wahr und vertretbar sein wie die selbst noch im Fallibilismus mitschwingende Annahme infalliblen Wissens.Versuche dieser Art erinnern mich von Ferne stets an die Hoffnung, dass √2 = 1,414213562… irgendwann schließlich doch noch aufgehen bzw. zu einem definitiven Abschluss kommen könnte.
2 Der skepsisstabile Charakter der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Elegant und überzeugend bringt Koehne in Abschnitt 5 seines Beitrages die von ihm entfaltete skeptische Methode (mit skeptischen Argumenten der 1. und der 2. Stufe) im Blick auf die ZuI-Philosophie und deren Anspruch, dass „der radikale philosophische Skeptizismus […] in die Interpretationsphilosophie führt“, zum Einsatz. Konsequenterweise tut er dies im Ausgang der beiden Grundüberlegungen, dass der Interpretationismus, soll er „skepsisstabil“ sein, (a) Bedingungen enthalten müsse, im Rekurs auf die „die exemplarisch betrachteten skeptischen Argumente ungültig sind“, und (b) zur Zeit auch nicht in Sicht ist, wie neue skeptische Argumente gegen die ZuI-Philosophie entwickelt werden und worin diese bestehen könnten (Kap. 5). Das vierfache Fazit seiner Analysen und Argumentationen, die ich nachdrücklich unterschreibe, ist: (a) Der immanente (mithin nicht-terminale) Skeptizismus führt konsequenterweise in die ZuI-Philosophie. (b) Der in seiner Immanenz radikale philosophische Skeptizismus kommt, sinnlogisch zu Ende gedacht, in der ZuI-Philosophie gleichsam zu sich selbst. Er kommt gleichsam in das ‚einheimische Reich‘ des Antriebs, des Motivs, der Immanenz, der Dynamik und der Wahrheits- und Erfüllungsbedingungen des immanenten Skeptizismus selbst, wie ich in Aufnahme der berühmten Formulierung Hegels über das Selbstbewusstsein zu Beginn des Abschnittes IV der Phänomenologie des Geistes sagen möchte, wo er davon spricht, dass wir nun mit dem Selbstbewusstsein in das ‚einheimische Reich der Wahrheit eingetreten‘ sind. (c) Bis auf weiteres, mithin zum gegenwärtigen Zeitpunkt können keine neuen skeptischen Argumente 1. und 2. Stufe gegen die ZuI-Philosophie entwickelt werden, die sich somit als skepsisstabil und auch als skepsis-metastabil erweist. (d) Dieser Befund schließt die Suche nach neuen skeptischen Argumenten keineswegs aus, sondern erklärter-
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maßen mit ein. Im Interesse offenen und lebendigen Denkens bleibt diese Aufforderung jederzeit in Kraft. Dies ist allein schon zwecks Vermeidung der neuerlich verlockenden Hoffnung auf definitive und ultimative Letztbegründungen im Sprechen, Denken und Handeln geboten, welche Hoffnungen – auch dies eine Art Reductio-ad-absurdum-Argument – für ein offenes und lebendiges Sprechen, Denken und Handeln den Tod bedeuten würden. Vornehmlich Abschnitt 5 von Koehnes Beitrag möchte ich zur satzgenauen Lektüre nachdrücklich empfehlen. Auf den Punkt formuliert bringt er die Position der ZuI-Philosophie zur Darstellung. Die wichtigsten Aspekte darf ich stichwortartig hervorheben: (a) In der ZuI-Philosophie vollzieht sich ‚Begründung‘ nicht (wie in Agrippas Trilemma) als eine Sequenz von Begründungen mit letztlich infinitem Regress. Sie verläuft auch nicht zirkulär und nicht als dogmatischer Abbruch. Begründung ist vielmehr eine „Frage des Passens“ (Kap. 5). (b) Statt des Trilemmas und seiner behaupteten (jedoch nicht begründeten) skeptischen Konsequenzen betont Koehne zu Recht, dass den Interpretation1Prozessen in dem Sinne eine grundlegende Funktion zukommt, dass Fragen von Begründung und Wahrheit überhaupt erst auf ihrem Hintergrund entstehen und verstanden werden können und dass die ZuI1-Prozesse und ZuI1-Produkte „epistemisch prior“ sind (ebd.). Ohne die ZuI1-Ebene und deren immer schon vorausgesetzte Aktivitäten kämen wir aktual erst gar nicht zu unserem bestimmten Sound-so-Empfinden, -Wahrnehmen, -Sprechen, -Denken und -Handeln. Und umgekehrt gilt: wenn wir aktual so empfinden, wahrnehmen, sprechen, denken und handeln, wie wir dies nun einmal tun, sind eben darin längst schon die ZuI1Prozesse und die individuierten ZuI1-Produkte vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Auf eben dieser Voraussetzung und Inanspruchnahme beruht letztlich, dass die in unserem Empfinden, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln verwendeten und verstandenen Zeichen und Interpretation überhaupt Bedeutung und Gehalt besitzen, die sie in unseren erfolgreichen Welt-, Fremdund Selbst-Verhältnissen ganz offenkundig haben, sofern wir uns erfolgreich und das heißt flüssig, anschlussfähig und vertraut in ihnen bewegen (auftretende und zu beseitigende Störfälle natürlich mit eingeschlossen). (c) Die im Interpretationismus formulierten und wichtigen Kohärenz-Restriktionen im Blick auf die als begründet geltenden Fürwahrhaltungen schließen die Annahme ein, dass wir in der Regel nicht träumen, nicht einer Illusion oder Halluzination unterliegen und auch nicht von einem betrügerischen Dämon getäuscht werden. Doch anders als im Cartesianismus tun wir dies, wie Koehne mit Recht hervorhebt, nicht, weil wir über Gründe zur Ausschließung dieser Cartesianischen Skeptizismen verfügten (denn das tun wir nicht). Wir tun dies einfach deshalb, „weil unser System von Fürwahrhaltungen dazu besser passt als zu der
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skeptischen Alternative“ (Kap. 5). Durch diesen sinn-kritischen Schachzug sind wir, wie ich nachdrücklich hervorheben möchte, mit einem Schlage aus der misslichen Lage befreit, Sicherheit und Gewissheit im Sprechen, Denken und Handeln überhaupt nur dann annehmen zu können, wenn es uns gelingt, das Cartesianische Traum-Argument zu widerlegen (welche Widerlegung uns innerhalb des Cartesianischen Szenarios eben nicht gelingt, worin die in der Tat philosophisch hohe Kraft des Cartesianischen Skeptizismus besteht). Ich muss mich also auf dem Boden der ZuI-Philosophie (und das ist die Pointe, die es hervorzukehren gilt) erst gar nicht mehr auf den Cartesianischen Kernpunkt einlassen, von Wissen und Erkennen überhaupt erst dann sinnvoll sprechen zu können, wenn das Traum-Argument widerlegt sei. Damit ist nur einer, aber ein überaus wichtiger Vorteil der ZuI-Philosophie gegenüber dem Cartesianismus markiert. (d) Die kohärentistische ZuI-Philosophie erstreckt ihr Argument des Passens auch auf andere grundlegende (und vor allem auch auf die von Crispin Wright in seiner I-II-III-Argumentation vorgebrachten) Punkte: (i) dass es eine Welt gibt; (ii) dass es andere Geister gibt; (iii) dass die Welt nicht erst seit einer Stunde existiert (Skeptizismus in Bezug auf die Geschichte); und (iv) dass es Uniformität gibt (welcher Punkt den Skeptizismus in Bezug auf die Zukunft betrifft, im Sinne von Crispin Wrights Beispiel: I. Brot hat bisher ernährt, II. Brot ernährt, III. Es gibt Uniformität). Alle diese Annahmen haben sich jetzt aufgrund ihrer Passens-Zugehörigkeit zu unserem ZuI-System als „begründet“ (und die entsprechenden skeptischen Argumente als „unbegründet“) erwiesen, „falls sie die Kohärenz des Systems von Fürwahrhaltungen steigern“ und nicht erst inferentiell gefolgert und in irgendeinem inferentialistischen Sinne begründet werden müssen (Kap. 5). (e) In der ZuI-Philosophie wird das Verständnis der Rede von ‚Interpretation/ interpretativ‘ als eines zweistelligen und nicht-symmetrischen Prädikats dezidiert zurückgewiesen. Vielmehr ist ‚Interpretation/interpretativ‘ in seiner adjektivischen und adverbialen und einstelligen Verwendungsweise hervorzuheben. Auch diesen überaus wichtigen Punkt betont Koehne sehr zu Recht. (f) Sehr überzeugend hebt er (gegenüber den vergeblichen Versuchen von A. Graeser und G. Löhrer, ein skeptisches Argument der 2. Stufe gegen den Interpretationismus zu entwickeln) den einfachen Punkt hervor, dass es schlicht ein „logischer Irrtum“ ist, Totalität und Selbstbezug als Selbstwidersprüche zu konzipieren. Totalität und Selbstbezug „stellen keine hinreichenden Bedingungen für einen Selbstwiderspruch dar“. Dies wäre nur dann der Fall, wenn der Selbstbezug negativ wäre, wie in dem Ausdruck: „Die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten“ (Kap. 5). In der ZuI-Philosophie sind die Selbstbezüge jedoch gerade nicht negativ. Hervorgehoben sei abschließend auch, dass Koehne seine Ausführungen mit einem Ausblick auf zwei weitere Anwendungsfelder des ZuI-philosophischen
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Ansatzes in anderen Wissensfeldern abrundet: (i) auf die Anwendung des Ansatzes in den Feldern von Ethik und Politik und (ii) auf eine ZuI-pragmatische Auflösung des Gefangenendilemmas (das bekanntlich in den Sozialwissenschaften aufgrund seiner starken Auswirkungen sowohl auf das Gemeinwohl als auch auf das Einzelwohl überaus relevant ist). Letzterer Punkt zielt auf die Erweiterung eines zu eng gefassten Rationalitätsbegriffs. Auch in den Argumentationen in diesen beiden Feldern trifft Koehne den Nerv der ZuI-Philosophie.³
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2016: Rethinking Rationality: The Use of Signs and the Rationality of Interpretations, in: Wagner, Astrid / Ariso, José Maria (Hg.): Rationality Reconsidered. Ortega y Gasset and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 9), Berlin / Boston, S. 15 – 29. Koehne, Tim 2000: Skeptizismus und Epistemologie. Entwicklung und Anwendung der skeptischen Methode in der Philosophie, München.
Zu den Details des Ethik- und Politik-Verständnisses der ZuI-Philosophie darf ich an meine Repliken auf die Beiträge von Lukas K. Sosoe, Ugo Perone und Hans Jörg Sandkühler verweisen. In Sachen Rationalität vergleiche meinen Artikel Rethinking Rationality (Abel 2016).
Rogério Lopes
Naturalismus und Interpretationismus Einige Bemerkungen zu Abels Interpretationsphilosophie
Abstract: This article aims to investigate the extent to which Abel’s insertion in the debate on skepticism and naturalism in the Anglophone philosophical tradition, especially in the historical Strawson-Stroud debate on the success of transcendental arguments in response to the skeptical challenge, allows the creation of a conceptual schemes which refuses both the conventionalist and the naturalist position in regard to our conceptual schemas, while at the same time seeking to differentiate itself from the apriorism of the Kantian tradition. Although I acknowledge that interpretationism offers a new solution to the issues involved in this debate, I argue that this solution is unable to deliver everything it promises. This new conceptual space is not determined enough to pacify skepticism. I conclude by suggesting that the attempt to reconcile Nietzsche and Wittgenstein introduces instability in Abel’s interpretation. The reformist impulse of Nietzsche’s philosophy rests on the results of a preliminary naturalistic stage (genealogical inquiry) which neither Wittgenstein nor Abel seem willing to incorporate into their philosophies.
„Gemäss der Natur“ wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte! (Nietzsche: JGB 9, KSA 5.21) Die Natur verwirrt die Pyrrhonisten (und die Akademiker), und die Vernunft verwirrt die Dogmatiker. (Pascal: P, Frag. 131)
Zahlreiche zeitgenössische Philosophen, die ihre philosophische Ausbildung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhalten haben, sind durch einen naturalistischen ‚Glaubensartikel‘ stark geprägt. Dieser Glaubensartikel, der vor dem Hintergrund ständig steigender Forderungen nach Kausalerklärungen zu sehen ist, wurde in die analytische Tradition explizit von Quine, in die kontinentale Tradition implizit vom Strukturalismus eingeführt. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass die meisten Philosophen, die zu dieser Generation gehören, sich irgendeiner Version des philosophischen Naturalismus verpflichtet fühlen, während diejenigen Philosophen, die sich zu der divergierenden, nicht-naturalistischen Minderheitsposition bekennen, sich anstrengen müssen, zu einer differenzierten These zu gelangen, ohne dabei den Verdacht zu erregen, sie seien dazu https://doi.org/10.1515/9783110522280-068
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geneigt, die Existenz irgendeiner durch empirisch-wissenschaftliche Methoden nicht beobachtbaren Entität anzuerkennen oder den riesigen Erfolg und das Prestige der modernen empirischen Wissenschaften zu bestreiten. Die verschiedenen Naturalisierungsprogramme im Rahmen der gegenwärtigen Philosophie reichen von der Naturalisierung des Geistes, des Wissens und der Werte über die Naturalisierung der abstrakten Kategorien der Logik und der Mathematik bis hin zu den gesamten semantischen Merkmalen und intentionalen Zuständen (vgl. De Caro / Macarthur 2008). Diese zunehmende Tendenz in der philosophischen Landschaft der Gegenwart festzustellen ist umso überraschender, wenn man bedenkt, dass eine dezidierte Ablehnung der naturalistischen These einer Kontinuität zwischen philosophischer Reflexion und empirischer Forschung zum Gründungsimpuls nicht nur der analytischen, sondern auch der phänomenologischen Tradition gehörte. Statt solche methodologische Kontinuität zu beanspruchen, haben die meisten Philosophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Autonomie und Spezifität ihrer Disziplin plädiert.¹ Abstrakte und intentionale Objekte, wie Bedeutung, Referenz, Wahrheitsbedingungen, Begriffe und Propositionen, sowie Bewusstseinszustände, wie Emotionen, Gedanken und Urteile, gehörten dieser Ansicht gemäß in den ausschließlichen Kompetenzbereich von Philosophen. Innerhalb der analytischen Tradition sind diese Strategie der philosophischen Selbstbehauptung sowie die Utopie einer restlosen Beschreibung der logischen Struktur der Sprache im Verlauf ihrer Durchführung und besonders nach Quines Angriff auf die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen teilweise in Misskredit geraten. In Frankreich hat sich die strukturalistische Bewegung gegen den Apriorismus der Phänomenologie und Existenzphilosophie gewendet und zugunsten einer Art des Philosophierens positioniert, die sich programmatisch daran orientiert, was in den Geistes-, Sozial- und Sprachwissenschaften tatsächlich als Rechtfertigung akzeptiert wird – d. h. nur das, was prinzipiell empirisch überprüfbar ist. Die gesamten empirischen Wissenschaften werden mithin als die besten Antidote gegen die metaphysischen und identitären Illusionen betrachtet, zu welchen die Philosophen verurteilt zu sein scheinen, wenn sie sich darauf beschränken, die Welt und das Subjekt innerhalb der Im-
Besonders instruktiv im Hinblick auf die Entstehung und die Entwicklung des Denkens Freges unter Berücksichtigung seiner Auseinandersetzung mit und Ablehnung von den naturalistischen Tendenzen seiner Zeit ist das Buch Gottlob Frege von Hans Sluga (1980). Für eine detaillierte Einführung in die ganze philosophische Kontroverse im Bereich der deutschen akademischen Philosophie im Laufe des 19. Jahrhunderts vgl. (Köhnke 1986).
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manenz des transzendentalen Bewusstseins zu erhellen.² Die Tatsache, dass der Strukturalismus zu Ungunsten der Naturwissenschaften den Dialog mit den Geisteswissenschaften bevorzugt hat, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die post-quinesche analytische und die französische strukturalistische Philosophie hierbei auf einen gemeinsamen Nenner gekommen sind: beide sind darin einig, dass die meisten philosophischen Fragen letztendlich empirisch zu untersuchen sind. Wenn diese Diagnose im Allgemeinen zutreffend ist, so kann man daraus schließen, dass der philosophisch-methodologische Naturalismus nicht ohne weiteres mit dem Satz der kausalen Geschlossenheit der physikalischen Welt gleichgesetzt werden darf. Der Vertreter eines physikalistischen Reduktionismus beruft sich gerne auf diesen Satz – dessen scheinbar außer Zweifel stehende epistemische Autorität sich wiederum auf die Erklärungserfolge der Naturwissenschaften sowie auf ihre hohe Voraussagekraft stützt –, um seine metaphysische Position zu untermauern. Gewiss ist dieser Satz für den Kulturrelativisten keine gute Gesellschaft. Dem Kulturrelativisten bleibt aber stets die Möglichkeit zu argumentieren, dass die Erklärungserfolge der Naturwissenschaften von institutionellen und historisch-kulturell bedingten Faktoren abhängig sind. Zugunsten dieser Ansicht gibt es wohl keinen Mangel an empirischer Evidenz sowie an empirischen Studien. Letztendlich geht es darum, welche Art von Kausalität bevorzugt werden sollte. Hierbei beginnen pragmatische, interpretatorische, normative und rein begriffliche Elemente ihr eigenes Spiel zu spielen. Wenn einer die Tatsache systematisch ignoriert, dass er sich bei diesem Spiel schon im logischen Raum der Geltungsgründe bewegt, dann begeht er einen reduktionistischen Fehlschuss, egal ob er sich selbst als Kulturrelativist oder als Physikalist sieht.³ Günter Abels Interpretationsphilosophie gehört sicherlich zu den nicht-naturalistischen Positionen, wie diese oben gekennzeichnet wurden, d. h. sie bildet eine Minderheitsposition innerhalb der gegenwärtigen Philosophie. Eine angemessene Antwort auf die naturalistische Herausforderung werde nur dann geliefert, so Abel, wenn sie jenseits der noch heute im philosophischen Denken allgegenwärtigen Dichotomien von Essentialismus und Relativismus formuliert
Für die Geschichte des französischen Strukturalismus und seine Kontroverse vgl. (Dosse 1991/ 92). Günter Abel hat diesen Punkt auf paradigmatische Weise formuliert: „Von einer physikalistischen Reduktion unterscheidet sich eine kulturbezogene Reduktion zunächst nur dadurch, daß in ihr nicht die Physik oder die Neurobiologie, sondern Anthropologie, Linguistik, Psychologie, Soziologie und Geschichte als die paradigmatischen Wissenschaften gelten. Zu sagen, wie z. B. Richard Rorty dies tut, daß ein Satz dann als wahr gelten kann, wenn er mit den lokalen Normen der jeweiligen Kultur übereinstimmt, ist eine Form naturalistischer Epistemologie.“ (SZI 269)
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werden kann. Die These der Nicht-Naturalisierbarkeit bestimmter philosophischer Fragestellungen und Kategorien muss infolgedessen nicht nur gegen den Verfechter einer physikalistischen Reduktion, sondern gleichermaßen auch gegen den Anhänger eines Kulturrelativismus verteidigt werden. Kulturrelativismus und physikalistischer Reduktionismus, die in vielerlei Hinsicht unvereinbare Positionen vertreten und Welten voneinander entfernt sind, teilen nämlich gewiss die Meinung, dass es keine spezifische bzw. apriorische, rein reflexive oder transzendentale Methode gibt, die der Philosophie zur Verfügung stehen würde.Wenn man aber über keine spezifische Methode verfügt, so kann man weiter argumentieren, dann ist die Frage nach der Legitimation der Philosophie noch keine beschlossene Sache, zumindest im Hinblick auf die kognitiven Ansprüche, die sie eventuell erheben kann. Abel hat sich besonders in seinem 1993 erschienenen Buch Interpretationswelten systematisch mit dem Naturalismus beschäftigt. Mit Rekurs auf das heuristische Modell der Interpretationsstufen und auf die Interpretation1-Praxis beabsichtigt Abel unter anderem zu zeigen, dass es eine Vielzahl philosophischer Fragen gibt, die niemals naturalistisch-reduktionistisch aufgelöst werden können. Abel zufolge verfügen eliminative und reduktionistische Varianten des Naturalismus über keine befriedigende Antwort auf die skeptische Herausforderung sowie auf Fragen nach den semantischen Merkmalen und auf normative Fragestellungen, mit welchen die Philosophen sich weiter beschäftigen müssen. So weit, so gut. Die Schwierigkeit, Abels Position hinsichtlich des Naturalismus richtig zu verstehen, beginnt aber in dem Moment, wo er seine interpretationsphilosophische Argumentation auch gegen die nicht-reduktionistische Variante des Naturalismus richtet. Diese Variante wurde von Strawson in seinem späteren Werk formuliert und von ihm als katholischer Naturalismus etikettiert. Strawson hat die von Barry Stroud präzise diagnostizierten Defizite anerkannt, die die anspruchsvolle Fassung der transzendentalen Argumente, wie sie im Kontext seiner deskriptiven Metaphysik formuliert wurde, zu unterminieren drohten.⁴ Um Am Ende seines bahnbrechenden Aufsatzes Transcendental Arguments (1968) hat Barry Stroud die in eine Sackgasse geratene Diskussion in zusammenfassender Weise dargestellt: „For Kant a transcendental argument is supposed to answer the question of ‘justification’, and in so doing it demonstrates the ‘objective validity’ of certain concepts. I have taken this to mean that the concept “X” has objective validity only if there are Xs and that demonstrating the objective validity of the concept is tantamount to demonstrating that Xs actually exist. Kant thought that he could argue from the necessary conditions of thought and experience to the falsity of ‘problematic idealism’ and so to the actual existence of the external world of material objects, and not merely to the fact that we believe there is such a world, or that as far as we can tell there is. An examination of some recent attempts to argue in analogous fashion suggests that, without invoking a verification principle which automatically renders superfluous any indirect argument, the most that
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ein solches Szenario vermeiden und gleichzeitig die transzendentalen Argumente aufrecht erhalten zu können, hat Strawson die auch von Stroud vorgeschlagene Alternative gewählt, transzendentale Argumente auf eine bescheidene Weise zu verwenden, d. h. sie nicht mehr mit einer Widerlegung der modernen, erkenntnistheoretischen Variante des Skeptizismus in Verbindung bringen zu wollen. Das philosophische Potenzial transzendentaler Argumente wird nun unter dem Slogan „only connect“ und vor dem Hintergrund eines nicht-reduktionistischen Naturalismus humescher Prägung relativiert und so dargestellt: „[…] having given up the unreal project of wholesale validation, the naturalist philosopher will embrace the real project of investigating the connections between the major structural elements of our conceptual scheme“ (Strawson 1985: 22). In Strawsons ursprünglicher Formulierung erscheinen transzendentale Argumente nicht zuletzt deshalb als anspruchsvoll, weil er in seiner Rekonstruktion der Philosophie Kants der Versuchung nicht widerstehen konnte, die Lehre vom transzendentalen Idealismus zu marginalisieren und die skeptische Herausforderung unter den Bedingungen des Realismus anzunehmen. Auch für den späten Strawson bleibt der Idealismus keine ernstzunehmende Alternative, egal ob er transzendental oder empirisch konzipiert wird. Statt radikale revisionäre Metaphysik zu betreiben, sollten wir uns auf unsere gemeinsame menschliche Natur verlassen, um aus ihr zu lernen, wie man mit der Skepsis naturalistisch umgeht und wie man den „Skandal der Philosophie“ mit der kühlen Gleichgültigkeit des common sense empfindet, so die Empfehlung des späten Strawson.⁵ Was unter
could be proved by a consideration of the necessary conditions of language is that, for example, we must believe that there are material objects and other minds if we are to be able to speak meaningfully at all.” (Stroud 2000: 25) Strawsons Eingeständnis, dass die Kritik Strouds an seiner ursprünglichen Formulierung transzendentaler Argumente zutreffend sei und dass streng notwendige und allgemein verbindliche Bedingungen der Erfahrung sich dadurch nicht spezifizieren lassen, wird in enger Verbindung mit dem Naturalismus so formuliert: “Suppose we accept this naturalist rejection both of skepticism and of skepticism-rebutting arguments as equally idle – as both involving a misunderstanding of the role in our lives, the place in our intellectual economy, of those propositions or crypto-propositions which the skeptic seeks to place in doubt and his opponent in argument seeks to establish. How, in this perspective, should we view arguments of the kind which Stroud calls ‘transcendental’? Evidently not as supplying the reasoned rebuttal which the skeptic perversely invites. Our naturalism is precisely the rejection of that invitation. So, even if we have a tenderness for transcendental arguments, we shall be happy to accept the criticism of Stroud and others that either such arguments rely on an unacceptably simple verificationism or the most they can establish is a certain sort of interdependence of conceptual capacities and beliefs: e. g., as I put it earlier, that in order for the intelligible formulation of skeptical doubts to be possible or, more generally, in or order for self-conscious thought and experience to be possible, we must take it, or believe, that we have knowledge of external physical objects or other minds. The fact that such a
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dem Ausdruck ‚deskriptive Metaphysik‘ zu verstehen ist, bleibt zwar eine umstrittene Frage; zu den deskriptiven Metaphysikern scheint Kant aber nur insofern zu gehören, als seine Philosophie losgelöst vom transzendentalen Idealismus gedacht wird, d. h. nur insofern, als eine der wichtigsten philosophischen Verpflichtungen der kantischen Philosophie sich durch die selektive Lesart Strawsons deflationieren oder zumindest uminterpretieren lässt (vgl. Strawson 2006). Die Frage ist nun, inwieweit Abels Interpretationsphilosophie in der Lage ist, eine Alternative zu diesem Szenario zu formulieren, die weder naturalistisch noch relativistisch ist. Um diese Frage zu beantworten, muss man freilich den wichtigen Umstand in Betracht ziehen, dass Abel sich vehement gegen die strawsonsche Lesart wendet, der zufolge die Philosophie Wittgensteins eine antiskeptische Strategie einschließe, die genau wie diejenige Humes auf die natürliche Disposition des Menschen rekurriert. Sie tun es, so Strawson, zwar nicht mit der Absicht, den Skeptizismus zu widerlegen, ihn aber doch endgültig zu neutralisieren und wirkungslos zu machen. Die von Strawson vorgeschlagene Lesart für zutreffend zu halten, würde nichts anderes bedeuten als die Anerkennung, dass das Zurückgreifen auf unsere natürliche Disposition begrifflich so erklärend und epistemisch so gerechtfertigt sei wie zum Beispiel das Zurückgreifen auf eine mit anderen Personen geteilte Praxis des Sprachgebrauchs bzw. der Interpretation. Es würde unterstellt werden, dass zwischen beiden Begriffen, bzw. zwischen ‚Natur‘ und ‚Praxis‘, kein Unterschied besteht, oder zumindest keiner, der es verdient, untersucht und festgehalten zu werden. In diesem Kontext sieht sich die Interpretationsphilosophie Abels mit einer dringlichen Aufgabe konfrontiert: deutlich zu zeigen, dass die Begriffe ‚Natur‘ und ‚Praxis‘ sich auf eine philosophisch nicht-triviale Weise unterscheiden lassen. Sehen wir zunächst, wie er diese Aufgabe angeht. Zunächst formuliert Abel gegen den nicht-reduktionistischen Naturalisten einen skeptischen Einwand, der zwar keine ‚letzten definitiven Gründe und Rechtfertigungen‘ und noch weniger ‚eine an-sich-seiende Welt‘ unterstellt. Er setzt aber doch eine internalistische Auffassung der epistemischen Rechtfertigung voraus.⁶ Ein solcher Einwand liefert insofern kein unabhängiges Argument gegen
demonstration of dependence would not refute the skeptic does not worry our naturalist, who repudiates any such aim.” (Strawson 1985: 21 f.) So klingt zumindest die folgende Formulierung: „Denn dem philosophischen Skeptizismus werden hier keineswegs die Bedingungen seiner Möglichkeit entzogen. Dies zeigt sich vor allem daran, daß die legitime Frage von jemandem, ob ihm in der ersten Person Gründe dafür gegeben werden können, daß das, was er da in bezug auf z. B. die Außenwelt, andere Personen und sich selbst glaubt und für wahr hält, auch tatsächlich berechtigte und wahre Fürwahrhaltungen sind,
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den Naturalisten und scheint sogar die Pointe eines nicht-reduktionistischen Naturalismus zu verkennen, die darin besteht, auf die epistemische Argumentation zu verzichten und die Diskussion mit dem Skeptiker auf eine andere Ebene zu verlagern.⁷ Diese sind die Gründe, warum wir unsere Aufmerksamkeit auf einen weiteren Einwand lenken sollten, den Abel gegen den katholischen Naturalisten Strawson erhebt. Was Abel im Wesentlichen dazu führt, von der Lesart Strawsons abzuweichen, ist der Verdacht, dass hinter dem nicht-reduktionistischen Naturalismus Reste eines ahistorischen Essentialismus fortbestehen. Abel scheint daran zu glauben, dass Begriffe wie ‚Praxis‘ und ‚Interpretation‘ eine Art von Immunität besitzen, die sie vor der Neigung zur Petrifizierung schützt. Die meisten der uns zur Verfügung stehenden philosophischen Begriffe seien nicht fähig, dieser Tendenz zu widerstehen. Das gilt vornehmlich für den Begriff ‚Natur‘, bzw. ‚natürliche Disposition‘, der trotz aller epistemischen Vorbehalte immer noch essentialistisch konnotiert ist. Was hier auf dem Spiel steht ist eben die Beharrlichkeit der Begriffe, auf die Hegel erstmals die Aufmerksamkeit der Philosophen gelenkt hat, um sie aus ihrem ‚dogmatischen Schlummer‘ zu erwecken.⁸ Die Frage ist letztendlich, als wie stabil unser Begriffsschema betrachtet werden soll. Der naturalistische Metaphysiker, auch wenn er eine nicht-reduktionistische Variante vertritt, muss dazu bereit sein, unserem grundbegrifflichen Schema eine Stabilität zuzuschreiben, die größer ist als diejenige, die der Interpretationist ihm zuzuschreiben als berechtigt erachtet. Zwar muss diese Stabilität mithilfe unserer Interpretation1-Praxis in Schutz genommen und gegen relativis-
nicht durch einen Naturalismus, nicht einfach nur durch den Hinweis auf eine natürliche Disposition des Menschen zu solchem Meinen, Glauben und Überzeugtsein beantwortet ist.“ (Iw 96) Die folgende Stelle scheint einen solchen Verdacht zu belegen: „Der Naturalismus verfügt über kein Argument, mit dem er der Behauptung entgegentreten könnte, wir befänden uns mit allen unseren Fürwahrhaltungen über die Welt, über andere Personen und über uns selbst, d. h. mit unserem System des Wahrnehmens, Sprechens, Denkens und Handelns im ganzen im Irrtum.“ (Iw 97) Abel weist auf diese von Hegel inspirierte Auffassung der Funktion der Skepsis hin, indem er versucht, seine eigene internalistische Auffassung des Skeptizismus zu entfalten, der in seinem erweiterten Sinne nicht zwangsläufig mit einer internalistischen Auffassung der epistemischen Rechtfertigung in Verbindung steht: „Zweitens ist zu beachten, daß Skeptizismus nicht etwas der Philosophie Äußerliches ist, sondern daß er intern zum Vollzug des philosophischen Gedankens gehört. Dies wird auch an dem Fortgang der Klärung sinnvollen Sprechens und Denkens selbst deutlich. Denn es sind vornehmlich die mit dem Skeptizismus verbundenen Momente der Kritik und der Negativität, die dazu führen, nicht bei einer einmal aufgetretenen Form des Sprechens und Denkens positivistisch stehenzubleiben, sondern, Hegelisch gesprochen, in negativer Beziehung des Denkens auf sich zur ursprünglich-einheitlichen und nicht ihrerseits noch einmal hintergehbaren Form der Form des Denkens zu gelangen und diese explizit zu machen.“ (Iw 104 f.)
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tische Angriffe verteidigt werden; sie darf aber nicht dazu führen, die These der Exklusivität unseres grundbegrifflichen Schemas als selbstverständlich anzunehmen. Im engen Zusammenhang mit diesem Ziel steht Abels gewissermaßen strategische Anwendung skeptischer Argumente. Abel fragt sich, inwieweit der Skeptizismus sich noch tiefer in unser Begriffsschema hineintreiben lässt, so dass wir dadurch den interpretatorisch-konstruktbildenden Charakter der Funktionsweisen eben dieses Begriffssystems hervortreten lassen und infolgedessen günstige Bedingungen für die Auseinandersetzung mit der Frage schaffen können, ob und inwieweit dieses Begriffsschema anders sein könnte (s. Iw 37 f.). Allein durch den Skeptizismus werden wir in die Lage versetzt, die These der Exklusivität bzw. der prinzipiellen Nichthintergehbarkeit unseres Begriffsschemas teilweise zu relativieren. ‚Teilweise‘ ist hier etwas emphatisch zu verstehen, da es sich bei dieser Variabilität des Bezugssystems nicht um eine Sache der Optierbarkeit oder der Beliebigkeit handelt, wie Abel wiederholt hervorhebt. Es geht hier auch nicht darum, einen z. B. von Carnap inspirierten Konventionalismus unseres grundbegrifflichen Schemas zu vertreten, sondern lediglich darum, einen starken Apriorismus dadurch zu vermeiden, dass man die kantische Lehre von den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit unserer Erfahrung, die für die interpretationsphilosophischen Ansätze noch von Belang ist, einer De-transzendentalisierung unterwirft. Als begriffliches Werkzeug dieser Detranszendentalisierung wird ein Zeitindex explizit eingeführt,⁹ mit dessen Hilfe dem „Umstand, daß zwischen Regel und Erfahrungssatz keine scharfe, definitive und für alle Zeit verbindliche Trennungslinie ‚von der Sache her‘ gezogen werden kann“ (Iw 118), die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die unentschieden gebliebene Frage, wie radikal diese De-transzendentalisierung vom Interpretationisten gemeint ist, wird in ihrer Unentschiedenheit selbst gewissermaßen durch die Unmöglichkeit einer scharfen und endgültigen Abgrenzung zwischen Regel und Erfahrungssatz interpretationsphilosophisch legitimiert. Es geht dem Interpretationisten hauptsächlich darum, für seine Position einen begrifflichen Rahmen zu schaffen, in dem man sich weder rein aprioristisch noch bloß konventionalistisch orientieren muss.
„Bei den im Funktionieren des grundbegrifflichen Rahmens eines Welt- und Selbstverständnisses anzunehmenden und tatsächlich auch angenommenen fraglosen und nicht-bezweifelbaren Sätzen und Elementen handelt es sich dann um eine aus der Interpretation1-Praxis heraus bedingte Fraglosigkeit-auf-Zeit. So kann z. B. etwas, das in früheren Zeiten zum fest-gewordenen und somit fest-stehenden, quasi analytischen Bestand unseres Interpretationssystems gehört, im Laufe der Zeit seinen Status ändern, d. h. von einem fraglosen und nicht-bezweifelbaren Element zu einem solchen mit hypothetischem, prüfbarem und falsifizierbarem Charakter werden.“ (Iw 118)
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Auch wenn man dem Interpretationisten zugesteht, dass die Unterscheidungen zwischen bezweifelbaren und nicht-bezweifelbaren Sätzen durch ein apriorisches Verfahren nicht getroffen werden können, sondern nur „aus der Praxis des wirkliches Ziehens solcher Grenzen und nur auf Zeit erfolgen“ (Iw 119), und dass diese Konstatierung uns nicht zwangsläufig zur Anerkennung der Wahrheit des Konventionalismus führt, welcher wir dann nur durch einen willkürlichen Entschluss entgehen könnten – auch vor diesem günstigen Hintergrund stellt sich noch die Frage, und zwar mit besonderer Dringlichkeit, warum und inwieweit die Interpretationsphilosophie sich in einer besseren Lage befindet als der nicht-reduktionistische Naturalismus, um den Skeptiker zufrieden stellen zu können. Abel versucht, diesen Anspruch mit Hilfe des heuristischen Modells der Interpretationsstufen geltend zu machen: „Zwar können wir aus einzelnen Interpretationen2+3 heraus- und damit in andere eintreten. Nicht aber können wir die Interpretativität1 als solche noch einmal skeptisch hintergehen. Ein solcher Zweifel würde sich selbst den Boden der Sinnhaftigkeit entziehen. Denn zwar besteht die Antwort auf die Zweifel an bestimmten Interpretationen in anderen Interpretationen. Der Zweifel aber an der Interpretativität als solcher hätte immer wieder nur die Interpretativität selbst zur Antwort. Doch der interne Skeptizismus möchte ja, wie betont, gar nicht ‚hinter‘, sondern möglichst tief in den Interpretationscharakter des Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses hineingelangen. Der philosophische Skeptizismus kommt in der Interpretationsphilosophie, in die er führt, zugleich auch zu sich selbst.“ (Iw 111 f.) In der eben angeführten Textstelle scheint Abel gegen den Skeptiker einen Einwand erheben zu wollen, der auf die sinnlogischen Bedingungen und Präsuppositionen unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses rekurriert.Wenn er nun so vorgeht, wird sein Argumentationsgang dann gerade auf der Grundlage dessen aufgebaut, was er an der antiskeptischen Strategie der deskriptiven Metaphysik zu Recht für nicht überzeugend hält.Wenn man aber die Aufmerksamkeit auf das lenkt, was am Ende des Zitates über den internen Skeptizismus gesagt wird, so wird völlig klar, dass die interpretationsphilosophische Einstellung eine differenzierte Auslegung erfordert. Das Ziel der interpretationsphilosophischen Argumentation kann nicht darin bestehen, die interne Skepsis durch Reflexion auf die sinnlogischen Bedingungen unseres Denkens, Sprechens und Handelns zu neutralisieren. Genau das Gegenteil muss der Fall sein, d. h. das Ziel ist, durch die Skepsis zu einer Position zu gelangen, in der der Interpretationscharakter aller uns zugänglichen Welten ein für allemal explizit gemacht wird. Es ist, als ob es eine Wahlverwandtschaft zwischen Skeptiker und Interpretationisten gäbe, so dass jener sich erst in der Interpretationsphilosophie wie zu Hause fühlt. Aber warum hätte die Arbeit des Negativen, die Abel in enger Verbindung mit seinem
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internen Skeptizismus sieht, gerade in der Praxis der Interpretation und des Sprachgebrauchs ihre ‚Meeresstille der Seele‘ gefunden? Ein Vergleich mit Kant kann hier aufschlussreich sein. Dieser hatte versucht zu zeigen, dass es für die Skeptiker, welche er mit einer „Art Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen“ (KrV A X) gleichsetzt, keine Heimat des Denkens gibt und dass die „Befriedigung der mit sich selbst veruneinigten reinen Vernunft“ (KrV B 786 / A 758) nur dann möglich wird, wenn man von der skeptischen Zensur der Vernunft in die eigentliche Kritik übergeht. Dieser Übergang setzt jedoch voraus, dass wir prinzipiell in der Lage sind, zwischen einer zufälligen und einer notwendigen Unwissenheit eine scharfe und definitive Trennungslinie zu ziehen. Das Ziehen solcher Grenzen gleicht der Grenzbestimmung unserer Vernunft selbst, was aber nur „nach Gründen a priori geschehen“ (ibd.) darf und die Annahme einer Art von Apriorismus erfordert, der stärker ist als derjenige, auf den sich der Interpretationist verpflichten möchte. Unter diesem rein kantischen Gesichtspunkt betrachtet könnte man sagen, dass die vom Interpretationisten versprochene Zufriedenstellung der Skepsis eine Erwartung weckt, die man aus einer durch die interpretationsphilosophische Wende detranszendentalisierten Sicht nicht erfüllen kann.¹⁰ Wenn der Anspruch auf die Exklusivität unseres grundbegrifflichen Schemas kein legitimierbarer Anspruch ist, dann darf man auch nicht erwarten, dass eine vollständige Zufriedenstellung der Skepsis durch die Unhintergehbarkeit und Unentbehrlichkeit des jeweiligen Schemas hergestellt wird.¹¹ Unter den Bedingungen einer grundbegrifflichen Relativität würden wir als Philosophen nicht der Versuchung widerstehen, unser grundbegriffliches Schema systematisch anzugreifen und es in Frage zu stellen. Wir würden eher revisionäre Kant hat das gesamte Argument so dargestellt: „Das Bewußtsein meiner Unwissenheit (wenn diese nicht zugleich als notwendig erkannt wird), statt daß sie meine Untersuchungen endigen sollte, ist vielmehr die eigentliche Ursache, sie zu erwecken. Alle Unwissenheit ist entweder die der Sachen, oder der Bestimmung und Grenzen meiner Erkenntnis. Wenn die Unwissenheit nun zufällig ist, so muß sie mich antreiben, im ersteren Falle den Sachen (Gegenständen) dogmatisch, im zweiten den Grenzen meiner möglichen Erkenntnis kritisch nachzuforschen. Daß aber meine Unwissenheit schlechthin notwendig sei, und mich daher von aller weiteren Nachforschung freispreche, läßt sich nicht empirisch, aus Beobachtung, sondern allein kritisch, durch Ergründung der ersten Quellen unserer Erkenntnis ausmachen. Also kann die Grenzbestimmung unserer Vernunft nur nach Gründen a priori geschehen; […].“ (KrV B 786 / A 758) Gerade deswegen hat Abel auf vorsichtige Weise von einer Nichtbezweifelbarkeit-auf-Zeit nicht nur des Inhaltes, sondern auch des zugrundeliegenden Schemas selbst geredet: „Der Status einer Nichtbezweifelbarkeit-auf-Zeit kann sowohl gewonnen als auch wieder eingebüßt werden. Mithin, so könnte man sagen, haben sowohl die Skepsis-Anfälligkeit als auch die Skepsis-Immunität ihre Zeit. Weder der eine noch der andere Aspekt kann für alle Zeiten befestigt werden. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die zugrundeliegende Lebensform, die Lebens-Praxis […] selbst petrifizierte.“ (Iw 119 f.)
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Metaphysik betreiben als uns damit begnügen, die tatsächliche Struktur unseres Denkens, Sprechens und Handelns zu beschreiben. Wir kämen nicht umhin, uns mit einer der dringlichsten philosophischen Aufgaben zu konfrontieren, die beispielsweise in der Frage besteht, welche der Bestandteile unseres Begriffsschemas bloß lokale Bestandteile sind, die z. B. zur Interpretation2-Ebene gehören, und welche zu den strukturellen Zügen bzw. zur Interpretation1-Ebene gehören. Nietzsche hat die genannte Aufgabe als eine genealogische Aufgabe verstanden, nicht als eine begriffliche, durch Reflexion zu klärende, sondern als eine durch genealogische Erzählungen zu klärende Aufgabe, die mit Hilfe empirischer Forschungen durchgeführt werden sollte. Diese Aufgabe lässt sich durch folgende Frage explizieren: Durch welche Interpretationsprozesse wurden die in unseren Praktiken und Institutionen so tief verankerten Fürwahrhaltungen hervorgebracht, fixiert, überliefert, fortgepflanzt und eventuell umgebildet, so dass wir heute eben so sprechen, denken, fühlen, wollen und handeln, wie wir sprechen, denken, fühlen, wollen und handeln? Die Behandlung dieser Frage wird von Nietzsche nur als ein vorbereitendes Moment für die unvergleichbar wichtigere normative Aufgabe der Philosophie angesehen, bei der die folgende Frage unbedingt berücksichtigt werden muss: Welche Aspekte unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses lassen sich revidieren? Dass unser Welt-, Fremd- und Selbstverständnis durch Interpretationsprozesse gebildet wird, die sich wiederum in Zeichen vollziehen und an eine mit anderen Personen geteilte Praxis der Interpretation gebunden sind (was in Abels Interpretationsphilosophie der kategorisierenden Interpretation1-Ebene entspricht), wird von Nietzsche als eine Tatsache angesehen, die fast paradoxerweise nicht als Teil der Lösung, sondern vielmehr als ein gravierendes Problem der Philosophie zu betrachten wäre. Wir könnten vielleicht sogar behaupten, dass die Konstatierung einer solchen Tatsache einen Ausgangspunkt der philosophischen Reflexion Nietzsches ausmacht. Die naturalistischen Züge der Philosophie Nietzsches gehen Hand in Hand mit seinen revisionären Ansprüchen. Hier argumentieren Nietzsche und Wittgenstein aus diametral entgegengesetzten Positionen. Wittgensteins Hauptanliegen ist es, eine Art rein beschreibender Philosophie zu praktizieren, die alles lässt, wie es ist (vgl. dazu PU 124). Nietzsche war dagegen der Meinung, der Philosoph sei nur dann ein echter Philosoph, wenn er zum Gesetzgeber würde. Für Nietzsche verpflichtet uns der Interpretationismus zu einer revisionären Metaphysik: „NB. Was am letzten den Philosophen aufdämmert: sie müssen die Begriffe nicht mehr sich nur schenken lassen, nicht nur sie reinigen und aufhellen, sondern sie allererst machen, schaffen, hinstellen und zu ihnen überreden. Bisher vertraute man im Ganzen seinen Begriffen, wie als einer wunderbaren Mitgift aus irgendwelcher Wunder-Welt: aber es waren zuletzt die Erbschaften unserer fernsten, ebenso dümmsten als gescheitesten Vorfahren. Es gehört diese Pietät
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Rogério Lopes
gegen das, was sich in uns vorfindet, vielleicht zu dem moralischen Element im Erkennen. Zunächst thut die absolute Scepsis gegen alle überlieferten Begriffe noth (wie sie vielleicht schon einmal Ein Philosoph besessen hat – Plato: natürlich das Gegentheil gelehrt – –)“ (Nachlass 1885, 34[195], KSA 11.486 f.). Eine solche anspruchsvolle Auffassung der Philosophie könnten wir uns heute höchstwahrscheinlich nicht mehr leisten.
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. De Caro, Mario / Macarthur, David (Hg.) 2008: Naturalism in Question, Cambridge, Mass. Dosse, François 1991/92: Histoire du structuralisme, Bd. 1: Le champ du signe, 1945 – 1966, Bd. 2: Le chant du cygne, 1967 à nos jours, Paris. Kant, Immanuel 1781/87: Kritik der reinen Vernunft, in: Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, Bd. II, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 2005; [KrV]. Köhnke, Klaus Christian 1986: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt a. M. Nietzsche, Friedrich: KSA Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, 15 Bde., hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 2. Aufl., Berlin / New York 1988. JGB Jenseits von Gut und Böse, in: KSA 5, S. 9 – 243. Pascal, Blaise 1963: Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets, in: Œuvres Complètes, préface d’Henri Gouhier, présentation et notes de Louis Lafuma, Paris; [P]. Sluga, Hans 1980: Gottlob Frege, London. Strawson, Peter 1985: Scepticism and Naturalism: Some Varieties, New York. Strawson, Peter 2006: The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, London, (1. Aufl. 1966). Stroud, Barry 2000: Transcendental Arguments, in: ders.: Understanding Human Knowledge: Philosophical Essays, Oxford, S. 9 – 25; (zuerst erschienen in: The Journal of Philosophy 65 (1968), S. 241 – 256). Wittgenstein, Ludwig 1984: Philosophische Untersuchungen, in: Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., S. 225 – 580; [PU].
Günter Abel
Skeptizismus im nicht-reduktionistischen Naturalismus Replik zum Beitrag von Rogério Lopes Der Beitrag von Rogério Lopes zielt auf die Beantwortung zweier Fragen. Erstens, ob und in welchem Sinne die Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] in der Lage ist, dem philosophischen Skeptizismus eine zufrieden stellende Antwort zu geben. Zweitens, wie die interpretationsphilosophische Antwort sich zu der vom späteren Peter F. Strawson auf der Basis seines „catholic or liberal naturalism (or, perhaps, soft naturalism)“ vorgeschlagenen Strategie einer Neutralisierung des Skeptikers verhält (Strawson 1985: 1). Beide Fragen sowie deren Beantwortungen stehen vor dem Hintergrund einer von Lopes skizzierten Diagnose zur Lage der zeitgenössischen Philosophie. Diese Diagnose, die ich teile, besteht im Kern darin, dass die gegenwärtige Philosophie geradezu im Bann des Naturalismus und des näheren vor allem der Forderung nach Kausalerklärungen und empirisch-wissenschaftlichen Methoden steht. Dieser Befund ist nicht zuletzt deshalb überaus bemerkenswert, weil sich die Naturalisierungs-Forderung vornehmlich auf diejenigen Probleme erstreckt, die vor gar nicht allzu langer Zeit (nämlich zur Gründerzeit der analytischen Philosophie, etwa bei Frege oder Moore, ebenso wie der Phänomenologie, etwa bei Husserl) genuine Themen einer nicht-naturalistischen sowie nicht-reduktionistischen Philosophie waren. Zu diesen Themen zählten und zählen bis heute: Reflexion, Bedeutung, Wahrheit, Begriffe, Propositionen, Bewusstsein, logische Gültigkeit, Werte und Intentionalität. Der ‚Naturalistische Fehlschluss‘ (G. E. Moore) galt vor nicht allzu langer Zeit als der philosophische Fehltritt par excellence. Demgegenüber ist die Signatur unserer gegenwärtigen Zeit überwiegend naturalistisch geprägt. Die Gründungsväter von analytischer, von phänomenologischer und von hermeneutischer Philosophie hätten sich entschieden gegen den heute dominanten reduktionistischen Naturalismus gewandt. Nicht-naturalistische Positionen stehen heute unter weitaus größeren Beweislasten als naturalistische. Freilich darf die Rede von ‚Naturalismus‘ nicht einfach nur auf dessen krudeste Ausprägung, nicht also einfach nur auf einen ‚physikalistischen Reduktionismus‘ begrenzt werden. Zutreffend zitiert Lopes den für die ZuI-Philosophie wichtigen Punkt, dass sich eine physikalistische Reduktion von einer kultur-bezogenen bzw. einer kulturalistischen zunächst nur dadurch unterscheidet, dass als Leitwissenschaften nicht die Physik oder die Neurobiologie, sondern Anhttps://doi.org/10.1515/9783110522280-069
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thropologie, Linguistik, Psychologie, Soziologie und Geschichte gelten. Es geht also nicht bloß um die Reduktion auf eine physikalisch geschlossene Welt und nicht bloß um die Passfähigkeit der oben angeführten Grundwörter der Philosophie zu dem zur Zeit vorherrschenden Weltbild der Naturwissenschaften. Materialistischer Physikalismus und kultureller Relativismus sind in der Sicht der ZuIPhilosophie zwei Formen von Reduktionismus, die gleichermaßen zurückgewiesen werden. Sehr richtig sieht Lopes auch, dass die ZuI-Philosophie von einer grundsätzlichen „Nicht-Naturalisierbarkeit bestimmter philosophischer Fragestellungen und Kategorien“¹ ausgeht und dass es diese Position sowohl gegenüber dem physikalistischen Reduktionismus als auch gegenüber dem Kulturrelativismus nachdrücklich zu verteidigen gilt. Zugleich hebt Lopes mit Recht meine Auffassung hervor, dass ich nicht nur die oben genannten philosophischen Schlüsselthemen, sondern darüber hinaus auch die mit dem philosophischen Skeptizismus verbundenen Herausforderungen nicht im Rekurs auf einen reduktionistischen Naturalismus für bearbeitbar halte. Dass letzteres nicht der Fall ist, zeigt sich schlicht auch daran, was es heißt, eine reduktionistisch-naturalistische Deutung zum Beispiel des Sehens eines Tisches zu geben. Der physikalistische Naturalist würde diesen Vorgang als einen Vorgang in der physikalischen Welt beschreiben. Des näheren würde er etwa auf die Beschaffenheit der vom Tisch reflektierten Lichtstrahlen, meiner Augen, meines Sehnervs, meines Gehirns und vieler anderer physikalischer Elemente rekurrieren. Jedes einzelne dieser Elemente jedoch ist jederzeit und grundsätzlich der Möglichkeit des skeptischen Zweifels ausgesetzt. Ganz zu schweigen davon, dass der physikalistische Naturalist die mit der sensorischen Erfahrung des Sehens des Tisches vor mir (nicht mit dem sich vielleicht anschließenden Wahrnehmungsurteil) verbundene und letztlich nicht überbietbare sinnliche Gewissheit eher zunichte als gegen skeptische Zweifel immun macht. Naturalistische Reduktionismen verfügen letztlich weder über phänomen-verdeutlichende noch über anti-skeptische Kapazität. Im günstigsten Falle liefern sie wissenschaftliche und das heißt kausale Erklärungen – nicht mehr und nicht weniger. Im Folgenden möchte ich zu den Themen aus drei untereinander zusammenhängenden Feldern Stellung nehmen, welche ich in Lopes’ Beitrag systematisch relevant finde. Die Antworten sollen in diesen Feldern zur Schärfung der Positionierung der ZuI-Philosophie beitragen. In allen drei Themenfeldern erweist Lopes sich als ein profunder und subtiler Kenner der ZuI-Philosophie. Die The-
Zitierte und als solche ohne weiteren Stellenvermerk versehene Passagen von R. Lopes entstammen sämtlich dem Lopes-Beitrag, auf den hier repliziert wird [Anm. d. Hg.].
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menfelder sind: 1. ZuI-Philosophie und nicht-reduktionistischer Naturalismus. 2. Revidierbarkeit des grundbegrifflichen Schemas. 3. Zufriedenstellung des philosophischen Skeptizismus.
1 Zeichen- und Interpretationsphilosophie und nicht-reduktionistischer Naturalismus Mit Peter F. Strawson können wir zwischen zumindest zwei Varianten von Naturalismus unterscheiden: dem „strict or reductive naturalism (or, perhaps, hard naturalism)“ und dem „soft naturalism“ (Strawson 1985: 1). Mit ersterem ist der wissenschaftliche bzw. szientistische Naturalismus im engeren Sinne vor allem des physikalistischen Reduktionismus gemeint. In letzterem geht es in einem bescheideneren und umfänglicheren Sinne um bestimmte Aspekte dessen, wodurch die menschliche Natur insgesamt und in ihren natürlichen Dispositionen gekennzeichnet ist. Mit Recht betont Lopes, dass die ZuI-Philosophie entschieden „zu den nichtnaturalistischen Positionen“ gehört. Und ich füge hinzu, dass sich diese Feststellung nicht nur auf den ‚hard‘, sondern in einem noch näher zu erläuternden Sinne auch auf den ‚soft‘ Naturalismus Strawsons erstreckt. Zunächst jedoch möchte ich an dieser Stelle betonen, dass mir sowohl Strawsons Programm einer ‚Deskriptiven Metaphysik‘ (Strawson 1959) als auch sein Programm des nicht-reduktiven bzw. ‚soft‘ Naturalismus überaus anschlussfähig zur ZuI-Philosophie erscheinen. Dies ist aus meiner heutigen Sicht in einem noch weit stärkeren Maße der Fall als zur Zeit der Interpretationswelten (Iw). Den im Programm der Deskriptiven Metaphysik propagierten Rekurs auf dasjenige grundbegriffliche System, mit dem wir als menschliche Lebewesen nun einmal ausgestattet sind, finde ich ebenso überzeugend wie den Versuch, den philosophischen Skeptizismus im Rekurs auf gewisse grundlegende Beschaffenheiten der Situation des Menschen in der Welt und anderen Personen gegenüber zwar nicht zu widerlegen (und eine Widerlegung auch nicht mehr anzustreben), aber doch wirkungslos machen zu wollen. Beide Punkte treffen sich mit Anliegen der ZuI-Philosophie. Denn in letzterer geht es vornehmlich um den zeichen-verfassten und interpretations-bestimmten Charakter der Situation des Menschen in der Welt, anderen Personen und sich selbst gegenüber. In diesem Sinne wird das Philosophieren in der ZuI-Philosophie als ein Explizieren dieses Charakters verstanden und ist so der formalen Strategie nach mit dem Programm einer Deskriptiven Metaphysik verbunden. Über dieses Strawsonsche Programm hinaus-
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gehend werden in der ZuI-Philosophie jedoch die folgenden fünf Erweiterungen vorgenommen. Erstens (a) erfährt die Konzentration auf das ‚grundbegriffliche System‘ eine Erweiterung in die perzeptiven, senso-motorischen, handlungsmäßigen, emotiven und anderen subdoxastischen Systeme (etwa des vegetativen Affiziertwerdens oder des unwillkürlichen Erinnerns) und deren Zusammenspiele. Zweitens (b) werden die enaktiven Vollzüge und Praktiken aller dieser Systeme und ihrer Wechselspiele als zeichen-verfasst, zeichen-verkörpert und interpretations-bestimmt charakterisiert. In der ZuI-Philosophie werden diese Systeme, Schemata und Praktiken im Rekurs auf das heuristische 3-Stufenmodell als ZuI1+2+3-Systeme/Schemata/Praktiken beschrieben, analysiert, konzipiert, modelliert, gestaltet und evaluiert. Drittens (c) teile ich nicht den von Strawson in Individuals noch vertretenen starken Status transzendentaler Argumente. Diesbezüglich hat Strawson später bekanntlich die vor allem von Barry Stroud in seinem Aufsatz Transcendental Arguments (1968) markierten Grenzen und Defizite einer zu starken Fassung transzendentaler Argumente anerkannt. Die abgeschwächte Version transzendentaler Argumente, die Strawson gleichwohl beibehalten möchte, führte ihn gleichsam komplementär zu einer deutlich stärkeren Aufnahme Humescher und Wittgensteinscher Aspekte in dem Buch Skepticism and Naturalism: Some Varieties (Strawson 1985). Diese Zusammenhänge stehen auch Rogério Lopes klar vor Augen und seine Ausführungen zu Positionen Strawsons zielen auf letztere Ebene. Ich selbst dagegen verteidige weder die starke Version transzendentaler Argumente (in denen es, vermeintlich, um die Demonstration der objektiven Gültigkeit von Urteilen geht) noch die von Strawson später vertretene moderate Version (in der es um die Beschaffenheit der Situation des Menschen geht). Entsprechend besteht die dritte Erweiterung, die ich vorschlagen möchte, darin, die ZuI-Philosophie als eine durch De-Transzendentalisierung charakterisierte Form des Philosophierens zu fassen. In ihr wird (deutlicher als bei Strawson, aber durchaus noch verbindungsfähig) von der Dimension einer starken Transzendentalität in die Dimension der sinn-kritischen Präsupposition derjenigen ZuIBedingungen übergegangen, die wir als erfüllt unterstellen, wenn wir unser jeweiliges Empfinden, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln als sinnvoll unterstellen – was wir ja offenkundig tun. Viertens (d) ist mir als Erweiterung und in Abgrenzung zu Strawsons Position der Punkt wichtig, den Lopes sehr zu Recht betont, dass ich nämlich weder in Sachen Naturalismus noch in puncto Skeptizismus bereit bin, den Unterschied zwischen den Begriffen ‚Natur‘ und ‚Praxis‘ einzuschleifen oder beide Begriffe am Ende gar gleichzusetzen. Auf der Nicht-Gleichsetzbarkeit beruht ja gerade die ZuI-
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philosophische Kritik an den Programmen der Naturalisierung. Den Unterschied zwischen beiden Begriffen möchte ich wie folgt fassen. Offenkundig können wir unterscheiden zwischen: (i) der Rede von ‚Natur‘ im Sinne des Daseins der Menschen als organisch-leiblicher und lebendiger geistiger Wesen und ihrer natürlichen Dispositionen und Veranlagungen; und (ii) der Rede von ‚Praxis‘ im Sinne des aktualen und expliziten Handelns in reziproken Verhältnissen der aktiven und enaktiven Kommunikation und Kooperation als aktiven Gestaltungen der Wirklichkeiten. Die Frage nach der lebensweltlichen, konventionellen, kommunikativen und kooperativen Praxis und der darin vorausgesetzten Handlungsfähigkeit und den praktischen Knowing-How- und Knowing-That-Aktivitäten des Menschen geht nicht einfach in der Frage nach der Natur im Sinne natürlicher dispositionaler Merkmale und Veranlagungen des Menschen auf. Zwar sind erstere ohne letztere nicht konzipierbar. Ohne Natur also auch keine Praxis. Doch geht die Praxis nicht einfach in der Natur auf, lässt sich auch nicht einfach aus dieser (kausal) ableiten oder gar mit ihr identisch setzen. Diese Differenz hervorzuheben ist mir wichtig. Auch mit Bezug auf diese Differenz kann ich den Unterschied einerseits zwischen den angeführten Varianten des Naturalismus und der ZuI-Philosophie und andererseits zwischen einer bloßen Neutralisierung des Skeptizismus und einer Zufriedenstellung des philosophischen Skeptikers verdeutlichen. In diesem Zusammenhang sieht Lopes sehr richtig, dass der von mir vertretene interne Skeptizismus von vornherein nicht etwas dem Philosophieren Äußerliches ist, sondern intern zum Vollzug des philosophischen Gedankens selbst gehört. Dies ist der Fall, insofern der philosophische Gedanke im Zuge seines kritischen und negatorischen Potentials dazu führt, nicht bei einem erreichten Stand und Gehalt des Sprechens, Denkens und Handelns positivistisch einfach stehenbleiben zu können. Fünftens (e) hängt mit dem soeben erörterten Aspekt eng der von Lopes gut erkannte Punkt zusammen, dass ich zwar bereit bin, gewisse Stabilitäten-auf-Zeit in unserem grundbegrifflichen Schema anzusetzen. Und sehr richtig sieht Lopes auch, dass diese Stabilitäten-auf-Zeit (mithin auch die im flüssigen Funktionieren des grundbegrifflichen Systems gegebenen Fraglosigkeiten-auf-Zeit) durch unsere Interpretation1-Praxis „in Schutz genommen und gegen relativistische Angriffe verteidigt werden“. Zugleich jedoch setze ich die Dynamik innerhalb unseres grundbegrifflichen Schemas sowie dieses Schemas selbst als weitaus größer an als dies Strawson und sein naturalistischer Metaphysiker tun. Revision des Schemas bleibt möglich. Und sie findet auch, wenngleich kaum merklich, statt (auf dem Wege zum Beispiel über semantische und funktionale Verschiebungen im Netzwerk und in den Verbindungen der Elemente unseres grundbegrifflichen Schemas über die Zeit).
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Aus meiner Sicht besteht keine starre für alle Zeiten festgeschriebene Alternative zwischen der Deskriptiven Metaphysik und dem, was Strawson, eine ‚Revisionäre Metaphysik‘ (s. Strawson 1959) nennt. Letztere ist Strawson zufolge darauf ausgerichtet, das grundbegriffliche System, mit dem wir ausgestattet sind, zugunsten anderer metaphysischer Vorstellungen verändern zu wollen. Die Dynamik der ZuI-Prozesse, einschließlich der Dynamiken des grundbegrifflichen Schemas selbst, entzieht sich auf eine zugleich offenkundige wie eigentümliche Weise einer derartigen und letztlich petrifizierenden Oppositionsstellung von deskriptiver und revisionärer Metaphysik.² Die ZuI-Philosophie versteht sich als ein Versuch, das Philosophieren jenseits bzw. diesseits auch der Dichotomie von Deskriptiver und Revisionärer Metaphysik zu entfalten. Dass diese Position nichts mit einem Relativismus zu tun hat, mag man allein schon daran ersehen, dass die Prozesse der Veränderung unserer Schemata nicht einfach eine Sache willentlicher Optierbarkeit und Dezision oder gar der Beliebigkeit wären. Letzteren Punkt habe ich wiederholt und nachdrücklich hervorgehoben. Wichtig ist mir an dieser Stelle anzumerken, dass ich die kritische Transzendentalphilosophie Kants bei weitem nicht auf die Frage ‚transzendentaler Argumente‘ begrenzt sehe, mittels deren apriorischer Aspekte man dann gern versuchen möchte, die objektive Gültigkeit von Urteilen zu demonstrieren. Demgegenüber lese ich Kants Philosophie als eine sinn-kritische Philosophie der Präsuppositionen, die sich sowohl von überzogenen Erwartungen in puncto transzendentale Argumente als auch von verifikationistischen Verkürzungen fernhält. Kants Anliegen in der Kritik der reinen Vernunft ist nicht, transzendentale Argumente für die objektive Gültigkeit von Urteilen zu liefern. Sein Anliegen besteht vielmehr und offenkundig in der Suche nach einer Antwort auf seine Leitfrage, wie es zu denken ist, dass unsere Erfahrung so ist, wie sie ist. Und um der Antwort auf diese Frage näher zu kommen, konstruiert Kant nicht primär transzendentale Argumente. Vielmehr, so Kants Denkfigur, möchte er herausfinden, was wir in der Erfahrung präsupponieren. Es ist gleichsam so, als klickten wir auf dem Computer-Bildschirm in einem Suchprogramm das Wort ‚Erfahrung‘ an und erhielten dann eine Liste der unterschiedlichen Ingredienzien und Mechanismen unserer Erfahrung. Die Kantische Philosophie reflektiert sich in diesem Sinne nicht aus der Erfahrung hinaus auf einen externen höchsten Punkt. Sie reflektiert sich vielmehr in die Erfahrung hinein und möchte die darin involvierten Präsuppositionen explizieren und verdeutlichen. Vor diesem Hintergrund habe ich
Vgl. in diesem Zusammenhang auch (Abel 1985), wo ich mich mit Strawsons Zurückweisung von ‚process-things‘ als den basalen Größen unseres grundbegrifflichen Systems auseinandersetze.
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stets eine sehr enge Verbindung zwischen der Kantischen Philosophie und der ZuI-Philosophie gesehen. Diese Gemeinsamkeit manifestiert sich etwa auch darin, dass beide sich der Herausforderung stellen, auf der Nicht-Naturalisierbarkeit der oben genannten grundlegenden philosophischen Schlüsselthemen zu bestehen.³
2 Revidierbarkeit des grundbegrifflichen Schemas Lopes stellt die überaus wichtige Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem 3-Stufenmodell und den möglichen Veränderungen des grundbegrifflichen Schemas. Welche Bestandteile des grundbegrifflichen Schemas sind begrifflicher Art und gehören daher zur ZuI3-Ebene? Welche Bestandteile sind lokaler und konventioneller Art und gehören daher zur ZuI2-Ebene? Und welche Bestandteile gehören zu den „strukturellen Zügen bzw. zur Interpretation1-Ebene“? Das ausbuchstabiert vorliegende 3-Stufenmodell der ZuI-Prozesse kann hier in der Tat als eine Antwort auf genau diese Fragen beschreibend, analysierend und evaluierend eingebracht werden. Dies soll und kann im Einzelnen hier natürlich nicht wiederholt werden (vgl. z. B. Abel 1989). Eine weitere und ebenfalls überaus wichtige Frage, die Lopes stellt, ist die Frage nach denjenigen ZuI-Prozessen, durch die „die in unseren Praktiken und Institutionen so tief verankerten Fürwahrhaltungen hervorgebracht, fixiert, überliefert, fortgepflanzt und eventuell umgebildet“ wurden, so dass wir heute eben so fühlen, sprechen, denken, wollen und handeln, wie wir dies tun. Diese Frage bringt er in einen Zusammenhang mit dem Denken Friedrich Nietzsches, und zwar mittels der Frage, welche Aspekte unseres Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses sich überhaupt (noch) revidieren lassen. Auf diese wichtige Frage gebe ich an dieser Stelle nur die sehr kurze Version einer Antwort. Eine ausführlichere Antwort soll an anderer Stelle gegeben werden. Angesichts der bereits hervorgehobenen Dynamik auch des grundbegrifflichen Schemas selbst sind und bleiben Modifikationen, Verschiebungen, Veränderungen, Erweiterungen, kurz: bleiben Revisionen im Prinzip jederzeit ebenso möglich wie umgekehrt Verengungen und Petrifizierungen. Dies ist möglich und
Vor diesem Hintergrund wird kaum überraschen zu hören, dass ich Barry Strouds Charakterisierung des Kantischen Sinns von transzendentalen Argumenten (Stroud 1968) ebenso wenig teile wie weite Teile von Strawsons Kant-Buch The Bounds of Sense (Strawson 1966). Aber das ist ein anderes Thema, das hier nicht zur Debatte steht.
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gegeben, ohne dass wir damit zu revisionären Metaphysikern werden müssten. Vielmehr sind meines Erachtens die Prozesse des Revidierens umgekehrt ein Ausdruck dessen, dass wir es in diesen ZuI-Prozessen gerade nicht mehr mit feststehend stabilen metaphysischen Prozessen zu tun haben. Es handelt es sich vielmehr um welt-, phänomen- und sinn-gestaltende sowie enaktive, jedoch grundsätzlich revidierbare ZuI-Prozesse. Sie zu beschreiben, zu rekonstruieren, zu analysieren, ggf. zu therapieren sowie zu korrigieren, in jedem Falle aber an ihrer Gestaltung beteiligt zu sein, dies ist Teil auch der humanen und noblen Aufgabe der Philosophie.
3 Zufriedenstellung des philosophischen Skeptizismus Auch der spätere Strawson behält einen wenn auch bescheideneren Sinn von transzendentalen Argumenten durchaus bei. Dies ist in dem Sinne der Fall, als er die Arbeit des „naturalist philosopher“ darin sieht, die „connections“ zwischen den „major structural elements of our conceptual scheme“ aufzuspüren und zu untersuchen (Strawson 1985: 22). Das ist der gleichsam bescheidenere Typus von transzendentaler Analyse. Im Lichte dieses Programms ist es für Strawson in Bezug auf den philosophischen Skeptizismus ausreichend zu zeigen, „that in order for the intelligible formulation of skeptical doubts to be possible […] we must take it, or believe, that we have knowledge of external physical objects or other minds“ (Strawson 1985: 21). Strawson betont, dass die Tatsache, „that such a demonstration of dependence would not refute the skeptic does not worry our naturalist, who repudiates any such aim“ (Strawson 1985: 22). Mithin gibt Strawson sich in puncto Skeptizismus mit der Position zufrieden, den Skeptiker nicht mehr widerlegen zu müssen, da dieser seinerseits stets bereits in die vorgängige Annahme der Existenz der Außenwelt und anderer Personen verstrickt ist. Das ist zwar eine gute Strategie, der ich mich durchaus und nachdrücklich anschließe. Doch letztlich ist es eine Strategie lediglich der Vergleichgültigung des philosophischen Skeptizismus, meines Erachtens jedoch noch keine zufrieden stellende Antwort auf den philosophischen Skeptiker, die dieser in selbstreflektiver Einstellung zu akzeptieren genötigt wäre. Dagegen vermag die ZuIPhilosophie, so meine schon in den Interpretationswelten (Iw) entwickelte These, eine solch zufrieden stellende Antwort zu liefern.⁴ Vgl. zu dieser These auch den Beitrag von Tim Koehne im vorliegenden Band sowie meine Replik darauf und insgesamt Koehnes Buch Skeptizismus und Epistemologie (2000).
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Dass wir in unserem Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln die Existenz der Welt und anderer Personen längst bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen haben, ist eine Denkfigur, die in der ZuI-Philosophie ebenso nachdrücklich in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt wird wie bei Strawson. Der Punkt, auf den es mir hier und im Blick auf den philosophischen Skeptizismus jedoch entscheidend ankommt, ist der folgende: Mittels der von Strawson eingesetzten Strategie ist zwar der Realismus in Wahrnehmung und Alltag sowie in den Wissenschaften intern und nicht-hintergehbar gesetzt; aber diese nicht suspendierbare Realismus-Unterstellung stellt nicht ineins auch schon eine zufrieden stellende Antwort auf die Herausforderungen des philosophischen Skeptizismus dar. Streng genommen betrifft die Strawsonsche Strategie die RealismusUnterstellung, nicht die Zufriedenstellung des Skeptizismus. Denn die Herausforderungen des Skeptizismus beziehen sich ja in ihrem Kern nicht so sehr auf die Frage der Realismus-Unterstellung, sondern auf Fragen der Gewissheit, des sicheren bzw. des über jeden Zweifel erhabenen Wissens, der objektiven Gültigkeit sowie der mit diesen Komponenten zusammenhängenden weiteren Fragen der Geltung von Wissensansprüchen. Die von Strawson ins Zentrum gestellten ‚connections‘ der Elemente unseres grundbegrifflichen Schemas sind auch meiner Ansicht nach von grundlegender Relevanz. Aber der Rekurs auf sie ist doch bei weitem zu wenig, um die Vielschichtigkeit, Komplexität, Dynamik, Prozessualität und Phänomenalität der triangulären Ich-Wir-Welt-Verhältnisse angemessen beschreiben, analysieren, erfassen und darstellen zu können. Und der Rekurs auf sie ist auch bei weitem zu wenig, um dem philosophischen Skeptizismus eine zufrieden stellende Antwort geben zu können. Demgegenüber stellt die Rede von Zeichen- und Interpretationswelten sowie von der Zeichen- und Interpretations-Praxis1+2+3 einen Versuch dar, diese Welten und Praktiken eindringlicher, umfänglicher und integrativer zu beschreiben, zu erfassen und enaktiv zu gestalten, kurz: diejenigen Welten und Praktiken zu adressieren, in denen wir tatsächlich leben bzw. in denen sich unser Leben so vollzieht, wie es dies nun einmal tut, de-transzendentalisiert und denaturalisiert. Und erst im Rekurs auf diese Verhältnisse ergibt sich die Möglichkeit, dem Skeptiker eine zufrieden stellende Antwort zu geben. In diesem Sinne möchte ich auch im Blick auf das Skeptizismus-Problem die ZuI-Philosophie als eine Philosophie diesseits bzw. jenseits des Würgegriffs der Dichotomie von Transzendentalismus und Naturalismus charakterisieren. Letztere Dichotomie kann als eine bestimmte Ausprägung der noch umfänglicheren Dichotomie von Essentialismus und Relativismus gekennzeichnet werden, deren Überwindung auch im programmatischen Untertitel des Buches Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus (Iw)
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propagiert wird und darin die Grundintention der ZuI-Philosophie zum Ausdruck bringt. In Bezug auf den philosophischen Skeptizismus wird in der ZuI-Philosophie und dort vor allem in den Interpretationswelten (Iw) die These entwickelt, dass im Rekurs auf den nicht noch einmal hintergehbaren Zeichen- und InterpretationsCharakter der triangulären Ich-Wir-Welt-Verhältnisse der philosophische Skeptizismus weder widerlegt noch einfach bloß wirkungslos gemacht, sondern zufrieden gestellt wird. Die ausführlich entwickelte These lautet, dass der Skeptizismus in einem bestimmten Sinne gleichsam nach Hause bzw. zu sich selbst kommt, dass er in sinnkritischer Selbstreflexion seine obstinate Haltung des fortwährend negatorischen und terminalen Skeptizismus ohne Gesichtsverlust als realisiert aufzugeben in der Lage ist und er genau dies dann konsequenter Weise auch tatsächlich tut. Diese These zu vertreten, heißt auch vorauszusetzen (was ich in Iw 111 f. explizit getan habe), dass der interne Skeptizismus im Unterschied zu dem nicht explizierbaren externen und terminalen Skeptizismus nicht darauf aus ist, ‚hinter‘ die Dinge und zu ihrem vermeintlich ‚letzten wahren Wesen‘ zu gelangen. Ziel des philosophischen Skeptizismus ist vielmehr, den ZuI-Charakter menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverständnisses/-verhältnisses in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken und sich möglichst tief in ihn hineinzudenken. Entlang dieser Figur habe ich schon in Interpretationswelten (Iw) ausführlich entwickelt, dass der philosophische Skeptizismus in der ZuI-Philosophie, in die er führt, zugleich auch zu sich selbst kommt. Das ist die post-skeptische Pointe der ZuIPhilosophie. In diesem Sinne ist es der philosophische Skeptizismus, der uns sowohl vor einem voreiligen und falschen Objektivismus als auch vor einem inkohärenten Relativismus der Beliebigkeit rettet. Sehr klar sieht Lopes diese Pointe meiner Argumentation. Sie besteht darin, dass es der zeichen- und interpretationsphilosophischen Argumentation gegen den Skeptizismus nicht darum geht, den Skeptiker im Zuge einer Festlegung auf sinnlogische Bedingungen unseres möglichen Zweifelns lediglich zu neutralisieren (wie dies bei Strawson der Fall ist). „Genau das Gegenteil muss der Fall sein“. Ziel ist es, wie Lopes weiter anführt, im Zuge des radikalen Vollzugs der philosophischen Skepsis in eine Position zu gelangen, in der der Zeichen- und Interpretationscharakter „aller uns zugänglichen Welten ein für allemal explizit gemacht wird.“ Auf dem so veränderten Boden kommt es für das Philosophieren dann entscheidend darauf an, Konzepte wie zum Beispiel ‚Objektivität‘, ‚Subjektivität‘, ‚Präsenz‘ und ‚Repräsentation‘, ‚epistemische und normative Gültigkeit‘ und ‚Wahrheit‘ einer ZuI-basierten Neuformulierung zuzuführen. Die offensichtlichen Schwierigkeiten, in die diese Konzepte in ihren klassischen Ausprägungen gera-
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ten waren, dürfen nicht zu der aberwitzigen Folgerung führen, sie einfach über Bord gehen lassen zu wollen. Das wäre, mit dem Ausdruck Hilary Putnams gesprochen, ‚intellectual suicide‘. Die Herausforderung und Aufgabe bestehen vielmehr darin, diese und eine Reihe anderer Konzepte auf dem Boden der ZuIVerhältnisse neu zu fassen.
Literatur Abel, Günter 1985: Einzelding- und Ereignis-Ontologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39, S. 157 – 185. Abel, Günter 1989: Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch 96, S. 1 – 19. Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Kant, Immanuel 1787: Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1904/11; (Nachdruck: Werke. Akademie Textausgabe, Berlin / New York 1968 ff.), S. 1 – 552; [KrV]. Koehne, Tim 2000: Skeptizismus und Epistemologie. Entwicklung und Anwendung der skeptischen Methode in der Philosophie, München. Strawson, Peter Frederick 1959: Individuals: An Essay in Descriptive Metaphysics, London. Strawson, Peter Frederick 1966: The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, London. Strawson, Peter Frederick 1985: Skepticism and Naturalism: Some Varieties, London. Stroud, Barry 1968: Transcendental Arguments, in: The Journal of Philosophy 65, S. 241 – 256.
Kapitel 16: Dialektik und Pragmatismus
Elena Ficara
Dialektik und Interpretationsphilosophie Abstract: The paper proposes a dialectical reading of Abel’s Zeichen- und Interpretationsphilosophie, and more specifically of Abel’s theory of the forms of knowledge (Wissensformen) as developed in the third part of Zeichen der Wirklichkeit. After a short consideration of Hegel’s definitions of “dialectics” in the Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß, I examine Abel’s theory of the forms of knowledge, showing its closeness to Hegel’s dialectical account of thought. Some paradigmatic insights are typical for both thinkers: the view of forms as generative principles rather than empty containers; the necessary link between ‘Wissensformen’ and natural language; the dynamic interplay between knowing (Wissen) and not-knowing (Nicht-Wissen); the dynamic nature of ‘Wissensformen’; the conception of a positive form of scepticism, which is an essential part of every form of philosophical knowledge (Wissen). In the last part, I examine those ideas that place Abel’s philosophy within contemporary neo-pragmatistic appropriations of Hegel. In my view, the strength of Abel’s position consists, in this respect, in its metaphilosophical awareness.
Diese Steinheit oder Steinigkeit oder Steinernheit […] diese Strengflüssigkeit ist es, auf die man Verzicht tun muß. (Hegel: Jenaer Aphorismen)¹ Allein die Griechen achteten das reine Wort und die reine Behandlung eines Satzes ebenso als die Sache. Und wenn Wort und Sache einander entgegengesetzt wird, ist das Wort das Höhere; denn die nicht ausgesprochene Sache ist eigentlich ein unvernünftiges Ding, das Vernünftige existiert nur als Sprache. (Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der antiken Philosophie)²
1 Einleitung Ziel meines Beitrags ist es, eine dialektische Lesart von Abels Zeichen- und Interpretationsphilosophie (und insbesondere von Abels in Zeichen der Wirklichkeit entworfener Theorie der Wissensformen) vorzuschlagen. Meiner Ansicht nach ist
(Hegel 1971), im Folgenden abgekürzt mit Hegel Werke, gefolgt von der Angabe des Bandes und der Seitenzahl, hier (Hegel Werke 3: 550). (Hegel Werke 18: 527). https://doi.org/10.1515/9783110522280-070
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diese Deutung aus zwei Gründen wichtig. Sie ermöglicht erstens, das Feld von einigen Missverständnissen freizuräumen, die sich aus einer einseitigen Lesart der Interpretationsphilosophie ergeben können. Sie erlaubt zweitens, Abels Theorie im Rahmen der zeitgenössischen Hegeldeutungen im angloamerikanischen Raum zu verorten und hierbei die Spezifität sowie die Stärke von Abels Theorie im Unterschied zum angloamerikanischen Pragmatismus und zu einer eng gefassten Analytischen Philosophie klar zum Vorschein kommen zu lassen. Obwohl Abels Philosophie kanonisch mit Kant, Nietzsche und Wittgenstein als ihren Inspirationsquellen in Verbindung gebracht wird,³ ist sein Denken entwicklungsgeschichtlich mit einer besonderen Deklination des Neukantianismus, nämlich derjenigen Julius Ebbinghaus’, eng verflochten. Ebbinghaus gehört zusammen mit Georg von Lukács, Emil Lask, Richard Kroner, Ernst Bloch u. a. zu jener Bewegung der Wiederannäherung an Hegel, die in Deutschland im Ausgang des Neukantianismus durch Windelband begonnen hatte.⁴ In einem solchen Denkrahmen kommt die Kontinuität und nicht der Bruch zwischen Kant und Hegel zum Vorschein. Demzufolge kann Abels explizite Anknüpfung an Kant nicht als Ablehnung Hegels gelesen werden. Sie enthält vielmehr eine klare Adhäsion an Hegels Philosophie. Diese Anknüpfung an die Deutsche Klassische Tradition erfolgt darüber hinaus, wie es für die zeitgenössischen Aneignungen Hegels im angloamerikanischen Raum typisch ist, auf der Grundlage des linguistic turn, d. h. sie setzt eine sprachphilosophische Umdeutung des transzendentalphilosophischen und des dialektischen Vorhabens voraus. Im Folgenden erörtere ich zunächst kurz die Bedeutung des Ausdrucks ‚Dialektik‘ bei Hegel und fasse Abels in Zeichen der Wirklichkeit dargelegte Theorie der Wissensformen thesenartig zusammen (Abschnitte 2 und 3). Anschließend erläutere ich die Nähe des so skizzierten interpretationsphilosophischen Programms zu einigen grundlegenden Aspekten sowohl der Hegelschen Reflexion als auch von Robert Brandoms Projekt eines analytischen Pragmatismus in Between Saying and Doing (Abschnitt 4). Abschließend (Abschnitt 5) weise ich hin auf den Nutzen einer dialektischen Lesart der Interpretationsphilosophie im Hinblick auf die Beseitigung von möglichen Missverständnissen sowie auf die Erhellung der Stärke des zeichen- und interpretationsphilosophischen Vorhabens im Kontext der angloamerikanischen pragmatistischen Aneignungen Hegels.
Zu den Voraussetzungen der Entstehung der Abelschen Philosophie vgl. Abel im Gespräch mit A. Bertschinger, J. Hasa, T. Sugimoto und M. Wild in (Bertschinger et al. 2001) sowie (Dirks / Wagner 2011). Siehe hierzu (Gadamer 1987b: 475) sowie (Ferrari 1997: 168 ff.).
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2 Dialektik Es ist an dieser Stelle nicht möglich, alle Aspekte zu berücksichtigen, die in Hegels Anwendung und Erörterung des Dialektikbegriffs enthalten sind.⁵ Ich werde hier auf einige Punkte hinweisen, die an den Stellen, in denen Hegel seine eigene Auffassung der Dialektik thematisch erörtert, immer wieder zur Sprache kommen und die leitend sind, um in Hegels Begriff der Dialektik einzuführen. a. Die Dialektik hat mit Begriffsbestimmungen zu tun. D. h. sie ist gefragt, wenn es darum geht, „das Denken zum Gegenstand der Betrachtung zu machen“ (Hegel Werke 8: 54 f.), Grundbegriffe zu analysieren und zu definieren. In diesem Sinne steht die Hegelsche Dialektik in Kontinuität zur PlatonischSokratischen Dialektik, die sich mit Fragen beschäftigt wie z. B. „Was ist Gerechtigkeit?“, „Was ist ein Mensch?“, „Was ist Glück?“. Insbesondere ist Dialektik gefragt, wenn sich bei dem Versuch, Begriffe wie ‚Gerechtigkeit‘, ‚Mensch‘, ‚Materie‘ usw. zu definieren, Widersprüche ergeben. Dialektik ist in diesem Sinne eine besondere Art, mit grundbegrifflichen Widersprüchen umzugehen. b. Dialektik ist die Bewegung der Grundbegriffe. In dem Versuch, die Bedeutung der Grundbegriffe zu explizieren, setzen wir sie in Bewegung.⁶ c. Dialektik als Bewegung der Grundbegriffe stimmt mit der Natur der Grundbegriffe selbst überein. D. h. die Bedeutung der Begriffe wie ‚Wahrheit‘, ‚Gerechtigkeit‘, ‚Mensch‘, ‚Leben‘, ‚Glück‘ usw. fällt mit der Bewegung zusammen, die sich ergibt, wenn wir über sie nachdenken bzw. gemeinsam über sie diskutieren.⁷ d. Die Einsicht in die dialektische Natur der Grundbegriffe macht „das Wesentliche der philosophischen Betrachtung aus“ (Hegel Werke 8: 126 ff.). e. „Dialektik“ ist mit einer guten Art des Skeptizismus verknüpft. Ihr Prinzip fällt mit dem antiken pyrrhonischen Prinzip der Isosthenie zusammen, dem zufolge „jedem Argument ein gleichwertiges Argument entgegen steht“. Zugleich enthält sie im Unterschied zum Skeptizismus die Einsicht, dass das Resultat der Isosthenie nicht die Destruktion der Rationalität zur Konsequenz hat.⁸
Für eine ausführliche Betrachtung von Hegels Definitionen von ‚Dialektik‘ in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften vgl. (Ficara 2013: 38 ff.) Vgl. hierzu (Hegel Werke 18: 275, 303, 305, 319) und (Hegel Werke 19: 61). Ibd. Vgl. (Hegel Werke 8: 172 ff.) sowie (Hegel Werke 19: 359) und (Hegel Werke 2: 230 ff.).
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„Dialektik“ unterscheidet sich ebenfalls von der Sophistik, die „ein subjektives Schaukelsystem von hin- und herübergehendem Räsonnement“ ist. (Hegel Werke 8: 172 ff.)
3 Interpretationsphilosophie In Zeichen der Wirklichkeit legt Abel die systematischen Voraussetzungen für eine zeichen- und interpretationsphilosophische Theorie des Wissens dar. Er unterscheidet zwischen verschiedenen Bedeutungen und Ebenen der Rede von ‚Wissen‘: zwischen einem engen Begriff, der eine Erkenntnis meint, die mitteilbar, tradierbar, intersubjektiv und objektiv überprüfbar ist, und einem weiten Wissensbegriff, der alle Bereiche menschlichen Könnens sowie die Figuren des UnWissens, des Noch-nicht-Wissens und des Nicht-mehr-Wissens einschließt. Er differenziert darüber hinaus zwischen verschiedenen Wissensformen bzw. -typen (alltägliches, theoretisches, moralisches Wissen) und weist auf Begriffspaare hin, die quer zu diesen Bereichen liegen: explizites und implizites Wissen, sprachliches und nicht-sprachliches Wissen, propositionales und nicht-propositionales Wissen, auf Tatsachen bezogenes und auf einem Können beruhendes Wissen. Diese Unterscheidungen führen sofort vor Augen, dass laut Abel Wissen nicht auf das in der Wissenschaftstheorie dominante Verhältnis von Theorie und Beobachtung bzw. auf die Anerkennung von Eigenheiten von Theorien oder auch auf Wissen im engen und traditionellen Sinne reduziert werden kann. Eine zufriedenstellende Philosophie des Wissens muss sich also auch mit Aspekten beschäftigen, die prinzipiell nicht zu dem Bereich dessen gehören, was man als ‚Wissen‘ im engen Sinne versteht, sie muss also auch von den Aspekten des UnWissens, Nicht-Wissens, Irrtums und Zweifels Rechenschaft geben können. „Wissen ist stets voraussetzungsgeladen. Ein voraussetzungsloses Wissen ist, wie schon Aristoteles betonte, nicht konzipierbar. Im Wissen steckt mehr als man weiß.“ (ZdW 321) Es ist möglich, auf drei Grundthesen hinzuweisen, die für den von Abel entworfenen Plan einer Theorie der Wissensformen leitend sind. – These 1 betrifft die Frage nach der Beziehung zwischen Skeptizismus und Wissensforschung. Theorien des Wissens werden traditionell als Antworten auf die Herausforderungen der Skepsis konzipiert. Auch die interpretationsphilosophische Theorie setzt eine besondere Stellungnahme zum Skeptizismus (in allen seinen verschiedenen Nuancen als Außenwelt-Skeptizismus, als Skeptizismus des Fremd-Psychischen oder als Introspektions-Skeptizismus) voraus, die man hier nur andeuten kann. Skeptizismus wird in dieser Kon-
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zeption nicht beseitigt, sondern integriert und allgemein als Bestandteil einer jeden Theorie aufgefasst, die eine radikale Erörterung der Probleme und der Natur von Wissen anstrebt. Nichts „nötigt den menschlichen Verstand […] so tief in die Probleme des Wissens und der Erkenntnis wie der interne (nicht der externe) Skeptizismus“ (ZdW 323). Es handelt sich bei der Auffassung eines internen positiven Skeptizismus, der sich von einem schlechten externen Skeptizismus unterscheidet, um eine Konzeption, die Abel bereits an anderer Stelle entwickelt hatte.⁹ Ihr zufolge erfüllt der Skeptizismus eine positive Funktion, wenn er als wissensimmanente Instanz aufgefasst wird, die dazu dient, das Wissen selbst, seine eigene Natur und Ansprüche zu verstehen und zu thematisieren. – These 2 besteht in der Betonung der Endlichkeit des epistemischen Standpunktes, aus dem man eine solche Theorie formuliert. Abel schreibt: „Die epistemische Situation des Menschen ist nicht die eines extraterrestrischen Standpunkts absoluter Konzeption […] Wissen kann überhaupt nur Wissen nach Menschenmaß […] sein.“ (ZdW 324) – These 3 betrifft die Bedeutung des Ausdrucks ‚Wissensform‘ selbst. ‚Form‘ bedeutet in der Abelschen Konzeption, die explizit behauptet, an die Kantische und Wittgensteinsche Linie anzuknüpfen, ‚Art und Weise des Wissens‘. „Gemeint ist mithin nicht, ‚Form‘ als vorab fertig vorhandene unabhängige Ordnung, als einen Behälter aufzufassen […]. Dieser Vorstellung liegt das Bild zugrunde, daß Formen des Wissens bloß Werkzeuge, Mittel, Instrumente, Vehikel, Medien, Behälter, Kanäle seien, in denen die Gehalte des Wissens […] lediglich transportiert, kommuniziert, vermittelt würden. […] Man sollte diesen Begriff und mit ihm die Suche nach einem gänzlich ungeformten Gehalt aufgeben.“ (ZdW 324 f.) In diesem Sinne behauptet Abel auch: – These 3′, dass es „für uns endliche Geister keine von den Formen, Praktiken und Dynamiken der zugrunde gelegten Zeichen-, Darstellungs- und Interpretationssysteme […] unabhängigen Wissensgehalte und/oder Wissensformen geben kann“ (ZdW 325).
Vgl. (Iw 10 ff. u. 340 ff.). Zum interpretationsphilosophischen Zugang zur Skeptizismusfrage vgl. (Koehne 2000).
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Diese drei Leitlinien der interpretationsphilosophischen Wissenstheorie lassen sich anhand verschiedener Problemfelder weiter spezifizieren, die ebenso viele Perspektiven für die Wissensforschung darstellen. Es geht dabei um die Fragen: nach dem Zusammenhang zwischen Wissen und Information; nach der Beziehung zwischen Meinen, Glauben und Wissen, die im Rahmen dieser Theorie neu definiert werden muss; nach der Notwendigkeit einer Überwindung der klassischen Dichotomien, vor allem der Dichotomie von Essentialismus und Relativismus; nach der Rolle und Funktion von Weltbildern, Modellen und Sprachen in den Wissenschaften; nach den Dynamiken von Wissen; nach der neuen Rationalitätskonzeption, die aus der Theorie der Wissensformen resultiert; nach der praktischen Dimension dieser neuen Rationalitätskonzeption. Ich werde hier auf vier dieser Problemfelder und Perspektiven eingehen und zwar erstens auf die Frage nach der neuen Verortung der Verhältnisse zwischen Meinen, Glauben und Wissen, zweitens auf die Erörterung der dynamischen Natur von Wissen, drittens auf die Interpretation des Verhältnisses von Theorie und Metatheorie und viertens auf die Frage nach der neuen Rationalitätsauffassung, die aus der interpretationsphilosophischen Wissenstheorie entsteht. Was die Auffassung der Verhältnisse zwischen Meinen, Glauben und Wissen betrifft, betont Abel – These 4, der zufolge die drei Formen nicht voneinander getrennt sind und sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen und als Stufen eines flüssigen einheitlichen Prozesses aufgefasst werden müssen, der bidirektional sowohl vom Meinen zum Wissen als auch vom Wissen zurück zum Meinen verlaufen kann. „Die klassische Position hierzu ist die Platons im Theaitetos: Wissen (epistéme) ist wahre Meinung (dóxa), die mit Erklärung (lógos) verbunden ist. […] in dem platonistischen Modell von Wissen [wird] zwar der Zusammenhang von ‚Wissen‘ und ‚Überzeugung‘ / ‚Glauben‘ thematisch […]. Aber es geht darin vor allem darum, Meinung (dóxa) und Glauben (pístis) als bloß präphilosophische Vorstufen eines dann ‚eigentlichen‘ philosophischen und im Grenzfall ‚perfekten‘ Wissens anzusehen. Damit ist jedoch dem tatsächlichen Zusammenhang von Meinen, Glauben und Wissen, der in Theorie und Praxis eine grundlegende Rolle spielt, nicht angemessen Rechnung getragen. Ein wirklicher Durchbruch ist erst bei Kant zu finden, der Meinen, Glauben und Wissen (die er die drei ‚Modi des Fürwahrhaltens‘ nennt) nach dem Grad ihrer jeweiligen Verbindlichkeit unterscheidet“ (ZdW 329).
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Was die dynamische Natur von Wissen angeht, betont Abel – These 5, dass Wissen an Kontext, Zeit und Situation gebunden ist und dies impliziert, dass Wissen dynamischer Natur ist, da es jederzeit modifiziert, revidiert, erweitert, transformiert werden kann. Die Flüssigkeit und Mobilität von Wissen ist mit der Flüssigkeit von Sprache und Zeichen einerlei. – These 5′: „Wissensdynamik [ist] als Zeichen- und Interpretationsdynamik zu entfalten“ (ZdW 334). Ein wichtiger Aspekt ist hierbei die Anmerkung, dass grundlegend für die Dynamik von Wissen, die sich als Zeichen- und Interpretationsdynamik ausdrückt, das Fraglichwerden eines Zeichens ist.¹⁰ Um die Übergänge zwischen Wissensformen zu erklären, ist daher ein problematisches und negatives Moment grundsätzlich. In dem Moment, in dem ein Konflikt entsteht, z. B. zwischen der These „Die Wahrheit stellt eine Gefahr für die Demokratie dar“ (Rorty) und der entgegengesetzten Aussage „Die Wahrheit ist für Demokratie notwendig“ (Sokrates), heißt dies, dass die Bedeutung des Wortes ‚Wahrheit‘, die in den jeweiligen Aussagen im Spiel ist, hinterfragt und expliziert werden muss. Die Dynamik des Wissens betrifft nicht nur das Verhältnis zwischen Zeichen innerhalb einer Theorie oder Sprache, sondern auch die Verhältnisse zwischen den Theorien sowie zwischen Theorie-Ebenen. Gemäß der Theorie der Wissensformen kann nicht von einem stabilen, starren Verhältnis zwischen objektbezogenen methodologischen Festsetzungen erster Stufe und Festsetzungen zweiter bzw. dritter Stufe ausgegangen werden. Daraus ergibt sich – These 6: „Diese unterschiedlichen Formen von Annahmen und Festsetzungen sind in den tatsächlichen Dynamiken des Wissens und der Wissenschaften weniger in einem strikt metatheoretischen Schichtenaufbau über‐ bzw. untereinander gelagert, sondern vielmehr nach Art drehtürartiger und in sich zurücklaufender Schleifenbildungen miteinander verbunden.“ (ZdW 338)
Vgl. (ZdW 304 ff., 335 u. 344).
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Die Vision der Rationalität, die aus den Richtlinien für die Erarbeitung einer Theorie der Wissensformen resultiert, könnte demnach als eine Konzeption flüssiger Rationalität definiert werden, in der Prozessualität und Dynamik eine zentrale und grundlegende Rolle haben. Abel nennt sie auch eine Rationalität des Wissens-wie. – These 7: „Zeichen- und interpretationsphilosophisch haben wir es hier, so die These, mit dem Vorrang des Zeichen-Vollzugs vor der Zeichen-Analyse, der Zeichen-Deutung und der Zeichen-Diskursivierung zu tun. Wenn Zeichen in Kommunikation, Kognition und Kooperation flüssig funktionieren, dann folgen wir ihnen, mit der Formulierung Wittgensteins gesprochen, ‚blind‘, das heißt: Diese Prozesse können nicht so beschrieben werden, als folgten wir darin vorab feststehenden Kriterien und externen Regeln oder gar Gesetzen.“ (ZdW 343) Dies impliziert nicht, dass es gar keine Normativität bzw. Regelhaftigkeit von Sprache und Wissen, und letztlich keine Rationalität, gibt, sondern dass die Normativität dem Zeichen- und Sprachvollzug intern ist und sich im jeweiligen flüssigen Argumentieren, Sprechen, Handeln ergibt. – These 7′: Der „rationale und normative Aspekt [tritt] nicht erst sekundär auf den Plan […]. Er ist vielmehr in unserem Sprechen, Denken und Handeln stets bereits intern mitgesetzt.“ (ZdW 344)
4 Dialektik und Interpretationsphilosophie Die Rekapitulierung der Grundzüge von Abels Entwurf einer Theorie der Formen, Dynamiken und Wechselwirkungen des Wissens in Zeichen der Wirklichkeit sowie die Rekonstruktion der Bedeutung des Ausdrucks ‚Dialektik‘ bei Hegel erlauben, eine dialektische Lesart von Abels Theorie vorzuschlagen und die Thesen 1 bis 7 mit den oben angeführten Punkten a bis f des Hegelschen Dialektikbegriffs zu integrieren. Es ist möglich, auf folgende Punkte hinzuweisen, die die Grundlagen und Voraussetzungen für die systematische Entwicklung einer Theorie der Wissensformen bei Abel bilden und denen zentrale Aspekte der Hegelschen dialektischen Konzeption entsprechen. Zu These 1: Die These, der zufolge eine gute Form von Skeptizismus notwendiger Bestandteil einer Philosophie des Wissens ist, d. h. eine Perspektive, die den Zweck einer radikalen Erörterung der Probleme und der Natur von Wissen hat, ist von klarer Hegelscher Inspiration und stimmt mit Punkt e meiner Re-
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konstruktion des Hegelschen Dialektikbegriffs überein, wobei es an dieser Stelle nur möglich ist, kurz auf die besondere Interpretation Hegels der Skeptizismusproblematik hinzuweisen. Im Skeptizismusaufsatz, der den Entstehungskern der in den späteren Werken von Hegel systematisch angewendeten Dialektik ausmacht,¹¹ wird bekanntlich zwischen einem guten und einem schlechten Skeptizismus unterschieden. Das allgemeine Prinzip des Skeptizismus in allen seinen verschiedenen Ausprägungen lautet: „Für jede Aussage (p), die einen Anspruch auf Gültigkeit erhebt, gibt es eine entgegengesetzte Aussage (nicht-p), die ebenfalls einen Anspruch auf Gültigkeit erhebt.“ Es handelt sich hierbei um den Widerspruch „p und nicht-p“. Vor dem Eintreten eines Widerspruchs sind zwei Verhalten möglich: Man kann den Widerspruch einerseits als Anlass auffassen, um sich vom Wissen zu verabschieden (wie im Fall des Pyrrhonismus), oder man kann ihn präliminar zulassen und als Moment des Wissens konzipieren, das uns dazu auffordert, die impliziten Voraussetzungen der beiden entgegengesetzten Aussagen zu explizieren – eine Explikation, die dazu führt, den Widerspruch aufzulösen. Zu These 2: Wenn man Hegel als Vertreter einer Konzeption eines absoluten Standpunktes, der sich außerhalb der zu interpretierenden Wissensvollzüge projiziert, interpretiert, dann lässt sich seine Perspektive schwer mit der These 2 von der Endlichkeit des epistemischen Standpunktes, aus dem man eine Theorie des Wissens formuliert, vereinen. Im Hinblick auf die Frage nach der Beziehung zwischen implizitem und explizitem Wissen weist These 2 jedoch lediglich darauf hin, dass die Arbeit des Explizit-Machens impliziter Wissensvoraussetzungen nicht antizipiert, sondern immer nur als Arbeit an den jeweiligen Thesen in den jeweiligen Zusammenhängen ausgeführt werden kann. Es handelt sich hierbei um eine methodologische Ansicht, die man evident auch in Hegels Konzeption der Begriffsbewegung (vgl. die oben angeführten Punkte b und c) sowie in der Behandlung und Entwicklung der phänomenologischen Wissensfiguren in der Phänomenologie des Geistes und der logischen Denkbestimmungen in der Wissenschaft der Logik nachweisen kann. Wie Hegel in der Einleitung in die Phänomenologie des Geistes argumentiert, ist es nicht möglich, vorrangig ein Kriterium zu entwerfen, um über die Richtigkeit oder Falschheit der jeweiligen Annahmen und Wissensansprüche zu entscheiden. Das Kriterium ergibt sich erst aus der faktischen Erörterung und Explikation der einzelnen Wissensfiguren (Hegel Werke 3: 68 ff.). In der Wissenschaft der Logik und in der Enzyklopädie wird an vielen Stellen die Notwendigkeit betont, die Unwahrheit der Fürsichseins aufzu-
Vgl. hierzu (Düsing 1973), (Verra 2007), (Varnier 1990) und (Vieweg 1999).
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lösen.¹² Das bedeutet, dass der menschliche Standpunkt, aus dem die Analyse der logischen Bestimmungen erfolgt, erfordert, dass die Grundbegriffe (‚Sein‘, ‚Nichts‘, ‚Werden‘, ‚Dasein‘, ‚Wesen‘, ‚Begriff‘ usw.) diskursiv, in ihren Verkettungen und Verhältnissen, entwickelt werden. In diesem Sinn stimmt Hegels Konzeption der Begriffsanalyse und der Verkettung der Ideen in der Wissenschaft der Logik mit der Kantischen Konzeption eines menschlichen, endlichen und diskursiven Verstandes im Unterschied zu einem unendlichen, anschaulichen und göttlichen Verstand überein.¹³ These 3, der zufolge Formen keine leeren Behälter sind, die darauf warten, mit einem Inhalt ausgefüllt zu werden, lässt sich klar in Hegels Konzeption nachweisen. In der Einleitung in die Wissenschaft der Logik argumentiert Hegel, dass die Thesen einer „Trennung des Inhalts der Erkenntnis und der Form derselben“, oder „dass das Objekt ein für sich Vollendetes, Fertiges sei, das des Denkens zu seiner Wirklichkeit vollkommen entbehren könne, dahingegen das Denken etwas Mangelhaftes sei, das sich erst an einem Stoffe zu vervollständigen habe“, oder dass „die Materie und die Form zwei voneinander geschiedenen Sphären seien“, Irrtümer sind, die „den Eingang in die Philosophie versperren“ (Hegel Werke 5: 33 f.).¹⁴ Im Kontext der Frage nach dem Verhältnis von implizitem und explizitem Wissen schließt diese Konzeption eine Auffassung der Form als befreiende Instanz ein, die die Entfaltung der Arbeit der Explikation ermöglicht und sich von einer Vorstellung der Form als starrer Struktur, die die Explizierung verhindert und versperrt, unterscheidet. These 3′, der zufolge es für uns als endliche Geister keine von den Interpretationssystemen unabhängige Wissensformen oder -inhalte gibt, ist eine sprachphilosophische Spezifizierung der primär epistemischen These 3 und bedeutet, dass die Explikation immer einem Zeichen- und Interpretationssystem immanent ist. Dass die Formen des Wissens immer als Formen, Praktiken und Dynamiken der Zeichen- und Interpretationssysteme aufzufassen sind, ist eine These, die sich bei Hegel als Theorie des Versenkt-seins der Denkformen in der Sprache, im instinktartigen Verhalten des Menschen und in seiner natürlichen
Vgl. (Hegel Werke 8: 172 ff.) und (Hegel Werke 6: 379) sowie (Gadamer 1987a: 70). (Hegel Werke 8: 172 ff.). Vgl. zu Hegels Übernahme des zuerst Platonischen und dann Kantischen Endlichkeitsgedankens (als Verkettung der Ideen und als diskursiver Charakter des Verstandes) (Gadamer 1987a: 69 ff.). Es handelt sich hierbei um eine spezifische Auffassung von ‚Form‘, die Hegel mit Goethe teilt und die später im Neukantianismus (vgl. insbesondere Lask (1911) und Cassirers (1923) Auffassung der symbolischen Form) eine wichtige Rolle in der Deutschen Philosophie spielen wird. Zu Goethes Formgedanken vgl. (Moiso 2002); zu Cassirers Formbegriff vgl. (Schwemmer 2005: 128 ff.).
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Logik wiederfindet. In der Vorrede zur Wissenschaft der Logik wird dies so ausgedrückt: „Die Denkformen sind zunächst in der Sprache des Menschen herausgesetzt und niedergelegt […] was [der Mensch] zur Sprache macht und in ihr äußert, enthält eingehüllter, vermischter oder herausgearbeitet eine Kategorie; so sehr natürlich ist ihm das Logische […].“ (Hegel Werke 5: 20) Mit dieser These ist für Hegel die Notwendigkeit aber auch die Schwierigkeit verknüpft, die Denkformen, also das, was den Horizont der Allgemeingültigkeit ausmacht und in der alltäglichen Sprache und im Empfinden, Anschauen, Begehren, Bedürfnis des Menschen angelegt ist, zu explizieren. „[Das Logische] drängt sich in sein Empfinden, Anschauen, Begehren, Bedürfnis, Trieb ein […] Die uns alle Vorstellungen, Zwecke, Interessen und Handlungen durchwirkende Tätigkeit des Denkens ist […] bewusstlos geschäftig […] Diese logische Natur […] zum Bewusstsein zu bringen, dies ist die Aufgabe.“ (Ibd.) Was die These 4 angeht, die die Wechselspiele von Meinen, Glauben und Wissen betrifft, distanziert sich Abel, wie bereits gezeigt worden ist, von einer engen Konzeption des Wissens, die – wie die von Platon im Theaitetos formulierte – Wissen auf epistéme (wahre gerechtfertigte Meinung) reduziert. Dass zur Erörterung von Wissensformen auch die Momente des Nicht-Wissens, des Glaubens und des Irrtums eine wichtige Rolle spielen, ist eine These, die in der Phänomenologie des Geistes ihre systematische Anwendung findet. Die Explikation der im Meinen, Glauben und sogar im Irrtum impliziten Voraussetzungen ist das, was Meinung, Glauben, Nichtwissen zu Wissen werden lässt. Hierbei ist wichtig, anzumerken, dass die Explikation die notwendige Bedingung der Erreichung einer gemeinsamen Welt darstellt, dasjenige, was es ermöglicht, von einer privaten zu einer öffentlichen Sphäre überzugehen. Abels Betonung der These 5, die die Kontextualität, Situationsbedingtheit und Dynamik von Wissensformen betrifft, lässt sich bei Hegel als Konzeption des Systems als Geschichte und in Hegels These nachweisen, dass eine Theorie der Denkbestimmungen erst dann wissenschaftlich ist, wenn sie von der Zeitgebundenheit und Bewegung des Wissens Rechenschaft gibt. In Abels Theorie der Wissensformen tritt ‚Kontext‘ an die Stelle von ‚Geschichte‘. Die oben angeführten Punkte b und c führen vor Augen, dass die Bedeutung der Grundbegriffe für Hegel mit ihrer ‚Bewegung‘ zusammenfällt, d. h. mit der Art und Weise, in der sie sich in der Begriffsanalyse verhalten und miteinander verknüpfen. Laut These 6 ist das Verhältnis von Theorie und Metatheorie nicht starr sondern ‚drehtürartig‘. Dies bedeutet, dass alle Ebenen ihren Sitz in der natürlichen Sprache haben und in ihr ausgedrückt werden. In der natürlichen Sprache gibt es keinen Unterschied zwischen Theorie und Metatheorie. Die Arbeit der Explikation gibt von dem Unterschied der theoretischen Ebenen Rechenschaft,
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bewegt sich aber auf der einzigen Ebene natürlicher Sprache. Bei Hegel lässt sich dementsprechend die These nachweisen, der zufolge jeder Versuch, die Philosophie durch eine formale Sprache auszudrücken, notwendigerweise scheitert, da die Begriffe, die philosophisch verwendet werden und philosophisch relevant sind, beweglich sind. Hegel bezieht sich auf Leibniz’ Projekt einer allgemeinen Charakteristik der Begriffe, einer Schriftsprache, die darstellen soll, wie jeder Begriff in den Verhältnissen anderer Begriffe besteht, und bemerkt: „als ob in der vernünftigen Verbindung, welche wesentlich dialektisch ist, ein Inhalt noch dieselben Bestimmungen behielte, die er hat, wenn er für sich fixiert ist“ (Hegel Werke 6: 379). Die zwei Thesen (7 und 7′), denen zufolge die Theorie der Wissensformen einen Vorrang des Zeichen-Vollzugs vor der Zeichen-Analyse, der Zeichen-Deutung und der Zeichen-Diskursivierung voraussetzt und der rationale und normative Aspekt nicht erst sekundär auf den Plan tritt, sondern vielmehr in unserem Sprechen, Denken und Handeln stets bereits intern mitgesetzt ist, lassen die Kontinuität zwischen der interpretationsphilosophischen Perspektive Abels und den zeitgenössischen pragmatistischen Aneignungen Hegels, insbesondere Brandoms pragmatistisch-analytischer Konzeption, zum Vorschein kommen. In Between Saying and Doing (2008) hat Brandom den Entwurf einer Verschmelzung des klassisch analytischen Programms mit der pragmatistischen Herausforderung entwickelt. Das analytische Verfahren besteht darin, die Bedeutungen, die in einem Vokabular (the target vocabulary) ausgedrückt werden, dadurch aufzuklären, dass man sie in Bedeutungen eines anderen, basalen Vokabulars (the basis vocabulary) übersetzt. Die pragmatistische Herausforderung besteht darin, den Blick der philosophischen Aufmerksamkeit von den Bedeutungen auf den Gebrauch zu lenken (in diesem Sinne meint Pragmatismus die Philosophie Wittgensteins, Quines, Sellars, Peirces, Rortys). Brandoms Anliegen ist es, das analytische Verfahren zu erweitern und eine dritte Position zwischen klassischer analytischer Philosophie, die seiner Ansicht nach dogmatisch ist, und dem pragmatistischen Ansatz, der seiner Ansicht nach defätistisch und relativistisch ist, zu besetzen. Zu diesem Zweck erarbeitet er die Idee einer Verschmelzung von Pragmatik und Semantik und entwirft die Grundzüge einer sogenannten meaning-use analysis. Sie sei „a way of representing and articulating the relations between meaningful vocabularies […] and the practices-or-abilities of deploying them that constitute the use in virtue of which they mean what they do“ (Brandom 2008: 198 f.). Diese Konzeption ist meiner Ansicht nach mit Abels Auffassung der Verhältnisse von Zeichenvollzug und Zeichenanalyse grundsätzlich verwandt. Auch für Abel lässt sich die Angabe der Bedeutung eines Begriffs bzw. eines Zeichens „sowohl durch eine Verknüpfung von definitorisch eingefügten Prädikatoren
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bestimm[en] […], als auch […] durch den Rückgang in die zugrundeliegende Interpretationspraxis“ geben (ZdW 312), wobei der Interpretationspraxis und dem Zeichenvollzug eine ausgezeichnete Rolle zukommt. Der erfolgreiche Zeichenvollzug hat ein Primat vor der Zeichen-Deutung, der Rückgang auf die Interpretations-Praxis ein Primat vor der thematischen Angabe der Bedeutung. Das bedeutet nicht, dass der Zeichenvollzug keiner Regel folge, sondern vielmehr, dass die Regel eines erfolgreichen Zeichenvollzugs und Begriffsgebrauchs der sprachlichen Praxis immanent, in ihr versunken ist und sich erst retrospektiv angeben lässt (vgl. ZdW 182 f.). Auch bedeutet dies nicht, dass die Norm des erfolgreichen Zeichenvollzugs nicht explizit gemacht werden könne, sondern dass ihre Explikation einer eigenen, interpretatorischen Logik unterliegt. Abel definiert sie als „interpretative Logik des Sinns des erfolgreichen Verwendens und Verstehens sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichen“ (ZdW 187 f.). In diesem Sinn lässt sich sowohl bei Abels interpretationsphilosophischem als auch bei Brandoms pragmatistisch-analytischem Vorhaben die These nachweisen, dass Begriffsgebrauch bzw. Zeichenvollzug und Festlegung der Bedeutung der Begriffe / Zeichen zueinander in einer Wechselwirkung stehen. Diese These schließt bei beiden Autoren eine mehr oder weniger programmatische Anknüpfung an die Hegelsche Konzeption der dynamisch-dialektischen Natur der Begriffsanalyse ein. Dennoch unterscheiden sich meiner Ansicht nach das analytisch-pragmatistische und das interpretationsphilosophische Programm zumindest in einem zentralen Punkt, ein Punkt, auf den ich im abschließenden Teil meines Beitrags kurz eingehen werde.
5 Schluss Der wesentliche Unterschied zwischen dem analytischen Pragmatismus Brandoms und Abels Interpretationsphilosophie betrifft die Auffassung bezüglich der öffentlichen und wissenschaftlichen Rolle der Philosophie. Brandom hat seine Reflexionen (bis jetzt) nicht in den Rahmen einer allgemeineren Betrachtung der öffentlichen und metawissenschaftlichen Aufgaben der Philosophie gestellt. Die Tradition, auf die er sich beruft, nämlich Rortys Pragmatismus, mündet letztlich sogar in die Auffassung, dass die Philosophie zu Ende sei und keine Bedeutung für das Leben, die Öffentlichkeit, die Kultur und die Wissenschaften habe.¹⁵ Dagegen ist ein Grundanliegen aller Werke Abels eine komplexe und artikulierte
Vgl. (Rorty 1979: 357 ff.).
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Reflexion über die Philosophie, ihr spezifisches Untersuchungsfeld, ihre akademische, öffentliche und wissenschaftstheoretische Relevanz und Aufgabe. In diesem Sinn lässt sich die Zentralität der Grundbegriffe in der Hegelschen Behandlung der Dialektik, die in den oben angeführten Punkten a–d evident wird, zwar in Abels, nicht aber in Brandoms Theorie nachweisen. In einer zeichen- und interpretationstheoretischen Perspektive gibt es genuin philosophische Fragen, die sich von einzelwissenschaftlichen unterscheiden und deren Behandlung für Lebenswelt und Wissenschaft notwendig ist. Der Unterschied zwischen spezifisch philosophischen und einzelwissenschaftlichen Fragen besteht darin, dass die ersten grundsätzlicher und allgemeiner Natur sind: „So fragt z. B. ein Physiker, aber auch ein Historiker, welches Ereignis E zum Zeitpunkt T stattfindet oder stattfand. In der Frage ebenso wie in der Antwort ist ein Verständnis von Zeit bereits vorausgesetzt. Die jedoch spätestens seit Augustinus berühmte Frage ‚Was aber ist die Zeit?‘ ist eine, die von der in den Einzelwissenschaften […] gestellten Frage in puncto Grundsätzlichkeit und Allgemeinheit deutlich unterschieden ist.“ (Abel 2008: 15) Die spezifische Natur philosophischer Fragen schließt ein, dass sie einer besonderen Logik folgen, in der „[j]eder Schritt zu einer Antwort […] den Horizont der Frage selbst zu verschieben“ scheint (ibd.).¹⁶ Jeder weiß, was die Zeit ist, „doch sollen wir dies ausbuchstabieren, scheint es, als wissen wir die Antwort nicht mehr. Entsprechendes gilt auch für alle anderen Grundwörter (wie z. B. Bewegung, Raum, Freiheit, Bewusstsein), obwohl wir in der Regel problemlos mit ihnen umgehen“ (16). Der Philosophie ist somit eine Erfahrung eigen hinsichtlich der Grundbegriffe und Dynamiken, die sich ergeben, und der Schwierigkeiten, die wir antreffen, wenn wir mit ihnen umgehen. Die Aufgabe des Philosophen ist demnach eine doppelte: die grundbegriffliche sowie argumentative Kompetenz und die ‚öffentliche Einmischung‘. „Damit ist eine Aufgabe der Philosophie formuliert. Diese muss im öffentlichen Raum deutlich machen, dass genuin philosophische Tugenden wie konsistentes Argumentieren, Reflexionsvermögen, Kommunikations- und Diskurskompetenzen nicht nur für alle Wissenschaften, sondern für zukunftsfähige Gesellschaften grundlegend sind. Und in den Universitäten müssen wir diesen Punkt institutionell verankern“ (Abel 2008: 38). Dieses für Abels Theorie typische Bewusstsein davon, was die Philosophie ist, was ihre Aufgaben für das Leben sind und welche ihre Rolle gegenüber Kultur und Wissenschaften ist, lässt die Kontinuität der zeichen- und interpretationstheoretischen Perspektive mit der Hegelschen Konzeption und im Allgemeinen mit der
Zur interpretationistischen Logik vgl. (SZI 78 ff. u. 209 ff.). Zur hermeneutischen Logik vgl. (Bollnow 1972) und (Lipps 1976).
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Deutschen Tradition der Philosophie und Wissenschaftstheorie erkennen.¹⁷ In dieser Tradition, die von Kant, Fichte, Hegel, Dilthey bis zu Neukantianismus, Hermeneutik und kritischer Theorie reicht, wird die öffentliche und akademische Rolle der Philosophie im Unterschied zu den Einzelwissenschaften thematisiert und stark gemacht. Die Philosophie selbst wird innerhalb der diversen Wissensformen kohärent, weder konfliktuell noch marginal positioniert und als Gesprächspartner der Wissenschaft, der Kunst und der Religion verstanden. Das Bewusstsein für die Natur und Aufgabe der Philosophie, das typisch sowohl für Abels als auch für Hegels Denken ist, ermöglicht es schließlich, die Interpretationsphilosophie vor möglichen Missverständnissen zu verteidigen. Mögliche Missverständnisse sind z. B. die These, der zufolge die interpretationsphilosophische Betonung des Primats des Zeichenvollzugs vor der Zeichen-Deutung die prinzipielle Unmöglichkeit einschließe, die Interpretationsphilosophie selbst zu deuten und darzustellen,¹⁸ oder das Argument, nach dem die interpretationsphilosophische Hypothese antirealistisch oder gar „absolut-idealistisch“ sei.¹⁹ Diese und weitere Einwände sind dadurch gekennzeichnet, dass sie einen einzigen Aspekt des jeweiligen interpretationsphilosophischen Begriffs (Sprache oder Welt, Wissen oder Nicht-Wissen, propositionales oder nicht-propositionales, explizites oder implizites, auf ein Können bezogenes oder auf Tatsachen bezogenes Wissen) annehmen, ohne den jeweils entgegengesetzten zu berücksichtigen. Sie lassen sich einfach widerlegen, wenn man das dialektische Ziel von Abels allgemeiner Philosophiekonzeption bedenkt. In der Tat fasst Abel die Interpretationsphilosophie ausdrücklich als einen Horizont auf, der dazu dient, philosophische und wissenschaftliche Konflikte (z. B. zwischen Essentialismus und Relativismus, explizitem und implizitem, propositionalem und nicht-propositionalem Wissen u. a.) zu behandeln sowie deren Starrheit aufzuheben.²⁰ Dies weist darauf hin, dass man bei Abels Betonung der einen Seite einer jeden Dichotomie (des Zeichen-Vollzugs vor der Zeichen-Deutung, des Wissen-wie vor dem Wissendass, der Sprache und Zeichen vor der Realität) auch immer die Betonung der anderen Seite mitberücksichtigen soll.²¹
Über das Selbstverständnis der Philosophie in Deutschland seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts vgl. (D’Agostini 1999: 76 ff.). Vgl. Abels Gespräch in (Bertschinger et al. 2001). Vgl. die Diskussion zwischen Lenk und Abel in der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie (Lenk 1988; Abel 1988). Vgl. insbesondere (ZdW 53 ff.). Diese isosthenische Natur, die auch den wesentlichen Zug der Hegelschen Dialektik ausmacht, hat manche Kritiker dazu veranlasst, Dialektik mit Trivialismus zu identifizieren, d. h. mit der Ansicht, der zufolge alles wahr ist. Für eine Verteidigung der Dialektik gegen den Trivialismus-
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Elena Ficara
Literatur Abel, Günter 1988: Interpretationsphilosophie. Eine Antwort auf Hans Lenk, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 13/3, S. 79 – 86. Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2008: Was ist und was kann Philosophie?, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Philosophie, wozu?, Frankfurt a. M., S. 15 – 39. Bertschinger, Antonia et al. 2001: Zeichen- und Interpretationsphilosophie. Ein Gespräch mit Günter Abel, in: Information Philosophie 29/4, S. 36 – 44. Bollnow, Otto Friedrich 1972: Zum Begriff der hermeneutischen Logik, in: Pöggeler, Otto (Hg.): Hermeneutische Philosophie, München, S. 100 – 122. Brandom, Robert 2008: Between Saying and Doing. Towards an Analytic Pragmatism, Oxford. Cassirer, Ernst 1923: Die Philosophie der symbolischen Formen, Band 1: Die Sprache, Berlin. D’Agostini, Franca 1999: Breve storia della filosofia del Novecento. L’anomalia paradigmatica, Torino. Dirks, Ulrich / Wagner, Astrid 2011: Filosofia dell’interpretazione. Principi, sviluppi, caratteristiche, in: Giornale di Metafisica 33/3, S. 323 – 348. Düsing, Klaus 1973: Die Bedeutung des antiken Skeptizismus für Hegels Kritik der sinnlichen Gewißheit, in: Hegel-Studien 8, S. 119 – 130. Ferrari, Massimo 1997: Introduzione a il Neocriticismo, Roma-Bari. Ficara, Elena 2013: Dialectic and Dialetheism, in: History and Philosophy of Logic 34/1, S. 35-52. Gadamer, Hans-Georg 1987a: Neuere Philosophie I: Hegel, Husserl, Heidegger, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 3, Tübingen. Gadamer, Hans-Georg 1987b: Neuere Philosophie II: Probleme, Gestalten, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 4, Tübingen. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1971: Werke in 20 Bänden, auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 neu ed. Ausg., hg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt a. M. Koehne, Tim 2000: Skeptizismus und Epistemologie, München. Lask, Emil 1911: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, Tübingen. Lenk, Hans 1988: Welterfassung als Interpretationskonstrukt. Bemerkungen zum methodologischen und transzendentalen Interpretationismus, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 13/3, S. 69 – 78. Lipps, Hans 1976: Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, Frankfurt a. M. Moiso, Francesco 2000: Goethe, la natura e le sue forme, Milano. Rorty, Richard 1979: Philosophy and the Mirror of Nature, New Jersey. Schwemmer, Oswald 2005: Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München.
Vorwurf im Ausgang von einer Auseinandersetzung mit Graham Priests Dialetheismus vgl. (Ficara 2013: 35 – 52)
Dialektik und Interpretationsphilosophie
Varnier, Giuseppe 1990: Ragione, negatività, autocoscienza. La genesi della dialettica hegeliana a Jena tra teoria della conoscenza e razionalità assoluta, Napoli. Verra, Valerio 2007: Su Hegel, hg. v. C. Cesa, Bologna. Vieweg, Klaus 1999: Philosophie des Remis. Der junge Hegel und das ‚Gespenst des Skepticismus‘, München.
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Dialektik als Zeichen- und Interpretationsprozess Replik zum Beitrag von Elena Ficara Elena Ficara schlägt in ihrem gehaltvollen Beitrag eine ‚dialektische Lesart‘ der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] vor. Ihr Fokus liegt dabei auf der ZuI-Philosophie der Wissensformen, so wie ich diese in Zeichen der Wirklichkeit (ZdW) ausgearbeitet habe. Ficara sieht Verbindungen zwischen der ZuI-Philosophie und der Hegelschen Philosophie ebenso wie zu dem gegenwärtig vor allem von Robert B. Brandom vertretenen analytischen Pragmatismus. Ficara erweist sich als souveräne Kennerin aller drei Weisen des Philosophierens. Zugleich gelingt es ihr, einen Dialog bzw. Trilog in Gang zu setzen. Ficaras Ausführungen (a) zur Bedeutung des Ausdrucks ‚Dialektik‘ bei Hegel (s. Ficara-Beitrag, Kap. 2), (b) zur Bestimmung der Hauptthesen der ZuIPhilosophie (s. Kap. 2), (c) zu Verbindungen zwischen der ZuI-Philosophie und der Hegelschen Reflexion (s. Kap. 3 u. 4) und (d) zum Verhältnis von ZuI-Philosophie und analytischem Pragmatismus (s. Kap. 5) stimme ich nachdrücklich zu. Durchgehend sehe ich das Grundanliegen der ZuI-Philosophie bestens verstanden und positiv aufgenommen. In Weiterführung des Dialogs möchte ich meinerseits einige Grundinterpretamente der dialektischen Philosophie Hegels einer ZuI-philosophischen Deutung zuführen. Es geht also gleichsam um ein Geschäft auf Gegenseitigkeit: Elena Ficara bringt Hegelsche Aspekte erhellend in die Lektüre der ZuI-Philosophie ein; in umgekehrter Richtung möchte ich eine ZuI-philosophische Lektüre und Rekonstruktion Hegelscher Denkfiguren vorschlagen. Meine Replik möchte ich daher unter den folgenden vier Gesichtspunkten entfalten: 1. Skeptizismus im Hegelschen Denken und in der ZuI-Philosophie. 2. ZuI-Philosophie und dialektische Phänomenologie und Logik Hegels. 3. Re-Konzeption der Rationalität. 4. ZuIPhilosophie und analytisch-pragmatistische Aneignung Hegels.
1 Skeptizismus im Hegelschen Denken und in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Hinsichtlich des Verhältnisses von ZuI-Philosophie und Skeptizismus, das Ficara (Kap. 3) trefflich beschreibt, möchte ich zunächst und nachdrücklich auf den https://doi.org/10.1515/9783110522280-071
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Beitrag von Tim Koehne zum Thema und meine diesbezügliche Replik im vorliegenden Band verweisen. Die Details sind hier nicht zu wiederholen. Nur so viel sei festgehalten. Der Zusammenhang zwischen Skeptizismus und ZuI-Philosophie ist ein interner, kein externer Zusammenhang. Zugleich darf Skeptizismus nicht als ein terminaler Skeptizismus missverstanden werden. Skeptizismus kann nicht ‚letztes Wort‘ des Philosophierens, wohl aber Stachel im Fleisch philosophischen Fragens sein. Zugleich kann es aus Sicht der ZuI-Philosophie nicht mehr darum gehen, den Skeptiker beweis-deduktiv widerlegen zu wollen. Alle Versuche dieser Art müssen als gescheitert angesehen werden. Vielmehr ist skeptisches Fragen Ingredienz und Motor eines jeden kritischen Philosophierens, nicht jedoch deren ultimatives und gleichsam eschatologisches Ende. Mein Buch Interpretationswelten (Iw) kann durchgehend als der Versuch einer zufriedenstellenden Antwort an die Adresse des Skeptikers gelesen werden. Sobald wir mit dem Denken beginnen, haben wir es offenkundig nicht mehr mit einer positivistischen Starrheit der Bedeutungen, Begriffe, Gedanken und Urteile zu tun. Das Denken hält es, zugespitzt formuliert, nicht bei vermeintlich letztinstanzlichen Positivitäten aus. Behaupten zu wollen, dass die Verhältnisse auch noch im reflektierenden Denken diejenige Starrheit beibehalten, mit der sie zunächst und selbstsicher daherkommen, erweist sich schnell als eine nicht einlösbare Annahme, gewissermaßen sogar als eine Form von Realitätsverweigerung. Letztlich manifestiert sich im Festhaltenwollen an den Positivitäten eine Form von Chronophobie. Sie ist auch in der Philosophie weit verbreitet. In puncto Skeptizismus formuliert Hegel 1801 die These, dass der philosophische Kritizismus eine „imperfecta Scepticismi forma“ sei (Hegel 1970: Bd. II, 533). Darin steckt ein Vorbehalt mangelnder Radikalität an die Adresse Kants. Zugleich kommt der Gedanke auf, ein natürlicher Skeptizismus gehöre zu jeder wahren Philosophie. Über Kant hinausgehend setzt Hegel den Skeptizismus nicht nur zur Destruktion der Lehre von den Sinnesdaten und insbesondere dann der Reflexionsbestimmungen des Verstandesdenkens ein. Er nimmt die Skepsis, und vor allem das dieser wesentliche Moment der Negativität, entschieden in die Bestimmung von Erfahrung und Denken hinein. Dies manifestiert sich vor allem darin, dass die Erfahrung des Bewusstseins mit seinen Gegenständen als der „sich vollbringende Skeptizismus“ (Hegel 1952: 67) und die Bewegung der Denkbestimmungen im Kern als jeweils negative Beziehung auf sich selbst gefasst werden. Die Negativität macht Hegel zufolge die Fortbewegung der Phänomene und unserer Begriffe, mithin das Dialektische selbst aus (vgl. Hegel 1975: Bd. I, 37, und Bd. II, 496). Hegel hat dem Begriff der Ataraxie (der unerschütterlichen Seelenruhe) einen im Verhältnis zur pyrrhonischen Skepsis veränderten Akzent verliehen. Sextus Empiricus zufolge gelangt man zur Ataraxie auf dem Wege einer allgemeinen
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Gleichgültigkeit, in der die der Ataraxie vorausgehende Epoché ein „Stillstehen des Verstandes“ bewirkt, „durch das wir weder etwas aufheben noch setzen“ (Sextus Empiricus 1968: 95). Demgegenüber erlangt das skeptische Bewusstsein bei Hegel seine Ataraxie des Sich-selbst-Denkens gerade nicht durch Gleichgültigkeit, sondern dadurch, dass es die Negation am Anderssein tatsächlich vollbringt, dieses aktiv aufhebt. In dieser Figur möchte ich den Übergang von einer agnostisch-skeptischen zu einer aktiv-skeptischen Negativität sowie das axiologische Motiv des damit verbundenen freien Selbstbewusstseins bei Hegel sehen. Anders als in der pyrrhonischen Skepsis, die mit ihrem negativen Verhalten gegenüber Sachverhalten und Argumenten unweigerlich in einen metaphysischen Dualismus gerät – hier die Bedingungen der Erkenntnis, dort das unerreichbar Objektive – steckt in der skeptischen Gestalt des freien Selbstbewusstseins eine Möglichkeit, den Dualismus von Schema und Wirklichkeit, mithin das Grunddogma sowohl des Empirismus als auch der Erkenntniskritik, zu überwinden. Die Überwindung dieses Dualismus ist erklärtermaßen Ziel auch der ZuI-Philosophie. Und auch in der ZuI-Philosophie spielt der Skeptizismus zur Erreichung dieses Zieles eine Schlüsselrolle (wie in meiner Replik auf Tim Koehne im vorliegenden Band detailliert erläutert). Hegels Dialektik und die ZuI-Philosophie ziehen hier an einem Strang. Hegel radikalisiert die für die pyrrhonische Skepsis grundlegende isosthenische Diaphonie, d. h. die gleichwertige Entgegensetzung sinnlich-erscheinender sowie gedachter Dinge. Daher auch ist es nicht verwunderlich, dass Hegel den Skeptizismus ernsthaft als mögliche Alternative zur Phänomenologie in puncto Einleitung in die Logik und ins System erwogen hat (vgl. Hegel 1970: Bd. 8, Enz. I, §§ 78 – 82). Das Skeptische zeigt das Sich-Widersprechende in den Verstandesbestimmungen sowie den gedachten Dingen. Die Einsicht in diesen isosthenischen Widerstreit gehört bereits dem Denken als Vernunft an. Es gerät hier also, anders als in den Kantischen Antinomien, nicht die Vernunft mit sich in Widerspruch, sondern das Entgegengesetztsein, das Sich-Widersprechende ist gerade das „Erheben der Vernunft über die Beschränkungen des Verstandes“ (Hegel 1975: Bd. I, 27). Das so radikalisierte Prinzip der Skepsis wird somit bei Hegel zu einem inneren Motor des Philosophierens selbst. Diese Rolle eines inneren Motors kommt der Skepsis auch in der ZuI-Philosophie zu. Auf diese Weise hat Hegel sich, ganz ähnlich wie auch die ZuI-Philosophie, zugleich jedoch auch die Möglichkeit der Kritik an einem bloßen Stehen-bleibenwollen beim Skeptizismus eröffnet. Kritik muss dem Skeptizismus jetzt jedoch keineswegs mehr extern entgegentreten, wie dies zum Beispiel in deduktiven Beweisargumentationen oder formallogischen Widerlegungen in der Regel avisiert wird. Vielmehr kann das philosophische Denken als philosophische Kritik den Skeptizismus intern zufrieden stellen und so zu einem pragmatisch-ver-
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nünftigen ‚Ende‘ bringen – bis auf weiteres, und das heißt bis neue skeptische Fragen auftreten. In der ZuI-Philosophie wird in diesem Zusammenhang betont, dass die von Hegel beschriebenen Bewegungen der Erfahrungswirklichkeiten sowie der Denkbestimmungen als ZuI-Prozesse angesehen, analysiert und modelliert werden können. Daher möchte ich die beiden folgenden Punkte hervorheben. (a) Jedes Übergehen von einem Zustand der phänomenologischen Erfahrung sowie der Denkbestimmung in einen nächsten kann offenkundig als ein dynamischer und konstruktionaler ZuI-Prozess beschrieben werden, und jeder ZuIProzess ist offenkundig ein Übergang in einen jeweils nächsten Zustand. In diesen Bewegungen liegt, dass nicht nur nach einzelnen spezifischen ZuI-Vorgängen, sondern nach der dynamischen ZuI-Prozessualität selbst und deren Form gefragt werden kann und gefragt werden muss. (b) Auch an dieser Stelle sei betont, dass, mit einer Formulierung von Ch. S. Peirce gesprochen, „jeder [in Zeichen verfasste; Zusatz G. A.] Gedanke durch einen anderen interpretiert werden muss oder dass alles Denken in Zeichen [und Interpretationen; Zusatz G. A.] geschieht“ (Peirce 1976: 31; Hervorhebung G. A.). Denken und Vernunft sind mithin nicht nur zeichen-abhängig und interpretations-bedürftig. Sie sind selbst wesentlich zeichen-interpretativer Natur. Ein Gedanke wird bestimmter Gedanke stets nur im zeichen-vermittelnden sowie zeichen-vermittelten Interpretations-Geschehen, in dem er in seiner Bestimmtheit und semantischen, pragmatischen und situierten Bedeutung konturiert wird. Diese beiden Punkte führen in der ZuI-Philosophie zu einigen anderen als den für Hegel kennzeichnenden Perspektiven.Vor allem die folgenden drei Hinsichten seien hier benannt: (i) dass jede Erfahrung und jeder Gedanke ebenso wie jedes Sprechen und Handeln intern zeichen-interpretativen Charakters sind; (ii) dass jede kategoriale Bedeutungsveränderung als ein endogenes ZuI-Geschehen beschrieben, analysiert und modelliert werden kann; und (iii) dass auch das Logische (aufgefasst im weiten Sinne des Ausdrucks als die Weise der Organisation, Gestaltung und Orientierung unseres Erlebens, Sprechens, Denkens und Handelns) als ZuI-Prozess angesehen und behandelt werden kann.¹ Nicht eigens zu betonen brauche ich, dass ich im Blick auf diese Zusammenhänge nicht von einer traditionellen Ontologie der Zeichen und Interpretationen ausgehe.²
Zu diesem letzteren Punkt siehe detaillierter auch meine Replik auf Riccardo Dottori. Zu dieser Abgrenzung siehe auch meine Replik auf Chung-ying Cheng.
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2 Zeichen- und Interpretationsphilosophie und dialektische Phänomenologie und Logik Hegels Die Frage nach dem Verhältnis von ZuI-Philosophie und dialektischer Phänomenologie und Logik möchte ich im Folgenden mit Bezug auf die berühmt-berüchtigten Übergänge in Hegels Phänomenologie des Geistes und Wissenschaft der Logik knapp skizzieren. Dies läuft darauf hinaus, eine ZuI-philosophische Lektüre zentraler Figuren des Hegelschen Denkens vorzuschlagen. Unter ‚Übergängen‘ werden im Folgenden mit Bezug auf Hegels Philosophieren in der Phänomenologie des Geistes und der Wissenschaft der Logik ebenso wie in der ZuI-Philosophie die dynamischen Bewegungen (a) in den Phänomen-Erfahrungen und (b) im reflektierenden Denken verstanden. Zu (a): In der Phänomenologie des Geistes beschreibt Hegel die Entwicklung unserer anfänglichen sinnlichen Gewissheiten (etwa einer farblichen oder klanglichen Sinnesempfindung) hin zu der Schwierigkeit, die vermeintlich unerschütterliche Gewissheit solcher individueller Sinnesempfindungen positivistisch nicht festhalten und nicht in einer Sprache mitteilen zu können. Diese Schwierigkeit nötigt uns in den Übergang zum Beispiel zur expliziten Wahrnehmung der fraglichen Farbe und von dort weiter in die Konzeption von Farben mittels der Tätigkeit unseres Verstandes und der Bildung zum Beispiel des Begriffs ‚Farbe‘. In der ZuI-Philosophie werden solche Übergänge und Gestalten des Bewusstseins als Übergänge und Gestalten von ZuI-Prozessen gefasst. Es in der sinnlichen Erfahrung nicht bei einer gegebenen Gestalt positivistisch aushalten zu können, sondern prozessual und dynamisch in Bewegung zu geraten, kann als Manifestation dynamischer ZuI-Prozesse rekonstruiert werden. Jedenfalls bietet die ZuI-Philosophie eine Antwort auf die fundamentale Frage, wie es zu denken ist, dass es überhaupt zu Wechsel und Wandel unserer Vorstellungen, sinnlichen Erfahrungswirklichkeiten und Denkbestimmungen kommen kann, kurz: wie der Übergang von einem Zustand und einer Gestalt in einen nächsten Zustand und eine nächste Gestalt zu beschreiben und zu denken ist. In diesem Zusammenhang möchte ich die über den skizzierten Punkt noch hinausgehende These vertreten, dass es ZuI-Prozesse und vor allem unsere ZuIPraxen sind, die auch den von Hegel beschriebenen Übergängen stets bereits im Rücken liegen und diese allererst zustande bringen. In diesem Sinne erscheint die dialektische Phänomenologie als ein Zweig der ZuI-Philosophie, nicht umgekehrt. Zu (b): Als Übergänge beschreibt Hegel in der Wissenschaft der Logik zum Beispiel das Verhältnis und die Entwicklung von Begriff, Urteil und Schluss. Die Rede von ‚Übergängen‘ meint in der Wissenschaft der Logik die Bewegungen
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unserer Denkbestimmungen. In der ZuI-Philosophie werden solche Entwicklungen als ZuI-Bestimmungen und ZuI-Bewegungen gefasst. Und analog zum Bereich phänomenologischer Erfahrung möchte ich auch in puncto Logik die These vertreten, dass es ZuI-Prozesse und vor allem unsere ZuI-Praxen sind, die letztlich bereits auch den Bewegungen der von Hegel beschriebenen Denkbewegungen im Rücken liegen. In diesem Sinne erscheint auch die dialektische Logik als ein Zweig der ZuI-Philosophie, nicht umgekehrt. Die ZuI-Komponenten lassen sich beispielsweise auch an der bereits angesprochenen Trias von Begriff, Urteil und Schluss verdeutlichen. Wenn eine bestimmte ZuI-Form gegeben ist, werden Begriffe durch jeweils bestimmte und akzeptierte Prädikatoren (der Begriff ‚Haselnuss‘ z. B. durch ‚hartschalig‘ etc.) ebenso charakterisiert wie durch ein bestimmtes Passungs-Verhältnis des entsprechenden sprachlich-propositionalen Begriffs und der Realität. Offenkundig können diese perspektivischen Passungen als ZuI-Charakterisierungen adressiert und entfaltet werden. Und ebenso offenkundig ist, dass der Übergang vom Begriff zum prädikativen und propositionalen Urteil (sagen wir: ‚X wiegt 20 Kilogramm‘) eine ZuI-spezifische Zusammenjochung des Subjekts des Satzes mit dem Prädikat kraft der Kopula ‚ist‘ verkörpert. Diese ZuI-Zusammenjochung hätte im Prinzip und in anderen Bezugssystemen auch anders ausfallen können. Jedes So-und-soUrteilen ist daher unabdingbar ZuI-Konstrukt. Und wenn, was Hegel tut und worauf auch die ZuI-Philosophie besonderen Wert legt, das Urteil so auseinandergefaltet werden kann, dass es als ein Schluss deutlich wird, dann treten eben darin sowohl dieses Auseinanderfalten als auch das schlussartige Zusammenjochen als ZuI-Vorgänge par excellence hervor. Hegels Formulierung, dass der „Schluss“ die „Wahrheit des Urteils“ sei (Hegel 1975: II, 314) lässt sich zunächst wie folgt reformulieren: Wenn wir auf dem Wege einer Explikation verständlich machen wollen, was ein Urteil (z. B. ‚S ist P‘) ist und warum es auch für andere Individuen der ZuI-Gemeinschaft akzeptabel sein kann, dann legen wir das Urteil so auseinander, dass es als ein Schlusssatz erscheint. Der Übergang vom Urteil zum Schluss ist mithin schlicht die Konsequenz der Explikations- und Akzeptabilitätsanstrengung bezüglich des Urteils selbst. Diesen Übergang möchte ich in seinen beiden Vektoren (als Übergangnach-vorn, der zugleich Rückgang-in-den-Grund ist) als ZuI-bestimmte Explikation qualifizieren. Zur Illustration dieses Punktes rücke ich drei Merkmale des Urteilens in eine explizit zeichen-interpretationistische Perspektive. Diese drei Merkmale, die auch Josef Simon akzentuiert (Simon 1982: 21 f.), sind die folgenden:³ (i) dass es im
Vgl. auch meine Replik auf Josef Simons Beitrag im vorliegenden Band.
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erfolgreichen Urteilen entscheidend auf das ‚Finden‘ (Simon) des jeweils geeigneten Mittelbegriffs ankommt, der den Schluss für uns selbst und für andere überhaupt erst akzeptabel macht; (ii) dass dazu ein wirkliches individuelles Subjekt erfordert ist, dem diese kommunikable und kooperative Sprache und deren Anwendung gelingt; und (iii) dass mit der Unverzichtbarkeit der Sprach-, Zeichenund Interpretations-Praxis intern zugleich auch die Zeitlichkeit verbunden ist. Zu (i): Jede dieser drei Dimensionen (Mittelbegriff, Subjekt, Zeitlichkeit) führt in den ZuI-Charakter der entsprechenden Prozesse. Dass die Mittelbegriffe und die mit ihrer Hilfe aufgestellten Prämissen nicht intrinsisch mit dem Urteil vorab gegeben sind, sondern erst gefunden und, im günstigen Falle, für wahr gehalten werden müssen, heißt, dass ihr Auffinden und ihre aktive Rolle zeichen-interpretativer und konstruktionaler Art sein müssen. Gelingende Mittelbegriffe sind, so möchte ich sagen, jene, die mit den basalen Mustern und Gestalten unserer ZuI1+2+3-Praxen besonders eng, im Idealfall fraglos, flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich verbunden sind. In diesem Falle werden dann keine weiteren Erklärungen benötigt. Die geeigneten Mittelbegriffe leuchten uns und anderen Personen, wie man dann sagt, unmittelbar ein. So lebt beispielsweise die Akzeptabilität des Urteils, dass Paul sterblich ist, von dem als Prämisse fungierenden Mittelkonstrukt, dass alle Menschen sterblich sind und Paul ein Mensch ist. Man kann sich nicht vorstellen, dass diese Annahmen nicht gelten. Entscheidend für die Akzeptabilität (und damit auch die Rationalität) der Urteile ist mithin die zeichen-interpretatorische Kraft der ihrerseits ZuI-konstruktionalen Mittelbegriffe. Im 3-Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse gesprochen nimmt die Kraft der Mittelbegriffe zu, je näher sie an die basale ZuI1-Struktur heranreichen und im günstigsten Falle aus dieser selbst heraus direkt gewonnen wurden. Zu (ii): Wichtig ist sowohl in der ZuI-Philosophie als auch in der dialektischen Lehre des Urteils, dass im und für das Urteilen wirkliche, endliche, perspektivierende und individuelle Geister erfordert sind. Im Urteilen geht es also nicht bloß um ein Kantisches transzendentales Subjekt im Sinne der Einheit der transzendentalen Apperzeption. Dass die wirklichen Individuen durch den Gebrauch endlicher und ver-endlichender Zeichen und Interpretationen gekennzeichnet sind, führt direkt in den ZuI-Charakter einer jeden Begriffsbildung, eines jeden Urteilens und eines jeden Schließens. Ganz offensichtlich ist unsere epistemische ebenso wie unsere handlungs-praktische Situation nicht die von Göttern. Zu (iii): Zeitlich geordnete Erfahrungswirklichkeiten (einschließlich der sie artikulierenden Begriffe, Urteile und Schlüsse) sind aufgrund ihrer Relativierung und Perspektivierung (auf Zeit, Situation, Kontext, Individualität und Kultur) stets bereits zeichen-interpretativen Charakters. Freilich ist das Verhältnis von Zeit, Zeichen und Interpretation eines triangulärer und quasi drehtürartiger und pro-
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zessualer Abhängigkeiten. Jedes Zeichen und jede Interpretation haben ihre Zeit, und jede Zeit wird durch ihre Zeichen und Interpretation bestimmt.⁴ Dass wir überhaupt Begriffe verwenden, urteilen, schließen und handeln (also sagen, dass etwas ein so-und-so ist und wir das-und-das tun) und dass wir dies kraft finiter und finitisierender Zeichen und Interpretationen tun, zeigt, dass wir keine unbedingten Wesen, sondern endliche, bedingte und perspektivierende, mithin ZuI-verwendende Geister sind. Diese Betonung der Endlichkeit (die Hegel bekanntlich gern unterlaufen möchte) führt zu einer Spannung zwischen ZuI-Philosophie und Hegelscher Reflexion. In Konsequenz unserer Endlichkeit sind wir nun einmal die zeichen-verwendenden und interpretatorischen Geister, die wir in unserem Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln sind. Solche Betonung der Endlichkeit adressiert zum einen (a) den begrenzten und finitisierenden sowie perspektivierenden Charakter einer jeden kommunikativen und praktisch erfolgreichen ZuI-Verwendung sowie ZuI-Praxis. Zum anderen (b) rückt solche Rede den Aspekt in den Fokus, dass es uns Menschen nicht möglich ist, den Hintergrund und das Netzwerk derjenigen Bedingungen, aus denen heraus und auf die hin wir so leben und handeln wie wir leben und handeln, gänzlich transparent, distanzierend und positivierend als Gegenstand der semantischen Logik vor uns hinstellen zu können. Das ist uns offenkundig selbst in der Einstellung der Reflexion nicht möglich. Von solcher Möglichkeit sind wir aufgrund eben unserer Endlichkeit nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch abgeschnitten. Die an diesem Punkt zu verzeichnende Spannung zwischen ZuI-Philosophie und Hegelscher Reflexion wird von Elena Ficara durchaus gesehen. Sehr sympathisch sind mir die beiden Auswege, die Ficara zur Milderung dieser Spannung ins Feld führt. Ihnen schließe ich mich gern an, da sich in ihnen zwei Grundeinstellungen der ZuI-Philosophie manifestieren. Zunächst (a) sieht Ficara den Philosophen, mithin auch Hegel, nicht als Verfechter eines „absoluten Standpunktes“ (Kap. 4), und sodann (b) sieht sie die Übergänge vom Impliziten zum Expliziten nicht als vorab determinierte Übergänge, sondern als „Arbeit der Explikation“ (ebd.), ohne vorab determinierende Voraussetzungen. Ich möchte (c) noch einen dritten Aspekt hinzufügen, der für mich in der Auseinandersetzung mit Hegel stets wichtig war: Einzelne Interpretamente Hegelscher Analysen (wie zum Beispiel seine Überlegungen zur sinnlichen Gewissheit zu Beginn der Phänomenologie des Geistes oder zur Entwicklung von Grundbegriffen in der Wissenschaft der Logik wie etwa ‚Sein‘, ‚Nichts‘ und ‚Werden‘) können für sachlich
Die damit verbundenen Zeitlichkeits-Verhältnisse habe ich an anderer Stelle detaillierter als ZuI-Verhältnisse adressiert und beschrieben. Siehe (Iw 18 f.); und vor allem (Abel 1994: 27– 32).
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trefflich gehalten werden, ohne dass uns dies bereits auf Hegels späteres ‚System‘ verpflichtet oder gar festlegt. Die ‚Arbeit der Explikation‘ erfolgt, so möchte ich sagen, als ZuI-Arbeit, in ZuIProzessen. Diese Prozesse sind in ihrem Verlauf nicht vorab determiniert, weder kausal noch logisch noch auf irgendeine andere Weise. Auf der anderen Seite jedoch sind die ZuI-Prozesse keineswegs beliebige und relativistische Prozesse. An vielen Stellen habe ich betont, dass der Relativismus der Beliebigkeit nicht nur kein Verständnis des flüssigen, anschlussfähigen und selbstverständlichen Funktionierens der unser Leben ausmachenden ZuI-Prozesse zu liefern vermag. Vielmehr muss er angesichts solch flüssigen Funktionierens seine Waffen strecken.
3 Re-Konzeption der Rationalität Sehr richtig sieht Elena Ficara, dass der von mir betonte und für die ZuI-Philosophie kennzeichnende Vorrang des Zeichen-Vollzugs vor (a) der Zeichen-Analyse, (b) der Zeichen-Deutung und (c) der Zeichen-Diskursivierung auch Konsequenzen für eine Re-Konzeption von Rationalität hat. Der „rationale und normative Aspekt“ tritt nicht erst nachträglich und sekundär auf den Plan. Er ist „vielmehr in unserem Sprechen, Denken und Handeln stets bereits intern mitgesetzt“ (Kap. 4). Dass Ficara hier Verbindungen zum zeitgenössischen analytischen Pragmatismus (vor allem Robert B. Brandoms) sieht, werde ich in Abschnitt 4 erörtern. Zunächst jedoch ist mir wichtig herauszustellen, dass die ZuI-Philosophie intern mit einer Re-Konzeption von Rationalität verknüpft ist.⁵ Zunächst möchte ich den epistemologischen (mithin weder einen ontologischen noch einen apriorischen) Sinn von Rationalität betonen. Grund für diese Betonung ist schlicht der Umstand, dass die epistemische Situation von uns Menschen nicht die von Göttern, Rationalität mithin stets Rationalität nach Menschenmaß, nicht nach Göttermaß ist. Mithin tritt auch die Frage der Rationalität innerhalb, nicht außerhalb der ZuI-Verhältnisse auf. Dort allerdings, innerhalb der ZuI-Verhältnisse, spielt sie eine unverzichtbar wichtige Rolle. Den epistemologischen Sinn der Rationalität möchte ich kurz anhand von vier Unterscheidungen präzisieren. (i) Enger und weiter Sinn von Rationalität. – Der enge Sinn von Rationalität bezieht sich auf Aspekte wie logische Konsistenz, Eindeutigkeit, inferentielle Si-
Eine detailliertere Entfaltung dieses Punktes habe ich gegeben in Rethinking Rationality (Abel 2016). Im Folgenden greife ich auf Materialien aus dieser Abhandlung zurück.
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cherheit, Gültigkeit über wechselnde Kontexte hinweg, Diskurs- und Konsensfähigkeit. Der weite Sinn von Rationalität bezieht sich auf Aspekte wie Stimmigkeit, Kohärenz und Passen dessen, was wir meinen, glauben und wissen, zu den Strukturen unseres Sprechens, Denkens und Handelns sowie zum Netzwerk und Hintergrund unserer Erfahrungswirklichkeiten und grundbegrifflichen Orientierungen. Die Merkmale des engen wie des weiten Sinns von Rationalität spielen in unserem Leben, Sprechen, Denken und Handeln eine überaus wichtige, weil ordnende, organisierende und orientierende Rolle. In genau diesen Funktionen können sie offenkundig als spezifische ZuI-Prozesse unterschiedlicher Art adressiert und behandelt werden. (ii) Interne und externe Regeln. – Interne Rationalität und die ihr zugehörigen internen Regeln beziehen sich vor allem auf die soeben angeführten formalen Anforderungen. Externe Rationalität und die ihr zugehörigen externen Regeln lassen sich vor allem im Blick auf Handlungen von Personen illustrieren. Beispiele für externe Regeln sind: Regeln der Kommunikation; moralische Regeln (z. B. der Fairness); soziale Normen und Verhaltensmuster innerhalb einer Gesellschaft; Regeln der Verfassung und des Rechts. Regeln sind in dem Sinne ZuI-Konstruktionen, dass sie die Regeln, die sie sind, überhaupt nur in Folge der ZuI-Grenzen sind, die durch sie gezogen werden. (iii) Lebensweltliche Fundierung. – Die Standards der Rationalität sind in Lebenswelten fundiert und verkörpert. Diese Feststellung gilt sowohl hinsichtlich des Bereichs des Theoretischen (in Bezug zum Beispiel auf erfahrungswissenschaftliche Modelle und die diese regierenden Weltbilder) als auch hinsichtlich des Bereichs des Praktisch-Ethischen (in Bezug zum Beispiel auf tatsächlich gelebte Sittlichkeit und tiefsitzende normative Strukturen und Regeln). Die fundierende Lebenswelt ihrerseits kann weder rational noch irrational genannt werden, da die Rational-Irrational-Unterscheidung selbst überhaupt erst aus ihr heraus und auf sie hin ins Spiel kommt. (iv) Pragmatische statt universalistische Rationalität. – Menschliche Rationalität muss sich bewähren und zwar unter den Bedingungen unsicherer Lebensverhältnisse, nicht eliminierbarer Risiken, begrenzter Zeit und begrenzten Wissens in Bezug z. B. auf Entscheidungen, bei denen unter Umständen viel auf dem Spiel steht, im Grenzfall Leben oder Tod. In der Regel funktionieren unsere entsprechenden ZuI-Mechanismen bemerkenswert gut. Solche Erfolge würden wir jedoch nicht erzielen, handelte es sich bei der Rationalität lediglich um die externe Applikation eines vorab fest-stehenden universalistischen oder apriorischen Systems von Regeln. Erfolgreiche Rationalität nach Menschenmaß kann letztlich nur pragmatische und eben darin menschliche ZuI-Rationalität sein. Andernfalls könnte sie ihre so wichtige, weil lebensdienliche Funktion nicht entfalten. Sie
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ginge dann an unseren Lebens- und Erfahrungswirklichkeiten sowie den auf diese bezogenen Aufgaben des Problemlösens vorbei. Des näheren werden unsere rationalen Ordnungen, Orientierungen, Interventionen und aktiven Gestaltungen auf eine Weise vollzogen, die in resonanter Übereinstimmung mit den Verfasstheiten derjenigen ZuI-Prozesse steht, die unser Leben ausmachen und dazu führen, dass wir so leben, wahrnehmen, sprechen, denken und handeln, wie wir dies nun einmal tun. Solche Rede von ‚Übereinstimmung‘ betrifft einen höchst komplexen Punkt. Hier möchte ich erneut auf den Unterschied zwischen Zeichen-Vollzug und Zeichen-Deutung zurückgreifen. Der Rückgriff erfolgt dieses Mal jedoch entlang des Unterschieds zwischen dem, was ich in puncto Rationalität den ‚Zeichenlogos‘ und die ‚Rationalität der Interpretation‘ genannt habe (Abel 2016). Mit ‚Zeichenlogos‘ adressiere ich das direkte Verwenden und Verstehen von ZuI-Prozessen. Solcher Zeichenlogos ist präsent, manifest und verkörpert zum Beispiel (a) im direkten Zeichenhandeln (z. B. einer freundlich einladenden Geste) und im direkten Zeichenverstehen (z. B. eines Witzes, der keiner weiteren Deutung und Erklärung bedarf); (b) in gelingenden Metaphern, die auf den Punkt und ohne weitere Erläuterungen sitzen; oder (c) im Sich-Zeigen, so wie dieses zum Beispiel vorliegt, wenn wir eine Handlung, einen Gedanken oder eine Körperbewegung direkt, ohne zusätzliche epistemische Vermittler erfassen und mit unseren eigenen Reaktionen und Handlungen flüssig und selbstverständlich anschließen können. In allen drei Bereichen sind Übereinstimmungen in den jeweiligen ZuI-Praxen stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen. In jedes Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln sind bereits auch Kohärenzanforderungen involviert. Sie können zugleich als Rationalitätsannahmen angesehen werden, da sie den Vollzügen unserer ZuI-Praxen auf regulative Weise immanent sind. Der Erfolg solcher Annahmen bemisst sich schlicht daran, ob Verständigung, Kooperation und Handlungs-Koordination aufrechterhalten und flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich fortgesetzt und erweitert werden können und ob auftretende Störfälle beseitigt werden können oder nicht. Als Kohärenz- und Rationalitätsanforderungen kommen in der Regel nur solche Komponenten in Frage, die sich intern aus dem ergeben, was es heißt, sich in sprachlichen und nicht-sprachlichen ZuI-Verhältnissen, in Handlungszusammenhängen und in einer Lebenspraxis, kurz in ZuI-Praxen zu bewegen. Diesem Bild zufolge artikulieren die Standards der Rationalität genau diejenigen sinn-kritischen Präsuppositionen, die wir bei uns selbst als erfüllt unterstellen, sofern wir uns als kohärente und sinnvoll zeichen-verwendende, wahrnehmende, sprechende, denkende und handelnde Personen verstehen. Beispiele solcher ZuI-Rationalitätsanforderungen sind unter anderen die folgenden (siehe ausführlich ZdW 313 – 315 und SZI Kap. 4.3):
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(a) Gib derjenigen Interpretation den Vorzug, die eine Verständigung und den jeweiligen Handlungszusammenhang aufrechtzuerhalten und fortzusetzen vermag. (b) Bevorzuge diejenigen Interpretationen, die das fraglich gewordene Zeichen in den Rahmen der von ihm her und auf es hin relevanten Handlungsmöglichkeiten stellt. (c) Vermeide Zeichen und Interpretationen, die mit der eigenen bisherigen ZuI-Verwendung und mit der anderer Personen unvereinbar sind. (d) Vermeide Zeichen und Interpretationen, die zu Inkonsistenzen, Inkohärenzen und Selbstwidersprüchen führen. (e) Bevorzuge solche Zeichen und Interpretationen, die den Sätzen der Sprache anderer Personen Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen und den Handlungen anderer Personen Richtigkeitsbedingungen zuordnen. (f) Bevorzuge diejenigen Zeichen und Interpretationen, die als gut gesichert geltende inferentielle und deduktive Beziehungen zwischen Urteilen nicht ohne Not preisgeben. (g) Ziehe diejenigen Zeichen und Interpretationen vor, die dem Sprecher oder Akteur ein angemessenes, nicht-nachteiliges, nicht systematisch gegen das Netzwerk seiner Überzeugungen, Wünsche und Interessen verstoßendes Verhältnis zu (Um)Welt und Mitmenschen zuerkennt. (h) Bevorzuge diejenige Interpretation, die in Wahrnehmungssituationen die sinnliche Evidenz bewahrt. (i) Präferiere diejenigen Zeichen und Interpretationen, die mit der Erfahrungswirklichkeit sowie der empirischen Gültigkeit der betreffenden Ausdrücke und Handlungen zusammengehen. (j) Gib denjenigen Zeichen und Interpretationen den Vorzug, die möglichst weniger Erläuterungen bedürfen, mithin in die Nähe des direkten Zeichenverstehens und des direkten Handlungsvollzuges führen.
4 Zeichen- und Interpretationsphilosophie und die zeitgenössische pragmatistische Aneignung Hegels Aufschlussreich lenkt Elena Ficara die Aufmerksamkeit auch auf Verbindungen und Unterschiede zwischen der ZuI-Philosophie und zeitgenössischen pragmatistischen Aneignungen Hegels sowie des analytischen Pragmatismus, wie er insbesondere von Robert B. Brandom vertreten wird. Richtig sieht Ficara (s. Kap. 4), dass die ZuI-Philosophie mit ihrer Betonung der ausgezeichneten Rolle der ZuI-Vollzüge und der ZuI-Praxis in grundsätzlicher Verwandtschaft mit dem Pragmatismus (vor allem jedoch Jamesscher und Deweyscher Prägung) gesehen werden kann. Auf diesen Punkt kann ich hier nicht im Einzelnen eingehen. Aber ich möchte ausdrücklich auf meine Replik zu dem Beitrag von Robert Schwartz im
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vorliegenden Band verweisen, in der ich meine Haltung zum Pragmatismus im Einzelnen dargelegt habe. Angemerkt sei lediglich, dass ich in puncto pragmatische Dimension nicht die Position des von Brandom favorisierten ‚analytischen Pragmatismus‘ teile. Zum einen (a) verteidigt die ZuI-Philosophie nicht einen Inferentialismus Brandomscher Prägung. Zum anderen (b) geht die ZuI-Philosophie nicht davon aus, dass die Tiefenschichten der ‚meaning-use‘-Prozesse so verfasst sind, dass es sich in ihnen bereits um rationale Prozesse handelt, die dann aus ihrem impliziten Status in explizite Diskursivität fortgeschrieben werden könnten. Demgegenüber vertrete ich die folgenden beiden Thesen: (a) Im Übergang vom impliziten Wissen zum expliziten und diskursivierbaren Wissen wird nicht bloß bereits Vorhandendes explizit gemacht. Vielmehr treten neue Komponenten hinzu, wie zum Beispiel die explizite Intersubjektivität, die Diskursivität, das Geben-von-Gründen und die Argumentation im logischen Raum der Gründe. (b) Der Übergang von einem Zeichen und einer Interpretation zu seinem Folgezeichen und seiner Folgeinterpretation ist trotz aller Rationalitätsanforderungen der oben angeführten Art kein deterministisches, sondern ein offenes und freies Verhältnis. Der Übergang ist weder logisch noch kausal noch auf irgendeine andere inferentielle Art determiniert. ZuI-Prozesse sind keine determinierten und deterministischen Prozesse.⁶ Übrigens zeigt sich in beiden Hinsichten (Übergang vom Impliziten zum Expliziten, Verhältnis von Zeichen und Folgezeichen) ein durchaus wichtiger Unterschied auch zwischen der ZuI-Philosophie und Hegels dialektischer Phänomenologie und Logik (die bei Brandom Aufnahme im Sinne seines analytischen Pragmatismus finden). Hegel zufolge fördert jede spätere Entwicklungsstufe und jede spätere Auseinanderlegung der Gestalten des Bewusstseins sowie der Denkbestimmungen die zunächst noch eingekapselte Wahrheit der jeweils vorangegangenen Gestalt des Bewusstseins und der Denkbestimmung zutage. So wurde zum Beispiel oben in Abschnitt 2 das Urteil ‚in seiner Wahrheit‘ als Schluss deutlich. Die spätere Stufe zeigt (so die Hegelsche Vorstellung, die die ZuI-Philosophie nicht teilt), dass, im Modell der ZuI-Philosophie gesprochen, die vorangegangene Stufe eingekapselt bereits ein sich selbst noch nicht durchsichtiges ZuI-Konstrukt der nächst höheren Stufe war. Zwar ist Hegel durchaus der Auffassung, dass der Fortgang in der Entwicklung der Gestalten und Denkbestimmungen zu einer Selbst-Destruktion alter und zur Generierung neuer Wahrheiten führt. Und auch betont er, dass diese Entwicklung nicht zu einem ultimativen
Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf meine Replik zu Chung-ying Cheng im vorliegenden Band.
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Abschluss kommt. Aber entschieden betont die ZuI-Philosophie demgegenüber den skizzierten Punkt, dass das Implizite nicht einfach bloß ins Explizite übergeht – so dass das Explizite dann gleichsam nur noch als eine Art Presseerklärung des Impliziten erscheint. Vielmehr kommt bei jeder dieser sich nach Art von Emergenzen und Genealogien vollziehenden Gestaltungen und Übergängen etwas genuin Neues hinzu. Dieses Neue lässt sich nicht reduktionistisch auf eine Entwicklungsgeschichte zurückführen, die kontinuierlich von gleichsam impliziten und noch schlafenden Agenten zu expliziten und aufgeweckten Akteuren und Diskursivitäten im logischen Raum der Gründe führt.⁷ Dieser Unterschied zwischen ZuI-Philosophie und Hegelschem Denken bezieht sich auch auf die von mir des Öfteren herangezogene Trias von Meinen, Glauben und Wissen, die Kant als die drei Modi des Fürwahrhaltens thematisiert hat. Auch hier ist es meiner Meinung nach nicht so, dass das Meinen ‚in Wahrheit‘ bereits ein sich selbst noch nicht bewusstes Glauben und letzteres bereits ein sich selbst noch nicht bewusstes Wissen sei (vgl. ZdW Kap. 10.3). Diesen Befund möchte ich auch auf den topologischen Raum der unterschiedlichen Wissenstypen (wie z. B. des sprachlichen, bildlichen, musikalischen, propositionalen, wissenschaftlichen, ästhetischen oder ethischen Wissens) ausweiten. Bei den Wissenstypen haben wir es der ZuI-Philosophie zufolge mit einer irreduziblen Vielfalt von Typen des Wissens zu tun, die zudem mit je eigenen, nicht aufeinander reduzierbaren und nicht auseinander ableitbaren Evidenzweisen ausgestattet sind (siehe dazu Abel 2015 und den programmatischen Basistext zur Systematischen Wissensforschung Abel 2012). Aus Sicht der ZuI-Philosophie besteht auch keine Möglichkeit, die unterschiedlichen Wissenstypen im Zuge der Reflexion in nur eine einzige Wissensform (etwa die sprachlichpropositionale oder die szientistische Wissensform) hinauf reflektieren zu können. Es ist kein Zufall, dass bislang niemand die Regeln der diesbezüglich erforderlichen Transformationen hat vorlegen können. Vor diesem Hintergrund wäre jetzt auch in einen Dialog über die veränderte Aufgabe und Rolle der Philosophie einzutreten. Hier sieht Ficara zu Recht einen deutlichen Unterschied zwischen der ZuI-Philosophie und dem Pragmatismus etwa Rortyscher Provenienz und dessen defätistischer Betonung des Endes der öffentlichen Relevanz der Philosophie. Ficara hat völlig Recht, wenn sie hervorhebt, dass demgegenüber die Philosophie in meiner Sicht eine überaus wichtige Rolle zu spielen hat: in puncto grundbegriffliche und argumentative Kompetenz; in puncto Reflexion der Natur unseres Erlebens, Sprechens, Denkens und Handelns; hinsichtlich der Grundfrage, wie wir (in der Ersten-Person-Perspektive)
Zum Übergang von implizitem in explizites Wissen siehe (Abel 2013a).
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unser Leben richtig führen; und in puncto öffentliche Einmischung in die öffentlichen Dinge, die unser Leben gegenwärtig so nachhaltig beeinflussen und verändern (siehe detaillierter Abel 2008, Abel 2013b und ZdW Kap. 13).
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1994: Was ist Interpretationsphilosophie?, in: Simon, Josef (Hg.): Zeichen und Interpretation, Frankfurt a. M., S. 16 – 35. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2008: Was ist und was kann Philosophie?, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Philosophie, wozu?, Frankfurt a. M., S. 15 – 39. Abel, Günter 2012: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52. Abel, Günter 2013a: Das ungenutzte Wissen, in: Der Schein des Neuen. Thesen zum Mythos Innovation, hg. von W.I.R.E. (Web for Interdisciplinary Research & Expertise), Nr. 11, Zürich, S. 29 – 36. Abel, Günter 2013b: Filosofia e sfera pubblica, in: Perone, Ugo (Hg.): La filosofia nello spazio pubblico, Torino, S. 11 – 25. Abel, Günter 2016: Rethinking Rationality: The Use of Signs and the Rationality of Interpretations, in: Wagner, Astrid / Ariso, José Maria (Hg.): Rationality Reconsidered. Ortega y Gasset and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 9), Berlin / Boston, S. 15 – 29. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1952: Phänomenologie des Geistes, 6. Aufl. hg. von J. Hoffmeister, Hamburg. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1970: Werke, Frankfurt a. M. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1975: Wissenschaft der Logik, hg. von G. Lasson, 2. Aufl., Hamburg. Peirce, Charles Sanders 1976: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. von K.-O. Apel, 2. Aufl., Frankfurt a. M. Sextus Empiricus 1968: Pyrrhones Hypotyposes I; dt. als: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, übers. u. eingeleitet v. M. Hossenfelder, Frankfurt a. M. Simon, Josef 1982: Dimensionen der Sprache in der Philosophie des Deutschen Idealismus, hg. von B. Scheer und G. Wohlfahrt, Würzburg.
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Pragmatism, Inquiry, and Knowledge Abstract. Pragmatic instrumentalism is best understood as a naturalistic account of scientific inquiry, not an ontological thesis meant to draw a line between elephants and electrons. Theories as wholes, not merely their more rarified, abstract, or non-observational parts are tools. Pragmatic instrumentalism runs all the way down as well as all the way up. The motivating theme of this paper is to show the advantages adopting such an instrumentalist stance has over standard accounts of inquiry that focus on the pursuit and acquisition of propositional knowledge. I will not here attempt to challenge directly the core notions of belief, truth, and justification that underlie this latter model. Rather I will argue for the superiority of the pragmatic approach in handling several longstanding epistemological puzzles. Each of these puzzles is concerned with issues relating to our understanding of probabilistic justification. I must warn, though, that I am not going to offer solutions to these problems as they are usually conceived and in the specific contexts in which they are traditionally discussed. Instead, I wish to show why from a pragmatic instrumentalist perspective the puzzles pose no difficulties that cannot be dealt with or profitably dodged. I hope that consideration of such advantages may help loosen the grip the traditional account of inquiry has in epistemology.
I share with Günter Abel a pragmatic approach to inquiry. In turn, I share many of his qualms over the significance of propositional knowledge and its status as the goal of inquiry.¹ In a recent book, Rethinking Pragmatism (Schwartz 2012), I have spelled out my understanding of this view, as rooted in the works of the classic American Pragmatists. In this paper, I will attempt to show the advantages of adopting such a pragmatic instrumentalist stance over standard accounts of inquiry that focus on the pursuit and acquisition of propositional knowledge. Before proceeding with this task I think it important to offer some words of caution. Pragmatism is both deconstructive and reconstructive, and it is difficult to accept the latter without taking into account the former. On its deconstructive
See, for example, (Abel 1999; 2008; and 2012b). See also (Abel 2009; 2012a) for analyses and discussions of the cognitive importance of knowing how and other forms of non-propositional knowledge. https://doi.org/10.1515/9783110522280-072
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side pragmatists argue that many of the classic problems in philosophy rest on untenable dualisms. They are typically formulated as a choice between two mutually exclusive options. Once such dualisms are assumed, however, pragmatists believe it becomes impossible to solve the problems. For the correct solutions do not fall squarely on either side of the divide. Often the best policy is to dissolve the problems as usually conceived and start with a clean slate. Pragmatists do recognize that serious issues will remain, and they do wish to address them. But they refuse to be bound by the dualist assumptions they see as standing in the way of sound solutions. Those enmeshed in the traditional problematic, though, find it impossible to accept what pragmatism has on offer. For these critics pragmatic solutions are no solutions at all, since they do not fit within the framework they assume gives rise to the problems in the first place. Thus the pragmatists’ positions are taken either to be outside the space of tenable answers or to fail so much as to even address the deep philosophical issues at stake. I believe much of the criticism of the pragmatic theory of inquiry is of this sort. The pragmatists’ account does not meet their opponents’ expectations, and so they find them unacceptable on their face. In what follows, I will not attempt to overcome such resistance. Instead, I will argue for the pragmatists’ position on the grounds that it can sidestep or resolve three epistemic puzzles that have long plagued traditional accounts of propositional knowledge and its relationship to inquiry. Pragmatism is frequently and correctly characterized as an instrumentalist theory. Instrumentalism, however, means different things to different people, and in discussions of inquiry it is important to keep two of its interpretations apart. The most discussed version of instrumentalism is anti-realist instrumentalism. It maintains that certain kinds of terms or concepts employed in theories do not or should not be thought of as purporting to denote. At one time, for example, it was fashionable to argue that existential status should be reserved for sense experiences and terms describing them. More influential has been the claim that although science employs both observational and non-observational terms, statements containing the latter should not be assigned existential significance. Theoretical, non-observational concepts may be useful and perhaps indispensable for the scientific enterprise, but there is no compelling reason to hold the world is populated with the entities they seemingly pick out. Anti-realist instrumentalism in various guises is essentially an ontological thesis. It rests on claims about the nature and significance of distinguishing concepts and theories that do purport to denote real existents and those that do not. While there are similarities between the views, pragmatic instrumentalism differs in important ways from the anti-realist variety. Pragmatists working in
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the tradition of James and Dewey are primarily interested in championing the idea that concepts and theories are to be understood as symbolic instruments. As such, they are to be judged by their use, how well they enable us to navigate physically and intellectually those places we must or wish to go. Pragmatic instrumentalism does not take a stand on which, if any, kind or kinds of predicates are to be understood as non-denoting. Pragmatists are willing to consider whether particular anti-realist claims about specific posited entities are justified, but settling such matters is the job of science and is not central to their mission. Indeed, making broad invidious distinctions among vocabularies runs against the grain. For such distinctions typically rest on one or another of the epistemological dualisms pragmatists are the first to decry.² Pragmatic instrumentalism is best understood as a naturalistic account of inquiry, not an ontological thesis meant to draw a line between atoms, apples and asteroids. All concepts and theories, not merely some rarified abstract or non-observational ones, are tools. Pragmatic instrumentalism runs all the way down as well as all the way up. If there is an anti-realist thesis to be found in pragmatic instrumentalism, it is of a global sort. Treating words as instruments has serious implications for accounts of the semantic notions of ‘reference’, ‘meaning’ and ‘truth’. Accordingly, it has implications for traditional approaches to the issue of realism versus anti-realism in general. Pragmatists believe their account of instrumentalist representation undermines the very coherence of the metaphysical language-world assumptions that fuel the whole debate.³ A brief clarification of several core ideas of pragmatic instrumentalism can forestall some misunderstandings and allay oft-raised criticism. First, although the position is frequently labeled ‘anti-representational’, I think this is misleading. Pragmatic instrumentalism does not downplay the importance of representation per se rather it offers an alternative account of the underlying semantics of representational systems. It stresses as well the need to expand the class of sym-
See (James 1981: Lecture V). Dewey (Schilpp / Hahn 1989) emphasizes the importance of the distinction in a reply to Reichenbach whom he argues conflates the two types of instrumentalism. See also (Morgenbesser 1998) and (Godfrey-Smith 2002). James and Dewey would have no trouble allowing, for example, that ‘P’ is true if and only if P. They did contend, however, that the standard accounts of truth and other referential notions relied on faulty understandings of the nature of the ‘correspondence to reality’ relation as it emerges in inquiry. For more details on their position see (Schwartz 2012). See (Abel 1991; and 1999: Part I) for similar concerns about realism, anti-realism and related ontological debates in general. See also (Goodman 1978) and (Fine 1984a).
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bols used in inquiry. Graphs, maps, models, music scores and a host of other representational systems play a role.⁴ Second, linguistic and other forms of representation function instrumentally both in guiding physical action and in navigating the intellectual environment. A good map can be of aid in exiting the forest, but it may be even more crucial in deriving a conclusion about the possible course of an historical event or in subverting a promising geological hypothesis. The claim that theories should be evaluated in terms of practice and working is not to be confused with the view that success in practical affairs is the sole or most important indicator of instrumental value. Confirmed inductions, interesting deductions and increased understanding are the main satisfactions many a theoretical enterprise provides. In many areas of inquiry the payoffs are entirely of a cognitive sort. Finally, pragmatic instrumentalism has firm fallibilist commitments. Any theory currently in use may be improved or eventually abandoned. Improvements aimed at overcoming today’s failures and unmet demands can be major or minor. And subsequent improvements or abandonment will often be in response to presently unnoticed failures and unfathomable needs. There is, furthermore, no reason to presume that at any given time there must be only a single best instrument that fits all practical or intellectual demands. One instrument may be better for some tasks but not as good for others. Or one may be simpler but have less scope than a competitor. There are tradeoffs. Such pluralism is not only unavoidable it is beneficial, and it can be embraced without renouncing objective standards. With these clarifications in mind, I wish to examine the place and significance of several longstanding epistemological puzzles when viewed from a pragmatic instrumentalist perspective. As forewarned, I will not be offering solutions to these puzzles as they are usually conceived or in the specific contexts in which they are traditionally discussed. Instead, I wish to show why for a pragmatic instrumentalist they pose no difficulties that cannot either be dealt with or profitably dodged.
Following the lead of Nelson Goodman, Abel (1991; 2012c) and throughout his other writings stresses the role of non-linguistic systems of representation in cognition. See also (Schwartz 1996).
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1 The Pessimistic Induction Puzzle History it is said shows that most past theories of scope and depth have proven faulty. We no longer believe their main tenets and in many cases find it hard to consider them suitable for serious discussion. This evidence of mass failure has been claimed to offer strong inductive evidence that current theories, too, will not pan out. In particular, there is little reason to have much confidence that their theoretical hypotheses will survive further inquiry. Full belief in currently proffered theories is unwise, if not epistemologically without warrant. This challenge to the justification of scientific beliefs is taken to have important metaphysical consequences, and it has become a focus of attention in debates over realism. Proponents as well as opponents of realism seem to agree that accepting the inductive pessimism argument encourages or entails an account of science that undermines realist doctrines. Not surprisingly, there is a voluminous literature responding to the pessimistic induction argument and the dilemma it supposedly poses. Some critics reject one or more of its premises. They claim that a charitable reading of the past shows that many early theories are not false or mistaken in the way the argument assumes. Other critics accept the harsh evaluation of the history of science, but deny that it implies or gives good grounds for supposing that present theories are similarly afflicted. An alternative defense is to admit that past failures do indicate that current theories are, in some sense of probability, probably false. Still, it is maintained, this is not reason to reject them. For history shows that by and large new theories do get closer to the truth than those they displace. Perhaps it is epistemologically prudent not to assume that current theories are literally true, but since it is reasonable to hold that they converge on the truth, there is a realist justification for believing them. This last argument, of course, depends both on making sense of the idea of getting closer to the truth and on showing that theory development historically has followed this trajectory.⁵ I do not propose here to examine the strengths and weaknesses of these and other attempts to rebut or solve the pessimistic induction puzzle. My aim is to spell out how the situation looks to a pragmatic instrumentalist, and why from this standpoint the puzzle is not a troubling concern. To appreciate the pragmatic view, however, it is most important to keep in mind the earlier highlighted distinction between pragmatic instrumentalism and anti-realist instru-
See (Stanford 2003) for a critical analysis of the topic and for references to many of the most discussed recent writings on it. (Psillos 1999) provides additional views of the controversy.
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mentalism. Pragmatic instrumentalism is not an ontological doctrine rather it purports to offer an account of the nature of sound inquiry. Now in the context of inquiry, everyone can agree that if there is work to be done, it makes good sense to employ the best tools available to meet the demands of the task. Since, according to pragmatic instrumentalism, theories are symbolic devices for coping with the physical and intellectual environment, there is no puzzle why we employ those theories that have proven their worth. Any instrument, symbolic or non-symbolic, will undoubtedly have weak parts, and any may fail on new tasks. It is a safe bet that in time a good number of those tools in use today will be altered or abandoned. The unremitting fact is there always is plenty of work that needs to be done. So unless it is feasible to postpone such undertakings without major loss, we have no options. One makes do with the seemingly best category schemes and hypotheses at hand. In addition, the development of better tools, symbolic or non-symbolic, requires exploring and paying close attention to the deficiencies of those in use and measuring improvement and success against them. None of these last remarks should be controversial. Opponents of pragmatic instrumentalism can and do say comparable things. They, too, maintain that new theories tend to be better than their predecessors, that science tends to be conservative, and that most frequently there is no alternative to repairing theoretical boats while at sea. The advantage of pragmatic instrumentalism has over its critics’ position is not that it enables saying more, but that it offers a more satisfactory way to get by while saying less that is of questionable merit. Pragmatic instrumentalism sees no special need to combat or mount a defense against the premises or the logic of the pessimistic induction argument. The recognition of past theoretical failures and the attendant expectation of the future breakdown of current theories do not raise any serious difficulty. It provides no reason at all for thinking that we are not on firm epistemic ground when employing the best instruments on the market. If a current theory looks to be the most reliable means for coping with the environment, making predictions and pointing the way to future inquiry, what further justification is needed to use it both in practical affairs and in the practice of science? Of course, being best at satisfying current demands is no reason for complacency. It does not imply that the best available tools are or are thought to be practically or intellectually satisfactory. Their inadequacies and the need for repair or eventual abandonment may be beyond dispute. At the same time, pragmatic instrumentalism can escape the inductive dilemma without having to fight convergent realist battles over the nature of truth and the propriety of the claim that science seeks and scientific success depends on getting closer to it. The pragmatic instrumentalist’s flight from this
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fight is neither due to intellectual cowardice nor to any relativist reluctance to defend objectivity. It stems instead from an intellectual conviction that there is nothing much worth fighting over. Instruments for surgery, cooking, and transportation, for example, get better all the time, and it is not surprising why. Smart people devote a lot of thought and energy seeking to make improvements. Needless to say, this work is not accomplished a priori. It requires study, experimentation and proper heed to experiential results – results that we are neither free to make up nor ignore. Round tire wheels do work better on bicycles and trucks than square ones. This is a mind-independent constraint that transportation designers must take into account. Anything does not go. Nothing of epistemological substance, however, is added to an explanation of the development of more satisfactory bicycles and airplanes by claiming that success or progress requires getting closer to the way the world is or to some preexisting ideal travel instrument. Preferred tools are the ones that enable us to cope better with the realities encountered in their employment. To insist that such success results from or shows that these transportation instruments correspond (better) to Reality does not shed further light on the nature of their designers’ accomplishments. Pragmatic instrumentalism urges treating the development, application and success of symbolic tools along much the same lines. We justify their use because, or to the extent, they work. Put to the test, they satisfy cognitive and everyday needs as well or better than available alternatives. Good theories are those that economically organize past commitments and present experience. They enhance understanding and lead to fruitful predictions and manipulations of the environment. We alter defective theories in an attempt to make them more satisfactory instruments for meeting current demands. That, by itself, is enough to account for theory development and to justify employing today’s satisfactory theories in practice and thought. For the pragmatic instrumentalist, additional claims that the success of symbolic instruments results from or demonstrates that they correspond (better) to Reality or converge on the truth are glosses that are neither required nor illuminating. And when taken too literally they distort.⁶ This is not to suggest that we cannot or should not seek explanations why a particular theory works or works better than the alternatives. Pragmatic instrumentalists, nevertheless, are skeptical of abstract context-free schemes for explaining scientific success, especially those of a wholesale metaphysical stripe. Retail explanations are fine. We can, for example, readily explain why steel kni-
See (Leeds 1995) for further criticism of the success argument.
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ves are better for surgery than sharp stones or why airplanes can fly. We do so in terms of accepted ideas of physiology, metallurgy and aerodynamics. Similarly, explanations of specific theoretical successes are not a problem. They are to be found locally, within the sciences themselves. Many find this solution unacceptable, appeals to correspondence truth may be the only way to provide them comfort. But such appeals do not provide additional insight. They are explanatorily idle. As fallibilists we can never be sure or assured that we have reached the final eternal truth. The most we can have is evidence that our present theory is not only the best available but that it has no parts in need of repair and no problems in need of a solution. We see no room for improvement. Admittedly, the claim that the theory is absolutely true or will be left standing at the end of science may appear to say more. Just what more it says, however, has never been easy to articulate. The situation is not much better with the more modest claim that we are justified believing present theories, because they have gotten us closer to the truth. I, like many others, find the idea of ‘getting closer to the truth’ impossible to spell out substantively. Even when taken metaphorically it remains immeasurable other than in terms of being practically and intellectually better than where we were. The notion of improvement may not be as precise as that of semantic truth, but it does seem to be one that we can and do use in evaluating the fruits of inquiry. In sum, pragmatic instrumentalists have no pressing reason to engage in or challenge the soundness or validity of the pessimistic induction argument. Moreover, they have no metaphysical or epistemic reasons in principle to be skeptical about the theoretical or unobservable. The inductive argument, if anything, lends support for the fallibilist stance they advocate. Pragmatic instrumentalism’s response to human fallibility and past failures, though, is optimistic. To be convinced that today’s theories are not totally satisfactory but are quite likely to be improved upon in time is no cause for pessimism. Inductive evidence of the track record of smart people working hard on technical and intellectual problems is promising. In fact, it does seem a little perverse to be upset at the prospect that things and theories have a good chance of getting better. Inductively bred pessimism may lead some down a path of anti-realism or full-blown skepticism. For the pragmatist, beyond supporting fallibilism, it has no central epistemic role to play in elucidating the practices of inquiry. Pragmatic instrumentalist optimism is not founded on realist metaphysical assumptions. It is supported inductively, inspired by the long history of human achievements. History shows that we usually do find ways to improve on the physical and intellectual tools we employ or develop new ones that do the job better. Further arguments over whether or not we know or are justified
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in claiming to know what today’s best theories tell us is of little import in an account of the practices of inquiry. It has no useful normative work to do. The implications of the pessimistic induction puzzle for a pragmatic instrumentalist account of inquiry can and have been discussed above at one remove from positions taken on the proper analysis of belief and the role probability plays in the fixation of belief. Not so with the next two puzzles. They find their natural homes in such contexts. Once again, though, I will not examine these puzzles within their customary epistemological frameworks. My goal is to explore how the difficulties they raise can be dealt with or avoided from a pragmatic instrumentalist perspective.
2 The Preface Puzzle Although the preface puzzle shares structural features with the inductive pessimism argument, it does not depend in quite the same way on evaluations of past successes and failures. Informally stated, the dilemma arises from little more than the mundane conviction that if we make a large enough number of separate claims, the odds are not all will hold up. The author of a book or long article, it is said, may justifiably believe each sentence of her work, but believing that they are all true would be unjustified. After all, who’s perfect? Probability considerations can be cited to raise the puzzle in another way. Assume that an author should assert / publish only those statements she takes to have high inductive probability, a probability assignment that reflects or is reflected in a high degree of confidence in their truth. According to the laws of probability, p$A&B" # p$A". And for sentences meeting certain independence conditions, p$A&B" & p$A" % p$B". In such cases it follows that no matter how high the confidence standards for publication are set, short of 1, large conjunctions of the individual sentences will often be assigned a probability value that does not come up to this credence level. Thus the paradox arises whether an honest author should warn readers in a preface that although they are encouraged to believe each statement the work contains, they should not harbor the same attitude toward the totality or large conjunctions of these very same statements. From a pragmatic instrumentalist standpoint, the disturbing tug of the preface puzzle, like that of the inductive puzzle, rests in part on misdirected pessimism. Inductive pessimism reflects the view that history shows that many, if not all, beliefs of scope and depth have a good chance of turning out to be wrong. As I am presenting it, the preface puzzle has different pessimistic roots. It is provoked not by the history of past failures, but by the idea that con-
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siderations of human frailty, probability, and logic make it unwise to put trust in the truth of sizeable bunches of beliefs. Preface pessimism concerns sets or conjunctions of statements; it need not extend to their individual components. Pragmatic instrumentalism once more urges optimism. Looked at from a pragmatic standpoint there is no useful work such a preface alert can or hope to accomplish. Being staunch fallibilists, pragmatists do not have stout convictions that any given sentence of scope and depth found in a text will be eternally worthwhile. And they have no need to be reminded that additional caution is appropriate when betting on larger versus smaller batches of statements. Might the preface serve at least to warn readers of the epistemic dangers that lurk should they perversely interpret the period of punctuation at the end of each sentence of text as the symbol for sentence conjunction? Suppose readers were to make this peculiar mistake. Nothing of import seems to follow for either the text’s cognitive content or for the reader’s inquiry relevant cognitive attitudes toward it. In practice, it hardly makes a difference how the period is read. Suppose, though, the author herself insists that the periods in the manuscript are meant to be read as marks of conjunction or she actually replaces each period with an ‘&’. From a logical point of view, the move seems no more consequential than rewriting a list of premises as a single conjunction. Unintuitive as it may sound, there is no compelling reason not to submit, publish or consult a manuscript whose single statement is presumed to be false. In the context of inquiry nothing is at stake. True, other things being equal, anyone in his or her right mind will be more inclined to bet on an individual non-conjunctive statement (or small part of the story) than on a composite of many parts (or the whole text). But this intuition is sustainable on either use or reading of the period. In submitting or accepting a theory for publication, it is sufficient that the author and editor have adequate evidence that the proffered theory is an improved (or at least an interestingly different) instrument for negotiating the physical and intellectual environments. This is all a reader should expect as well. The features of conjunction and probability that engender the preface puzzle have no place in understanding, evaluating or appreciating the findings of inquiry. Pragmatic instrumentalism’s rejection of the pessimistic conclusion of the inductive puzzle foreshadows this response. The theory / instrument analogy, however, runs deeper, and it has implications beyond simply sanctioning or encouraging optimism and acts of epistemic courage. Decorative frills aside, tools usually cannot function properly without all or most of their parts. Remove the tires from a truck, and the remainder will not be very suitable for travel. Delete one section of a map and it will affect the coherence and usefulness of the neighboring sections. What is more, an ac-
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knowledged weak part may remain indispensable until a replacement becomes available. The situation is similar with linguistic instruments. Their enhancement of understanding, use in prediction, and practical application depend on the interconnections of their parts. Words and sentences function satisfactorily not in isolation, but as a result of the myriad of relations that exist among them. Inductive and deductive transitions are crucial for and to the work of theories. Dropping a weak link when no substitute is available to bridge the gap can seriously disrupt these central functions. In addition, excising a hypothesis that in isolation is of dubitable merit can reduce confidence in a theory’s soundness and reliability as a whole. In combating Cartesian foundationalism, Peirce (1934) famously argued that theories are not as fragile as their weakest links. Just as feeble, individual filaments can be woven into a strong rope, individually disputable sentences may be turned into a hearty theory. Over-zealous elimination of weaker strands can cause both robust ropes and robust theories to snap. In discussions of scientific methodology it is a commonplace that scope is a virtue of theories. The wider the range of phenomena a theory can handle the more valuable it is as a cognitive instrument. Peirce thought it important to point out another important epistemological advantage of increased coverage affords. The wider the range of phenomena a theory can handle the more confidence we have in its overall soundness and reliability. Warranted extensions of scope firm up trust in the theory as a whole and in so doing both stronger and weaker strands are made sturdier. Increased scope, nevertheless, does render a theory more vulnerable. Any added hypothesis is just that much more to defend. As with non-symbolic tools, appending new parts can make an instrument better at doing its work, but it does increase the number of parts that can fail. Where does this leave things with respect to the preface puzzle? Pragmatists not only grant, they stress, that in principle any sentence in a text may eventually be abandoned and that a mono-sentence conjunction of them all is most unlikely to be found on the final list of eternally true statements. But so what? Taking notice of such chances of error has no affect whatsoever on evaluating a theory’s usefulness in practice. All a preface warning is likely to do is mislead us into thinking it does. All said and done, a nagging, crucial feature of the standard preface puzzle remains untouched. What really is the appropriate attitude a reader, author or editor should take to a text as a whole or large conjunction of its parts? Not full belief, if full belief requires having great confidence in or a willingness to wager much on its truth. Various attempts to answer the question do so by drawing a distinction between an attitude of belief and an attitude of acceptance. Un-
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fortunately, a proper characterization of both these notions and their relations to probability values continues to be a subject of considerable controversy. Some think that closer examination reveals that there is nothing to be distinguished. As a much cited remark of R. Jeffrey puts it, “F. Ramsey sucked the marrow out of the ordinary notion [of belief]” (1970: pp. 171 f.). There are only degrees of confidence. Thus there is no propositional attitude of belief tout court to accord with, contrast with or be of use in explicating a notion of acceptance. Others argue that there is an important difference in attitudes, and they attempt to define ‘acceptance’ in terms of degrees of belief or credence. Still others think that a distinction between degrees of confidence and full belief can be made but hold that neither attitude is definable in terms of the other. All sides seem ready to admit that sound inquiry does on occasion make use of hypotheses no one takes seriously. In reductio proofs, for instance, we accept (assert, work with, countenance for the duration) as premises, statements we have no confidence are true or close to being true. Whether a significant acceptance / belief or confidence / belief distinction – one falling between Ramseyan eliminativism and bland reductio usage – can or should be drawn is for me an open question. I do not see present theories of cognition, folk or scientific, or for that matter much else on the horizon, providing sufficient grounds to constrain the choice among competing proposals. In any case, a change in terminology may help both avoid well-worn epistemic ruts and better appreciate the pragmatic instrumentalist position. Although other options are available, I will go with a suggestion of Goodman and Elgin (1988). They advocate talk of adopting theories, rather than taking belief attitudes toward them.⁷ This shift has several advantages for the thesis of pragmatic instrumentalism. First, current philosophical accounts of the attitude of belief tend to be wedded to some version of the view that to believe P is equivalent to or implies believing that P is true. Pessimistic inductivists, along with optimistic pragmatic fallibilists, then run into trouble, because they do not have a high degree of confidence that any rich sentence in use today will be found on the list of truths when science is completed. By contrast, the idea of adopting a theory for use does not presuppose conviction or confidence in its everlasting or final verity. Adopting a tool as the best available for the job, is consonant with assum-
Fine (1984b and 1986) defends a position much in the spirit of the pragmatic instrumentalist view presented in this paper. He distinguishes ‘believing a theory reliable’ from ‘believing a theory true’ and argues that the aim of science is the former not the latter. Elgin (2004) makes similar points in terms of the notion ’true enough’. I prefer the term ‘adoption,’ because the notions of ‘belief’, ‘acceptance’ and ‘truth’ come packaged with competing intuitions and assumptions that I find misleading and best set aside in an account of inquiry.
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ing it flawed and being convinced it should and will be replaced in the future. Second, ‘adoption’ terminology fits in better with the picture of theories as instruments. Whereas the locutions ‘believing an instrument’ and ‘accepting an instrument’ feel strained, ‘adopting’ an instrument as satisfactory for use seems quite natural. This shift to talk of adoption is unlikely to satisfy those who wish direct answers to their nagging questions about the epistemic propriety of believing, asserting or claiming to know whole texts or large conjunctions. The pragmatic position I have sketched attempts to sidestep or dissolve these issues rather than resolve them. If pragmatic instrumentalism is correct, however, it would indicate that a suitable characterization of inquiry may have no need to confront the conflicting intuitions about belief, justification and knowledge that the preface puzzle flows from and carries along in its wake.
3 The Lottery Puzzle The puzzle, or ‘lottery paradox’ as it is called, follows from two firmly held intuitions. On the one hand, we want theories to be consistent. On the other hand, unless we are willing to ignore all but the certain, some level of confidence should be adequate to justify belief or acceptance. As is by now all too familiar, these policies conflict. Given a fair lottery of one million tickets, the odds are overwhelming that ticket 1 loses. The same applies to each of the other tickets. So while it seems reasonable to believe / accept as true of each ticket that it loses, this conflicts with the undeniable hypothesis that the lottery will have a winner.⁸ Moreover, intuitions tell us that no matter how high the probability that ticket 1 loses, it seems wrong to claim that anyone knows that it does. Something has to give – consistency, deductive closure, or reliance on a purely probabilistic rule of justification or acceptance. If these routes cannot be countenanced, perhaps the only option is to follow Jeffrey and not appeal to notions like full belief. Pragmatic instrumentalism seeks to open space for another point of view. As portrayed here pragmatic instrumentalism is at heart an approach to inquiry. It maintains that theories are to be understood as symbolic tools, to be adopted and valued in terms of how well they perform the jobs they are cut
The preface paradox and lottery paradox are two sides of the same coin. The former hinges on the effects of high probability on judgments of falsity, the latter on the effects of high probability on judgments of truth.
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out to do. Consider, then, an inquirer (perhaps he is an auditor for the state gaming commission) who studies all the available evidence concerning the upcoming lottery and is to issue an official report prior to the drawing. The report may be viewed as a theory / hypotheses about how things stand and will go with the lottery. Is there reason for the auditor to go beyond describing the relevant features of the lottery set-up and the odds associated with ticket purchases? Should his report include and encourage adoption of the hypothesis ‘Ticket 1 loses’?⁹ Pragmatically speaking, in this context of inquiry nothing would seem to be gained by so doing. Clearly, speculating on the ultimate fate of ticket 1 incurs a bit more risk. Yet mere fear of the false is not accorded strong motivating force in pragmatic instrumentalism’s account of scientific inquiry. The possibility of failure must be balanced against the advantages of increased scope. Alternatively, including an irrelevant hypothesis just because it is very credible and extends the scope of the theory is not sanctioned either. The statements ‘Grass is green’ and ‘George Washington was the first president of the U.S.’ are both true, but it makes no sense to tack them on to the best current theory of gravity. Although true, these additional hypotheses have no work to do in an explanation of the physics, and the increased scope they provide does not raise confidence in the reliability or useful applicability of the theory of gravity as a whole. The additions would be unwelcome distractions. They add vulnerability to the theory with no obvious instrumental gain. Similar considerations influence and constrain the auditor’s report on the upcoming lottery. The auditor must determine if the addition of the categorical, ‘Ticket 1 loses’ provides a more satisfactory instrument for meeting relevant needs. Which tool is it better to adopt for practical and intellectual use: theory T, that simply states the odds and basic features of the lottery, or theory T* that adds to T the hypothesis ‘Ticket 1 loses’? T* does offer further guidance, but in these circumstances, is it the sort we seek? It would be quite misguided for the gaming commission to take T*’s ‘Ticket 1 loses’ statement to indicate a need to cancel the lottery or initiate an investigation into possible fraud. Likewise, it would be a mistake for gamblers either to avoid ticket 1 or ignore the odds when placing their bets because of T*. For its intended purpose the un-supplemented audit report, theory T, does just fine. Inclusion of the categorical claim that ticket 1 loses would be more a hindrance than an aid.
Neither the fact that the odds are identical for each ticket, nor the temporal features of this case are essential to the present issue. With suitable adjustments the points can be made with different assumptions.
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For pragmatic instrumentalism the main question is whether adopting T* offers significant benefits to inquiry. In the case at hand, it is not obvious that it does. Prior to the drawing, the adoption of ‘Ticket 1 loses’ will not raise confidence in T. Absent specific comment, its addition in advance of the drawing might very well undermine the assurance T gives that the lottery is not rigged. It is also significant that post-drawing knowledge that ticket 1 did in fact win typically will not lower confidence in T. Yet it will provide support for the hypothesis that there was a lottery drawing and a single winning ticket. Thus, if anything, it will likely increase confidence in T as a whole. Notice, though, in other circumstances the post-drawing evidence that ticket 1 did win might challenge the claims of T. For suppose the brother of the supervisor of the lottery has won the last three lotteries, and he is the holder of ticket 1. In this case, evidence that ticket 1 actually won might cause us to lower our belief that the lottery was fair as T claimed it would be. And learning of the brotherly connection before the drawing might lessen confidence in the hypothesis ‘Ticket 1 loses’ to the point where we would bet that it wins. There are other complications the lottery puzzle raises for an account of inquiry that require further analysis. For example, most people are willing to believe, assert or adopt the hypothesis that on returning to the room they just left there will be sufficient air in their vicinity to breath. Nonetheless, physics allows that there is a fantastically small chance, that on return, all the air is in the upper left corner. In this case, intuition tells us to discount the possibility. It seems justified believing that all will be well and also justified to claim that the person knows sufficient air will be available. I think a pragmatic account of inquiry can make sense out of these intuitions, although I cannot undertake the project here. It is also not necessary to do so for the central purpose of this paper. The analysis of the connection between pragmatic instrumentalism’s account of inquiry and the lottery paradox does not pretend to be responsive to many of the problems usually associated with the puzzle. Any implications pragmatic instrumentalism’s treatment of the lottery paradox may have for decision theory, folk or cognitive psychology are at most indirect. Also it does not provide answers to the questions: ‘Do we know ticket 1 loses?’, ‘Is or should our attitude to the claim that ticket-1-loses be that of belief?’, and if so, ‘Is such belief justified?’. I think the pragmatic account offered above suggests that an adequate account of inquiry can get by without addressing these issues.
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4 Conclusion My analysis of the three epistemic puzzles neither implies nor is meant to imply that considerations of induction and probability do not have a central role to play in the conduct of inquiry. Rather it seeks to locate these considerations within a broader context of inquiry. And in this context, the lesson to be drawn is that the challenges induction and probability raise for traditional accounts of propositional knowledge either do not surface or when they do arise are peripheral to a satisfactory analysis of the practices of inquiry. If pragmatic instrumentalism has so much to offer, why is the position so hard to believe / accept / adopt or swallow? One factor, previously mentioned, is the failure to distinguish it from anti-realist instrumentalism. Along with James and Dewey, I too think entrenched semantic convictions are another source of resistance.¹⁰ If one begins with firm commitments to a picture of fixed reference, solidified meaning and un-molded truth, pragmatic instrumentalism is a non-starter. It cannot hope to allay pessimistic fears that present theories miss the mark and that the best theories to follow may also fail in their semantic task of accurately mapping onto the world. Nor can pragmatic instrumentalism hope to explain scientific success in ways that will satisfy entrenched correspondence intuitions. Pragmatic instrumentalism does not make much effort to rebuff these criticisms or assuage all critics’ misgivings. It seeks, rather, to challenge the source and assumptions that fuel them.¹¹ Perhaps the ultimate condemnation of pragmatic instrumentalism is the claim that it is a policy of the superficial, a policy of those content to be quietists and remain silently on the surface of real philosophical issues. Pragmatic instrumentalists merely dodge traditional problems of epistemology and the normative, lazily refusing to take a stand on the nature of Reality or to explain how we can be so successful coping with it. Philosophy it is proclaimed can and should probe this metaphysical deep. I think Günter Abel and others of a pragmatic persuasion are reluctant to accept the challenge. On the contrary, they are more likely to issue a warning to committed, hard-working metaphysicians: ‘Diving into shallow waters can be dangerous’.
See (Schwartz 2012). See (Wilson 2006) for a penetrating critique of classical semantics along pragmatic lines. He shows in detail the ways this traditional picture can distort the realities of actual inquiry and concept development.
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Günter Abel
Der Pragmatismus in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Replik zum Beitrag von Robert Schwartz Der Beitrag von Bob Schwartz fokussiert eine Reihe von überaus wichtigen Fragen und Problemen, die es erlauben, das Verhältnis zwischen der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie] und dem kritischen Pragmatismus (in der Linie vor allem von William James und John Dewey) zu markieren und zu präzisieren. Und in der Tat kann man die ZuI-Philosophie als eine Art von Pragmatismus bezeichnen. Es ist für mich reizvoll auszubuchstabieren, in welchem Sinne dies zu verstehen ist und worin Unterschiede zu dem von Bob Schwartz vertretenen instrumentalistischen Pragmatismus bestehen. Sehr zu Recht betont Bob Schwartz die positiven Verbindungen zwischen dem Pragmatismus und der ZuI-Philosophie. Zu diesen Punkten zählen vor allem die folgenden: (a) Der Versuch, die menschlichen Handlungen und überhaupt die Praxis des Handelns sowie deren Erfolg und Misserfolg in die ihnen gebührende grundlegende Stellung zu rücken und zum Leitfaden der Betrachtung zu machen. Der Erfolg von Handlungen wird darin eng mit der Möglichkeit verknüpft, Zwecke und Ziele zu verwirklichen, Handlungen flüssig fortsetzen zu können und anschlussfähig für weitere Handlungen zu sein – in Hinsicht auf Kommunikation, Kooperation und Kognition (was ich die KKK-These nenne). (b) Dieser Versuch erstreckt sich auf das ganze Spektrum von elementaren sinnlich-praktischen Handlungen und Diskriminationen bis hin zu kognitiv abstrakten Größen wie Emotionen, moralisch-ethischen Werten oder mathematischen Beweisen und den darin involvierten Normativitäten. (c) Dabei ist es wichtig zu sehen, was ich erstmals in Gesprächen mit Israel Scheffler 1989 – 90 und dann in Schefflers Schriften, vor allem in dem Buch Four Pragmatists (Scheffler 1986) gelernt habe, dass der Witz und die besondere Leistungsfähigkeit des Pragmatismus nicht darin bestehen, als ein Rivale der klassischen metaphysischen System-Philosophie (und deren Zielen z. B. einer definitiven und allgemein verbindlichen Deskription der Welt sowie einer ultimativen Version des Logischen Raums der Gründe) anzutreten. Die humanistische Relevanz des Pragmatismus tritt vielmehr überhaupt erst nach dem Scheitern der metaphysischen System-Philosophien in den Blick. (d) Eine weitere Verbindung liegt in der Zurückweisung einer dualistischen und auf Varianten der Korrespondenztheorie der Wahrheit und Erkenntnis verhttps://doi.org/10.1515/9783110522280-073
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pflichteten Epistemologie. Gemeint ist hier der Versuch, sich aus dem Würgegriff älterer Dualismen derart zu befreien, dass diese nicht mehr länger zum Ausgangsund Zielpunkt sowie zur Grundlage der philosophischen Betrachtung und der wissenschaftlichen Forschungen gemacht werden können. Zu solchen Dualismen zählen zum Beispiel die vermeintliche Entgegensetzung von Subjektivität und Objektivität oder die von Begriffen und Realität. Nicht zuletzt sind es solche Dualismen, die überhaupt erst zu Problemen führen und diese dann gar als scheinbar unlösbar darstellen und so die Agenda der Philosophie weiterhin bestimmen lassen. In diesen Bereich gehört etwa die irreführende Frage, wie wir mit unseren Wahrnehmungen, Wörtern, Begriffen und Theorien nach Art von Brückenschlägen zur Welt kommen können und diesbezüglich dann die einzig metaphysisch seriöse Relation der Korrespondenz ausfindig machen können. ZuIPhilosophie und Pragmatismus betonen, dass wir uns, glücklicherweise, gar nicht in einer solch misslichen epistemischen Situation befinden. (e) Sie sind sich darüber hinaus einig in der Zurückweisung der Begrenzung der Epistemologie auf sprachliches und des näheren auf propositionales Wissen (sowie der damit verbundenen Herabstufung zum Beispiel des Knowing-How lediglich zu einer Variante des propositionalen Knowing-That) oder der Monopolstellung des expliziten Wissens (und der damit verbundenen Herabstufung der Formen impliziten Wissens). (f) Beide Positionen erweitern die Betrachtung der sprachlichen Systeme auch auf nicht-sprachliche Zeichen- und Interpretationssysteme (wie z. B. bildhafte, gestische, diagrammatische, audio-visuelle Systeme) und deren spezifische Rollen in Sachen Kognition, Kommunikation und Kooperation. (g) Das Auftreten von Problemen ist stets bereits von dem Setting abhängig, innerhalb dessen ein Störfall als ein Problem zählt. Manche Probleme entstehen nur aus einem unangemessenen bzw. falschen Rahmen heraus und manche können dann innerhalb des gegebenen Rahmens und der dort verfügbaren Instrumente keiner Lösung zugeführt werden. Das ist, wenn man so will, eine systemische Bemerkung. Die ZuI-Philosophie teilt mit dem Pragmatismus und des näheren mit dem pragmatischen Instrumentalismus den Versuch, Probleme und Herausforderungen auch dadurch einer Lösung zuführen, dass diejenigen Szenarien und Bedingungen angegeben werden, innerhalb derer die Probleme nicht mehr bzw. erst gar nicht auftreten. Dies kann gleichbedeutend damit sein, eine ältere Architektur der Problemlage schon deshalb als irreführend zu diskreditieren, weil bestimmte und insbesondere die scheinbar unlösbaren Probleme überhaupt nur im Rahmen dieser Problem-Architektur auftreten können, was uns dazu führen sollte, sie nicht mehr ohne weiteres zu akzeptieren, sondern zu verlassen. (h) Die ZuI-Philosophie teilt mithin den grundsätzlich pragmatischen und des näheren pragmatisch-instrumentalistischen Ansatz (wie Bob Schwartz ihn in
Der Pragmatismus in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie
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seinem Beitrag klar und deutlich profiliert) hinsichtlich einer Beschreibung dessen, was es heißt, Forschungen (‚inquiry‘) und Wissenschaft zu betreiben und darin Wissen und Erfahrungen zu erwerben, zu organisieren und Verbesserungen unserer Lebenssituationen im Umgang mit der physischen ebenso wie der intellektuellen Umgebung herbeizuführen. Schwartz charakterisiert den Pragmatismus als eine „instrumentalist theory“ (Schwartz-Beitrag, vor Kap. 1). Er entfaltet „a pragmatic instrumentalist stance“ in Bezug auf „inquiry“, des näheren in Bezug auf drei „epistemic puzzles“ (ebd.), die der klassischen Epistemologie viel Kopfzerbrechen bereiten und bislang keiner Lösung zugeführt werden konnten: (1) das Rätsel der Induktion in puncto Fortgang der Wissenschaften („the pessimistic induction puzzle“, Kap. 1); (2) das Rätsel des Vorworts, demzufolge zwar alle einzelnen Sätze einer Theorie wahr sein können, dies jedoch nicht zur Folge hat, dass auch die Totalität sowie die Konjunktionen dieser Sätze wahr sein müssen („the preface puzzle“, Kap. 2); und (3) das Rätsel der Lotterie, demzufolge Ticket 1 der Lotterie mit überwältigender Wahrscheinlichkeit nicht gewinnen wird und dies für jedes einzelne Ticket gilt, insgesamt aber natürlich eines der Tickets sehr wohl gewinnen wird („the lottery puzzle“, Kap. 3). Überzeugend führt Schwartz vor, dass und in welchem Sinne der Ansatz eines pragmatischen Instrumentalismus in der Lage ist, diese drei Rätsel zwar nicht deduktiv im Sinne der älteren Architektur zu lösen, sehr wohl aber Möglichkeiten aufzeigen kann, diese Rätsel aufzulösen („resolve“) bzw. zu vermeiden („sidestep“) (vor Kap. 1). Bob Schwartz führt dies in überaus eleganten Argumentationen und vor dem Hintergrund seines wichtigen Buches Rethinking Pragmatism. From William James to Contemporary Philosophy (Schwartz 2012) durch. Seine Argumentationen halte ich für erfolgreich und schließe mich ihnen hier, von kleineren Spezialpunkten abgesehen, insgesamt an. Im Folgenden gehe ich weniger auf technische Einzelheiten der Argumentationen von Schwartz ein. Vielmehr konzentriere ich mich erstens auf die Vertiefung einiger Gemeinsamkeiten zwischen ZuI-Philosophie und Pragmatismus und zweitens auf die Markierung einiger Unterschiede zwischen dem pragmatischen Instrumentalismus und der ZuI-Philosophie.
1 Vertiefung der Gemeinsamkeiten zwischen ZuI-Philosophie und pragmatischem Instrumentalismus Pragmatisten in der Tradition von James und Dewey rücken – und das markiert einen weiteren Punkt der Verbindung von ZuI-Philosophie und Pragmatismus –
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die Vorstellung in den Vordergrund, dass Konzepte und Theorien als „symbolic instruments“ zu verstehen sind. Als solche „they are to be judged by their use, how well they enable us to navigate physically and intellectually those places we must or wish to go“ (vor Kap. 1). Ausdrücklich teile ich Schwartzs Auffassung, dass eine solche Konzeption nicht mit der Position des Anti-Realismus bzw. eines antirealistischen Pragmatismus verwechselt werden darf. Der Anti-Realismus betont, dass in Theorien Termini und Konzepte vorkommen, die nicht als denotierende Termini und Konzepte fungieren und eben deshalb eine anti-realistische Sichtweise nahelegen. Einen Schritt noch über Bob Schwartzs Position hinausgehend, möchte ich die folgenden vier Aspekte für die ZuI-Philosophie als charakteristisch hervorheben: (a) In der ZuI-Philosophie wird die Existenz der Welt und Wirklichkeit nicht nur nicht bestritten, sondern fraglos unterstellt und als selbstverständlich angesehen (das heißt: als etwas angesehen, das wir faktisch längst schon und mit höchster Gewissheit verbunden wissen, für das ich mithin erst gar keinen Beweis benötige – denn etwas zu beweisen, was ich schon weiß, ist leicht ungereimt). Im Leben wie in den Wissenschaften und in den Künsten wird wohl niemand ernsthaft von dem Gegenteil ausgehen. Die ZuI-Philosophie ist mithin kein Idealismus, ist kein Anti-Realismus, ist auch kein Irrealismus (im Sinne etwa Nelson Goodmans). Die ZuI-Philosophie ist erklärtermaßen ein Realismus, sowohl im Sinne des direkten Common-Sense-Realismus (wie z. B. dann, wenn ich die sinnliche Erfahrung des Sehens eines Kugelschreibers habe und diese durch den elementaren Wahrnehmungssatz ‚Ich sehe den Kugelschreiber‘ ausdrücke) als auch im Sinne des indirekten Wissenschaftlichen Realismus (wie z. B. dann, wenn die Wissenschaftler mir sagen, dass das Sehen des Kugelschreibers als ein physikalischer Vorgang beschrieben werden kann, zu welchem unter anderem gehört, dass mein Sehnerv funktioniert, dass die auf die Retina einfallenden Reize auf eine bestimmte Weise verarbeitet und im Gehirn weitergeleitet werden, etc.).¹ Alles kommt dann jedoch darauf an, wie wir diese Selbstverständlichkeit verstehen, charakterisieren, qualifizieren und in ihrer normativen Berechtigung auffassen. Und an diesem kardinalen Punkt macht die ZuI-Philosophie den Vorschlag, die Realitäts-Annahme und die Prozesse der Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse, kurz die Prozesse innerhalb des Triangels von Ich-Wir-Welt, als Zeichen- und Interpretationsverhältnisse zu fassen, die dann mit Hilfe eines Stufenmodells näher spezifiziert werden.
Zu diesen beiden Punkten vgl. (Abel 2015) und (Smullyan 1983), von dem ich die Unterscheidung zwischen ‚direkter‘ und ‚abgeleiteter‘ Wirklichkeit übernehme.
Der Pragmatismus in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie
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(b) Die ZuI-Philosophie versteht sich mithin jenseits bzw. diesseits der ganzen Dichotomie von Antirealismus und Realismus (wie sie etwa sprachphilosophisch in der bekannten Diskussion zwischen Michael Dummett und Donald Davidson plastisch geworden ist). Sie versteht sich ebenso jenseits bzw. diesseits der Dichotomie von Idealismus und Realismus. Vielmehr versucht die ZuI-Philosophie jenseits bzw. diesseits dieser inzwischen unfruchtbar gewordenen Dichotomien Fuß zu fassen. Sie möchte einen Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten, wie ein Philosophieren aussehen könnte, das nicht mehr im Würgegriff dieser älteren Dichotomien steht. In dieser Zielsetzung ist die ZuI-Philosophie ganz offenkundig mit dem kritischen Pragmatismus verbunden. Die ZuI-Philosophie ist in ihrem epistemischen und methodologischen Kern eine adualistische und adichotomische Philosophie. Im Unterschied zu älteren Sichtweisen wird in ihr weder von vorausgesetzten epistemologischen Dualismen her gedacht noch ist sie auf bestimmte Ontologien festgelegt (deren Annahme sich in nicht wenigen Fällen bloß den vorausgesetzten Dualismen und der mit diesen verbundenen Unterstellung verdanken, es gäbe externe ontologische Entitäten, mit denen wir Korrespondenzen übereinstimmen oder nicht übereinstimmen). Schwartz sieht völlig richtig, dass ich zu der Gruppe derjenigen zähle, die die Kohärenz der „metaphysical language-world assumptions“ (vor Kap. 1) in Frage stellen. Ich stelle sie aber nicht nur in Frage, sondern möchte mittels des Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse zu einer Neuformulierung der ganzen Problemlage beitragen, die mit den vormals metaphysisch überbesetzten und ontologisch vorbesetzten Interpretamenten des Realismus, des Antirealismus, des Idealismus, des Empirismus und der Ontologie verbunden waren. Mit dem Pragmatismus teilt die ZuI-Philosophie die Auffassung, dass im Zuge dieses Übergangs in der Architektur der Problemlagen selbst sich einige der vormaligen Probleme auflösen, andere weiterhin fortbestehen und vor allem neue und durchaus schwierigere hinzukommen. (c) Der pragmatische Instrumentalismus ist, wie Schwartz mit Recht betont, keine ontologische Theorie. Er bemüht sich vielmehr, eine zufriedenstellende Auffassung der „nature of sound inquiry“ (Kap. 1) zu liefern. Des näheren geht es um eine Sichtweise, die der Rolle der Geschichte in der Entwicklung der Wissenschaften in einer Weise Rechnung trägt, die nicht in die Verstrickungen des genannten „pessimistic induction puzzle“ (ebd.) führt. Nur für einen Metaphysiker oder Aprioristen der wissenschaftlichen Erkenntnis und Forschung erscheint die Auffassung bedrohlich, dass unsere wissenschaftlichen Forschungen und Erkenntnisse dynamischer, mithin veränderlicher und revidierbarer Art sind. Die Geschichte der Wissenschaften liefert jedoch handfeste Belege dafür, dass zu einer bestimmten Zeit gut gesicherte Forschungsstände stets nur bis auf weiteres gelten, bis eben eine bessere Theorie mit höherer Erklärungs- und Prognosekapazität auf die Bühne tritt. Dieser Befund und diese Einsicht müssen aber eben
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keineswegs zu pessimistischen Konsequenzen führen. Der Normalfall ist doch schlicht der, dass wir bislang gut bewährte Theorien anwenden und darin zugleich offen sind für die jederzeit bestehende Möglichkeit komparativisch besserer Theorien, Konzeptionen, Modelle und technischer Praktiken. Besseres Wissen ist jederzeit möglich. Dieser Befund gilt für wissenschaftliches Wissen ebenso wie für alltägliches, technisches und künstlerisches Wissen. Aus der Sicht der ZuI-Philosophie möchte ich dieses Bild durch die folgenden Aspekte verstärken: (i) Auch das Wissen der Wissenschaften ist Wissen nach Menschenmaß (nicht nach Gottesmaß), mithin nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch Veränderungen in der Zeit unterworfen. Wir befinden uns auch im Falle des wissenschaftlichen Wissens nicht in der Situation, dass wir zwecks Lösung von Problemen in einem metaphysischen Call Center oder beim Rat der Götter oder in der Zentrale der Evolutionssteuerung anrufen könnten, um von dort dann die einzig richtige und metaphysisch seriöse Antwort zu erhalten. Selbst wenn es jemandem tatsächlich gelungen sein sollte, solche Kontakte aufzunehmen und definitive Antworten erhalten zu haben – der epistemologische Witz ist, dass uns als endliche Geister und in unserer epistemischen Situation nichts zwingt, ihm dies auch glauben zu müssen. (ii) Offenkundig funktioniert unser wissenschaftliches und technisches Wissen über weite Strecken sehr gut. Es wäre eine irreführende und gänzlich unangebrachte Denkfigur zu sagen, zu denken und am Ende gar zu beklagen, dass dieses Wissen zwar funktioniert, jedoch ohne letzte metaphysische Begründung sei. Das wäre gleichsam so, als dürfte z. B. die Verbesserung eines Mobiltelefons oder einer Rolltreppe in einem Kaufhaus eigentlich (und das heißt aus der Perspektive einer streng metaphysischen und aprioristischen Letztbegründung gesprochen) im Grunde gar nicht funktionieren, da dieser Verbesserung gleichsam die letzte metaphysische und aprioristische Dignität fehle. Eine solche Sichtweise wäre offensichtlich nicht nur gänzlich unangebracht. Sie würde darüber hinaus das tatsächliche Funktionieren meines Mobiltelefons und der Rolltreppe zu einem Mysterium machen. Eine solche irregeleitete Sichtweise entsteht überhaupt nur aus einem intellektualistischen, metaphysischen, aprioristischen und ahistorisch fehlgeleiteten Setting oder Framing. In der ZuI-Philosophie ist demgegenüber der von Charles Sanders Peirce überzeugend formulierte Punkt entscheidend: Der ‚letzte‘ Interpretant eines Zeichens (und ich füge hinzu eines Wissens, auch eines szientifischen und technischen Wissens) ist die Handlung (‚the final interpretant is action‘). Was sich im Handeln bewährt ist eben dadurch zugleich auch bestens begründet. Darüber hinaus gehende Rechtfertigungen theoretisch-metaphysischer Art zu verlangen, wäre selbst-destruktiv, ist aber glücklicherweise auch gar nicht erforderlich. Für jedes Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln ist
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entscheidend, dass wir die menschliche Kommunikabilität, Kooperabilität und Rationalität im Verhältnis mit anderen Personen und darin auch unsere Kognitionen flüssig fortsetzen können und anschlussfähig halten (KKK-These der ZuIPhilosophie). (iii) Das ältere Bild, dem zufolge wir uns mit unserem wissenschaftlichen Wissen auf asymptotische Weise und ‚in the long run‘ (Peirce) einer absoluten Wahrheit annähern, halte ich ebenso für intellektuell nicht einsichtig und nicht explizierbar wie die Vorstellung, dass die Entwicklungen in und zwischen den einzelnen Wissenschaften auf eine Konvergenz der Wissenschaften hinauslaufen. Wie sollte eine Konvergenz zwischen z. B. Physik, Jura, Soziologie und Kunstwissenschaft aussehen? Weder in systematischer noch in empirischer Einstellung gibt es Belege für eine Entwicklung der Wissenschaften (im Plural) hin zu einer Konvergenz. Diese Feststellung gilt noch unabhängig von der anderen, dass die Vorstellung einer Einheit der Wissenschaften und gar das ältere Programm des Logischen Empirismus einer ‚Einheitswissenschaft‘ definitiv als gescheitert angesehen werden muss. (iv) Aus Sicht der ZuI-Philosophie stellt das Wissen der Wissenschaften resp. das wissenschaftliche Wissen einen besonders gut gesicherten und bewährten Typus von Wissen dar. Aber es ist nicht der überhaupt einzige und nicht der einzige metaphysisch seriöse Typus von Wissen. Ethisches Wissen, technisches Wissen, alltägliches Wissen, ästhetisches Wissen oder das Wissen der Künste sind gleichermaßen legitime Typen von Wissen. So können wir unsere Welt beispielsweise auf gleichermaßen legitime Weise unter szientifischer, ethischer oder ästhetischer Perspektive sehen.Vor diesem Hintergrund habe ich an anderer Stelle dafür plädiert, das Bild einer Pyramide der Wissensformen mit der Mathematik und den Naturwissenschaften an der Spitze zu ersetzen durch das andere Bild eines Spektrums unterschiedlicher und für unser Welt-, Fremd- und Selbstverständnis gleichermaßen wichtiger und legitimer Typen von Wissen. Präziser gesprochen plädiere ich nicht einfach nur für ein Spektrum von Wissensformen, sondern für einen topologischen Raum resp. für eine Topologie der Wissensformen. Dieser hochdimensionierte Raum der Wissensformen umfasst die unterschiedlichen, vielfältig interagierenden und in Wechselspielen stehenden Formen, Praktiken und Dynamiken von Wissen (vgl. zu diesem Programm Abel 2012). (v) Die Geschichte der Wissenschaften ebenso wie die Geschichte der anderen Typen von Wissen (Alltag, Technik, Künste) werden in der ZuI-Philosophie als ZuIKetten rekonstruierbar. Darin wird auf eine grundlegende Weise auch der kardinalen Bedeutung der Zeitlichkeit bzw. Temporalität der Formen, Praktiken und Dynamiken von Wissen Rechnung getragen. Entscheidend ist dabei aus Sicht der ZuI-Philosophie, dass die geschichtlichen und zeitlichen Übergänge von jeweils einer Phase in eine nächste weder kausal noch logisch determiniert sind. Das
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heißt keineswegs, dass es sich um willkürliche, beliebige und gänzlich ungeregelte, mithin um relativistische Übergänge handelt. Und in der Regel kann man retrospektiv und zum Beispiel aus der Sicht der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte auch Konstituenten und Ingredienzen der entsprechenden Übergänge und Passagen identifizieren. Übergänge fallen nicht einfach vom Himmel. Sie stehen entweder unter methodologischen und kohärenztheoretischen Restriktionen oder sie werden im Sinne des Setzens neuer Regeln kreativ auf die Bahn gebracht. Der Slogan ‚Anything goes‘ (Paul Feyerabend) beschreibt keineswegs die tatsächlichen Verhältnisse. Zudem ist er logisch äquivalent mit ‚Nothing goes‘. Offenkundig jedoch geht in Forschung und Entwicklung überaus viel. Mobiltelefone und vieles andere werden von Personen mit hoher Fachkompetenz verbessert. Und, um Bob Schwartzs leicht ironisches Beispiel zu verwenden (s. Kap. 1), runde Räder bewähren sich bei Fahrrädern und Autos besser als viereckige. Jedoch heißt dies eben nicht, dass die Prozesse und Entwicklungen irgendwie dann doch deterministisch zu nennen seien.Vielmehr sind sie im Kern durch eine Offenheit (im Sinne ihrer nicht-deterministischen Verfassung), durch nicht-deterministische Anschlussfähigkeiten gekennzeichnet, in welche darin eröffneten Möglichkeitsräume dann weiterführende, alternative, sich bewährende und unter dem jeweiligen state of the arts für zukunftsfähig gehaltene Konzeptionen, Theorien und Praktiken auf die Bahn gesetzt und verfolgt werden können – die dann bis auf weiteres (und das heißt bis eine bessere Konzeption, Theorie und Praktik auftreten) als Norm gelten können. (vi) Die ZuI-Philosophie und der ihr zugehörige Typus von Epistemologie denken und agieren nicht aus der Perspektive eines extraterrestrischen ‚Gottesgesichtspunkts‘ (Putnam) oder einer an-sich-seienden absoluten Wahrheit, die es zu erreichen und zu realisieren gelte. Sie denken und agieren vielmehr ganz von den praktischen, theoretischen und kontext-abhängigen Herausforderungen sowie von den Aufgaben des konkreten Problemlösens her. Die im Blick darauf erfolgreichen Strategien, Operationen und Mittel sind natürlicherweise die bevorzugten und gerechtfertigten. Gute Theorien sind solche, die diese Leistungsfähigkeit verkörpern. Diese Grundhaltung des pragmatischen Instrumentalismus teile ich nachdrücklich. (d) Schwartz ist der Auffassung, dass der pragmatische Instrumentalismus am besten als ein „naturalistic account of inquiry, not an ontological thesis“ (vor Kap. 1) verstanden werden sollte. Alles kommt jedoch darauf an, was wir hier unter ‚naturalistisch‘ verstehen wollen. Schwartz denkt vor allem daran, alle Konzepte und Theorien als „tools“ (ebd.), als Werkzeuge anzusehen. Bleiben wir einen Moment bei der Rede von ‚Naturalismus‘, zu dem Schwartz keine näheren Ausführungen macht. In welchem Sinne kann auch die ZuI-Philosophie als ein Naturalismus charakterisiert werden? In dem Sinne, dass es eben im Kern un-
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verzichtbar und nicht-eliminierbar zur Natur der Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse, kurz: zur Natur des Triangels von Ich-Wir-Welt gehört, zeichenmäßig und interpretativ verfasst zu sein. Auf den Zeichen- und Interpretationscharakter aller Ich-Wir-Welt-Verhältnisse zurückzugehen, scheint mir eine sehr gute Weise zu sein, die genannten Verhältnisse zu vernatürlichen, das heißt sie nicht auf metaphysische und aprioristische Weise überspringen und die entsprechenden Hypostasierungen vorzunehmen. Jedoch müssen wir diese Vernatürlichung der menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse deutlich unterscheiden von dem, was heute in Philosophie und Wissenschaften gemeinhin als Naturalismus bezeichnet wird. Vernatürlichung in die ZuI-Verhältnisse hinein scheint mir überaus wichtig und korrekt zu sein, um überhaupt zu den Phänomenen selbst vordringen und deren Eigentümlichkeiten erfassen zu können – insofern bin ich Naturalist. Aber naturalistische Reduktionismen, wie sie im gegenwärtigen Gebrauch des Ausdrucks Naturalismus und in der gegenwärtigen NaturalismusDebatte in dem Sinne vorliegen, dass alle Phänomene, auch diejenigen subjektiver und qualitativer Art, die unser Leben und unser In-der-Welt-sein auszeichnen, letztlich physikalischer Art, jedenfalls so beschaffen seien, dass sie in das zur Zeit vorherrschende wissenschaftlich-materialistische Weltbild passen (und anderenfalls als illegitimes Wissen exkommuniziert werden), diese Auffassung teile ich keineswegs. Eine solche Auffassung ist vermutlich lediglich Ausdruck eines Zeitgeistes, in Bezug auf den spätere Generationen von Wissenschaftlern und Philosophen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur schmunzelnd zurückschauen werden. In der bisherigen Geschichte des Wissens und der Wissenschaften gibt es keinen einzigen Fall, im dem eine spezifische Sichtweise auf Dauer, gar auf Ewigkeit ihren monopolistischen Anspruch auf Deutungshoheit hat aufrechterhalten können. Warum sollte das in Bezug auf den Naturalismus anders sein?! Der physikalistische Naturalismus kann in einem spezifischeren Sinne als die Einstellung gekennzeichnet werden, der zufolge alle Phänomene und Entitäten, auch diejenigen höherer Ebene (wie z. B. geistige Operationen, moralische Werte, mathematische Größen) nur dann als natürlich gelten können, wenn sie auf die als fundamental eingestuften physikalischen Größen wie Elementarteilchen, Masse, Ladung zurückgeführt und aus diesen abgeleitet werden können. Demgegenüber betont die ZuI-Philosophie den basalen Punkt, dass ja doch bereits die Individuation der physikalischen Ereignisse ebenso wie die Formulierung der entsprechenden physikalischen Theorien und Modelle (einschließlich nicht-reduktionistischer Varianten wie z. B. der Supervenienz-Theorien) stets bereits und konstitutiv auf ZuI-Prozesse angewiesen sind und diese in Anspruch genommen haben. Die ZuI-Prozesse scheinen mir in den Prozessen des Triangels von Ich-WirWelt von einer so grundlegenden Relevanz zu sein, die es nicht nur erlaubt,
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sondern fordert, sie als ‚natürliche‘ bzw. ‚reale‘ Prozesse und in diesem Sinne begrifflich als ‚natürliche‘ Tatsachen ansprechen zu müssen. Dem Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse entsprechend bin ich nicht der im engeren Sinne naturalistischen Auffassung, dass eine reduktive Erklärung zum Beispiel der Mechanismen und Tatsachen auf der Ebene 3 der ZuI-Verhältnisse einfach durch die Angabe der Elemente und Mechanismen der Ebenen 2+1 gegeben werden kann. Auf jeder der drei Ebenen des Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse kommen jeweils neue und nicht-reduzierbare sowie emergente Aspekte hinzu und ins Spiel. Und jedes der Phänomene auf den unterschiedlichen Ebenen kann als ein natürliches und reales Phänomen angesehen werden. Jedoch kann es nicht in einer physikalistischen oder ontologischen oder methodologischen Abhängigkeit von den Elementen und Phänomenen der jeweils darunterliegenden Ebene, mithin auch nicht als in diesem Sinne naturalisierbar angesehen werden. Diesen Punkt möchte ich kurz mit Hilfe des Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse top-down wie bottom-up erläutern. Top down zum Beispiel ist die individuelle Sprecher-Bedeutung auf der Ebene 3 nicht einfach schon mit der deutschen Sprache auf der Ebene 2 gegeben, auf diese Ebene 2 zurückführbar und aus dieser Ebene 2 kausal und deterministisch ableitbar. Bottom up zum Beispiel bietet die Identität etwa der neuronalen Zustände von Peter und Paul auf der Ebene 2+1 keine Garantie dafür, dass beide sich in identischen mentalen Zustände befinden (die auf der Ebene 3 anzutreffen sind), zum Beispiel die gleiche Farbempfindung haben oder mit dem Wort ‚Kugelschreiber‘ dieselbe Bedeutung verbinden. Neben qualitativen mentalen Zuständen (wie z. B. einer Farbempfindung) gehören zu der Gruppe derjenigen Phänomene, Zustände und Elemente, die sich einer physikalistischen oder einer anderen naturwissenschaftlichen Naturalisierung entziehen, natürlich auch die Tatsachen der Moral und der Rationalität ebenso wie modale Sachverhalte (die Aspekte mithin der Notwendigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit), mathematische Sachverhalte und natürlich die Aspekte, die mit der Unterstellung von Handlungsfreiheit und Willensfreiheit gegeben sind. Müssen jedoch solche Phänomene und Elemente und Mechanismen und in epistemologischer Hinsicht auch zum Beispiel Wissen und Rechtfertigung selbst als reale Phänomene, Elemente und Mechanismen angesehen werden – und das müssen sie –, dann nenne ich den Rekurs auf deren grundlegende Rolle eine Vernatürlichung der menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse und möchte dies von dem Programm der gegenwärtig breit diskutierten naturwissenschaftlichen Naturalisierung der skizzierten Art nachdrücklich unterscheiden.
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2 Der Unterschied zwischen dem instrumentalistischen Pragmatismus und der Zeichen- und Interpretationsphilosophie Schwartz pragmatischer Instrumentalismus fasst Konzepte und Theorien als „tools“, als Werkzeuge, des näheren als „symbolic instruments“ (vor Kap. 1) auf. Diese Auffassung markiert gut, dass Konzept- und Theoriebildung Aktivitäten seitens der Menschen und nach Menschenmaß (nicht nach apriorischem oder metaphysischem Gottesmaß) sind. Diese Auffassung bringt meines Erachtens auch gut zum Ausdruck, dass wir die Durchführung von Forschungen, Forschungsprojekte und wissenschaftlich-technische Weiterentwicklung von Artefakten (z. B. von Mobiltelefonen) nicht unter die Kondition setzen müssen, die einer an-sich-seienden und perfekten Wahrheit entsprechende überhaupt beste und perfekte Lösung erreichen zu müssen. Ein solcher metaphysischer Perfektionismus wird unter kritischem Vorzeichen und sinnvollerweise durch die komparative Einstellung abgelöst, zu jeweils besseren problemlösenden Antworten auf jeweils präzise Herausforderungen, mithin zu Verbesserungen, nicht aber zu perfektem bzw. göttlichem Wissen gelangen zu müssen.Wäre es Kondition für erfolgreiches Agieren der Forscher und Techniker, dass sie vorab zu diesen ‚letzten‘ Einsichten vordringen müssten, um überhaupt Forschungen und Entwicklungen durchführen zu können, sie brauchten dann wohl erst gar nicht anzutreten. Unbeschadet dieses Befundes jedoch halte ich das im pragmatischen Instrumentalismus vertretene Verständnis unserer Sprache, Konzepte und Theorien lediglich als ‚tools‘, als Werkzeuge, für zu kurz gegriffen. Der Einsatz von Sprachen, Konzepten und Theorien ist allein schon deshalb mehr als ein Einsatz bloßer Werkzeuge, weil die Ereignisse und Objekte, die unter dem Einsatz von Konzepten, Theorien und Sprachen individuiert, identifiziert, re-identifiziert, raum-zeitlich lokalisiert, klassifiziert werden und in Bezug auf die wir dann Meinungen, Überzeugungen und Wissen haben können, von der Struktur der verwendeten Sprache, Konzepte und Theorien entscheidend mit abhängig sind. Die Welt teilt sich nicht selbst in Gattungen und Arten ein, die vorfabriziert fertig daliegen und bloß noch darauf warten, dass sie mit Hilfe unserer Werkzeuge erfasst und passivisch repräsentiert werden. In all unserem Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln innerhalb des Triangels Ich-Wir-Welt ist der Anteil der Aktivitäten seitens des Menschen nicht zu überspringen. Wollten wir das versuchsweise einmal tun, landeten wir nicht beim vollen Sein, sondern bestenfalls bei diffusem Mannigfaltigem, wahrscheinlicher noch bei leerem Nichts im Sinne
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von nicht-individuierten, mithin nicht-spezifischen Welten. Dieser Befund gilt auf dem ganzen Spektrum von der Individuation physikalischer Ereignisse (die in der Physik von den in Anschlag gebrachten mathematischen Grundgleichungen und Formalismen abhängig sind) bis hin zur Individuation, Identifikation, Re-Identifikation und Kommunikabilität mentaler Zustände, Phänomene und Prozesse wie etwa des Zustands heiterer Leichtigkeit oder niedergeschlagener Traurigkeit sowie der Rolle, die in diesen Operationen und Zuständen die sprachlichen und die nicht-sprachlichen Zeichen und Interpretationen spielen. Und diese vielfältigen Rollen lassen sich meines Erachtens nicht einfach nur als Werkzeug-Rollen ansehen und beschreiben. Demgegenüber erlaubt es das Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse, den genannten Aspekten angemessener Rechnung zu tragen als im pragmatischen Instrumentalismus. Im Stufenmodell gesprochen hat der von Schwartz betonte instrumentalistische Charakter von Wörtern, Zeichen, Konzepten und Theorien seinen Sitz und seine Funktion auf der Ebene 3 der ZuI-Verhältnisse, z. B. beim Aufstellen einer wissenschaftlichen Theorie oder in der Artikulation einer individuellen Sprecher-Bedeutung. Solange dies auf der Ebene 3 flüssig und anschlussfähig funktioniert, gibt es kein Problem. Sobald jedoch ein Störfall eintritt, gehen wir zwecks Beseitigung dieses Störfalls in der Regel auf die Ebene 2 der ZuIVerhältnisse, in den Beispielen auf die Ebene 2 des wissenschaftlichen Weltverständnisses z. B. der unterstellten Gültigkeit des Energieerhaltungsatzes und anderer basaler Festsetzungen oder auf die Ebene 2 einer gegebenen Sprache, etwa des Deutschen. Die Rolle der für die physikalischen Theorien auf der Ebene 3 bereits vorausgesetzten methodologischen, ontologischen und geltungstheoretischen Festsetzungen und Standards kann ebenso wenig wie die Rolle der in der individuellen Sprecher-Bedeutung vorausgesetzten Funktionsweisen der gegebenen Sprachen nicht im Sinne des Instrumentalismus als Werkzeug beschrieben werden. Es handelt sich um funktionale Präsuppositionen, nicht um die Anwendung von Werkzeugen. Und auf der unter diesen beiden Ebenen liegenden Ebene 1 bedeutet dies in den beiden Beispielen: im Falle der wissenschaftlichen Theorie die Voraussetzung eines wissenschaftlichen Weltbildes und im Falle der Sprecher-Bedeutung die Voraussetzung einer gegebenen lebendigen Sprache. Auf beide können wir dann natürlich später und auf der Ebene 3 in einem durchaus instrumentalistisch zu nennenden Zugriff Bezug nehmen. Einer der Vorteile dieses komplexeren Bildes der ZuI-Philosophie und ihres Stufenmodells scheint mir zu sein, dass wir in Bezug auf wissenschaftliche Theorien (die auf der Ebene 3 angesiedelt sind) sehr wohl pragmatische Instrumentalisten sein können und Konzeptionen, Hypothesen, Modelle und Theorien als symbolische Instrumente ansehen können, die zu jeweils bestimmten Zwecken ‚adoptiert‘ (Goodman) und eingesetzt werden. Doch verpflichtet uns diese
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Einstellung und Haltung nicht auf die irrführende Perspektive, Welt und Wirklichkeit seien letztlich bloße Konstrukte des Einsatzes dieser Instrumente. Hier unterscheide ich mich durchaus von Nelson Goodmans und Bob Schwartzs Vorstellungen des ‚worldmaking‘. Die Pointe ist also, dass wir pragmatische Instrumentalisten sein können, ohne damit auf einen hypostasierten Konstruktionalismus verpflichtet zu sein. Auch hier zeigt sich der epistemologische Wert des vertikalen Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse. Hinzu tritt auf allen drei Ebenen des Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse, dass es sich auch in dem Sinne nicht einfach um Werkzeuge handelt, als wir es im Kern eben mit adualistischen ZuI-Prozessen sowie einer ZuI-Praxis zu tun haben, welche im Kern mehr einschließen als die Anwendung von Werkzeugen in einem instrumentalistischen Sinne. Um ein Werkzeug überhaupt einsetzen zu können, müssen wir die zugehörige Praxis des Gebrauchs des Werkzeugs und das ganze Setting bzw. den Kontext, die Situiertheit, die Funktionalität und vieles mehr eines solchen Gebrauchs bereits voraussetzen und in Anspruch nehmen. Im Werkzeug ist mehr als das bloße Arbeitsmittel zu erkennen gibt. Zugespitzt formuliert: der Instrumentalismus hat innerhalb des Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse seine wohlbegründete Funktion auf der Ebene 3. Um verständlich machen zu können, dass und warum er dort gut funktioniert und daher sinnvoll ist, greifen wir zur Erläuterung auf die Ebene 2 und von dort weiter auf die Ebene 1 zurück. Beide, die Ebene 2 und die Ebene 1, charakterisiere ich entschieden als pragmatische, aber eben unterschiedlicher Art. Auf diese Weise wird ein Bild deutlich, in dem der von Schwartz im Anschluss an James und Dewey so trefflich entwickelte pragmatische Instrumentalismus gleichsam eine Unterfütterung und Verankerung in den basaler und primordial verstandenen ZuI-Prozessen erhält. Diesen Punkt möchte ich noch mit Hilfe einer noch weitergehenden Überlegung verdeutlichen. Wenn ich Konzeptionen, Hypothesen, Modelle und Theorien im Prozess des wissenschaftlichen Forschens im Sinne des pragmatischen Instrumentalismus für adoptierbar, angebracht und erfolgversprechend halte, dann habe ich in einem pragmatischen (und nicht metaphysischen und nicht aprioristischen) Sinne bereits vorausgesetzt, dass dies eine sinnvolle Adoption (‚adoption‘ ist hier ein von Nelson Goodman und Catherine Elgin terminologisch verwendeter Ausdruck) und Vorgehensweise ist. In diesem Sinne ist die Ebene des making sense in der Auffassung von Theorien als symbolischen Instrumenten intern stets bereits vorausgesetzt, nicht als ontologische Annahme und nicht als eine, die auf einen Begriff an-sich-seiender Wahrheit verpflichtet wäre. Und diese Dimension des making sense ist es, die in der ZuI-Philosophie als die grundlegende Ebene adressiert wird, deren Prozesse als zeichenmäßig und interpretativ charakterisiert werden. In diesem Bild ist der Tiefensitz der Zeichen- und Interpretationsprozesse in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. ZuI1-Prozesse lie-
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gen, so die grundlegende These, der Ebene der Bedeutsamkeit und Relevanz stets bereits im Rücken. Und wenn Theorien in den Prozessen der wissenschaftlichen Forschung erfolgreich sind, dann ist dieser Erfolg nicht bloß eine rein instrumentalistische Leistung. Den symbolischen Instrumenten der Ebene 3 gelingt es vielmehr, an die nicht-instrumentalistisch verfassten Ebenen 2+1 erfolgreich anzudocken und auf diese Weise zum flüssigen Eingespieltsein der drei Ebenen zu passen, mithin als Theorien Erklärungs- und Prognosekapazität zu besitzen. Ist das der Fall, dann ist die Theorie wohlbegründet und gültig.
Literatur Abel, Günter 2012: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52. Abel, Günter 2015: Interpretationswelten. Direkte und abgeleitete Wirklichkeiten, in: Fenomenologia 13, S. 69 – 87. Scheffler, Israel 1986: Four Pragmatists. A Critical Introduction to Peirce, James, Mead, and Dewey, London. Schwartz, Robert 2012: Rethinking Pragmatism. From William James to Contemporary Philosophy, West Sussex. Smullyan, Raymond 1983: 5000 B.C. and Other Philosophical Fantasies, New York.
Kapitel 17: Interpretation der Interpretation
Hans Lenk
Interpretationsphilosophie und Interpretationismus als ‚Erste Philosophie‘? Abstract: Methodological Interpretationism (since 1978 or later scheme-interpretationism) and interpretation philosophy are parallel, if not really the same basic approaches. Minor differences are mostly terminological ones – as discussed in 1988. These are taken up here again – as also questions of higher (meta‐)levels of interpretation, indirect realism and in general a ‘methodological turn’ in interpretation philosophy of both provenances.
1 Interpretationskonstrukte und „Interpretationswelten“ 1.1 Einleitung Günter Abel und ich begannen unabhängig voneinander und aufgrund teils ähnlicher, teils unterschiedlicher philosophischer Grundansätze, Konzepte des interpretatorischen Philosophierens über die Erkenntnistheorie und Methodologie des Beschreibens, Erklärens und Handelns unter dem Gesichtspunkt der Interpretationsstrukturierungen zu entwickeln. Ich hatte seit Anfang der 70er Jahre eine Methodologie der theoretischen Konstrukte (Lenk 1975, 1978) sowohl für die Sozialwissenschaft (Motivationstheorie, Handlungstheorie) als auch für die Auffassung philosophischer Konzepte im Sinne der regulativen Ideen Kants entworfen und zusammengeführt zu einer philosophischen Analyse auch der Begriffe ‚Vernunft‘, ‚Werte‘ usw. sowie von Alltagsbegriffen, insbesondere in den Humanwissenschaften. Abel startete im Wesentlichen von Nietzsches Philosophie ausgehend (s. N) zu seiner Version der ‚Interpretationsphilosophie‘, die überraschend zu ähnlichen Ergebnissen führte wie mein fast ein Jahrzehnt zuvor entwickelter Ansatz der Erkenntnis- und Handlungstheorie. Die Parallelitäten und Übereinstimmungen waren so groß, dass man seit Mitte der 80er Jahre von einer Art von Interpretationsphilosophie als quasi erkenntnistheoretischer Grunddisziplin, geradezu als einer ‚Ersten Philosophie‘ sprechen kann. Dabei gab es gewiss kleine Differenzen, die zum Teil terminologischer Art waren (und wohl noch sind), aber zumeist doch wohl überbrückt werden konnten. Es verbleiben aber noch einige unterschiedliche Akzentsetzungen und Betonungen, die auch in unserer gemeinsamen Diskussion (Lenk 1988, Abel 1988) nicht ganz ausgeräumt werden https://doi.org/10.1515/9783110522280-074
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konnten. Diese Diskussion hinsichtlich des hypothetisch-realistischen Ansatzes und der Frage der Weltversionen bzw. -perspektiven soll auch hier nochmals aufgegriffen werden und zumal an Abels jüngstem Beitrag hierzu (2009, 2010) nochmals kurz erörtert werden. Ich denke, dass dabei eine Präzisierung (oder die Frage nach einer solchen) bzw. Klärung hinsichtlich möglicher grundphilosophischer Unterschiede nur erfolgen kann, wenn einige Missverständnisse auch von Sekundärautoren (z. B. Graeser, vgl. Abel 1996: 274) ausgeräumt werden können.
1.2 Interpretatorisch erfasste Welt(version)en Schon in unserer gemeinsamen Diskussion von 1988, die leider damals nicht mehr weitergeführt werden konnte und daher noch der Wiederaufnahme harrt, wurden die Konzepte, die geradezu zu einem (‚gemeinsamen‘?) Gesamtansatz gerechnet werden können, deutlich, wenn auch in der Diskussion aus Gründen der Präzisierung und Profilierung die Differenzpunkte ein wenig überspitzt worden sind, wie ich finde. Abel hat später (in Iw, SZI) weithin von meiner Terminologie der Interpretationskonstrukte (Lenk 1993, 1993a und schon 1978) Gebrauch gemacht, wenn auch diesen später nicht mehr differenzierend nachgewiesen (z. B. ZdW, 2009, 2010). Trotz differierender Beschreibungsterminologie in manchen Punkten ist generell doch von einem einheitlichen Ausgangspunkt auszugehen, was die erkenntnistheoretische und methodologische perspektivistische Grundthese angeht und die Überzeugung der, wie Abel immer wieder zu Recht betont, ‚Internität‘ aller erkenntnistheoretischen Unterscheidungen. Ich sehe mittlerweile, dass Abel den von mir (1993a) anhand des NietzscheBuches (N) kritisierten „Interpretationsidealismus“ wohl nicht (oder nicht mehr) vertritt oder sehr abgemildert hat, so dass meines Erachtens eine methodologische Konzeption der grundphilosophischen Konzeption sich herausgeschält hat, die ich – wenn die Interpretationsphilosophie so gemeint ist – sehr wohl nachvollziehen kann.¹ Wir sind uns also einig, dass Ontologie nicht absolut erste Grundphilosophie ist, wie seit und von der Antike aus gesehen, sondern eine theoretische Konzep-
Übrigens habe ich nicht, wie manchmal Abel (1988, 1996) meinte, ihm eine absolutistische ontologische Auffassung unterstellt, sondern eher vorsichtig bzw. fragend formuliert (Lenk 1993a: 225), er habe die „methodologische Transzendentalität des Leibes ähnlich wie Nietzsche zu einer Art von ontologischem Geschehenscharakter“ hochstilisiert, „der nur in beschränktem Sinne überzeugt, nämlich lediglich in dem Maße, wie alle Erkenntnis, alle Erfassbarkeit interpretativ geprägt ist“.
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tion, die perspektivischen Charakter trägt und selbst interpretatorisch gefärbt bzw. nur so gefasst werden kann, also Interpretationsschemata bzw. -begriffe oder Interpretationsperspektiven voraussetzt. Methodologisch gesehen sind in der Tat alle Unterscheidungen stets selber abhängig von darin eingehenden und vorausgesetzten interpretatorischen Mitteln, zum Beispiel sprachlichen oder vortheoretischen oder gar vorsprachlichen Musterbildungen bzw. Schematisierungen, die zum Teil sogar auf erbliche basale Anlagen des menschlichen Leibes, Handelns, Erkennens und gestischen Verhaltens sowie des Verwendens von Zeichen und Symbolen zurückgeht. Insofern ist von einer bestimmten Perspektive aus gesehen jegliches erkenntnistheoretische Unterscheiden sozusagen „intern“ zu verstehen, wie Abel im Anschluss an Putnam gerne sagt. Dies gilt besonders auch für Handlungen und die „Handlungsförmigkeit“ unseres Denkens: Auch hier handelt es sich um interpretativ gefärbte „Konstrukte“, zum Beispiel der Motivation oder der Vernunftgründe (Lenk 1975: 177 f., 47 ff. u. ö.). Generell ist es sicherlich sinnvoll, von bestimmten ontologischen Unterschieden zu sprechen wie auch von einer ‚Wirklichkeit‘ oder ‚Realität‘, die unabhängig von uns Menschen als existierend angenommen, aber nur mit Hilfe unserer interpretatorischen Konzepte (begrifflichen Werkzeuge und Grundkategorisierungen bzw. Einstellungen und Perspektiven) gefasst werden kann. Hier nähern wir uns bereits einem Differenzpunkt, der seit unserer Diskussion 1988 nicht endgültig geklärt werden konnte: Abel spricht immer von „Interpretationswelten“ (Iw), meint aber offensichtlich, was ich „Weltversionen“ nennen würde. Hierzu meinte er (z. B. 1988: 80): „Auf dieser Ebene wird die Wirklichkeit der Welt allererst als Wirklichkeit hervorgebracht. Es gibt da nicht ein Etwas, das auf seine Organisation durch eine Interpretation wartet, sondern in Interpretation1-Prozessen wird etwas als bestimmtes Etwas hervorgebracht. Jede Veränderung in der Interpretation1 bedeutet mithin eine andere Welt.“ Dies scheint mir eine etwas missverständliche Terminologie zu sein: Hervorgebracht oder besser erfasst wird eine Wirklichkeitsversion oder Weltversion statt einer Welt bzw. jeweils anderen Welt. Dies scheint mir ein etwas laxer Umgang mit dem Ausdruck ‚Welt‘ zu sein bzw. ein unnötiges Vermeiden des besseren Begriffs einer (selbstverständlich interpretatorisch gefärbten) Weltversion. Natürlich ist jede Unterstellung einer von uns unabhängigen oder bereits vorgegebenen, wenn auch nur durch uns selber in Form von unseren Interpretationskonzepten zu erfassenden Welt, eine interpretatorisch gefärbte Versionsauffassung. Darüber besteht keine Differenz. Alles, was als „unabhängig von uns“ interpretiert werden kann (von einer begrenzten etwa hypothetisch-realistischen Basis aus), ist abhängig von diesem Ur-Ansatz im Lichte von Primärinterpretationen, Zeichenverwendungen, Begriffen, bildlichen und gestischen Erfassungen usw.
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Die Rede der „Herbringung“ einer „Wirklichkeit“ oder „Welt“ (Iw) kann nicht so verstanden werden, dass idealistisch die Welt sozusagen produziert wird, sondern nur, dass die Erfassung einer entsprechenden Weltversion bzw. Weltinterpretation ein Vorgang „in bzw. kraft (nicht bloß vermittels) der Zeichen“ (ZdW 81) ist. Abel (2009: 39; 2010: 132 f.) unterscheidet zwischen einem Verhältnis von Zeichen zur entsprechenden Zeichenreferenz „im genitivus objectivus und subjectivus“, also den (nicht bloß) vermittels, sondern „kraft der Zeichen“ gestalteten Funktionalitätscharakter der Zeichenbezüge zu den Referenzobjekten (auch den eventuell theoretischen bzw. „epistemischen“, wie er sagt) von den Bezügen „in Zeichen“. Zeichen können nicht sozusagen vorfabrizierte oder vorhandene Dinge oder Gegenstände schlechthin repräsentieren bzw. ‚bezeichnen‘, sondern, so Abel, „angesichts des direkten Weltbezugs kraft Zeichen“ könne bei allen erfolgreichen Fällen des „Zeichenverwendens und Zeichenverstehens letztlich nicht mehr verständlich gemacht werden, was es heißen soll, zwischen dem erfolgreichen Zeichengebrauch und der Wirklichkeit resp. der darin beschriebenen Realität eine logische Kluft ansetzen zu wollen“. Man könne hier nicht von einer „Brücke von den Zeichen zur Wirklichkeit“ reden und „zu diesem Zwecke etwa Brückenprinzipien anzusetzen oder nach solchen zu fahnden“ suchen. (Ibd.) Wenn wir die differenzierende Redeweise von den Weltversionen und Wirklichkeitserfassungen als Interpretationskonstrukte einführen, können wir durchaus diese Unterschiede kennzeichnen und auch gewisse, wenn auch nicht absolutistisch verstandene logische Unterscheidungen der Ebenen bzw. Stufen vornehmen – durchaus bei vorausgesetztem Perspektivismus der jeweiligen interpretatorischen Grundvoraussetzungen und -ansätze. Hier kann man tatsächlich danach, wie wir es in unserer natürlichen Alltagseinstellung alle tun, von einer ‚interpretierten Wirklichkeitsversion‘, in der wir handelnd und beschreibend bzw. erfassend im aktiven wie passiven Sinne leben, sprechen, eben von einer bestimmten methodologisch vorausgesetzten perspektivischen Warte aus. Allenfalls ‚bringen‘ wir dann die Weltversion² bzw. einen Teil davon als Interpretationskonstrukt ‚hervor‘ oder ‚erfassen‘ diese(n) (wie es wohl weniger missverständlich heißen könnte und sollte), ohne dass wir bei jeder abweichenden Version bereits eine ‚andere Welt‘ zu gewärtigen hätten. Das ändert nichts an Abels richtiger „Pointe“, „dass die Wirklichkeit im erfolgreichen Verwenden und Verstehen der Zeichen intern immer schon bei den Zeichen ist, und diese nicht
Übrigens müsste natürlich auch Goodmans (1978, 1984) „Welterzeugung“ („Worldmaking“) als Weltversions- bzw. Weltmodellierung verstanden werden.
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erst noch mit jener in eine externe Verbindung gebracht werden müssen“ (2009: 39, 2010: 133). Hierbei wäre auch eine weitere Ergänzung oder Änderung eines Bildes meines Erachtens sinnvoll: Abel spricht vom „Drehtüreffekt“, der darin besteht, dass „Wirklichkeit stets ebenso zeichen- und interpretations-abhängige Wirklichkeit [ist,] wie umgekehrt in funktionierenden Zeichen Wirklichkeit stets bereits präsupponiert, gegeben ist“ (ibd.) – wobei sich der „Drehtüreffekt“ der Zeichen der „Wirklichkeit“ aber bereits auf alle Verwendungen von Zeichen, Modellen, Sprachen und Interpretationen in der Wissenschaft wie auch in der Alltagserkenntnis beziehen mag. In der Tat ist es richtig, den Zusammenhang zwischen theoretischen Konstrukten, „epistemischen Objekten“ und „Zeichen- und Interpretationsprozessen“ als „intern, nicht extern“ zu verstehen (2009: 40; 2010: 135). Es ist, wie Abel zu Recht betont, eine sozusagen „nicht-repräsentationalistische Theorie der Repräsentation erfordert“ (2009: 40; 2010: 133), es geht eher um ein Passen unserer Modelle und Konzepte zu unserer Lebens-, Handlungs- und Wissenschaftspraxis als um isomorphe Abbildungen vorfabrizierter und fixierter Objekte ‚an sich‘. So genannte Abbildungen in Wissenschaften sind eben auch modelliert bzw. konstruiert wie Elementarteilchen wie das Higgs-‚Teilchen‘ oder Bildwiedergaben in der funktionalen Magnetresonanztomographie. Insofern hat Abel modelltheoretisch Recht, dass „Gegenstandskonstitution und Begriffskonstitution […] intern und drehtürartig miteinander zusammen“ hängen (2009: 42; 2010: 137). Nur ist diese Metapher zwar eingängig, aber doch etwas zu eng geführt: Es ist nicht einfach ein Hin- und Herdrehen der Tür, sondern es sind z. B. Stufendifferenzen zwischen der theoretischen (eventuell höherstufigen) Erfassung und der experimentellen Gegenstandserfassung einzubeziehen. Vielleicht wäre besser, eher von einer ‚Wendeltreppe‘ oder ‚Spirale‘ statt einer Drehtür, die immer nur auf derselben Ebene funktionieren kann, zu sprechen, zumal Abel selber von den „Top Down“- sowie „Bottom Up“-Übergängen in seinem „Stufenmodell der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse in Bezug auf epistemische Objekte“ (2009: 49; 2010: 146 f.) spricht. Das Bild der Wendeltreppe (samt evtl. mehreren Drehtüren je auf unterschiedlichen ‚Etagen‘) würde dem Auf- und Absteigen zwischen den Metastufen sowohl der theoretischen wie auch der sprachlichen Provenienz besser entsprechen als die bloße Drehtür-Metapher und zugleich dem Stufenmodell noch plastischer Rechnung tragen. Abel benutzt gerne Metaphern statt differenzierter Erklärungen (wie wir oben schon gesehen haben, z. B. bei „kraft“ oder „in Zeichen“ statt „vermittels“, was nicht ausreichend erklärt wird, oder eben bei „Zeichen- und Interpretationsverhältnissen“ in einer „schleifenförmig in sich zurücklaufenden Struktur des Verhältnisses von Epistemikaspekt und Objektaspekt“ (2009: 38; 2010: 131)). Metaphern erläutern plastisch, erklären aber nicht differenziert bzw. begründen nicht
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faktormäßig, sondern konstruieren eingängig – manchmal zu eingängig – und verdecken dadurch unter Umständen notwendige Teile der Differenzierung.³
1.3 Theoretische und „epistemische“ Objekte Dies alles schlägt auch auf die Rolle der „epistemischen Objekte“ und deren „epistemische Rechtfertigung“ durch, nach Abel „eine Art siamesische Zwillinge“ (2009: 45; 2010: 141). In der Tat sind epistemische Objekte in erweiterter funktionaler Auffassung als prozessual eingebettete ‚theoretische Gegenstände‘ oder Interpretationskonstrukte zu erfassen, die von theoretischen Begriffen (und nur so) bezeichnet werden (können). So können sie in der Tat als „Interpretationskonstrukte“ angesehen werden, d. h. „unter ihrem Epistemikaspekt als perspektivische, konstruktionale, schematisierende, projizierende und modellierende Konstruktbildungen verstanden werden“. (2009: 47; 2010: 144) Die „Interpretationsgebundenheit eines jeden Zeichens“ beginnt nicht erst mit den semantischen und pragmatischen Merkmalen („Situiertheit und Eingebettetsein in Kontext, Situation, Zeit und Kultur“). „Sie ist vielmehr konstitutiv bereits für das, was es für ein Zeichen hei[ß]t, eine Zeichenfunktion, etwa seine denotierende, referenziale Kraft auszuüben. Wenn etwas überhaupt als ein Zeichen fungiert, symbolisierende Kraft besitzt“ und „[…] als ein epistemisches Objekt fungiert, symbolisierende, objekt-, phänomen- und sachstands-erhellende Kraft besitzt und diese ausübt“, „dann liegt dieser Funktion stets bereits eine interpretative Praxis der Zeichenverwendung zugrunde“ – und zwar in mehrfachem Sinne (störungsfreies Funktionieren und Deutung des Zeichens für „flüssige Verständigung“). (2009: 47 f.; 2010: 144 f.) Die Redeweise von der ‚aus(zu)übenden symbolischen Kraft‘ ist wiederum eine etwas pauschale Metapher (z. B. in ZdW 23 u. ö.), welche ebenso wenig differenziert geklärt wurde wie die generalisierte Rede von Zeichen- und Interpretationsfunktionen in toto, wobei im Wesentlichen die Letzteren (Interpretationsfunktionen) „das Fundament der Zeichenfunktionen
Das gilt entsprechend auch für allgemeinere und metastufliche Formulierungen wie die Rede von den „Zeichen- und Interpretationsfunktionen“ und dem „Gehalt“ – z. B. bei „visuelle[n] Kognitionen“, „die sich in bzw. kraft Zeichen vollziehen und nicht-begrifflichen Gehalt, d. h. einen Gehalt besitzen, dessen Diskrimination, Individuation und Manifestation sich nicht einem sprachlichen Aussagesatz, nicht einer sprachlichen Proposition verdankt und dieser auch nicht bedarf“ (2009: 44; 2010: 140). Dies ist ebenso richtig, wie es letztlich als metaphorische Beschreibung unpräzise bleibt: was heißt „vollziehen“ und Gehalt „besitzen“. Was bedeutet „schleifenförmig in sich zurücklaufende Struktur“ denn nur genauer?
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bilden“ sollen, „nicht umgekehrt“ (ZdW 268). Dies ist natürlich eine Folgerung aus der Situations- und Handlungseinbettung. Abels „Grundthese, dass epistemische Objekte […] als Zeichen- und Interpretationskonstrukte konzipiert und modelliert werden können“ und somit „zeichen- und interpretationsverfasst und -abhängig“ sind, „konstruktional“ „funktionieren“ und „eine Genealogie aus einem projektional und perspektivisch verfassten Netzwerk mit anderen epistemischen Objekten ebenso wie Hintergrundannahmen und Zwecksetzungen stets bereits im Rücken“ haben (2009: 49; 2010: 147), ist richtig und betont die Aspekte der Semantik, Konvention und Kategorialisierung, stellt aber in diesem Sinne kein Stufenmodell dar, sondern ein Aspektemodell bzw., wie oben erwähnt, genauer ein Spiral- bzw. WendeltreppenStufenmodell statt der Drehtürmetapher. Die Stufen ‚überlappen‘ einander sozusagen und ruhen auch noch auf theoretischen und prozessualen Schematisierungen zum Teil ererbter, zum Teil erworbener Art auf. Die Prozessualität der Schematisierung verbindet unsere Ansätze in der Tat – zumal auch in dem von mir entwickelten Bewusstseinsmodell (Lenk 2004).
2 Der Interpretationismus ist methodologisch Hatte Abel ursprünglich in seinem Nietzsche-Buch, ausgehend vom Nietzscheschen Prozess des Interpretierens oder interpretativen Geschehens als Äußerung eines „Willen-zur-Macht-Geschehens“, schlichtweg gemeint: „Alles, was ist, interpretiert, und Interpretation ist alles, was ist“ (N 182) bzw. gar „Alles, was ist, ist Interpretation, und Interpretation ist alles, was ist“ (1989: 11), so wurde später von ihm eine etwas indirektistische oder abgeschwächte Form eingeführt – wohl aufgrund unserer wechselseitigen Diskussion, indem durch die indirekte Supposition (durch Anführungsstriche) die Erfassung oder Erfassbarkeit betont wurde. So heißt es später (schon 1985): „Alles, was ‚ist‘, ist Interpretation, und Interpretation ist alles, was ‚ist‘“ (1985: 60). Dies scheint einen Hinweis auf die Supposition der Erfassbarkeit zu beinhalten bzw., wie Abel (1996: 277) feststellt, „eine apagogische, eine indirekte Stütze durch den Aufweis der Unrichtigkeit des Gegenteils“, nämlich der Unmöglichkeit, eine „vorfabrizierte und individuierte fertig[e]“ Welt als daliegende anzusehen, die gleichsam „auf ihre neutrale und passive Wiedergabe von unserer Seite wartet“. Diese Vorstellung müsse als absolutistisch-separatistisch und als „gescheitert angesehen werden“. Die früher (in N) geradezu apodiktisch formulierten Ist-Dekretionen, dass „Wahrheit“, „Realität“, „Vernunft“ jedes „Geschehen“ und „die Welt“ sowie „die Wirklichkeit“ (jede Wirklichkeit) schlechthin „Interpretation“ ist, wird hiermit indirektistisch (um)formuliert, wenn man die einfachen Anführungsstriche so auffasst, dass sie
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nicht ein schlechthin gegebenes ontologisches Sein darstellen, sondern darauf verweisen, dass sie nur interpretatorisch angesehen, gefasst, erfasst oder auch nur gemeint (bzw. identifiziert) werden können. Dies zeigt, dass die Interpretationsphilosophie Abels sich von der Unterstellung einer quasi fast ontologistischen Geschehensdynamik Nietzschescher Provenienz gewandelt hat zu einem indirektistischen Konzept der Auffassungs- bzw. Erfassungsweisen, was eine mehr epistemologische oder methodologische Deutung beinhaltet. In der Tat lässt sich die Interpretationsphilosophie in dieser Weise nur als „Grundphilosophie“ auffassen, wenn man sie als methodologische Voraussetzung versteht: Wir können nicht nicht interpretieren, wir können nicht von interpretatorischen Gesichtspunkten völlig absehen, wir müssen – so wird der Interpretationismus eigentlich erst ‚radikal‘ – stets eine interpretationistische Perspektive voraussetzen, können nur in dieser und durch diese überhaupt denken und etwas erfassen, sind also unaufgebbar an ‚Interpretativität‘ gebunden. Der Interpretationismus wird quasi transzendental im Sinne einer unaufgebbaren methodischen bzw. methodologischen Voraussetzung. Dies muss freilich in der Tat kein Interpretationsidealismus sein oder bedeuten, sondern ist eher eine Einschränkung auf einen eben methodologischen Perspektivismus, der seinerseits wiederum auch nur als ein Interpretationsmodell erfasst werden kann. Die notwendige Methodologisierung des Interpretationismus und jeglicher Schematisierungsansätze wie auch der Abelschen Interpretationsphilosophie ist eigentlich nur durch eine Stufung und Selbstanwendbarkeit zu vollziehen. Einerseits sind die Interpretationen selber wiederum nur Interpretationsansätze und von solchen abhängig, andererseits lässt sich eine Abstufung der Interpretationsstufen im Sinne von höherstufigen Metainterpretationen und Metastufen sprachlicher bzw. (meta‐)theoretischer Art wiederum zu einer Selbstanwendbarkeit der Konzeption der Interpretationsphilosophie erweitern. Interpretationistisches Philosophieren ist also zugleich zu beziehen auf kumulatives Metainterpretieren und somit nur in der Weise einer methodologischen Aufstufung auf und über höhere Metastufen der Interpretation bzw. der Schematisierungen zu realisieren. Man muss also einen solchen Schritt ins Methodologische machen, um die Interpretationsphilosophie bzw. den (methodologischen) Schemainterpretationismus als eine Grundphilosophie oder ‚erste Philosophie‘ auffassen zu können. Dies schließt nicht aus, dass man unter speziellen Perspektiven wie zum Beispiel der „natürlichen ontologischen Einstellung“ („Natural Ontological Attitude“, z. B. nach Fine 1984, 1984a) auf einer gewissen Stufe oder von einer gewissen Perspektive aus von ‚real existierenden‘ Objekten, Dingen oder Prozessen redet, die selbst nur in interpretationistischer Zurüstung bzw. abhängig von vorausgesetzten interpretationistischen Perspektiven und Erfassungsmitteln darstellbar und identifizierbar, ja überhaupt meinbar, sind. Interpretation ist also
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vielleicht nicht „Alles“, aber alles und jedes ist nur interpretativ erfassbar – und das heißt auch in Abhängigkeit von jeweils einer spezifischen Perspektive und Stufe der methodologisch gewendeten interpretationistischen Zugriffe. Dabei können hintergründige, biologisch angelegte oder erblich vorgegebene Schemata und Ausformungen von Interpretationsmöglichkeiten eine wesentlich (mit)bestimmende bzw. eingrenzende Rolle spielen. Dies hatte mich ja bewogen, von Uroder Primärinterpretationen quasi transzendental oder biologisch-genetisch fixierter Art als angelegten Möglichkeiten zu sprechen. (Die höherstufigen Interpretationsaktivitäten, die ich interpretatorisch-schematisierende Aktivitäten genannt habe, sind dementsprechend dann eher als variabel und flexibel bzw. konventionell und veränderbar und unter Umständen als eher ‚fließend‘ anzusehen, wie es ja auch Abel über den ‚Konventionsaspekt‘ in seiner „Zeichen- und Interpretationsebene2“ versteht.) Auf diese methodologische Weise lässt sich auch die Variabilität und Veränderbarkeit des Interpretationsgeschehens bzw. der früher so bezeichnete „Interpretationszirkel“ (in N) als methodologische Konzeption bzw. Zurüstung verstehen, wobei das „Geschehen“ (entsprechend der ‚Abelschen Geschehenslogik‘) dann kein ontisches, sondern ein methodisch-interpretatives bedeuten müsste. „Alles was ist, ist Interpretation“ müsste dann entsprechend heißen: „Alles, was als etwas bzw. als seiend oder Seiendes identifizierbar oder erfassbar ist, ist in Abhängigkeit von Interpretationsformen und -perspektiven und -stufen erfassbar und nur so erfassbar.“ Dies muss meines Erachtens mit der Abelschen indirektistischen Formulierung, wie sie durch die einfachen Anführungsstriche bei ‚ist‘ angedeutet wird, so verstanden werden – also als ein Hinweis auf die methodologische Fassung des Interpretationscharakters bzw. des quasi transzendentalen notwendigen Vorausgesetztseins interpretativen ‚Geschehens‘ oder eines interpretatorischen Ansatzes samt unterschiedlicher Stufungen, Typen und Perspektiven. Schematisierung und Interpretieren sind somit erwiesenermaßen in methodologischem Sinne notwendig, unvermeidbar, ja bedingend für alle Spezifizierungen von Erkennen, Handeln, Beschreiben und Identifizieren überhaupt. Dies dürfte der letzte Grundbaustein method(olog)ischer Art der Interpretationsphilosophie sein. Dieser Grundansatz ist unseren beiden diesbezüglichen Arbeiten gemeinsam, ja führt, meine ich, zu einem einheitlichen methodologischen Grundansatz des Schema-Interpretierens und entsprechend Meta-Interpretierens (samt Selbstanwendbarkeit), wie es Abels Philosophie und mein methodologischer Schema-Interpretationismus übereinstimmend formulieren.
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Literatur Abel, Günter 1984: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin / New York, (2. erw. Aufl. 1998); [N]. Abel, Günter 1985: Nominalismus und Interpretation. Die Überwindung der Metaphysik im Denken Nietzsches, in: Simon, Josef (Hg.): Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. II, Würzburg, S. 35 – 89. Abel, Günter 1988: Interpretationsphilosophie. Eine Antwort auf Hans Lenk, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 13/3, S. 79 – 86. Abel, Günter 1989: Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch 96, S. 1 – 19. Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1996: Interpretation und Realität. Erläuterungen zur Interpretationsphilosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21/3, S. 271 – 288. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2004: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.; [ZdW]. Abel, Günter 2009: Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte, in: Feest, Uljana / Rheinberger, Hans-Jörg / Abel, Günter (Hg.): Epistemic Objects. Berlin, (Preprints Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte 374), S. 35 – 56. Abel, Günter 2010: Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte, in: Tolksdorf, Stefan / Tetens, Holm (Hg.): In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können, Berlin / New York, S. 127 – 156; [Wiederabdruck von (Abel 2009)]. Dirks, Ulrich 2010: Interpretation / Interpretationsphilosophie, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, 2. erw. Aufl., Hamburg, Bd. 2, S. 1142 – 1152. Fine, Arthur 1984: The natural ontological attitude, in: Leplin, Jarrett (Hg.): Scientific Realism, Berkeley CA, S. 83 – 107. Fine, Arthur 1984a: And not antirealism either, in: Nous 18, S. 51 – 64. Goodman, Nelson 1978: Ways of Worldmaking, Indianapolis, Ind.; (dt. als: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1984). Lenk, Hans 1975: Pragmatische Philosophie, Hamburg. Lenk, Hans 1978: Handlung als Interpretationskonstrukt, in: ders. (Hg.): Handlungstheorien interdisziplinär, Bd. II, 1, München, S. 279 – 350. Lenk, Hans 1988: Welterfassung als Interpretationskonstrukt, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 13/3, S. 69 – 78. Lenk, Hans 1993: Interpretationskonstrukte, Frankfurt a. M. Lenk, Hans 1993a: Philosophie und Interpretation, Frankfurt a. M. Lenk, Hans 1995: Schemaspiele, Frankfurt a. M. Lenk, Hans 1995a: Interpretation und Realität, Frankfurt a. M. Lenk, Hans 1997: Interpretationen und Impregnationen, in: Simon, Josef (Hg.): Orientierung in Zeichen. Zeichen und Interpretation III, Frankfurt a. M., S. 19 – 40. Lenk, Hans 2000: Erfassung der Wirklichkeit, Würzburg; (erw., engl. als: Grasping Reality, Singapur 2003). Lenk, Hans 2004: Bewusstsein als Schemainterpretation, Paderborn. Lenk, Hans 2011: Deutung (Interpretation), in: Kolmer, Peter / Wildfeuer, Armin G. (Hg.): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 1, Freiburg, S. 508 – 521.
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Das Verhältnis der Zeichen- und Interpretationsphilosophie zum methodologischen Interpretationismus Replik zum Beitrag von Hans Lenk Sehr zu recht betont Hans Lenk die Gemeinsamkeiten zwischen der von ihm entwickelten ‚Methodologie der Interpretationskonstrukte‘ und der von mir entwickelten Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie]. Für die stets fruchtbaren Dialoge, die ich mit Hans Lenk seit vielen Jahren bis heute führen durfte und darf, bin ich überaus dankbar. Wir sind auf diesem Wege zu gemeinsamen Streitern für ein interpretationistisches Philosophieren geworden. Gern also setze ich unseren Dialog fort. Im methodologischen Interpretationismus ebenso wie in der ZuI-Philosophie werden Interpretations-Bildungen, -Prozesse und -Praxen in eine grundlegende Stellung gerückt. Dies erfolgt (a) bei Hans Lenk vor allem in Bezug auf Erkenntnistheorie und Methodologie des Beschreibens, Erklärens und Handelns. Diesen Akzent teilen ZuI-Philosophie und Methodologie der Interpretationskonstrukte nachdrücklich. In der ZuI-Philosophie wird darüber hinaus (b) die Betrachtung zugleich auch auf die Vollzüge, Prozesse und Praxen unserer menschlichen Erfahrungswirklichkeiten selbst sowie unserer triangulären Welt-, Fremd- und Selbst-Verhältnisse gelegt, deren Vollzüge als ZuI-Verhältnisse charakterisiert und entfaltet werden. In einem gegenüber dem methodologischen Interpretationismus erweiterten Sinne geht es in der ZuI-Philosophie mithin nicht nur um methodologische und erkenntnistheoretische Klärung der Bedingungen von Wirklichkeit. Es geht in ihr darüber hinaus und zugleich auch um den Charakter, die Verfasstheit und die Prozessualität der Wirklichkeit von Erfahrung selbst. Und da die erste Hinsicht der Betrachtung (Methodologie, Erkenntnistheorie) als zeichen-verfasst und interpretations-bestimmt charakterisiert wird, kann diese Charakterisierung konsequenter und selbstbezüglicher Weise auch auf die zweite und erweiterte Hinsicht als Leitfaden der Betrachtung übergehen. Entsprechend werden in der ZuI-Philosophie die Vollzüge, Prozesse und Praxen unserer Welt-, Fremd- und SelbstVerhältnisse selbst als ZuI-Vollzüge, ZuI-Prozesse und ZuI-Praxen charakterisiert, entfaltet und analysiert. Neben den Interpretations-Prozessen habe ich gleichursprünglich die Zeichen-Prozesse sowie beide als Siamesische Zwillinge in den Fokus der Aufmerkhttps://doi.org/10.1515/9783110522280-075
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samkeit gerückt und spreche daher von Zeichen- und Interpretations-Prozessen. Dieser Aspekt signalisiert zwar eine Erweiterung gegenüber Hans Lenks Konzentration vor allem auf ‚Interpretationskonstrukte‘, soll aber in meinen folgenden Ausführungen nicht in den Vordergrund treten. Ich spreche durchgehend von ZuI-Prozessen und ZuI-Praxen, beziehe mich in der vorliegenden Replik aber vorwiegend auf die Interpretationsseite der internen Verschränkung von Zeichen und Interpretation. Adualistisch gilt: es gibt keine bedeutungsvollen, sinnvollen und relevanten Zeichen ohne die diesen gleichursprünglich eingebauten interpretatorischen Aktivitäten; und es gibt keine bedeutsamen, sinnvollen, relevanten und orientierenden Interpretationen ohne darin involvierte Zeichenvollzüge. Im Zentrum meiner Replik steht das Verhältnis von ‚methodologischem Interpretationismus‘ und ZuI-Philosophie. Dass es dabei seit der ersten Diskussion zwischen Hans Lenk und mir in der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie (Lenk 1988 und Abel 1988) auch zu „unterschiedlichen Akzentsetzungen und Betonungen“ gekommen ist, kann freilich nicht über die auf unterschiedlichen Wegen zustande gekommenen „ähnlichen Ergebnisse“ (Lenk-Beitrag, Kap. 1.1) und Übereinstimmungen hinwegtäuschen. Die Gemeinsamkeiten überwiegen deutlich. Eher sehe ich die Situation so, dass die Einbeziehung auch der Unterschiede zwischen beiden Ansätzen das interpretationistische Philosophieren insgesamt bereichert und stärkt. In meiner Replik möchte ich die folgenden drei Punkte adressieren und erörtern: 1. Gemeinsamkeiten zwischen der ZuI-Philosophie und der Methodologie der Interpretationskonstrukte. 2. Grundzüge der ZuI-Philosophie. 3. Unterschiede zwischen ZuI-Philosophie und methodologischem Interpretationismus.
1 Gemeinsamkeiten zwischen der Zeichenund Interpretationsphilosophie und der Methodologie der Interpretationskonstrukte Die ZuI-Philosophie trifft sich in einer Vielzahl von Punkten mit der Methodologie der Interpretationskonstrukte. Dies ist der Fall vor allem in der gemeinsamen Betonung der konstruktionalen Aspekte einer jeden Theorie des Erkennens sowie der Methodologie des Beschreibens, Erklärens und Handelns. Zur Illustration dieser Gemeinsamkeiten möchte ich im Folgenden neben dem eingangs angesprochenen grundsätzlichen Aspekt einer Erweiterung der ganzen Betrachtung lediglich vier Themenfelder betonen (die bei Hans Lenk und bei mir gleichermaßen eine wichtige Rolle spielen). Ich meine die interpretationistischen Konzeptionen (a) von epistemischen bzw. wissenschaftlichen Objekten, (b) der ZuI-
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Abhängigkeiten ontologischer Argumente, (c) der ‚Handlungen als Interpretationskonstrukten‘ (Lenk) und (d) den ZuI-Charakter der Bedeutung und Referenz unserer Wörter, Gedanken und Handlungen. Zu (a): Wie sehr Hans Lenk vor allem an der erkenntnistheoretischen und methodologischen Seite der Interpretationsverhältnisse interessiert ist, zeigt sich unter anderem daran, dass er meiner Abhandlung Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte (Abel 2009 u. 2010a) in nahezu allen Punkten nachdrücklich zustimmt (s. Kap. 1.3). Diese Abhandlung konzentriert sich erklärtermaßen nicht auf das weitere Feld der für unsere Erfahrungswirklichkeiten selbst kennzeichnenden ZuI-Prozesse und ZuI-Praxen. Sie konzentriert sich vielmehr bewusst auf den eingeschränkteren Bereich der epistemischen und des näheren wissenschaftlichen Objekte. Im ZuI-Stufenmodell gesprochen geht es in der Abhandlung mithin vor allem um die ZuI3-Ebene, des näheren um die Seite des Epistemik-Aspekts wissenschaftlicher Objekte (wie zum Beispiel ‚Atom‘, ‚Molekül‘, ‚Gen‘ oder ‚Galaxie‘, so wie diese als theoretische und interpretationskonstruktionale Gegenstände konzipiert werden). Diese Übereinstimmung im Felde von Methodologie und Erkenntnistheorie möchte ich nachdrücklich hervorheben. Zu (b): Auch teilen Lenk und ich die Auffassung, dass Ontologie nicht mehr einfach „absolut erste Grundphilosophie“ (Kap. 1.2) sein kann. Ontologische Argumente sind stets zeichen-, interpretations-, sprach-, schema-, theorie-, sinnund relevanz-abhängig. Das heißt jedoch keineswegs, dass sie irrelevant wären. Aber bei näherem Hinsehen erweisen sie sich eben als im Kern ZuI-gebundene Argumente. Und dieses Setting von Gebundenheiten und Abhängigkeiten sollte meines Erachtens auch in jede gegenwärtige Behandlung ontologischer Fragen einbezogen und nicht einfach übersprungen werden. In diesem Sinne liegt die ZuI-Philosophie nicht nur der metaphysischen Ontologie traditioneller Prägung, sondern auch den moderateren „ontological commitments“ (Quine) ebenso wie den „natürlichen ontologischen Einstellungen“ (A. Fine), auf die Lenk (s. Kap. 2) rekurriert, stets bereits im Rücken und zugrunde. Zu (c): In einem vielbeachteten Aufsatz von 1978 hat Hans Lenk gezeigt, dass Handlungen als Interpretationskonstrukte (Lenk 1978) konzipiert werden können. Diese Auffassung teile ich nachdrücklich. Sie wird auch in dem Maße wichtig, in dem der Begriff der Handlung (zusammen mit dem der Fähigkeiten) in jüngster Zeit in Philosophie, Wissenschaften, Künsten und Alltagswissen eine überaus positive Karriere hingelegt hat. Philosophie des Handelns und des Wissens sind nicht von ungefähr zwei der in der Gegenwartsphilosophie wichtigen Zweige des Philosophierens. Und offenkundig können beide Zweige als Beispiele zeicheninterpretationistischen Philosophierens angesehen werden.
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Im Vokabular der ZuI-Philosophie möchte ich die Lenksche (und deutlich konstituenten-theoretische) These von Handlungen als Interpretationskonstrukten wie folgt artikulieren (Näheres siehe in ZdW 346 f.). Jede Grenzziehung zwischen einer Handlung (als bewusster und zielgerichteter Tätigkeit) und einem bloßen Geschehen (als Bewegungsablauf oder Reiz-Reaktions-Vorgang) und jede Individuation von Handlungen und Handlungsgehalten können als zeichen-verfasste und interpretations-bestimmte Grenzziehungen und das Ergebnis als ein ZuI-Konstrukt angesehen werden. Dass und in welchem Sinne Handlungen selbst als perspektivisch, konjektural, projizierend, konstruktional, kurz als zeichenverfasst und interpretations-bestimmt gekennzeichnet werden können, habe ich auch in dem Buch Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI) im Kapitel Vereinheitlichte Theorie von Wissen und Handeln anhand einer „interpretationistischen Handlungstheorie“ in insgesamt zwanzig Punkten verdeutlicht (ZdW Kap. 13). Zu diesen Punkten zählen beispielsweise, dass im Handeln ein Gesichtspunkt eingenommen wird; dass Spielräume umgrenzt und Grenzen gezogen werden; dass Selektion, Präferenzierung, Tilgung oder Komplettierung erfolgen; dass neu auftretende Situationen taxiert und dass Zuschreibungen vorgenommen werden. Der zeichen- und interpretations-bestimmte Charakter dieser Prozesse gilt sowohl für die Dritte-Person-Perspektive eines äußeren Beobachters als auch in der Ersten-Person-Perspektive des Handelnden, und zwar nicht nur retrospektiv, sondern auch in konstitutiver und prediktiver Hinsicht. Hinzu tritt in der ZuIPhilosophie gleichursprünglich die Zweite-Person-Perspektive. In dieser manifestiert sich die Möglichkeit und Wirklichkeit, dass andere Personen/Subjekte andere Handlungen sowie Handlungen auf unterschiedliche Weise generieren, klassifizieren und evaluieren können. Für die ZuI-Philosophie ist wichtig, dass Handlungen stets situierte Handlungen sind, mithin aus einem ZuI-Horizont sowie der zugehörigen ZuI-Praxis heraus und auf diese hin erfolgen. Zu (d): Fragen der Referenz und Bedeutung von zum Beispiel Wörtern, Gedanken und Handlungen können als Fragen behandelt werden, bei deren Beantwortung auf Beziehungen zwischen unterschiedlichen ZuI-Stufen zurückgegriffen wird (vgl. in diesem Sinne auch Dürr/ Lenk 1995). Innerhalb des Stufenmodells der ZuI-Philosophie lässt sich dies am Beispiel der Referenz wie folgt beschreiben. Zum einen besteht eine Beziehung zwischen der referenzialen Zeichenfunktion und den raum-zeitlich lokalisierten Referenzobjekten. Dabei ist die Referenzfunktion der individuellen Sprecher-Referenz auf der ZuI3-Ebene und die semantische Sprach-Referenz der Sprach- und Zeichengemeinschaft auf der ZuI2-Ebene angesiedelt. Zum anderen geht es um das Zusammenwirken der verschiedenen Stufen von ZuI-Verhältnissen. Des näheren können dabei die Referenzobjekte als von der ZuI3-Ebene und auch von der ZuI2-Ebene unabhängige Objekte angesehen werden. Nicht jedoch sind die Referenzobjekte unabhängig
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von den ZuI1-Prozessen, ihrer raum-zeitlichen Lokalisierung, ihrer Individuation und ihrer Identifikation sowie Re-Identifikation. Wichtig ist vor allem aber die Einsicht, dass Referenz nicht einfach nur einer einzigen Ebene zuzuordnen ist. Vielmehr sind verschiedene Ebenen mit ihren je unterschiedlichen Evidenzweisen konnektiv beteiligt. Sofern das Referieren gelingt und erfolgreich ist (mithin das referenziale Kommunizieren, Handeln und Kooperieren zwischen Personen und in ZuI-Gemeinschaften flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich fortgesetzt werden können), können wir ein solches Zusammenwirken als erfüllt unterstellen. Die Rede vom ‚Gelingen‘ des Referierens meint im ZuI-Stufenmodell ein Treffen, Passen, meint Gleichtaktigkeit und Zusammenspiel verschiedener ZuIEbenen untereinander. Im Folgenden möchte ich einige Grundzüge der ZuI-Philosophie formulieren, die sowohl Methodologie-Aspekte als auch in dem skizziert erweiterten Sinne ZuI-Philosophie-Aspekte sowie beider Verschränkungen verkörpern. Ich nutze also den Dialog mit Hans Lenk, um einige Grundzüge des ZuI-Philosophierens zu verdeutlichen und möchte diese Verdeutlichung gewissermaßen als Angebote für den weiteren Dialog verstehen.
2 Grundzüge der Zeichen- und Interpretationsphilosophie 2.1 Generelle Kennzeichnung In der ZuI-Philosophie geht es um ein angemessenes Verständnis der Tatsache, dass wir uns immer schon in Verhältnissen der Welt-, Fremd- und Selbstbezüglichkeit befinden. Diese Verhältnisse können als ZuI-Verhältnisse, des näheren als perspektivische, schematisierende, konstruktionale, projizierende, auslegende und darin Erfahrung organisierende Verhältnisse und Aktivitäten konzipiert werden. Zeichenverfasstheit und Interpretativität meinen darin nicht eine zusätzliche Prozedur des Deutens, sondern den nicht hintergehbaren Charakter der Vollzüge menschlichen Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens selbst. In der ZuI-Philosophie geht es mithin darum, die zeichen- und interpretations-bezogenen Grundlagen der Verständigung, des Erkennens, des Weltbezugs und der Weltgestaltung in Lebenswelt, Wissenschaft, Ethik und Kunst zum Leitfaden der Betrachtung zu machen. Jede diskriminierte, individuierte, raum-zeitlich lokalisierte, spezifizierte, in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückte So-undso-Welt und -Wirklichkeit kann daher als eine ZuI-Welt bzw. -Wirklichkeit ange-
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sprochen und behandelt werden. Wir leben in ZuI-Wirklichkeiten und in diesem Sinne in ZuI-Welten. Selbstverständlich heißt dies nicht, dass alles einfach Zeichen und Interpretation ist, dass Realität und Realismus über Bord gehen, dass unsere mentalen Zustände ebenso wie unsere Handlungen bloße Fiktionen, Illusionen, Produkte der Phantasie, am Ende gar bloße Halluzinationen seien. Aber es heißt, dass wir das, was wir mit guten Gründen Sinn, Relevanz, Wirklichkeit und Welt nennen, auf dem Boden der Grund-Einsicht in die zeichen- und interpretations-bestimmte Situiertheit, Verfasstheit und Strukturiertheit unserer triangulären Welt-, Fremdund Selbstverständnisse formulieren müssen. Das ist die Aufgabe, der sich die ZuI-Philosophie verschrieben hat. In diesem Sinne grenzt sich die ZuI-Philosophie entschieden vom dekonstruktivistischen Paradigma der Postmoderne ab. Vielmehr adressiert und verkörpert sie den Bereich der zeichen-interpretativen Quellen und Prozesse des Making Sense, der Genese, Genealogie und Logik von Bedeutsamkeit, Sinn und Relevanz. Diese Quellen und Mechanismen sollen verdeutlicht und im Blick auf ihre grundlegende Rolle in unseren Ich-Wir-Welt-Beziehungen beschrieben, analysiert und darin zugleich in ihrer normativen Funktion für unsere Orientierung in der Welt, anderen Personen und uns selbst gegenüber eingesetzt werden. Letzterer Aspekt kann geradezu als die humane, normative und ethische Dimension der ZuI-Philosophie angesehen werden. Wenn man so will, geht es mir um so etwas wie eine Genealogie und durchaus auch prediktive und normative Logik von Bedeutsamkeit, Sinn und Relevanz, die in der ZuI-Philosophie als ZuIProzesse analysiert und gestaltet werden. Darin geht es, wohlgemerkt, nicht um Bedeutsamkeit, Sinn und Relevanz der Logik. Es geht vielmehr um die Logik von Bedeutsamkeit, Sinn und Relevanz. Dieser Unterschied ist von kardinaler Wichtigkeit. Vor diesem Hintergrund kann Philosophieren selbst als ein Explizieren der zeichen-interpretatorischen Situiertheit, Verfasstheit und Prozessualität unserer menschlichen Welt-, Fremd- und Selbst-Verhältnisse/-Verständnisse angesehen und entfaltet werden. Philosophieren selbst wäre in diesem Sinne: Interpretieren des Interpretierens. In meiner Replik auf Gama Barbosa habe ich den genauen Sinn dieses selbstbezüglichen Verhältnisses ausbuchstabiert. Auf diese Replik möchte ich an dieser Stelle eigens verweisen.
2.2 Stufenmodell der Zeichen- und Interpretationsverhältnisse Um den unterschiedlichen Typen und Dynamiken von ZuI-Prozessen gerecht zu werden, wurden in heuristischer Einstellung ein vertikales 3-Stufen-Modell und
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ein horizontales 3-Dimensionen-Modell der ZuI-Verhältnisse entwickelt (siehe dazu detailliert Abel 1989). Das horizontale Dimensionen-Modell unterscheidet Logik, Ästhetik und Ethik der ZuI-Verhältnisse. Auf diese Seite des ZuI-Modells möchte ich hier nicht näher eingehen. Wichtiger ist mir im Augenblick das vertikale 3-Stufen-Modell, welches ich kurz anhand des Beispiels des Sprechens einer Sprache verdeutlichen möchte. Dabei gehe ich von der ZuI3-Ebene aus, auf der unter anderem unsere kognitiven Aktivitäten im engeren Sinne, wie Beschreiben, Theoriebilden, Deuten und Erklären, angesiedelt sind. Im Falle des Sprechens einer Sprache ist dies die Ebene der bereits erwähnten Sprecher-Bedeutung. Tritt auf dieser Ebene ein Störfall ein und wird, zum Beispiel, nach der Bedeutung eines Ausdrucks (etwa von ‚Tisch‘ oder ‚Atom‘) gefragt, gehen wir zwecks Behebung des Störfalls in der Regel auf die tieferliegende ZuI2-Ebene unserer Gewohnheiten, Konventionen, Rituale, eingeübten kulturellen Praktiken und stereotypischen Verhaltensformen zurück. Im Falle der semantischen Sprach-Bedeutung haben wir es hier mit dem Rückgang beispielsweise in Sprach-Konventionen zu tun. Eine Antwort ist dann, dass wir den fraglichen Ausdruck normalerweise im Sinne einer So-und-soKonvention/-Gewohnheit verwenden. Wir gehen hier also von Ebene 3 (SprecherBedeutung) reflektierend in Ebene 2 (Bedeutung in einer gegebenen Sprache, etwa dem Deutschen) zurück. Wird nach dem gefragt, worin diese Ebene-2-Bedeutung ihrerseits verankert ist, gehen wir reflektierend auf die wiederum tieferliegende ZuI1-Ebene zurück. Im Sprach-Beispiel wäre dies die Ebene der Sprachlichkeit unseres In-der-Welt-seins. Mit dem Rückgang in diese Ebene bewegen wir uns auf derjenigen Ebene, in welcher der Raum der Bedeutsamkeit (im Sinne des englischen Ausdrucks ‚significance‘, im Unterschied zu ‚meaning‘) allererst eröffnet und darin etwa auch der Rolle der Sprachlichkeit Rechnung getragen wird. Das 3-Stufen-Modell ist ein Reflexionsmodell, kein ontologisches Schichtenmodell. Im ZuI-Philosophieren wird das Stufenmodell vor allem also im reflektierenden Ausgang von der ZuI3-Ebene, mithin vor allem top down gelesen.
2.3 Zeichen- und Interpretations-Philosophie im Unterschied zu Zeichen- und Interpretations-Theorie ZuI-Philosophie ist deutlich zu unterscheiden von einzelwissenschaftlichen ZuITheorien oder ‐Lehren, wie zum Beispiel literatur-, kunst- oder musikwissenschaftlichen Semiotiken oder Auslegungstheorien. Letztere beziehen sich auf die Kunst der Auslegung und des Verstehens von jeweils vorab vorhandenen Werken (wie z. B. von Literaturtexten, Kunstwerken, Musikwerken, Rechtstexten und vielem anderem mehr), die es zu deuten, auszuführen, zu verstehen oder aufzu-
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führen gilt. Jede einzelwissenschaftliche Interpretationskunst verkörpert einen spezifischen Typus von ZuI-Prozessen. ZuI-Theorien haben ihren Sitz als einzelwissenschaftliche Methodologien auf der ZuI3-Ebene. In der Dimension der ZuI-Philosophie bewegen wir uns dagegen erst dann und deren heimisches Terrain wird erst dann betreten, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: (a) wir auf den konstitutiven ZuI-Charakter unseres Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens selbst reflektieren; (b) dieser ZuI-Charakter in den Fokus methodologischer und erfahrungswirklicher Aufmerksamkeit gerückt wird; (c) die phänomenal diskriminierten und individuierten Gehalte des Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens in ihren ZuI-Prozessualitäten konzipiert werden; und wenn (d) die nicht-hintergehbare Situiertheit, Verfasstheit und Strukturiertheit unserer Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse als zeichen-interpretative Prozesse qualifiziert werden. Mithin ist ZuI-Philosophie deutlich zu unterscheiden von Semiotik (als der Wissenschaft gegebener Zeichen und Zeichenprozesse) und natürlich auch von Hermeneutik im Sinne einer Wissenschaft der nachträglichen Auslegung.¹ In der Semiotik werden Gattungen und Arten von Zeichen (und Interpretationen) als bereits gegeben vorausgesetzt und dann einer einzelwissenschaftlichen, eben einer semiotischen Analyse unterzogen. Im Unterschied zur Semiotik jedoch ist die ZuI-Philosophie an den beiden grundlegenden Fragen interessiert: (a) wie es denn überhaupt zur Auftrennung unserer zunächst ungegliederten und kontinuierlichen Erfahrungswirklichkeiten nach Gattungen und Arten und eben auch nach Zeichengattungen und Zeichenarten kommt; und (b) wie und in welchem Sinne die konkreten ZuI-Prozesse ihren Ursprung aus solch vor-semiotischer und etwa auch sub-semantischer Ebene nehmen und wie sie von dort aus bis in die einzelnen Aktivitäten (z. B. als alltägliche, wissenschaftliche oder künstlerische Zeichen und Interpretationen) gelangen.
2.4 Stellung der Zeichen- und Interpretationsphilosophie in Systematik und Geschichte der Gegenwartsphilosophie Die ZuI-Philosophie kann an dem Schnittpunkt zweier für gegenwärtiges Philosophieren zentraler Komponenten angesiedelt werden. Zum einen (a) manifestiert sich in ihr ein bestimmtes Reflexionsniveau zeitgenössischen Philosophierens.
Zur Abgrenzung der ZuI-Philosophie von der Hermeneutik siehe meine Repliken zu Emil Angehrn, Andrzej Przylebski und Chung-ying Cheng.
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Darin kann man ihren systematischen Ort und ihre systematische Relevanz in der Gegenwartsphilosophie sehen. Zum anderen (b) kann man die ZuI-Philosophie in historischer Perspektive als ein Resultat der Karriere und zunehmenden Fundamentalstellung der Konzepte ‚Zeichen‘ und ‚Interpretation‘ in der Philosophie der Neuzeit, insbesondere der Moderne ansehen. Darin kann man ihren historischen Ort und ihre historische Relevanz in der modernen Philosophie sehen. In der ZuIPhilosophie wird versucht, diese beiden Befunde als eine Einheit zu denken und darin zugleich jenseits bzw. diesseits des Würgegriffs der Dichotomie von Essentialismus und Relativismus Fuß zu fassen. Nach beiden Seiten dieser Dichotomie hin ist Abgrenzung geboten: der Essentialismus will zu viel; der Relativismus dagegen möchte sich mit zu wenig zufrieden geben. Wie siamesische Zwillinge aneinander gekettet sind die beiden Positionen und damit die ganze Dichotomie selbst nicht geeignet, die ZuI-Prozesse unserer tatsächlichen Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisse zu fassen und uns in ihnen zu orientieren.
2.5 Raum der menschlichen Erfahrungswirklichkeiten Die ZuI-Philosophie begeht weder einen physikalistischen noch einen psychologistischen Fehlschluss. Zum einen setzt sie die ZuI-Prozesse nicht einfach mit der physikalischen Realität gleich. Des näheren vertritt sie nicht einen physikalistischen (oder biologistischen) Reduktionismus. Ihr zufolge können die semantischen Merkmale (Bedeutung, Referenz, Wahrheits- bzw. Erfüllungsbedingungen) ebenso wenig wie die pragmatischen Merkmale (Praxis-, Person-, Situations-, Zeit-, Einstellungs-, Kommunikations- und Kooperations-Gebundenheiten) der verwendeten Zeichen und Interpretationen auf physikalische (oder biologische) Strukturen reduziert und aus diesen kausal abgeleitet werden. Zum anderen setzt die ZuI-Philosophie die ZuI-Prozesse nicht einfach mit innerpsychischen Erlebniszuständen gleich. Entsprechend vertritt sie auch keinen Psychologismus in puncto semantische und pragmatische Merkmale der Zeichen und Interpretationen. Sie verteidigt also nicht die Position, der zufolge es die innerpsychischen Zustände bzw. die psychischen Innenwelten sind, die die semantischen und pragmatischen Merkmale der Zeichen und Interpretationen festlegen. ZuI-Philosophie ist nicht auf die zweipolige Alternativstellung von ‚physikalischer Außenwelt‘ und ‚psychischer Innenwelt‘ verpflichtet. Vielmehr möchte sie die menschlichen Erfahrungswirklichkeiten diesseits dieser Alternativstellung verorten, fokussieren, explizieren und gegebenenfalls auch mitgestalten (sofern es nicht um bloß deskriptionale, sondern auch um prediktive und normative Aspekte geht). Die Rede von Erfahrungswirklichkeiten adressiert diejenigen
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Wirklichkeiten und Welten, die unsere Welten sind, in denen wir leben und in denen wir uns zurechtfinden.
2.6 Zeichen- und Interpretationsphilosophie und Wissenschaften Was den Typus von Untersuchung angeht, der in der Philosophie und speziell auch in der ZuI-Philosophie betrieben wird, so sind zwei Aspekte zu betonen. Zum einen geht es um grundbegriffliche Klärungen in puncto ZuI-Konstrukte und ZuI-Prozesse. Das schließt zum anderen jedoch keineswegs die Einbeziehung von Ergebnissen empirischer Forschung aus, sondern vielmehr explizit mit ein. Erklärtermaßen sucht die ZuI-Philosophie auch Schnittstellen zu den empirischen Wissenschaften. Dieses Anliegen ergibt sich allein schon aus der Feststellung, dass die Wissenschaften sinnvollerweise als spezifische ZuI-Aktivitäten, geradezu als spezifische und besonders leistungsfähige ZuI-Künste angesehen werden. Mein diesbezügliches Ideal bestünde in Projekten auf Gegenseitigkeit: An grundbegrifflicher Untersuchung interessierte Philosophen setzen sich mit an empirischen Untersuchungen interessierten Einzelwissenschaftlern (z. B. mit Physikern, Biologen, Psychologen, Neurowissenschaftlern) zwecks Kooperation zusammen, und im Zuge solcher Kooperation kommen beide in ihren unterschiedlich perspektivierenden Forschungen beispielsweise dazu, ein verändertes Design für ein neues empirisches Experiment zu formulieren. Beispielsweise könnte dies in puncto Objekte der sinnlichen Wahrnehmung und der korrelierten Wahrnehmungs-Begrifflichkeiten dazu führen, die gemeinsamen Hypothesen und Annahmen auf ihre erklärende und prediktive Leistungsfähigkeit hin zu testen. Was in einer solchen Perspektive das Verhältnis von ZuI-Philosophie und Neurowissenschaften betrifft, so möchte ich ausdrücklich auf meine Replik zum Beitrag von Hinderk Emrich hinweisen.
2.7 Unterschied zwischen direkter und indirekter bzw. abgeleiteter Erfahrungswirklichkeit Im Zuge des ausgezeichneten Status unserer Erfahrungswirklichkeiten ist mir auch der Unterschied zwischen direkter und abgeleiteter Erfahrung überaus wichtig. Unsere direkte Erfahrungswirklichkeit (wie zum Beispiel das direkte Sehen des Tisches vor mir) zu verstehen, ist eines der Rätsel, auf das die ZuIPhilosophie eine Antwort zu geben versucht. Freilich darf die Rede von ‚direkt‘ hier nicht verwechselt werden mit der Rede von ‚unmittelbar‘. Direktheit ist ein
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hochkomplexer und vielheitlicher Zustand, der von einfacher Unmittelbarkeit deutlich zu unterscheiden ist. Zu Einzelheiten dieses Punktes darf ich auf meine Abhandlung Interpretationswelten. Direkte und abgeleitete Wirklichkeiten (Abel 2015) verweisen. In diesem Aufsatz habe ich, mit Bezug auf Überlegungen von Raymond Smullyan diese Unterscheidung näher ausgearbeitet. Anders als beispielsweise eine neurowissenschaftliche oder eine physikalische und generell eine wissenschaftliche Erklärung, die stets aus zugrunde gelegten Elementen (z. B. neuronalen Assemblies oder physikalischen Elementarteilchen) abgeleitet und insofern keine direkte Erklärung ist, betont die ZuIPhilosophie die primordiale Stellung unserer direkten Erfahrungswirklichkeiten. Diesen Punkt vermag ein einfaches Beispiel zu verdeutlichen: Das Sehen des Kugelschreibers vor mir auf dem Tisch wäre in wissenschaftlicher Perspektive und Analyse als eine bestimmte materielle (neurologische oder physikalische) kausale Folge meines Gehirns oder einer bestimmten Konfiguration physikalischer Elementarteilchen abzuleiten. Wissenschaftliche Erklärungen erfolgen (im Beispiel) in der Form: gegeben die neuronalen Areale XYZ und gegeben die Konstellation ABC der physikalischen Elementarteilchen kommt es (kausal ableitbar) zu meiner Erfahrung E bzw. sehe ich den Kugelschreiber vor mir auf dem Tisch. Das ist, was wir unter einer abgeleiteten Erklärung verstehen wollen. Eine solche wissenschaftlich-reduktionistische Ableitung ist aber für die direkte Erfahrung (im Beispiel das direkte und phänomenale Sehen des Kugelschreibers) und für unsere direkte Erfahrungswirklichkeit gerade nicht kennzeichnend. Denn die so im Fokus stehende Erfahrung ist nicht abgeleitet, sondern wird eben im phänomenalen Sinne der Erfahrungswirklichkeit direkt (das heißt ohne Ableitungen aus anderen und vorausgehenden Konstituenten bzw. Antezedenzien) erfahren und erlebt. Erfahrungswirklichkeit ist eben so, wie sie direkt und indexikalisch hier und jetzt in meinem bzw. unserem Haben dieser Erfahrung ist. Jede Ableitung und insbesondere jede kausale Ableitung der erwähnten Art etwa des Sehens des Kugelschreibers, des Hörens des musikalischen Klangs oder des Sehens der Farbe möchte die ursprünglich einheitliche Erfahrung in Antezedenzien zerlegen und aus diesen dann aufbauen. Das wäre ein wissenschaftliches Verfahren. Und genau dieses ist (obzwar in wissenschaftlich-explanatorischer Hinsicht überaus wichtig) nicht kennzeichnend für das, was es heißt, eine wirkliche Erfahrung zu machen und im Raum der direkten Erfahrungswirklichkeiten zu leben. Die ZuI-Philosophie umfasst beide Dimensionen. Daher lässt sich die skizzierte Situation ZuI-philosophisch wie folgt fassen: ‚Abgeleitete‘ Erfahrungen beruhen beispielsweise auf (wissenschaftlichen) ZuI-Konstrukten und können als solche beschrieben und analysiert werden; ‚direkte‘ Erfahrungen können als Manifestationen der unsere Erfahrungswirklichkeiten selbst ausmachenden und
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in ihren Vollzügen keiner weiteren Vermittler bedürftigen ZuI-Prozesse selbst angesehen werden. Des näheren besitzen die ZuI-Vollzüge eine Priorität vor den ZuI-Deutungen und ZuI-Ableitungen (zu diesem Unterschied siehe SZI Kap. 4.2). Angemerkt sei schließlich noch, dass in jeder abgeleiteten (zum Beispiel in jeder wissenschaftlichen) Erklärung nicht-abgeleitete bzw. direkte Komponenten angenommen werden müssen. Das ist beispielsweise der Fall, wenn wir in einem physikalischen oder einem neurowissenschaftlichen Experiment beim Blick auf den Monitor etwas ‚direkt‘ sehen und dieses direkte Sehen dann als eine Manifestation eines physikalischen oder neuronalen Ereignisses einstufen (wie etwa beim Blick auf ein MRT-Bild).
3 Unterschiede zwischen Zeichen- und Interpretationsphilosophie und methodologischem Interpretationismus Bei all den grundlegenden Gemeinsamkeiten zwischen dem methodologischen Interpretationismus und der ZuI-Philosophie gibt es doch auch unterschiedliche Akzentuierungen, Intuitionen und Perspektiven der Betrachtung. Unterschiede bestehen zum einen (a) wie bereits betont darin, dass die ZuI-Philosophie Hans Lenks Konzept der ‚methodologischen Interpretationskonstrukte‘ teilt, zugleich aber auch in dem oben dargelegten Sinne darüber hinausgeht. Zum anderen (b) lassen sich auch spezifischere Unterschiede ausmachen. Die wichtigsten möchte ich in den folgenden vier Punkten ansprechen und in den weiteren Dialog mit Hans Lenk schicken.
3.1 Hervorbringen von Zeichen- und Interpretationswelten oder Erfassen von Weltversionen? Hans Lenk möchte nicht von „Interpretationswelten“, sondern von „Weltversionen“ sprechen (Kap. 1.2). Mit Bezug auf meine Ausführungen in unserer früheren Diskussion (Abel 1988: 80) akzentuiert er einen „Differenzpunkt“ (ebd.) zu der mir wichtigen Auffassung, dass Wirklichkeit als individuierte, raum-zeitlich lokalisierte, sortal organisierte, klassifizierte und kategorialisierte, mithin als spezifische und bestimmte Wirklichkeit stets bereits und für uns endliche Geister nicht hintergehbar an ZuI1-Prozesse gebunden ist. In der Tat habe ich damals davon gesprochen, dass Wirklichkeit als Wirklichkeit ‚hervorgebracht‘ werde. Dieses Bild und diese Sprechweise bedürfen einer
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korrigierenden Erläuterung. Die Rede von ‚hervorgebracht‘ klingt nach Produktion, nach idealistischer Erzeugung, gar nach einer Art creatio ex nihilo und auch nach dem worldmaking im Sinne Nelson Goodmans. Dies war und ist jedoch erklärtermaßen nicht meine Auffassung (zu den Unterschieden zu Goodmans Auffassungen siehe meine Replik auf Riccardo Dottori). In der Sache geht es mir um die Einsicht, dass wir im reflektierenden Rückgang in die in unseren tatsächlichen Erfahrungswirklichkeiten jeweils als erfüllt unterstellten Bedeutsamkeits-, Sinn-, Relevanz- und Gestalt-Präsuppositionen auf nicht hintergehbare ZuI1-Prozesse stoßen, auf deren Ebene es noch keinen Sinn macht, nach Faktizität und Interpretativität aufzutrennen. Und erst recht macht es auf dieser Ebene keinen Sinn, von einem (metaphysischen) Dualismus von noch nicht gestaltetem Material einerseits und den auf dieses diffuse Material dann angewandten kognitiven und konzeptionellen Instrumentarien andererseits zu sprechen. Einen solchen Dualismus hat niemand von uns bislang detektieren können, weder empirisch noch begrifflich. Vielmehr haben wir es von Anfang an mit adualistischen und gestalteten ZuI1-Wirklichkeiten zu tun. Innerhalb des 3-Stufenmodells der ZuI-Pozesse und des Zusammenwirkens dieser Stufen spielt dann später jedoch die Unterscheidung von ‚Fakten‘ und ‚Interpretationen‘ eine zunehmend wichtige Rolle. Dies ist vornehmlich auf der Ebene 3 der ZuI-Verhältnisse der Fall (zum Beispiel im Falle wissenschaftlicher Theorien und Hypothesen). Wichtig ist mir also der Unterschied zwischen der Formulierung ‚etwas als Etwas hervorbringen‘ und der Formulierung ‚sich auf derjenigen Ebene der Betrachtung bewegen, auf der eine Auftrennung nach Faktizität und Interpretativität noch keinen Sinn macht‘. Letzteres ist auf der Ebene 1 einfach deshalb noch nicht der Fall, weil wir auf dieser Ebene schlicht nicht wissen und nicht ausbuchstabieren können, wovon denn da als von gestaltenden ZuI1-Prozessen gänzlich separierter Faktizität sinnvoll überhaupt die Rede sein soll. Vielmehr geht es auf dieser basalen bzw. Grenz-Ebene allererst um den Raum derjenigen Bedeutsamkeiten, aus denen heraus und auf die hin die Unterscheidung von Faktizität und Interpretativität möglich und dann etwa auf der ZuI3-Ebene sehr sinnvoll und wichtig ist. Erstere Formulierung droht die zugrunde liegenden ZuI-Prozesse in einen Konstruktivismus der Welten zu führen, den ich erklärtermaßen nicht vertrete. Letztere Formulierung führt überhaupt erst in die adualistische Dimension und den Raum sich eröffnender Bedeutsamkeiten. Die Rede von ‚Bedeutsamkeiten‘ verstehe ich hier im Sinne des englischen Ausdrucks ‚significance‘ als Eröffnung von Sinn und Relevanz im Unterschied zur späteren ‚Bedeutung‘ im Sinne des englischen Ausdrucks ‚meaning‘ von Wörtern, Zeichen, Gedanken und Handlungen. Bedeutungen setzen stets bereits die umfänglichere und tiefersitzende Bedeutsamkeit voraus und nehmen sie in ihrem flüssigen, anschlussfähigen und
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zumeist selbstverständlichen Charakter immer schon in Anspruch. Diese Dimension ist in individuierten Erfahrungswirklichkeiten, mithin auch in individuierten Welterfahrungen und Weltgestaltungen, stets bereits gegeben. Wir müssen unsere Welten und Wirklichkeiten nicht erst noch aus einem zunächst amorphen Material hervorbringen. Freilich darf diese Weise ursprünglichen ZuI1-Gegebenseins keineswegs mit dem nicht explizierbaren und sehr zu Recht kritisierten Konzept des Gegebenseins (im Sinne des englischen Ausdrucks ‚given‘) auf der ZuI3-Ebene verwechselt werden. Der Deutlichkeit halber möchte ich betonen, dass wir beide, Lenk und ich, mit unseren Vokabularen (von Hervorbringen, Erfassen, Gestalten, Individuieren, Klassifizieren) nicht in einem positivistischen Sinne von einem Gegebenen ausgehen, das es wiederzugeben gilt. Erschließung der Wirklichkeit erfordert nicht im Sinne eines Positivismus ein Gegebenes/Positives, von dem wir darin auszugehen hätten und auf das wir im Sinne einer empiristischen Wissenschaftstheorie verpflichtet wären. Zu einer solchen Auffassung mögen die bahnbrechenden Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschungen leicht verführen. Lenk und ich teilen die Auffassung, dass wissenschaftliche Theorien, Modelle und Experimental-Apparaturen als ZuI-Konstrukte anzusehen und zu behandeln sind und aus der Perspektive einer darin nicht ‚reinen‘, wohl aber vorausgesetzten Natur durchaus zu verzerrenden Effekten führen können. Zugleich dürfte aber auch deutlich geworden sein, dass ich die von Hans Lenk gegenüber dem „Hervorbringen“ vorgeschlagene Redeweise von „Erfassung“ (Kap. 1.2) nicht für glücklich halte. Ich möchte gern den Würgegriff der Dichotomie von Hervorbringen und Erfassen ganz zurücklassen. Methodologisch und modellierungs-theoretisch ist mir in diesem Zusammenhang wichtig, den zentralen Aspekt zu betonen, dass ein auftretendes Problem (im vorliegenden Falle die widerstreitenden Aspekte der ‚Noch-nicht-Auftrennbarkeit nach Faktizität und Interpretativität‘ und die ‚Unterscheidung von Fakten und Interpretationen‘) nicht nur in einer einzigen Ebene des ZuI-Modells (nicht also entweder auf der Ebene 1 oder der Ebene 3) zu verorten und zu diskutieren ist. Das führt bestenfalls zu Widersprüchen und Paradoxien. Diese sind in sich zwar höchst aufschlussreich und spornen zu Veränderungen gewohnter Szenarien an (wie etwa zum heuristischen 3-Stufen-Modell der ZuI-Prozesse). Stets sind mehrere Ebenen und Hinsichten sowie deren Wechselspiele am Adressieren und Lösen von Problemen beteiligt. Im Rekurs auf sie kann man auch mit Widersprüchen und Paradoxien aufschlussreich umgehen. Die Rede von der ‚Noch-nicht-Auftrennbarkeit‘ gehört auf die ZuI1-Ebene. Die Unterscheidung von Fakten und Interpretationen gehört auf die ZuI3-Ebene. Zugleich wird in dem vertikal gestuften ZuI-Modell das widerspruchsfreie Zusammenwirken beider Redeweisen einsichtig.
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3.2 Das Zeichen- und Interpretations-Modell als Reflexions-Modell Oben habe ich bereits erwähnt, dass das ZuI-Modell nicht als ein ontologisches Schichtenmodell (etwa Nicolai Hartmannscher Prägung; siehe dazu meine Replik auf Hans Poser) zu verstehen ist, welches dann bottom up, von der anorganischen Welt bis hoch zur Welt des menschlichen Geistes zu lesen sei. Das ZuI-Stufenmodell ist vielmehr ein Reflexionsmodell. In der ZuI-Modellierung gehen wir kraft Reflexion in diejenigen Präsuppositionen zurück, die wir im erfolgreichen Gebrauch von Wörtern, Gedanken oder Handlungen als erfüllt unterstellen und von denen her wir die auf der ZuI3-Ebene auftretenden Bedeutungs-Fraglichkeiten und Störfälle oftmals beheben können. Zumindest gelingt dies häufig in Bezug auf Ausdrücke der normalen und alltäglichen Sprache. In diesen Prozessen ist die Rolle der Sprache keineswegs bloß werkzeugmäßigen und instrumentellen Charakters. Sprache ist weit mehr als bloß ein Werkzeug. Sie kann als ein Medium der Ich-Wir-Welt-Beziehungen angesehen werden. Sprache ist am Zustandekommen und Vollzug der kommunikativen, epistemischen und kooperativen Relevanz unserer Erfahrungswirklichkeiten selbst mitbeteiligt (nicht allein und nicht ausschließlich, aber doch in grundsätzlicher Funktion). Spätestens auf der Ebene 1 kommen unsere Fragen und unsere Reflexion an ihr pragmatisches Ende. Im Anschluss an einen solchen reflektierenden Rückgang in den jeweils präsupponierten Sprachgebrauch können wir den so aufgedeckten Sprachgebrauch und die Sprachlichkeit dann gleichsam auch wieder nach oben bis auf Ebene 3 zurücklaufen lassen. Entweder ist der vormals auslösende Störfall dann aufgelöst oder es kommt zu veränderten semantischen Merkmalen (Bedeutung, Referenz, Erfüllungs- bzw. Wahrheitsbedingungen) oder zu kreativen Neuschöpfungen. Warum betone ich den Reflexionscharakter des ZuI-Modells so nachdrücklich? Einer der Gründe ist, dass ich dem Rückgang in die jeweils als erfüllt unterstellten Präsuppositionen einen Vorrang einräume gegenüber der bei Hans Lenk im Vordergrund stehenden Bildung von „Metastufen“ und „Metainterpretationen“ (Kap. 2). Wir können aus den ZuI-Prozessen nicht mit Hilfe von Metastufen heraustreten. Vielmehr ist die Bildung von Metastufen Bestandteil der umfänglicheren ZuI-Prozesse.
3.3 Metainterpretationen Deutlich stimme ich mit Lenk überein, dass (geht es um die Natur interpretationistischen Philosophierens) mit „Stufung und Selbstanwendbarkeit“ (Kap. 2)
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zu operieren ist. Die ZuI-Philosophie entwickelt und praktiziert dieses Verfahren nachdrücklich. Hans Lenk möchte den Interpretationismus auf dem Wege der „Methodologisierung“ der Interpretationskonstrukte in den Status einer „Grundphilosophie“ bzw. einer „Ersten Philosophie“ bringen und dies mit Hilfe der Figur der Metastufen des Interpretierens erreichen (ebd.). Gegen einen solchen Versuch habe ich keine Einwände. Gleichwohl bin ich der Auffassung, dass das angestrebte Ziel nicht allein auf dem Wege einer Methodologisierung der Interpretationskonstrukte erreicht werden kann. Es bedarf, so meine Auffassung, dazu nicht nur einer (wissenschaftlichen) Methodologie und korrelierter Metastufen, sondern darüber hinaus des oben skizzierten Reflexionsmodells der ZuIProzesse. Ein bloß methodologischer Interpretationismus reicht hier meines Erachtens noch nicht aus. Wir müssen versuchen, in die Phänomenologie der ZuIErfahrungswirklichkeiten und ZuI-Welten selbst zu gelangen und deren interne Prozessualität darzustellen. In bestimmten Kontexten und unter bestimmten Zielsetzungen spreche auch ich mich für Metastufungen aus und operiere selbst gelegentlich mit ihnen. Aber ich möchte doch die doppelte Gefahr eines Metastufen-Modells nicht verkennen. Diese Gefahr besteht zum einen in einem unendlichen Regress von Meta-metameta- (mit unbegrenzt vielen Meta‐) Stufungen. Sie besteht zum anderen darin, dass wir uns mit solchen Metastufungen bzw. Metainterpretationen von dem zu erläuternden Phänomen, unseren tatsächlichen Erfahrungswirklichkeiten nämlich, immer weiter entfernen, statt uns in diese hinein zu reflektieren und ihre ZuIProzessualität von innen her zu explizieren und erforderlichenfalls prediktiv und gestalterisch zu intervenieren und zu orientieren. In diesem Zusammenhang unterscheide ich mich übrigens auch von Lenks Auffassung von ‚transzendental‘. Für Lenk wird der methodologische Interpretationismus „quasi transzendental im Sinne einer unaufgebbaren methodischen bzw. methodologischen Voraussetzung“ (Kap. 2). Ich meinerseits halte allein den reflektierenden Rückgang in die im Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten als erfüllt unterstellten Präsuppositionen für eine ‚transzendental‘ zu nennende Bewegung und Charakterisierung. Mit dieser Bestimmung fühle ich mich auf der Seite Kants, der mit ‚transzendental‘ nicht eine isolierte externe oder rein methodologische Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, sondern dasjenige meinte, was wir in der Erfahrung präsupponieren. ZuI-Philosophie ist keine Philosophie von Meta-meta-Stufen und sie ist daher auch keine Metaphilosophie. Sie verkörpert vielmehr ein überaus vollblütiges Verständnis des Philosophierens. Sie weicht nicht vor der Aufgabe zurück, die Charaktere und Mechanismen unserer ZuI-Erfahrungswirklichkeiten selbst zu adressieren und zu explizieren.
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Besonders deutlich wird dieser Punkt, sobald Fragen der normativen Orientierung ins Spiel kommen. Methodologie allein gibt noch keine Antworten auf Fragen der (epistemischen, ethischen, ästhetischen) Orientierung und Normativität. Um solche Fragen kommen wir aber als endliche Geister nicht herum. Das zeigt sich beispielsweise dann, wenn Problem-Lösungen gefordert sind. Als endliche und nicht-deterministische Wesen sind wir zum Handeln genötigt und in die entsprechenden Szenarien verstrickt. Wir können nicht nicht handeln. Daher sind wir stets bereits in normative Fragen, in Fragen des ‚richtigen Handelns‘ und in die schon Aristotelische Frage danach, wie ich mein Leben richtig führe, verstrickt. Bezogen auf diese normative Herausforderung ist es zunächst wichtig, Werte und Normen als Interpretationskonstrukte anzusehen, wie Hans Lenk dies entschieden und mit guten Gründen tut. Die ZuI-Philosophie geht einen Schritt darüber hinaus entwickelt eine ZuI-Ethik (siehe SZI Kap. 14, Abel 2010b und 2004b). Wenig überraschend dürfte vor dem skizzierten Hintergrund auch sein, dass ich kein Anhänger einer Meta-Ethik bin. Vielmehr sehe ich die ZuI-Ethik in einer gewissen Nähe zum Aristotelischen Ethos, aufgefasst als das in ZuI-Wirklichkeiten gelebte Ethos.
3.4 Zeichen- und Interpretations-Realismus oder hypothetischer Realismus? Dass und in welchem Sinne ich einen Schritt über die Lenksche Methodologie der Interpretationskonstrukte hinausgehe, möchte ich auch an einem weiteren und mir wichtigen Zusammenhang vor Augen führen, an der Frage des Realismus nämlich. Einig bin ich mit Lenk, dass unser beider Betrachtungen nicht auf einen „Interpretationsidealismus“ (Kap. 2) hinauslaufen. Des näheren vertritt Lenk einen „hypothetisch-realistischen Ansatz“ (Kap. 1.1; Kursivsetzung G. A.) bzw. einen hypothetischen Realismus im Sinne einer hypothetisch erfolgenden Unterstellung. Diese Unterstellung ist konsequent angesichts der von Lenk gesetzten Akzentuierung auf methodologische Interpretationskonstrukte. Aus der Sicht der ZuIPhilosophie erscheint dies jedoch als zu wenig. Diese meine Einstellung mag für manchen Leser leicht irritierend wirken, wird die ZuI-Philosophie doch oftmals assoziiert mit einem Idealismus und, im Grenzfall, gar mit einem Irrealismus. Im Folgenden möchte ich kurz skizzieren, dass und in welchem Sinne ZuI-Philosophie mit einem robusten Konzept von Realismus ausgestattet ist. Wie ist das zu verstehen? Das Konzept des bloß hypothetischen Realismus ist eine relativ schwache Version von Realismus, die sich zudem leicht Rückzugsgefechten ausgesetzt sehen mag, sobald der hypothetische Charakter seinerseits Skeptizismus-theore-
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tisch angegriffen wird. Im Grenzfall droht uns der hypothetische Realismus der Gefahr auszusetzen, annehmen zu müssen, dass der Realismus des Erlebens,Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens bloß als eine Hypothese anzusetzen ist. Dagegen ist für die ZuI-Philosophie kennzeichnend, dass wir nicht in hypothetischen Welten, Wirklichkeiten und Realitäten leben. Niemand von uns könnte unter solchen Annahmen überleben.Vielmehr leben wir in unseren wirklichen ZuI-Welten, -Wirklichkeiten und -Realitäten, auf die wir uns verstehen und in denen wir uns auskennen. Die Grundthese der ZuI-Philosophie in Bezug auf die Realismus-Frage möchte ich wie folgt formulieren: In unseren ZuI-Erfahrungswirklichkeiten des Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens sind intern zugleich auch die entsprechenden Realitäten mitgesetzt und in Anspruch genommen. Diese Voraussetzung und Inanspruchnahme sind jedoch nicht bloß im Sinne von methodologischen Hypothesen, von intuitiven Meinungen, von täuschenden Illusionen und auch nicht von Theorien zu verstehen. Sie sind vielmehr – und das ist der Witz der Geschichte – mit den ZuI-Erfahrungswirklichkeiten selbst als deren interne Präsuppositionen gegeben. Auf diese Weise bewegt sich die ZuI-Philosophie in einem durchaus vollblütigen Sinne im Felde dessen, was ich einen adualistischen Realismus nennen möchte. Diese ZuI-interne Verpflichtung auf Realität lässt sich in den einzelnen Bereichen des Spektrums vom sinnlichen Wahrnehmen bis hin zum aktiven Gestalten präzisieren und an Beispielen erläutern. (a) Für Prozesse genuinen Wahrnehmens ist kennzeichnend, dass wir die Gehalte unserer Sinneserfahrung und perzeptiven Erfahrungswirklichkeit normalerweise als zuverlässig und so erfahren und verstehen, dass sie von den Objekten des Wahrnehmens verursacht sind (im Normalfall also keine Illusionen oder Halluzinationen sind). (b) In unserem tatsächlichen Sprechen gehen wir von einem bestimmten Punkt an davon aus, dass es das, wovon da in puncto Bedeutung und Referenz der Wörter die Rede ist, auch tatsächlich gibt. Anderenfalls wären Kommunikation und Kooperation zwischen Sprechern und Hörern von genau dem Punkt an nicht mehr gewährleistet, an dem es um anschlussfähiges Sprechen und um das Eintreten in eine Handlung oder Gestaltung geht. Beispielsweise sagt Peter: ‚Wir gehen jetzt zur Pizzeria am Savigny-Platz‘. Und daraufhin setzen wir uns in Bewegung in Richtung Savigny-Platz. Das Eintreten in diese Handlung präsupponiert, dass es den Savigny-Platz und dort eine Pizzeria gibt. Zur gleichen Art von ZuI-Realitätsunterstellung kommen wir bereits auch dann, wenn wir eine semantische Charakterisierung eines Wortes, zum Beispiel von ‚Pizzeria‘ oder ‚Rote Tomate‘ geben. Schnell kommen wir an den Punkt, an dem wir in der semanti-
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schen Explikation des Ausdrucks auf wirkliche Tomaten und deren Farben rekurrieren müssen. (c) Was unser Denken angeht, so ist die Lage glücklicherweise ähnlich wie im Falle des Sprechens. In puncto Bedeutung und Referenz unserer sich auf die Welt, andere Personen oder uns selbst beziehenden Gedanken sind wir nicht darauf angewiesen, jeweils erst noch in einem separaten Schritt einen Brückenschlag auszuführen, um von den Gedanken zur Welt zu kommen, um die Wörter und Gedanken ‚hook onto the world‘ (Putnam). Wäre dies oder eine bloß hypothetische Annahme die Kondition der Welthaltigkeit unserer Gedanken, wir könnten unseres Denkens (Sprechens und Handelns) niemals wirklich sicher sein. Komplementär wäre und bliebe uns die Welt von Grund auf fremd. Selbst noch in den Fällen der bestgesicherten Gedanken müssten wir letztlich davon ausgehen, dass es sich ‚in Wirklichkeit‘ doch ganz anders verhalten könnte. Dieses Syndrom gnostischer Weltfremdheit ist jedoch und glücklicherweise für die ZuI-Erfahrungswirklichkeiten unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens gerade nicht kennzeichnend. (d) Was das Handeln und Gestalten angeht, so seien zwei Beispiele in puncto ZuI-Realitäts-Verpflichtungen angeführt. Beispielsweise verlässt sich die NASA darauf, dass sich die Dinge im Weltall genau so verhalten, wie sie es in epistemischer Einstellung modelliert und in Erfahrung gebracht hat, wenn sie die Astronauten in die Raumkapsel setzt und in den Orbit schickt. Ähnlich verlässt sich ein Architekt darauf, dass die von ihm entworfene und gebaute Autobahnbrücke nicht in sich zusammenbricht. Das Eintreten ins Handeln und Gestalten verkörpert den vielleicht stärksten Realitäts-‚Beweis‘. Vor solchem Hintergrund könnte man sagen, dass die ZuI-Erfahrungswirklichkeiten unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens gleichsam fortwährend Realitätsbeweise liefern, nicht bloß einen hypothetischen Realismus. Dass wir dabei im Einzelnen auch einer Illusion aufsitzen können, möchte ich damit natürlich keineswegs bestreiten. Die Pointe ist jedoch, dass Illusion und Halluzination die erklärungsbedürftigen Phänomene, nicht aber den Grundzustand dessen verkörpern, was es heißt, genuin wahrzunehmen, zu sprechen, zu denken, zu handeln und zu gestalten. Welch grundlegenden Status die den ZuI-Prozessen internen Realitätsannahmen besitzen, darf ich an zwei weiteren Punkten verdeutlichen. Auch mit diesen beiden Punkten geht die ZuI-Philosophie über den methodologischen und hypothetischen Realismus hinaus. Zum einen ist herauszustellen, dass die den ZuI-Prozessen internen RealitätsUnterstellungen keine Theorien sind. Diesen Punkt betont Peter Frederick Strawson (in seinem bekannten Aufsatz Perception and its objects, Strawson 1979) im Zusammenhang der Wahrnehmungsproblematik sehr zu Recht. Theorien ge-
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Günter Abel
hen ‚über‘ Etwas, ‚über‘ Gegenstände oder Daten, seien dies Beobachtungsdaten im Sinne der Wissenschaften oder innere Sinnesdaten im Sinne des Mentalismus. Die in der ZuI-Philosophie in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückten RealitätsPräsuppositionen sind gerade nicht von dieser Art. Sie sind nicht ‚Theorien-überEtwas‘, sondern eben interne ZuI-Präsuppositionen und -Assumptions. Der Punkt lässt sich auch an Alltagswahrnehmungen leicht illustrieren. Wenn ich in diesem Moment diesen Stuhl vor mir sehe bzw. wahrnehme, dann bin ich im Haben dieser ZuI-Seherfahrung intern auf einen Realismus verpflichtet. Die Tatsache, dass ich diese Wahrnehmung habe (und sie etwa auch in einem sprachlichen Satz artikuliere), erlaubt zu sagen, dass mit dem Haben dieser Wahrnehmungserfahrung auch eine Festlegung auf das Reale des Wahrnehmens verbunden ist. Zum anderen kann die prozess-interne und gleichsam monadische (das heißt einstellige, nicht mehrstellige) Realitäts-Unterstellung auch nicht durch den Dualismus von ‚Schema und Gehalt‘ eingeholt und gekennzeichnet werden. Die ZuI-Realitätsunterstellung ist in dem skizzierten Sinne vielmehr gänzlich adualistischer und interner Art. Sie liegt auch vor jeder bloß heuristischen, nachträglichen und auf der ZuI1+2-Ebene letztlich nicht explizierbaren Auftrennung nach ‚Schema und Gehalt‘. Als endliche, perspektivische, handelnde und gestaltende Geister kommen wir aus den ZuI-Prozessen nicht nur nicht heraus. Alles kommt vielmehr darauf an, wie wir uns selbst besser verstehen und unsere Wirklichkeiten aktiv gestalten.
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Luis Eduardo Gama Barbosa
The challenge of ontology in interpretationalism* Abstract. This article reviews Günter Abel’s interpretationalistic philosophy based on two blind spots in his argument. What we are dealing with are two ontological problems, which concern the being-in-itself of interpretant human existence. We first look at the statute of Abel’s analysis which, without necessarily corresponding to the levels of interpretations identified by him, takes place as a realization of the interpretation revealed to itself as the articulating force of all reality. Secondly, we inquire into the human ability to observe the contingent of the constitutive axes of life, which Abel highlights not realizing that it is this that opens the doors to the possibility of the existence of an ontology of human finiteness. For this mobilization of interpretationalism towards ontology, we base ourselves on the doctrines of Nietzsche (genealogy and will to power) in which a reflection on interpretation acquires an ontological nature.
In the wide and disperse landscape of contemporary philosophical thought, Günter Abel’s interpretationalism represents one of the most original efforts to confer the phenomenon of interpretation a fundamental philosophical relevance, placing it at the core of the current discussions on epistemology, aesthetic and action theory, among others. Indeed, for Abel interpretation, or rather, interpretive practices, not only come into play in the specialized field of knowledge, but in general “fundamental states, processes and phenomena of the human mind in a broad sense (as sensing, imagining, feeling, remembering, perceiving, speaking, thinking and acting) can […] be characterized as realized in a signic and interpretive way” (ZdW 28). Moreover, underlying these considerations, it is possible to identify an approach that we can call ontological, malgré Abel, as it is directly relevant to the general sense of reality. According to this, what we call reality is something that depends “on the grammar and the rules of the employed symbolic and conceptual system” (Iw 13). Consequently, there is not only one reality, unchangeable and substantial, but many “conceptions of reality” that must be understood not as different versions of the real, built upon the substrate of a world in-itself, but as different ‘worlds of interpretation’. Tracing the presence of inter* The whole article, including citations, has been translated by Nicolás Jiménez Iguarán. https://doi.org/10.1515/9783110522280-076
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pretation even in the deepest layers of formation and opening of reality, Abel’s philosophy does not want to be a simple philosophy of interpretation, that is, a theory that had, among its objects of study, the issue of interpretation: it is rather an interpretationalistic philosophy, i. e. an inquiry that recognizes interpretive activity as the last axis that articulates human action and existence with the very same sense of the real. On the other hand, this effort of Abel to converge the various realizations of the interpretation in a unitary philosophical approach is founded on theoretical developments from very different horizons of thinking from the Nietzschean Will to Power doctrine to large contributions from the philosophy of language and contemporary epistemology, linked to names such as Wittgenstein, Donald Davidson and Nelson Goodman. Summing up, it is not an exaggeration to assert that in Abel’s work takes place, from the thread of interpretation, a reconfiguration of the contemporary philosophical landscape, not only by the new direction experienced by the central questions of philosophy (reality, knowledge, action, aesthetics, etc.) once they are rearranged within the most fundamental horizon of interpretivity, but also by the possibility of finding, in this horizon, a common ground of reflection to the most representative traditions of current philosophical thought. In what follows I attempt to do a critical analysis of this ambitious philosophical enterprise, one whose attention is not focused on the content of this or that particular approach, but in the question, mainly, of the very form of Abel’s analysis, i. e., the type of thought or reflection that in its own realization is highlighting the background of interpretive activity to the root of all human experience in every realm of the real. For Abel itself, interpretationalistic philosophy takes place only as a heuristic and reconstructive reflection which does not seek to shore up truths or absolute certainties to build a system. Instead, it works as a strategy analysis whose purpose is to uncover all the layers of interpretation settled in the visible world of sense that we experience daily, usually taken as an objective reality that is simply given. What I argue here is that while the results of this analysis are essentially correct, its very form of realization is insufficient. I intend to show that Abel’s heuristic reflection on the process of interpretation lacks an explicit ontological position to provide it with more theoretical consistency. I also want to show that an ontology like the one outlined by Nietzsche with his doctrine of Will to Power or with the notion of chaos, represents a much more elaborated position in this regard. The intention here, ultimately, is not to question the scope and content of Abel’s interpretationalism, but to point out the need to provide it with more strength and force from an ontological scaffolding, whose core can be drawn from Nietzsche‘s philosophy. In the first section I will look back on, broadly, the main tenets of Abel′s interpretationalism, particularly the central idea of the three levels of interpretive
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activity. I will focus especially on the level 1 because I believe that it is there where we can unmask the need to make a movement toward an ontological reflection. In the second part, I will present the objections to Abel′s approach that can be linked with the indicated deficiency, while showing up some elements of Nietzsche’s philosophy that can be used to overcome these shortcomings.
1 The starting point of Abel’s interpretationalism can be formulated on the idea that human experience, even in its most basic ways of realization, is essentially interpretative, as it is never an experience of a world in itself ‘given’ objectively, neither an experience that built, as from nothing and with the sheer performance of the subjective faculties, the so called real world. Otherwise, human experience is interpretative because it will incorporate the phenomena into frameworks of sense, or worlds of interpretation, in which it is already enrolled, worlds that represent the horizon that makes possible the experience in itself but which in turn can be transformed by it. Abel sees his own approach as one that radically emphasizes “the interpretive and perspective character of the human understanding of the world, others and himself” (Iw 13). The doctrine, however, is not presented as a prima facie approach on human experience: to interpret, here, is not a simple performance of a subjective consciousness. What comes into play, according to Abel, is rather a ‘non-reductive interpretivity’ (Iw 438). This means, on one hand, that there is no such thing as an ‘ontic or naturalist substrate’ no longer able to be interpreted, performing as an objective criteria for measuring all interpretation, but, on the other hand, nor can be postulated a mental or physiological principle or state that offers a faithful support to it. Interpretative activity cannot be reduced to a real substrate that will cancel it, neither to a mental substrate from which it will sprout. We don‘t need, then, to seek natural causes (evolutionary or neurobiological) of interpretation, or to postulate an entity or ultimate essence to which it would refer. Rather, we can assert with Nietzsche that “the interpreting has a being in itself (but not as a ‘being’ but as a process, a becoming)” (Nachlass 1885/86, 2[151], KSA 12.140), that is, as the elementary process of human existence praxis: a continuous becoming of concrete life contexts, that located in the specific connections of sense that make up their world, face the flow of what happens permanently,
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redirecting that happening within the space of sense of reality, a reality that is, thus, constantly modified and restructured¹. The approach of this pure interpretive process or event, without cause and telos, that goes through human praxis and within itself reality is made up constantly, is the heart of Abel’s thought, what makes his philosophy an interpretationalistic philosophy and not just a philosophical theory about the phenomenon of interpretation. Hence, it is understood that a key part of his proposal consists in determining how to make visible the interpretive processuality at the root of the human experience of the world. If interpretivity does not want to appear as a mere analysis assumption, not susceptible of demonstration, then it is important to design a way to put it in evidence within the most diverse forms of human experience. To that extent Abel′s interpretationalism is presented as a genealogical analysis that shows how, in all aspects of the structured experience (in its basic conceptual grammar, in his appeal to sensible intuition or in its normative elements) is at stake an interpretive activity that cannot be traced back on a subject, but springs from the fundamental interpretivity process. It is then necessarily to highlight that event of interpretation from a reflective reconstruction of the “current practices of sensing, imagining, perceiving, speaking, thinking and acting, in which we normally move and communicate us in such an undoubted and successful way” (ZdW 29). Only with this genealogical reconstruction it is possible to justify the principle of irreducible interpretivity that encourages the whole analysis, which at first may seem arbitrary. With this in mind, Abel’s interpretationalism does not postulate the factum of interpretation as an unappealable fact or an unquestionable truth of reason from which we can explain the nature of the processes of the mind. The analysis proceeds rather the other way around: it starts from the multiple interactions of the mind in order to rebuild the diversity of the interpretational exercise contained therein. The thesis of interpretivity can only be assured ‘from within’, that is, putting in evidence genealogically – or interpretively – the interpretative realiza The reference to Nietzsche here is not merely an external coincidence. Actually, Abel’s idea that the interpretation (or interpretivity) represents the fundamental process (becoming or happening) of human praxis, i. e. the process of changing lifestyles and also the ongoing process of constitution and reconstitution of reality, emerges from his strict reading of Nietzsche, in particular the doctrine of the Will to Power. Since his first major study on Nietzsche (Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 1984) Abel makes clear that the Nietzschean will to power cannot be understood in a subjectivist / mentalist or naturalist / physicalist way, but rather as the name of an interpretive event (Interpretations-Geschehen) (N 162), or better, as the general name for the multiple positions of sense that sprout from innumerable centers of interpretive force, and that in their joint action will constitute and constantly reconstitute reality (cf. Abel 1985: 41, 60).
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tions latent in every experience of the world. It is therefore a ‘critical philosophy’ that does not seek to build principles in a definitive way, but to reach an adequate understanding of the signic-interpretive nature inherent in the relationship between human beings and the world, the others and himself. It is in the development of this reconstruction that Abel identifies three different levels of interpretative activity at the root of every act and every experience of world. Let us remember them briefly. – In the level of interpretation3 are shown what Abel calls ‘appropriating interpretations’ [aneignende Deutungen], i. e. conscious ways to grant meaning to a given phenomenon such as formulating hypotheses, description or justification. It is about interpretations in the most basic and extended meaning of the term: theoretical processes by which a given phenomenon is included in an explanatory framework that provides it with a meaning. – Interpretation2 refers to interpretative processes inherent to the cultural praxis by which human groups endow with meaning, in a rather unconscious way, the whole of their experience through evaluative models or patterns rooted in the habits and natural languages. This would include practices that lead to religious or moral beliefs, or end up validating certain forms of socialization, individualization or aesthetic judgment. These practices are interpretive because they determine something as something: a landscape as beautiful, an action as an unjust action, a gesture as a form of seduction, and so on. – Finally, the level of interpretation1 refers to the basic categorization that organizes and enables the overall experience, which is already presupposed in processes as basic as space-time location of an event or in an object individuation (ZdW 30). The level of interpretation1 also operates in the use of basic concepts by which the primary framework of what is reality is determined by us: our use of concepts such as object, existence, event or person, suppose this fundamental interpretative exercise. Only on the basis of this interpretive praxis we can, for example, (as noted by Abel alluding Kant), experience something ‘within time’. In general, we are dealing here with the original interpretation, which in practice is almost unchangeable, from which the ‘furniture’ of the world, and what count in it, as a thing, an event, etc., is fixed. It should be clear that these various forms of deployment of the interpretation do not represent autonomous and independent processes. Abel does not simply identify and enumerate the various interpretive realizations that are hidden behind the apparent positivity of phenomena. Instead of that, these are correlated with each other revealing the genesis of sense at the root of them. To that extent could be considered that the interpretations1 represent something like the ‘quasi-transcendental conditions’ of possibility of human understanding in general, that the interpretative structures of level 2 arise from the hermeneutic situation that guides our concrete way (historical and cultural) of being in the world,
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and that the interpretational realizations of level 3 manifest themselves in the ways individual understanding objectifies, consciously, its environment. By expanding the phenomenon of interpretation in these three levels (transcendental, hermeneutical and objectifying) Abel intends to confer this issue an amplitude which other contemporary approaches lack. On the other hand, it should be recalled that the identification of levels does not have a prescriptive direction but is merely reconstructive: it compels us not to interpret following the sequence described by the levels, but shows us all the layers of interpretative exercise already implied, even in the current experiences. The interpretationalism does not offer the last description of interpreting in the diversity of its developments, but simply wants to show, retroactively, all the interpretivity that has taken place in the praxis of our simple being in the world. We should take a moment at level 1 of interpretation where, beyond any question, take place more appealing, philosophically speaking, interpretive accomplishments. Indeed, at this level are entered the elementary processes from which what we call reality is established: the use of basic logical concepts whereby the primary referents of what it is are determined, the sensory activity that impresses the sensible its basic forms, the corporality as a precognitive dimension that makes knowledge possible, and so on (ZdW 30). The result of these processes are nothing more than the opening and assessment of the more primary references of sense that form what is called reality and make possible human experience. In this line of thought, these interpretations1 take place in a level prior to all conscious experience: it’s not about interpretations of a given objective or cultural phenomenon, what is at stake is what defines the baseline of reality and that therefore are the condition of all subsequent experience of the world. In other words, in these interpretational developments what is done is not, strictly speaking, an experience of world, but the opening and establishing of a world where we, at levels 2 and 3, can build interpretational experiences. As this process goes beyond the realm of consciousness and human will, these interpretations, and the interpretational world that arises from them, are practically unchangeable. In fact, any changes in them result in an alteration of the matrix of reality, or more clearly, in the constitution of other worlds and other forms of experience. Therefore, any slight variation of this form of interpretivity is not only impossible but also not desirable as it would fundamentally alter the very ground of our vital praxis. Like Nietzsche‘s fable, we can wake up to this basic interpretivity1 that shapes our reality, as long as we don’t detach from it, but to realize the necessity to continue dreaming. From the aforementioned, it is clear that this approach escapes the relativism objection. Indeed, in Abel’s approach, the world and the reality are the product of an elementary process of interpretation, but this is so inaccessible to
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human choice and so fundamental to life that the reality that arise from it is, in practice, invariable. The world of sense we experience comes from an interpretation, and yet it does not let itself to be altered capriciously, nor can be derived from it any scheme of meaning. This immunity to these extreme forms of relativism is linked with the original treatment of Abel on the problem of truth. This treatment, of course, disclaims metaphysical essentialist approach and reformulates the notion of truth in the context of the overall interpretivity in which reality takes place. From this new direction, is not the search for the truth in-itself of things what is meant to be found, but to explain in which ways is justified to speak of truth in each of the realization levels of interpretation. In the case of levels 3 and 2 it is also valid the use of the traditional notion of truth as correspondence: within these levels of interpretation can be considered as ‘true’ those interpretations that ‘fit’ to fixed and recognized criteria of truth, whether it be of empirical verification parameters (in the case of interpretations3) or of criteria based on concepts of world or cultural practices commonly accepted (in the case of interpretations2). If beyond that, the task is to inquire about the ‘truth’ of these criteria, one must then refer them to the interpretive1 practices because they are the ultimate horizon that determines the primary categories of reality. – In this way interpretivity1 represents the horizon from which arises the concept of truth: “All that we represent or take for truth […] takes place in and under the limitations of the horizons of interpretation1. Even the question of a judgment‘s truth moves inside a horizon of interpretation1 that previously defines what can be considered as true or false […]. The interpretivity1 is logically prior to the discursive truth” (Iw 515). The virtually fixed categories of level 1 ensure a frame of reference from which you can evaluate the truth-claims of interpretations made up at other levels (Angehrn 2004: 202). To that extent, Abel can still maintain in his notion of truth a sense of ‘correspondence’ or ‘adaptation’, but it is no longer a correspondence between the subjective representations and objective facts, but one that is drawn between interpretative judgments of levels 2 and 3, on one hand, and the interpretations1, on the other (Abel 1994: 35)². On this last point we can formulate another important consequence arising from the approach of interpretivity on level 1. If the notion of interpretational
More recent analyzes seem to introduce a major change in this approach on truth. According to this, next to the ’old’ scheme which measures ‘the degree of truth’ of a sign or interpretation by reference to the interpretivity1, interpretationalism should consider a ‘new’ sense of truth that would emerge from the degree of correspondence that could be established between ‘processuality of signs and interpretations’ and ‘continuous and unstoppable flow of all things in the world and life’ (cf. Abel 2010: 37). This ‘new’ direction, prepared by Abel from Nietzschean elements, will be discussed in the last section of this article (cf. footnote 5).
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truth cannot be understood now as the correspondence between the subjective representations and the world of facts, it is because in the level 1 of interpretation, the opposition between subject and object, constitutive of modern metaphysics and epistemology, takes no place. Indeed, these processes of primary constitution of reality refer to interpretative achievements that does not spring from a conscious, or another intentional subjective source, nor are interpretations made on, or related to, any objective basis (as can still be the case in interpretations 2 and 3). Indeed, for Abel, at this level 1, the world does not exist prior to interpretation, but springs from this immediately, in every moment of his incessant becoming. Hence, at this basic level, “there is no break between interpretivity and facticity, between interpretation and world” (Iw 176), or put it in another way, what is given here is more of a “revolving doors relationship: our interpretations1 fill our worlds and these instantiate immediately […] those” (Iw 177). The interpretive1 processes address that last interpretivity, the pure occurrence of an interpretation that is linked, with no cracks or distance, to the happening of reality. It is about that fundamental interpretive becoming that has being, that is a becoming without subject and without an objective ground at its basis; it is about the original processuality of interpretational forces in which reality, at every moment, is defined and that Nietzsche calls the Will to Power. If so, then it makes no sense to ask, on this level, for the interpreter, i. e. for the subject of this interpretation. Indeed, given the co-participation between reality and interpretation that occurs at level 1, it is not possible to conceive here the separate action of a mind or subjectivity, cause and ultimate foundation of reality: “All this does not imply, in any way, that there is nothing; does not mean either that the world around us is a mere figment of the imagination, and especially does not mean that we were able of a creation ex nihilo” (Iw 177). Far from considering the human mind as endowed with a constructive omnipotence, Abel acknowledges the finitude and limitation that is inherent in it. Even amid this unsurpassed finitude, this mind is capable of recognizing the deeper layer of reality, one from which he can no longer be claimed author or cause: “The extent to which we, finite minds, are able to penetrate is precisely the functions of the categorizing interpretation1. Wanting to go back behind them would be nonsense” (ibid). The interpretationalism remains true to its genealogical and reconstructive strategy. At the high point of this reconstruction lies the recognition of an interpretive happening that blends with the same becoming of the real, a happening that is not the result from a separate spiritual action (conscious or unconscious, human or divine), exercised on a given sphere of ‘objects’. Pretending to go behind is to try the impossible task of taking a look
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at a region outside the interpretive world in which we are always and that, precisely, is the only open area of visibility.
2 Based on these approaches exposed earlier, we can now consider some of the objections which are usually formulated against the interpretationalistic philosophy. One difficulty has to do with the oversized use of the term ‘interpretation’ within the proposal. If the interpretation accompanies all processes of the mind and is present in activities as diverse as the identification of an object, the aesthetic judgment before an image or the development of a scientific hypothesis, then we are dealing with such a broad use of the term that it is doubtful that this has to do, yet, with a truly ‘concept with discriminatory power’ (Lueken 1996: 892). – On this issue one must remember that Abel uses the notion of interpretation in its primary sense of ‘determination of something as something’, so that to interpret only states the remission of a phenomenon within a sphere of meaning. This ‘remission’ that links all being in a space of sense may have to actively be set or simply be manifested in our immediate experience of the world. Therefore, it is justified to cover under the same notion of interpretation phenomena, at surface so diverse, as the active construction of a scientific theory or the process of human speech. One objection related to the abovementioned, also starts from denouncing Abel’s hyperinflation of the term interpretation, but not to criticize its inability to discriminate the phenomenon internally, but, instead, because this expansive use of the concept does not find an external boundary, a kind of counterconcept in contrast to which the idea of interpretation gain a precise meaning: “if everything is interpretation, then the concept of interpretation becomes meaningless. The use with meaning of the word ‘interpretation’ includes something that lies beyond interpretation” (Demmerling 2003: 100). What is meant by this is nothing less than to question the scientific status of interpretationalism: if it claims to assert a kind of universality of interpretation, then it should be able to show on what benchmark it is positioned to consider the entire enormous field of human action as an exercise of interpretation. And this benchmark cannot, of course, be itself part of the domain of interpretation. Making this objection more radical, it would be proper to denounce in Abel’s approach the presence of a performative contradiction: if all human activity is interpretation, then the theory that assert this is as well interpretation and has no scientific credentials of objectivity: but if this theory can show objective basis then it is not interpretation and therefore it would be false what it asserts.
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In my view this objection can be answered with relative ease, but it will reveal a weakness in Abel’s approach that seems to me much more genuine. What sustains the criticism outlined above is the assumption that interpretationalism can be condensed in thesis like ‘everything is a sign’ or ‘everything is interpretation’ by which it seeks to explain the objective reality of the world or the being of the human mind. Seen in this way, it seems consistent to ask the interpretationalist to show us from which objective basis he is going to stand for to make such descriptions, under penalty of fall into arbitrariness or into a contradictory position. – I say that the objection is easily answered because this assumption is clearly false. In fact, as we have seen, the ‘theses’ of interpretationalism are not descriptions outside the process of interpretivity that should then justify their own position. Rather, what this philosophy is doing is to investigate, retrospectively, the interpretive layers underlying the human practice, but this inquiry is done from within this practice itself, as another interpretational realization. Again the parallel with Nietzsche turns out to be illustrative. For the latter, a doctrine like the Will to Power is, as well, mere interpretation, i. e. springs from the interplay of interpretative forces that the doctrine self reveals. Abel’s analysis does not abandon, thus, the field of interpretation, nor is it secured from a position invulnerable to interpretation. Instead it extends this interpretational becoming, but now it turns on itself to go in reverse the interpretative path already walked. In that sense, interpretationalism is also an interpretation but one that gather, genealogically, all the interpretational display of which it is part of. Abel is not intended to seek the world outside interpretivity – it wouldn’t be possible anyway – but instead of that, he radicalizes interpretivity turning it on itself in a kind of reflexive examination. His philosophy is, for that reason, not metaphysics, nor it assumes an unconditioned point of view; it is rather an interpretation aware of interpretation itself, a form of interpretivity in which this is inverted on itself to reveal its structure and its becoming. From here it is possible to highlight a weakness in the interpretationalistic philosophy, given that Abel, in fact, doesn’t seem to ask himself by the type of interpretation that his own analysis embodies, i. e. by the interpretive level in which his reflection could be placed. At first glance it appears to be a level 3 interpretation as here takes place the inclusion of a phenomenon in an explanatory theory, namely the description of all processes of the human mind as part of an interpretive becoming of multiple levels of realization. However, this characterization seems to fall short. First, because Abel’s philosophy cannot be easily equated with theoretical descriptions of type 3, at least while it is aware of its interpretive nature. And second because the ‘object’, i. e. what is interpreted and introduced into a space of meaning, is not a singular phenomenon of reality, not a particular process or state of mind, but the totality of processes of the mind
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and the totality of the real that is configured on them. It is in this sense that we said before that what takes place in this philosophy is something like an interpretation of the interpretation itself, an interpretation that is bent or inverted on itself and takes itself, in the totality of its performative becoming, as its ‘object’. This interpretation that is Abel’s interpretationalism, works rather as an interpretation of second floor and it can hardly be included within the levels detected by Abel. In other words, this particular interpretational development made on interpretivity itself appears to be another realization of interpretation, but one that is not included in the proposal of the interpretationalist philosopher. The interpretationalism is then possible in virtue of an interpretive exercise which paradoxically is not covered in their own scope of analysis. Abel’s doctrine is not a form of foundationalism that intends to get support in an incontrovertible truth, but is deployed from the ability of interpretive thinking to reverse on itself in order to make a self-examination, and this ability never comes to be considered by the doctrine itself. The genealogical analysis of Abel is introduced, then, in the interpretive movement from which it springs, but it never justifies this self-referential interpretation of itself. It should be stated however, that this weakness of the proposal does not represent a real challenge to put into question, in some decisive way, the results of it. However, once noted this deficiency it is not possible, as well, to pass along just as if the interpretationalism could remain the same after warning this gap in its own structure. What is indicated here is that Abel’s doctrine needs a consideration of the theoretical status of his own discourse, a critical self-review of its tacit assumptions, and thereafter, an examination of the implications of these. These shortcomings do not distort or reformulate interpretationalistic philosophy in some fundamental way, but they do represent a weakness that, once solved, would make from this doctrine a broader and more solid approach. This greater width and soundness has to do with the possibility to conduct the interpretational analysis in one direction I would like to call ontological. I can only move forward a few steps ahead in this direction, and I will do this only indirectly by showing how the philosophy of Nietzsche – of which I have deliberately been showing its proximity to Abel’s approach – is headed also in this direction. A proposal like this would seem inappropriate if we recall that Abel himself has sought to assert the idea of interpretation as the point at which you can say goodbye to a general ontology³. The exhibition will show, however, how it is even permissible to speak here of an ontological approach.
And it seems even more nonsense when one consider that it is in Nietzsche where Abel sees that it takes place the farewell of ontology: “That ‘there is’ or that there should be ideal essences
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It is clear that Nietzsche’s thought also develops a genuine philosophical reflection on the phenomenon of interpretation. The so-called Nietzschean ‘phenomenalism and perspectivism’ asserts that “the world of which we can become conscious, is only a superficial and symbolic world, a generalized and vulgarized world” (FW 354, KSA 3.593). In other words, perspectivism claims that our world experience is not confronted with facts in itself, but with a phenomenic becoming already interpreted, and that it only works introducing new meanings in that reality, that is, interpreting more, and not revealing an objective essence behind the phenomena. – The approach of this perspectivism for which ‘there are no facts, only interpretations’, does not arise from nothing but occurs as a result of a long process of analysis that Nietzsche called genealogy. Genealogy is intended to reconstructively reveal, behind every ‘truth’ and value, the interpretive action of countless individuals and human groups for long periods of time. Thus everything that claims to be truth is unmasked as a position of sense, as an interpretation that a particular way of life has introduced in order to further its own interests. In the last edge genealogy reveals those basic interpretations from which the most elementary reference of sense of the real arise and that, therefore, constitute something like the basis for all further interpretation. These basic references of sense no longer belong to a particular historical world but represent basic categories from which to set the ground of reality that is common to all mankind. The fundamental laws of logic, the basic forms of spatiality and temporality or a primitive sense of causality count within these primary categorizations, in which we recognize the elements resulting from the interpretive processes of Abel’s type 1 level. The realization of this interpretive exercise represents for Nietzsche the activity of life itself. From the simplest organic forms to the higher life of human consciousness, life is, in essence, interpretive: any living organism is seen as a plastic configuration of instincts that constantly evaluate, determine and set patterns of meaning in their environment, in order to configure, amid a changeable becoming, a horizon of stability or reality that makes possible the growth of his own vital force. – But for Nietzsche the instincts of life not only set in the interpretation the scope of their reality, but each of them tends to constantly expand their own valuation, to make prevail, in the game with other interpretational
and facts, this formulation cannot itself be an ideal essence or a fact but must be an interpretation. This goes beyond the position of an ontological relativity and eventually culminates in an interpretational and nominalist way, in the unachievability of ontology in general, not only of the old ontology of essences, but also of the limited criticist ontology of phenomenal things” (Abel 1985: 61). Is hard to decide whether in this passage Abel refers to Nietzsche’s or to his own philosophizing.
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forces, its particular projection of sense. To account for this life impulse to overcome itself permanently, Nietzsche introduces the notion of Will to Power: the interpretational action of life, the game of instincts and vital forces from which the real permanently emerges, and that never gets crystallized into fixed patterns of meaning, but instead strengthens and expands into new configurations of the world. What matters for our purposes is to note that among the genealogical analysis and the doctrine of the Will to Power, there is no clear continuity, i. e. that the latter does not result from genealogy itself. The genealogical reconstruction goes as far as to recognize that the interpretation of the emerging reality occurs at the level of basic instinctual forces of life. To assert, besides this, that these particular vital units are impelled by an eagerness to expand their valuation of sense, to distinguish itself from other forces present in the configuration, in order to assert, progressively, their own sphere of power, is a postulate that has a different origin than that of the genealogical analysis. Genealogy shows the interpretation already in play in all that is offered to us as a world of sense; instead, the will to power aims to determine the general way of being of this interpretation: expansive, differential, unstoppable. Genealogy describes the different ways in which the interpretational exercise is developed (such as the ‘fundamental errors’ without which the species cannot live, as cultural valuations, as a result of a particular psychological type, etc.); the will to power shows what is common to these various realizations. In other words, while the genealogy exposes the interpretation, the will to power seeks to explain his way of being. The will to power is, therefore, an ontology of the interpretation. In fact, it is this ontology the one who leads the genealogical investigations. The genealogist, effectively, stands in front of the most immediate expression of sense and asks itself by the will to power, the position of sense that is revealed in this phenomenon, and the kind of life favorable by the establishment of this or that given valuation. Without the guiding principle of inquiring in the ‘given’ for the way of life that there managed to impose its truth, by the will to power that reinforces its domain therein, the genealogy would be blind and would hardly penetrate into the interpretational becoming from which reality emerges. Something of this is what happens with interpretationalism. Without this ontological guide principle one cannot avoid seeing in the genealogical reconstruction undertaken by the philosophy of Abel a certain lack and disunity. His analysis reveals, one after the other, various forms of interpretive praxis implicit in the common experiences, but it remains unclear how these praxes are linked with the totality of human existence. Abel works with this minimal definition of interpretation that equates it with the simple ‘determination of something as something’. From this place, he can establish the ways in which this ‘determi-
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nation’ is made and enunciate, thus, the three interpretive levels. All this, however, is extremely formal. To assert that we always interpret because we are always ‘determining something as something’ is indeed an obvious truth, but with this nothing has yet been said about the place of this interpretation in human existence in general, about what this means for the life of cultures and the individuals being subjected to this interpretation; an interpretation whose creative expansion turns out to be, in Nietzsche’s proposal, the one that makes possible the vital growth of concrete cultures, the opening of new forms of experience and the enrichment of reality. Of course Abel reflects on the consequences of his approach for our understanding of various fields of human praxis (his most recent studies on the question of knowledge are significant in this regard (cf. e. g. Abel 2008)), and it is clear that here we do not want the Nietzschean hypothesis of will to power to be accepted without further ado. But these precise analyses lack a general horizon that embraces and gives them unity. The determination of this general horizon of interpretation (as Will to Power in Nietzsche, facticity in Heidegger or différance in Derrida, for example) is a task of ontological nature, as it does not ask for a certain way of interpreting in this or that specific domain of praxis, but by the general being of interpretation, by the sense and unitary direction of its global deployment. None of this implies a commitment to an ontology of essences or phenomena, since it has nothing to do with unveiling the essential and definite truth behind interpretation. The ontological direction I propose here has more to do with a questioning than with a theoretical determination, a questioning that springs from a genuine concern from the very existence when this questions the nature of its own interpretive, finite and limited being. Apparently, Abel′s categorical rejection of ontology in general⁴ prevents him to see the legitimacy of an ontological questioning of this very type. A consequence of this lack of ontological question is, as we saw, the absence of an inquiry in Abel’s approach on the interpretive nature of his own doctrine. In that sense, we indicated earlier that his philosophy of interpretation is possible in virtue of a way of interpreting not addressed by it. By contrast, an ontology of interpretation, as the one proposed by Nietzsche, can solve this problem. Hence, the genealogical interpretation acknowledge itself in continuity with the interpretive process uncovered by itself; it represents, in fact, a sophisticated development of the will to power, one that Nietzsche calls the ‘will to truth’: that impulse specifically human that in its powerful point is able to retrace their own
“The philosophy of interpretation does not signify an ontology of interpretations”, asserts categorically (SZI 40).
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steps and unveil the fictional, interpretive character, of the sense schemes that it introduced and idealized as metaphysical truths. Thus, Nietzsche’s genealogy is known by itself as interpretation, but not anyone or one whose nature was undetermined, but the higher end of an interpretive will, vitally enhanced to the point it flexes upon itself to bring out that it is its own interpretive work which has settled reality with sense. Thus, Nietzsche justifies, from will to power‘s movement, the self-referential capacity that has the human interpretation, the possibility for all human existence not only to interpret and fill the world with sense, but to examine itself across the breadth of this interpretive exercise. The realization of this possibility is, for Nietzsche, philosophy itself. With this, the advantages of propping up the genealogical reconstruction of the interpretive processes with a reflection on the general being of interpretation are manifested. This approach ensures a unitary horizon that covers and links, beyond a single nominal unit, all interpretive realizations, including those which interpret the interpretation itself. I have called ontological this inquiry on the general being of interpretation, and although it is not an ontology of metaphysical essences or phenomena, we must recognize that at this point the analysis introduces an hypothetical assumption on the general nature of the being of the interpretation. But the introduction of this hypothetical element turns out to be necessary if the philosophical thinking is not to be confused with mere neutral description, and instead wants to move to a position in which it is aware of its own starting point and the ‘bias’ that guides the research. With no apparent ontological commitments, Abel’s strategy seems more sober and restrained, but in reality that prudence only reveals a lack of clarity about the last theoretical status of their own analysis. With the abovementioned, it should be clear that the proposal to advance the interpretationalistic philosophy in an ontological direction, does not represent a deviation from the original sense of this analysis, but the development of a theoretical possibility that is inherent in Abel’s approaches. Moreover, that the realization of this possibility of an interpretationalistic thought doesn’t represent an extension of its field of inquiry, but rather a deep awareness of their assumptions and foundations. To clarify even more the character of this proposed ontological direction and the nature of the questions it opens, we now present another objection that is often formulated against interpretationalism. It is about, as in the previous case, an objection that is answered in a rather simple way, but from which it is possible to see some issues that remain unresolved from the framework of the doctrine laid out by Abel. These issues are again of an ontological nature, and it can be shown, once again, that they accompanied the thinking of Nietzsche.
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The objection expresses the difficulty in determining the interpretative nature of level1 that Abel identifies. At this level, we were saying, all dualism has been overcome, and consequently, the reality that opens here neither preexists to the signs, nor is just a construct of them; rather, it arises constantly from a primordial signic becoming behind all opposition, as a condition of any objective positivity and any subjective activity. – Now then, if on this level there is no distance between the interpretation and the world, why call these elementary processes interpretive processes? If in these realizations it is not possible to identify neither an interpretive instance nor an interpreted one; if as finite human beings we have no conscience or memory of an interpretative act as fundamental as the one indicated herein, what justifies us to keep seeing in this signic becoming a form of interpretive display? Or, in other words, why consider as signs the results of these processes (categories, logical concepts, corporality structures, etc.) when clearly there is nothing behind them to which they are signs? It seems also unaccomplished, in them, the distinctive mark of any interpretation, namely, to be a determination of something as something. Abel’s response to this objection can be found in the following passage: “Every categorized and individuated world, this is, each determined world, is ipso facto a world of interpretation. This is shown reconstructively also in the fact that both, the categorizing concepts and the principles of individuation, could have been different. Generally one is not aware of this possibility, and once the principles of individuation have been established then one is not completely free in all subsequent steps in our dealing with a language and a world” (Abel 1994: 18). – What the passage says is that even the categories and primary references of the real, that even the axial axis around which is installed the concrete world of praxis, which are practically unchangeable, are also signs and products of interpretational processes, but not because behind them exists something that had been determined as something, but because we realize – although about this possibility is highly unlikely to become aware – that they could have been different. This range of variation opens then a threshold of possible meanings for the categories and basic concepts of level1, whereby these can be considered as mere interpretations. The world of our experience, for example, is a world of objects and events that take place in a three dimensional space and an irreversible time. This fact is so immediate that we usually take it for reality in-itself of things. Interpretationalism, meanwhile, not only reveals all the different forms of interpretive processes at the basis of this current experience, but shows that even the most basic categories that determine it (notions like ‘object’, ‘event’, ‘space’ or ‘time’) are also interpretations, but not because we can reconstruct, with some sense, that something of which they are interpretations, but because of its contingent nature, i. e. the logical possibility – not factual – to under-
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stand them in a different way. Thus, interpretationalism regards all human experience to the interpretive1 world that makes it possible; from this world we cannot escape, but at least we can probe, from inside, the limits that frame and separate it from other possible interpretative1 worlds, i. e. we can sense another world (one where time is reversible or the space of four dimensions, for example) that in any case we cannot dwell. With these observations Abel seems to solve this objection. As we can warn that the references of sense1 might have been others, as we may be well aware of its contingency, we recognize, then, that they do not represent transcendental structures and, consequently, we can be sure of their interpretative character. – But beyond disable this objection, Abel’s response seems interesting because it announces a blind spot in his own scheme, the actual presence of an approach that is not now the result of his reconstructive genealogical strategy. Indeed, Abel defends the human ability to be aware of the contingency of the products of interpretations1, but does not seem to realize that this experience itself is from another type than those that can be reconstructed with the assistance of his genealogical analysis. The interpretationalism can make us enter until the ultimate horizon of the world1, a horizon that traces the limits of reality and human experience. However, the possibility that from this edge of the world can be peeked other neighboring worlds is not by this means assured. Clearly, we can guess how other worlds would be structured from references of sense radically different from ours, worlds of other species, realities set from another logic and another corporality. The possibility of this intuitive experience is undeniable, but the point I want to note here is that this experience is not captured in Abel’s genealogical reconstruction. Here it is introduced something quite different, something that is not the result of revealing the layers of interpretation that lie beneath the praxis, which exceeds the interpretational exercise and turns to another level of argumentation and justification. If earlier we have seen, in Abel’s philosophy, the presence of an interpretive exercise situated ‘above’ the level 3 as it turns reflexively on itself and takes as its object the entire becoming of interpretivity, now we want to indicate a form of interpretive experience taking place ‘below’ the deepest level because it recognizes the contingent being of this interpretive1 world, i. e. the contingency of the fundamental framework of categories in which reality always opens. This experience has not been contemplated in any way for the analysis into interpretivity levels. It is, as recognized by Abel, a possibility that ‘as a general rule’ has no place, an unusual experience that arises rather in those rare moments when, to say it with Heidegger, flashes the worldliness of the world, in those moments in which consciousness has not abandoned its world of sense and yet seems able to stand behind primary signic-interpretive processes, not to take a step back towards an ‘old domain of essences metaphy-
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sic’ (Abel 2010: 30), but to foresee with perplexity the contingent and enigmatic becoming of sense to which it belongs. From either of the two ‘ends’ of the process of interpretivity, whether extending a thematic interpretation until it turns on itself, or trying to retreat behind the basic openness of world, new ways of thinking are open to interpretationalistic philosophy. In both cases these ways can be considered ontological in the sense that they dig into a general way of being, into a totality. In the first case, as we saw, this is an ontology of interpretation that asks for the performative being of interpretation, in the second of something we can call, with Heidegger, a fundamental ontology, which is not a metaphysical or a new theory of being, but rather an inquiry on the contingent nature of the (interpretive) real. – We want to expose, more than with Heidegger, from Nietzsche‘s philosophy, an ontological reflection of this kind. To do this we must extend the doctrine of the Will to Power exposed before with the notion of chaos. For Nietzsche, chaos represents a background of infinite potentials from which reality emerge, a pure becoming which in itself is always outside of any determination and conceptual scheme, that is, apart from any interpretation. In my view, it is then necessary to reconsider the leading role that has been provided to the will to power, mobilizing the idea of a primordial chaos within which this will arise and to which it returns to practice its interpretative power. In this sense Nietzsche points out that the basic impulse of the will to power is not “know” but “sketch, give the chaos as much regularity and forms as necessary to our practical needs” (Nachlass 1888, 14[152], KSA 13.333). In this vein, the world of sense not only arises from interpretational action of the will to power, but more precisely from an eternal game of chaos with this will, from a game between a chaotic happening and the processuality of life. What we call reality and world springs then, at every moment, as a specific and punctual configuration of sense in this game of interweaved happenings. – Only from that play and counterplay is evident that the will to power is not an unconditional metaphysical principle as it does not exert its interpretive activity within a void that has no resistance, but is prompted or inhibited by the pure eventuality of a blind becoming. It follows from this that with the idea of chaos, the thought of Nietzsche wants to go one step beyond the realm of sense opened by the interpretive will to power. Through chaos, Nietzsche gives way to that drive for knowledge that is not satisfied with giving sense to reality, and even with the unmasking of the interpretive nature of the world, but struggles to break the walls of his own perspective corner to glance, as ‘from within’, the scope of unspeakable chaos, “proteusean, elusive and fluid” (Nachlass 1885, 40[53], KSA 11.654) surrounding the meaning. This way of thinking experience is the same that we
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have identified in the analysis of Abel but he did not explicitly develop: the step that allows us to leave from ‘within’ the becoming of interpretivity and sense its pure contingent being. The transition to chaos has no place in Nietzsche as a leap towards a transcendental sphere, but as a radicalization of the philosophical experience of the world. That’s why chaos is not the opposite of the interpreted world of the will to power, but another side of the real that we also ‘feel’ somehow, “other form of the phenomenal world” (Nachlass 1887, 9[106], KSA 12.396) that, none the less, is for us unsayable. With this orientation towards chaos we don’t lead to an irrational or mystical field, but instead we seek access to a sphere prior to the sense of which, however, comes the sense itself. Similarly, when we indicate the possibility of an ontological turn to interpretationalism, we do not aim to risk, with that, a leap into an ontology of essences, but simply to extreme a possibility of thought that is inherent to it⁵. We do not try to make a commitment between Abel’s philosophy and the Nietzschean chaos. As with the principle of the Will to Power, we present here only two analyses that illustrate the ontological character that is latent in the interpretationalistic philosophy. Whether this is about a reflection on the general being of interpretation or an intuition able to grasp the contingency of the world as a totality, the fact is that this is not a metaphysical ontology determined to bring to presence the true self, the final and definitive foundation of the world. On the contrary, the ontology of interpretation ends revealing insurmountable finitude of human being, the nature always situated and perspectival of its knowledge. And secondly, what we have called fundamental ontology does not result in the exposure of an absolute foundation at the root of interpretation. This ontology certainly wants to go to the foundation, on which interpretivity is founded, but what is here is pure contingency and lack of need. So it is rather a deflationary ontology, one where being is always subtraction, refusal and withdrawal, not as a mysticism or as a negative theology, but as it is found that the last condition that makes sense and knowledge possible escapes itself from sense and knowledge. All of this is to be decisively and deeply thought, and the interpretationalistic philosophy is an ideal framework to promote this reflection.
In a recent commentary on Nietzsche Abel clearly addresses himself in the indicated direction. Although not explicitly mention the thought of chaos, Abel does show that it can be possible to identified in Nietzsche, in addition to the process of a signic-interpretive happening, another process, namely, the ‘continuous flow of all things in the world and life’ which is the basis of interpretivity, and to which the will to power tries to correspond, to represent and to make the basis of its praxis, without fully success (Abel 2010: 37). With this “ultimate truth of the flow of things” it is surely referred the notion of chaos.
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Philosophieren ohne ontologisches Fundament Replik zum Beitrag von Luis Eduardo Gama Barbosa Der Beitrag von Luis Eduardo Gama Barbosa liefert eine in der Sache ausgezeichnete und argumentativ elegante Rekonstruktion der wichtigsten Grundzüge der Zeichen- und Interpretationsphilosophie [im Folgenden: ZuI-Philosophie], mit Akzent auf der Interpretationsseite. Bestens herausgearbeitet werden die jeweiligen Pointen der ZuI-Philosophie ebenso wie der Tiefensitz ihrer Interpretamente in unserem Welt-, Fremd- und Selbst-Verständnis. Trefflich auch wird das 3-Stufenmodell der ZuI-Verhältnisse in seiner philosophischen (und nicht nur einzelwissenschaftlichen) Funktion rekonstruiert und beurteilt. Im zweiten Teil seines Artikels bringt Gama Barbosa drei aus seiner Sicht noch ausstehende Ergänzungen (nicht Kritiken) der ZuI-Philosophie ins Spiel. Diese Ergänzungen beziehen sich auf Fragen der Interpretation der Interpretation, mithin auf den Status der Interpretativität der ZuI-Philosophie selbst. Die Natur des Interpretierens ist, so die These, der ich nachdrücklich zustimme, auf der Ebene der ZuI-Philosophie selbst nicht einfach dieselbe wie das direkt objektbezogene Interpretieren vornehmlich auf den ZuI3+2-Ebenen, wie beispielsweise in wissenschaftlichen Theorien, hermeneutischen Deutungen, sinnlichen Gestaltbildungen und überhaupt im menschlichen Sprechen, Denken und Handeln. Gama Barbosa ist der Ansicht, (a) dass ich die Frage nach dem Status der ZuIPhilosophie selbst stärker thematisieren müsse, (b) dass eine solche Ergänzung geboten sei, um die ZuI-Philosophie mit einer ‚totality’ und einer ‚unity‘ gleichsam abzuschließen, und (c) dass entsprechende Überlegungen letztlich darauf hinauslaufen, der ZuI-Philosophie eine fundamental ontologische Basis zu unterlegen, welche Ontologie er freilich nicht als eine Ontologie der Dinge und Entitäten im Sinne der Tradition verstanden wissen möchte. Angesichts dieser Punkte Gama Barbosas ergreife ich gern die Chance, meine Position in puncto Selbstreferentialität, Selbsteinschluss und Status der ZuI-Philosophie näher zu explizieren. Nicht eingehen jedoch werde ich auf die beiden der Philosophie Nietzsches entstammenden Interpretamente, die Gama Barbosa zur Untermauerung der von ihm avisierten Ontologie herausstellt, Nietzsches Lehren nämlich vom ‚Willen zur Macht‘ und vom ‚Chaos‘. Da es sich dabei um spezifische Nietzsche-Interpretamente handelt, wäre dies eine eigene Diskussion. Sie sprengte den Rahmen der vorliegenden Replik, in der ich mich auf die ontologische Herausforderung konzentriere. Hinsichtlich der in Punkt 3 meiner Replik leitenden Frage, ob ich der https://doi.org/10.1515/9783110522280-077
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ZuI-Philosophie eine Ontologie zu unterlegen bereit wäre, halte ich die beiden Nietzsche-Interpretamente nicht nur für entbehrlich, sondern unter Umständen auch für irreführend in Bezug auf den Grundcharakter der ZuI-Philosophie. In den ZuI-Prozessen und ZuI-Praxen, so wie sie in meinem philosophischen Ansatz konzipiert werden, bedarf es keiner zusätzlichen Annahme einer wie auch immer gearteten ontologischen Unterfütterung. Die ZuI-Prozesse werden eher im Sinne performativer und dynamischer Prozesse und Präsenzen verstanden, hinter, neben, unter oder über die nicht noch einmal fundamental ontologische Dimensionen platziert werden sollten. Vor diesem Hintergrund möchte ich meine Replik auf Gama Barbosas Beitrag wie folgt gliedern: 1. Rekonstruktion der ZuI-Philosophie durch Gama Barbosa. 2. Charakter und Status der ZuI-Philosophie selbst. 3. Performative ZuI-Prozesse, ZuI-Praxen und ZuI-Präsenzen ohne ontologische Unterstellungen. 4. Zeigen als ein Ort realer, aber nicht ontologisierbarer Präsenz.
1 Rekonstruktion der ZuI-Philosophie durch Gama Barbosa Trefflich beschreibt Gama Barbosa den umfänglichen und tiefgehenden Charakter der Interpretamente und Gestalten der ZuI-Philosophie im Blick auf unser menschliches Welt-, Fremd- und Selbstverständnis. Mit Recht hebt er hervor, dass es in den ZuI-Prozessen um das primordiale Eröffnen der Räume von Bedeutsamkeit (von ‚significance‘, die jeder Rede von ‚Bedeutung‘ im Sinne von ‚meaning‘ bereits voraus liegt) sowie der Sinn- und Relevanz-Generierung hinsichtlich unserer Ich-Wir-Welt-Beziehungen geht. In dem, was Gama Barbosa in diesem Zusammenhang schreibt, fühle ich mich bestens verstanden. Dieser Befund erstreckt sich auch auf Gama Barbosas Rekonstruktion der Funktionen und Reichweiten des heuristischen 3-Stufenmodells der ZuI-Prozesse. So sieht er deutlich auch den kardinalen Punkt, dass es sich um ZuI-Philosophie und keineswegs nur um eine Theorie oder eine Wissenschaft der Zeichen und Interpretationen handelt (zwecks Auslegung zum Beispiel von Werken der Literatur, Musik, Architektur oder anderer Zeugnisse der Kulturen). Dieser Unterschied zwischen ZuI-Philosophie und ZuI-Theorie/-Wissenschaft ist mir sehr wichtig. So entwirft – um hier meinerseits ein Beispiel im Blick auf diese Differenz ins Spiel zu bringen, das nicht von Gama Barbosa stammt – Paul Thom in seinen Büchern Making Sense. A Theory of Interpretation (2000) und The Musician As Interpreter (2007) eine Theorie der Interpretation im Sinne einer Auslegungslehre als einer Wissenschaft. Die beiden Bücher beziehen sich höchst
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kompetent und aufschlussreich auf die Erschließung formaler Eigenheiten, semantischer Gehalte und Relevanzen von Kunstwerken (beispielsweise aus Literatur oder Musik) sowie auf die genuinen interpretatorischen Tätigkeiten jeweiliger Interpreten, beispielsweise eines ausführenden Musikers. In solcher Interpretations-Theorie/‐Wissenschaft geht es erklärtermaßen nicht um den umfänglichen, tiefliegenden, zeichen-verfassten und interpretativen Grundcharakter unserer menschlichen Welt-, Fremd- und Selbst-Verhältnisse. Und es geht in solcher ZuI-Theorie/-Wissenschaft auch nicht um die angesprochene Generierung von Räumen der Bedeutsamkeit, des Sinns und der Relevanz, denen in unseren Lebenswelten und unserer menschlichen Existenz eine so grundlegende Stellung zukommt. Überzeugend stellt Gama Barbosa heraus, wie sehr es Herausforderung und Ziel der ZuI-Philosophie ist, „to make visible the interpretive processuality at the root of the human experience of the world“ (Gama-Beitrag, Kap. 1). Diese Sichtweise schließt von vornherein aus, die ZuI-Philosophie bloß als eine nachträgliche hermeneutische Auslegung anzusehen und das ganze Unternehmen der ZuIPhilosophie auf Hermeneutik zu reduzieren.¹ Mit Recht reklamiert Gama Barbosa für die ZuI-Prozesse deren aktiv-gestaltenden, aktiv-konstruierenden und nach vorn gerichteten Charakter (im Unterschied zu einem bloß auslegenden und passivisch-vernehmenden hermeneutischen Verstehen). Und mit Recht betont er auch, dass die unser Welt-, Fremd- und Selbst-Verständnis/-Verhältnis ausmachenden ZuI-Prozesse weder physikalistisch bzw. naturalistisch noch mentalistisch bzw. subjektivitätstheoretisch reduziert werden können. Die Existenzweise der ZuI-Prozesse und ZuI-Praxen besteht eben ganz in der adualistischen und dynamischen Prozessualität, Performativität und Präsenz der Vollzüge selbst. In diesem Zusammenhang greift er explizit eine Überlegung aus dem Buch Interpretationswelten (Iw 176) auf, in der ich betone, dass es innerhalb des 3Stufenmodells auf der Stufe der ZuI1-Prozesse strenggenommen noch keinen Sinn macht, strikt zwischen „Interpretativität und Faktizität“ zu unterscheiden, beide gegeneinander zu isolieren und dann durch sekundäre Brückenschläge miteinander zu verbinden. Die Unterscheidung wird erst auf der ZuI2-Ebene und vor allem auf der ZuI3-Ebene relevant und dort dann überaus wichtig. Diesbezüglich schreibt Gama Barbosa sach- und stilsicher: „The interpretive1 processes address that last interpretivity, the pure occurrence of an interpretation that is linked, with no cracks or distance, to the happening of reality.“ (Kap. 1)
Zu dieser Abgrenzung vgl. auch meine Repliken zu E. Angehrn, zu A. Pzylebski, und auch zu M. Brusotti.
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2 Charakter und Status der Interpretativität der Zeichen- und Interpretationsphilosophie selbst (a) Auf elegante Weise verteidigt Gama Barbosa die ZuI-Philosophie gegen zwei Einwände. Beiden Verteidigungen kann ich nur zustimmen. Gama Barbosa argumentiert vor allem mit Rekurs auf den Tiefensitz der ZuI-Prozesse und die mit diesen verbundene Generierung von Räumen der Bedeutsamkeit. Die beiden Einwände lauten: (i) Ich überdehnte den Gebrauch des Ausdrucks ‚Interpretation‘, so dass dieser seine diskriminierende Kraft einbüße, und (ii) ich verwendete den Ausdruck ‚Interpretation‘ ohne Begrenzungen von außen, was gegen die gängige Vorstellung verstoße, die Bedeutung (im Sinne von ‚meaning‘) des Ausdrucks ‚Interpretation‘ müsse stets etwas enthalten, was nicht selbst innerhalb der Interpretation liege. Überzeugend zeigt Gama Barbosa erstens (i), dass der Witz der ZuI-Philosophie darin besteht, dass jede diskriminatorische Aktivität intern stets bereits interpretatorisch verfasst sein muss, um überhaupt diskriminierend wirken zu können. Mithin ist Interpretativität in jeder Diskrimination (und zwar auf dem ganzen Spektrum von sinnlich-phänomenalen bis hin zu sprachlich-begrifflichen Diskriminationen) stets bereits vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Dann aber kann der Hinweis auf Diskrimination, logischerweise, nicht destruierend gegen den Status der Interpretativität und entsprechend auch nicht gegen die ZuIPhilosophie eingesetzt werden. Zweitens (ii) argumentiert Gama Barbosa, dass der Rede von Fakten und Realitäten im Sinne eines vorfabriziert fertigen und individuierten Gegebenen ohne Rückgriff auf ZuI1-Prozesse noch gar kein Sinn gegeben werden kann. Von einer Trennung zwischen den ZuI1-Prozessen und einer von woanders her vorfabrizierten So-und-so-Welt auszugehen, gegen die dann die Interpretativität1-Prozesse erst noch auf ihre Passgenauigkeit und Richtigkeit geprüft werden müssten, macht auf dieser ursprünglich-einheitlichen Ebene noch keinen Sinn. Unter kritischem Vorzeichen werden unsere individuierten Welten und menschlichen Erfahrungswirklichkeiten stets bereits als adualistische und gestaltete Welten und Wirklichkeiten erfahren und auch so behandelt. Als endliche Geister sind wir von einer vorab fertig individuierten Welt-an-sich ebenso abgeschnitten wie von Erfahrungswirklichkeiten-an-sich. (b) Bedarf die ZuI-Philosophie ontologischer Ergänzungen? Gama Barbosa rückt einen wichtigen Aspekt der ZuI-Philosophie in den Fokus der Aufmerksamkeit, die Frage nämlich nach „the type of interpretation that his [i. e. Abel’s] own analysis embodies“, d. h. nach dem „interpretive level in which his reflection“ zu verorten ist (Kap. 2). Mithin geht es um die Frage nach der Interpretation
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der Interpretation und nach dem auf der Ebene der ZuI-Philosophie selbst verwendeten Typus von Interpretativität. Sehr richtig sieht Gama Barbosa, dass es sich bei diesem Typus von Interpretation nicht einfach bloß um eine weitere Spezial- oder Regional-Interpretation (wie beispielsweise in puncto wissenschaftliche Theorie oder prädikative Sprache) handelt. Zugespitzt möchte ich darüber hinaus betonen, dass es sich hier auch um die Frage nach Natur, Charakter und Status des Philosophierens selbst, mithin um das Selbstverständnis der Philosophie handelt. Auf dieser Ebene artikuliert die ZuI-Philosophie in ähnlicher Weise ein Selbstverständnis des Philosophierens, wie dies beispielsweise auch in der Rede von Transzendentalphilosophie, Phänomenologie oder Dialektik der Fall ist. Es geht also um einen Typus von Philosophie, nicht bloß um eine Theorie der Zeichen und Interpretationen. Im Folgenden möchte ich meine diesbezüglichen Positionen näher erläutern. Im Fazit der folgenden insgesamt neun Punkte komme ich allerdings zu anderen als den von Gama Barbosa ins Gespräch gebrachten ontologischen Ergänzungen. Während er es für angebracht hält, den im 3-Stufenmodell gestaffelten ZuI-Verhältnissen eine fundamental ontologische Dimension voraus- und unterzulegen, werde ich meine gegenteilige These verdeutlichen, dass wir solcher ontologischer Annahmen nicht bedürfen. Ja, mehr noch, dass solche Annahmen die ZuI-Philosophie um ihre Pointe, Radikalität, Relevanz und ihren Sinn zu bringen drohen. Im Einzelnen werde ich dies in den Abschnitten 3 und 4 darlegen. Zunächst jedoch seien kurz die wichtigsten Aspekte angeführt, die aus meiner Sicht für das Interpretieren des Interpretierens, mithin für die Interpretativität auf der Ebene der ZuI-Philosophie selbst kennzeichnend sind. (a) Zunächst ist zu betonen, dass sich die ZuI-Philosophie über ihre Objekte bzw. Untersuchungsgegenstände versteht und definiert. Die ZuI-Philosophie ist kein introvertierter und letztlich leerlaufender Theoretizismus meta-theoretischer Theorien-über-Theorien-Bildungen. Sie ist, wie betont, gar keine Theorie oder Wissenschaft der Zeichen und Interpretationen, gar eine solche mit dem Ziel apriorischer, überzeitlicher oder ahistorischer und am Ende axiomatischer Systembildung. Die ZuI-Philosophie kann vielmehr, so die These, als ein Hineinreflektieren in die ZuI-Profile der irreduzibel vielfältigen ZuI-Prozesse des Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens verstanden werden. Solches Hineinreflektieren ist im Unterschied zu dem bei Philosophen oftmals beliebten Hinaus- oder Hinaufreflektieren auf einen externen und höchsten Punkt zu sehen. Von einem solchen höchsten Punkt (mentalistischer oder physikalistischer Reduktion) her sollen dann – so die selbst-destruktiv hoch angesetzte Hoffnung – die einzelnen Erscheinungsformen unserer Erfahrungswirklichkeiten, Lebenswelten und existenziellen Erlebnisse konstituiert und gleichsam erst deduziert werden.
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Das in der ZuI-Philosophie angestrebte Hineinreflektieren verkörpert freilich nicht selbst einfach bloß einen weiteren objekt- und bereichs-spezifischen und gleichsam regionalen Typus des Interpretierens. Vielmehr handelt es sich um ein Reflektieren auf diese regionalen ZuI-Typen selbst. Dieser Befund führt mich dazu, den Typus des ZuI-Gebrauchs auf der Ebene der ZuI-Philosophie selbst als ein reflektiertes Interpretieren, des näheren als ein Interpretieren zweiter Ordnung anzusprechen. Jedoch ist und bleibt ZuI-Philosophie auch in dieser Hinsicht strikt Philosophie nach Menschenmaß, nicht nach Gottesmaß, nicht Philosophie von einem absoluten Gesichtspunkt. Es handelt sich vielmehr um eine die RegionalInterpretationen transzendierende sowie transversale Interpretation des Interpretierens selbst. Dieses bleibt jedoch, es sei wiederholt, ganz auf Seiten der Inhärenz und Immanenz der ZuI-Prozesse selbst. Konsequenterweise kommen hier auch keine gänzlich nicht-interpretativen und gänzlich nicht-zeichenhaften, mithin auch keine fundamentalen ontologischen Voraussetzungen ins Spiel. (b) Die Zusammenhänge so zu formulieren lässt, mit Recht, einen Kantischen Tonus der ZuI-Philosophie spüren. Das in Punkt (a) hervorgehobene Hineinreflektieren bedeutet auch ein Hineinreflektieren entlang der Kantischen Frage, wie wir es uns zu denken haben, dass unsere Erfahrung so ist, wie sie ist. Des näheren heißt Hineinreflektieren dann auch ebenfalls in Kantischer Manier, diejenigen sinnkritischen Präsuppositionen ans Licht zu bringen, die wir in unserer menschlichen Erfahrungswirklichkeit stets bereits als erfüllt vorausgesetzt und in Anspruch genommen haben, sofern wir unseren Erfahrungen über den Weg trauen, uns direkt auf sie verstehen und ausschließen, insgesamt und auf Dauer mit unserem Selbst-, Fremd- und Welt-Verständnis schief zu liegen. Diese Bewegung des Denkens wird bei Kant transzendental genannt. In diesem Zusammenhang bin ich überaus offen für den Gedanken, die ZuIPhilosophie als ein auch transzendental orientiertes Philosophieren in dem skizzierten Sinne anzusprechen. Allerdings lebt diese Offenheit von zwei Umakzentuierungen und Erweiterungen des Leitfadens der Betrachtung. Erstens (i) steht der ZuI-Charakter der Erfahrungsprozesse und der sinnkritischen Präsuppositionen ganz im Vordergrund. Transzendentale Bewegungen der skizzierten Art fördern vornehmlich, so die These, Formen, Gestalten und Genealogien von ZuI-Verhältnissen zutage. Zweitens (ii) kommt der Sinnlichkeit und den sinnlichsensorischen (mithin nicht begrifflichen und nicht sprachlich-propositionalen) Individuationen und Weisen der Welt- und Selbst-Gestaltung eine überaus wichtige und genuin eigenständige Rolle zu.² Letzterer Aspekt macht zugleich
Siehe in diesem Zusammenhang meine Repliken auf Horst Bredekamps Beitrag zur Rolle der Bilder und auf Helga de la Mottes Beitrag zur Eigenart der Expressivität in der Musik.
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meine Grundeinstellung deutlich, dass einer Kennzeichnung der ZuI-Philosophie als transzendental in dem skizziert moderaten Sinne gleichrangig die Kennzeichnung als phänomenologisch zur Seite gestellt werden kann. Auf diese Weise steht die ZuI-Philosophie als ein Typus von Philosophie in einer natürlichen Verbindung zur Transzendentalphilosophie ebenso wie zur Phänomenologie. Beide Komponenten (die Freilegung der sinnkritischen Präsuppositionen unserer Erfahrung und die Konzentration auf die Formen der sinnlichen Erscheinungen und Erfahrungswirklichkeiten) spielen in der ZuI-Philosophie eine grundlegende Rolle. (c) Sind Zeichenhaftigkeit und Interpretativität in der ZuI-Philosophie selbst vom Charakter der in den Punkten (a) und (b) angesprochenen reflektierten Zeichenhaftigkeit und reflektierten Interpretativität und direkt wirksam in den Prozessen menschlicher Welt-, Fremd- und Selbst-Erfahrungen/Gestaltungen, dann heißt dies auch: Die ZuI-Philosophie kann nicht einfach bloß als eine Methodologie verstanden werden. Diesen Punkt habe ich auch in meiner Replik auf Hans Lenks Beitrag betont, der im Unterschied zur ZuI-Philosophie bekanntlich einen methodologischen Interpretationismus vertritt. (d) Nachdrücklich möchte ich auch den Charakter des Selbsteinschlusses der ZuI-Philosophie hervorheben. Die Rede von Selbsteinschluss verstehe ich hier in dem Sinne, wie sich beispielsweise die Pyrrhonische Skepsis (im Unterschied zu anderen Formen der Skepsis, etwa der akademischen) selbst unter ihre eigenen Standards und Maßstäbe der Kritik stellt und konsequenterweise auch sich selbst gegenüber skeptisch ist. Derartiger Selbsteinschluss ist Ausdruck philosophischer Stärke. Im Anschluss an das Verfahren Phyrrhonischer Skepsis sei dies in zwei Hinsichten kurz erläutert: (i) Für Skeptizismen und Positionen, die sich nicht selbst einschließen, wird es letztlich unausweichlich, eine metaphysische Hinterwelt-von-Dingen-an-sich anzunehmen, von deren Erfassung wir eben systematisch abgeschnitten sind. Eine solche Annahme ist jedoch eine dogmatische Annahme, die unter kritischem Vorzeichen nicht verständlich gemacht werden kann. Sie lebt letztlich von der Voraussetzung eines Gottes-Gesichtspunktes, der außerhalb unserer menschlichen epistemischen Situation läge. Selbstredend ist die ZuI-Philosophie von einer solchen Annahme abgeschnitten. Und natürlich kann sie daher auch nicht als absolute Philosophie, nicht als Totalitäts-Philosophie und auch nicht als ontologische Philosophie verstanden werden (welch letztere beiden Verpflichtungen Gama Barbosa durchaus gern sehen möchte). Auf nicht-zeichenhafte und nicht-interpretative Absolutheit, Totalität und fundamentale Ontologie rekurrieren zu wollen, ist erklärtermaßen keine Option der ZuIPhilosophie. (ii) Unter kritischem Vorzeichen ist stets Vorsicht geboten, wenn Ansätze, Theorien und ganze Philosophien sich nicht ihrerseits unter die von ihnen selbst propagierten Standards und Maßstäbe stellen und nach ihnen be-
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urteilen lassen. In der Regel handelt es sich dann um Dogmatismen, die sich der rationalen, theoretischen und vor allem auch der ethisch-praktischen Diskursivität entziehen möchten. Das ist erklärtermaßen jedoch in der ZuI-Philosophie nicht der Fall. Freilich schleift solcher Selbsteinschluss keineswegs die Differenz zwischen den ZuI-Charakteren auf den Ebenen des 3-stufigen ZuI-Modells und dem Typus der Interpretativität auf der Ebene der ZuI-Philosophie selbst ein. Selbsteinschluss meint in unserem Falle vor allem auch das innere Band zwischen den Ebenen der Regional-Interpretationen und der Ebene der Interpretativität der ZuI-Philosophie selbst. Dieser Befund ist auch eine Konsequenz des unter Punkt (a) betonten Aspektes, dass sich die ZuI-Philosophie von ihren Gegenständen her (und nicht als eine abgehobene Theorie-über-Theorien-Bildung) definiert, mithin ihrerseits stets auch an die Interpretationen der im 3-Stufenmodell adressierten Prozesse auf die skizziert reflektierte Weise gebunden bleibt. Dies gewährleistet übrigens auch die Bodenhaftung, Lebens- und Welthaltigkeit der ZuI-Philosophie. (e) Konsequenterweise ist das ZuI-Modell kein Meta-Modell und die Interpretativität auf der Ebene der ZuI-Philosophie selbst keine Meta-Interpretation. Ich halte Meta-Konstruktionen (die stets in der Gefahr weiterer und im Prinzip unbegrenzt vieler Meta-meta-meta-Ebenen stehen) nicht für ein geeignetes Mittel zur Beschreibung der Verhältnisse zwischen der ZuI-Philosophie-Ebene selbst und den bereichsspezifischen ZuI-Prozessen. Daher auch wäre es irreführend, die ZuI-Philosophie als eine Meta-Philosophie oder gar als eine Meta-Metaphysik kennzeichnen zu wollen. Meta-Philosophie und Meta-Metaphysik, die beide heute eine gewisse Konjunktur haben, halte ich letztlich für Kapitulationen des Philosophierens vor den Erfahrungswirklichkeiten unserer Ich-Wir-Welt-Verhältnisse. In der Meta-Philosophie haben wir es, überspitzt formuliert, mit einem Philosophieren zu tun, das sich von den Herausforderungen seitens der Phänomene und Wirklichkeiten im Sinne von Meta-meta-Stufen immer weiter entfernt und diese schlussendlich ganz aus dem Blick zu verlieren droht. Es droht das bereits angesprochene in sich leerlaufende Exerzitium, das letztlich nur noch dazu taugt, diskutiert zu werden. Meta-Philosophie ist übrigens ein Beispiel par excellence für das oben in Punkt (a) angesprochene Herausreflekieren aus unseren Erfahrungswirklichkeiten. Diesem droht Belanglosigkeit hinsichtlich der erfahrungswirklichen Vollzüge unseres Lebens sowie der aktiven Gestaltungen der triangulären Ich-Wir-Welt-Verhältnisse. Demgegenüber geht es in der ZuI-Philosophie um das skizzierte Hineinreflektieren in die sinnliche, phänomenale, praktische und bedeutungsmäßige Opulenz unserer Erfahrungswirklichkeiten und um deren reflektierte Beschreibung und Artikulation in einem Typus des Philosophierens, hier eben der ZuI-Philosophie.
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Wollte man das Bild der Meta-Ebene verwenden (was ich hier lediglich zu illustrativen Zwecken tue), so bestünde der Witz darin, dass das Interpretieren stets zugleich auch sein eigenes Meta-Interpretieren ist. Das Meta-Interpretieren wird gleichsam im Vollzug des Interpretierens mitgeliefert und vorgeführt. Mithin ist die Interpretativität der ZuI-Philosophie selbst keineswegs Verkörperung von Interpretationen einer metastufigen Klasse de luxe. Vielmehr wird in ihr in reflektierter Einstellung expliziert, was in normalen ZuI-Prozessen leitend und Motor des Geschehens ist. Glücklicherweise benötigen wir keine von der Faktizität der ZuI-Prozesse für unser Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten unabhängigen und zusätzlichen Metastufungen. Denn anderenfalls drohte metastufiger Regress und damit verbundene Entfernung von den tatsächlichen Lebens- und Handlungs-Vollzügen. Demgegenüber ist die ZuI-Philosophie darauf verpflichtet, die Bindung an die faktizitäre Zeichenhaftigkeit und Interpretativität selbst aufrechtzuerhalten, welche Dimension es daher nicht um einer Meta-Interpretation willen zu verlassen, zu überspringen oder zu hintergehen gilt. (f) Entsprechend und wie in Punkt (b) bereits betont ist das ZuI-Modell erklärtermaßen ein Reflexions-Modell, freilich eines mit der skizzierten Bodenhaftung. Die in ihm verkörperte Interpretativität und Zeichenhaftigkeit sowie die in ihm artikulierten unterschiedlichen Wissensformen sind Gestalten reflektierter Interpretativität, reflektierter Zeichenhaftigkeit und reflektierter Wissensformen.³ In der ZuI-Philosophie haben wir es also erklärtermaßen weder mit einem ontologischen Schichtenmodell zu tun (im Sinne etwa Nicolai Hartmanns⁴ oder generell anthropologischer, neurobiologischer, evolutionstheoretischer oder anderer naturalistischer und reduktionistischer Art). Noch haben wir es mit einem Modell zu tun, das einen definitiven und allgemein verbindlichen Abschluss in absoluten Zeichen und Interpretationen anstrebt. (g) Die ZuI-Philosophie verkörpert und artikuliert (im Sinne des skizzierten Reflexionsmodells) eine Zeichenhaftigkeit und Interpretativität zweiter Ordnung. Es handelt sich, in Gama Barbosas Formulierung, um „an interpretation of second floor“ (Kap. 2). Zeichenhaftigkeit und Interpretation erster Ordnung wären in diesem Bild in den ZuI-Prozessen und ZuI-Praxen realisiert, so wie sie in den einzelnen Feldern und Hinsichten des 3-Stufenmodells der ZuI-Verhältnisse beschrieben werden. Dies ist zum Beispiel in der direkt objekt-bezogenen Ebene einer wissenschaftlichen Theorie der Fall, die darin den für sie kennzeichnenden
Zur irreduziblen Vielfalt unterschiedlicher Wissensformen und deren Wechselspielen, siehe ausführlich (Abel 2012 und deutsche Version in Abel 2015a; und Abel 2015b). Vgl. meine Replik auf Hans Poser; und auch meine Replik auf Hans Lenk.
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Regeln erster Ordnung folgt (in der Physik beispielsweise dem Energieerhaltungssatz). Auf einer Ebene zweiter Ordnung wird dann die Frage nach der Geltung dieser Regel, im Beispiel des Energieerhaltungssatzes selbst gestellt. Sofern wir in der ZuI-Philosophie auf deren Ebene als Philosophie (und nicht nur auf der Ebene der objekt- und bereichs-spezifischen Interpretationen) sprechen, bewegen wir uns auf der Ebene dieser zweiten Ordnung. (h) Erklärtermaßen versteht sich die ZuI-Philosophie als eine dynamische Prozess-Philosophie. Auch hier ist die Unterscheidung erster und zweiter Ordnung ebenso wie das Zusammenspiel der epistemischen und der epistemologischen Perspektiven wichtig. Auf der direkt objekt- und bereichs-spezifischen Ebene der ZuI-Prozesse (unseres Erlebens, Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens) ebenso wie in den unterschiedlichen ZuI-Typen (wie beispielsweise der alltäglichen, wissenschaftlichen, ästhetischen ebenso wie etwa der sprachlichen, bildhaften, musikalischen Zeichen und Interpretationen) haben wir es mit dynamischen Prozessen, mit fortwährendem Wechsel, Wandel, Werden und Vergehen zu tun. Diesem Umstand wird dann auf der Ebene zweiter Ordnung der ZuI-Philosophie selbst dadurch Rechnung getragen, dass auch das ZuI-Modell selbst als eine dynamische Prozess-Philosophie der Wechselspiele unterschiedlicher Zeichen- und Interpretationstypen in verschränkten prozessualen ZuI-Räumen verstanden und entfaltet wird. Auch hier ist die epistemologische Modellierungs-Ebene von den epistemischen Prozessen zu unterscheiden. Die entsprechenden Beschreibungen, Analysen und Modellierungen erfolgen aber nicht so, dass die epistemischen Verhältnisse auf der Ebene der ZuI-Philosophie gleichsam extern theoretisiert werden. Vielmehr ist auch für die Repräsentation der Prozesse auf der reflektierten Ebene der ZuI-Philosophie selbst beispielsweise die Herausforderung kennzeichnend, die auch für die Prozesse auf der direkt objekt- und bereichs-spezifischen Ebene charakteristisch sind: dass wir nämlich den genuin prozessualen, komplexen und dynamischen Charakter der ZuI-Prozesse weder in den Elementen der Ausgangssituation noch in denen der Endsituation repräsentieren, analysieren und modellieren können. Diese Herausforderung selbst ist natürlich eine, die auf der reflektierten Ebene der ZuIPhilosophie formuliert wird. Die Herausforderung bleibt stets jedoch und konditional auf die Prozesse verpflichtet, die in den unterschiedlichen Ebenen und Hinsichten des Stufenmodells unterschiedlich beschrieben werden. (i) Vor dem Hintergrund der bisherigen Punkte (a) bis (h) dürfte bereits auch deutlich geworden sein, dass die ZuI-Philosophie nicht in die Falle traditioneller Erkenntniskritik tappt. Die Ebene der Zeichenhaftigkeit und Interpretativität der ZuI-Philosophie selbst darf nicht so verstanden werden, als müssten wir (bevor wir in die tatsächliche Arbeit des Beschreibens, Analysierens, Modellierens und Gestaltens, kurz: des Erkennens und Handelns eintreten) erst einmal die Instru-
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mente des Erkennens prüfen, sie einer separaten und objekt-isolierten metaphilosophischen Tauglichkeitsprüfung unterziehen. Diesbezüglich hat schon Hegel klar gesehen, dass eine aseptische Vorab-Reinigung der Instrumente und Methoden des Anfangens in der Philosophie wohl eher aus der Angst vorm Erkennen selbst und des näheren aus der Angst geboren ist, einen falschen Anfang nehmen zu können. Mit Recht betont Hegel, dass wir auf solch aseptischem Wege erst gar nicht ins wirkliche Erkennen gelangen.⁵ In diesem Sinne ist das in der Philosophie oftmals so hochgelobte Anfangs-Problem gar kein wirkliches Problem. Gefordert ist vielmehr der Mut, einfach zu beginnen, im Prinzip irgendwo, bei der Bedeutung eines Wortes, beim Gehalt einer Erfahrung oder wo auch immer. Wir starten beispielsweise einfach mit einer operativen Differenz und werden von dort aus dann wie von selbst in Modifikationen unserer bisherigen Hypothesen, Muster, Schematisierungen, Denk- und Wissensformen getrieben. Sofern wir bereit sind (und unter kritischem Vorzeichen sollten wir dies allemal sein), an unseren Eingangshypothesen unter dem Druck von Erfahrungswirklichkeiten sowie der Dynamik der Denkfiguren selbst Korrekturen vorzunehmen und die Hypothesen jeweils neu zu adjustieren, sind wir bereits im wirklichen Erkennen, Denken und Erfassen dessen, worum es in unseren dynamisch-prozessualen und komplexen Erfahrungswirklichkeiten eigentlich geht, nämlich um sich performativ vollziehende ZuI-Prozesse unterschiedlicher Art und deren Interaktionen in prozessualen ZuI-Räumen.
3 Performative ZuI-Prozesse, ZuI-Praxen und ZuI-Präsenzen ohne ontologische Unterstellungen Der beschriebene Charakter zum einen der bereichs-spezifischen ZuI-Prozesse und zum anderen der Interpretativität der ZuI-Philosophie selbst markiert eine Ebene der Betrachtung, bis zu der wir als endliche Geister unter kritischem Vorzeichen gerade noch vorzudringen vermögen. Es gelingt uns jedoch nicht, hinter diese Ebene noch einmal zurückgehen. Mit anderen Worten: weiter und tiefer kommen wir als endliche Geister nicht. Wir stoßen hier an Grenzen nicht nur unseres Erkennens, sinnvollen Sprechens, Denkens und Handelns sowie unserer letztlich unergründlichen Erfahrungswirklichkeiten. Die Grenzen sind zugleich
Zum Verhältnis von ZuI-Philosophie und Hegelscher Dialektik siehe den Beitrag von Elena Ficara und meine Replik darauf im vorliegenden Band.
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und deutlich auch Grenzen der Reflexion. Umgekehrt bedeutet dies, dass in den prozessualen, dynamischen und performativen Vollzügen der ZuI-Prozesse, -Praxen und -Präsenzen alles bereits da ist, was uns zu affizieren und im Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Gestalten und Handeln zu bewegen und uns zu denken geben vermag. Offenkundig gehören Grenze und Präsenz hier engstens zusammen. Sie stehen in geradezu interner Relation. Dass wir in einem ontologisch nicht noch einmal hintergehbaren Sinne von den ZuI-Prozessen, -Praxen und -Präsenzen auszugehen haben, markiert meines Erachtens nach der anderen Seite hin zugleich eine Abgrenzung gegenüber bloßer Phantasie, Fiktionalität und Imagination. Zum einen (a) sind wir als endliche Geister systematisch von der Möglichkeit abgeschnitten, noch einmal hinter das Tripel von ZuI-Prozessen, ZuI-Praxen und ZuI-Präsenzen zurückzugehen, um dann etwa zusätzliche fundamental ontologische Annahmen einsehen zu können. Zugleich und zum anderen (b) haben wir aber gute Gründe, unserem Wahrnehmen, Sprechen, Denken und Handeln in dem Sinne über den Weg zu trauen, dass es das, was da wahrgenommen, ausgesprochen, gedacht und gehandelt wird, auch tatsächlich gibt, im Sinne eines Common-Sense-Realismus sowie sinnkritischer Präsuppositionen. Eine Pointe dieser Überlegung ist, dass wir die Welt-, Sinn-, Realitäts- und Relevanz-Haltigkeit unserer Erfahrungswirklichkeiten weder durch Phantasienoch durch fundamentale Ontologie-Annahmen depotenzieren. In beiden Hinsichten drohen letztlich nihilistische Konsequenzen, die nicht mit den tatsächlichen Funktionen und Wirklichkeiten unseres Wahrnehmens, Sprechens, Denkens, Handelns und Gestaltens in Einklang zu bringen wären. Das genannte Tripel selbst ist nicht bloß Fiktion, Phantasie oder Produkt der Imagination. Das Tripel selbst hat Dasein. Und es macht letztlich keinen Sinn, diesem triangulären Dasein der ZuI-Prozesse, ZuI-Praxen und ZuI-Präsenzen seinerseits noch einmal (was Gama Barbosa intendiert) eine zusätzliche Ontologie zu unterlegen. Gama Barbosa kommt übrigens auf seinen Ergänzungsvorschlag nicht zuletzt auch deshalb, weil er den Ansatz der ZuI-Philosophie auf eine „genealogical reconstruction“ (Kap. 2) begrenzt. Demgegenüber möchte ich betonen, dass die ZuIPhilosophie keineswegs auf bloß genealogischer Analyse beruht, in welcher der ZuI-Charakter durch Freilegung und Rekonstruktion verschiedener ZuI-Schichten verdeutlicht wird. Wird die im Rekurs auf das Tripel betonte Erweiterung der ganzen Betrachtung sowohl über eine genealogische Analyse als auch über den Vorgang des Bestimmens ‚von etwas als Etwas‘ hinaus in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, bricht auch von hier aus die Notwendigkeit einer zusätzlichen Ontologie in sich zusammen. Sie erweist sich weder als geboten noch als hilfreich. Eine solche Forderung lebt vielmehr von der Annahme, dass die Opulenz der vielfältigen ZuI-Prozesse auf genealogische Analyse und auf Bestimmung
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‚von etwas als Etwas‘ begrenzt wird. Ohne diese Begrenzung jedoch auch kein Erfordernis zusätzlicher fundamentaler Ontologie. Im Sinne der performativen Natur der Vollzüge des angeführten Tripels ist bereits alles, was Erfahrungswirklichkeiten für uns bedeutsam, relevant und sinnvoll (oder korreliert auch: unbedeutend, irrelevant und sinnlos) macht, in den ZuI-Prozessen selbst da, präsent, prozessiert gegenwärtig. Diese Verhältnisse liegen gleichsam offen vor unseren Augen. Aber eine allzu menschliche Näheblindheit verstellt uns den Blick und lässt uns immer wieder erneut nach metaphysischen, ontologischen und totalitäts-umspannenden Vorstrukturen Ausschau halten und diese zur Fahndung ausschreiben. In puncto performative Präsenz denke man in diesem Zusammenhang beispielsweise an die wunderbare Fähigkeit der Musik (zum Beispiel an Mozarts „Don Giovanni“) und deren Macht des direkten sinnlichen Affizierens und ihrer Expressivität.⁶ An Musik wird schlagend deutlich, dass (anders als in Gama Barbosas Sicht) die ‚Bestimmung von etwas als Etwas‘ bei weitem nicht die einzige Weise des Interpretierens ist. So haben wir es in vielen Situationen nicht nur mit bestimmenden, sondern eben auch mit frei-lassenden Zeichen und Interpretationen zu tun. Zwar sind die Prozesse, die in der ZuI-Philosophie adressiert werden, zunächst und zumeist bestimmend-individuierend. Über weite Strecken jedoch sind sie dies gerade nicht in der begrenzten Version ver-positivierbarer und ver-objektivierbarer Individuation eines Bestimmens ‚von etwas als Etwas‘. Es ist mir überaus wichtig, auch diesen Aspekt herauszustellen. Die ZuI-Philosophie ist kein Philosophieren eines positivistischen Fest-Stellens, bloßen Konstruierens, Klassifizierens, Fixierens von ‚etwas als Etwas‘. Sie darf nicht auf einen Konstruktivismus reduziert werden. Mithin aber bedarf sie auch nicht noch einer zusätzlichen Hintergrund-Ontologie nicht-zeichenverfasster und nicht-interpretativer Art. Der Zeichen- und Interpretationscharakter selbst unterläuft die Möglichkeit einer Ontologie des Interpretationismus ebenso wie nach der anderen Seite hin die Möglichkeit eines Relativismus. Unser Interesse an flüssig, anschlussfähig und selbstverständlich funktionierenden ZuI-Prozessen und ZuI-Praxen entzieht sowohl einer Ontologie als auch einem Relativismus der Beliebigkeit den Boden. Gelingende und erfolgreiche ZuI-Prozesse, -Praxen und -Präsenzen bedürfen keiner ontologischen Grundlegungen. Vielmehr sind sie die ZuI-Prozesse, -Praxen und -Präsenzen, die sie sind, ganz unter den in ihren Vollzügen selbst generierten Regeln und Restriktionen. In den ZuI1-Prozessen haben wir es gleichsam mit einer Prozess-Notwendigkeit ohne fundierende On-
Diese beiden Aspekte habe ich als zeichen-interpretative Prozesse in meiner Replik auf den Beitrag von Helga De La Motte im vorliegenden Band näher beschrieben.
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tologie und ohne Relativismus der Beliebigkeit zu tun. Die ZuI-Philosophie kann auch als ein Versuch gelesen werden, diese Struktur in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken, zu beschreiben, zu analysieren und zu modellieren. Was übrigens die Frage der Totalität angeht, so scheitert das entsprechende Ansinnen Gama Barbosas nicht erst im Blick auf fremde Welten, Kulturen und Personen. Es scheitert bereits früher, gleichsam schon zuhause. Zum einen scheitert bereits der Versuch anzugeben, was denn dieses Totale, das da erfasst werden soll, eigentlich sei. Und das Ansinnen scheitert zum anderen bei dem Versuch, mich selbst, das eigene Ich, mich als die individuelle und enaktive LeibOrganisation sowie meine bzw. unsere existenziellen Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeiten in ihrer Totalität erfassen und ins vorstellende Denken ziehen zu wollen. Die ZuI1-Prozesse lassen, wie betont, den unberechenbaren, rätselhaften, nicht-kalkulierbaren, nicht-positivierbaren, kontingenten, nicht vollständig aufklärbaren, nicht als Gegenstand der semantischen Logik ver-objektivierbaren und faktizitär hinzunehmenden Charakter unseres menschlichen In-der-Welt-seins (Heidegger) offenkundig nicht nur in Kraft. In der ZuI-Philosophie sind diese Dimensionen vielmehr von Anfang an und durchgängig mit präsent. Ja, sie fungieren sogar, zugespitzt formuliert, als einer der Auslöser des ZuI-Philosophierens selbst. Die Rede von ‚Totalität‘ verwendet Gama Barbosa in einem durchaus starken Sinne, nämlich als „the totality of processes of the mind and the totality of the real that is configured on them“ (Kap. 2). Totalität wird hier also nicht etwa im Sinne bloß eines Holismus verstanden. Einen Holismus habe ich selbst als ein Merkmal der ZuI-Philosophie verteidigt. In ihm geht es, vereinfacht gesprochen, um das wechselseitige Zusammenspiel der beiden Komponenten, dass jede noch so kleine und individuelle ZuI-Funktion der Teile für die Gestalt des Ganzen ebenso relevant ist wie der ZuI-Horizont des Ganzen für die Funktionen und Spezifikationen seiner Teile. Totalität also ist kein Merkmal der ZuI-Philosophie. Holismus dagegen sehr wohl.
4 Zeigen als ein Ort realer, aber nicht ontologisierbarer Präsenz Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass der Unterschied zwischen Sagen und Zeigen in der ZuI-Philosophie überaus relevant ist. Im Folgenden möchte ich das komplexe Phänomen des Zeigens auch in Bezug auf die Frage ontologischer Annahmen ins Spiel bringen. Im Einzelnen und ausführlich habe ich diese Punkte behandelt in dem Buch Sprache, Zeichen, Interpretation (SZI Kap. 8), auf einige
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von dessen Materialien ich hier zurückgreife. Im Zeigen möchte ich einen Platzhalter sehen auch für die angesprochenen Aspekte des Kontingenten, Elusiven, Ungewissen, Unverfügbaren, Unaussprechlichen, Hinzunehmenden, Unberechenbaren, Unheimlichen, Geheimnisvollen und Rätselhaften, welche Merkmale in den ZuI-Prozessen stets präsent, mitgesetzt und mitgedacht sind. Auf diese Weise sollen diejenigen Aspekte in erfahrungswirklicher und existenzieller ZuIPräsenz gehalten werden, deren Wichtigkeit auch Gama Barbosa deutlich sieht. Der Unterschied zu ihm besteht freilich darin, dass ich die ZuI-Prozesse, ZuIPraxen und ZuI-Präsenzen nicht ihrerseits mit einer, obzwar intern gedachten, aber eben doch fundamental ontologischen Dimension glaube unterlegen zu müssen. Ein solcher Schachzug würde die erfahrungswirkliche und existenzielle Evidenz ebenso wie die phänomenbezogene Radikalität der ZuI-Philosophie letztlich doch wieder in einer Ontologie zunichte machen. Im Folgenden gebe ich insgesamt acht Beispiele für und Hinweise auf die grundlegende, jedoch nicht positivierbare und nicht ver-ontologisierbare Rolle des Zeigens. (a) Wenn wir beispielsweise durch einen Gesichtsausdruck, durch eine Geste oder etwa durch einen musikalischen Klang oder einen Farbton affiziert und bewegt werden, dann können wir meist nicht sagen, was uns da wie und weshalb und in welchem Sinne affiziert und bewegt. Gleichwohl werden die involvierten Prozesse direkt verstanden. Mit dem Phänomen solchen Zeigens sind wir bestens vertraut, einschließlich seiner irritierenden und gegebenenfalls auch verstörenden Wirkungen. Das „Hauptproblem“ der Philosophie sei, schreibt Wittgenstein an Russell, „die Theorie über das, was durch Sätze – d. h. durch Sprache – gesagt (und, was auf dasselbe hinausläuft, gedacht) und was nicht durch Sätze ausgedrückt, sondern nur gezeigt werden kann.“ (Brief vom 19. August 1919, in: Wittgenstein 1980: 88.) Doch dieser Befund führt gerade nicht erneut in eine Ontologie und Metaphysik, in Bezug auf die dann die irreführende Annahme gemacht werden müsste, beide (Ontologie und Metaphysik) hätten, irgendwie, den Sprung in unsere tatsächlichen ZuI-Prozesse, ZuI-Praxen und ZuI-Präsenzen geschafft oder letztere seien irgendwie auf erstere verpflichtet. (b) Die Beziehung einer (sprachlichen, bildhaften, musikalischen, gestischen, wissenschaftlichen oder anderen) Abbildung, Projektion oder Konstruktion zu dem, was abgebildet, projiziert oder konstruiert wird, kann nicht als eine eigenständige und abtrennbare Eigenschaft des Abbildens, Projizierens oder Konstruierens aufgefasst werden, über die dann propositional etwas gesagt werden könnte. Die logische Form, der ZuI-Logos, widersetzt sich dem Versuch derartiger Vergegenständlichung, Verobjektivierung und eben auch der Verontologisierung. Der ZuI-Logos erweist sich in diesem Sinne als eigentümlich elusiv. So verstehen wir beispielsweise Metaphern, Witze und Ironie direkt, ohne in pro-
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positionalen Sätzen sagen zu können, wieso genau das der Fall ist. Gleiches gilt oftmals auch für Handlungen, Gesten, musikalische Klänge, Bilder, Filme, Zeichnungen, Fotos oder Karikaturen, die uns affizieren, bewegen und von expressiver Qualität sein können, obzwar wir nicht in propositionalen Sätzen genau sagen können (und freilich auch nicht sagen müssen), wieso das und wieso es auf die je evidente Weise der Fall ist. (c) Besonders offensichtlich ist das Phänomen des Zeigens in allen Bereichen des sinnlich-sensorischen Empfindens und Wahrnehmens, der visuellen Sichtbarkeit sowie der taktilen, akustischen, olfaktorischen oder sensitiven Präsenz. Auch für die irreduzible Vielheit sinnlicher Gehalte gilt, dass sie nicht (und jedenfalls nicht allein) mittels sprachlicher und konzeptionell-begrifflicher Ausdrücke realisiert, feinkörnig und qualitativ individuiert, erfasst und artikuliert werden können. Das Sich-Zeigen ist aber nicht auf nicht-sprachliche ZuI-Systeme begrenzt. Es manifestiert sich auch in der Sprache und im Handeln. Dass ein Satz, so Wittgensteins treffliche Figur, zur Wirklichkeit passt, lässt sich selbst nicht wiederum in einem Satz sagen, sondern zeigt sich an der Form des Satzes. Und dass eine Handlung gelingt und erfolgreich ist, kann selbst nicht wiederum in einer Handlung dargestellt und repräsentiert werden, sondern zeigt sich an der Form der Handlung. Im lebendigen Sprechen und Handeln selbst, beides aufgefasst als ZuI-Prozesse, ist alles bereits da, was uns an Bedeutsamkeit, Sinn und Relevanz zu affizieren und uns zu denken geben vermag. (d) Betrachtet man in sprachlichen Sätzen das Ich-Pronomen (das kleine Wörtchen ‚ich‘) und dessen Indexikalität, so stellt sich heraus, dass das Ich nicht propositional, nicht gegenständlich, nicht ver-objektiviert und nicht ver-ontologisiert realisiert, analysiert und erklärt werden kann. Offenkundig ist Ich kein Ding, kein ontologisches Etwas. Dies haben schon die Analysen Kants zu den Paralogismen und jüngst vor allem die Arbeiten von John Perry zum Ich als ‚essential indexical‘ deutlich gemacht. Streng genommen kann man daher nicht sagen, dass es ein Ich oder Iche (im Plural) in einem ontologischen Sinne gibt. Aber – und das ist die auch für die ZuI-Philosophie wichtige Pointe – jedes sinnliche Erlebnis, jeder Satz, jeder Gedanke, jede Handlung und jede Gestaltung mit indexikalischem Ich und der Form ‚Ich…‘ zeigen, dass jeweils von einem Ich auszugehen ist. (e) Präsenz ebenso wie Elusivität des Zeigens sollten nicht vorschnell als etwas Mystisches verstanden werden. So ist es beispielsweise gar nicht erforderlich, das Zeigen auszusprechen. Denn, wie Wittgenstein einmal im Blick auf das Unaussprechliche notiert, stehen die Dinge so: „Wenn man sich nicht bemüht, das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sondern das Unaussprechliche ist – unaussprechlich – im Ausgesprochenen enthalten!“ (Brief an P. Engelmann, 9. April 1917, in: Wittgenstein 1980: 78)
Philosophieren ohne ontologisches Fundament
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Das Unaussprechliche ist eben nicht ein Etwas, nicht ein Objekt. Es kann als das verstanden werden, was sich nicht wahrheitskonditional in einer Aussage sagen lässt. Und dies ist der Fall, da Ich überhaupt kein Gegenstand in der semantischen Logik, mithin kein gegenständlicher Teil dieser Logik ist. Daher kann das Unaussprechliche auch nicht im Satz semantisch dargestellt und repräsentiert werden. Es meint vielmehr genau dasjenige, was im tatsächlichen Sprechen, Denken und Handeln als das Selbstverständlichste präsent ist, das, was sowohl in dem da ist, was sich als ZuI-Prozesse und ZuI-Praxen manifestiert und präsentiert, als auch in dem da ist, was ich in einer paradoxen Formulierung seine „elusive Präsenz“ genannt habe (SZI 173). Diese Präsenz und Präsentation ist nicht RePräsentation. Sie wird nicht ihrerseits als ein Etwas mit Hilfe repräsentierender Ausdrücke identifiziert und re-präsentiert, ist letztlich vielmehr eine der Bedingungen für erfolgreiche Re-Präsentation. Und in genau diesem Sinne haben die ZuI-Prozesse, die ZuI-Praxen und ZuI-Präsenzen selbst Dasein. Sie sollten daher nicht erneut auf fundamentale Ontologisierungen gegründet und nicht doch wieder aus diesen heraus und auf sie hin verstanden werden. (f) Die Effektivität (und des näheren beispielsweise die Kraft der Individuation, der Kategorialisierung, der raum-zeitlichen Lokalisierung, der Spezifikation und der Klassifikation seitens) der ZuI-Prozesse, ZuI-Praxen und ZuI-Präsenzen erfordert nicht, dass die Weisen solcher Effektivität propositional und innerhalb der semantischen Logik selbst ausgesagt und repräsentiert werden. Konsequenterweise sollten diese Effektivitäten auch nicht ver-ontologisiert werden, wie inhärent eine solche Ontologisierung auch immer intendiert sein möge (und bei Gama Barbosa auch expliziter Weise intendiert ist). (g) Die ZuI-Philosophie nimmt hier eine wichtige Erweiterung in der Rede vom Zeigen gegenüber Wittgensteins Konzentration auf das Verhältnis von Sprache, Logik und Wirklichkeit vor. Es geht in der ZuI-Philosophie um die ZuI-Prozesse, ZuI-Praxen und ZuI-Präsenzen in den Verhältnissen der Verständigung, des Welt-, Fremd- und Selbst-Erschließens sowie der menschlichen Kooperationen, Kommunikationen, Welt- und Selbst-Gestaltungen zwecks Orientierung im Leben. Entscheidend ist darin das flüssige, anschlussfähige und zumeist selbstverständliche Funktionieren sprachlicher ebenso wie nicht-sprachlicher ZuI-Prozesse in einem umfänglichen und tiefsitzenden Sinne. Und offenkundig geht es auch nicht bloß um Prozesse intersubjektiver Mitteilungen, denn der performative und präsente Zeigecharakter der ZuI-Prozesse und ZuI-Praxen kann selbst nicht einfach in einer Mitteilung mitgeteilt werden. Vor allem aber möchte ich auch betonen, dass es im Zeigen nicht um eine metaphysisch-ontologische Isomorphie-Relation geht, die zwischen den faktizitären ZuI-Prozessen (die als Prozesse selbst Dasein haben) und einer diesen ZuIProzessen, -Praxen und -Präsenzen unterlegten ontologischen Dimension statt-
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Günter Abel
hat. Hier scheint mir Vorsicht geboten auch gegenüber einer als inhärent in Aussicht gestellten Ontologisierung. Das ZuI-Logische (nicht: die semantische Logik) der ZuI-Prozesse, -Praxen und -Präsenzen ist weder ver-ontologisierbares Etwas noch propositionale Aussage noch Mitteilung, aber eben auch nicht Isomorphie-Relation in irgendeinem erkenntnistheoretischen oder metaphysischontologischen Sinne. Gleichwohl jedoch ist das ZuI-Zeigen in jedem gelingenden und erfolgreichen Erleben, Wahrnehmen, Sprechen, Denken, Handeln und Gestalten da, präsent, und zwar selbst noch in den erwähnten Verhältnissen elusiver Präsenz. Es braucht nicht eigens betont zu werden, dass dieser Befund die These einschließt, dass das Phänomen und die Komplexität, die Dynamik und die Prozessualität des Zeigens keineswegs das Prinzip der Bipolarität sprachlicher Sätze voraussetzen. (h) Die Rede von ZuI-Prozessen, -Praxen und -Präsenzen ist in der ZuI-Philosophie mithin erklärtermaßen nicht auf den Bereich der Sprache, der Semantik und der Logik im engeren Sinne dieser Ausdrücke begrenzt. Sie erstreckt sich zugleich auch auf die Bereiche des Nicht- und Vor-Sprachlichen, des Vor- und Sub-Semantischen, des Sinnlich-Sensorischen, Existenziellen, Ästhetischen und Ethischen, kurz: erklärtermaßen auch auf die vor-sprachlichen Dimensionen unserer menschlichen Ich-Wir-Welt-Beziehungen sowie unserer menschlichen Welt-, Fremd- und Selbstverständnisse. Ich betone diese Dimension eigens aus einem bestimmten Grund. Ich möchte nämlich hervorheben, dass die skizziert kritische Haltung gegenüber Ver-Ontologisierungen sich nicht nur auf die Positionen klassischer Ontologie bezieht. Sie bezieht sich erklärtermaßen auch auf die Rehabilitierung der Ontologie in derjenigen Gestalt, die Martin Heidegger der Seinsfrage des Menschen gegeben hat. In dieser Frage wird der Mensch so gesehen, dass er sein Verhältnis zum Sein in der vor-sprachlichen Sphäre seines existenziellen Daseins eröffne und herstelle. Die ZuI-Philosophie dagegen ist keine Seinsphilosophie solch vor-sprachlich ontologischen Zuschnitts.
Literatur Abel, Günter 1993: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.; [Iw]. Abel, Günter 1999: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.; [SZI]. Abel, Günter 2012: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston, S. 1 – 52. Abel, Günter 2015a: Wissensforschung – Erweiterungen und Revisionen der Epistemologie, in: Koppelberg, Dirk / Tolksdorf, Stefan (Hg.): Erkenntnistheorie – Wie und Wozu?, Münster, S. 385 – 434; [dt. Fassung von (Abel 2012)].
Philosophieren ohne ontologisches Fundament
Abel, Günter 2015b: Formen des Wissens im Wechselspiel, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 40/2 – 3, S. 143 – 160. Thom, Paul 2000: Making Sense. A Theory of Interpretation, New York / Oxford. Thom, Paul 2007: The Musician As Interpreter, Pennsylvania. Wittgenstein, Ludwig 1980: Briefwechsel, hg. von B. F. McGuinness u. G. H. von Wright, Frankfurt a. M.
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Ulrich Dirks und Astrid Wagner
Verzeichnis der Publikationen Günter Abels (1973 – 2016) I Bücher 1978 1.
Stoizismus und Frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik, Berlin / New York: Walter de Gruyter, X + 377 S.; (ISBN 3-11-007262-9). I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX.
Zur Gliederung Erneuerter Stoizismus und Frühe Neuzeit Stoische Lehrstücke in Humanismus und Renaissance Späthumanismus und bewußte Erneuerung der Stoa (Justus Lipsius) Neustoizismus als Denk- und Handlungsform (Guillaume Du Vair) Im Vorhof skeptischen Rationalismus’ und absoluter Monarchie (Pierre Charron) Aspekte des Wirkungszusammenhangs neustoischer Lehren Zur philosophischen Kritik des Stoizismus bei G. W. F. Hegel Literaturverzeichnis
1984 2.
Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 15), Berlin / New York: Walter de Gruyter, XIII + 471 S.; (ISBN 3-11-009727-3). I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII.
Wirklichkeit als Bewegung. Nietzsche und die Tradition Nietzsches Rückgang hinter das fundamentalistische Erhaltungsprinzip Geschehen als Akkumulation und Auslassung von Kraft Lust, Willensfreiheit und Glück als Epiphänomene Vom Organismus-Modell zum Konzept der Kräfte-Organisation Interpretation als Fundamentalvorgang Die Probleme einer theoretischen Begründung der Wiederkunftslehre Die sinn-logische Funktion des Wiederkunfts-Gedankens Destruktion der ‚wahren‘ und Selbstfindung der wirklichen Welt Die ‚unvernünftige‘ Notwendigkeit der Welt Erhaltungskonzept und ewige Wiederkehr Steigerungscharakter und Maximalökonomie des Werdens Die Wiederkunftslehre als ateleologische und interpretative Weltkonzeption
https://doi.org/10.1515/9783110522280-078
1386
Ulrich Dirks und Astrid Wagner
2.1
2., um ein Vorwort erweiterte Auflage 1998, Berlin / New York: Walter de Gruyter, XV + 471 S.; (ISBN 3-11-015191-X).
1993 3.
Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 560 S.; (ISBN 3-518-58134-1). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Grundbegriffliches System und natürliche Disposition Identifikation und Re-Identifikation Selbst- und Fremd-Zuschreibung Naturalismus und Skeptizismus Naturalismus und Idealismus Interne und externe Fragen Kritik des eliminativen Prinzips Verifikation und Objektivität Analytischer Verifikationismus Referenz und Repräsentation Kausale Referenztheorie und Interpretation Kausale Interaktions- und Konnektionstheorie der Referenz Definite Deskriptionen und Bezeichnungsausdrücke Interpretationstheorie der direkten Referenz Referenz als Funktion der Interpretations-Praxis System des Fürwahrhaltens und empirische Erfahrung Kohärenztheorie und Skeptizismus Radikale Interpretation Nachsichtigkeit im Sprach- und Zeichenverstehen Kausale Bedeutungslehre und Interpretation Metaphysischer Realismus und epistemologischer Interpretationismus Internalistische und interpretationistische Perspektive Postanalytischer Pragmatismus und Interpretationsphilosophie Ausblick: Ethik der Interpretation
3.1 In neuer Auflage als Taschenbuch erschienen: 1995, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, (stw 1210), 560 S.; (ISBN 3-518-28810-5).
1999 4.
Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 395 S.; (ISBN 3-518-58282-8). . . . .
Allgemeine Interpretationsphilosophie Wirklichkeit und Interpretation Bedeutung und Referenz Zeichenlogik und Rationalität
Verzeichnis der Publikationen Günter Abels (1973 – 2016)
. . . . . . . . . .
1387
Übersetzung als Interpretation Interpretationistische Wissenschaftsphilosophie Imagination und Kognition Sagen und Zeigen Logik und Ästhetik Wissenschaft und Kunst Interner Pluralismus Wahrheit und Interpretation Vereinheitlichte Theorie von Wissen und Handeln Interpretationsethik und Demokratie
4.1 Langage, signes et interprétation, ins Französische übers. v. Lukas Sosoe, Paris: Librairie Philosophique J.Vrin, 2011, 337 S.; (ISBN 978-2-7116-2389-1).
2004 5.
Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 425 S.; (ISBN 3-51829251-X). . . . . . . . . . . . . .
Einleitung Probleme, Aufgaben und Perspektiven der Gegenwartsphilosophie In Sprache verstrickt. Sprache als Schlüsselthema der Philosophie Die Macht der Weltbilder und Bildwelten Denkformen – Sprachformen – Lebensformen Kraft der Zeichen Entdeckung und Konstruktion der Wirklichkeit Bewußtsein, Sprache, Natur Phänomenalismus und innere Erfahrung Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Geistes Formen des Wissens: Probleme, Projekte, Perspektiven Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder Modelle und Sprachen der Wissenschaften Wissenschaft und Öffentlichkeit
2007 6.
Abel, Günter / Conzett, Jürg / Jauch, Ursula Pia / Mendes da Rocha, Paulo: Grenzüberschreitungen im Entwurf, (Architekturvorträge der ETH Zürich, Heft 5, hg. v. Departement Architektur der ETH Zürich, Departementsvorsteher A. Tönnesmann), Zürich: GTA Verlag, 128 S.; (ISBN 978-3-85676-213-1). Andreas Tönnesmann: Vorwort Günter Abel: Kreativität – worin besteht sie und was macht sie so wertvoll? Jürg Conzett: Synthetisches Denken – eine Strategie zur Gestaltung
1388
Ulrich Dirks und Astrid Wagner
Ursula Pia Jauch:
Paulo Mendes da Rocha:
Claude-Nicolas Ledoux, die Architecture parlante, der Futurismus und die Utopie. Oder: Gibt es clandestine Verbindungslinien zwischen dem . und dem . Jahrhundert? Transformierte Landschaften. Eine Revue ausgewählter Projekte
2010 7.
La filosofia dei segni e dell’interpretazione, mit einer Einleitung v. Astrid Wagner u. Ulrich Dirks und einem Nachwort v. Aldo Venturelli, ins Italienische übers. v. E. Ficara, L. Gasperoni u. C. Piazzesi, Napoli: Alfredo Guida Editore, 252 S.; (ISBN 978-88-6042-764-9). Introduzione. Non c’è mondo senza segni e senza interpretazione (di Astrid Wagner e Ulrich Dirks) I. Che cos’è la filosofia dell’interpretazione? II. Irretiti nel linguaggio. Il linguaggio come tema chiave della filosofia III. Il potere delle immagini del mondo e dei mondi dell’immagine IV. Forme di pensiero – forme di linguaggio – forme di vita V. La forza dei segni VI. Il pluralismo interno VII. Verità e interpretazione VIII. Etica dell’interpretazione e democrazia Postfazione. La filosofia dei segni e dell’interpretazione. Prospettive per una sua ricezione in Italia (di Aldo Venturelli)
7.1
Świat jako znak i interpretacja, ins Polnische übers. v. Przelozyl Małecki, hg. u. mit einer Einleitung versehen von Andrzej Przyłębski, Warszawa: Wydawnictwo Aletheia, 2014: 254 S.; (ISBN 978-83-62858-66-8).
2015 8.
Kas cilvēku padara neatkārtojamu? Filosofijas lekcijas Rīgā, ins Lettische übers. v. Rihards Kūlis, Riga: LU Filozofijas un sociologijas institūts, 91 S.; (ISBN 978-9934-506-29-1). Kas cilvēku padara neatkārtojamu? Pasaules ainu vara un ainu pasaules Rihards Kūlis: Cilvēks un pasaules aina
Verzeichnis der Publikationen Günter Abels (1973 – 2016)
1389
II Herausgegebene Bände 1989 1.
Abel, Günter / Salaquarda, Jörg (Hg.): Krisis der Metaphysik. Wolfgang Müller-Lauter zum 65. Geburtstag, Berlin / New York: Walter de Gruyter, XIV + 534; (ISBN 3-11-011269-8).
1992 2.
Wissenschaft und Transzendenz. Ringvorlesung der Technischen Universität Berlin und der Kirchlichen Hochschule Berlin, (TUB-Dokumentationen. Kongresse und Tagungen, Heft 60), Berlin: TU Berlin, 90 S.; (ISBN 3-7983-1525-6).
1996 3.
Abel, Günter / Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Pluralismus – Erkenntnistheorie, Ethik und Politik, (Dialektik. Enzyklopädische Zeitschrift für Philosophie und Wissenschaften 1996/3), Hamburg: Meiner, 173 S.; (ISBN 3-7873-1290-0).
1999 4.
Das Problem der Übersetzung – Le problème de la traduction, (Schriftenreihe des Frankreich-Zentrums der Technischen Universität Berlin, Bd. 1), Berlin: Berlin Verlag, 239 S.; (ISBN 3-87061-810-8).
2001 5.
Französische Nachkriegsphilosophie. Autoren und Positionen, (Schriftenreihe des Frankreich-Zentrums der Technischen Universität Berlin, Bd. 2), Berlin: Berlin Verlag, 452 S.; (ISBN 3-87061-811-6).
2002 6.
Abel, Günter / Engfer, Hans-Jürgen / Hubig, Christoph (Hg.): Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag, Berlin / New York: Walter de Gruyter, xi + 480 S.; (ISBN 3-11-017516-9).
1390
Ulrich Dirks und Astrid Wagner
2005 7.
8.
Kreativität. XX. Deutscher Kongress für Philosophie, Berlin, 26. – 30. September 2005. Sektionsbeiträge, Bd. 1, Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin, 992 S.; (ISBN 3-7983-1989-8). Kreativität. XX. Deutscher Kongress für Philosophie, Berlin, 26. – 30. September 2005. Sektionsbeiträge, Bd. 2, Berlin: Universitätsverlag der TU Berlin, 862 S.; (ISBN 3-7983-1990-1).
2006 9.
Kreativität. XX. Deutscher Kongreß für Philosophie, 26. – 30. September 2005 an der Technischen Universität Berlin. Kolloquienbeiträge, Hamburg: Meiner, XVII + 1292 S.; (ISBN 978-3-7873-1766-0).
2007 10.
11.
Abel, Günter / Cristin, Renato / Hogrebe, Wolfram / Przyłębski, Andrzej (Hg.): Lebenswelten und Technologien, Berlin: Parerga, 241 S.; (ISBN 978-3937262-46-8). Abel, Günter / Kroß, Matthias / Nedo, Michael (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Ingenieur – Philosoph – Künstler, (Wittgensteiniana, Bd. 1). Berlin: Parerga, 310 S.; (ISBN 978-3-937262-37-6).
2009 12.
Feest, Uljana / Rheinberger, Hans-Jörg / Abel, Günter (Hg.): Epistemic Objects, (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint 374), Berlin: Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, 98 S.
2012 13.
14.
Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston: De Gruyter, X + 427 S.; (ISBN 978-3-11-025356-6). Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 2, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 2), Berlin / Boston: De Gruyter, X + 438 S.; (ISBN 978-3-11-027782-1).
Verzeichnis der Publikationen Günter Abels (1973 – 2016)
15.
1391
Heit, Helmut / Abel, Günter / Brusotti, Marco (Hg.): Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Hintergründe, Wirkungen und Aktualität, (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 59), Berlin / Boston: De Gruyter, X + 551 S.; (ISBN 978-3-11-025937-7).
2016 16.
Abel, Günter / Plümacher, Martina (Hg.): The Power of Distributed Perspectives, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 10), Berlin / Boston: De Gruyter, X + 364 S.; (ISBN 978-3-11-048264-5).
III Herausgegebene Reihen Seit 1997 1.
Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, begründet v. M. Montinari, W. Müller-Lauter u. H. Wenzel, (bis Bd. 39 (2010): Berlin / New York), Berlin / Boston: De Gruyter; (ISSN 0342-1422). Hg. ab Bd. 26 (1997), inkl. Registerband (2000); zusammen mit Ernst Behler [(26 (1997)], Jörg Salaquarda [bis 28 (1999)], Josef Simon [bis 39 (2010)] und Werner Stegmaier [ab 28 (1999)].
Seit 1998 2.
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, begründet v. M. Montinari, W. Müller-Lauter u. H. Wenzel, (bis 2010: Berlin / New York), Berlin / Boston: De Gruyter; (ISSN 1862-1260). Hg. ab Bd. 40; zusammen mit Wolfgang Müller-Lauter (Bd. 40), Jörg Salaquarda (bis Bd. 43), Josef Simon (bis Bd. 57) und Werner Stegmaier (ab Bd. 44). Hg. der 2., verbesserten und ergänzten Auflagen von Bd. 3&9 (zusammen mit W. Müller-Lauter, J. Salaquarda u. J. Simon). Hg. der 2., verbesserten und erweiterten Auflage von Bd. 17 (zusammen mit J. Salaquarda u. J. Simon).
1392
Ulrich Dirks und Astrid Wagner
1999 bis 2004 3.
Schriftenreihe des Frankreich-Zentrums der TU Berlin, 11 Bde., Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag (bis 2001: Berlin Verlag). Begründer; Hg. zusammen mit Thomas Gil (Bde. 1– 11), Etienne François (Bde. 2, 8 – 11) und Margarete Zimmermann (Bde. 8, 9, 11).
Seit 2012 4.
Berlin Studies in Knowledge Research, Berlin / Boston: De Gruyter. Zusammen mit James Conant Begründer u. Hg.
IV Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbänden 1973 1.
Juste Lipse et Marie de Gournay autour de L’Exemplaire d’Anvers des Essais de Montaigne, in: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance: Travaux et documents, Bd. 35, Genf, S. 117– 129.
1982 2.
Nietzsche contra ‹Selbsterhaltung›. Steigerung der Macht und ewige Wiederkehr, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die NietzscheForschung, Bd. 10/11 (1981/82), (Sonderband: Internationale Nietzsche-Tagung Reisensburg 1980, hg. v. W. Müller-Lauter u. V. Gerhardt), Berlin / New York, S. 367– 384.
1984 3.
Einzelding- und Ereignis-Ontologie, in: Poser, Hans / Schütt, Hans-Werner (Hg.): Ontologie und Wissenschaft. Philosophische und wissenschaftshistorische Untersuchungen zur Frage der Objektkonstitution. Kolloquium an der Technischen Universität Berlin, WS 1982/83, (TUB-Dokumentationen. Kongresse und Tagungen, Heft 19), Berlin: TU Berlin, S. 21– 50. 3.1 auch erschienen in: Zeitschrift für philosophische Forschung 39/2 (1985), S. 157– 185.
Verzeichnis der Publikationen Günter Abels (1973 – 2016)
4.
1393
Interpretationsgedanke und Wiederkunftslehre, in: Djurić, Mihailo / Simon, Josef (Hg.): Zur Aktualität Nietzsches, Bd. II, Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 87– 104. 4.1 Misao o interpretaciji i učenje o večnom vraćanju istog, ins Serbokroatische übers. v. Dragan Stojanović, in: treći program 68/I, 1986, S. 181– 203.
1985 5.
Nominalismus und Interpretation. Die Überwindung der Metaphysik im Denken Nietzsches, in: Simon, Josef (Hg.): Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. II, Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 35 – 89.
1986 6.
Wissenschaft und Kunst, in: Djurić, Mihailo / Simon, Josef (Hg.): Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 9 – 25. 6.1 Nauka i umetnost kod Ničea, ins Serbokroatische übers. v. Dragan Stojanović, in: Književna kritika XXI/3 – 4 (1990), S. 171– 183.
1987 7. 8.
Im Zeichen der Wahrheit – Die Wahrheit im Zeichen, in: Radius. Die Kulturzeitschrift zum Weiter-Denken 32/1, S. 37– 41. Logik und Ästhetik, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 16, Berlin / New York, S. 112– 148.
1988 9. 10.
Interpretationsphilosophie. Eine Antwort auf Hans Lenk, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 13/3, S. 79 – 86. Realismus, Pragmatismus, Interpretationismus. Zu neueren Entwicklungen in der Analytischen Philosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 13/ 3, S. 51– 67.
1394
Ulrich Dirks und Astrid Wagner
1989 11. 12.
Interpretations-Welten, in: Philosophisches Jahrbuch 96/1, im Auftrag der Görres-Gesellschaft hg. v. H. Krings et al., Freiburg / München, S. 1– 19. Wahrheit als Interpretation, in: Abel, Günter / Salaquarda, Jörg (Hg.): Krisis der Metaphysik, Berlin / New York: Walter de Gruyter, S. 331– 363.
1990 13. 14.
Das Prinzip der Nachsichtigkeit im Sprach- und Zeichenverstehen, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 15/2, S. 1– 18. Interpretatorische Vernunft und menschlicher Leib, in: Djurić, Mihailo (Hg.): Nietzsches Begriff der Philosophie, Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 100 – 130.
1991 15.
Logic, Art, and Understanding in the Philosophy of Nelson Goodman, in: Inquiry: An Interdisciplinary Journal of Philosophy 34/3, S. 311– 321. 15.1 wieder abgedruckt in: Elgin, Catherine Z. (Hg.): Nominalism, Constructivism, and Relativism in the Work of Nelson Goodman, (The Philosophy of Nelson Goodman. Selected Essays, Bd. 1), New York / London: Garland Publishing, 1997, S. 1– 11.
1992 16.
17.
18.
19.
Realismus (III. Analytische Philosophie), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, hg. v. J. Ritter, K. Gründer u. G. Gabriel, Basel: Schwabe Verlag, Sp. 162– 169. Wertabhängigkeit der Wahrheit, in: Poser, Hans (Hg.): Wahrheit und Wert. Zum Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft. Kolloquium an der Technischen Universität Berlin, Berlin: TU Berlin, S. 1– 19. Zeichen und Interpretation, in: Borsche, Tilman / Stegmaier, Werner (Hg.): Zur Philosophie des Zeichens, Berlin / New York: Walter de Gruyter, S. 167– 191. Zum Wahrheitsverständnis jenseits von Naturalismus und Essentialismus, in: Gerhardt, Volker / Herold, Norbert (Hg.): Perspektiven des Perspektivis-
Verzeichnis der Publikationen Günter Abels (1973 – 2016)
1395
mus. Gedenkschrift für Friedrich Kaulbach, Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 309 – 330. 19.1 auch erschienen in: König, Wolfgang (Hg.): Umorientierungen. Wissenschaft, Technik und Gesellschaft im Wandel, Frankfurt a. M. / Berlin: Peter Lang, 1994, S. 185 – 209.
1993 20.
21.
22.
Montaigne, Michel Eyquem de (1533 – 1592), in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 23, hg. v. G. Krause u. G. Müller, Berlin / New York: Walter de Gruyter, S. 262– 270. Unbedingtheit und Interpretativität, in: Baumgartner, Hans Michael / Jacobs, Wilhelm G. (Hg.): Philosophie der Subjektivität? Zur Bestimmung des neuzeitlichen Philosophierens. Akten des 1. Kongresses der Internationalen Schelling-Gesellschaft 1989, Bd. I, (Schellingiana. Quellen und Abhandlungen zur Philosophie F. W. J. Schellings, Bd. 3.1), Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, S. 282– 299. Zur philosophischen Aktualität Montaignes, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 18/2, S. 1– 20.
1994 23.
24.
25.
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Zeichenlogik, Bedeutung und Rationalität, in: Simon, Josef / Stegmaier, Werner (Hg.): Fremde Vernunft. Zeichen und Interpretation IV, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 52– 77.
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Ulrich Dirks und Astrid Wagner
schichte der Wissenschaften. Studien und Quellen, Bd. 44), Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2000, S. 85 – 101.
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Probleme und Perspektiven der Gegenwartsphilosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 25/1, S. 19 – 44. Sagen und Zeigen, in: Stegmaier, Werner (Hg.): Kultur der Zeichen. Zeichen und Interpretation VI, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 61– 98.
2001 43.
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Bewußtsein – Sprache – Natur. Nietzsches Philosophie des Geistes, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 30, Berlin / New York, S. 1– 43. 43.1 Consciência – Linguagem – Natureza. A filosofia da mente em Nietzsche, ins Portugiesische übers. v. Clademir Luís Araldi, in: Marton, Scarlett (Hg.), Nietzsche na Alemanha, São Paulo / Ijuí: Discurso Editorial / Editora UNIJUÍ, 2005, S. 199 – 265. 43.2 überarb. Fassung: Consciousness, Language, and Nature: Nietzsche’s Philosophy of Mind and Nature, in: Dries, Manuel / Kail, P.J.E. (Hg.): Nietzsche on Mind and Nature, Oxford: Oxford University Press, 2015, S. 37– 56. L’indulgence dans la compréhension du langage et des signes, in: Revue de métaphysique et de morale 2001/1 n° 29, S. 85 – 105. Modelle in der Philosophie des Geistes, in: Modellbildung in den Wissenschaften und ihre praktische Anwendung. Bericht zu einem fächerübergreifenden Workshop, veranstaltet vom „Treffpunkt der Wissenschaften“ an der Technischen Universität Berlin am 20. Januar 2001, hg. v. Präsident der TU Berlin, (Koordinierung u. Redaktion: Mahr, Bernd / Nowacki, Horst / Pepper, Peter / Spur, Günter), Berlin: TU Berlin, ‚Abel‘ S. 1– 19, ‚Diskussion Abel‘ S. 1– 8; [s. auch Nr. V. 5].
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Die Macht der Weltbilder und Bildwelten, in: Abel, Günter / Engfer, HansJürgen / Hubig, Christoph (Hg.): Neuzeitliches Denken. Festschrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag, Berlin / New York: Walter de Gruyter, S. 23 – 48.
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In Sprache verstrickt. Sprache als Schlüsselthema der Philosophie, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Welten in Zeichen – Sprache, Perspektivität, Interpretation, (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften, Bd. 52), Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 9 – 29. 47.1 auch erschienen in: Schürmann, Astrid / Weiss, Burghard (Hg.): Chemie – Kultur – Geschichte. Festschrift für Hans-Werner Schütt anlässlich seines 65. Geburtstages, Berlin / Diepholz: GNT-Verlag, 2002, S. 29 – 44. Verdade e Interpretação, ins Portugiesische übers. v. Ronel Alberti da Rosa, in: Veritas: revista trimestral de filosofia da PUCRS 47/1, n° 185, Porto Alegre: EDIPUCRS, S. 41– 51; [entspricht Nr. 49]. 48.1 im Italienischen erschienen als: Verità e interpretazione, in: Gentili, Carlo / Gerhardt,Volker / Venturelli, Aldo (Hg.): Nietzsche, Illuminismo, Modernità, (Übersetzungen: Pierpaolo Ascari et al.), Firenze: Leo S. Olschki, 2003, S. 267– 280. Verdade e Interpretação, ins Portugiesische übers. v. Clademir Luís Araldi, in: Cadernos Nietzsche 12, S. 15 – 32; [entspricht Nr. 48]. 49.1 auch erschienen in: Marton, Scarlett (Hg.): Nietzsche na Alemanha, São Paulo / Ijuí: Discurso Editorial / Editora UNIJUÍ, 2005, S. 179 – 197. Zeichen der Wirklichkeit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50/4, S. 537– 548. Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Geistes, in: Raters, Marie-Luise / Willaschek, Marcus (Hg.): Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 365 – 382.
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Denkformen – Sprachformen – Lebensformen, in: Borsche, Tilmann (Hg.): Denkformen – Lebensformen. Tagung des Engeren Kreises der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland, Hildesheim 3. – 6. Oktober 2000, Hildesheim / Zürich / New York: Georg Olms, S. 33 – 51. Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 1/1 (Bilder in Prozessen), hg. v. H. Bredekamp u. G. Werner, Berlin: Akademie Verlag, S. 89 – 102.
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Interpretationsethik, in: Schönherr-Mann, Hans-Martin (Hg.): Hermeneutik als Ethik, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 91– 116.
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Ulrich Dirks und Astrid Wagner
Philosophie des Geistes. Einleitung (Kolloquium 9), in: Hogrebe, Wolfgang (Hg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, Bonn, 23. – 27. September 2002. Vorträge und Kolloquien, Berlin: Akademie Verlag, S. 385 – 389.
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Gehirn – Geist – Computer. Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Geistes, in: Dürr, Renate et al. (Hg.): Pragmatisches Philosophieren. Festschrift für Hans Lenk, (Philosophie: Forschung und Wissenschaft, Bd. 20), Münster: LIT Verlag, S. 3 – 36. 56.1 auch erschienen als: Gehirn – Geist – Computer? Philosophie des Geistes nach Kant, in: Kaplow, Ian (Hg.): Nach Kant: Erbe und Kritik, (Philosophie aktuell. Veröffentlichungen aus der Arbeit des Forschungsinstitutes für Philosophie Hannover, Bd. 1), Münster: LIT Verlag, 2005, S. 20 – 56. 56.2 Esprit – Cerveau – Ordinateur. Philosophie du signe et d’interprétation de l’esprit humain. Prolongement de la perspective kantienne, in: Lenk, Hans / Wiehl, Reiner (Hg.): Kant Today – Kant aujourd’hui – Kant heute. Results of the IIP Conference – Actes des Entretiens de l’Institut International de Philosophie, Karlsruhe / Heidelberg 2004, (Philosophy in International Context / Philosophie im internationalen Kontext, Bd. 1), Berlin: LIT Verlag, 2006, S. 428 – 468; [überarb. u. aktual. Fassung]. Zeichen- und Interpretationsphilosophie der Bilder, in: Majetschak, Stefan (Hg.): Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 13 – 29; [überarb. u. erheblich erweit. Fassung von Nr. 53].
2006 58. Die Kunst des Neuen. Kreativität als Problem der Philosophie, in: Abel, Günter (Hg.): Kreativität. XX. Deutscher Kongreß für Philosophie, 26. – 30. September 2005 an der Technischen Universität Berlin. Kolloquienbeiträge, Hamburg: Felix Meiner, S. 1– 21. 58.1 auch erschienen als: Kreativität – was ist sie und was macht sie so wertvoll? Grundzüge einer Philosophie der Kreativität, in: Dresler, Martin / Baudson, Tanja G. (Hg.): Kreativität. Beiträge aus den Naturund Geisteswissenschaften, Stuttgart: Hirzel, 2008, S. 89 – 107.
Verzeichnis der Publikationen Günter Abels (1973 – 2016)
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58.2 ferner (geringfügig gekürzt) erschienen als: Kreativität – worin besteht sie und was macht sie so wertvoll?, in: Abel, Günter / Conzett, Jürg / Jauch, Ursula Pia / Mendes da Rocha, Paulo: Grenzüberschreitungen im Entwurf, (Architekturvorträge der ETH Zürich, Heft 5), Zürich: GTA Verlag, 2007, S. 10 – 43. 58.3 überarb. u. erweit. Fassung: The Riddle of Creativity: Philosophy’s View, in: Meusburger, Peter / Funke, Joachim / Wunder, Edgar (Hg.): Milieus of Creativity. An Interdisciplinary Approach to Spatiality of Creativity, (Knowledge and Space, Bd. 2), Dordrecht: Springer, 2009, S. 53 – 72. 58.3.1 auch erschienen in: Liunyu Gu / Connolly, Timothy / Chung-ying Cheng (Hg.): Chinese Philosophy as World Philosophy: Humanity and Creativity (II) (Journal of Chinese Philosophy Supplement, Thematic Series to Vol. 40 2013), Hoboken: Wiley-Blackwell, 2014, S. 17– 38.
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Ulrich Dirks und Astrid Wagner
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Epistemische Objekte – was sind sie und was macht sie so wertvoll? Programmatische Thesen im Blick auf eine zeitgemäße Epistemologie, in: Hingst, Kai-Michael / Liatsi, Maria (Hg.): Pragmata. Festschrift für Klaus Oehler zum 80. Geburtstag, Tübingen: Narr, S. 285 – 298. Forms of Knowledge: Problems, Projects, Perspectives, in: Meusburger, Peter / Welker, Michael / Wunder, Edgar (Hg.): Clashes of Knowledge. Orthodoxies and Heterodoxies in Science and Religion, (Knowledge and Space, Bd. 1), Dordrecht: Springer, S. 11– 33. Modell und Wirklichkeit, in: Dirks, Ulrich / Knobloch, Eberhard (Hg.): Modelle, Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 31– 45. Technik und Lebenswelt. Wechselseitige Herausforderung?, in: Poser, Hans (Hg.): Herausforderung Technik. Philosophische und technikgeschichtliche Analysen, (Technik interdisziplinär, Bd. 5), Frankfurt a. M.: Peter Lang, S. 77– 96. Was ist und was kann Philosophie?, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Philosophie, wozu?, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 15 – 39.
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Bildung heute: Kompetenz und Orientierung in der Vielfalt der Wissensformen / Education today: competence and orientation among diverse forms of knowledge, in: Jung, Matthias / Meyer, Corina (Hg.): Nach Bologna / Bologna Revisited: Allgemeine Bildung an Europas Universitäten / General Education at Europe’s Universities, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, S. 59 – 73 / 271– 283. Die Transformation der Wissensordnungen und die Herausforderungen der Philosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 34/1, S. 5 – 28. Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte, in: Feest, Uljana / Rheinberger, Hans-Jörg / Abel, Günter (Hg.): Epistemic Objects, (Preprints Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte 374), Berlin: MaxPlanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, S. 35 – 56. 70.1 auch erschienen in: Tolksdorf, Stefan / Tetens, Holm (Hg.): In Sprachspiele verstrickt – oder: Wie man der Fliege den Ausweg zeigt. Verflechtungen von Wissen und Können, Berlin / New York: De Gruyter, 2010, S. 127– 156.
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2010 71. Das Prinzip Rekonstruktion, in: Hassler, Uta / Nerdinger, Winfried (Hg.): Das Prinzip Rekonstruktion, Zürich: vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, S. 64– 75. 71.1 auch erschienen in: Dhouib, Sarhan / Jürgens, Andreas (Hg.): Wege in der Philosophie. Geschichte – Wissen – Recht – Transkulturalität, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2011, S. 119 – 138. 72. Knowing-How. Eine scheinbar unergründliche Wissensform, in: Bromand, Joachim / Kreis, Guido (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin: Akademie Verlag, S. 319 – 340. 72.1 überarb. Fassung: Knowing-How: Indispensable but Inscrutable, ins Englische übers. v. Hadi Nasir Faizi u. David R. Antal, in: Tolksdorf, Stefan (Hg.): Conceptions of Knowledge, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 4), Berlin / Boston: De Gruyter, 2012, S. 245 – 267. 72.1.1 auch erschienen in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Wissen. Wissenskulturen und die Kontextualität des Wissens, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2014, S. 39 – 57. 73. Zeichen der Wahrheit – Wahrheit der Zeichen, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 39, Berlin / New York, S. 17– 38. 74. Zeichen- und Interpretationsethik, in: Przyłębski, Andrzej (Hg.): Ethik im Lichte der Hermeneutik, Würzburg: Königshausen und Neumann, S. 91– 119.
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Der interne Zusammenhang von Sprache, Kommunikation, Lebenswelt und Wissenschaft, in: Gethmann, Carl Friedrich (Hg.): Lebenswelt und Wissenschaft. XXI. Deutscher Kongreß für Philosophie, 15. – 19. September 2008 an der Universität Duisburg–Essen. Kolloquienbeiträge, (Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 2), Hamburg: Felix Meiner, S. 351– 371. 75.1 überarb. u. gekürzte Fassung: Il rapporto interno tra linguaggio, comunicazione, mondo della vita e scienza, ins Italienische übers. v. Elena Ficara, in: Dreon, Roberta / Paltrinieri, Gian Luigi / Perissinotto, Luigi (Hg.): Nelle parole del mondo. Scritti in onore di Mario Ruggenini, Milano: Mimesis Edizioni, 2011, S. 181– 201.
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Ulrich Dirks und Astrid Wagner
2012 76. Die Aktualität der Wissenschaftsphilosophie Nietzsches, in: Heit, Helmut / Abel, Günter / Brusotti, Marco (Hg.): Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Hintergründe, Wirkungen und Aktualität, (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 59), Berlin / Boston: De Gruyter, S. 481– 530. 77. Die Welt der Wissensformen und die Bildung, in: Honnefelder, Ludger (Hg.): Kants „Streit der Fakultäten“ oder der Ort der Bildung zwischen Lebenswelt und Wissenschaften, Berlin: Berlin University Press, S. 235 – 264, 358 – 360; [überarb. u. durch Teile von Nr. 69 erheblich erweit. Fassung von Nr. 68]. 78. Einführung: Das Verhältnis sprachlicher und nicht-sprachlicher Gründe, in: Nida-Rümelin, Julian / Özmen, Elif (Hg.): Welt der Gründe, (Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 4), Hamburg: Felix Meiner, S. 269 – 281. 79. Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, ins Englische übers. v. Daniel Smyth, in: Abel, Günter / Conant, James (Hg.): Rethinking Epistemology, vol. 1, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 1), Berlin / Boston: De Gruyter, S. 1– 52. 79.1 gekürzte Fassung: Systematic Knowledge Research. Rethinking Epistemology, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Wissen. Wissenskulturen und die Kontextualität des Wissens, Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2014, S. 17– 37. 79.1.1 auch erschienen in: Rivista internazionale di Filosofia e Psicologia, vol. 5/1 (2014), S. 13 – 28. 79.2 in deutscher Sprache erschienen als: Wissensforschung – Erweiterungen und Revisionen der Epistemologie, in: Koppelberg, Dirk / Tolksdorf, Stefan (Hg.): Erkenntnistheorie – Wie und wozu?, Münster: mentis, 2015, S. 385 – 434. 80. Rethinking Rationality: The Use of Signs and the Rationality of Interpretations, in: Lektorsky, Vladislav / Guseynov, Abdusalam (Hg.): Рациональность и ее границы / Rationality and Its Limits. Proceedings of the International Scientific Conference „Rationality and Its Limits“ during the International Institute of Philosophy Meeting in Moscow (15 – 18 September 2011), Moskau: Russian Academy of Sciences, Institute of Philosophy, S. 54– 66. 80.1 Переосмысление рациональности: использование знаков и рациональность интерпретаций , ins Russische übers. v. E. O. Trufanova, in: Lektorsky, Vladislav / Guseynov, Abdusalam (Hg.): Рациональность и ее границы (= Proceedings of the Scientific Conference „Rationality and its Limits“ during the International Institute of Phi-
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losophy Meeting in Moscow), Moskau: Russian Academy of Sciences, Institute of Philosophy 2012, S. 59 – 73. 80.2 als erweiterte und überarbeitete Version erschienen in: Wagner, Astrid / Ariso, José Maria (Hg.): Rationality Reconsidered. Ortega y Gasset and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 9), Berlin / Boston: De Gruyter, 2016, S. 15 – 29. 81. Sprache, Welt und Handlung. Ein trans-analytischer und trans-hermeneutischer Ansatz, in: Dottori, Riccardo (Hg.): 50 Jahre Wahrheit und Methode. Beiträge im Anschluss an H.-G. Gadamers Hauptwerk / Fifty years after H.-G. Gadamer’s Truth and Method. Some considerations on H.-G. Gadamer’s main philosophical work, (The Dialogue. Yearbook of Philosophical Hermeneutics / Das Gespräch. Jahrbuch für philosophische Hermeneutik / Il Dialogo. Annuario di Filosofia ermeneutica, Bd. 5), Berlin u. a.: LIT Verlag, S. 77– 101; [überarb., aktual. u. erheblich erweit. Fassung von Nr. 60]. 81.1 überarbeitete Fassung in: Philosophische Begegnungen zwischen Ost und West / Comparative Philosophy: East and West / 中西哲學論衡 3 (2014), S. 40 – 74.
2013 82.
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Sprachphilosophie, Phänomenologie, Wissenschaftstheorie. Dagfinn Føllesdals Beitrag zur Gegenwartsphilosophie: Laudatio für Dagfinn Føllesdal, in: Bredekamp, Horst / Føllesdal, Dagfinn / Di Fabio, Udo: Transzendenzen des Realen. Mit Laudationes zu den Autoren von Wolfram Hogrebe, Günter Abel und Mathias Schmoeckel, (Ernst-Robert Curtius-Vorlesungen 2), hg. v. W. Hogrebe, Göttingen: V&R unipress, S. 75 – 94. Das ungenutzte Wissen, in: Der Schein des Neuen. Thesen zum Mythos Innovation, hg. v. W.I.R.E. (Web for Interdisciplinary Research & Expertise), Nr. 11, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, S. 29 – 37. 83.1 Unused Knowledge, in: The Allure of the New. On the myth of innovation, hg. v. W.I.R.E (Web for Interdisciplinary Research & Expertise), No. 11, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, S. 29 – 36. Filosofia e sfera pubblica, in: Perone, Ugo (Hg.): La filosofia nello spazio pubblico, Torino: Rosenberg & Sellier, S. 11– 25.
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Die Wissensformen der Architektur, in: Eckert, Dieter (Hg.): Die Architektur der Theorie. Fünf Positionen zum Bauen und Denken, Berlin: DOM publishers, S. 39 – 58; [s. auch Nr. V.14]. Sammlungen als epistemische Objekte und Manifestationen von Ordnungen des Wissens, in: Hassler, Uta / Meyer, Torsten (Hg.): Kategorien des Wissens. Die Sammlung als epistemisches Objekt, Zürich: vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, S. 109 – 132.
2015 87.
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Strategien der Stabilisierung von Wissen – Der Fall der Lehrbücher, in: Hassler, Uta (Hg.): Der Lehrbuchdiskurs über das Bauen, Zürich: vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, S. 10 – 25. Interpretationswelten. Direkte und abgeleitete Wirklichkeiten, in: Fenomenologia 13, S. 69 – 87. Formen des Wissens im Wechselspiel, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 40/2– 3, S. 143 – 160; [überarb., aktual. u. erweit. Fassung von Nr. 79.2].
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Quellen der Orientierung, in: Bertino, Andrea / Poljakova, Ekaterina / Rupschus, Andreas / Alberts, Benjamin (Hg.): Zur Philosophie der Orientierung, Berlin / Boston: De Gruyter, S. 141– 170. Distributed Types of Knowledge, Epistemic Perspectives, and Creativity, in: Abel, Günter / Plümacher, Martina (Hg.): The Power of Distributed Perspectives, (Berlin Studies in Knowledge Research, Bd. 10), Berlin / Boston: De Gruyter, S. 35 – 60. Der innere Zusammenhang von Denkformen, Sprachformen und Lebensformen, in: Quante, Michael (Hg.): Geschichte – Gesellschaft – Geltung. XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie, 28. September – 2. Oktober 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Kolloquienbeiträge, Hamburg: Felix Meiner, S. 135 – 157. Das philosophische Problem des Übersetzens, in: Quante, Michael (Hg.): Geschichte – Gesellschaft – Geltung. XXIII. Deutscher Kongress für Philosophie, 28. September – 2. Oktober 2014 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Kolloquienbeiträge, Hamburg: Felix Meiner, S. 277– 286.
Verzeichnis der Publikationen Günter Abels (1973 – 2016)
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V Gespräche, Diskussionen, Interviews 1982 1.
2.
Günter Abel: Nietzsche contra ‚Selbsterhaltung‘. Steigerung der Macht und ewige Wiederkehr, Diskussion, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 10/11 (1981/82), (Sonderband: Internationale Nietzsche-Tagung Reisensburg 1980, hg. v. W. Müller-Lauter u. V. Gerhardt), Berlin / New York, S. 385 – 407; [s. auch Nr. IV.2]. Diskussionsbeiträge Günter Abels in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 10/11 (1981/82), (Sonderband: Internationale Nietzsche-Tagung Reisensburg 1980, hg. v. W. Müller-Lauter u. V. Gerhardt), Berlin / New York: 2.1 zu Horst Baier, Die Gesellschaft – ein langer Schatten des toten Gottes. Friedrich Nietzsche und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der décadence, S. 23 – 33; 2.2 zu Volker Gerhardt, Macht und Metaphysik. Nietzsches Machtbegriff im Wandel der Interpretation, S. 210 – 221; 2.3 zu Gerd-Günther Grau, Sublimierter oder realisierter Wille zur Macht?, S. 254– 277; 2.4 zu Eric Blondel, Vom Nutzen und Nachteil der Sprache für das Verständnis Nietzsches: Nietzsche und der französische Strukturalismus, S. 538 – 564; 2.5 zu Bernhard Taureck, Nietzsches Einfluß auf die Lyrik. Ein Beitrag zur philosophischen Ästhetik, S. 589 – 596.
1998 3.
Frankreich am Ernst-Reuter-Platz. Das Frankreich-Zentrum der TU wird am 26. Januar feierlich eröffnet. Günter Abel und Astrid Wagner im Gespräch mit René Schönfeldt, in: TU intern, Nr. 1, Januar 1998, S. 5.
1999 4.
Stetigkeit in der Forschungsförderung. Interview mit Prof. Dr. Günter Abel, Vizepräsident der TU Berlin, zuständig für die Angelegenheiten der Forschung und des wissenschaftlichen Nachwuchses, in: TU intern, Nr. 4, April 1999, S. 5.
1408
Ulrich Dirks und Astrid Wagner
2001 5.
6.
Diskussionsbeiträge Günter Abels in: Modellbildung in den Wissenschaften und ihre praktische Anwendung. Bericht zu einem fächerübergreifenden Workshop, veranstaltet vom „Treffpunkt der Wissenschaften“ an der Technischen Universität Berlin am 20. Januar 2001, hg. v. Präsident der TU Berlin, (Koordinierung u. Redaktion: Mahr, Bernd / Nowacki, Horst / Pepper, Peter / Spur, Günter); [s. auch Nr. IV.45]: 5.1 Diskussion zu Günter Abel, Modelle in der Philosophie des Geistes, ‚Diskussion Abel‘ S. 1– 8; 5.2 Antwort Abel zum Beitrag von Schmiechen, ‚Schlussbemerkungen‘ S. 3; 5.3 Beitrag Abel zur Schlussdiskussion, ‚Schlussbemerkungen‘ S. 4. Zeichen- und Interpretationsphilosophie. Ein Gespräch mit Günter Abel, (G. Abel im Gespräch mit A. Bertschinger, J. Hasa, T. Sugimoto und M. Wild), in: Information Philosophie 29/4 (2001), S. 36 – 44.
2003 7.
Das Leben und der Tod: Entscheidungen in extremen Situationen. Interview mit Professor Günter Abel über die Bedeutung der Philosophie in der Gesellschaft und an der TU Berlin, in: TU intern, Nr. 5, Mai 2003, S. 10. 7.1 gekürzt erschienen als: „Sind Philosophen noch gefragt?“ Günter Abel über Debatten, die nicht nur sein Fach bewegen, in: Der Tagesspiegel, Nr. 18102, 26.04. 2003, S. B4.
2004 8.
Schönherr-Mann, Hans-Martin: Ethik des Verstehens. Perspektiven der Interpretation. Ein Überblick, in: Schönherr-Mann, Hans-Martin (Hg.): Hermeneutik als Ethik, München, S. 181– 205; [darin: Gespräch mit Günter Abel v. 04.12. 2001].
2005 9.
Das Fach Philosophie in Bedrängnis. Fragen an Günter Abel, den Präsidenten der „Deutschen Gesellschaft für Philosophie“, in: Information Philosophie 33/1, S. 131– 135.
Verzeichnis der Publikationen Günter Abels (1973 – 2016)
1409
9.1 Das Fach Philosophie in Bedrängnis, in: Philosophy Worldwide: Current Situation. Materials for the International Cooperation and Philosophical Encounters, hg. v. FISP (Fédération National des Sociétés Philosophiques), 2007, S. 61– 68.
2007 10.
11.
Die Chancen nutzen, die sich gegenwärtig bieten. Ein Gespräch mit Günter Abel, Andrea Esser und Carl Friedrich Gethmann über die Situation der Philosophie an den Universitäten, in: Information Philosophie 35/3, S. 28 – 34. In Zürich getroffen: Günter Abel – eine Lanze für mehr Kreativität, in: Neue Zürcher Zeitung (Internationale Ausgabe), Nr. 139, 19.06. 2007, S. 53.
2008 12.
„Wissen ist die Kernressource des 21. Jahrhunderts“. Günter Abel leitet das neue Zentrum für Wissensforschung, (Günter Abel im Gespräch mit Kristina R. Zerges u. Stefanie Terp), in: Der Tagesspiegel, Nr. 20065, 25.10. 2008, S. B3.
2011 13.
Was für eine Erkenntnistheorie brauchen wir? Ein Gespräch zwischen Günter Abel, Peter Baumann, Ansgar Beckermann und Andrea Kern, in: Information Philosophie 39/3, S. 20 – 28.
2014 14.
Diskussion, in: Eckert, Dieter (Hg.): Die Architektur der Theorie. Fünf Positionen zum Bauen und Denken, Berlin: DOM publishers, S. 103 – 116; [s. auch Nr. IV.85].
VI Varia 1994 1.
Was in Wahrheit ist. Zum 70. Geburtstag des Philosophen Wolfgang MüllerLauter, in: Der Tagesspiegel, Nr. 15018, 31.08.1994, S. 18.
1410
Ulrich Dirks und Astrid Wagner
1997 2.
Abel, Günter / Salaquarda, Jörg / Simon, Josef: In memoriam Ernst Behler (1928 – 1997), in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 26, Berlin / New York, S. VII f.
1999 3.
Abel, Günter / Simon, Josef / Stegmaier, Werner: In memoriam Jörg Salaquarda (1938 – 1999), in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 28, Berlin / New York, S. VII f.
2000 4.
In die akademische Champions League. Forschung an der TU Berlin: Konzentration auf die Stärken, in: Die Neue. Sonderausgabe der TU intern zur Strukturreform an der Technischen Universität Berlin, Juni 2000, S. 8.
2001 5.
Abel, Günter / Simon, Josef / Stegmaier, Werner: In memoriam Wolfgang Müller-Lauter (1924– 2011), in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 30, Berlin / New York, S. VII f.
2003 6.
Abel, Günter / Simon, Josef / Stegmaier, Werner: In memoriam Peter Pütz (1935 – 2003), in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 32, Berlin / New York, S. Vff.
2005 7.
Die vertraute Fremde. Neues in die Welt bringen: Philosophen, Psychologen und Hirnforscher streiten über das Rätsel Kreativität, in: Der Tagesspiegel, Nr. 18965, 24.09. 2005, S. 7.
Verzeichnis der Publikationen Günter Abels (1973 – 2016)
1411
2009 8.
„Consciousness, language, and nature. Nietzsche’s philosophy of mind and nature“. Vortrag bei: Nietzsche on Mind and Nature, 17th International Conference, Friedrich Nietzsche Society of Great Britain and Ireland, St. Peter’s College, University of Oxford, 11– 13 September 2009. Video des Vortrages: URL: http://media.podcasts.ox.ac.uk/philfac/nietz sche/p6abel-medium-video.mp4 (Stand: 01.11. 2012).
2010 9.
10.
Bildung heute: Kompetenz und Orientierung in der Vielfalt der Wissensformen, in: Jahresbericht 2009, hg. v. der Guardini Stiftung e.V., Berlin: Guardini Stiftung, S. 14– 20; [gekürzte Fassung von Nr. IV.68]. „Warum Demokratie? Eine philosophische Verteidigung gegen die subtilsten unter ihren Verächtern“. Vortrag bei der Academia Engelberg, Neunter Wissenschaftsdialog: Herausforderung Demokratie, 13. – 15. Oktober 2010 in Engelberg, Schweiz. Abstract: URL: http://www.academia-engelberg.ch/upload/abstracts_2010_ abel_d.pdf (Stand: 01.11. 2012). Video des Vortrages: URL: http://www.academia-engelberg.org/2010_alle_ videos.html (Stand: 01.11. 2012).
2011 11.
Rings nur Stelle und Stil. Was je schwer war, sank in schlaue Vergessenheit: Wolfgang Müller-Lauter ist gestorben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.08. 2001, Nr. 191, S. 45.
2016 12.
Abel, Günter / Stegmaier, Werner: Nachruf auf Josef Simon, in: NietzscheStudien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 45, Berlin / Boston, S. 1 f.
Zu den Autorinnen und Autoren Günter Abel (Technische Universität Berlin). Studium der Philosophie, Geschichte, Romanistik und Politikwissenschaft in Marburg, Lausanne und Berlin. Promotion 1976 (Stoizismus und Frühe Neuzeit), Habilitation 1981 (Nietzsche). 1982 – 87 Heisenberg Stipendiat der DFG. Seit 1987 Professor für Theoretische Philosophie an der TU Berlin, von 2012 – 2016 zugleich affiliiertes Mitglied der ETH Zürich. Seit 2008 Direktor des Innovationszentrums Wissensforschung (Berlin Center for Knowledge Research). Gastprofessuren in Lausanne und Zürich und Fellowship in Harvard. 2002 – 2005 Präsident, seit 2011 Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Seit 2010 Permanentes Mitglied des Institut International de Philosophie (IIP). Seit 2013 ordentliches Mitglied der Academia Europaea. Zahlreiche Publikationen zu den Forschungsschwerpunkten: Sprach- und Zeichenphilosophie, Symboltheorie, Philosophie des Geistes, Epistemologie, Philosophie des 20. und 19. Jahrhunderts, Wissensforschung. Mitherausgeber der Reihe Berlin Studies in Knowledge Research. Bücher (Auswahl): Nietzsche (1984), Interpretationswelten (1993), Sprache, Zeichen, Interpretation (1999), Zeichen der Wirklichkeit (2004). Emil Angehrn (Universität Basel). Studium der Philosophie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Leuven und Heidelberg. Promotion 1976 in Heidelberg, Habilitation 1983 an der Freien Universität Berlin. 1989 Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seit 1991 Professor für Philosophie an der Universität Basel, seit 2012 emeritiert. Forschungsschwerpunkte: Antike Philosophie, 19./20. Jahrhundert, Metaphysik, Geschichtsphilosophie, Hermeneutik. Veröffentlichungen u. a.: Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos (1996); Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik (2003); Wege des Verstehens. Hermeneutik und Geschichtsdenken (2008); Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen (2010). Georg W. Bertram (Freie Universität Berlin). Studium der Philosophie und Germanistik sowie Promotion 1997 in Gießen. Habilitation 2004 in Hildesheim. Seit 2007 Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie und Philosophie symbolischer Medien, Ästhetik, Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes, Theorie der Normativität, Sozialontologie, Deutscher Idealismus (bes. Hegel), hermeneutische, neostrukturalistische und postanalytische Gegenwartsphilosophie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Hermeneutik und Dekonstruktion (2002); Kunst. Eine philosophische Einführung (2005; 2008); Die Sprache und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie (2006); (mit M. Seel u. a.) In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus (2008); Einführung in die Sprachphilosophie (2011). Herausgaben: (mit J. Liptow) Holismus in der Philosophie (2002); (mit R. Celikates u. a.) Socialité et reconnaissance (2007); Philosophische Gedankenexperimente (2012). Aufsätze in allen Arbeitsschwerpunkten. Tilman Borsche (Universität Hildesheim / Cusanus Hochschule). Studium der Philosophie, Japanologie und Geschichte in Bonn. 1979 Promotion an der Universität Tübingen. 1987 Habilitation an der Universität Bonn. Seit 1990 Professor für Philosophie an der Universität Hildesheim. 2013 Gastprofessur an der Rikkyo-Universität, Tokyo. Seit 2015 Professor für Philosophie an der Cusanus Hochschule, Bernkastel-Kues. 1987 – 2004 Mitherausgeber des Historischen
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Zu den Autorinnen und Autoren
Wörterbuchs der Philosophie. 1995 – 2015 Alleinherausgeber der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie. Seit 2008 Mitglied der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft. Seit 2009 Mitglied der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Zeichenphilosophie, Kulturphilosophie, Philosophie- und Begriffsgeschichte, Artikulationsformen des Denkens. Monografien: Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts (1981), Wilhelm von Humboldt (1990), Was etwas ist. Fragen nach der Wahrheit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche (1990), Die Frage nach der Moral (1995). Horst Bredekamp lehrt seit 1993 als Professor für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach dem Studium in Kiel, München, Berlin und Marburg promovierte er dort 1974 im Fach Kunstgeschichte. Auf ein Volontariat am Liebieghaus in Frankfurt am Main folgte zunächst die Assistenz, dann 1982 Professor der Kunstgeschichte an der Universität Hamburg. Von 2003 bis 2013 war er Permanent Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Seit 2013 ist er einer der Sprecher des Exzellenzclusters „Bild Wissen Gestaltung“. Er ist Ordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (seit 1995), der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina (Nationalakademie) in Halle, der American Academy for Arts and Sciences (seit 2016) und Träger vielfacher Auszeichnungen, darunter der Orden Pour Le Mérite für Wissenschaft und Forschung und das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern (2015). Er hat 25 Bücher und mehr als 500 wissenschaftliche Aufsätze verfasst, u. a.: Die Fenster der Monade (2004); Theorie des Bildakts (2010); Leibniz, Herrenhausen et Versailles (2012); Leibniz und die Revolution der Gartenkunst (2012); Galileis denkende Hand (2015); Der Bildakt (2015). Marco Brusotti (Università del Salento, Lecce / Italien). Professor für Geschichte der zeitgenössischen Philosophie an der Università del Salento. Privatdozent für Philosophie an der TU Berlin. Studium der Philosophie an der Universität Genua, Promotion und Habilitation an der TU Berlin. Joachim Tiburtius-Preisträger 1995. Vizepräsident der Nietzsche-Gesellschaft, Stiftungsrat der Friedrich-Nietzsche-Stiftung, Mitglied des Editorial Advisory Board der Forschungsplattform ‚Nietzsche Online‘ (de Gruyter). Zahlreiche Veröffentlichungen insbes. zu Nietzsche und Wittgenstein. U. a.: Die Leidenschaft der Erkenntnis (1997); „‚Blicke weiter um dich!‘ ‚Ethnologische Betrachtungsweise‘ und Kritik der Ethnologie bei Wittgenstein“, in: G. Abel, M. Kroß, M. Nedo (Hg.): Ludwig Wittgenstein: Ingenieur – Philosoph – Künstler (2007); „Wittgensteins Nietzsche. Mit vergleichenden Betrachtungen zur Nietzsche-Rezeption im Wiener Kreis“, in: Nietzsche-Studien 38 (2009); „Naturalismus? Perfektionismus? Nietzsche, die Genealogie und die Wissenschaften“, in: Helmut Heit, Günter Abel, Marco Brusotti (Hg.): Nietzsches Wissenschaftsphilosophie: Hintergründe, Wirkungen und Aktualität (2011); Wittgenstein, Frazer und die „ethnologische Betrachtungsweise“ (2014). Chung-ying Cheng (University of Hawaii, Manoa). M.A. in Philosophy from University of Washington (1959), Ph.D. in Philosophy (with minor in mathematics) from Harvard University (1964). Since 1972 tenured full Professor of Philosophy at University of Hawaii at Manoa. Specialized in philosophy of logic and language, philosophy of science, ethics, epistemology, metaphysics, and hermeneutics on the Western side; Yijing, Daoism, Confucianism / Neo-Confucianism and Chinese Buddhist Philosophy (Huayan, Tiantai and Chan) on the Chinese side. He is well known for his work on Chinese logic, analytical reconstruction of Chinese philosophy, critical study of pragmatism, development of onto-hermeneutics, integrative ethics and theory of
Zu den Autorinnen und Autoren
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creative management based on his work in Yijing onto-generative cosmology and Daoist ontoethics. Founder and Editor-in-Chief of Journal of Chinese Philosophy since 1973; Founding President of the International Society for Chinese Philosophy, Founder and Chairperson of the International Society for Yijing, Founder and Chair of Board of the International East-West (Research) University. Published more than 300 essays and more than 30 books in English and Chinese, e. g.: Peirce’s and Lewis’s Theories of Induction (1969); Theory C: Philosophy of Chinese Management (1979, in Chinese); Generative Ontology of the Yi (2006). Jesús Conill Sancho (Universidad de Valencia / Spanien). Professor für Praktische Philosophie. Forschungsarbeit an den Universitäten München, Bonn, Frankfurt a. M., St. Gallen und Notre Dame. Forschungsschwerpunkte: Philosophische Hermeneutik und Pragmatik, Kants Metaphysik der Sitten, Nietzsche und die Spanische Philosophie (Ortega y Gasset, Zubiri, Laín), Rationalitätstheorie, Diskursethik, Wirtschaftsethik. Eine Auswahl seiner Bücher (mit Verbindung zum Thema des Beitrags): El crepúsculo de la metafísica (1988), El enigma del animal fantástico (1991), El poder de la mentira. Nietzsche y la política de la transvaloración (1997), Ética hermenéutica. Crítica desde la facticidad (2006). Ulrich Dirks, zuletzt Gastprofessor für Philosophie an der Technischen Universität Berlin und Mitarbeiter am dortigen Innovationszentrum Wissensforschung (Berlin Center for Knowledge Research). Abgeschlossene Studien der Philosophie sowie der Physik und der Mathematik an der TU Berlin. Akademischer Mitarbeiter am dortigen Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte bei Günter Abel und Hans Poser. Forschungsschwerpunkte in der Philosophie der Erkenntnis und des Wissens, in der Sprachphilosophie, Philosophie der Naturwissenschaften und der Mathematik sowie in der Zeichen- und Interpretationsphilosophie mit Publikationen wie bspw. ‚Knowledge and World-Pictures‘ in: G. Abel / J. Conant: Rethinking Epistemology (2011), ‚Modelle des Holismus‘ in: U. Dirks / E. Knobloch (Hg.): Modelle (2008), ‚Mathematik und Lebensform‘ in: G. Abel et al. (Hg.): Neuzeitliches Denken (2002) und ‚Filosofia dell’interpretazione‘ zusammen mit A. Wagner in: Giornale di Metafisica (2011). Helga de la Motte-Haber (Technische Universität Berlin). Geboren 1938 in Ludwigshafen / Rhein. 1957 – 1961 Studium der Psychologie (Abschluss mit Diplom), 1962 – 1967 Studium der Musikwissenschaft (Abschluss mit der Promotion). 1971 Habilitation an der Technischen Universität Berlin mit dem Lehrgebiet Systematische Musikwissenschaft, 1972 – 1978 Professorin an der Pädagogischen Hochschule Köln, 1978 – 2004 Professorin an der Technischen Universität Berlin, seit 2004 emeritiert. Ehrenmitglied in der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie und der Gesellschaft für Musikforschung. 2015 Ehrendoktorwürde der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hannover. Schriften in Auswahl: Musikpsychologie. Eine Einführung (1972); Psychologie und Musiktheorie (1978); Handbuch der Musikpsychologie (1985); Musik und Bildende Kunst (1990); Die Musik von Edgard Varèse (1993); Musik und Natur (2000). Herausgebertätigkeit: Musik und Religion (1995); Klangkunst (1999); Musik des 20. Jahrhunderts (2000); Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft in vier Bänden (mit Mitherausgebern) (2007); Lexikon der Systematischen Musikwissenschaft (mit Mitherausgebern) (2010); Dokumente zur Musik des 20. Jahrhunderts (mit Mitherausgebern) (2011). Riccardo Dottori (Università degli studi di Roma Tor Vergata, Italien). Studium in Rom (1959 – 63) und Tübingen (1964 – 65). Promotion und Assistenz bei Enrico Castelli. Mitarbeit an
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Zu den Autorinnen und Autoren
seinen internationalen Colloquien über Entmythologisierung (1960 – 77) und an der Zeitschrift Archivio di Filosofia. 1968 – 69 Humboldt-Stipendiat in Heidelberg. 1970 – 72 wissenschaftlicher Assistent bei Hans-Georg Gadamer. CNRS Stipendium in Paris X, Nanterre, bei Paul Ricœur (1972 – 73). 1974 – 87 Assistenz-Professor an der Universität Perugia. Seit 1987 Professor für Philosophische Hermeneutik und dann für Theoretische Philosophie in Rom Tor Vergata. Seit 1996 Herausgeber von The Dialogue – Das Gespräch – Il Dialogo, Yearbook of Philosophical Hermeneutics. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: antike Philosophie, deutsche klassische Philosophie, Kant, Deutscher Idealismus, Existenzphilosophie, Hermeneutik, Sprachphilosophie, Philosophie der Kunst, Ethik und Sozialphilosophie. Wichtigste Veröffentlichungen: Platone. Il Sofista (1982); Paul Gauguin, il contemporaneo e il primitivo. Crisi ed inveramento della rappresentazione (1989); Paul Cézanne. L’opera d’arte come assoluto (1994); Die Reflexion des Wirklichen. Zwischen Hegels absoluter Dialektik und der Philosophie der Endlichkeit von M. Heidegger und H.-G. Gadamer (1986 / 2006); Die Lektion des Jahrhunderts. Ein philosophischer Dialog mit Hans-Georg Gadamer (Hg., 2002); L’arte il giuoco dell’esistenza (2007, französische Übersetzung 2017). Catherine Z. Elgin (Harvard University, Cambridge MA, USA) is Professor of the Philosophy of Education at Harvard Graduate School of Education. Her research interests center on epistemology, aesthetics, the philosophy of science and the philosophy of education. She is the author of True Enough (2004), Considered Judgment (1996), Between the Absolute and the Arbitrary (1997), With Reference to Reference (1983), and co-author with Nelson Goodman of Reconceptions in Philosophy and Other Arts and Sciences (1988); Considered Judgment (1999); Philosophical Inquiry: Classic and Contemporary Readings (2007). Hinderk M. Emrich (Medizinische Hochschule Hannover, Emeritus). Arzt und Professor für Neurologie und Psychiatrie / Klinische Pharmakologie, Psychotherapeut, Psychoanalytiker; von 1992 bis 2008 Leiter der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover. Lehrauftrag an der Deutschen Akademie für Film und Fernsehen; Promotion in Philosophie 1999; Venia legendi für Philosophie in der Universität Hannover seit 2002. Wesentliche Forschungsgebiete: Psychopharmakologie, Wahrnehmungspsychologie und Systemtheorie von Psychosen, Synästhesie. Zusätzliche wissenschaftliche Interessen: analytische Philosophie des Geistes, Psychoanalyse nach C. G. Jung, Medientheorie, Tiefenpsychologie des Films. Publikationen: Möglichkeiten und Grenzen einer Systemtheorie des Subjektiven – Über Affektivität und die Intentionalität der Wahrnehmung (1990/91); Wahrnehmung, Mimesis und Bewusstsein. (1998); Wirklichkeit der Wahrnehmung – Wahrnehmung der Wirklichkeit (1999); Bindung und Hyperbindung in intermodaler Wahrnehmung und Synästhesie (2002). Elena Ficara (Universität Paderborn). Philosophiestudium in Italien (Turin), Promotion in Deutschland (Köln), zwischen 2007 und 2011 Lehrbeauftragte und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Berlin. Seit 2012 Juniorprofessur an der Universität Paderborn. Forschungsaufenthalte an der University of St. Andrews (2008) und am Graduate Center der City University of New York (2013). Forschungsschwerpunkte: Kant, Hegel, Heidegger und ihre Bedeutung für die zeitgenössische Philosophie; Metaphysik, Metaphilosophie, philosophische Logik. Publikationen in Auswahl: Die Ontologie in der Kritik der reinen Vernunft (2006); Heidegger e il problema della metafisica (2010); „Dialectic and Dialetheism“, in: History and
Zu den Autorinnen und Autoren
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Philosophy of Logic (2012); Contradictions. Logic, History, Actuality (Hg., 2014); Texte zur Hermeneutik (Hg., 2015). Dagfinn Føllesdal is Clarence Irving Lewis Professor of Philosophy emeritus at Stanford University and Professor emeritus at the University of Oslo. After studying mathematics and science in Oslo and in Göttingen (1950 – 57) and philosophy with Quine at Harvard, he earned his Ph.D. in Harvard in 1961. He taught there until he returned to Norway to teach there and at Stanford University from 1966. Various research prizes, including Swiss Lauener Prize, German Humboldt Prize, Norwegian Nansen Prize. President of the Norwegian Academy of Science, 1993 – 97, member of the Swedish, Finnish, Danish and German Academies, and Academia Europaea; Dr. honoris causa at the Univ. Stockholm. Publications mainly in Philosophy of Language, Philosophy of Science and the Humanities, and 20th Century Philosophy. He is now working on a book on Husserl’s phenomenology. Luis Eduardo Gama Barbosa (National University of Colombia). Studied Philosophy at the National University of Colombia. Philosophy PhD of Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (2004). Currently associated teacher at the Department of Philosophy of the National University of Colombia. His research interests include contemporary hermeneutic, theoretical philosophy and ontology with reference to German idealism authors (emphasizing Hegel), also Nietzsche and Heidegger. Author of the following books: Erfahrung, Erinnerung und Text. Über das Gespräch zwischen Gadamer und Hegel und die Grenzen zwischen Dialektik und Hermeneutik (2006); Nietzsche y la hermenéutica contemporánea (2012); La experiencia por venir. Hegel y el saber absoluto (2017). Walter Grasnick (Philipps-Universität Marburg). Oberstaatsanwalt a. D. und Honorarprofessor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Philipps-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte in den letzten Jahren: Juristische Methodenlehre, Systemtheorie und Recht, Konstruktivismus im Recht, Narrative Rechtstheorie. Publikationen aus jüngerer Zeit (Auswahl): „Paradoxien im Weltbildhaus“, in: Christensen, Ralph / Pieroth, Bodo (Hg.): Rechtstheorie in rechtspraktischer Absicht (2008); „Die Sprache der Konstruktivisten. Oder: So reden wir alle“, in: Liebert, Wolf -Andreas / Schwinn, Horst (Hg.): Festschrift für Rainer Wimmer (2009); „Die Erzählbarkeit des Rechts“, in: Gödicke, Patrick / Hammen, Horst et al. (Hg.): Festschrift für Jan Schapp (2010); „Die Metapher des Konstrukts“, in: Riegler, Alexander / Weber, Stefan (Hg.): Die Dritte Philosophie. Kritische Beiträge zu Josef Mitterers Non-Dualismus (2011); „Gesetzesbindung“, in: myops (2012). Logi Gunnarsson (Universität Potsdam). 1995 Promotion am Philosophie-Department der University of Pittsburgh, USA. 1997 – 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2005 – 2006 Lecturer an der University of Liverpool, Großbritannien. 2006 – 2011 Professor für Philosophie mit Schwerpunkt in praktischer Philosophie an der Technischen Universität Dortmund. Seit April 2011 Professor für Ethik und Ästhetik an der Universität Potsdam, Direktor des William James Centers und Ko-Direktor des Menschenrechtszentrums der Universität Potsdam. Er steht 2017 kurz vor dem Abschluss eines Buches zur Philosophie der Philosophie. Darüber hinaus Forschungen zu personaler Identität, praktischer Vernunft und den Grundlagen der Moral, moralischem Status, Ludwig Wittgenstein und William James. Autor folgender Monografien: Making Moral Sense (2000/2007), Wittgensteins Leiter (2000), Philosophy of Personal Identity and Multiple Personality (2010/2013).
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Zu den Autorinnen und Autoren
Uta Hassler (Eidgenössische Technische Hochschule Zürich). Studium der Architektur in München und Karlsruhe. Promotion zum Dr.-Ing. an der Technischen Universität Karlsruhe. 1991 – 2005 Professur für Bauforschung, Denkmalpflege und Entwerfen an der Technischen Universität Dortmund. 1992/2004 Mitglied des Kuratoriums der Stiftung NRW. 2001 Gastprofessur an der Royal Academy Kopenhagen. 2003 Forschungsbeirat beim Bundesbauministerium. Seit 2005 Professur für Denkmalpflege und Bauforschung an der ETH Zürich, seit 2011 Leitung des Instituts für Denkmalpflege und Bauforschung. Forschungsprofil: Baugeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, konservatorische Fragen, Ressourcenökonomie im Bauwesen, Spezialgebiete der Denkmalpflege, Bauforschung. Bücher (Auswahl): Die Kunsthalle als Kunstwerk (1993); Denkmale des Industriezeitalters. Von der Geschichte des Umgangs mit Industriekultur (mit A. Kierdorf, 2000); Das Prinzip Rekonstruktion (2010); Bauforschung. Zur Rekonstruktion des Wissens (2010); Bautechnik des Historismus (Mithg., 2012). Ludger Honnefelder 1972 – 82 zunächst Dozent, dann Professor an der Theologischen Fakultät Trier; 1982 – 1988 Professor an der Freien Universität Berlin; seit 1988 Professor der Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, seit 2001 emeritiert; 2005 – 2007 Guardini Professor und 2009 – 2012 Otto Warburg Senior Research Professor an der HumboldtUniversität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Metaphysik, Ethik, Religionsphilosophie, Geschichte der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Publikationen (Auswahl): Ens inquantum ens. Das Seiende als solches als Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des Johannes Duns Scotus (1979; 1989); Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns Scotus – Suárez – Wolff – Kant – Peirce) (1990); Was soll ich tun, wer will ich sein? (2007); Woher kommen wir? Ursprünge der Moderne im Denken des Mittelalters (2008). Tim Koehne (Technische Universität Berlin). Studierte Mathematik, Logik und Philosophie bei Crispin Wright an der University of St. Andrews und Bauingenieurwesen und Management am Massachusetts Institute of Technology. Mit Skeptizismus und Epistemologie – Entwicklung und Anwendung der skeptischen Methode in der Philosophie (2000) wurde er an der TU Berlin promoviert (Doktorvater: Günter Abel). Anschließend sanierte er eine Bahnschwellenfabrik und privatisierte im Jahr 2011. Seitdem arbeitet er für den Erhalt der Spitzmaulnashörner in Namibia und unterrichtet als Lehrbeauftragter an der Technischen Universität Berlin mit den Schwerpunkten Rationalität, Irrationalität, Skeptizismus und Paradoxa. Hans Lenk. Emeritierter Professor am Institut für Philosophie der Universität Karlsruhe (heute KIT). 1961 Promotion in Kiel, 1966/69 Habilitationen an der Technischen Universität Berlin in Philosophie/Soziologie. 9 Ehrendoktorate, u. a. Córdoba/Arg., Budapest, Moskau, Rostov, Bukarest, Köln. Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften und Hall of Fame des deutschen Sports. Ehem. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie (vormals: AGPD), (Ex‐)Präsident mehrerer internationaler philosophischer Gesellschaften, einst Vize-Präsident FISP, 2005 – 8 Präsident des Institut International de Philosophie (IIP, Weltakademie), heute dessen Ehrenpräsident. Olympiasieger im Rudern (Achter 1960) und Amateurtrainer von Weltmeisterruderern. Forschungsschwerpunkte: theoretische, praktische und angewandte Philosophie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, theoretische Sozial- und Verhaltenswissenschaften, Anthropologie, einschl. Sportwissenschaft, Technik- und Sportphilosophie.
Zu den Autorinnen und Autoren
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Rogério Lopes (UFMG Belo Horizonte, Brasilien). Professor für Geschichte der modernen Philosophie an der Universidade Federal de Minas Gerais, Belo Horizonte. Wichtige Veröffentlichungen: Elementos de Retórica na Obra de Nietzsche (2006) und Ceticismo e Vida contemplativa em Nietzsche (Philosophische Dissertation, UFMG/TU-Berlin, 2008). Forschungsschwerpunkte: Nietzsche, Rezeption des Skeptizismus in der Frühen Neuzeit, sowie die Verhältnisse zwischen Skeptizismus, Transzendentaler Philosophie und Naturalismus in der heutigen epistemologischen Debatte. Gegenwärtig arbeitet er unter anderem über Nietzsches Verhältnis zur Geschichte der praktischen Philosophie bzw. der normativen Ethik sowie über seine Rezeption in der zeitgenössischen praktischen Philosophie. Er ist Gründer und Koordinator der NietzscheForschungsgruppe der UFMG (GruNie). Joseph Margolis (Temple University, Pennylvania, USA). Laura H. Carnell Professor of Philosophy, Temple University. Has taught widely in the United States and Canada; and abroad in New Zealand, South Africa, Sweden, and Finland; and lectured widely. Main interests center on the theory of the self, human culture and history: hence, art, language, morality, the human sciences, with links to epistemology and metaphysics. Favors an open theory of interpretation; the artifactual nature of the self; human life as history; the viability of relativism; the conceptual advantages of pragmatism; reality as a flux; philosophy as in part an informal genealogy. Four volumes of a running analysis of pragmatism, decline and revival, from the second half of the 20th century to the present, viewed in the context of the whole of Eurocentric philosophy, have now appeared, the last of which, titled Pragmatism Ascendent: A Yard of Narrative, a Touch of Prophesy (2012) has just appeared. The Cultural Space of the Arts and the Infelicities of Reductionism (2010) is the latest title to appear among numerous books on the philosophy of art. Fritz Neumeyer (Technische Universität Berlin). 1988 – 1989 Research Fellow am Getty Center for the History of Arts and the Humanities, Santa Monica, California. 1989 – 1992 Professor für Baugeschichte an der Universität Dortmund. 1992 John Labatoot Professor for Architecture and Urbanism, Princeton University. Seit 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Architekturtheorie an der Technischen Universität Berlin, seit 2012 im Ruhestand. Gastprofessuren am Southern California Institute of Architecture, an der Graduate Schood of Design der Harvard University, an der Universität Leuven und am Institut d’Humanitats de Barcelona. 1995 – 1999 Mitglied des Beirats für Stadtgestaltung beim Senat von Berlin. Daneben zahlreiche Tätigkeiten als Architekt, unter anderem 1996/97 „Planwerk Innenstadt Berlin“ (Städtebaulicher Gesamtplan für die City-West Berlin, in Arbeitsgemeinschaft mit Prof. Manfred Ortner). Zahlreiche Publikationen zur Theorie und Geschichte der Architektur vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort (1986); Großstadtarchitektur (mit H. Kollhoff, 1989); Der Klang der Steine. Nietzsches Architekturen (2001); Quellentexte zur Architekturtheorie (2002). Ugo Perone (Humboldt-Universität zu Berlin). Emeritierter Professor für Praktische Philosophie an der Universität Amedeo Avogadro des Piemonte Orientale in Italien und Guardini Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gründer und Direktor der Alta Scuola di Studi Filosofici, Alexander von Humboldt-Stipendien (1980 – 81, 2003, 2011), Direktor des italienischen Kulturinstituts Berlins (2001 – 2003), Kulturreferent der Città di Torino (1993 – 2001) und der Provincia di Torino (seit 2009). Forschungsschwerpunkte: Hermeneutik, Religionsphilosophie, Theorie der Moderne, Theorie des Subjekts. Werke: Le passioni del finito (1994, dt. Endlichkeit,
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Zu den Autorinnen und Autoren
2015); Nonostante il soggetto (1995, dt. Trotz/dem Subjekt, 1998); Il presente possibile (2005, engl. The possible Present, 2011); Filosofia e spazio pubblico (Hg. 2012); Ripensare il sentimento (2014); L’essenza della religione (2015, Premio Capri); Il racconto della filosofia (2016); Die Irritation der Religion (Mhg. 2017). Martina Plümacher (Technische Universität Berlin). Außerplanmäßige Professorin für Philosophie an der Technischen Universität Berlin. Ihre Forschungsgebiete sind Epistemologie, Zeichen- und Sprachphilosophie und Ethik. In ihren Publikationen widmet sie sich insbesondere den Ansätzen von Ernst Cassirer, Edmund Husserl und der Gestalttheorie sowie philosophischen Theorien der Wahrnehmung und Repräsentation und der piktorialen Semiotik. Aufsätze und Bücher (Auswahl): Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen (2004); Speaking of Colors and Odors (hg. mit Peter Holz 2007); Prägnanz und Relevanz (hg. mit Wolfgang Wildgen 2009); Epistemische Perspektivierungen: der Beitrag der Sprache (2010); Wissen und Repräsentation (2011); Erfahrung und Wissen (2012); Epistemic Perspectivity (2012); Erkenntnisperspektiven und ihre Kontexte (2015); The Power of Distributed Perspectives (hg. mit Günter Abel 2016). Hans Poser (Technische Universität Berlin, Emeritus). Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der Technischen Universität Berlin. Seit 1972 Professor für Philosophie an der TU Berlin, 2005 emeritiert. 1994 – 96 Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland (jetzt DGPhil). Seit 2006 Honorary Director of the Institute for Philosophy, Dalian University of Technology, China. Seit 2014 Ehrenmitglied der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft. Forschung und Publikationen zur Wissenschaftstheorie, Technikphilosophie und Geschichte der neueren Philosophie. Bücher (in Auswahl): Wissenschaftstheorie (2001); Technik und Interkulturalität (Mhg., 2007); Herausforderung Technik (Hg., 2008); The Ethics of Today’s Science and Technology. A German-Chinese Approach (Mhg., 2008); Homo Creator. Technik als philosophische Herausforderung (2016). Andrzej Przylebski (Adam-Mieckiwicy-Universität zu Poznan, Polen). Professor für Philosophie am Kulturwissenschaftlichen Institut der Adam-Mickiewicz-Universität und seit 2016 Botschafter der Republik Polen in der Bundesrepublik Deutschland. Übersetzer philosophischer Texte; ehem. Botschaftsrat für Kultur und Wissenschaft der polnischen Botschaft in der BRD; ehem. Vorstandsmitglied der Internationalen Hegelgesellschaft; Beiratsmitglied der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie; Herausgeber der Zeitschrift Fenomenologia. Forschungsschwerpunkte: Theorien des Verstehens und der Interpretation, Kultur- und Sprachphilosophie, die philosophische und die Kulturanthropologie, deutscher Idealismus, Neukantianismus, Lebensphilosophie, Phänomenologie. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Problemen der Hermeneutikentwicklung, zur politischen Philosophie des deutschen Idealismus, zur Hermeneutik von Gadamer, Heidegger und Diltheys, zur Erkenntnistheorie der Badischen Schule. Wichtigste Bücher: Hermeneutische Philosophie als Wissenschaft. Bemerkungen im Ausgang von Gadamer und Fleck (2011); Die hermeneutische Wende der Philosophie (2004; auf Poln.); Auf der Suche nach dem Königsreich der Philosophie. Die Geschichte der badischen Schule (1994, auf Poln.); Ethik im Lichte der Hermeneutik (2010, auf Poln.). Hans-Jörg Rheinberger (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin, Emeritus). Studium der Philosophie und Biologie in Tübingen und Berlin, Magister Artium in Philosophie, Promotion und Habilitation in Molekularbiologie, wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPI für Molekulare Genetik in Berlin, Dozent an der Universität Lübeck, Außerordentlicher Professor
Zu den Autorinnen und Autoren
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an der Universität Salzburg, seit 1996 wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und von 1997 bis 2014 Direktor am MPI für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina, Honorarprofessor an der TU Berlin. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Epistemologie des Experiments, Geschichte und Epistemologie der Lebenswissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen in Molekularbiologie und Wissenschaftsgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Experimentalsysteme und epistemische Dinge (2001/2006), Epistemologie des Konkreten (2006), Historische Epistemologie zur Einführung (2007), A Cultural History of Heredity (zus. mit Staffan Müller-Wille, 2012). Hans Jörg Sandkühler (Universität Bremen, Emeritus). Studium der Philosophie und Rechtswissenschaft in Innsbruck, Münster und an der Pariser Sorbonne. 1971 – 1974 in Gießen Professor am Zentrum für Philosophie und Grundlagen der Wissenschaft, 1974 – 2005 Professor für Philosophie an der Universität Bremen. 1989 – 2002 dort Sprecher des interdisziplinären Forschungszentrums Zentrum Philosophische Grundlagen der Wissenschaften. Gastprofessuren in Turin und Paris. 2003 – 2011 Leiter der Deutschen Abteilung „Menschenrechte und Kulturen“ des europäischen UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie/Paris. Arbeitsschwerpunkte: Epistemologie, Rechts- und Staatstheorie. Viele der über 400 Veröffentlichungen wurden in andere Sprachen übersetzt. Herausgeber der dreibändigen, 2010 in 2. Auflage erschienenen Enzyklopädie Philosophie. Letzte Buchveröffentlichungen: Recht und Staat nach menschlichem Maß. Einführung in die Rechts- und Staatstheorie in menschenrechtlicher Perspektive (2013); Menschenwürde und Menschenrechte. Über die Verletzbarkeit und den Schutz der Menschen (22015); Nach dem Unrecht. Plädoyer für einen neuen Rechtspositivismus (2015). Hans Julius Schneider (Universität Potsdam). Studium in Berlin, Austin (USA) und Erlangen; Promotion in Erlangen 1970; ab 1970 Wissenschaftl. Assistent in Konstanz; Habilitation dort 1975; 1978 – 83 Heisenberg-Stipendiat der DFG; 1983 – 96 Professor am Interdisziplinären Institut für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte, Erlangen; 1997 – 2009 Lehrstuhl für Theoretische Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Potsdam. 1989 Gastprofessor an der University of Georgia, USA; 1992 Gaststudent und -dozent an der School of the Art Institute of Chicago; 2001 und 2011 Gastprofessor an der Fudan-Universität Shanghai. Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Philosophie der Psychologie, Religionsphilosophie; die Philosophie des späten Wittgenstein. Ausgewählte Publikationen: Pragmatik als Basis von Semantik und Syntax (1975); Phantasie und Kalkül (1992); Mit Sprache spielen: Die Ordnungen und das Offene nach Wittgenstein (hg. zusammen mit M. Kroß 1999); Religion (2008); Wittgenstein’s Later Theory of Meaning: Imagination and Calculation (2014) (engl. Teilübersetzung von Phantasie und Kalkül). Robert Schwartz (University of Wisconsin-Milwaukee, Milwaukee, WI, USA.) is Distinguished Professor of philosophy at the University of Wisconsin-Milwaukee. Before coming to Milwaukee, he held appointments at Rockefeller University and the City University of New York. He has also had visiting appointments at Harvard University, University of Maryland, University of Rochester, Northwestern University, University of Pennsylvania, and University of Chicago. His work spans from cognitive science, perception, Berkeley, philosophy of science, epistemology and pragmatism. In addition to numerous articles, he is the author of Vision: Variations on Some Berkeleian Themes (1994), Visual Versions (2006) and Rethinking Pragmatism (2012).
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Zu den Autorinnen und Autoren
Erwin Sedlmayr (Technische Universität Berlin). Studium der Physik in Erlangen-Nürnberg. 1972 Promotion, 1977 Habilitation an der Universität Heidelberg. Seit 1980 Professor am Institut für Astronomie und Astrophysik der TU Berlin. 1986 – 2009 Geschäftsführender Direktor des Instituts. 2003 – 2008 Leiter des Zentrums für Astronomie und Astrophysik der TU Berlin. Seit 2009 im Ruhestand. 1999 – 2002 Vorsitzender der Astronomischen Gesellschaft. Seit 1992 Mitglied des Präsidiums der Guardini-Stiftung. DFG- und BMBF-Gutachter. Forschungsschwerpunkte: Kosmische Staubbildung und konsistente Modellierung staubbildender Sternhüllen; Dynamik von Sternwinden; Kosmischer Materiekreislauf; turbulenter Strahlungstransport; Entstehung der ersten Oberfläche im Weltall; Bildung einfacher Aminosäuren; Astrochemie von kühlen Sternhüllen. Zahlreiche wissenschaftliche und populäre Publikationen allein und mit Mitarbeitern (ca. 300). Herausgeber der Reihe Schlüsselworte der Genesis. Monographien: Meyers Handbuch Weltall (mit J. Krautter, 1994); Mensch-Natur-Technik Bd. 1: Vom Urknall zum Menschen (mit A. Goeres und K. Sedlmayr, 1999), Bergmann-Schäfer Bd. 3: Optik, Strahlungsprozesse und Optik in der Relativitätstheorie (10. Aufl. 2004). Josef Simon (
28. März 2016). Studium der Philosophie, Germanistik, Geographie und Geschichte in Köln. 1957 Promotion (Das Problem der Sprache bei Hegel). 1967 Habilitation in Frankfurt am Main (Sprache und Raum). 1971 – 1982 Ordinarius für Philosophie an der Universität Tübingen. 1982 – 1995 Ordinarius für Philosophie an der Universität Bonn. 1995 Emeritierung. 2004 Ehrendoktor der Aristoteles-Universität Thessaloniki. 1985 – 1994 Herausgeber der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie. 1990 – 2010 Mitherausgeber der Nietzsche-Studien sowie der Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung. Forschungsschwerpunkte: Philosophie des Zeichens, Sprachphilosophie, Philosophie der Neuzeit, Philosophie des 20. Jahrhunderts. Bücher (Auswahl): Philosophie und linguistische Theorie (1971); Wahrheit als Freiheit (1978); Philosophie des Zeichens (1989); Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie (1996); Signe et interprétation (2004); Écriture sainte et philosophie critique (2005). Lukas K. Sosoe (Université du Luxembourg). Professor für Ethik, politische Philosophie und Rechtsphilosophie an der Universität Luxemburg. Ehemaliger Dozent an den Universitäten Caen, Université de Montreal, McGill University und TU Berlin. Hat mehrere Bücher und zahlreiche Aufsätze im Bereich der Ethik, der politischen und Rechtsphilosophie sowie im Bereich der Systemtheorie publiziert und herausgegeben. Veröffentlichungen (in Auswahl): Philosophie du droit (Co-Autor 1991); Bioéthique et Culture Democratique (Co-Autor 1996); La vie des normes et l’esprit des lois (Hg. 1998); L’héritage philosophique de la Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen de 1789 (2003); Le droit – un système social / Law as a social system (Hg. 2015). Werner Stegmaier Ordinarius für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie der Universität Greifswald, seit 2011 emeritiert. Promotion 1974 in Tübingen mit der Dissertation Der Substanzbegriff der Metaphysik, nach Lehrtätigkeit an Gymnasien in Stuttgart und Wissenschaftlicher Mitarbeit am Lehrstuhl Josef Simons in Bonn 1990 Habilitation mit der Schrift Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche. 1994 Gründungsdirektor des Instituts für Philosophie der Universität Greifswald. 1995 – 2002 Aufbau und Leitung des Nord- und osteuropäischen Forums für Philosophie. 1999 – 2017 Mitherausgeber und Schriftleiter der Nietzsche-Studien und der Monographien und Texte der Nietzsche-Forschung. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Erste Philosophie, Formen philosophischer Schriftstellerei, Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Nietzsche, Levinas, Luhmann. Letzte Monographien
Zu den Autorinnen und Autoren
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(Auswahl): Levinas (2002, 2009); Philosophie der Orientierung (2008); Nietzsche zur Einführung (2011); Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der „Fröhlichen Wissenschaft“ (2012); Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche (2016). Pirmin Stekeler-Weithofer (Universität Leipzig). Studium der Mathematik, Philosophie, Linguistik und Literaturwissenschaft in Konstanz, Berlin, Prag und Berkeley. 1984 Promotion zur Kritik formalistischer Logikauffassungen. 1987 Habilitation zur mathematischen Modellbildung. Seit 1992 Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig. Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in Campinas, Swansea, Pittsburgh, New York und Paris. Vizepräsident der Deutschen Ludwig Wittgenstein-Gesellschaft und der Internationalen Hegel-Vereinigung. Seit 1992 ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, 2008 – 2015 deren Präsident. Mitherausgeber der Publikationsreihe Grundthemen Philosophie, des Philosophischen Jahrbuchs und der Philosophischen Rundschau. Forschungsschwerpunkte: Philosophische Logik, Sprachphilosophie, Philosophie der Mathematik; Platon, Hegel und Wittgenstein. Letzte Buchveröffentlichungen: Formen der Anschauung (2008); Sinn (2011); Denken. Wege und Abwege in der Philosophie des Geistes (2012); Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar (2014); Sprachphilosophie (2014). Denis Thouard (Centre Georg Simmel, EHESS/CNRS). Studium der Philosophie in Paris und Berlin; Promotion 1997 über Kant und Schleiermacher; Habilitation 2004 über Kritik und Hermeneutik. Seit 1994 Chargé de recherche und seit 2006 Directeur de recherche am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Forschungsschwerpunkte: Hermeneutik, Sprachphilosophie und Subjektivität. Letzte Buchveröffentlichungen: Herméneutique contemporaine (2011); Herméneutique critique. Bollack, Szondi, Celan (2012); L’Interprétation. Un dictionnaire philosophique (zus. mit Christian Berner, 2015); Geteilte Ideen. Philosophische Versuche, den Leser zum Verstehen zu bringen (2016); Et toute langue est étrangère. Le projet de Humboldt (2016); Pourquoi ce poète? Le Celan des philosophes (2016). Astrid Wagner Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft in Berlin. Promotion 2007 an der TU Berlin. 1995 – 2000 Wissenschaftliche Koordinatorin des Frankreich-Zentrums der TU Berlin. 2000 – 2009 und 2012 – 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte der TU Berlin. 2009 – 2012 Postdoc-Fellow und ab 2018 Científica Titular am Consejo Superior de Investigaciones Científicas (CSIC, Spanish National Research Council) Madrid. Ihre Arbeitsgebiete liegen in den Bereichen: Sprach- und Zeichenphilosophie, Phänomenologie, Transzendentalphilosophie und Pragmatismus. Systematischer Schwerpunkt ist der Nexus von Rationalität und Normativität in den verschiedenen Bereichen von der Ästhetik über die Erkenntnistheorie bis hin zur Ethik und Politischen Philosophie. Zahlreiche Aufsätze zu Pluralismus und Problemen des Relativismus sowie zu Verantwortung, Toleranz und Anerkennung. Bücher: Kognitive Dimensionen ästhetischer Erfahrung (2008); Rationality Reconsidered. Ortega and Wittgenstein on Knowledge, Belief, and Practice (Mhg. 2016); Harmonie, Toleranz, kulturelle Vielfalt (Mhg. 2017).
Personenregister Abel, Angelika 251, 262 Abel, Günter 5 – 42, 48, 55 – 60, 65, 71 – 74, 97 – 80, 86, 88, 98, 105, 113, 122, 124, 126, 133, 143 – 146, 150 – 160, 163, 166 f., 171, 173 f., 178, 181 – 183, 187, 190 f., 195 – 201, 205, 210, 218 f., 222, 227 – 29, 243 – 245, 251, 254 f., 263 f., 289, 292, 300, 305 – 317, 329, 333, 335 f., 341 f., 357, 360, 362, 365, 368, 370, 372, 375 – 379, 383 f., 391 – 395, 399 f., 407, 423 – 427, 444 f., 483 – 497, 499 f., 505, 509, 513 – 527, 532, 545 – 547, 551, 557 f., 565, 571, 575 f, 581, 584 – 587, 591 – 595, 601, 609, 613, 617, 622 f., 625, 628, 633 – 636, 640, 647 – 649, 651 – 653, 663 f., 703 – 706, 710, 722, 725, 727, 743, 747, 749 – 751, 760 f., 767, 774, 779 – 795, 798, 803, 807, 809, 811 – 813, 823, 830, 832, 835 – 837, 850, 853, 857, 859, 863 f., 867 – 875, 877, 885 f., 888, 895, 898 f., 902, 907, 911, 915, 924, 929, 947 f., 956, 963, 967, 972 f., 977, 979, 998 f., 1003, 1007, 1009, 1011 – 1013, 1019 f., 1029, 1031, 1035, 1037 – 1040, 1043 f, 1048, 1053 – 1057, 1059 – 1061, 1069, 1077 f., 1081, 1085, 1087, 1094 – 1097, 1103 – 1113, 1115, 1117, 1119, 1121 f., 1131 – 1133, 1147 – 1153, 1161, 1165, 1167 – 1170, 1173, 1175, 1178 f., 1183 f., 1187, 1189 – 1195, 1198 f., 1201 – 1203, 1207, 1218 f., 1221 – 1229, 1231, 1236 f., 1245 f., 1248 – 1252, 1255 – 1259, 1263, 1270 f., 1273, 1276 f., 1279 – 1282, 1294, 1297, 1300, 1303, 1313 – 1325, 1329, 1333 f., 1339, 1345 – 1363, 1365, 1373, 1385, 1387, 1389 – 1391, 1394, 1396 – 1398, 1400 – 1402, 1404 – 1411 Abū Hāmid Muhammad ibn Muhammad alGhazālī 1196 Adorno, Theodor W. 920, 925 – 927 Agrippa 818, 1183, 1185, 1187, 1198 f., 1208, 1216 Akkermans, Hans 597 https://doi.org/10.1515/9783110522280-079
Alanus ab Insulis 635 Alberti, Leon Battista 948, 950, 953, 956, 958, 1399 Albertus Magnus 636, 638, 651 – 653 Alexy, Robert 711, 713, 758 f. Alfarabi 635 Altenberg, Peter 449 Anaxagoras 875 Anders, Günther 113, 175, 197, 205, 259, 343, 352, 362, 525, 597, 672, 675, 682, 710, 754, 781 f., 815, 904, 920, 926, 942, 1129, 1188 f., 1265, 1333 Angehrn, Emil 55, 60, 67, 71, 75 – 77, 79 – 87, 89 – 94, 323, 411, 615, 767, 803, 1167, 1330, 1351, 1367 Anter, Andreas 1026 Apel, Karl-Otto 184, 213, 383, 792, 803 Aristarch von Samos 672, 676 Aristippos 948 – 952, 963, 969 Aristokles von Messene 1187 Aristoteles 66, 184, 241, 269, 275, 301, 346, 437, 469, 592 f., 601 f., 615, 634 – 642, 647, 653, 675 – 677, 680, 693, 775, 784, 872, 874, 897, 901, 975, 1005, 1028, 1173, 1248 Arnheim, Rudolf 251, 906 Atli, Can xvi Augustinus 278 f., 470, 641, 643, 647, 654, 1258 Austin, John Langshaw 365 Averroës 636 Bachelard, Gaston 566 Baker, Gordon 524 Barthes, Roland 61 Batteux, Charles 917 Baudelaire, Charles 920 Beethoven, Ludwig v. 910 Behler, Ernst 378, 1391, 1410 Benjamin, Walter 68, 91, 355, 1406 Bennett, Maxwell R. 436 – 442 Bense, Max 977 Bernard, Claude 566 Bernard, Emil 881 f.
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Personenregister
Bertram, Georg 97, 100, 102, 104, 108, 113 f., 116 – 118, 120 – 123, 126 – 128, 131 – 138, 269, 411, 828 Bertschinger, Antonia 159, 1246, 1259, 1408 Beulke, Werner 747, 768 Blake, William 458 Blankenburg, Wolfgang 478, 859, 1055 Bloch, Ernst 919, 1246 Bloor, David 570 f. Blossfeldt, Karl 991 Blumenberg, Hans 570, 573 f., 582, 651, 656, 678, 1040 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 750 Boehm, Gottfried 881 Bohr, Niels 685 Bollnow, Otto Friedrich 1258 Borgo, Stefano 597 Borsche, Tilman 42, 227 f., 236, 242, 245 – 249, 252, 255 f., 258 f., 261, 1019, 1394, 1399 Bötticher, Karl 991 Brahe, Tycho 676 f. Brandom, Robert B. 92, 103, 105, 133, 149, 191, 194, 212 – 214, 251, 271, 283, 303, 729, 1171, 1246, 1256 – 1258, 1263, 1271, 1274 f. Bredekamp, Horst 582, 835 – 838, 853 f., 857 – 859, 861 f., 864 f., 896, 898, 904, 911 f., 929, 1165, 1370, 1399, 1405 Brisson, Luc 994 Broadbent, Geoffrey 977, 997 Brown, George Spencer 1024 Brugger, Winfried 719 Bruno, Giordano 656, 678, 680 Brusotti, Marco 123, 132, 187, 205 – 209, 212, 214, 216, 218, 220 – 222, 381, 615, 809, 1167, 1367, 1391, 1404 Bühlmann, Josef 983 – 986, 991, 994, 1002 Bunsen, Robert 681 Buren, Daniel 927 Burke, Edmund 927 Burke, Kenneth 1021 Busche, Hubertus 1063 Busche, Werner 850, 1063 Busse, Dieter 763 f.
Cabada, Manuel 389 Caesar 954, 1186 Cage, John 923, 927, 940 Campbell, Donald 605 Campbell, Richmond 1202 Canaris, Claus-Wilhelm 751 f., 759, 771 Canguilhem, Georges 571 Carnap, Rudolf 276, 291, 1154, 1197, 1226 Carr, David 484, 546, 553 Cartwright, Nancy 283 Cassirer, Ernst 41, 260, 437, 707, 1075, 1254 Ceusters, Werner 597 Cézanne, Paul 867, 879, 881, 927 Changeux, Jean-Pierre 384 Cheng, Chung-ying 584, 586, 615, 1128, 1131 f., 1155, 1161 – 1178, 1266, 1275, 1330, 1401 Chenu, Marie-Dominique 639 f. Chion, Michel 920 Chladenius, Johann Martin 1062, 1064 f. Chomsky, Noam 264, 275 f., 315, 542 f. Churchland, Patricia 392 Clam, Jean 1021, 1027 Conill, Jesús 375 f., 378, 390, 395, 399 – 403, 406 – 408, 411, 537, 1056 Copernicus, Nicolaus (Kopernikus, Nikolaus) 678 Coseriu, Eugenio 341 Crawford, Claudia 387 Cusanus, Nicolaus 680, 1063 Daniels, Norman 191, 193, 212 Danto, Arthur 311 Daodejing 1131 Darwin, Charles 1028 Daston, Lorraine 1071 Davidson, Donald 97 f., 100 – 102, 107, 123 – 125, 128, 149, 151, 283, 365 f., 1019, 1108, 1111, 1178, 1301, 1346 De Caro, Mario 1220 De Chirico, Giorgio 890 De la Motte, Helga 896, 912, 929 – 932, 936, 938 – 942, 1377 De l’Orme, Philibert 994 De Man, Paul 889 De Saussure, Ferdinand 1170, 1173
Personenregister
Debussy, Claude 920 Demmerling, Christoph 1353 Demokrit 673 Denis, Maurice 880 f. Derrida, Jacques 68 f., 91, 755, 925, 927, 953, 956, 1358 Descartes, René 72 f., 341, 346, 357, 359, 451, 814, 816, 970, 1022, 1183, 1185, 1197, 1208 f., 1211 Desimone, Robert 549, 557 Detel, Wolfgang 148, 159 Devitt, Michael 539 f., 542 f. Dewey, John 706, 1281, 1294, 1297, 1299, 1309 DeWitt, Richard 1139, 1158 Diels, Hermann 874 Dietzek, Nora 416 Digges, Thomas 680 Dilthey, Wilhelm 143, 146 f., 152 f., 163, 171, 886, 1065, 1259 Dionysos 1037 Dirks, Ulrich 5, 8, 35, 40, 1246, 1385, 1388, 1402 Djurić, Mihailo 389 f., 1393 f. Dominicus Gundissalinus 635 Donnellan, Keith 168 Doran, Paul M. 881 f. Dosse, François 1221 Dottori, Riccardo 323, 615, 867, 881, 884, 895 f., 898, 900 – 902, 911 f., 914, 1167, 1266, 1335, 1405 Dreier, Horst 717 Dreyfus, Hubert L. 547 Droysen, Johann Gustav 1008 Du Mont, Andreas 837 Du Pré, Jacqueline 496 f. Duchamp, Marcel 311, 756, 927 Duhem, Pierre 707 Dühring, Eugen 993 f. Dukas, Paul 920 Dummett, Michael 271, 283, 437, 439, 556, 1301 Duns Scotus, Johannes 633, 636, 640, 642 f., 645 f., 651 f., 656 Dürig, Günter 716, 718, 745 Dürr, Renate 160, 1326, 1400 Dürrenmatt, Friedrich 754
1427
Düsing, Klaus 115, 1253 Dworkin, Ronald 757 – 759, 773 Dyson, Freeman 685 Ebbinghaus, Julius 1246 Eco, Umberto 59, 755, 977 f., 1004 Einstein, Albert 442, 683, 693, 1151 Elgar, Edward 496 Elgin, Catherine Z. 133, 187, 191 – 193, 206 f., 212, 329, 335, 483, 487, 499 – 502, 504 – 506, 538, 541, 553, 809, 1093, 1290, 1309, 1394 Ellensohn, Reinhard 920 Empedokles 673 Emrich, Hinderk M. 327, 415, 421 f., 427 – 436, 440, 479, 537, 556, 1054, 1056, 1332 Engel, Franz 259, 739, 760, 837 Engels, Friedrich 994 Escher, Maurits Cornelis 298, 1173 Essenwein, August von 982 f. Euklid 672, 1062 Everett, Daniel 158 Exner, Wilhelm 982 f. Faizi, Hadi xvi Faulkner, Philip 597 Feldman, Morton 923, 939 Fellmann, Ferdinand 149 Ferneyough, Brian 922 Ferraris, Maurizio 59 Feuerbach, Ludwig 144, 389 Ficara, Elena 1245, 1247, 1260, 1263, 1270 f., 1274, 1276, 1375, 1388, 1403 Fichte, Johann Gottlieb 108, 423, 431, 1259 Fidora, Alexander 640 Field, Hartry 530 Figal, Günter 149 Figl, Johann 379, 381, 383 Fine, Arthur 314, 1281, 1290, 1320, 1325 Flasch, Kurt 344, 357 Fleck, Ludwig 573, 882 Fodor, Jerry 530 Føllesdal, Dagfinn 125, 133, 168, 193 f., 206, 212, 501, 543, 545, 551 – 557, 809, 1395, 1405 Förster, Heinz von 87
1428
Personenregister
Foucault, Michel 69, 90, 149 Fraasen, Bas C. van 1076 Frege, Gottlob 269, 310, 873 f., 1220, 1231 Freud, Sigmund 62, 178, 663, 755, 876, 879 f., 884, 950 f., 953, 1021 Friedmann, Alexander 683 Fuchs, Peter 754, 760 f. Fuchs, Thomas 478 f., 859, 1055 Gadamer, Hans-Georg 13, 56, 61, 65, 68 f., 100, 127, 143 f., 146, 148 – 154, 156 – 160, 163, 167, 169, 171, 181, 184, 187 – 192, 195 f., 198 f., 205 f., 208 – 212, 216, 381, 383, 395, 868, 873 f., 885 f., 891, 912, 977, 1106, 1133, 1146, 1246, 1254, 1401, 1405 Gaita, Raimond 278 Galileo Galilei 678 Gama Barbosa, Luis Eduardo 318 f., 1089, 1166 f., 1328, 1345, 1365 – 1369, 1371, 1373, 1376 – 1379, 1381 Gauguin, Paul 879 – 881, 886 Gehlen, Arnold 880 Genz, Henning 675 Gerber, Gustav 385, 388 f. Gerhardt, Carl Immanuel 843 – 847, 849, 852, 1392, 1394, 1399, 1407 Giaquinto, Marcus 251 Giere, Ronald N. 1076 Gilbert, William 680 Ginsborg, Hannah 493 f. Glasersfeld, Ernst von 87, 761 Gödel, Kurt 277, 442, 542 Godfrey-Smith, Peter 1281 Goethe, Johann Wolfgang 185, 303, 418, 478, 577, 891, 917 f., 928, 931, 959 f., 963, 1254 Gombrich, Ernst 877 Goodman, Nelson 27, 33, 40 f., 109, 150, 172 f., 184, 187, 191 – 193, 206 f., 212, 261, 293, 297, 495, 499, 505 f., 809, 836, 864, 868, 871 f., 876 – 885, 887 – 890, 895 f., 902 – 910, 934 f., 978, 1019, 1090, 1096, 1106, 1118 – 1120, 1281 f., 1290, 1300, 1308 f., 1316, 1335, 1346, 1394, 1397 Graeser, Andreas 1201, 1217, 1314
Grandy, Richard E. 608 Grasnick, Walter 747, 749, 758, 761 f., 767 – 774, 803 Gray, Jeffrey 422 f. Greisch, Jean 812 Grice, Paul 365 Grimm, Jacob 1062 Grimm, Wilhelm 1062 Grohmann, Will 869 Grondin, Jean 383 Guelluy, Robert 641 Gumbrecht, Hans Ulrich 60, 751, 755, 763 Gunnarsson, Logi 156, 159, 296, 359, 902, 1103, 1105 f., 1112, 1115 – 1117, 1120 f., 1123 – 1126, 1128 f. Häberle, Peter 712, 728 Habermas, Jürgen 152, 159, 214, 383, 787, 792, 803 f. Hacker, Peter M. S. 436 – 442, 524 Hacking, Ian 313, 567, 570 Hain, Karl-Eberhard 717 Halensis, Alexander 641 Hamann, Johann Georg 272, 341, 351, 357, 1019 Harman, Gilbert 192, 540, 1197 Hart, Herbert Lionel Adolphus 757 f., 1036 Hartmann, Nicolai 591, 593, 600 – 604, 615, 695, 920, 1373 Hassemer, Winfried 712 Hassler, Uta 977, 994, 1003 f., 1007, 1011 f., 1014, 1403, 1406 Hausman, Carl R. 1013 Hawking, Steven 686 Hecht, Hartmut 837 f., 842 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 41, 83, 108, 115, 258, 261, 272, 315, 342, 344 f., 348 – 350, 352, 354, 359, 473, 815, 872, 875, 881, 901, 918, 1019 f., 1215, 1225, 1245 – 1248, 1252 – 1256, 1259, 1263 – 1268, 1270 f., 1274 f., 1375, 1385 Heidegger, Martin 6, 20 f., 56, 61, 64, 67 f., 77, 82 f., 91, 108 f., 143 f., 146 f., 149, 151, 153 – 155, 159, 163, 165, 171, 173, 177, 179, 181, 189, 191 f., 236, 272, 279, 307, 377, 390, 395, 443, 624, 750, 816, 872, 887, 918, 925 – 927, 941 f., 957, 970,
Personenregister
1026, 1146, 1156, 1358, 1361 f., 1378, 1382 Heiligenberg, Walter 419 Heisenberg, Martin 423 Heisenberg, Werner 666, 676 Heraklit von Ephesos 345 Herdegen, Matthias 718 Herder, Johann Gottfried 235, 240 – 242, 261, 269, 272, 1019 Hesiod 672 Heymann, Matthias 994 Hilbert, David 276, 291, 1131, 1158 f., 1173 Hildebrandt, Kurt 873 Hindrichs, Gunnar 876 Hipparch 672 Hoagland, Mahlon B. 567 Hobbes, Thomas 272, 281, 786 Homer 672 Hong Zhou 271 Honnefelder, Ludger 633 – 635, 640 f., 643, 646, 648, 651 – 654, 656, 658 f., 1404 Horster, Detlef 1021 Hubel, David 420 Huizinga, Johan 677 Humboldt, Wilhelm 234 – 236, 240, 261, 272, 341, 351 f., 357, 385, 388 f., 1019 Hume, David 1062, 1071 – 1073, 1183, 1185, 1194 f., 1201, 1208 f., 1211, 1224 Husserl, Edmund 37, 86, 147, 193, 303, 395, 476 f., 573, 623, 807, 814 – 816, 828, 883, 920, 1129, 1231 Huyghens, Christiaan 993 Ibbeken, Claudia 1075 Ilting, Karl-Heinz 1203 Imbach, Ruedi 685 Jackson, Frank 548, 554 Jacob, François 567, 1395 James, William 994, 1281, 1294, 1297, 1299, 1309, 1390, 1392, 1404 Jeffrey, Richard 1290 f. Jencks, Charles 977 Jestaedt, Matthias 760 Jhering, Rudolf von 762 Jiménez Iguarán, Nicolás 1345 Jones, Owen 695, 987, 1186
1429
Kagel, Mauricio 922 f., 938 Kamlah, Wilhelm 283 Kandinsky, Wassily 884 Kanitscheider, Bernulf 1174 Kant, Immanuel 21, 27, 33, 38, 73 – 75, 97, 104, 113 – 116, 150, 172 f., 175, 210 f., 253, 258, 260, 265, 272, 282, 290, 300, 303, 310, 314 f., 331, 341 – 343, 347 f., 350, 352, 355, 357, 359, 364, 372, 376, 384, 389 f., 409, 437, 470 f., 476, 490, 595 – 597, 601, 616, 648, 683, 707, 740, 745, 789, 797, 800, 804, 814 f., 820, 828 f., 859, 877, 881, 917, 925, 927, 950, 955 f., 960, 970 f., 1019, 1022, 1029, 1036, 1071, 1089, 1199 f., 1222 – 1224, 1228, 1236 f., 1246, 1250, 1259, 1264, 1276, 1313, 1338, 1349, 1370, 1380, 1400, 1404 Kaufmann, Arthur 277, 712, 758 f. Kaulbach, Friedrich 386, 1066, 1395 Kelly, Sean Dorrance 547 Kelsen, Hans 710, 715, 743 Kepler, Johannes 675 – 678 Kerger, Henry 1027, 1034 Kiefer, Claus 685 Kiesow, Rainer Maria 762 Kimmerle, Heinz 187 Kirchhoff, Gustav 681 Klee, Paul 869, 884 Kluxen, Wolfgang 635 Knobloch, Eberhard 683, 837, 1397, 1402 Kobylinska, Ewa 159 Koehne, Tim 73, 474, 1183, 1185, 1207 – 1218, 1238, 1249, 1264 f. Köhnke, Klaus Christian 1220 Konfuzius (Confucius) 1155 König, Gert 706, 1062, 1395 Kopernikus, Nikolaus (Copernicus, Nicolaus) 678 Köpf, Ulrich 22, 133, 421, 434, 530, 640, 1014, 1174 Körnig, Stephan 1021 Kornwachs, Klaus 417 Koselleck, Reinhart 1065 Krallmann, Dieter 264 Kreuter, Franz 994 Kripke, Saul 168, 493, 530
1430
Personenregister
Kroes, Peter 595, 605 Kroner, Richard 1246 Kuhn, Thomas 633 f., 1036 Kulkarni, Sanjeev R. 192 Küper, Wilfried 754 Kurth, Ernst 922 f. Kurths, Jürgen 417 Laín Entralgo, Pedro 394 f., 399 Lambert, Johann Heinrich 341, 346 f., 357, 1062, 1070, 1072, 1074 Lange, Friedrich Albert 384, 386 f., 389, 670 Laplace, Pierre Simon 679 Larenz, Karl 712, 751 f., 759, 771 Lask, Emil 151, 1246, 1254 Lawson, Clive 598, 604 Le Corbusier (Charles-Édouard JeanneretGris) 950 f., 987 Leeds, Steve 1285 Leibniz, Gottfried Wilhelm 18, 234, 341, 347, 357, 403, 437, 592, 601, 615, 617, 835, 837 – 846, 848 – 850, 852, 854, 864, 970, 1022, 1024, 1063 – 1065, 1068 f., 1088, 1126, 1256 Lelgemann, Dieter 672 Lenk, Hans 41 f., 55, 65, 160, 318 f., 324, 537, 593, 749 f., 761, 1065, 1089, 1259, 1313 – 1315, 1319, 1323 – 1327, 1334, 1336 – 1339, 1371, 1373, 1393, 1396, 1400 Lenzen, Wolfgang 719 Lessing, Gotthold Ephraim 917, 931 Lichtenberg, Georg Christoph 385 Liebrucks, Bruno 345 Liebscher, Dierck-Ekkehard 666, 682 Ligeti, György 445, 1051 Limbach, Jutta 717 Lindberg, David Charles 1062 Lipps, Theodor 1258 List, Elisabeth 37, 163, 218, 617, 666, 718, 747, 974 f., 982, 1236 Loemker, Leroy E. 845, 849, 852 Löhrer, Guido 1201, 1217 Lopes, Rogério 1056, 1219, 1231 – 1235, 1237, 1240 Lorenzen, Paul 283
Lucadou, Walter von 417 Lueken, Geert-Lueke 227, 1353 Luhmann, Niklas 749 f., 752, 754, 757, 759, 761, 763, 773 f., 1019 – 1030, 1033 – 1038, 1043 Lumsden, Charles J. 1136 Lüst, Dieter 670 Lyotard, François 190, 925, 927, 941 Lyssy, Ansgar 1063 Macarthur, David 1220 MacKay, Donald 420 Magritte, René 298, 1173 Mahr, Bernd 1076, 1398, 1408 Mall, Ram Adhar 187 Margolis, Joseph 305, 317 f., 320 – 328, 331 – 335 Marías, Julián 395, 399 Marion, Jean-Luc 68 Marquard, Odo 747, 923, 940 Marx, Karl 55, 66, 144, 994, 1021 Maturana, Humberto Romesín 87 Maunz, Theodor 718 Mauthner, Fritz 387 McDonough, Jeffrey K. 845 – 847, 849, 852 McDowell, John 100 f., 156, 274, 297, 906, 1103 – 1112, 1115 – 1117, 1121, 1123 – 1126, 1128 f. Meijers, Anthonie 385, 388, 595, 598, 605 Mendelejew, Dmitri (Mendeleev, Dmitri) 314 Merleau-Ponty, Maurice 67, 149, 881 Meurer, Moritz 991 Meyer, Franz Sales 987, 1402, 1406 Meyer-Tscheppe, Heinrich 762 Mika, Peter 597 Mill, John Stuart 530, 707, 1198 Moiso, Francesco 1254 Molaison, Henry Gustav 556 Mondrian, Piet 942 f. Monet, Claude 910 Moore, George Edward 1189 f., 1194, 1211, 1231 Morgenbesser, Sidney 1281 Moritz, Karl Philipp 917 f., 927, 941, 991 Mozart, Wolfgang Amadeus 251, 1377 Müller, Friedrich 757, 965, 1395
Personenregister
Müller-Lauter, Wolfgang 375, 392, 1026, 1389, 1391 f., 1407, 1409 – 1411 Nagel, Thomas 552, 654, 825, 1052, 1070 Neufeld, Janina 424 Neufert, Ernst 987, 993 Neumann, Ulfrid 712, 1393 – 1395, 1403 Neumeyer, Fritz 947, 967 – 973, 976, 1007, 1014 Newman, Barnett 927 Newton, Isaac 470, 577, 656, 678 – 680, 683, 693, 1022, 1024, 1151 Nielsen, Kai 194 Nietzsche, Friedrich 39, 48, 55, 62, 70, 83, 94, 97, 113, 116, 150, 172 f., 341, 353 f., 356 f., 359, 375 – 395, 397, 402 f., 407 – 409, 476, 478, 656, 707, 748, 857, 869, 877, 885, 891 f., 894, 898, 930, 937, 1019 – 1038, 1043, 1069, 1074 f., 1080, 1083, 1219, 1229 f., 1237, 1246, 1313 f., 1319, 1345 – 1348, 1350, 1352, 1354 – 1359, 1362 – 1366, 1385, 1391 – 1394, 1398 f., 1403 f., 1407, 1410 f. Noë, Alva 266, 547 Oechslin, Werner 997 Ortega y Gasset, José 376, 391 f., 395, 399, 1405 Osthaus, Karl Ernst 881 Pareyson, Luigi 812, 826 Parmenides 265, 275, 345 Pascal, Blaise 739, 1219 Patzig, Günther 1197 Pauli, Wolfgang 417, 430 Peirce, Charles Sanders 10, 41, 173, 207, 360, 362, 375, 410, 424, 560, 587, 648, 655, 688, 729, 837, 854, 857, 1004, 1133, 1139, 1145, 1153, 1170, 1256, 1266, 1289, 1302 f. Perone, Ugo 811, 816, 823, 826 – 831, 1218, 1405 Perry, John 73, 548, 552, 554 f., 557, 1380 Perutz, Leo 677 Petrus Aureoli 641 Petrus Lombardus 636 Pevsner, Nikolaus 997
1431
Pfeifer, Hermann 986 – 991, 1002 Piaget, Jean 488 Picasso, Pablo 891 Pinker, Steven 1137 Planck, Max 415, 1390, 1402 Platon 68, 232, 240, 249, 260, 266, 269, 272, 275, 345, 595, 674 – 676, 873, 901, 955, 970, 1129, 1188, 1204, 1250, 1255 Plotin 676 Plümacher, Martina 1059, 1073, 1080, 1085 – 1088, 1090 f., 1095, 1391, 1406 Polanyi, Michael 552, 1052 Pöppel, Ernst 419 Popper, Karl R. 605 f. Poser, Hans 591, 613 – 619, 621 f., 627 f., 1337, 1373, 1389, 1392, 1394, 1396, 1398, 1402 Preston, Beth 591 Priesterjahn, Maike xvi Protagoras 877 Przylebski, Andrzej 79, 143, 147, 150, 163 f., 166 f., 171 – 173, 175 – 179, 181 – 183, 296, 323, 411, 615, 767, 803, 1167, 1330 Psillos, Stathis 1283 Ptolemäus, Claudius 676, 678 f., 1139,1145, 1151 Putnam, Hilary 41, 150, 168, 172, 192, 326, 372, 400, 437, 440, 530, 539, 582, 657, 659, 708, 857, 969, 1019, 1110, 1112, 1133, 1241, 1304, 1315, 1341, 1399 Queisner, Moritz 837 Quine, Willard Van Orman 41, 93, 98, 100, 124, 127, 276, 280, 283, 291, 556, 586 – 588, 595 f., 657, 756, 1019, 1123, 1133, 1138 f., 1141 – 1143, 1147 f., 1153 f., 1174 f., 1219 f., 1256, 1325, 1395 Rabinow, Paul 569 Radbruch, Gustav 709 f., 743 Ramsey, Frank Plumpton 1148, 1290 Rankine, William 994 Rawls, John 187, 191 – 194, 206, 208, 212, 486, 494, 809 Rehkämper, Klaus 1062 Reinhardt, Michael 762 Rescher, Nicholas 592, 615, 1068 f.
1432
Personenregister
Rhees, Rush 263, 278 Rheinberger, Hans-Jörg 565, 567 f., 571, 575 f., 578 – 582, 586 f., 618, 1390, 1402 Richter, Gerhard 179 Richter, Raoul 1188 Rickert, Heinrich 151 Ricœur, Paul 62, 143, 146, 149, 163, 171, 383, 1147 Rieger, Simone 837 Riffaterre, Michael 889 Rilke, Rainer Maria 68, 891 Rödl, Sebastian 282, 285 Rorty, Richard 149, 158 f., 759 f., 762, 1106, 1221, 1251, 1256 f. Rossi, Aldo 962, 977 Rothko, Mark 867 Röttgers, Kurt 1062 Rousseau, Jean-Jacques 787, 790, 802, 819, 1072 Rühl, Ulli 714 Runde, Jochen 597 Rüsen, Jörn 67 Russell, Bertrand 530, 1187, 1195, 1379 Ryle, Gilbert 484 f., 499, 545, 551, 553 Safranski, Rüdiger 1172 Salaquarda, Jörg 386, 1389, 1391, 1394, 1410 Sandkühler, Hans Jörg 703, 707 f., 710, 714, 725 – 729, 731 f., 735, 737, 739, 741, 743 f., 767 – 769, 799, 909, 1218, 1389, 1395 – 1397, 1399, 1402 – 1404 Saussure, Ferdinand de 269, 1170, 1173 Scanlon, Thomas M. 194 Schapp, Wilhelm 749, 761 Schaub, Mirjam 837 Scheffler, Israel 1297 Scheler, Max 149 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 926, 1172, 1395 Schiffer, Stephen 365 Schiller, Friedrich 917 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 146, 148, 171, 886, 1065 Schmarsow, August 951 f. Schmidt, Siegfried J. 761 Schmitz, Hermann 149, 422 – 425, 431
Schnebel, Dieter 922, 938 Schneider, Hans Julius 277, 329, 335, 407, 500, 506, 513 – 515, 521, 523, 525, 527, 529, 531, 533 – 539, 554, 879 Scholtz, Gunter 143 f., 163 Schönberg, Arnold 251, 942 f. Schopenhauer, Arthur 919, 1026 Schulte-Sasse, Jochen 1062 Schulthess, Peter 685 Schumpeter, Joseph 1137 Schwartz, Robert 322, 585, 656, 1274, 1279, 1281 f., 1294, 1297 – 1301, 1304, 1307 – 1309 Schwemmer, Oswald 1254 Searle, John Rogers 149, 151, 436 f., 530, 604 Sedlmayr, Erwin 663, 685, 687 – 690, 692 – 697, 1396 Sellars, Wilfried 283, 303, 773, 803, 855, 1256 Semper, Gottfried 983, 986 Sérusier, Paul 879 – 881 Sextus Empiricus 1183, 1185, 1200, 1208 f., 1264 f. Shakespeare, William 169 f., 755 Shannon, Claude E. 264, 416 Simon, Elisabeth xvi Simon, Josef 42, 233, 341, 357 – 362, 364, 369, 372, 378 – 381, 389, 391, 393, 451, 707, 779, 1019, 1268 f., 1391, 1393, 1395 – 1397, 1410 f. Singer, Wolf 415, 419 Sluga, Hans 1220 Smith, Adam 1070 Smith, Barry 596 f., 615 Smith, Daniel 304 Smullyan, Raymond 253, 297, 1300, 1333 Sohst, Wolfgang 595 Sokrates 674, 797, 948, 969, 1251 Sosoe, Lukas K. 725, 742 f., 779, 795, 797 – 804, 807, 830 f., 909, 1218, 1387 Spencer, Herbert 1028 Stanford, Preston Kyle 548, 1283 Stanley, Jason 174 Stegmaier, Werner 42, 386, 1019 f., 1027, 1030, 1037 – 1039, 1043, 1048, 1053, 1391, 1394, 1397 f., 1410 f.
Personenregister
Stekeler-Weithofer, Pirmin 263, 266, 289 f., 292, 618, 1173 Stingelin, Martin 378, 385, 388 Stöckler, Manfred 667 Stolleis, Michael 748 Strauch Oleas, Adrian xvi Strawson, Peter Frederick 135, 1219, 1222 – 1225, 1231, 1233 – 1240, 1341 Stroud, Barry 1219, 1222 f., 1234, 1237 Sturluson, Snorri 668 Sturmhövel, Aurel 994 Sukale, Michael 1062 Sulzer, Johann Georg 919 Tarski, Alfred 101, 123 f. Taylor, Charles 57 Thiersch, August 994, 996 Thom, Paul 319, 324, 1366 Thomas von Aquin 636 – 639, 645 f., 651 – 653, 677 Thomasson, Amie Lynn 593, 599 Thouard, Denis 449, 465 f., 474 – 476, 929 Tinguelys, Jean 593 Tolkien, John R. R. 669 Tomasello, Michael 281, 302, 409 Tugendhat, Ernst 149 Varèse, Edgard 923, 939, 941 Vattimo, Gianni 59, 383, 755 Vico, Gian Battista 66, 89, 960 Vitruv (Marcus Vitruvius Pollio) 948, 950, 954 – 959, 969, 977, 979 – 982, 992, 1003 Wagner, Astrid 8, 20, 375, 378, 1246 Wagner, Heinrich 994 – 996 Wagner, Richard 919 Waldenfels, Bernhard 68, 187, 1204 Wallis, Charles 542, 546 Weaver, Warren 264, 416 Weber, Andreas 1023 Weber, Max 192, 687, 919 Webern, Anton 251 Weizsäcker, Carl Friedrich von 417, 681 Welsch, Wolfgang 271, 759
1433
Wessels, Johannes 747, 768 Weyl, Hermann 684 Whewell, William 707 Whitehead, Alfred North 592, 606, 615, 707, 1132 f., 1135, 1173 f. Whorf, Benjamin Lee 158 Wiesel, Torsten 420, 755 Wild, Markus 151, 176, 951, 1246, 1408 Williams, Bernard 1194 Williamson, Timothy 174 Wilson, Edmund Osborn 275, 1136 Wilson, Mark 1294 Wind, Edgar 270, 569, 1038 Windelband, Wilhelm 1246 Witt, Anette 417 Wittgenstein, Ludwig 11, 21, 23 f., 34 f., 39 f., 74, 98, 100, 102, 104 f., 130, 149 f., 172 f., 201 f., 216, 263, 265, 272 – 275, 277 – 280, 282, 286, 292, 305 – 308, 310 – 312, 315, 328 f., 331, 333 f., 341, 354, 356 f., 359, 364 f., 369 – 371, 375, 418, 430 f., 443, 477, 488 f., 493, 505, 508 – 510, 513 – 515, 520 – 522, 524, 527, 624, 753, 761 f., 862, 871 – 873, 899, 930, 1026, 1032 f., 1039, 1053, 1104 f., 1123, 1190, 1192, 1198 f., 1219, 1224, 1229, 1246, 1252, 1256, 1346, 1379 – 1381, 1390, 1401, 1405 Wolff, Christian 272 Wright, Crispin 1183, 1185 f., 1196, 1198, 1200, 1208 f., 1217 Xenakis, Iannis
922, 939
Yalom, Irvin D. 178 Yijing 1131 – 1133, 1136, 1154 – 1156, 1158, 1165 f., 1169 Zhongyyong 1131 Zhuangzi 1131 Ziemann, Andreas 264 Zima, Peter 1023 Zippelius, Reinhold 712 Zubiri, Xavier 393, 395, 399
Sachregister Abrichtung 280 f., 1053 Absolutheit 719, 785, 1371 Abwärtskausalität 605 acceptance 747, 1289 – 1291 Ad hominem Argument 1187, 1189 f., 1210 adoption 1092, 1210, 1290 – 1293, 1309 adualistisch 15, 19, 79, 86, 401 – 403, 405, 559, 580, 587, 823 f., 908 f., 1087, 1094, 1115 f., 1122, 1127 – 1129, 1165, 1170, 1172, 1213, 1301, 1309, 1324, 1335, 1340, 1342, 1367 f. allographisch 890 ampliative 305, 309 – 313, 316 f., 320, 325 analogisch 33, 41, 90, 871, 888 Anschauung 10, 56, 152, 157, 255, 265 f., 268, 279, 282, 298, 301 – 303, 342, 347, 349, 352 f., 470, 476, 508, 674, 707, 818 f., 835 f., 853 – 855, 857 – 865, 874, 876, 881 f., 898, 903 f., 906, 911, 913, 951 f., 980, 982, 1200 anticipation 455 Antirealismus (anti-realism) 648, 907, 1281, 1286, 1301 Apodeiktische Wissenschaft 635, 638 f., 653, 655 Architektur 8, 29, 363, 402, 578, 625, 674, 677, 828, 911, 947 f., 950 – 959, 961 – 963, 967 f., 970, 972 – 975, 977 – 979, 981, 983 f., 986, 991, 993 – 999, 1002 – 1009, 1011 – 1015, 1076, 1097 – 1099, 1298 f., 1301, 1366, 1387, 1406, 1409 Architekturästhetik 978, 1003 – 1005, 1007 Architekturgeschichte 979, 983, 1003 f., 1007 – 1011 Argumentation 7, 12, 42, 100, 126, 296, 383, 530, 635, 647, 657, 688, 690, 719, 741, 743, 747, 754, 758 f., 767, 772 – 774, 793, 808, 831, 918, 925, 1077, 1112, 1116, 1123, 1207, 1210 f., 1214 f., 1217 f., 1222, 1225, 1227, 1240, 1275, 1299, 1361 Artefakt 86, 146, 317 f., 322, 324 f., 580 f., 591 – 609, 613 – 615, 617 – 623, 627 f., 691 f., 707, 1076, 1097, 1307
https://doi.org/10.1515/9783110522280-080
Artikulation 56, 60, 69, 107, 127, 132 f., 177, 233, 236, 240 – 242, 247, 251, 260, 274, 284 f., 405, 517, 519, 524, 533, 578, 581, 855, 858, 916, 972, 1006, 1051, 1054, 1122, 1308, 1372 Astronomie 666 f., 670 – 673, 675 – 677, 682, 685, 687, 696 f. Astrophysik 588, 663 f., 666 f., 681 f., 687, 693 – 695, 697, 770, 1096, 1174 Ausdruck 29, 39, 57, 68, 91, 94, 101 – 104, 106, 109, 121 – 132, 134, 147, 154, 171 f., 176 f., 179, 182, 222, 232, 246, 254, 261, 270 – 272, 275 f., 283, 330, 349, 353, 358, 363, 366, 370, 382, 386, 394, 409, 527, 532, 853, 878 f., 881, 888, 896, 900 f., 905, 911 f., 915 – 923, 927, 929 – 937, 941, 960, 962, 975, 983 f., 987, 993, 1006 – 1008, 1048, 1067, 1069, 1071 f., 1162, 1238 autographisch 890 Autonomie, autonom 63, 75, 83, 375, 640, 711, 733, 801, 811 f., 820, 880, 886, 915 – 919, 921, 925, 929 – 932, 934, 951, 978, 991, 1220 Autorität 210 f., 652, 710, 738, 755, 757, 763, 830, 1031, 1033, 1221 Bedeutung 8, 10, 16, 22 f., 33, 36, 40, 57, 59, 63, 77 f., 81, 83, 86, 94, 103, 110, 125, 127, 131 f., 154, 168, 181 f., 197, 214, 220 f., 230 – 235, 239, 245, 254, 259 f., 263, 278, 290 f., 295, 324, 328, 330, 333, 341 f., 344 f., 349 f., 354, 361, 364 – 366, 368 – 370, 377, 380, 410, 415 – 418, 421 – 425, 428 – 431, 435, 438, 442 f., 508, 524, 530 – 532, 534, 540, 567, 579, 582 f., 586, 659, 706 f., 730, 733 f., 752, 761, 807 f., 813, 835, 861, 872 f., 883, 899, 904, 906, 908, 913, 920 – 922, 926, 931 f., 934, 962, 972, 976, 978, 983 f., 986, 999, 1006, 1010, 1045 f., 1060, 1075, 1093, 1122, 1162 – 1164, 1168, 1216, 1220, 1231, 1247, 1255 – 1257, 1264, 1266, 1306, 1308, 1325 f., 1329,
1436
Sachregister
1331, 1335, 1337, 1340 f., 1366, 1368, 1375 Begriffsanalyse 326, 1094, 1254 f., 1257 belief 192, 1132, 1139 f., 1145, 1150, 1155, 1223, 1279, 1283, 1287 – 1291, 1293, 1349, 1405 Beobachtung 9, 28, 156, 159, 298, 417, 432, 476, 533, 657 f., 664, 675 – 677, 680 f., 690 – 693, 697, 707, 770, 773, 809, 887, 909, 955, 1023 – 1027, 1029, 1034, 1039, 1049, 1076 – 1078, 1092, 1163, 1197, 1228, 1248, 1395 Beschreibung 16, 32, 38, 58, 67, 169, 174, 177, 179, 182, 193, 195, 198 f., 201, 406, 420, 433, 467, 500, 506, 522, 526 f., 537, 577 f., 596 – 598, 619, 656, 665, 673 – 676, 679, 681 – 685, 688, 690 – 692, 813, 858, 906, 1020, 1110, 1119, 1185, 1220, 1318, 1374 Bewusstheit 12, 62, 119, 176, 403, 532, 876, 1032, 1034, 1037, 1057 Bewusstsein 14, 25, 41, 62, 66, 84, 115, 119, 135, 137, 144 f., 167, 188 f., 198, 209 – 211, 266, 349, 378 f., 381, 390 – 394, 408 f., 420, 423, 435, 437 – 440, 470, 534, 602, 604, 674 f., 781, 813, 815, 836, 849, 858, 954 f., 957, 960, 978, 981, 1031 f., 1034 f., 1074, 1221, 1231, 1255, 1258 f., 1264 f., 1267, 1275 Bild 10, 27 – 29, 35, 55 f., 67, 75 f., 88, 144, 155, 167 f., 177, 179, 181, 199, 243, 246 – 249, 256, 266, 268, 270, 282, 284, 293, 334 f., 349, 360, 363, 385 f., 388 f., 422, 509 f., 516, 523 f., 532, 554, 558 – 560, 581, 625, 663 f., 666 f., 671 – 677, 682, 685, 687 – 689, 706, 735, 806, 835 – 837, 844, 847, 850, 853 f., 857 – 865, 871, 878 – 883, 886 – 891, 896, 898, 904, 911 – 913, 929, 938, 951, 973, 993, 1048, 1065, 1093, 1098, 1162 – 1165, 1334, 1370, 1380 Bildaktivität 858 – 860, 863 Bildung 29 f., 283, 305, 314, 342, 348, 350, 635, 948, 978, 980 f., 992, 996, 1065, 1094
Cannabis 415 f. Cogito-Argument 71 f. commitment 77, 192 f., 280, 309, 314 f., 485, 908, 1068, 1123, 1282, 1285, 1294, 1325, 1358 f., 1363 consciousness 97, 194, 213, 423, 440, 548, 554, 1132, 1136, 1347, 1350, 1356, 1361, 1398, 1411 constitutive 97, 305, 312 f., 315 – 317, 320, 325, 486 f., 492, 1345, 1352 convention 449, 452 f., 461, 486, 489, 492, 1035 coping 1284, 1294 Darstellungsebenen 529, 537 Darstellungsmittel 243, 524, 529, 537 Dauer 15, 253, 299, 466 – 469, 471, 567, 608, 680, 754, 772, 961 f., 996, 1187, 1305, 1370 Demokratie, demokratisch 8, 27, 195, 704, 706, 709 – 711, 726, 742 – 744, 757, 779 f., 783 f., 786 f., 789 – 791, 793, 795, 801 f., 831 f., 1202, 1251, 1387, 1396, 1411 Deskription 28, 155, 626, 659, 878, 880, 883 f., 909, 998, 1099, 1297, 1386 Deutung 22 f., 27, 56, 58, 62, 64, 93, 98, 102, 104, 117, 129, 131 f., 145, 152 f., 163, 168, 170, 181, 200 – 202, 220 – 223, 254, 259, 267, 317, 323, 325 f., 330, 362, 364, 368, 370 f., 377, 411, 502, 578, 593, 595, 600 f., 619, 634, 643, 646, 671, 687, 691, 697, 767 – 772, 788, 799 f., 804, 811, 813, 816 f., 825 f., 828, 859, 864, 870, 874, 887 – 890, 896, 898 f., 913, 919, 925, 977, 998, 1010, 1039, 1060, 1065, 1105, 1164, 1168, 1192, 1232, 1246, 1252, 1256 f., 1259, 1263, 1271, 1273, 1318, 1320, 1334, 1349, 1365 Dezentrierung 61 f., 69, 82 Dialektik 41, 275, 344, 567, 1074, 1079, 1092, 1245 – 1248, 1252 f., 1258 f., 1263, 1265, 1369, 1375, 1389, 1396 Dichotomie 6, 22, 26, 31, 34, 42, 72, 76, 80, 83, 172, 183, 249, 301, 322 f., 326, 336, 391, 399, 530, 580, 617, 658, 779, 801, 824, 929, 940, 1011, 1109, 1123,
Sachregister
1183, 1221, 1236, 1239, 1250, 1259, 1301, 1331, 1336 digital 33, 871 Diskurstheorie 795, 803 Disposition (disposition) 34, 66 f., 89 f., 404 f., 411, 427, 443, 446, 453, 483 – 485, 488, 490 – 493, 499, 547, 553, 558, 720, 803, 891, 937, 1047, 1095, 1158, 1198 Dogmatismus 706, 780, 784, 793 f., 1188 drehtürartig 19, 75, 86, 138, 296, 583, 823, 1104, 1109, 1111 f., 1124, 1251, 1255, 1269, 1317 Dynamik, dynamisch 16, 23 f., 29 f., 68, 77, 92, 121, 147, 191 f., 196, 212, 215, 220, 235, 320, 329 f., 377, 379, 384 – 386, 388, 390, 393, 400, 406, 408, 412, 417, 420, 423, 425, 428, 430, 433, 444, 531, 533, 560 f., 565, 568 f., 572, 578, 584, 607, 623, 627, 664, 684, 688 f., 809, 849, 857, 859 – 861, 863, 884, 890, 929 f., 941, 943, 979, 1045 f., 1051, 1077, 1085, 1117, 1125 f., 1128, 1161, 1170, 1174, 1176 – 1179, 1213, 1215, 1235 – 1237, 1239, 1249 – 1252, 1254 f., 1257 f., 1266 f., 1301, 1303, 1328, 1348, 1366 f., 1374 – 1376, 1382, 1385, 1397 Einbildungskraft 31, 33, 87, 343, 353, 376, 378, 388 f., 409, 469, 877, 952, 970, 1013, 1080, 1088 f., 1396 Eindruck 156, 477, 514, 518, 524, 709, 728, 779, 785, 848, 920 f., 923 f., 930, 932, 937, 939, 941, 953, 1021 Einheit der Welt 157, 820, 1115 Einheit im Bewusstsein 419 empirische Forschung 434 f., 565, 575, 1220, 1229, 1332 Empirismus 283, 1123, 1265, 1301, 1303 endlich 8, 17, 41, 63, 66, 75 f., 91, 104, 246, 257 f., 264, 273, 284, 296, 300, 322, 347, 360, 381, 403, 471, 652, 654 f., 658, 675, 704 f., 722, 725 f., 739, 760, 762 f., 780 f., 788, 796, 816 f., 1047, 1059, 1079, 1085, 1089, 1119, 1176, 1203, 1249, 1254, 1269 f., 1302, 1334, 1339, 1342, 1368, 1375 f.
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Energie 604, 664, 670, 684, 693, 856, 922, 939, 1076, 1132 Entscheidungen 11, 75, 81, 90, 327, 415, 436, 713, 717, 758, 772, 774 f., 791, 800, 831, 1044, 1272, 1408 Entschmelzung der Horizonte 187, 198, 205 epistemisch 9, 13, 15, 17 – 19, 27 – 31, 35, 76 f., 115, 173, 179, 200, 216, 219, 221 f., 246, 250, 257 f., 269, 293 f., 296 f., 321, 326, 335, 359, 367, 401, 403, 465, 499, 501, 509 f., 525, 537 f., 560 f., 565 – 573, 575 – 588, 618, 622, 626, 634, 637 f., 640, 642 – 649, 652 – 655, 658, 705, 708 f., 711, 716, 722, 726, 737, 824 f., 853, 855 – 859, 864 f., 889 – 900, 903 – 909, 937, 967, 1066 – 1077, 1085 – 1099, 1119, 1124, 1127 f., 1164, 1168, 1171, 1174 – 1177, 1198 – 1200, 1216, 1221, 1224 f., 1240, 1249, 1253 f., 1269, 1271, 1273, 1298, 1301 f., 1316 – 1319, 1324 f., 1337, 1339, 1341, 1371, 1374 – epistemische Differenz 646 – epistemisches Ding 565 – 573, 575 f., 582 – epistemisches Objekt 509, 570, 576 – 588, 967, 1317 – 1319, 1325 Epistemologie (epistemology), epistemologisch (epistemological) 29 f., 34, 60, 73, 84, 88, 115, 125, 164, 175, 187, 210, 212, 218, 245, 305, 314 f., 321, 326, 341, 360, 363, 366 f., 479, 500, 533, 537, 565, 575 f., 584, 587, 644 f., 652, 663, 703 – 705, 708, 715, 725 f., 823, 970, 999, 1007 f., 1022, 1024 f., 1027, 1029, 1049, 1053, 1067 f., 1088, 1090, 1094, 1118 f., 1122, 1131, 1133, 1141 – 1144, 1146, 1153 f., 1166, 1177, 1183, 1207 f., 1210, 1214 f., 1221, 1238, 1271, 1279, 1281 f., 1285, 1287, 1289, 1294, 1298 f., 1301 f., 1304, 1306, 1309, 1320, 1345 f., 1352, 1374, 1386, 1390, 1402, 1404 Ereignis 13, 72, 131, 229, 300, 409, 580, 591 f., 755, 771, 915, 924, 926 f., 940, 942, 958, 1178, 1258, 1392 Erfahrung 5, 9, 11 – 13, 18, 25, 28, 30, 36 f., 39, 56, 66, 73 f., 88 – 90, 104, 114 f., 120, 135, 138, 147, 149, 153 f., 157, 164, 169, 173, 178, 180 f., 249 – 251, 257 f., 260 –
1438
Sachregister
262, 284, 286, 291, 293 f., 297, 300, 302 f., 327, 331, 345, 352 f., 360, 376, 379, 381 – 383, 401, 404 f., 407, 417, 422, 432, 437 f., 445, 466, 469 f., 476 f., 510, 519, 535, 554, 570, 578 f., 581, 585, 623, 654, 674, 677, 690, 697, 707, 716, 770, 774, 807, 812 – 815, 823, 826 f., 829, 867 f., 871, 876 f., 882 – 885, 891, 896, 910 f., 920, 924 – 926, 930 – 932, 942 f., 954, 956, 961, 967, 975 f., 995, 1004, 1006, 1038, 1051, 1054, 1056, 1061, 1068, 1078 – 1080, 1089 f., 1092, 1103 – 1111, 1115 – 1118, 1121 – 1123, 1125, 1127 – 1129, 1166, 1177, 1179, 1198, 1203, 1223, 1226, 1232, 1236, 1258, 1264, 1266 – 1268, 1299 f., 1323, 1327, 1332 f., 1338, 1341, 1370 f., 1375, 1386 f. Erinnerung 274, 409, 442, 466, 524, 557, 582, 674, 803, 898, 961 f., 976, 986, 1094, 1165, 1200 Erklärung 62, 101, 123, 170 f., 179, 269, 274, 278, 286, 341, 344 f., 347, 354, 361 f., 368, 370 f., 378, 392, 404 f., 418, 430 f., 437, 522, 596, 646, 657, 672, 674, 678, 684, 690 f., 693 f., 718, 744, 788, 793, 877, 924, 956, 1128, 1178, 1232, 1250, 1269, 1273, 1301, 1306, 1310, 1317, 1333 f. Essentialismus 6, 158, 172, 322 f., 326, 336, 399, 617, 661, 760, 779, 793 f., 796, 801, 837, 1109, 1202, 1221, 1225, 1239, 1250, 1259, 1331, 1386, 1394 Ethik 10, 17, 26 f., 36, 126, 138, 165 f., 171, 194 f., 197, 213, 253, 395, 399, 444, 502, 578, 642, 644, 652, 703, 705 f., 711, 722, 725, 738, 740 – 744, 779 – 785, 788 – 793, 795 – 801, 803, 805 – 809, 831, 856, 869, 874, 885, 900, 909, 911, 967, 1007, 1169, 1179, 1200 f., 1203, 1218, 1327, 1329, 1339, 1385 f., 1389, 1396, 1399, 1403, 1408 Evolution 38, 84, 308, 314, 330, 525, 606, 627 f., 667, 681, 683 f., 1028 f. Exemplifikation (exemplification) 495 – 497, 499, 505 – 507, 878 f., 884 f., 934 – 936, 972 Ex falso quod libet 1183, 1186, 1194 – 1196
existential 305, 314 f., 1147, 1280 Existenz 10, 18, 147, 151, 153, 178, 325 f., 332, 347 f., 401, 405, 469 f., 552, 595 – 598, 602, 604, 606, 608, 636, 648, 664, 670, 674 f., 685, 744 f., 783, 788, 820, 885, 904, 918, 951, 954, 971, 1032, 1088 f., 1189, 1197, 1220, 1238 f., 1300, 1367 Experimentalsystem 565 – 570, 573, 575 f. Explikation 11, 58, 92, 99, 102, 104 – 111, 122, 126 – 129, 131 – 134, 136 f., 234, 237, 274, 786, 998, 1070, 1253 – 1255, 1257, 1268, 1270 f., 1341 Expressivität 260, 334, 403, 409, 475, 827 f., 835, 858, 896, 911 f., 929, 933 – 937, 1006, 1010, 1052, 1370, 1377 Externalismus 22, 77, 263, 529 f. Finalität 594, 606, 621 finitude 1352, 1363 Form 17, 20, 22, 24, 33, 36, 38 f., 42, 57 f., 62, 97, 104, 111, 113 – 115, 119 – 121, 135, 137, 164, 200, 222, 238, 248 – 251, 256, 265, 276, 278 f., 282, 299 – 301, 331, 349 – 354, 359, 364, 382, 392, 440 f., 444, 478, 507 f., 558 – 561, 578, 581, 597, 623, 626 f., 675, 717, 782, 786, 813–816, 818 – 820, 829, 848 f., 865, 868, 871, 874 f., 882, 901, 905, 911, 915, 925, 929, 933, 936, 948, 951, 958 – 962, 970, 974, 977 f., 980, 983 – 999, 1003 f., 1009, 1013, 1029, 1036, 1075, 1098, 1119, 1121 f., 1169, 1249 – 1254, 1266, 1268, 1370 f., 1380 Form, logische 32, 124, 173, 281 – 283, 368, 440, 1175, 1178 Formen der Anschauung 10, 56, 255, 265, 470, 476 Freie richterliche Überzeugung 714, 726 Fremdbezüglichkeit 1022 Funktion 15 f., 18, 22, 27, 34, 58 f., 63 f., 66, 73 f., 83, 87, 102, 117, 119, 136, 144, 153, 176 f., 183, 198, 237, 239, 241, 293, 303, 328, 361 f., 368, 373, 376 f., 380, 382, 392, 399 – 401, 406 f., 410, 419, 423, 425, 431, 465, 468, 476, 507, 536, 576, 579, 583, 587, 592 – 594, 597 – 600, 605,
Sachregister
616, 618 f., 621, 624, 626 f., 678, 695, 708, 732, 734, 737, 811 f., 818, 820, 825 f., 859, 870, 872 f., 896, 900, 902, 907, 916, 918, 921 – 923, 931, 934, 938, 956, 958, 962, 967, 973, 1004 f., 1020, 1031, 1035, 1038, 1043, 1071, 1077, 1086, 1089, 1116, 1120, 1125, 1127, 1162, 1164 f., 1193, 1200, 1216, 1225, 1249 f., 1272, 1308 f., 1318, 1328, 1337, 1365 f., 1376, 1378, 1385 f., 1396 Funktionalität 443, 445 f., 614 f., 917, 950, 1033, 1309 Ganzheit 151, 176, 422, 607, 609 Gedankenfabrik 418 Gegenwart 147, 188 f., 209, 266, 268, 279, 281 f., 285, 294, 415, 417, 472, 654, 659, 809, 929 f., 951, 961, 974 f., 984, 1220 Geltungsanspruch 59, 80, 633 f., 637 f., 640, 645, 648, 1203 Gemeinsamer Raum 818 Genealogie (genealogy) 11, 13, 28, 70, 138, 257, 300, 302, 323, 375 – 378, 381, 383, 385 – 387, 395, 399 f., 402, 406 – 410, 412, 467, 525, 583, 770, 856, 865, 998, 1020, 1041, 1047, 1089 f., 1276, 1319, 1328, 1345, 1356 f., 1359, 1370 generisch 270 – 272, 275, 283 – 286 Genetik 416, 568 f. Genitiv 246, 811 f., 818, 823, 825, 1116 Geschichtenphilosophie 749 f. Gesichtspunkt 14 f., 25, 27, 124, 157, 210, 346, 429, 438, 441, 468, 594, 625, 637, 659, 706, 920, 1010, 1061 – 1067, 1072 f., 1075, 1077, 1079 – 1081, 1086 – 1088, 1091, 1095 f., 1098, 1320, 1326, 1370 f. Geste 29, 122, 129 – 132, 137, 165, 168 – 170, 177, 205, 218, 220, 222, 240, 246, 256, 293, 368, 407, 409, 530, 532, 560, 625, 733, 862, 898 – 900, 915, 921 – 923, 927, 929, 934, 938 – 940, 958, 1048, 1052, 1065, 1162 f., 1189, 1273, 1379 f. Gewissheit 12, 33 – 35, 180, 352 f., 706, 708 f., 714, 1031, 1065, 1211, 1217, 1232, 1239, 1267, 1270, 1300 Glauben 33, 36, 56, 77, 233, 236, 285, 350 f., 353, 372, 380, 385, 442, 634 –
1439
636, 638 – 640, 645 f., 653 f., 676 f., 708, 710, 714 f., 789, 897, 1005, 1022, 1024, 1026, 1031 f., 1090, 1176, 1190, 1193 f., 1196, 1204, 1214, 1225, 1250, 1255, 1272, 1276, 1302 Gleichgewicht 23, 26, 190 – 201, 205 – 208, 212 – 214, 217 f., 220, 222, 429, 443, 446, 795, 807, 809, 1053, 1056, 1397 Gottesgesichtspunkt 634, 645 f., 648 f., 1119, 1192, 1304 Grenzen der Interpretation 55, 59, 704, 725, 729 Grundbegriff 7 – 9, 11, 187, 231, 423, 438, 500, 872, 980, 1064, 1110, 1179, 1247, 1254 f., 1258, 1270 Grundrechte 704, 711, 716 – 719, 726, 739 habit 453 f., 483 – 485, 488, 553, 1145, 1349 Handlung 11 f., 20 f., 26, 31, 35 – 38, 41, 76, 78, 81, 89, 92, 120, 122, 137, 146, 149, 152, 165, 168 – 170, 174, 182, 189, 191, 201, 205 – 207, 209, 211 f., 215 – 221, 246 f., 250, 253 f., 256, 265, 269, 280 f., 290 – 293, 317 f., 320, 322 f., 327, 329 f., 332, 336, 344, 351 – 353, 368, 371 f., 376, 408 – 411, 424, 428, 430 f., 442 f., 465 f., 468 – 470, 472 f., 476 – 478, 516 f., 519 – 521, 523, 526, 529, 535, 538, 540, 554, 559 – 561, 578, 592 f., 595, 600, 615, 620, 622, 624 f., 660 f., 691, 715, 720, 729, 734, 745, 772, 781 f., 785, 788, 791 f., 804 – 809, 811, 818, 857 f., 873, 883 – 885, 898 f., 908 f., 1045, 1048, 1052, 1060 f., 1071, 1073 f., 1079 f., 1085, 1094 f., 1124, 1162 – 1164, 1167, 1174, 1177 – 1179, 1255, 1269, 1272 – 1274, 1297, 1302, 1315, 1317, 1325 f., 1328, 1335, 1337, 1340, 1373, 1380, 1401, 1405 Handlungstheorie 228, 245, 520, 554, 909, 1313, 1326 Hermeneutik, hermeneutisch 8 f., 13, 23, 55 – 57, 60 f., 63, 65 f., 68, 75 – 77, 79, 81, 83 – 87, 89 – 91, 98, 143 – 156, 158 – 160, 163 f., 166 – 171, 173, 177, 181, 183, 187 f., 190 – 192, 195, 198 f., 202, 206, 208, 211 f., 216, 264, 323 f., 360, 376 f.,
1440
Sachregister
381, 383, 394 f., 399, 407, 411 f., 614 f., 619, 635, 704, 712, 728, 747, 750 – 752, 754 – 756, 767 – 774, 793, 813 – 818, 821, 868, 871, 886, 888 – 890, 916, 977, 1064 f., 1087, 1167, 1184, 1231, 1258 f., 1330, 1365, 1367, 1397, 1399, 1403, 1405, 1408 – interkulturelle Hermeneutik 188 – musikalische Hermeneutik 916 Hohlmasken 420 f., 434 f. Horizont 13 – 15, 18 – 20, 26, 28, 33, 56 f., 59 f., 65 f., 79, 82, 85, 123, 167, 169 – 171, 174, 184, 187 – 189, 191, 196 – 200, 205 f., 208 – 212, 214 – 217, 221, 301 f., 330 f., 360, 362, 465, 468, 474 f., 538, 552, 567, 579, 617, 620, 627, 629, 645, 666, 687 f., 692 – 694, 705, 742, 781, 791, 796, 798 – 800, 807, 816, 886, 927, 1023, 1030 f., 1037, 1062, 1202, 1255, 1258 f., 1326, 1378 Horizontverschmelzung 151, 169, 187 – 191, 196, 198, 202, 205 f., 208 – 210, 216 Idealismus 15, 322, 384, 395, 401, 580, 616, 660, 815, 1023, 1107 – 1109, 1123, 1223 f., 1300 f., 1339, 1386 imitation 547, 558 f., 885, 916 Immanenz 925, 1215, 1221, 1370 Indeterminiertheit (indeterminacy) 308, 332 – 333, 586 – 588, 747, 1118, 1128, 1131, 1142 – 1149, 1152, 1156 f., 1161, 1166 – 1168, 1174 – 1177 Information 7, 78, 86, 118, 284, 377, 416 f., 423 f., 492, 519, 541 f., 548, 554, 561, 569, 572, 604, 623, 681, 862, 902, 922, 979, 992, 1034, 1086, 1093 – 1095, 1250, 1408 f. inquiry 1134, 1141, 1219, 1279 – 1284, 1286 – 1288, 1290 – 1294, 1299, 1301, 1304, 1346, 1354, 1358 f., 1362, 1394 f. Instrumentalismus (instrumentalism) 1279 – 1285, 1288, 1290 f., 1293 f., 1298 f., 1301, 1304, 1307 – 1309 intellectus fidei 635 Intention 154, 231, 269, 274, 280, 313, 345, 494, 513, 523, 592, 594, 598 – 601,
605 f., 620, 673, 753, 779, 924, 940, 1141, 1145, 1207, 1346 Interkulturell 157, 169 f., 184, 187, 189, 202, 209, 213, 743, 1165 Intermodale Integration 419, 422, 424 Internalismus, internalistisch 22, 263, 529 f., 1192, 1201, 1224 f. interpretationalistisch (interpretationalistic) 1345 f., 1348, 1353 – 1355, 1359, 1362 f. Interpretation (interpretation) 5, 8 – 28, 30 – 37, 39 – 42, 55 – 61, 63 – 67, 69, 71 – 74, 76, 78 – 94, 97 – 99, 101 f., 105 – 111, 113 f., 116 – 118, 120 – 131, 133, 136 – 138, 143, 145, 148, 150 – 160, 164 – 167, 170 – 172, 175 – 183, 185, 196 f., 199 – 201, 219 f., 237, 246 f., 251 – 256, 262, 264, 289 f., 292 – 297, 299 f., 305 – 325, 328 – 330, 333, 341 – 346, 348 f., 353 f., 357 – 372, 375 – 377, 379 – 384, 386 f., 392, 399 – 403, 405 – 412, 425, 429, 432, 438 f., 449, 463, 465 f., 468 f., 471 – 473, 483, 487, 496, 504, 507, 523, 530 f., 539, 541, 559, 575, 578 – 583, 587, 592, 594 f., 597 f., 600, 606, 614 – 616, 625, 633 f., 647, 649, 652, 654, 658 – 660, 663 f., 675, 677, 682, 687 – 689, 692 f., 695, 697 f., 703 – 713, 716 f., 722, 725 – 734, 736 f., 740, 742 – 745, 747 – 757, 759, 763, 769 f., 772, 774, 779 – 786, 788 – 793, 795 – 802, 804 – 806, 808 f., 811 – 813, 816 – 819, 823 – 827, 829 – 832, 837, 848, 856 – 858, 867 f., 870, 872, 874, 882, 886 – 890, 895 f., 899 f., 903 f., 906, 910 f., 931 – 933, 938, 940, 947, 956, 968 – 973, 977, 986, 998 f., 1005 – 1010, 1019 f., 1035 f., 1039 f., 1056, 1059 – 1067, 1069, 1071 – 1073, 1077 – 1079, 1081, 1085, 1087, 1103 – 1107, 1110 – 1113, 1118, 1131 – 1133, 1141, 1143, 1145 – 1147, 1149, 1152 f., 1158, 1161 – 1165, 1167 – 1172, 1175, 1194, 1199, 1201 f., 1207, 1214, 1216 f., 1219, 1222, 1224 – 1229, 1233 – 1235, 1237, 1239 f., 1250, 1253, 1257, 1266, 1269 f., 1273 – 1275, 1280, 1308, 1313, 1315, 1317, 1319 – 1321, 1323 – 1331, 1335 – 1337, 1339, 1345 – 1363, 1365 – 1370,
Sachregister
1372 – 1374, 1377 f., 1385 – 1387, 1393 – 1399, 1404, 1407 f. – aneignende Interpretation 8, 22, 34, 117 f., 120, 123, 136, 145, 152, 220, 323, 362, 364, 370, 411, 637, 697, 874, 887 f., 890, 896, 898, 1105, 1168, 1349 Interpretationsethik 19, 26 f., 171, 191, 208, 212, 214, 218, 705, 779 f., 783 – 785, 787 – 793, 795, 799, 1387, 1396, 1399, 1403 Interpretationsphilosophie 5 – 8, 12 f., 16 – 29, 31, 34 f., 38, 40 – 42, 55, 57 f., 60, 65 f., 71, 79 f., 91, 97 f., 100 f., 111, 113, 121, 123, 144, 150, 152 f., 157, 159, 163 f., 166 f., 170, 172, 175 f., 190, 196 f., 199, 202, 205, 207, 227, 245, 264, 269, 289, 291, 317 f., 324, 341 f., 357 – 363, 375 – 377, 383, 391, 395, 399 f., 424, 427, 465, 500, 529, 551, 555, 575, 613, 617, 651, 664, 688, 704, 706, 725 f., 737, 749 f., 756, 761, 767 f., 770, 779 – 782, 785 f., 789 f., 792 f., 795, 801, 803, 805, 823, 835, 850, 853, 868 f., 895, 929, 947 f., 963, 967, 979, 998 f., 1004, 1038 f., 1043 – 1045, 1059 – 1062, 1077 f., 1085 f., 1107, 1110 f., 1115, 1122, 1124, 1161, 1184, 1193, 1199, 1207 f., 1213, 1215, 1219, 1221, 1224, 1227, 1229, 1231, 1233, 1245 f., 1248, 1252, 1257, 1259, 1263, 1267, 1274, 1297, 1307, 1313 f., 1320 f., 1323 f., 1330, 1332, 1334, 1365, 1368, 1386 f., 1393, 1395 f., 1399 f., 1408 Interpretationswelten 15, 19, 40, 89 f., 145, 155 f., 159, 172, 183, 267, 322, 451, 626, 661 f., 692, 695, 703, 749 f., 760 f., 779 f., 790 f., 795, 870, 947, 1105, 1110, 1112, 1115, 1198, 1208, 1222, 1233, 1238 – 1240, 1264, 1313, 1315, 1333 f., 1367, 1386, 1406 Interpretationismus (interpretationalism) 41, 55, 57, 60, 64 f., 79, 87, 143 – 145, 150 f., 154, 156, 158, 379, 384, 788, 1110, 1183 f., 1193 f., 1199 – 1204, 1207 – 1209, 1213, 1215 – 1217, 1219, 1229, 1313, 1319 f., 1323 f., 1334, 1338, 1345 – 1348, 1350 – 1355, 1357, 1359 – 1361, 1363, 1371, 1377, 1386, 1393
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Interpretativität, interpretativ 8 – 11, 13 – 18, 22 f., 25, 28, 31, 34, 36, 39, 57 f., 60 f., 63, 65 – 67, 72 – 79, 81 – 83, 85 f., 88 – 90, 92 f., 97, 99, 101, 106, 110, 113 – 115, 117, 120, 122 f., 127 f., 130 f., 133, 136, 144 f., 153, 159, 163 – 165, 167, 172, 175 f., 213, 249, 254, 256 f., 261, 289, 292, 300, 302, 318, 320 – 323, 325, 328 – 331, 361 f., 368, 371, 377, 399, 401 f., 412, 424, 433 f., 449, 465 f., 468 f., 472, 474, 477, 560, 663, 687, 690 f., 695, 697, 725 f., 728, 737, 750 f., 755 f., 758, 761, 767 – 771, 773 f., 780 f., 784, 787 f., 792, 803, 807 f., 811, 826, 828, 870, 909, 938 f., 942, 968, 993, 1009 f., 1059 – 1062, 1086, 1093, 1104 f., 1117, 1121, 1132 f., 1147 f., 1153 f., 1161, 1164, 1175, 1199, 1201, 1217, 1227, 1257, 1266, 1269, 1305, 1309, 1314 f., 1318 – 1321, 1327 f., 1330, 1335 f., 1347 – 1352, 1354, 1360 – 1362, 1365, 1367 – 1375, 1377, 1385, 1395 Irrationalität 1186 Irrealismus 616, 661, 907 f., 1300, 1339 ius cogens 716, 720 f., 739, 742, 744 Kausalerklärung 1219, 1231 Knowing-How (knowing how) 29 f., 121, 132, 174, 183, 220, 427, 483 – 486, 488 – 494, 497, 499 – 503, 505 – 510, 513 f., 516, 519, 526, 529, 532, 535, 538 – 543, 545 f., 548 f., 551 – 562, 974, 1019 f., 1037 – 1040, 1051 f., 1060, 1235, 1279, 1298, 1403 Knowing-That (knowing that) 30, 174, 427, 483, 492, 497, 500, 503, 505 f., 509 f., 539, 545, 551 – 558, 561 f., 1052, 1235, 1298 knowledge 30, 33, 263, 310, 331, 366, 445, 483, 490, 525 f., 536, 539 – 543, 545 – 548, 587, 597, 633, 663, 703, 977, 1019, 1132 – 1134, 1137, 1139 – 1141, 1143, 1145, 1148 – 1153, 1159, 1196, 1223, 1238, 1245, 1279 f., 1291, 1293 f., 1345 f., 1350, 1358, 1362 f., 1390 – 1392, 1401 – 1406
1442
Sachregister
Kognition 28, 33, 271, 435, 520, 653, 729 f., 742, 803, 805, 969, 1080, 1252, 1297 f., 1303, 1318, 1387, 1396 kognitiv 27, 31, 37, 59, 126, 176, 178, 192, 250, 366, 391, 418, 424, 427, 439, 442, 478, 522, 525, 534, 542 f., 619, 623, 625, 656, 690, 803, 850, 854 f., 862, 865, 885, 925, 967, 1005, 1038, 1064, 1085, 1094, 1098, 1169, 1172, 1222, 1297, 1329, 1335 Kohärentismus 1107 – 1111, 1115, 1123 – 1126, 1129, 1199 Kohärenz 20, 37, 59, 184, 192 f., 196 f., 200, 207, 215, 218 f., 267, 439, 477 f., 715, 727, 774, 805, 907, 1118, 1193, 1195, 1200, 1203, 1215 – 1217, 1272 f., 1301 Kommentare 82, 363, 437, 763, 1115, 1396 Kommunikation 6 f., 16, 24, 78, 88, 102, 121 f., 129, 132, 149, 154, 157, 168, 174, 177 – 179, 181, 184, 205 – 210, 213, 215 – 219, 221 f., 240 – 242, 246, 289, 335, 364, 371, 403, 405, 408 f., 424, 467, 503, 559, 581, 653, 729 f., 742, 803, 805, 830, 858, 870, 885, 890, 908, 922, 955, 960, 969, 1007, 1021, 1027, 1029, 1032, 1034 f., 1038, 1052, 1054, 1085, 1121, 1124, 1163, 1198, 1235, 1252, 1258, 1272, 1297 f., 1331, 1340, 1381, 1403 Kompetenz 9, 29 f., 61, 132 f., 220, 254, 276, 500, 508, 515, 527, 529, 532 f., 539 – 541, 543, 552, 655, 692, 713, 874, 974, 1049, 1052 f., 1056, 1094, 1258, 1276, 1402, 1411 Konflikte 217, 678, 798 f., 806, 1259 Konfliktlösung 786 Konjunktur 59, 69, 568, 1372 Können 12, 29 f., 264, 268, 445, 501, 513 – 527, 529, 531 – 536, 540, 592, 599 f., 605 – 607, 622, 708, 974, 1037 f., 1049, 1054, 1060, 1248, 1259 Konstrukt 63, 123, 184, 300, 321, 399, 432, 435, 467, 470, 576, 579, 582 f., 586, 588, 613, 617 f., 621, 627, 657, 688 f., 695 f., 749, 751, 767, 824, 940, 1008, 1010, 1087, 1125, 1165, 1168, 1175, 1268, 1275, 1309, 1313, 1315, 1317, 1326, 1332 f., 1336
Konstruktion 37, 39, 55, 58, 63, 65, 67, 71, 75, 79, 81, 87 f., 90, 127, 133, 170, 174, 233, 268, 290, 376, 399, 433, 557, 573, 587 f., 619, 621, 626, 628, 646, 674, 691, 695 f., 823 f., 837, 920, 951, 956, 984, 991, 993 – 996, 1098, 1109, 1171, 1272, 1372, 1379, 1387, 1396 Konstruktivismus, konstruktivistisch 59, 65, 69, 87 f., 144, 159, 163, 399, 402, 429, 433, 761, 897 f., 1123, 1335, 1377 Kontext 9, 11, 19, 29, 31, 36, 73, 119, 128, 153, 174, 182, 217, 278, 292, 320, 326, 328, 376 f., 410, 422 f., 425, 524 f., 532, 555, 567, 586, 598, 619, 623 f., 633, 705, 708, 728, 773, 805, 813, 897, 905, 987, 998, 1008, 1010, 1021, 1052, 1065 f., 1068, 1071 – 1074, 1079 f., 1090 f., 1162, 1172, 1251, 1254 f., 1269, 1272, 1304, 1309, 1318, 1338 Konvention 9, 11, 16, 153, 159, 174, 220, 255, 259, 280, 283, 320, 324 f., 329, 443, 504, 539, 573, 578, 691, 697, 716, 771, 806, 874, 961, 975 f., 998, 1005, 1046, 1090, 1168, 1170, 1319, 1329 Kooperation 6, 78, 80, 88, 121 f., 129, 132, 137, 166, 177, 181, 183 f., 206 f., 209 f., 213, 215 f., 218 f., 221 f., 246, 271, 275, 292, 301, 330, 335, 361, 364, 371, 403, 409, 428 f., 436, 440 – 442, 445, 467, 479, 503, 537, 556, 565, 584, 653, 729 f., 742, 803, 805, 830, 908, 967, 969, 1007, 1052, 1079, 1085, 1088, 1092, 1098 f., 1163, 1202 f., 1235, 1252, 1273, 1297 f., 1331 f., 1340, 1381 Koordination 220, 275, 279 – 281, 423, 973, 1081, 1273 Korrespondenz 25, 59, 333, 425, 715, 727, 1298, 1301 Korrespondenztheorie 163, 659, 1297 Kosmologie 664, 667, 669 f., 673, 675, 681 – 685, 687, 1166, 1169, 1174, 1176, 1178 Kosmos 656, 663 f., 666, 670 – 675, 677 – 682, 684, 687, 697, 1172 Kreativität (creativity) 31 f., 147, 503, 584, 595, 599, 605 – 607, 622, 627, 997, 1007, 1012 – 1015, 1059, 1062, 1080, 1085 f.,
Sachregister
1095 – 1097, 1099, 1131 – 1140, 1143 – 1147, 1149 – 1153, 1156 – 1159, 1161, 1166 – 1173, 1176, 1178, 1190, 1387, 1390, 1400 f., 1406, 1409 f. Kulturrelativismus 728, 743, 784, 1222, 1232 Kunst 8, 41, 146, 148, 159, 165, 183, 242, 261, 298, 323, 363, 385, 388, 412, 578, 586, 625 – 628, 747, 754 f., 767, 813, 819, 837, 867 – 871, 876 – 888, 890 – 892, 895 f., 910 – 913, 915 – 919, 921, 923 – 928, 932, 942, 951, 953, 956 – 959, 961, 967, 983, 991, 994, 1007, 1009, 1011 f., 1037 f., 1062, 1066, 1259, 1327, 1329, 1387, 1393, 1397, 1400, 1403 Lebensform 11, 22, 24, 35 f., 38, 40, 56 f., 80, 100 f., 123, 183, 305 – 307, 309, 314, 329 – 331, 525, 535, 538, 623 – 625, 627 f., 782, 809, 958, 961, 1173, 1228, 1387, 1399, 1401, 1406 Lebenspraxis 11 f., 17, 24, 30, 34, 154, 159, 243, 273, 428, 623, 772, 781 f., 791 – 793, 803, 805 f., 899, 1183, 1273 Lebenswelt 26, 29 – 31, 37 f., 63, 78, 159, 165, 177, 182 f., 193, 199, 201, 210, 213, 329 – 331, 424, 428, 577 – 579, 613, 621 – 629, 706, 735, 769, 792, 795, 797, 801, 803, 805, 807 – 809, 869, 892, 899, 904, 1004, 1035, 1040, 1049, 1098, 1186, 1196, 1201 f., 1258, 1272, 1327, 1367, 1369, 1390, 1401 – 1404 Leib, Leiblichkeit 10, 25, 156, 158, 168, 255, 273, 325, 375 – 378, 384, 389 – 395, 399 f., 407 f., 410, 521, 677, 732 f., 736, 1034 f., 1056, 1064, 1086, 1314 f., 1378, 1394 Letztbegründung 26, 34, 80, 159, 164, 192, 194, 196, 217, 728, 731, 738 f., 742, 770, 784, 787, 792, 808, 1024, 1216, 1302 Lichttheorie 838 Limitation 1143 f., 1351 f. linguistic turn 177, 239, 276, 1141, 1246 Logik 10, 13, 20, 23, 28, 36 f., 41, 76, 83, 86, 92, 138, 173 f., 210, 213, 248, 251, 253, 257, 265, 274 – 276, 293, 301, 327, 331, 348, 350, 355, 360, 379, 386, 444,
1443
471, 542, 578, 586 f., 635, 676, 707, 715, 718, 730, 809, 855, 865, 869, 871 f., 875, 877 f., 882, 896 – 898, 900, 903 f., 911, 953, 956, 959, 999, 1007, 1036, 1179, 1196, 1220, 1253 – 1255, 1257 f., 1263, 1265, 1267 f., 1270, 1275, 1328 f., 1378, 1381 f., 1387, 1393 Logos 36, 249 f., 269, 687, 855, 867, 869, 871 – 876, 881 f., 885 – 888, 890, 895 – 902, 1379 lottery puzzle 1291, 1293, 1299 Märtyrer 791 materialbegrifflich 283 – 286 Materie 571, 602, 604, 664 f., 669, 674 f., 681, 683 f., 693, 770, 826, 837, 1076, 1247, 1254 Mathematik 32, 174, 213, 251, 265, 275, 284, 290, 293, 343, 346, 585 – 587, 628, 639, 653, 674 f., 685, 690, 730 f., 784, 809, 837, 865, 969, 980, 1005 f., 1053, 1096, 1171, 1220, 1303 Matrix der Wissenschaftsphilosophie 647, 651 Meinen 36, 61, 101 f., 350, 353, 372, 442, 516 f., 520, 648, 708, 897, 1090, 1104 f., 1186 f., 1225, 1250, 1255, 1272, 1276 memory 1140, 1158, 1360 Menschenrechte 716, 718, 720, 725 f., 731 f., 735 – 745, 768, 770, 773, 798, 832 Menschenwürde 704, 709, 713, 716 – 719, 725, 731 f., 736 – 745, 773, 798 Metapher 19, 151, 177 – 179, 188, 222, 261, 267 f., 270, 384 – 386, 523 f., 527, 671, 760, 813, 820 f., 888, 899 f., 919, 926, 955 f., 977, 986, 1025, 1029, 1062, 1096, 1106, 1169 f., 1273, 1317 f., 1379 Metaphilosophie 1338 Metaphysik 15, 17, 39, 66, 81, 149, 159, 172, 213, 272, 342, 346 – 348, 355 f., 358, 390, 402, 465, 569, 591, 635, 638, 640 f., 644 f., 731, 788, 820, 855, 874, 885, 895 f., 901, 919, 925, 951, 956, 1014, 1031, 1063, 1088, 1213, 1222 –
1444
Sachregister
1225, 1227, 1229, 1233, 1235 f., 1301, 1372, 1379, 1389, 1393 f., 1407 – deskriptive Metaphysik 58, 60, 195, 213, 215, 418, 605, 717, 831, 906, 975, 1099, 1222, 1224, 1227, 1233, 1236 Metastufen 1317, 1320, 1337 f. Methoden- und Auslegungslehre 163, 711 f., 726, 751 – 753, 757, 759 f., 767 – 769, 771, 980, 1366 Methodologie, methodologisch 41, 76, 146, 206, 209, 218, 412, 537, 1313, 1323 – 1325, 1327, 1330, 1338 f., 1371 methodologischer Interpretationismus 1338 millipede syndrome 547 Modell 8 – 11, 15, 25, 28, 32, 35, 37 f., 72, 105, 115, 165, 174, 181, 192, 194 f., 199, 201 f., 220, 264, 267, 277, 302, 320, 324, 326, 367 f., 373, 389, 391 f., 400, 419 f., 427, 429 – 434, 440, 442, 444 – 446, 475, 479, 501 f., 504, 513, 523, 525 – 527, 534, 537, 555, 560 f., 567, 571 f., 577 f., 581, 588, 613, 615, 619, 628, 639 f., 653, 656 – 659, 664, 675, 678, 683, 687 f., 690 f., 693 – 698, 733, 805, 825, 849, 860, 864 f., 905, 913, 943, 956, 972, 977, 992, 1005 – 1007, 1043, 1045, 1047, 1053 f., 1076, 1078, 1086, 1089 – 1091, 1093, 1096, 1107, 1129, 1161, 1167 f., 1171 f., 1175, 1177, 1192, 1210, 1222, 1227, 1237, 1250, 1272, 1275, 1302, 1305, 1308 f., 1317, 1328 f., 1336 – 1338, 1372 – 1374, 1385, 1387, 1395, 1398, 1402, 1408 Modellpsychosen 421 Moderne 24, 37, 97 – 99, 157, 168, 195, 248, 326, 387, 390, 473, 559, 565, 580, 614, 621, 623 f., 628, 637, 669, 672, 674 – 676, 682, 684, 687, 711, 760, 811 – 815, 818, 820, 826 f., 867, 879, 881 f., 884, 887, 912, 920, 923, 950 f., 953, 958, 961 f., 993, 997, 1022, 1027, 1031, 1051, 1178, 1184, 1201, 1208 f., 1220, 1223, 1331, 1385 Möglichkeit 7, 15, 19, 21, 32, 34, 39, 64, 69, 73, 83, 90, 101, 104, 108, 124, 129, 134, 137, 151, 158, 165, 184, 197, 210, 212, 215, 217, 233, 258, 266 – 268, 275,
279, 281 f., 284 – 286, 289, 294 – 298, 333, 347 f., 353, 366, 391, 402, 410, 417, 430, 465, 475, 518, 523, 534, 557, 588, 592, 594, 601 f., 604, 617 – 620, 625, 629, 641, 643, 652 f., 658, 664, 671, 681, 689, 694, 705, 729, 731, 733, 737, 739, 742, 752, 759, 768, 774, 787, 789, 791, 796, 798 f., 802, 814, 818, 820 f., 826, 832, 860, 870, 875, 884, 891, 899, 921, 923 f., 931, 934, 941, 952 f., 998 f., 1022, 1024, 1029, 1050, 1057, 1065, 1067, 1079 f., 1085, 1089 f., 1095, 1112, 1115, 1117, 1119, 1121, 1127, 1172 f., 1176, 1185, 1191, 1195, 1198, 1221, 1224, 1226, 1232, 1239, 1265, 1270, 1276, 1297, 1299, 1302, 1306, 1321, 1326, 1338, 1376 f. Monismus 392, 577, 827, 1112 – interpretationspluralistischer Monismus 1112 Musik 8, 122, 160, 247, 251, 260 f., 268, 334, 386, 403, 409, 411, 466, 475, 506, 532, 670, 690, 862, 867, 890, 911, 913, 916, 918 – 925, 927, 929 – 940, 942, 950, 969, 972, 980, 1004 f., 1036, 1038, 1048, 1076, 1122, 1366 f., 1370, 1377 Musikästhetik 929, 1005 Mythos des Gegebenen 1108 f., 1115, 1124, 1184, 1200 f. Natur 8, 32 – 34, 56, 78, 149, 151, 179 f., 241, 258 – 261, 281, 306, 318, 321 f., 343 f., 346, 352, 393, 412, 419, 425, 437, 450, 470, 483, 488 – 492, 502, 520, 587, 599, 605 f., 619 f., 643 f., 655 – 658, 663 f., 671, 674, 676 f., 680 f., 690, 707, 726, 731, 735, 801, 803, 837, 867, 875, 877, 879 – 882, 884, 888, 918, 980, 984, 986, 991, 995, 1085, 1095, 1103, 1132, 1134, 1137 – 1139, 1151 – 1153, 1155, 1158 f., 1166, 1172, 1177, 1194, 1198, 1214, 1219, 1223 – 1225, 1233 – 1235, 1245, 1336 Naturalismus 26, 33 – 35, 393 f., 526, 1194 – 1196, 1209, 1214 f., 1219, 1221 – 1223, 1225, 1227, 1231 – 1235, 1239, 1304 f., 1386, 1394
Sachregister
natürliche Disposition 1224 f., 1233, 1235, 1386 Naturphilosophie, naturphilosophisch 32, 665 f., 672, 674, 1176, 1178 Naturwissenschaft, naturwissenschaftlich 32, 146 f., 153, 343, 355, 417, 430, 507, 513, 519, 526 f., 529, 537, 577, 581, 593, 628, 639, 663, 665, 673, 676 – 678, 681, 684 f., 687, 707, 970, 972, 982, 1036, 1051, 1178, 1221, 1232, 1303, 1306, 1336 Neurobiologie 418, 424, 427, 435, 1221, 1231 Neurophilosophie 391 – 395 Neurophysiologie (neurophysiology) 548 f., 556 Neurowissenschaft 41, 257, 327, 376, 391, 395, 400, 405, 407, 429, 435 – 442, 537, 556 f., 695, 1332 Normativität 19, 26, 30, 36, 156, 217, 280, 406, 499 – 505, 510, 535, 541, 622, 705, 708, 717, 782 f., 788 f., 796 – 798, 801, 808 f., 903, 909, 1093, 1252, 1297, 1339 Norm, Normen 25, 36, 126, 154, 230, 263, 270 f., 274, 309, 311, 320, 329, 442, 483, 485 f., 488 – 494, 497, 502, 510, 561, 583, 621 f., 703, 710 – 717, 720 f., 728, 734 – 738, 740 f., 773, 787, 790 – 793, 796 – 798, 804, 806, 809, 1046, 1093 – 1095, 1099, 1150, 1156, 1159, 1169, 1177, 1188, 1221, 1257, 1272, 1304, 1339 Nützlichkeit, das Nützliche 875, 885, 917, 957, 1032 Objekt 7, 10 f., 13, 15 f., 18 f., 24, 29, 32 f., 40, 76, 78, 117, 123, 125 f., 153 – 155, 229, 236, 250, 254, 257, 261, 300, 318, 320 – 322, 347, 359, 367, 384, 388, 405, 417, 421, 434, 441, 466, 509, 531, 533, 565 f., 569 – 573, 575 – 588, 592 f., 595, 597 – 599, 601, 618, 621 f., 640 f., 643 f., 658, 667, 673, 680 f., 683, 694 – 698, 716, 737, 745, 754, 811 f., 814 f., 817 f., 835, 850, 853, 878, 948, 967 f., 970 f., 998, 1049, 1062, 1066, 1096, 1124, 1171, 1178, 1201, 1220, 1254, 1307, 1317 –
1445
1320, 1324 – 1326, 1332, 1340, 1365, 1369 f., 1373 – 1375, 1381, 1402, 1406 Offenheit der Interpretation 703, 705, 722, 729 Öffentlichkeit 29, 276, 543, 785, 793, 808, 817, 823, 830 f., 891, 958, 1257, 1387 one-answer-thesis 758 Ontologie (ontology) 13, 18, 60, 77, 124, 165, 172, 272, 310, 314 f., 391, 423, 463, 465, 583 f., 591 – 604, 609, 613 – 616, 622, 747, 769, 871, 876, 1118, 1132 f., 1142, 1144, 1148, 1154, 1157, 1161, 1166 – 1169, 1174, 1176 – 1179, 1266, 1301, 1314, 1325, 1345 f., 1355 – 1359, 1362 f., 1365 f., 1371, 1376 – 1379, 1382, 1392 – deflationary ontology 1363 Orientierung 6 f., 29, 36, 42, 60, 62, 81, 126, 146, 171, 175 f., 213, 238, 270, 275, 282, 319 f., 323, 354, 366, 376, 401, 428, 478, 529, 561, 621 f., 627, 655, 707, 779, 855 – 857, 859, 863, 897, 903, 907, 910, 912 f., 958, 961, 1020, 1023, 1027 f., 1031 – 1033, 1035, 1039 f., 1043 – 1045, 1047 – 1049, 1052 – 1057, 1067, 1072, 1075, 1077, 1079, 1089, 1091, 1094, 1121, 1126, 1162, 1165 f., 1266, 1272 f., 1328, 1339, 1381, 1396, 1402, 1406, 1411 Paradox, Paradoxie 127, 307, 566, 754, 865, 991, 998, 1022, 1024 – 1030, 1032, 1038 f., 1183 f., 1186, 1189 f., 1192, 1203, 1208, 1287, 1291, 1293, 1336, 1381 – paradoxes of cognition 305 Passivität 65 f., 1107, 1128 f. Person 6, 8 – 12, 19 f., 36 f., 74 f., 77, 81, 83, 89 f., 92, 115 f., 122, 125, 132, 134 f., 137, 169 f., 175, 177, 183 f., 196 f., 205, 207, 209 – 212, 215 f., 218 – 220, 236, 238, 246, 250, 260 f., 263, 269, 280, 292 f., 302, 306, 308, 314, 318, 328, 330, 332 f., 344, 349, 368 f., 408 – 410, 416, 428 f., 435, 439 – 442, 446, 469, 475 – 478, 483, 485, 490, 501, 503, 517 – 519, 530, 538 f., 542 f., 555, 559, 588, 627 f., 653, 655, 703, 705 – 708, 710, 721 f., 728, 733, 735 f., 740 f., 783, 789, 792, 796, 798 – 801, 803 – 805, 812, 830,
1446
Sachregister
832, 862, 897, 899, 905, 910, 937, 975, 998, 1029, 1043 – 1045, 1048, 1055, 1060 f., 1063 – 1073, 1075, 1078 – 1080, 1085 f., 1088 – 1091, 1097, 1099, 1107, 1129, 1132, 1142, 1144, 1150, 1153, 1165, 1170, 1173, 1197, 1202 f., 1224 f., 1229, 1233, 1238 f., 1269, 1272 – 1274, 1276, 1293, 1303 f., 1326 – 1328, 1331, 1341, 1349, 1378 Perspektive 5, 8, 17, 27, 31, 34, 39, 41 f., 59 f., 65, 80, 87, 89, 99 f., 108 f., 115 f., 118, 134, 136, 152 f., 160, 169, 171, 173 – 175, 180, 184, 191, 205, 208 – 210, 212, 214 – 217, 221, 236, 238, 251 f., 261, 283, 289, 291, 299, 302, 320, 325, 347, 359, 386, 388 – 390, 409, 431, 470, 472 f., 475, 517 – 519, 537, 551, 554, 565, 570, 572, 576, 586, 617 f., 620, 623, 659, 663, 667, 688, 706, 717, 727, 735 – 737, 739, 742 f., 783, 792 f., 807, 813, 815, 829, 832, 859, 877, 901, 905, 911, 953, 955, 980 – 983, 997, 1003, 1005, 1011 f., 1020, 1022 – 1024, 1027, 1033 f., 1050, 1055, 1061 – 1066, 1068 – 1075, 1077 – 1081, 1085 – 1099, 1115, 1125 f., 1168, 1174 – 1177, 1185, 1193, 1250, 1252 f., 1256, 1258, 1266, 1268, 1276, 1302 – 1304, 1309, 1314 f., 1320 f., 1326, 1331 – 1334, 1336, 1374, 1386 f., 1394, 1396, 1398, 1400, 1408 – epistemische Perspektive 905, 1066, 1077, 1088 – 1094, 1097, 1099, 1168, 1174 – 1177 Perspektivierung 63 f., 83 f., 134, 535, 538, 581, 584 – 586, 588, 618, 620, 627, 773, 856, 903, 905, 913, 1054, 1059, 1069, 1073 – 1075, 1077 – 1080, 1085, 1087 f., 1091 – 1093, 1095 – 1097, 1099, 1127, 1269 Perspektivismus 17, 38, 55, 384, 390, 781, 785, 906, 1032, 1061, 1074, 1085 – 1088, 1092 f., 1095, 1106, 1193 f., 1316, 1320, 1395 Perspektivität 17, 39, 42, 390, 577, 579, 582, 584, 622, 913, 1023, 1061 – 1065,
1067 – 1071, 1073 – 1079, 1085 – 1087, 1090 – 1093, 1095 f., 1119, 1176, 1399 – epistemische Perspektivität 577, 582, 1067 – 1077, 1087, 1090 – 1093, 1119 pessimistic induction 1283 f., 1286 f., 1299, 1301 Phänomenologie, phänomenologisch 41, 91, 115, 150, 173, 350, 355, 392, 395, 404, 415, 431, 476, 836, 853 f., 857 – 859, 865, 872, 910, 926, 1070, 1097, 1122, 1177, 1215, 1220, 1231, 1253, 1255, 1263, 1265, 1267, 1270, 1275, 1338, 1369, 1371, 1405 Phantastisches Tier 375 philosophische Methode 174 f., 438 Physik 294, 321, 346, 369, 405, 417, 419, 430, 445, 502, 533, 577, 585, 619, 639, 653, 657, 663 f., 666, 673, 675 f., 682 – 685, 687 f., 693, 696 f., 754, 856, 874, 993, 1049, 1051, 1053 f., 1096, 1178, 1221, 1231, 1258, 1303, 1308, 1374 Physikalismus (physicalism), physikalistisch 34, 89, 327, 365, 392 – 394, 404 f., 548, 554, 905, 1087, 1122, 1221 f., 1231 – 1233, 1305 f., 1331, 1367, 1369 Pluralismus 19, 40, 184, 196 f., 572, 709 – 711, 743, 781, 1068, 1387, 1389, 1396 Pluralität 19, 34, 40, 42, 59, 123 f., 156 f., 171, 183 – 185, 212, 248 f., 256, 267 f., 295 f., 408, 410, 475, 651 – 653, 657, 710, 726, 728, 731 – 733, 735, 742, 791, 796 f., 799, 802, 816, 820, 902, 975, 999, 1011, 1050, 1060, 1065, 1106, 1110 – 1113, 1115, 1117 – 1122, 1213, 1396 Poetisierung 375, 378, 386 f., 389, 391, 395, 407 Politik 27, 166, 543, 626, 703, 705, 710, 716, 725, 779 f., 802, 806, 809, 819 f., 831, 874, 1201, 1218, 1385, 1389, 1396 practice 5, 97, 263, 306, 309 – 313, 332, 483, 485 – 494, 496 f., 502, 546 f., 707, 1155, 1256, 1282, 1284 – 1289, 1294, 1345, 1348 f., 1351, 1354, 1362, 1405 Pragmatik, pragmatisch 12, 19 f., 24, 26, 34, 36, 40, 59, 103, 113, 118, 128 f., 136, 138, 196 f., 199 f., 217 f., 246, 254, 292, 327 f., 330, 333 f., 336, 343, 347, 353,
Sachregister
355, 368, 370 f., 377, 408, 410, 416 f., 423 f., 427, 446, 471, 539 – 541, 656, 688, 693, 705, 729 f., 761, 772, 787, 808 f., 875 f., 903, 978, 1007, 1069, 1128, 1195, 1203, 1213, 1218, 1221, 1256, 1265 f., 1272, 1275, 1298 f., 1301, 1304, 1307 – 1309, 1318, 1331, 1337, 1400 Pragmatismus (pragmatism), pragmatistisch 41, 103, 105, 165, 322, 424, 428, 595, 659, 708, 761, 1186, 1246, 1256 f., 1263, 1271, 1274 – 1276, 1279 – 1294, 1297 – 1301, 1307, 1386, 1393, 1399 Präjudizien 762 f. Praktik 9, 11, 16, 20 f., 24, 29 f., 74, 84, 97, 100 – 102, 104 f., 107, 109, 111, 113, 121, 123, 126, 133, 135, 137 f., 153, 164, 192, 197, 212 f., 215, 220 f., 254 f., 259, 296, 330, 334, 364, 428, 443, 475, 478, 532 f., 543, 555, 557 f., 560, 578, 587, 625, 627, 689, 697, 874, 902, 938, 968 f., 974, 991 f., 998, 1006, 1013, 1038, 1046, 1049, 1051, 1053, 1097 f., 1229, 1234, 1237, 1239, 1249, 1254, 1302 – 1304, 1329 praktischer Syllogismus 604, 606 Präsentation 56, 477, 506, 706, 869, 920, 1381 präsentisch 265 – 268, 270, 279, 281 f., 286, 301, 303 Präsenz 92, 154, 261, 503, 751, 827, 837, 910, 920, 927, 932, 953, 961, 1240, 1366 f., 1375 – 1382 Präsupposition 21, 34, 37, 74, 82, 84, 169, 326, 332, 443, 661, 787 f., 793, 798, 829, 908 f., 1120, 1122 f., 1166, 1174, 1176, 1179, 1227, 1234, 1236, 1273, 1308, 1335, 1337 f., 1340, 1342, 1370 f., 1376 Praxis 10 – 16, 18 – 20, 22 – 26, 33 – 36, 39 f., 56, 63, 71, 86, 88, 92, 105 – 107, 119, 131, 137 f., 154, 157, 166, 192 – 195, 199 – 201, 218, 222, 233, 241, 246 f., 253, 289, 292 f., 296, 301, 305 – 309, 311 – 318, 322, 327 – 331, 333 – 336, 364 f., 367, 370 f., 408, 410, 425, 428, 449, 468, 499, 501 – 504, 506 – 508, 522, 530 f., 539, 541, 557, 559, 561 f.,
1447
575, 577, 583, 585, 592, 598, 614 – 616, 637, 705, 712, 718, 722, 726, 729 – 733, 735 f., 756, 769, 772 f., 796, 808 f., 857, 868, 870, 874, 890, 902 – 905, 909 f., 933 – 936, 967, 974, 982, 986, 993, 996, 998, 1006 f., 1011, 1035, 1053, 1060, 1065, 1079, 1094, 1099, 1107, 1125, 1165 f., 1198, 1222, 1224 – 1229, 1234 f., 1239, 1250, 1257, 1269 f., 1274, 1297, 1309, 1318, 1326, 1331, 1347 – 1350, 1357 f., 1360 f., 1363, 1386 preface puzzle 1287 – 1289, 1291, 1299 Prinzip 26, 37, 59, 199, 207 f., 212, 229, 233, 240, 260, 296, 341, 359, 391, 419, 427 f., 444, 479, 519, 569, 604, 653, 666, 670, 673, 675, 677, 682 – 684, 694, 697, 707 f., 714, 722, 756, 769, 792, 795, 800 – 802, 804, 807, 809, 818 f., 821, 832, 838, 849, 856, 875 – 877, 879 f., 886 f., 923, 925, 931, 968, 992, 998, 1007, 1025 – 1027, 1056, 1065, 1070, 1093, 1121, 1129, 1167, 1175, 1185, 1190, 1196, 1237, 1247, 1253, 1265, 1268, 1372, 1375, 1382, 1386, 1394, 1403 Prinzipien-Einsparung 1025 Prozess 9, 11, 13 f., 24 f., 27, 30 – 34, 39, 61 – 64, 67, 71 f., 74, 78, 82 – 84, 86, 92, 108, 113 f., 118, 121, 123 – 125, 133 f., 138, 155, 164 f., 168, 170, 174, 190, 199, 201, 205, 215 f., 218, 249 f., 254 f., 257 – 259, 265, 268 f., 273 f., 276, 279, 281, 284 f., 291 – 293, 299, 301, 317 – 323, 325 – 327, 329, 331 f., 335 f., 360, 363, 375 f., 379 – 386, 392 – 394, 399 – 401, 403, 405 f., 408, 411 f., 415, 419, 424 f., 427 – 429, 431 – 435, 438, 440 – 443, 445 f., 465 – 477, 500, 502, 504 f., 507, 520 f., 523 f., 526, 529, 532, 534 – 536, 538, 556 – 559, 561, 572, 576, 578, 580 f., 583 – 586, 591 – 595, 599, 601 f., 604 – 606, 613 – 621, 623, 625 – 628, 635, 651, 653, 658, 660, 669, 681, 687 f., 692, 695 – 698, 714, 720, 727, 729 f., 742, 759, 767, 773 f., 780, 795 – 802, 807, 809, 820, 824, 827, 829, 831 f., 848, 850, 856, 859, 861 – 864, 870 f., 878, 889, 895 – 899, 901 – 909, 911, 913, 921, 925, 929,
1448
Sachregister
931 f., 937, 939, 941, 955, 968 – 971, 993, 999, 1004, 1006, 1013, 1029, 1044 f., 1047, 1050 f., 1054 – 1056, 1060, 1064, 1072, 1079, 1086 – 1089, 1093, 1096 f., 1099, 1116 – 1118, 1120 – 1129, 1161 – 1164, 1166 – 1171, 1173 f., 1176 – 1179, 1199, 1216, 1236 – 1238, 1250, 1252, 1266 – 1269, 1271 – 1273, 1275, 1300, 1304 – 1306, 1308 – 1310, 1315, 1319 f., 1323 – 1328, 1330 – 1332, 1334 – 1338, 1340 – 1342, 1366 – 1382, 1399 Prozessphilosophie 614, 1161 Psychiatrie 427, 429, 432, 442, 445 f., 477 – 479, 859, 907, 1055 f. Psychologie 178, 405, 407, 419, 427, 435, 477 f., 527, 556, 577, 1055, 1169, 1195, 1221, 1232 Psychose 420, 429 Qualia (qualia)
84, 405
Rationalität, rational 7, 20, 25, 35 f., 42, 174, 187, 210, 213 f., 280, 292, 306, 309, 326, 335 f., 346, 438, 442, 486, 635, 651, 656, 665 f., 672, 693, 709, 732, 735 f., 738, 758, 773 f., 803, 807, 830 f., 855, 897, 919, 999, 1068 f., 1094, 1108 – 1111, 1122 – 1124, 1128, 1133, 1184, 1186, 1188 – 1190, 1194, 1196 f., 1200, 1202 f., 1209, 1214, 1218, 1247, 1252, 1256, 1263, 1269, 1271 – 1273, 1275, 1303, 1306, 1372, 1386, 1397 Raum 9, 11, 13, 33, 40, 62, 64, 74 f., 82, 117 f., 153, 155, 165, 182, 220, 241, 246, 255, 259, 273, 296, 299 f., 303, 320 f., 325 f., 343, 350, 362, 372, 401, 404 f., 407, 425, 444, 467 f., 470 f., 596, 621, 665, 668 f., 672 – 674, 679 f., 682 – 685, 693, 695, 697, 731, 737, 771 f., 817 – 821, 826, 838, 847, 864, 867, 903, 922 f., 925, 938 f., 948, 951 – 963, 967 – 971, 1005, 1044, 1062, 1066, 1075 f., 1086, 1089 – 1091, 1117, 1119, 1121 f., 1164, 1168 – 1171, 1173, 1177, 1258, 1303, 1307, 1326 f., 1331, 1333 f., 1381 – Raum der Gründe 214, 654, 773, 803, 855, 1275 f.
– öffentlicher Raum 7 f., 42, 408, 425, 811, 818 – 821, 825, 830 – 832, 909, 1060, 1085, 1258 Raumbegrenzung 948, 953, 959, 969 f. Realismus (realism) 15, 41, 59 f., 65, 77, 91, 154, 158, 163, 166, 175, 305, 314, 322, 326, 332, 402, 434, 473, 580, 592, 595, 597, 599 f., 633, 648, 658 – 662, 709, 816, 829, 878, 897, 907, 1019, 1035, 1107, 1110, 1112 f., 1123, 1133, 1148, 1223, 1239, 1281, 1283, 1300 f., 1313, 1328, 1339 – 1342, 1376, 1386, 1393 f. – interner Realismus 41, 154, 158, 648, 658 – 660, 1019, 1110, 1112 – metaphysischer Realismus 60, 154, 158, 163, 580, 659, 1113 Realität 15, 25, 59, 144, 257, 267, 332, 352 f., 380, 475, 592, 599, 601, 613, 648 f., 652, 657 f., 661, 688, 693, 698, 707 f., 814, 816, 829, 880 f., 890 f., 907 – 909, 918, 920, 967, 1006, 1019 – 1021, 1087, 1122 – 1124, 1166, 1200, 1259, 1268, 1298, 1300, 1315 f., 1319, 1328, 1331, 1340 – 1342, 1368, 1376, 1396 Realitätshaltigkeit 651 f., 658 – 660, 1125 Recht 8, 27, 353, 703 – 722, 725 – 745, 747 – 764, 767 – 775, 785 f., 789 – 794, 798, 806, 818, 831 f., 1004, 1037, 1272, 1329 Rechtsnorm 711 – 717, 721, 740, 752, 791, 793 Rechtsordnung 27, 704, 706, 713, 726, 732, 734, 737 f., 790, 969 Rechtspositivismus 712, 731 f., 735 f., 740 Rechtsprechung 713, 726 f., 734, 760 Rechtsrelativismus 710, 725 Rechtssatz 704, 717 Rechtsschöpfungsverbot 712 Rechtssicherheit 709 Rechtsstaat 704, 710, 726 Rechtswissenschaft 716, 722, 747 – 749, 760, 762, 771 Reductio ad absurdum 1187, 1189 f., 1196 Reduktionismus 393 f., 410, 429, 436, 529, 1196 f., 1209, 1214, 1221 f., 1231 – 1233, 1331
Sachregister
Referenz 22, 33, 78, 86, 94, 128, 168, 182, 228, 259 f., 328, 330, 366, 428, 442, 530, 540, 570, 572, 579, 586, 599, 659, 807 f., 861, 879 f., 908, 926, 931, 934, 972, 978, 1006, 1010, 1019, 1022, 1045, 1122, 1163, 1220, 1325 – 1327, 1331, 1337, 1340 f., 1386, 1396 Reflektiertes Gleichgewicht / Equilibrium (reflective equilibrium) 26, 187, 191 – 199, 212, 216, 218, 801, 809 Regelfolgen (rule following) 11, 30, 40, 104, 126, 306, 309, 329, 334, 485 f., 488, 491 – 493, 501, 503 – 505, 546 f., 1053, 1199 Regel (rule) 13, 19, 25, 31 – 33, 85 f., 102, 105, 145 f., 172, 174, 191 f., 197, 201, 218, 221, 249, 263 f., 276, 284, 290, 305 – 313, 327, 329, 331 – 335, 343, 438, 442, 449, 465, 471, 483, 485 – 495, 501 – 505, 509 f., 515, 533, 540, 542, 546 f., 561, 571, 579, 586, 591, 597, 606 f., 621 f., 624 f., 634, 659 f., 693 f., 711 – 715, 720, 726 f., 734 f., 758, 793, 797, 804, 807, 818, 832, 835 f., 856, 862, 870, 899, 929 f., 935, 981, 994, 996 f., 1013, 1024, 1029, 1032 f., 1039, 1049, 1053, 1057, 1099, 1118, 1126, 1159, 1169 – 1171, 1210, 1226, 1252, 1257, 1272, 1276, 1291, 1345, 1361, 1372, 1374, 1377 Regularität, regularity 13, 18 f., 31, 37, 119, 218, 329, 335, 449, 488 – 490, 499, 501 f., 504, 507, 510, 541, 1039, 1053, 1060, 1362 Relativismus, relativistisch 6, 15, 20, 22, 26, 35, 37, 79 f., 158, 172, 193, 322 f., 326, 328, 330, 336, 365, 383 f., 399 f., 471, 617, 653, 658, 661, 682 f., 687, 689, 708 – 711, 728, 730, 737, 743, 760, 769, 779 f., 787, 794, 801, 871, 975, 1050, 1068, 1109, 1119, 1183 f., 1200 – 1202, 1221, 1224, 1226, 1232, 1235 f., 1239 f., 1250, 1256, 1259, 1271, 1304, 1331, 1377 f., 1386 remembering 557, 1345 Repräsentation (representation) 31, 33, 90, 97, 105, 130, 163, 177, 266, 268, 274 f., 279, 281, 297, 387, 401, 406, 546, 548,
1449
551, 557 – 562, 835, 853, 868 f., 878 – 880, 882 – 885, 890, 920, 927, 978, 1064, 1153, 1240, 1281 f., 1317, 1351 f., 1374, 1386, 1396 Responsivität 68 f. Rezeptionsästhetik 924, 929, 940 Rezeptivität 65 – 67, 303 Richter 179, 713 f., 748 f., 753, 758 f., 762 f., 767, 770 – 772, 774 f., 1188 Routine 385, 500, 504, 1033, 1037, 1039 Sachverhalt 7, 40, 57, 131, 228, 243, 273, 283, 295, 299, 303, 422, 442, 581, 648, 709, 711, 715, 726, 749, 767 f., 770 f., 1069, 1093, 1265, 1306 Sagen 23, 29, 40 f., 61, 68, 130, 505 f., 508, 871, 888, 898, 915, 919, 923 f., 927, 929, 933, 1201, 1378 Satz der kausalen Geschlossenheit der physikalischen Welt 1221 Satzsystem 638, 658 Schema-Interpretationismus 1321 Schicht, Schichtenlehre 147, 366, 383, 393, 519, 601 – 606, 609, 770, 856, 919, 1376 Schizophrene Psychosen 416, 421, 434 Schlafentzug 416 Schönheit, das Schöne 673, 868, 950, 991, 996 Schöpfungsgeschichte 665 – 667, 671 Selbstbewusstsein 72 – 75, 97 – 99, 107 – 109, 111, 113 – 116, 118 – 122, 126, 134 – 138, 176, 271, 285, 1215, 1265 Selbstbezüglichkeit 57, 73, 115, 119 – 121, 128, 130, 134 – 138, 164, 176, 341, 703, 725, 906, 1022 – 1024, 1327 Semantik, semantisch 9 f., 12, 15 f., 18 f., 22, 24, 31, 35 f., 39, 77 f., 84, 86, 94, 118, 121, 128 f., 136, 145 f., 148, 168, 182, 238, 246 f., 251, 254, 257, 260, 264 f., 267 f., 271, 276 f., 284 f., 291 f., 324, 327 – 331, 333 f., 336, 365 f., 368, 377, 409 – 411, 415 – 417, 421, 424, 428 f., 431, 435, 439, 442 f., 446, 471, 508, 534, 539 – 541, 561, 586 f., 597 f., 606, 659, 708, 729, 734, 740, 782, 787, 808, 824 f., 848 f., 861, 880, 888 f., 900, 903, 908, 910, 919, 921, 931, 934, 947,
1450
Sachregister
976, 978, 1010, 1039, 1045 f., 1062, 1099, 1122, 1163, 1171, 1220, 1222, 1235, 1256, 1266, 1270, 1318 f., 1326, 1329 – 1331, 1337, 1340 f., 1367, 1378, 1381 f. Semantom 415, 425 Semiotik 145, 319, 323, 341, 360, 377 – 380, 394, 407, 411 f., 919, 978 f., 993, 998, 1003 – 1005, 1007, 1329 f. Signalsprache (animal language/signal language) 263, 265, 274, 277 f., 290, 301 Signifikanz-Detektor 415 Sinnschöpfung 390 Skeptische Argumente 232, 252, 473, 1183 – 1189, 1191 f., 1194 – 1197, 1199 – 1204, 1208 f., 1211 – 1215, 1217, 1226 Skeptizismus 33 – 35, 72 f., 268, 401, 474, 658, 824, 1183 f., 1186 f., 1189 – 1193, 1195, 1199, 1201, 1203 f., 1207 – 1211, 1213 – 1215, 1217, 1223 – 1228, 1231 – 1235, 1238 – 1240, 1247 – 1249, 1252 f., 1263 – 1265, 1339, 1386 – externer 1249 – interner 34, 1189, 1193, 1208 – 1211, 1227 f., 1235, 1240 skill 306, 309, 322, 488 f., 547, 995, 1137 Sozialität 372, 1033 f., 1117 Speicherung, Speicher 961, 968, 972, 975 Spielraum 32, 106, 124, 354, 570, 730, 782, 1061, 1171 Spontaneität 423, 431 Sprache 8, 11, 16, 18, 22, 24 f., 28, 33, 36 – 38, 56, 61, 64 f., 67 – 69, 72, 78, 81, 86, 90 f., 93 f., 99 – 104, 106 f., 110, 118 f., 121 – 123, 126 – 133, 136 f., 145, 147 – 149, 151, 154 – 158, 160, 165 f., 168 – 170, 174, 176 – 179, 182, 188, 196, 200, 218, 227 – 229, 232 – 242, 245 – 252, 254, 256 – 261, 263 f., 266, 268 f., 271 f., 275, 277 – 279, 281, 286, 290 – 294, 297, 301, 305, 324, 328, 330, 333 f., 341, 346 f., 350 – 353, 365 – 368, 378 f., 382, 384 – 390, 393, 400, 402, 405 – 411, 428, 432, 437, 442 f., 476, 518 f., 523 f., 530, 538 – 542, 555, 575, 578 f., 581, 587, 591 f., 596, 602, 614, 624, 636, 691 f., 704, 706, 708, 733 f.,
750, 758, 761, 779, 782, 795, 820, 826, 836, 858, 868, 871, 873 – 876, 881, 884, 886, 888 – 890, 899 f., 903, 905, 918 f., 921, 925, 932 f., 935, 938, 947, 951, 955 – 958, 960, 962, 967, 969, 972, 997, 1004, 1006, 1009, 1020, 1023, 1031 f., 1034 f., 1037, 1045 – 1047, 1051, 1056, 1122, 1125, 1128 f., 1162, 1165, 1168, 1170 f., 1173, 1175, 1178 f., 1200, 1207, 1220, 1245, 1250 – 1252, 1254 – 1256, 1259, 1267, 1269, 1274, 1306 – 1308, 1317, 1326, 1329, 1337, 1369, 1378 – 1382, 1386 f., 1396 – 1399, 1401, 1403 – 1405, 1407 Sprachkompetenz 272, 542 f. Sprachphilosophie 22, 25, 39, 60, 102, 105, 124, 129, 166, 168, 173, 175, 227 f., 234, 239, 245, 247, 252, 263, 265, 269, 272, 274, 283, 289 f., 360, 371, 389, 509, 530, 539, 956, 1396, 1405 Sprachspiel 38, 99, 102 f., 126, 148, 201, 279, 504, 624, 873, 1402 Spur 567, 572 f., 838, 850, 926, 948, 961, 969, 1398, 1408 Stereoskopische Invertbilder 420 f., 427, 429, 434, 440 Stufenmodell 23, 31, 72, 80 f., 87, 92 f., 117, 165 f., 181, 200 f., 213, 252, 254 f., 301, 303, 318, 320 – 322, 324 f., 362, 366 f., 412, 427, 442, 479, 502, 504, 551, 555 f., 559, 616, 619, 691, 696, 725, 727, 733 – 737, 769, 771, 795, 805, 825, 901, 905 f., 913, 942 f., 971, 1005 – 1007, 1045, 1047, 1053, 1085, 1090, 1092, 1117, 1121, 1127, 1161, 1163 f., 1166, 1234, 1237, 1269, 1300 f., 1306, 1308 f., 1317, 1319, 1325 – 1329, 1335, 1337, 1365 – 1367, 1369, 1372 – 1374 Subalternationstheorie der Wissenschaften 639 f., 653 Subjekt 13 f., 60 – 69, 71 – 75, 81 – 84, 87, 89, 91, 97 f., 113 – 116, 125, 135, 144, 149, 154, 159, 163, 236, 263, 294, 347, 350 f., 353, 359, 372, 384, 388, 415 – 417, 422 f., 429, 470, 476, 478, 561, 573, 599, 636 – 638, 641 – 645, 716, 736, 739, 805, 807, 811 f., 814 – 816, 819 f., 891,
Sachregister
916, 919, 952, 954, 1021 – 1023, 1027, 1032, 1086, 1090, 1097, 1176, 1178, 1220, 1268 f., 1326 Subjektbezug 14, 60, 63 – 65, 69, 71, 75 – 77, 81, 83, 85 Symbolisches Handeln 271, 274, 277 f., 281, 301 Symbolsprache 277 f. Systemtheorie 178, 761, 1019 f., 1034, 1037, 1043, 1128 Technik 8, 37 f., 144, 323, 390, 592 – 594, 598 – 600, 603 f., 613 – 615, 617 – 628, 665 – 667, 692, 922, 979 f., 992, 994 f., 1010, 1053, 1303, 1307, 1395, 1397, 1401 f. Technologie 24, 37 f., 503, 532, 600, 614 f., 618 – 629, 689, 1096, 1390, 1401 telos 230, 487, 594, 620, 1348 Theologie 355, 633 – 641, 644 – 648, 651, 654, 656, 666 f., 716 Tradition 24, 101, 152, 174, 189, 192, 210, 235, 255, 283, 309, 624, 627, 916, 986, 996 f., 1131 f., 1161 Transzendental 13, 21, 38 f., 56, 63, 73, 111, 115 f., 120, 135, 137, 265, 332, 347 f., 395, 645, 813 – 819, 821, 823, 828 – 830, 925, 1022, 1221 – 1224, 1238, 1269, 1320 f., 1338, 1370 f. – transzendentale Argumente 1222 f., 1234, 1236 – 1238 Transzendentalismus 331 f., 814 f., 1239 Transzendenz 569, 645, 890 f., 1389, 1405 Tugend 7, 348, 499, 501, 993, 996, 1258 Übereinstimmung 37, 125, 152, 158, 191, 197, 207, 211, 216 f., 221, 286, 319, 324, 333, 347, 364, 513, 529, 648, 659, 708, 716, 737, 739, 756, 792 f., 804, 823, 826, 899, 1023, 1090, 1175 f., 1210, 1273, 1313, 1324 f. Überlieferung 68, 188, 981, 986, 991, 996 – Überlieferungsgeschehen 171, 189, 210 Übersetzung 19, 22 – 24, 41, 93 f., 98 – 100, 102 f., 106, 122 – 124, 126 – 128, 131, 351, 363, 431, 751, 755, 845, 874, 879, 987, 1009 f., 1060, 1118, 1174 f., 1197
1451
Unbestimmtheit (uncertainty) 24, 41, 124, 127, 249, 333, 345, 349, 566, 568, 570, 587, 747, 754, 774, 1060, 1154, 1158, 1175, 1396 Unendlichkeit, unendlich 18, 39, 207, 336, 347, 370 f., 403, 415, 424, 472, 540 f., 559, 645, 678, 680, 683, 728 f., 772, 812, 816 f., 879, 882 f., 889 f., 912, 919, 1063, 1065, 1254, 1338 Unergründlichkeit, unergründlich 500, 513 f., 517, 524, 1375, 1403 Universalisierung 61, 706, 792, 804 Unsagbarkeit, unsagbar 871, 926 Unsicherheit 478, 652, 655, 657 f., 754, 774 f., 1031, 1036 Urhermeneutik 384, 390, 394 f., 400, 411 f. Ursemiotik 379, 394, 400, 411 f. Vagheit 410, 566, 580, 754 f., 774 Verkörperung 38, 401, 407, 427, 570 f., 582, 625, 627, 820, 864 f., 933, 975, 1056, 1093, 1125, 1373 Vermittlung 62, 87, 221, 263, 267, 296, 348, 390, 404, 636, 819 f., 981 f. Vernunft 17, 75, 92, 157, 210, 268, 271, 282, 301, 326, 331, 344, 347 f., 350, 352, 355, 359, 381, 383, 389 – 391, 394, 474, 570, 643 f., 666, 674 f., 707, 740, 797, 814, 830, 875, 901, 955 f., 960, 1022, 1026, 1034, 1195 f., 1219, 1228, 1236, 1265 f., 1313, 1319, 1394, 1397 Vernunftkritik 780 Verstehen 8, 10 f., 15, 17, 22 f., 27 f., 31, 36 f., 40, 55 f., 58, 61 – 69, 76, 79 f., 83, 85 – 89, 91 f., 98 – 111, 116, 118 – 123, 126 – 135, 138, 144 – 155, 159 f., 163 – 167, 169 – 171, 180, 183, 187 – 193, 196 – 201, 205, 207 – 209, 211 f., 214 – 216, 218 – 222, 230, 232, 235, 238 – 241, 245 f., 251, 257, 263, 265, 268 – 270, 274, 276, 289, 291, 294, 296, 301, 324, 326, 341 – 345, 349 f., 352, 354, 360 f., 365, 367 – 370, 376, 379, 381 f., 387, 389, 393, 401, 411 f., 418, 422, 430, 432, 440, 469, 472, 477, 504, 523, 525, 530, 533, 539 – 542, 582 f., 594, 607, 637, 642, 660, 664 f., 669 f., 672, 675, 689, 695,
1452
Sachregister
748, 750, 782 f., 786 – 788, 814, 816 f., 826 – 828, 857, 860, 862, 864, 867 – 872, 876, 878, 881 – 890, 898 – 900, 903, 923, 936, 967, 969, 971, 973 f., 993, 1008, 1011, 1030, 1036 f., 1039, 1044, 1049, 1051, 1055, 1060 f., 1065, 1068 – 1070, 1073, 1075, 1079 f., 1085 – 1088, 1094, 1103, 1107, 1111 f., 1124, 1162 – 1164, 1169, 1175, 1178, 1186, 1192, 1198, 1211, 1257, 1273, 1304, 1316, 1321, 1327, 1329, 1332 f., 1342, 1367, 1370, 1379 Verstehensgleichgewicht 23, 132, 187, 190 f., 195 – 202, 205 – 207, 212, 214 f., 217 f., 220, 222, 809 Verweisungszusammenhang 648, 868, 876 virtue 316, 483, 490, 492 – 495, 497, 499, 501 f., 1137, 1140, 1143, 1146, 1256, 1289, 1355, 1358 virtuous circle 191 f., 212 Vollständige Sprache 278 Vollzug 23, 27, 56, 98, 116, 129, 131 f., 137, 200, 221 f., 272, 392, 403, 443, 499 – 504, 507 f., 510, 538 f., 616, 660 f., 729, 868 – 870, 889, 896, 898 f., 933, 956, 1052 f., 1192, 1225, 1235, 1240, 1252, 1256, 1259, 1271, 1273, 1337, 1373 Wahrheit 17, 24 – 26, 29, 34, 37, 59 f., 68 f., 78, 86, 91, 124, 128, 148 f., 152, 154, 158 f., 168, 171, 180, 182, 187, 190, 211 f., 214, 229, 231, 250, 265, 282 – 285, 326, 342, 345, 347, 349 – 351, 353 f., 359, 366, 372 f., 378, 382 – 388, 390, 394, 397, 399 f., 465, 532, 540, 586, 637, 639 f., 644, 649, 659, 688, 704, 708 – 710, 714 f., 727, 731, 736, 739 f., 755 f., 759, 783 – 789, 812 – 814, 826, 831, 855, 861, 868 f., 872 f., 875, 884, 886, 890 – 892, 918, 925 f., 934, 977, 996, 1014, 1019 f., 1024, 1028 – 1032, 1036 f., 1041, 1048, 1065, 1069, 1122, 1163, 1175, 1196, 1199, 1215 f., 1227, 1231, 1240, 1247, 1251, 1268, 1274 – 1276, 1297,
1303 f., 1307, 1309, 1319, 1331, 1387, 1393 f., 1403, 1405, 1409 Wahrnehmung 14, 19, 25, 33, 57, 78, 88, 120, 170, 173, 176, 239, 241 f., 246 f., 250, 256, 262, 266, 291, 297 – 299, 416 f., 419 – 421, 424, 427, 429 – 432, 434 f., 438, 440 f., 465, 508, 525, 579 f., 625, 660, 665, 736, 772, 781, 876 f., 880, 920, 923 f., 927, 954, 961, 984, 986, 1013 f., 1035, 1052, 1062 f., 1066, 1069, 1073 f., 1091, 1104, 1106, 1121, 1124, 1197, 1239, 1267, 1298, 1332, 1342, 1396 Wahrnehmungsillusionen 416, 427, 1035 Wahrnehmungsstörung 429 Welt, Welten 5 – 9, 11, 13, 15 – 19, 22 f., 26, 28, 32, 34 – 36, 38 – 40, 55 – 57, 59 f., 62 – 68, 72 – 75, 77 – 79, 81 f., 84, 86 f., 89, 92, 94, 98 – 101, 113 – 116, 119 – 126, 129 f., 135 – 138, 144 – 147, 149, 151 – 160, 164 – 168, 170 – 172, 175 – 185, 213, 219, 228 f., 231 – 233, 235 – 240, 242 f., 246 – 253, 255 – 261, 263 – 269, 271 – 274, 281, 284 – 286, 289, 291 – 297, 299 – 302, 318, 322 – 324, 326 f., 329 – 332, 335, 341, 349, 354, 360, 362 f., 366 f., 371 f., 376, 380, 382, 390, 401 – 404, 407 f., 423 f., 427 – 429, 433, 439 f., 443, 446, 466, 468 – 470, 473, 476 – 479, 508, 521, 530 f., 533 f., 536, 540, 555, 558 – 561, 571 – 573, 577, 579, 582 f., 587, 591 f., 600 f., 603 f., 606, 614 f., 617 f., 620 f., 623 f., 626 f., 629, 635, 649, 653, 655 – 657, 659 f., 662 – 676, 678 – 680, 682 – 685, 687 – 695, 703 f., 706 f., 709, 711, 716, 725, 730, 737, 749, 756, 761, 772, 774, 780 f., 783, 785 f., 788 – 792, 796 – 798, 801, 803, 806 f., 812, 814 f., 817 – 820, 824 – 829, 836, 853, 856 f., 860 f., 863, 870, 873 – 877, 879 – 882, 884 f., 887, 890 – 892, 897 f., 902 – 911, 913, 915, 919, 921, 924, 926, 939, 955 f., 967, 969 f., 978, 996, 1007 f., 1012, 1019, 1022, 1024 – 1028, 1032, 1034 – 1037, 1040, 1043 – 1050, 1052, 1055 f., 1059 – 1061, 1064, 1068 f., 1074 f., 1077, 1085 – 1090, 1103, 1105 – 1113, 1115,
Sachregister
1117 – 1126, 1129, 1161, 1164 f., 1167 – 1169, 1173 f., 1176 – 1178, 1183, 1186, 1189 f., 1193, 1197 f., 1200 f., 1203, 1208 – 1213, 1215 – 1217, 1220 – 1222, 1224 – 1227, 1229, 1232 f., 1237 – 1240, 1255, 1259, 1274, 1297 f., 1300, 1303, 1305 – 1309, 1315 f., 1319, 1323, 1327 – 1332, 1335 – 1338, 1340 f., 1365 – 1368, 1370 – 1372, 1376, 1378, 1381 f., 1385, 1394, 1399, 1401, 1404 f., 1410 Weltbild 29, 35, 38, 40, 85, 182, 217, 623 f., 627, 655 f., 663 – 667, 672 – 679, 681, 687 f., 693 – 695, 697, 735, 773, 785, 806, 832, 836, 1010, 1061, 1173, 1190, 1193, 1200, 1232, 1272, 1305, 1308, 1387, 1398 Weltenvielfalt 1106, 1109, 1117 Weltversionen 40, 1314 – 1316, 1334 Werkästhetik 917, 924, 929, 940 f. Wertschätzung 393, 836 Wiederholung 128, 885, 959, 986 f., 1029 Wille zur Macht (will to power) 39, 62, 354, 382, 392, 1025 – 1029, 1032, 1037, 1069, 1345 f., 1348, 1352, 1354, 1357 – 1359, 1362 f., 1365, 1385, 1407 Wirklichkeit 9 – 13, 15, 18 f., 23 f., 28, 39 f., 56, 65, 87, 130, 145, 147, 149 – 151, 153, 155, 157, 172, 227 – 229, 239, 245 f., 252 f., 255, 257, 263 f., 266 – 268, 276, 282, 285, 294 – 298, 300, 328, 376, 380, 382 – 389, 392 f., 399 – 404, 406, 419, 424, 468, 473, 476, 508, 571, 579, 581 f., 584 f., 591, 593 – 597, 600, 602, 604, 613 f., 616 – 619, 663 f., 673 f., 687 f., 690 f., 779, 795, 802, 811 – 813, 823 – 828, 835, 867 f., 871 f., 875, 880, 884, 886, 897 f., 901, 905, 907, 918, 947 f., 952 – 954, 959, 968, 979, 998, 1006, 1045, 1059, 1069 f., 1074 – 1076, 1085 – 1090, 1103 – 1106, 1109, 1112, 1115 – 1117, 1121 f., 1126 f., 1129, 1161, 1165, 1179, 1193 f., 1199, 1207, 1235, 1245 f., 1248, 1252, 1254, 1263, 1265, 1300, 1306, 1309, 1315 – 1317, 1319, 1323, 1326 – 1328, 1332 – 1336, 1339 – 1342, 1368, 1372, 1376, 1380 f., 1385 – 1387, 1395 f., 1399, 1402, 1406
1453
Wissen 9, 12, 29 – 31, 38, 58, 135, 151, 155, 163, 165, 174, 178, 191, 212, 215, 220, 228, 230 f., 245, 250, 264, 266, 269, 271 – 273, 280, 282 – 286, 301 f., 322 f., 333, 346 f., 350, 353 f., 371 f., 404, 427 f., 442, 444 f., 501, 505, 507, 509, 514 – 521, 525 f., 529, 531 – 536, 538 – 541, 543, 551 – 561, 566 – 568, 573, 575, 577 – 579, 581, 585, 592, 597, 599 f., 605 f., 622, 625 f., 633 – 640, 642, 644 – 649, 651 – 655, 658, 663 f., 666, 671, 678, 687, 689, 692, 703 – 710, 714, 726, 752 – 754, 763, 781 f., 784 – 786, 788 f., 814 f., 817, 831, 855 f., 865, 897, 926, 938, 955, 972 – 975, 979, 982, 987, 991, 993, 995 f., 998 f., 1003, 1005, 1011 f., 1019 – 1022, 1025 – 1038, 1040, 1043, 1045, 1048 – 1054, 1056 f., 1061 f., 1068, 1070, 1077 f., 1080 f., 1085 f., 1090, 1092 – 1096, 1098, 1106, 1129, 1187, 1196, 1204, 1208, 1214 f., 1217, 1220, 1239, 1245, 1248 – 1255, 1258 f., 1272, 1275 f., 1298 – 1300, 1302 – 1307, 1325 f., 1335, 1387, 1397, 1399, 1402 – 1406, 1409 – nicht-epistemisches Wissen 652, 654 f. Wissenschaft 6 – 8, 16, 24, 28 f., 32, 37 f., 41 f., 86, 130, 157, 159, 165, 178, 183, 191, 212 f., 232 f., 238, 241 – 243, 252, 260, 271, 283 f., 286, 298, 318 f., 323 f., 327, 343, 355, 375 f., 390, 393 f., 397, 405, 408, 429, 432, 435 – 437, 444, 466, 471, 501, 507, 509, 529, 532 f., 537, 551, 556, 560, 565 f., 568, 575 – 581, 585 – 587, 618, 622 – 627, 633 – 649, 651 – 658, 673, 675 – 677, 681, 688 – 691, 693 – 695, 707, 760, 762, 770, 784 – 786, 830 f., 858, 861, 869, 872, 875, 877, 885, 891, 900, 911 f., 955 f., 980, 993, 996, 1004, 1007, 1011 – 1013, 1019 f., 1029 f., 1032 f., 1035 – 1038, 1041, 1043, 1048 – 1052, 1056, 1062, 1065, 1068, 1076, 1083, 1089 f., 1092, 1094, 1096, 1169, 1173, 1179, 1195, 1197, 1220 f., 1239, 1245, 1247, 1250, 1253 – 1255, 1257 – 1259, 1267, 1270, 1299 – 1303, 1305, 1317, 1325, 1327, 1330, 1332,
1454
Sachregister
1342, 1364, 1366 f., 1369, 1387, 1389, 1392 f., 1395 – 1400, 1402 – 1404, 1408 Wissensdynamik 30, 195, 1251 Wissensform, Wissensformen 29 – 31, 163, 215, 249 f., 444 – 446, 479, 500, 515, 529, 532 – 535, 551 – 561, 568, 637, 640, 651 – 655, 968, 689, 972 – 975, 978 f., 992, 999, 1011 f., 1043, 1048 – 1055, 1095 – 1099, 1245 f., 1248 – 1252, 1254 – 1256, 1259, 1263, 1303, 1373, 1375, 1402, 1404, 1406, 1411 Wissensforschung 7, 29 f., 125, 212, 429, 442, 444 – 446, 500, 505, 529, 531, 533, 541, 543, 551, 553 – 558, 560 f., 576, 587, 651 f., 972 f., 979, 999, 1004, 1007, 1012, 1043, 1045, 1048 – 1051, 1053 – 1056, 1094, 1096, 1248, 1250, 1276, 1404, 1409 Wissensordnungen (Ordnungen im Wissen) 29, 323, 1080, 1402 Zeichen 5 – 38, 40 – 42, 65, 71, 73 – 76, 78, 80, 82, 84, 86 – 94, 98, 100 f., 105, 113 – 116, 118 f., 121 – 132, 135 – 138, 145 f., 150 f., 155 – 157, 159 f., 163 – 168, 170 – 172, 175 – 182, 190 f., 197, 199 – 201, 205 – 209, 211 – 216, 218 – 223, 227 – 235, 237 – 239, 243, 245 – 269, 274 – 277, 279, 289 – 297, 299 – 302, 305, 317 – 321, 323 – 325, 328 – 331, 333 f., 336, 341 – 354, 357 – 373, 375 – 386, 389, 391, 394 f., 399 – 412, 423 – 425, 427 f., 431 – 433, 438, 442 f., 465, 468, 471 – 473, 475, 477, 500, 504, 506 – 508, 523, 526, 529 – 531, 533, 539 – 541, 551, 555, 559 f., 572, 575 f., 578 – 584, 587 f., 592, 597, 606, 609, 613 – 618, 620, 625 f., 636, 647, 651 f., 654, 658 – 660, 662 – 664, 687 – 693, 695 – 698, 704, 706 f., 725, 727 – 735, 737, 742, 745, 750, 753, 767 – 770, 772, 774, 779, 782, 795 – 797, 799, 801, 803, 805, 807 f., 811 – 813, 823 – 831, 835, 847, 849 f., 853, 856 – 858, 862, 864 f., 868 – 876, 880, 882 f., 886 – 888, 890, 895 – 911, 929 – 940, 942, 947 f., 952, 956 – 958, 962 f., 967 – 975, 977, 979, 983, 987, 998 f., 1003 –
1010, 1020, 1031 f., 1035, 1043 – 1045, 1056, 1059 – 1062, 1074 – 1079, 1085 – 1088, 1091, 1093 f., 1096, 1103 f., 1107, 1109, 1112 f., 1115 f., 1118, 1120, 1122, 1124, 1161 – 1165, 1167 – 1172, 1175, 1183, 1192, 1198, 1207 f., 1214 – 1216, 1229, 1231, 1233 f., 1239 f., 1245 f., 1248 f., 1251 f., 1254, 1256 – 1259, 1263, 1266 – 1271, 1273 – 1275, 1297 f., 1300, 1302, 1305, 1307 – 1309, 1315 – 1319, 1321, 1323 – 1332, 1334 f., 1337, 1339, 1365 – 1369, 1373 f., 1377 f., 1386 f., 1393 – 1403, 1408 Zeichendeutung 869 f., 898 zeichenverfasst 401, 1010, 1104, 1116 f., 1120, 1164, 1377 Zeichenverwendung 22, 103, 153, 207 f., 733, 872, 998, 1171, 1315, 1318 Zeichenvollzug 36, 222, 869 f., 898, 1060, 1067, 1075, 1078, 1256 f., 1259 Zeigen 23, 29, 40 – 42, 68, 84, 90 – 92, 104, 107, 130 – 132, 150 f., 171, 174, 209, 222, 240, 243, 281, 302, 342, 347, 378, 418, 420, 422, 430, 434, 442, 499 f., 505 – 508, 517, 524, 538, 570, 592 f., 595, 598, 617, 645, 697, 734 f., 791 f., 797, 809, 819, 835, 842, 865, 869 – 872, 874 – 876, 880, 884 f., 888 – 890, 898, 900, 915, 919 f., 922 – 924, 927, 929, 933, 936 f., 940, 955, 982, 993, 1023, 1045, 1063, 1072, 1099, 1110, 1112, 1118, 1121, 1175, 1186, 1194, 1196, 1211, 1222, 1224, 1228, 1238, 1273, 1366, 1378 – 1382, 1387, 1398 Zeit 11, 14, 19, 21, 40, 59, 102, 107, 115, 131, 144, 146, 148, 171, 173, 175, 185, 187, 232, 234, 239, 241, 252, 255, 259, 268, 273, 285, 299 – 301, 323, 328, 333, 342 f., 345 – 348, 350, 360, 371 f., 375, 381, 407, 409 f., 419, 422, 435, 437, 440, 446, 465 – 478, 501, 554, 566 f., 573, 581, 583 f., 586 f., 600, 602, 607 f., 613, 616, 629, 665 f., 669, 671, 673, 677 – 680, 683 – 685, 690, 693 – 695, 697, 707 f., 737, 748, 758, 770, 781, 791, 793, 805, 812 f., 817, 832, 837, 855, 872, 882, 890, 915 f., 922, 931, 935, 937,
Sachregister
939, 953 f., 959, 961 f., 968, 971, 975 f., 984, 993, 998, 1003, 1005, 1007 f., 1010, 1014, 1027 – 1030, 1060, 1089, 1094, 1122, 1125, 1163, 1177, 1184, 1192 f., 1203, 1208 – 1210, 1213, 1215, 1220, 1226 – 1228, 1231 – 1233, 1235 f.,
1455
1251, 1258, 1269 f., 1272, 1301 f., 1305, 1318, 1325, 1331 Zeitlichkeit 14, 165, 273, 299 f., 432, 465 – 472, 474 – 477, 479, 587, 601, 1086, 1191, 1193, 1213, 1269 f., 1303 Zeitordnung 14, 299 f., 465 – 467, 470, 474 Zirkel 191 – 193, 540 f., 797, 1185, 1321