1919 – Der Versailler Vertrag und die deutschen Unternehmen 9783110765359, 9783110765182

The provisions of the Treaty of Versailles provoked extreme reactions in Germany, not just because of the "war guil

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German Pages 420 Year 2022

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Ein überfordernder Frieden?
Die „Kohlennot“ 1919–1923
Aus für den „Zug nach der Minette“ – Der Waffenstillstand von Compiègne und die (Zwangs)Veräußerung deutscher Hüttenwerke im Großherzogtum Luxemburg (1918–1919)
Die Rombacher Hüttenwerke und der Versailler Vertrag
Enteignung – Entschädigung – Expansion
Krupp zwischen Erstem Weltkrieg und Versailler Vertrag – Verluste, Entschädigungen und Neuorientierung
Ein Opfer der alliierten Reparationspolitik?
Zwischen Hoffen und Bangen – die Folgen des Versailler Vertrags für die maritime Wirtschaft in Deutschland
„Erfüllungspolitik wider Willen“: Die chemische Industrie und die Reparationsfrage 1918–1924
Orientierung in ungewissen Zeiten
Ein transatlantischer Wirtschaftskrieg im globalen Wettstreit
Kolonialwirtschaft ohne Kolonien?
Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld?
Fortsetzung des Wirtschaftskriegs
Die Autorinnen und Autoren
Sachverzeichnis
Ortsverzeichnis
Personenverzeichnis
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1919 – Der Versailler Vertrag und die deutschen Unternehmen
 9783110765359, 9783110765182

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1919 – Der Versailler Vertrag und die deutschen Unternehmen

Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte

 Herausgegeben im Auftrag der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte von Carsten Burhop, Christian Kleinschmidt und Jan-Otmar Hesse In Verbindung mit Hartmut Berghoff, Andreas Fahrmeir, Christina Lubinski, Werner Plumpe, Raymond Stokes und Mary O’Sullivan

Band 35

1919 – Der Versailler Vertrag und die deutschen Unternehmen  Herausgegeben von Dieter Ziegler und Jan-Otmar Hesse

ISBN 978-3-11-076518-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-076535-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-076544-1

Library of Congress Control Number: 2021947992 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Historisches Archiv Krupp Satz: bsix information exchange GmbH, Braunschweig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Dieter Ziegler Ein überfordernder Frieden? Die Bestimmungen des Versailler Vertrages und die deutschen Unternehmen – eine Übersicht  1 Dieter Ziegler Die „Kohlennot“ 1919–1923 Der Versailler Vertrag und der deutsche Steinkohlenbergbau  35 Charles Barthel Aus für den „Zug nach der Minette“ – Der Waffenstillstand von Compiègne und die (Zwangs)Veräußerung deutscher Hüttenwerke im Großherzogtum Luxemburg (1918–1919)  69 Christian Risse und Dieter Ziegler Die Rombacher Hüttenwerke und der Versailler Vertrag Konzernpolitik nach dem Ersten Weltkrieg  103 Christian Marx Enteignung – Entschädigung – Expansion Der Versailler Vertrag und die Gutehoffnungshütte (1918–1923)  133 Christian Böse Krupp zwischen Erstem Weltkrieg und Versailler Vertrag – Verluste, Entschädigungen und Neuorientierung  167 Christopher Kopper Ein Opfer der alliierten Reparationspolitik? Die technische und wirtschaftliche Sanierung der Reichsbahn von 1919 bis 1924  191 Harald Wixforth Zwischen Hoffen und Bangen – die Folgen des Versailler Vertrags für die maritime Wirtschaft in Deutschland  209

VI  Inhaltsverzeichnis

Werner Plumpe „Erfüllungspolitik wider Willen“: Die chemische Industrie und die Reparationsfrage 1918 – 1924  241 Johannes Bähr Orientierung in ungewissen Zeiten Bosch und Siemens nach dem Ersten Weltkrieg  267 Joachim Scholtyseck Ein transatlantischer Wirtschaftskrieg im globalen Wettstreit Ein neuer Blick auf den Alien Property Custodian der USA im Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit  285 Nina Kleinöder Kolonialwirtschaft ohne Kolonien? Deutscher Eisenbahnbau in Afrika im und nach dem Ersten Weltkrieg  311 Franz Hederer Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld? Die Reparationen im Reichswirtschaftsrat nach dem Londoner Ultimatum 1921  343 Jan-Otmar Hesse Fortsetzung des Wirtschaftskriegs Die Neuordnung der globalen Wirtschaft nach Versailles und die deutschen Unternehmen  375 Die Autorinnen und Autoren  395 Sachverzeichnis  399 Ortsverzeichnis  409 Personenverzeichnis  413

Dieter Ziegler

Ein überfordernder Frieden? Die Bestimmungen des Versailler Vertrages und die deutschen Unternehmen – eine Übersicht Fast 50 Jahre lang, seit der „Fischer-Kontroverse“ um die Kriegsschuldfrage in den 1960er Jahren und der Ost-West-Kontroverse um den „Staatsmonopolistischen Kapitalismus“ bzw. den „Organisierten Kapitalismus“ in den frühen 1970er Jahren war der Erste Weltkrieg weitgehend aus dem Fokus der historischen Forschung verschwunden. Insbesondere in den 90er und den 2000er Jahren stand der Erste Weltkrieg, nicht nur, aber vor allem in Deutschland, ganz im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Man musste schon mit sehr provokanten Thesen aufwarten, um mit einer Publikation auch jenseits des engeren Spezialistenkreises wahrgenommen zu werden.1 Erst im Vorfeld der einhundertjährigen Wiederkehr des Kriegsausbruchs im Jahr 2014 sollte sich das ändern und zwar vor allem mit der Neuauflage der Kriegsschulddebatte, die durch das Buch „The Sleepwalkers“ des schon vorher international bekannten australischen Historikers Christopher Clark aus dem Jahr 2012 neu entfacht worden war. Hatte die historische Forschung der 60er und 70er Jahre, insbesondere die Imperialismusforschung mit ihrer Einbettung des Ersten Weltkriegs als, je nach politischem Standort, Endpunkt oder Höhepunkt der imperialistischen Konkurrenz der Großmächte, der Wirtschaft noch eine überragende Erklärungsrelevanz zugeschrieben,2 so spielte die durch die Suche nach Absatzmärkten und Rohstoffquellen befeuerte „imperialistische Konkurrenz“ in den zahlreichen Darstellungen zum Ersten Weltkrieg, die anlässlich der einhundertjährigen Wiederkehr des Kriegsausbruchs erschienen, ebenso wenig eine Rolle wie die Kriegswirtschaft in den kriegführenden und neutralen Staaten. Allerdings haben es auch die Wirtschaftshistoriker seinerzeit versäumt, den frühzeitig absehbaren Hype um den „Great War“ zu nutzen, um daran etwas zu ändern und die Rele1 Einer dieser Fälle ist „The Pity of War“ von Niall Ferguson aus dem Jahr 1998 (in deutscher Übersetzung: Der falsche Krieg, Stuttgart 1998), in der er in einer kontrafaktischen Überlegung eine Welt konstruiert, wie sie ausgesehen hätte, wenn Großbritannien 1914 nicht in den Krieg eingetreten und zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass der dann von Deutschland errungene Sieg für Europa die bessere Alternative zum tatsächlichen weiteren Verlauf der Geschichte gewesen wäre. 2 Werner Plumpe, Die Logik des modernen Krieges und die Unternehmen: Überlegungen zum Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2015), 352–357, hier 352 ff. https://doi.org/10.1515/9783110765359-001

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vanz ihres Forschungsfeldes in das Bewusstsein der Öffentlichkeit (zurück-)zuholen.3 Da wundert es wenig, dass sich die Darstellungen zur einhundertjährigen Wiederkehr der Unterzeichnung des Versailler Vertrages in dieser Hinsicht wenig von den Werken zum Jahrestag von 1914 unterscheiden. Neu ist in beiden Fällen vor allem die transnationale oder welthistorische Perspektive, die bei einem Weltkrieg natürlich mehr als angemessen ist und die die ältere Imperialismusforschung nicht hatte, obwohl sie den Imperialismus als eine Phase kapitalistischer Durchdringung auch der letzten Winkel der Erde begriff. Die Abfassung einer Weltgeschichte des Ersten Weltkriegs oder des Friedensschlusses erfordern eine enorme Leseleistung, was wiederum eine Verengung auf eine überschaubare Zahl von Fragestellungen erzwingt. Im Mittelpunkt der Darstellungen von Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Pariser Vorortverträge von Eckart Conze und Jörn Leonhard, die in Deutschland die größte Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, stehen die Suche nach einer neuen Friedensordnung von den 14 Punkten des US-Präsidenten Woodrow Wilson bis zur Gründung des Völkerbunds, die Aushandlungsprozesse unter den Alliierten um die den Besiegten auferlegten Friedensbedingungen und die Rezeption der Vertragsinhalte bei den Verlierern und bei manchen sich wie Verlierer behandelt fühlenden Siegern wie Italien oder der Republik China. Nun mag man in Kenntnis des Fortgangs der Geschichte bis 1945 von einem offensichtlichen Scheitern des Versuchs ausgehen, eine neue stabile Friedensordnung zu schaffen. Aber eine solche Rückschau wird den handelnden Akteuren nicht gerecht, und in dieser Hinsicht bemühen sich alle Darstellungen um eine differenziertere Sicht auf den Versailler Vertrag, der gerade in Deutschland in aller Regel, je nach politischem Standort, als „Fehler“ oder als „Vergewaltigung der Besiegten durch die Sieger“ betrachtet wurde. Natürlich ist es wohlfeil Autoren monumentaler Werke dafür zu kritisieren, dass sie Aspekte nicht ausreichend berücksichtigt haben, die der Kritiker für relevant hält. Es ist aber legitim auf Blindstellen hinzuweisen und Forschungen in diesen Bereichen anzumahnen oder anzuregen, auch wenn die öffentliche Aufmerksamkeit im Jahr 2021 aktuell wieder nachgelassen hat. Liest man als Wirtschaftshistoriker etwa die Darstellung von Conze über „Die Große Illusion“, dann scheinen die wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages für das Scheitern der Friedensordnung, wie sie von Briten, Franzosen und US-Amerikanern in Paris konzipiert worden war, bestenfalls am Rande verantwortlich gewesen zu sein. Dabei kommt eigentlich keine Darstellung des Versailler Vertra3 Dieter Ziegler, Die Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg – Trends der Forschung, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2015), 313–323, hier 313 ff.

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ges, seiner Entstehung und Folgen um die Auseinandersetzung mit den Thesen von John Maynard Keynes und seiner düsteren Zukunftsvision über die wirtschaftlichen Folgen des (Versailler) Friedensvertrages aus dem Jahr 1919 herum.4 Conze widmet Keynes in seinem Werk von 2018 auch ein Unterkapitel, das aber schon im Titel „Die politischen Folgen des John Maynard Keynes“ klarmacht, dass es hier nicht um eine Auseinandersetzung mit Keynes’ Thesen geht, sondern um deren Instrumentalisierung in der Tagespolitik. Gewissermaßen als Aufhänger dieses Unterkapitels stellt Conze nämlich fest, dass Keynes einen „wirksamen Beitrag zur Diskreditierung und Delegitimation des Versailler Vertrages“ geleistet habe.5 Das ist sicher richtig, aber das ist kein zur Diskreditierung von Keynes’ Thesen hinreichendes Argument, da sich seine Thesen nicht als pure Propaganda oder Ideologie, sondern als wissenschaftlich fundierte und damit ernstzunehmende Zukunftsprognosen erwiesen haben. Dazu liest man bei Conze jedoch nur einen Satz: „Seit 1919 ist immer wieder auf die Schwachstellen und Fehlannahmen in Keynes Werk hingewiesen worden.“6 Mit einer Fußnote und dem Verweis auf Adam Toozes Werk „Sintflut“, das im englischen Original 2014 erschienen war, belässt es Conze dann und wendet sich wieder der Rezeption von Keynes und anderen Vertragskritikern durch die Zeitgenossen zu. Im Gegensatz zu Conze ist Tooze ein Wirtschaftshistoriker und entsprechend größeres Gewicht bekommen bei ihm wirtschaftshistorische Fragestellungen: Seine „Sintflut“ ist auch transnational, aber mit einem längeren Zeithorizont angelegt. Während sich Conze weitgehend auf die beiden letzten Kriegsund die zwei ersten Nachkriegsjahre konzentriert, behandelt Tooze den Zeitraum von den beiden letzten Kriegsjahren bis zur Weltwirtschaftskrise und steht damit auch stärker in der Pflicht sich mit den Vertragsfolgen auseinanderzusetzen. Insofern ist der Versailler Vertrag bei Tooze ein wichtiges Kapitel, dem er etwa ein Viertel seines Buches widmet, aber nicht der Fixpunkt wie bei Conze. Trotz dieses längeren Zeithorizonts, der bei einem Wirtschaftshistoriker eigentlich eine ausführliche Auseinandersetzung mit Keynes’ Thesen erwarten ließe, räumt Tooze der Frage, welche Prognosen und Warnungen in Keynes Werken zum Versailler Vertrag sich in den folgenden rund zehn Jahren bewahrheitet haben (oder eben nicht und warum), nur überraschend wenig Raum ein. Schaut man etwa bei der von Conze angegebenen Stelle nach, findet man die erwartet ähnliche Einschätzung: „Kein Mensch trug stärker dazu bei, die politi4 John Maynard Keynes, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, Berlin 1920. 5 Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 2018, 476. 6 Ebd., 478.

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sche Legitimität des Versailler Vertrages zu untergraben als Keynes mit seinem verheerenden Werk. […] Von damals bis heute haben zahlreiche Wirtschaftsexperten immer wieder die Mängel in Keynes’ Argumentation aufgezeigt.“7 Es folgen dann wie bei Conze Ausführungen zur Rezeptionsgeschichte, wobei natürlich der Hinweis nicht fehlen darf, dass die Gegner Wilsons im US-Senat sich bei Keynes genauso bedient hatten wie Lenin und Trotzki oder die politische Rechte in Deutschland. Die Fußnote zu den „zahlreichen Wirtschaftsexperten“ enthält dann aber erstaunlicherweise nur ein Werk, das die „Mängel“, so Tooze, „ausgezeichnet zusammengefasst“ habe.8 Dabei handelt es sich um das während der deutschen Besetzung Frankreichs von dem französischen Ökonomen Etienne Mantoux in Princeton verfasste Werk „The Carthaginian Peace or the Economic Consequences of Mr. Keynes“. Es erschien 1946 posthum, nachdem der Autor im Alter von 32 Jahren in den letzten Kriegstagen gefallen war. Natürlich kann man nicht ernsthaft ein Werk, das vor einem drei Viertel Jahrhundert erschienen ist und in einer politischen Extremsituation verfasst wurde, als Referenz für eine heute noch gültige Beurteilung von Keynes’ ebenfalls in einer politischen Extremsituation verfassten Thesen heranziehen. Das weiß auch Tooze. Während es Mantoux vor allem darum ging, die These von der finanziellen Überforderung des Reiches durch die Reparationen zu widerlegen,9 verbindet Tooze diese Frage mit dem Problem der interalliierten Schulden. Diese Darstellung ist weitaus ausgewogener als es das Adjektiv „verheerend“ nahelegt; ja, als Leser bekommt man sogar den Eindruck, als hätte Keynes mit seinen schon in Paris vorgetragenen und in seinem wenig später verfassten Werk etwas modifizierten Vorstellungen durchaus nicht falsch gelegen.10 Das Problem war nur, dass die USA als Gläubigernation politisch nicht willens waren und sich finanziell nicht in der Lage glaubten, den Schuldnern Großbritannien, Frankreich und Italien entgegenzukommen.11 Toozes Kritik reduziert sich an dieser Stelle darauf, dass Keynes seinen Lesern 1919 nicht mitgeteilt habe, dass seine Vorstellungen bereits in Paris durch die US-Delegation abgelehnt worden waren.12 Aber weshalb ist das wichtig? Aus der Perspektive vom Jahresende 1919 war es doch überhaupt noch nicht ausgemacht, ob die USA bei dieser Haltung bleiben würden. Keynes hatte sein Buch sicherlich nicht zuletzt zu dem Zweck verfasst, über die öffentliche Meinung in den Entente-Staaten Druck 7 Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015, 365 f. 8 Ebd., 682 Anm. 127. 9 Etienne Mantoux, The Carthaginian Peace or the Economic Consequences of Mr. Keynes, London 1946, 102 ff. 10 Tooze, Sintflut (wie Anm. 7), 368 ff. 11 Ebd., 373 f. 12 Ebd., 370.

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auf die USA auszuüben, wenn in naher Zukunft die Frage der im Versailler Vertrag überhaupt noch nicht geregelten Höhe der Reparationen wieder auf der Tagesordnung stehen würde. Dass sich für ihn zwar ein Verkaufserfolg, aber kein politischer Erfolg einstellen würde, war erst im Frühjahr 1921 klar, als die Siegermächte die Deutschen mit einem Zahlungsplan schockierten, der Reparationsleistungen in einer Gesamthöhe von 132 Mrd. Goldmark vorsah („Londoner Ultimatum“). Eines aber hat Tooze mit Mantoux’ Abrechnung gemein: die Verengung seiner Rezeption von Keynes’ Kritik am Versailler Vertrag auf die Reparationsfrage. Die Folgen der zahlreichen, die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens für zahlreiche Branchen oder auch einzelne Unternehmen betreffenden, scheinbar unbedeutenden Vertragsbestimmungen werden dagegen kaum thematisiert. Lediglich die spätere Teilung Oberschlesiens wird von beiden Autoren kurz angesprochen. Dabei kommt Tooze zu einem ähnlich vernichtenden Urteil über Keynes’ Bewertung, die dieser 1922 in „A Revision of the Treaty“ formuliert hatte, wie in der Frage der Reparationen. Tooze schreibt dazu: „Entgegen den unbegründeten Behauptungen späterer Kritiker, insbesondere John Maynard Keynes, waren die Friedensmacher keineswegs so unverantwortlich, die durch das Ziehen nationaler Grenzen verursachte Störung eines integrierten Industriesystems einfach zu ignorieren. Die […] Teilungsbestimmungen […] zählen zu den umfassendsten und ausgeklügeltsten Regelungen in den Annalen der Diplomatie. […] Nie zuvor waren die Interessen der verschiedenen nationalen und ethnischen Gruppen, politische ebenso wie wirtschaftliche, so sorgfältig austariert worden.“13 Aus heutiger Sicht hat Toozes Wertschätzung für die Leistung der mit dem Teilungsplan betrauten Diplomaten und Geographen sicherlich seine Berechtigung, gerade wenn man die Teilungspläne von 1921 mit dem Zustandekommen der Grenzen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg vergleicht. Nach der Volksabstimmung in Oberschlesien und einem ersten, von Polen und Franzosen abgelehnten Teilungsplan machten sie sich daran, eine Grenze zu ziehen, die sowohl das Abstimmungsergebnis und damit das in Wilsons 14 Punkten so stark vertretene Selbstbestimmungsrecht der Völker als auch die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des neuen polnischen Staates berücksichtigen sollte. Das Problem, dass der gefundene Kompromiss eine gewachsene Wirtschaftsregion teilte, ist aber nicht wegzudiskutieren und hatte wirtschaftliche Konsequenzen, was sogar Mantoux zugesteht.14 Wie tiefgreifend die Teilung war, sollte wenig später der Zollkrieg zeigen, den das Deutsche Reich 1925 gegen die Republik Po13 Ebd., 348. 14 Mantoux, Cartaginian Peace (wie Anm. 9), 80.

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len anzettelte.15 Der tiefere Grund für diesen Zollkrieg war kein im engeren Sinne wirtschaftlicher, wie Mantoux behauptete, sondern ein „volkstumspolitischer“ und damit letztlich grenzrevisionistischer. Er war vor allem als Gegenmaßnahme zu den polnischen Versuchen gedacht, den Einfluss deutscher Unternehmer in Ostoberschlesien zurückzudrängen, die sogenannte „Polonisierung“ der ostoberschlesischen Wirtschaft.16 Mit Ostoberschlesien war somit ein neues „Elsass-Lothringen“ geschaffen worden, also der Grund für eine spätere, die Friedensordnung gefährdende territoriale Revision durch den Besiegten, was britische und US-Diplomaten in Paris 1919 eigentlich unbedingt hatten verhindern wollen. Den deutschen Überfall auf Polen im September 1939 mit dem Oberschlesien-Kompromiss von 1921 erklären zu wollen, ist natürlich Unsinn, wenn nicht gar apologetisch. Aber durch die auch schon von den Regierungen der Weimarer Republik bewusst offen gehaltene Frage der deutsch-polnischen Grenze erhöhte die Oberschlesienfrage die Legitimation des Überfalls bei einer Bevölkerung, die alles andere als kriegsbegeistert war. Auch Leonhards „Der überforderte Frieden“ geht auf Keynes’ Kritik an dem Vertragswerk ein. Leonhard urteilt aber deutlich zurückhaltender als Tooze und Conze, wobei er sich weit mehr für den Akteur Keynes zwischen Waffenstillstand und Vertragsunterzeichnung interessiert als für den späteren Kritiker. Bei seinem fast 1.500 Seiten umfassenden Werk analysiert Leonhard die Aushandlungsprozesse und die Motivation der drei, den Vertragsinhalt im wesentlichen bestimmenden Verhandlungspartner für die meisten Vertragsbestimmungen und berücksichtigt somit auch die die Friedensordnung in den folgenden Jahren vermeintlich oder tatsächlich belastenden wirtschaftlichen Aspekte. Den Vertragsfolgen schenkt das Konzept des Buches allerdings, gemessen an dem Gesamtumfang des Werks, nur eine recht bescheidene Aufmerksamkeit; und hierbei interessieren Leonhard vor allem die Nationalitätenkonflikte, die durch die Verträge von St. Germain, Trianon, Neuilly und Sèvres ausgelöst oder nach dem Zerfall des Habsburger und des Osmanischen Reiches zumindest nicht gelöst worden waren. Aber auch den „Krisen des deutschen Nachkrieges“ widmet 15 Auch Mantoux erwähnt diesen Zollkrieg, wertet ihn aber ausschließlich als Beleg dafür, dass die Teilung Oberschlesiens dem Reich offenbar wirtschaftlich nicht geschadet habe, weil es durch die Schließung der Grenze für ostoberschlesische Kohle nur bestätigt habe, dass es auf diese Kohle nicht angewiesen gewesen sei. Ebd., 82 f. 16 Helmut Lippelt („Politische Sanierung“. Zur deutschen Politik gegenüber Polen 1925/26, in: VfZ 4 (1971), 323–375, hier 330 ff.) betont in diesem Zusammenhang vor allem das Vorgehen des Posener Wojewoden gegen deutsche Optanten in seinem Sprengel. Zur „Polonisierungspolitik“ in Ostoberschlesien vgl. Piotr Greiner, Die Entwicklung der Wirtschaft vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, in: Joachim Bahlcke u. a. (Hrsg.), Geschichte Oberschlesiens, Oldenburg 2015, 427– 466, hier 451 f.

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er ein eigenes Unterkapitel, in dem er sich aber vor allem auf die „innergesellschaftliche Polarisierung“ konzentriert. Zu den „materiellen Bedingungen des Versailler Vertrages“ bemerkt Leonhard zunächst lediglich, dass sie zwar „hart“ gewesen seien, aber „weder die territoriale Integrität des Reiches infrage“ stellten noch „von vornherein die ökonomische Potenz von Deutschland“ zerstörten.17 Bei dieser ebenso richtigen wie banalen Aussage belässt er es aber nicht und resümiert, dass die tatsächlich erfolgten Reparationsleistungen „erheblich“ gewesen seien. Er hebt sich damit von den Keynes-Kritikern in der Nachfolge von Mantoux ab, die die Reparationslasten ex post für eine zu vernachlässigende Bürde halten, was sie durch den Vergleich der ursprünglich 1921, 1924 und 1929 geforderten Summen mit den bis 1932 tatsächlich erfolgten Geldleistungen sowie mit den Rückflüssen durch Auslandskredite seit der Wiedereinführung des Goldstandards in Deutschland begründen.18 Dabei bleibt Leonhard aber nicht stehen, sondern betont, dass man bei einer Bewertung der wirtschaftlichen Folgen des Vertrages zwischen den einzelnen Branchen unterscheiden müsse, die zum Teil existenziell von den Vertragsfolgen bedroht worden waren, zum Teil aber auch von den Sachleistungen, in denen die Reparations- bzw. Wiedergutmachungsleistungen in den ersten Jahren erfolgten, profitieren konnten. Erwähnung finden u. a. Rohstoffe wie die (Stein-)Kohle, die chemische Industrie, Reedereien und die Bauindustrie.19 Das erfolgt bei Leonhard zwar nur sehr kursorisch, was aber in Anbetracht des Forschungsstandes auch nicht anders sein kann, und bildet deshalb den höchst willkommenen Ansatzpunkt für die Beiträge in diesem Band. Es ist nämlich sein Ziel den Forschungsstand, jenseits der ermüdenden Debatte um die zwischen Dawes-Plan und Hoover-Moratorium tatsächlich geleisteten Zahlungen und erhaltenen Auslandskredite, zu einzelnen Branchen und ausgewählten Unternehmen vorzustellen und so eine bessere, weil breitere Diskussionsgrundlage für die Frage nach den wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages, vor allem für das Deutsche Reich, zu schaffen. Nun werden sich selbst Historiker nur selten die Mühe machen und den im Reichsgesetzblatt auf 644 Seiten in drei Sprachen abgedruckten Vertragstext Ar17 Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018, 1221. Eine ähnliche Bewertung findet sich auch bei Conze (ders., Illusion (wie Anm. 5), 378 f.). 18 „Not a single cent […] had been paid by Germany before 1924. There remain the loans made to Germany after that date. The quasi-totality of these investments was lost in consequence of German defaults. […] Thus a total of some 35 to 38 milliard marks had been received by Germany from abroad between 1920 and 1931, as against the 21 milliards she had paid for reparations. Such was Germany’s burden after the Treaty of Versailles.“ Mantoux, Cartagian Peace (wie Anm. 9), 154 f. 19 Leonhard, Frieden (wie Anm. 17), 1229 f.

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tikel für Artikel und Anhang für Anhang durchlesen. Wenn man das aber als Wirtschaftshistoriker tut, findet man zahllose kleinteilige Bestimmungen, die in ihrer historischen Bedeutung nicht einmal im Ansatz vergleichbar sind mit beispielsweise der Völkerbundsatzung, die aber für einzelne Branchen und Unternehmen der deutschen Wirtschaft gleichwohl eine große Bedeutung gehabt haben müssen. In der Summe kann das für die wirtschaftliche Erholung, oder eben auch für die Nachhaltigkeit der Erholung während der „goldenen“ zweiten Hälfte der zwanziger Jahre in Deutschland, durchaus von nicht unerheblicher Bedeutung gewesen sein. In diesem einleitenden Beitrag soll deshalb ein Überblick der zahlreichen bedeutenden und weniger bedeutenden, die Wirtschaft betreffenden Vertragsinhalte gegeben werden, von denen einige in ihren Auswirkungen durch einzelne Beiträge dieses Bandes ausführlicher behandelt werden. Der Teil 1 des Vertrages, die ersten 26 Artikel, beinhaltet die Völkerbundsatzung, die hier ebenso wie am Ende des Vertrages der Teil 13, der die Errichtung der mit dem Völkerbund eng verbundenen Internationalen Arbeitsorganisation und des Internationalen Arbeitsamtes behandelt, nicht weiter betrachtet werden. Die Teile 2 und 3 behandeln die territoriale Neuordnung mit der Festlegung der neuen Reichsgrenzen (Teil 2 mit vier Artikeln) und der Festlegung der Staatszugehörigkeit der außerhalb dieser Grenzen gelegenen, 1914 zum Territorium des Deutschen Reiches gehörenden Gebiete (Teil 3 „Politische Bestimmungen über Europa“ mit 87 Artikeln). In Teil 3 enthalten sind auch die Bestimmungen zu Luxemburg sowie die Einschränkung der politischen Souveränität des Reiches im Rheinland. Ex post betrachtet mag die Aufteilung des beim Reich verbliebenen linksrheinischen Gebiets in drei alliierte Besatzungszonen eine der am leichtesten zu verschmerzenden Regelungen des Versailler Vertrages gewesen sein.20 Aber trotz der Ratifizierung des Vertrages, der die Zugehörigkeit der Besatzungszonen zum Reichsgebiet – abgesehen von dem Sonderstatus des „Saargebiets“ (s. u.) – nicht in Frage stellte (Art. 27), war es durchaus offen, wie die Besatzungsmächte auf mittlere Sicht mit diesem Faustpfand verfahren würden. In Teil 14, dem letzten Teil des Vertrages, der die Maßnahmen auflistete, die ergriffen werden konnten, falls das Reich seine Verpflichtungen nicht erfüllen würde, 20 Die bereits in den Waffenstillstandsbedingungen festgeschriebene Rheinlandbesetzung wurde durch den Versailler Vertrag (Art. 428) bestätigt. Allerdings wurde die Besatzung auf maximal 15 Jahre befristet (Art. 429) und die Verwaltung des Gebietes ging von den Militärstellen auf einen Interalliierten Hohen Ausschuss für die Rheinlande über. Vereinbarung zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika, Belgien, dem britischen Reiche und Frankreich und Deutschland betreffend die militärische Besetzung der Rheinlande vom 28.6.1919, Art. 2, RGBl. 1919, 1337 f.

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ließen sich die Besatzungsmächte eine Art Blankovollmacht für weitere Maßnahmen ausstellen.21 Die Rheinlandbesetzung diente zwar in Verbindung mit dem Rückzug des deutschen Militärs hinter einen rechtsrheinischen Sicherheitsstreifen auch der Sicherheit Belgiens und Frankreichs, aber sie ermöglichte neben der Eingliederung der Saarkohle in den französischen Zollraum auch den Zugriff auf drei weitere deutsche Montanreviere, deren mögliche Abriegelung vom übrigen Reichsgebiet eine mindestens ebenso große Bedrohung für den Bestand des Deutschen Reiches darstellte wie die französischen, britischen und belgischen Soldaten auf der linken Rheinseite mit ihren rechtsrheinischen Brückenköpfen. Denn die Kohle war im frühen 20. Jahrhundert der mit großem Abstand wichtigste Primärenergieträger in Deutschland. Fiele er aus, drohte eine schwere Energiekrise, die sich im gesamten Reichsgebiet bei der Stromerzeugung, der Chemieindustrie, bei dem Betrieb von Dampfmaschinen, im Hausbrand, in der Eisen- und Stahlerzeugung und in vielen anderen Bereichen niederschlagen würde. Aachener Steinkohle und rheinische Braunkohle bzw. der durch die linksrheinischen Braunkohlenkraftwerke produzierte elektrische Strom konnten zwar in das unbesetzte (rechtsrheinische) Reichsgebiet geliefert werden. Aber dank der direkten Zugriffsmöglichkeiten der Besatzungsmächte bildeten sie ein Druckmittel, mit dem die im Versailler Vertrag 1919 bzw. im „Londoner Ultimatum“ 1921 festgelegten Reparationsleistungen des Deutschen Reiches erzwungen werden konnten. Das rechtsrheinische Ruhrgebiet gehörte zwar nicht zum Besatzungsgebiet, aber da die Entente-Truppen nur durch den Rhein getrennt vor den Toren Duisburgs sowie im Bergischen Land standen, drohte auch die Besetzung des Ruhrgebiets, womit das Reich fast vollkommen von der Energieversorgung durch die westdeutschen Montanreviere abgeschnitten worden wäre. Im Frühjahr 1921 war dieses Szenario zunächst durch ein Einlenken der Reichsregierung in der Reparationsfrage noch abgewendet worden. Aber 1923 sollte die Abriegelung des Besatzungsgebiets (einschließlich des Ruhrgebiets) das Reich an den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs bringen. Luxemburg hatte zwar nicht zum Deutschen Reich gehört und war, international garantiert, seit 1867 politisch neutral. Seit 1842 war das Land aber Mitglied des Deutschen Zollvereins, was auch die Verwaltung der luxemburgischen Eisenbahnen einschloss. Entsprechend eng waren die wirtschaftlichen Bezie21 „Die Fragen betreffend die Besatzung, die nicht durch den gegenwärtigen Vertrag geregelt sind, werden Gegenstand späterer Abmachungen bilden, die zu beachten sich Deutschland bereits jetzt verpflichtet.“ (Art. 432). Zur deutschen Reaktion vgl. Mark Haarfeldt, Die deutsche Propaganda im Rheinland während der Besatzungszeit 1918–1930. Strukturen, Inhalte und Intentionen, in: Benedikt Neuwöhner u. a. (Hrsg.), Die Besatzung des Rheinlandes 1918–1930, Bielefeld 2020, 143–166, hier 143 ff.

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hungen beider Länder am Vorabend des Krieges gewesen. Während das luxemburgische Eisenerz („Minette“) für die deutsche Schwerindustrie eine, gemessen an der Größe des Partners, beachtliche Bedeutung besaß, waren die Hüttenwerke in Luxemburg dringend auf Koks- und Kohlelieferungen aus Deutschland angewiesen. Deshalb hatten einige Ruhrkonzerne Hüttenwerke in Luxemburg erworben bzw. errichtet und die Aciéries Réunies de Burbach-Eich-Dudelange (ARBED), der bedeutendste schwerindustrielle Konzern in Luxemburg, hatte mit dem Eschweiler Bergwerksverein im Aachener Steinkohlerevier einen Interessengemeinschaftsvertrag geschlossen, um seine Energieversorgung auf Dauer zu sichern. Sofort nach Kriegsbeginn war Luxemburg wegen seiner strategischen, aber auch wegen seiner wirtschaftlichen Bedeutung unter Verletzung seiner Neutralität von deutschen Truppen besetzt worden. Die Besatzung endete erst mit dem Waffenstillstand. Was die künftigen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Luxemburg betraf, blieb der Versailler Vertrag recht vage. Deutschland musste lediglich rückwirkend anerkennen, dass die Mitgliedschaft Luxemburgs im Zollverein mit Jahresbeginn 1919 beendet worden war und „im voraus“ alle Vereinbarungen akzeptieren, die „von den alliierten und assoziierten Mächten hinsichtlich des Großherzogtums geschlossen werden“ würden (Art. 40). Damit sollte wohl vor allem Widerstand gegen den erwarteten Anschluss Luxemburgs an Belgien ausgeschlossen werden. Dieser Anschluss kam allerdings wegen des ablehnenden Votums in einer Volksabstimmung nicht zustande. 1921 wurde lediglich eine auf 50 Jahre befristete Zoll- und Handelsunion mit Belgien vereinbart und die luxemburgischen Eisenbahnen in belgische Verwaltung überführt. Luxemburg ist in diesem Band ein eigener Beitrag von Charles Barthel gewidmet, der danach fragt, welche Ursachen der Rückzug zweier deutscher schwerindustrieller Konzerne aus dem Großherzogtum hatte. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob es sich um einen von belgischer, französischer oder gar luxemburgischer Seite erzwungenen Rückzug handelte oder ob ihm eine unternehmerische Entscheidung der deutschen Konzerne zugrunde lag. Die wirtschaftliche Bedeutung des an Dänemark abgetretenen Nordschleswig und der an Belgien abgetretenen preußischen Kreise Eupen und Malmedy dürfte sich in Grenzen gehalten haben. Allerdings erkannte der Versailler Vertrag auch die volle politische Souveränität Belgiens über „Neutral Moresnet“ an, einem schmalen Grenzstreifen zwischen der Provinz Lüttich und der preußischen Rheinprovinz, der seit 1816 von den Niederlanden (bzw. seit 1830 von Belgien) und Preußen gemeinsam verwaltet wurde. Wirtschaftlich war dieses Gebiet im 19. Jahrhundert wegen seiner Galmei-Vorkommen sehr bedeutsam gewesen. In dem Dorf Kelmis war 1837 mit der Société Anonyme des Mines et Fonderies de Zinc de la Vieille-Montagne eines der ersten Zinkhüttenwerke Kon-

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tinentaleuropas gegründet worden, das in der Folge zu den bedeutendsten in Westeuropa gehörte. Sehr viel bedeutsamer für die deutsche Wirtschaft und vor allem für die Rohstoffversorgung eines vergleichsweise rohstoffarmen Landes war der Verlust Elsass-Lothringens. Neben der Rückgabe der 1871 annektierten Region an Frankreich bestimmte der Versailler Vertrag, dass „alles Gut und Eigentum des Deutschen Reiches oder der deutschen Staaten ohne Bezahlung oder Gutschrift in französischen Besitz“ übergeht (Art. 56).22 Diese Regelung wird für die deutsche Seite kaum überraschend gewesen sein, außer vielleicht die Verweigerung der Gutschrift auf dem Reparationskonto, was allerdings umgekehrt 1871 auch so praktiziert worden war.23 Überraschend und für die deutsche Wirtschaft sehr viel schwerer zu verdauen, dürfte die Erweiterung des Enteignungsrechts auf privates deutsches Eigentum gewesen sein. Nach Art. 74 war der französische Staat nämlich berechtigt, in Elsass-Lothringen gelegenes privates (gewerbliches) Eigentum deutscher Staatsbürger „einzubehalten und zu liquidieren“. Es war dann die Aufgabe des Deutschen Reiches, die vormaligen Eigentümer für den Verlust zu entschädigen. Darüber hinaus musste sich die deutsche Seite damit einverstanden erklären, dass die französische Regierung deutsche Beteiligungen an Bergwerken und Hüttenwerken in Elsass-Lothringen künftig verbieten konnte (Art. 70). Enteignung, Liquidation durch den französischen Staat und die Entschädigung durch das Reich stehen im Mittelpunkt der Beiträge von Christian Risse und Dieter Ziegler über die Rombacher Hüttenwerke sowie von Christian Marx über die Gutehoffnungshütte. Während die Rombacher Hüttenwerke ihr Stammwerk im lothringischen Rombach (Rombas) durch Enteignung verloren und sich mit der Entschädigung als schwerindustrieller Konzern neu erfinden mussten, hatte die Gutehoffnungshütte „nur“ Erzfelder in Lothringen und in der Normandie verloren. Da der Kern des Unternehmens damit erhalten geblieben war, konnte die Gutehoffnungshütte die Entschädigungszahlungen in die strategische Weiterentwicklung des Konzerns investieren, wodurch er besser durch die Nachkriegsjahre kam als die meisten anderen Ruhrkonzerne, von denen sich 22 Es handelte sich hierbei um eine Sonderbehandlung Frankreichs. Denn in den übrigen Fällen von Gebietsabtretungen ging zwar das Eigentum der öffentlichen Hand ebenfalls in das Eigentum des neuen Staates über, wurde aber dem Reparationskonto gutgeschrieben (Art. 256). 23 Während alle Staaten, denen ein Teil des Territoriums des Deutschen Reiches abgetreten wurde, die Reichs- und Bundesstaatsschulden nach dem Stand vom 1.8.1914 anteilig übernehmen mussten (Art. 254), war Frankreich im Falle Elsass-Lothringens davon befreit. Diese Sonderbehandlung wurde ebenfalls mit den Friedensbedingungen von 1871 begründet (Art. 255). Neben Frankreich im Falle Elsass-Lothringens waren ansonsten nur die Mandatarmächte der ehemaligen deutschen Kolonien von der Schuldenübernahme befreit (Art. 257).

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viele, wie auch die Stahlseite der Rombacher Hüttenwerke, in den großen deutschen „Stahltrust“, die Vereinigten Stahlwerke, geflüchtet hatten. Die Auswirkungen der Bestimmungen über das deutsche Eigentum in Elsass-Lothringen waren sehr weitreichend. Das ehemalige „Reichsland“ war reich an Rohstoffen, mit deren Erschließung zum Teil erst kurz vor Kriegsausbruch begonnen worden war. Dabei ist natürlich in erster Linie an die „Minette“ zu denken. Denn mit Lothringen verlor das Reich sein wichtigstes Eisenerzvorkommen. Auch einige kleinere Steinkohlefelder waren auf der an das Saargebiet angrenzenden Seite Lothringens erschlossen worden. Diese in deutschem Privatbesitz befindlichen Gruben und Hüttenwerke wurden nach Art. 74 entschädigungslos enteignet und nach der Liquidation an französische Konsortien veräußert. Auf mittlere Sicht erwies sich dieser Verlust allerdings als weniger dramatisch als zunächst befürchtet (und von französischer Seite erhofft). Denn die deutschen Hüttenwerke zogen die schwedischen Erze wegen ihrer deutlich höheren Qualität der Minette vor und investierten Teile ihrer von der Reichsregierung gewährten Entschädigungen nur zögerlich in die Erschließung neuer Erzfelder im Inland. Die nur wenige Wochen nach dem Waffenstillstand von dem Ruhrindustriellen Hugo Stinnes geäußerte Erwartung, dass die französische Eisen- und Stahlindustrie künftig sehr viel stärker auf die deutsche Kokskohle angewiesen sein werde als deren deutsche Konkurrenten auf lothringische Minette,24 sollte sich schon zu Beginn der 20er Jahre als zutreffend erweisen.25 Auch das Elsass verfügte über wertvolle Bodenschätze, deren Verlust vielleicht sogar folgenreicher war als der Verlust der lothringischen Minette. Das galt für das Mineralölvorkommen in Pechelbronn, aber insbesondere für das Kalisalzvorkommen nahe Mülhausen (Mulhouse). Vor dem Krieg hatte das Reich ein Monopol für Kaliumsalze auf dem Weltmarkt besessen, der neben Stickstoff zweiten wichtigen Komponente für die Produktion von Mineraldünger. Der regionale Schwerpunkt des Kalibergbaus lag zwar in Mittel- und Norddeutschland, aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren auch Kalivorkommen im Elsass entdeckt und erschlossen worden. Nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages wurden alle elsässischen Kaligruben und Chlorkaliumfabriken enteignet und gingen in französischen Besitz über. Der Versailler Vertrag legte in die24 Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes, München 1998, 538 f. 25 Dieter Ziegler, Kriegswirtschaft, Kriegsfolgenbewältigung, Kriegsvorbereitung. Der deutsche Bergbau im dauernden Ausnahmezustand (1914–1945), in: ders. (Hg.), Rohstoffgewinnung im Strukturwandel, Münster 2013, 15–182, hier 78. Als Mitte 1922 der französische Stahlindustrielle Gaston Japy um einen Gesprächstermin mit den führenden Ruhrindustriellen bat, um sie zur Wiederaufnahme ihrer Minette-Importe zu bewegen, glaubten Paul Reusch und August Thyssen, es sich leisten zu können, Japy nicht zu empfangen, während Stinnes mit ihm ausschließlich aus Gründen der Höflichkeit sprach. Feldman, Stinnes (wie Anm. 24), 782.

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sem Zusammenhang sogar ausdrücklich fest, dass das Reichskaligesetz von 1910 rückwirkend seit dem Waffenstillstand im November 1918 in Elsass-Lothringen keine Gültigkeit mehr besaß (Art. 71). Dieses Gesetz hatte die Kaliindustrie stärker als jede andere kartellierte Branche in Deutschland unter behördliche Beobachtung und einen umfassenden Genehmigungsvorbehalt gestellt, was in der Praxis einer Zwangssyndizierung schon recht nahekam. Die elsässischen Gruben waren nach dieser Bestimmung des Versailler Vertrages nicht mehr in die Disziplin des deutschen Kalisyndikats eingebunden und verfolgten nach dem auch hier vollzogenen Eigentümerwechsel eine Kartellpolitik, die derjenigen des deutschen Kalisyndikats der Vorkriegszeit diametral entgegenstand. Anstatt die Inlandspreise durch hohe Exporterlöse zu subventionieren, wurden die elsässischen Kaliumsalze in Frankreich deutlich über dem Weltmarktpreis abgesetzt, um auf diese Weise durch niedrige Exportpreise in die deutschen Exportmärkte, insbesondere in den USA, einzudringen. Für die deutsche Landwirtschaft bedeutete dies, dass die goldenen Jahre, in denen Farmer und Plantagenbesitzer in den USA dank der Monopolstellung des deutschen Kalibergbaus dafür zahlten, dass deutsche Bauern und Großgrundbesitzer subventionierten Mineraldünger auf ihren Feldern ausbringen konnten, einstweilen vorbei waren.26 Bekannte Mineralölvorkommen gab es in Europa vor dem Ersten Weltkrieg nur wenige. Der Weltmarkt wurde überwiegend durch US-amerikanisches und russisches Öl, aus dem heutigen Aserbaidschan, beliefert. Die wenigen bekannten größeren Vorkommen in Europa lagen wie das russische Öl überwiegend weit abseits des industrialisierten West- und Mitteleuropas. Deutschland verfügte über zwei, verglichen mit den USA sehr kleine Vorkommen in Wietze nahe Celle sowie in Pechelbronn nördlich von Straßburg.27 Vor dem Krieg waren Verbrennungsmotoren noch vergleichsweise wenig verbreitet, so dass Mineralöl vor allem zu Petroleum für Beleuchtungszwecke verarbeitet wurde. Aber das sollte sich mit dem Krieg ändern. Das spätere Mitglied der britischen Friedensdelegation in Versailles und (seit 1919) Außenminister George Curzon drückte das kurz nach dem Waffenstillstand im November 1918 wie folgt aus: „Der Sieg der Alliierten wurde von einem ‚Meer aus Öl‘ getragen. Ohne die großen Flotten der motorisierten Lastwagen hätte dieser Krieg nicht gewonnen werden kön-

26 Andre Ohndorf, Kalisalz – Förderung und Absatz in Deutschland und der Markt in den USA, Lohmar 2000, 213 ff.; Ziegler, Kriegswirtschaft (wie Anm. 25), 87. 27 Zur Bedeutung des Elsass für die inländische Mineralölförderung vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Rainer Karlsch/Raymond G. Stokes, Faktor Öl. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland, 1859–1974, München 2003, 42 f.

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nen“.28 Das mag zwar übertrieben gewesen sein, zeigt aber an, welchen Stellenwert die britische Regierung einer eigenen Mineralölbasis zumaß. Der Verlust des Elsass setzte neben dem Verlust der Kolonien einer möglichen Hoffnung auf eine von Importen weitgehend unabhängige Ölversorgung, wie sie die USA, aber auch Frankreich und Großbritannien dank ihrer Kolonien und Mandatsgebiete im Nahen Osten besaßen, ein jähes Ende. Das Beispiel zeigt aber auch, dass der Verlust einer Rohstoffquelle zugleich ein Gewinn für die Chemie- und Montanindustrie sein konnte, wenn diese in der Lage waren, einen in Preis und Qualität konkurrenzfähigen Ersatzstoff zu liefern. Tatsächlich war die Ersatzstoffproduktion für das Mineralölprodukt Benzin in Deutschland schon während des Krieges durch die Gewinnung von Kokereibenzol stark ausgebaut worden, und es war zunächst unsicher, ob der in Deutschland erreichte, im Vergleich zu den USA, aber auch zu Frankreich und Großbritannien noch recht geringe private Motorisierungsgrad ausreichen würde, um die vorhandenen Kapazitäten der Benzolgewinnung nach dem Krieg auszulasten. Es zeigte sich jedoch schnell, dass der Verlust des Elsass und seiner Erdölquellen der Ruhrindustrie keineswegs nur die Auslastung ihrer Anlagen für Teer und Benzol als Kokereinebenprodukten gesichert hatte, sondern die fortschreitende Motorisierung sorgte sogar dafür, dass sich die Ersatzstoffproduktion auf Kohlebasis zu einer ernsthaften Konkurrentin des Importbenzins entwickelte. Nachdem die deutschen Kokereien einen erheblichen Teil des als Nebenprodukt gewonnenen (Kokerei-)Benzols als Reparationsleistung nach Frankreich hatten liefern müssen, bot der Benzol-Verband, ein Zusammenschluss der Benzol produzierenden Kokereien, 1924 ein Benzol-Benzin-Gemisch an, das unter dem Markennamen ARAL sehr erfolgreich vermarktet werden konnte.29 In Anbetracht des massiven Eingriffs in die Eigentumsrechte deutscher Staatsbürger musste Frankreich damit rechnen, dass die Reichsregierung einen Wirtschaftskrieg beginnen könnte, um die lothringische Eisen- und Stahlindustrie, aber auch um die elsässische Textilindustrie zu schädigen, die beide eng mit dem deutschen Wirtschaftsraum verflochten waren. Die lothringische Eisenund Stahlindustrie war zwar insofern geschützt, als die Reparationskohlelieferungen, vor allem die Möglichkeit sich an Stelle von Kohle Koks liefern zu lassen, deren Energieversorgung auf mittlere Sicht sicherstellten. Aber da der französische Markt absehbar nicht in der Lage sein würde, den lothringischen Stahl

28 New York Times (23.11.1918), zit. nach Raymond Stokes, Der Siegeszug von Erdöl und Erdgas im 20. Jahrhundert, in: Dieter Ziegler (Hg.), Rohstoffgewinnung im Strukturwandel, Münster 2013, 515–539, hier 520. 29 Karlsch/Stokes, Faktor Öl (wie Anm. 27), 133 f.; Dietmar Bleidick, Aral – der erste Superkraftstoff der Welt, in: Industriekultur 4 (2010), Beihefter, 32–34.

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aufzunehmen und das Reich deshalb als Absatzgebiet zunächst noch unverzichtbar schien, musste den lothringischen Erzeugnissen fünf Jahre lang „bei Eingang in das deutsche Zollgebiet volle Zollfreiheit“ gewährt werden (Art. 68). Diese Regelung galt natürlich auch für das Elsass, wo sie vor allem die Textilindustrie schützen sollte. Denn die elsässische Textilindustrie hatte sich während der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich stark auf die Veredelung von Garnen und Geweben spezialisiert, die aus anderen Teilen des Reiches dorthin geliefert worden waren. Diese Lieferungen konnten durch die französische Textilindustrie nicht so einfach substituiert werden. Deshalb musste die Reichsregierung zugestehen, dass „Garne, Gewebe und andere Textilstoffe oder -erzeugnisse“ zoll- und abgabefrei in das Elsass ausgeführt und die veredelten Produkte wieder in den deutschen Zollraum eingeführt werden durften (Art. 68). Um eine Energiekrise zu verhindern, mussten ferner die Kraftwerke im Reichsgebiet, die das Reichsland Elsass-Lothringen mit Elektrizität versorgt hatten, ihre Lieferungen mit den bis zum Tag des Waffenstillstands vertraglich festgelegten Mengen fortsetzen. Auch eine Diskriminierung der nun zu Frankreich gehörenden Verbraucher über den Preis wurde durch den Versailler Vertrag ausdrücklich ausgeschlossen (Art. 69). Einen Wirtschaftskrieg führte das Reich dann tatsächlich. Aber nicht gegen seine westlichen Nachbarn, sondern gegen seinen neuen östlichen Nachbarn Polen. Denn die Sicherung polnischer Interessen in den abgetretenen deutschen Gebieten war wesentlich weniger ausgebaut als im Falle Elsass-Lothringens. Schon der Grenzverlauf war im Versailler Vertrag nicht genau geregelt, was zum einen daran lag, dass sich die deutsch-polnische, anders als die deutschfranzösische Grenze, nicht an bestehenden politischen Grenzen orientierte und der Vertrag teilweise nur bestimmte Ortschaften benannte, die nun zu Polen gehören sollten (Art. 27). Ansonsten überließ der Vertrag „die im Gelände noch zu bestimmende Linie“ der späteren Festlegung durch eine Kommission, die mehrheitlich aus Angehörigen der Siegermächte, aber unter Beteiligung je eines Vertreters des Reiches und der polnischen Republik, bestand (Art. 87). Zum anderen sollte die betroffene Bevölkerung in Teilen Ostpreußens und Schlesiens selber entscheiden, welchem Staat sie künftig angehören wollte. Auch hier waren die Details im Versailler Vertrag nicht geregelt worden. Bei der Festlegung der Grenze entstand, wie bereits erwähnt, ein Konflikt zwischen zwei den Vertrag bestimmenden Prinzipien, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, wie es durch die Volksabstimmungen zum Ausdruck kam, und der Errichtung einer neuen Friedensordnung, indem sichergestellt wurde, dass alle neuen Staaten wirtschaftlich überleben konnten. Da die Volksabstimmung in Oberschlesien im März 1921 zwar eine Mehrheit für den Verbleib beim Deutschen Reich erbrachte, diese Mehrheit mit rund 60 Prozent aber nicht so klar ausfiel, als dass,

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abgesehen von der Frage der Lebensfähigkeit des polnischen Staates, die Siegermächte die polnische Minderheit einfach hätten ignorieren können, entschieden sie sich das Abstimmungsgebiet zu teilen. Ähnliche Regelungen für ein polnisches Oberschlesien wie für ein französisches Elsass-Lothringen, wo man sich die Volksabstimmung gleich ganz gespart hatte, hätte die Lebensfähigkeit des polnischen Staates ganz wesentlich erhöht, und durch eine Exportverpflichtung bestimmter Mengen oberschlesischer Kohle in das Reichsgebiet hätte man zugleich die Folgen für die Energieversorgung im Osten Deutschlands abgemildert. Mit der Volksabstimmung war dieser Weg aber versperrt, und es musste ein Kompromiss gefunden werden, der in einer Teilung bestand, die keine der beiden Seiten zufriedenstellte. Einen Kompromiss zwischen dem Selbstbestimmungsrecht und der Notwendigkeit des wirtschaftlichen Wiederaufbaus in den Siegerstaaten stellte auch die Behandlung des Saargebiets durch den Versailler Vertrag dar. Die Region wurde zwar vom Deutschen Reich abgetrennt, aber eine Annexion durch Frankreich kam für Großbritannien und die USA nicht in Frage, da die französische Minderheit in der Region verschwindend klein und eine Annexion durch Frankreich demzufolge einen eklatanten Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker dargestellt hätte. Lediglich der Zugriff auf die Steinkohle in der Region gestand der Versailler Vertrag den Franzosen zu (Art. 45 sowie die dazugehörige Anlage Kap. 1). Erst nach 15 Jahren sollte in diesem Fall eine Volksabstimmung über den künftigen Status der Region entscheiden (Art. 49 sowie Anlage Kap. 3). In der Zwischenzeit stand sie unter Völkerbundverwaltung (Anlage Kap. 2) und wurde nach einer Übergangsfrist dem französischen Zollraum angegliedert (Anlage Kap. 2, § 31). Welche Folgen die Teilung des rohstoffreichen und hoch industrialisierten Oberschlesiens und der Verlust der Saarkohle für die Energieversorgung des Reiches haben sollte, ist ein Thema des Beitrages von Dieter Ziegler, der auch der Frage nachgeht, inwieweit sich der oberschlesische Steinkohlenbergbau von den Teilungsfolgen erholen konnte. Auch an anderer Stelle nahm es der Versailler Vertrag mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht allzu genau. So durfte, anders als in Oberschlesien, die Abstimmung in den Kreisen Eupen und Malmedy durch die belgische Regierung organisiert werden, die sie auf eine Weise durchführte, dass kaum ein anderes als ein klares Votum für den Anschluss an Belgien möglich war.30 Vor allem aber verboten die Verträge von Versailles und St. Germain den Anschluss Österreichs an das Reich (Artikel 80 des Versailler Vertrages und Ar30 Klaus Papst, Eupen-Malmedy in der belgischen Regierungs- und Parteienpolitik 1914–1940, Aachen 1964, 278.

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tikel 88 des Vertrags von St. Germain), obwohl erhebliche Zweifel bei den Siegermächten bestanden, ob die kleine Alpenrepublik allein lebensfähig war. Eine Volksabstimmung war in dieser Frage nicht vorgesehen. Sogar die Bezeichnung „Deutsch-Österreich“ wurde verboten. Im Gegenzug mussten Großbritannien und Frankreich allerdings in den 20er Jahren erhebliche Mittel aufbringen, um den Rumpfstaat am Leben zu erhalten.31 Die gröbste Missachtung des Selbstbestimmungsrechts stellte jedoch der Umgang der Sieger mit den deutschen Kolonien dar, der in Teil 4 des Versailler Vertrages mit 39 Artikeln behandelt wird. Denn anstatt die afrikanischen und asiatisch-pazifischen Gebiete in die Unabhängigkeit zu entlassen, gingen alle Rechte und Ansprüche lediglich an die Sieger als neuer Mandatarmacht über. Im Unterschied zu einer Kolonie war die Verwaltung eines Mandatsgebietes durch eine Mandatarmacht nur für eine Übergangszeit gedacht, da es, wie es in der Völkerbundsatzung heißt, „von solchen Völkern bewohnt“ sei, die „unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Welt […] nicht imstand sind, [sich] selbst zu leiten“. Es handele sich deshalb um die „Übertragung einer Vormundschaft über diese Völker an die fortgeschrittenen Nationen“ (Art. 22). Die „Eingeborenen“ hatten lediglich Anspruch auf den „diplomatischen Schutz“ durch die Mandatarmacht (Art. 127). Wenn der Verlust der Kolonien zeitgenössisch in Deutschland nicht nur von dem kleinen Teil der Eliten scharf kritisiert wurde, die davon in irgendeiner Weise betroffen war, sei es als Offizier der „Schutztruppen“, höherer Verwaltungsbeamter im Kolonialdienst oder Unternehmer, sondern der Kolonialrevisionismus zumindest in den ersten Nachkriegsjahren eine Massenbewegung darstellte, hatte das allerdings nichts mit dem Selbstbestimmungsrecht zu tun,32 das die Deutschen immer dann anführten, wenn das Selbstbestimmungsrecht einer vermeintlich deutsch(-sprachig-)en Mehrheit missachtet wurde. Es ging vor allem um die Stellung Deutschlands als Großmacht, die von den Siegern durch die Wegnahme der Kolonien symbolisch beendet zu werden schien.33 Obwohl die deutsche Delegation in Versailles mit der Bedeutung der Kolonien als unverzichtbarer Absatzmarkt und Rohstoffquelle argumentierte, spielten die wirtschaftlichen Folgen des Kolonialverlustes in der zeitgenössischen Debatte kaum eine Rolle. Das mag auch daran gelegen haben, dass die 31 Norbert Schausberger, Österreich und die Friedenskonferenz. Zum Problem der Lebensfähigkeit Österreichs nach 1918, in: Isabella Ackerl/Rudolf Neck (Hrsg.), St. Germain 1919, München 1989, 229–264, hier 229 ff. 32 Zur Missachtung der Selbstbestimmung indigener Völker in Afrika und Asien, gerade auch in den britischen und französischen Kolonien vgl. Leonhard, Frieden (wie Anm. 17), 522 ff. 33 Zum Ende der deutschen Kolonialherrschaft und ihrer Rezeption vgl. Dirk van Laak, Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, 107 ff.

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deutschen Kolonien vor dem Krieg weder ein bedeutender Absatzmarkt noch ein Rohstoffreservoir gewesen waren, das spürbar zum Abbau des deutschen Handelsbilanzdefizits beigetragen hätte.34 Auch waren die Verbindungen zum Mutterland schon während des Krieges weitgehend gekappt worden, so dass weder Rohstoffe aus den Kolonien geliefert noch Infrastrukturprojekte in den Kolonien fertiggestellt werden konnten. De facto waren die Kolonien einschließlich des gewerblichen Eigentums deutscher Privatpersonen und Gesellschaften schon während des Krieges verloren, so dass sich durch das Kriegsende und den Versailler Vertrag35 gar nicht viel verändert zu haben schien. Inwieweit damit auch die Geschäfte deutscher Unternehmen in den ehemaligen afrikanischen Kolonien zu einem Ende gekommen waren, ist das Thema des Beitrages von Nina Kleinöder. Der 5. Teil des Versailler Vertrages behandelt in 54 Artikeln und drei ergänzenden Übersichten die Entwaffnung des Reiches und das Verbot der Wiederaufrüstung. Neben den Bestimmungen zur Mannschaftsstärke der Armee und deren Bewaffnung sowie zur Auslieferung bzw. Zerstörung überzähliger Rüstungsgüter, die an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt zu werden brauchen, schränkte der Vertrag auch die Möglichkeiten der Rüstungsproduktion massiv ein. So mussten sämtliche Produktionsstätten für Rüstungsgüter gemeldet und genehmigt werden, wobei alle existierenden und nicht genehmigten Anlagen einschließlich der Zeughäuser geschlossen werden mussten (Art. 168). Die dann noch übrigen Rüstungsfabriken durften nur für den Inlandsbedarf produzieren. Der Export von Waffen, Munition und Kriegsgerät aller Art war grundsätzlich untersagt (Art. 170 und Art. 192 für Kriegsschiffe). Das bedeutete, dass es auch für diejenigen Unternehmen, die vor und während des Krieges Heer und Marine 34 Vgl. hierzu allgemein Francesca Schinzinger, Die Kolonien und das Deutsche Reich. Die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Besitzungen in Übersee, Stuttgart 1984 sowie am Beispiel der erhofften, aber niemals eingetretenen Entlastung der Handelsbilanz durch die Verringerung US-amerikanischer Baumwollimporte durch den kolonialen Baumwollanbau: Andrew Zimmerman, A German Alabama in Africa: The Tuskegee Expedition to German Togo and the Transnational Origins of West African Cotton Growers, in: The American Historical Review 5 (2005), 1362–1398, hier 1362 ff. 35 Der Vertrag bestimmte, dass das in den Kolonien gelegene Eigentum des Reiches und der Länder an die jeweilige Mandatarmacht zu übergeben war (Art. 257) sowie dass „alle den deutschen Reichsangehörigen oder den von ihnen abhängigen Gesellschaften […] gehörenden Güter, Rechte und Interessen […] innerhalb der […] Kolonien […] zurückbehalten und liquidiert“ werden durften (Art. 212 und 297b). Immerhin musste die Enteignung von Privateigentum in den Kolonien entschädigt werden, wobei sich die Höhe der Entschädigung nach der Gesetzgebung desjenigen Landes richtete, „in welchem das Gut zurückgehalten oder liquidiert worden ist“ – im Falle der ehemaligen Kolonien also nach der Gesetzgebung der Mandatarmacht für das Mandatsgebiet (Art. 297c).

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beliefert und einen Großteil ihrer Produktion exportiert hatten, in Anbetracht des geringen Bedarfs von Reichswehr und Reichsmarine kaum mehr attraktiv war, überhaupt noch Rüstungsgüter zu produzieren. Die modernsten Waffen ihrer Zeit, wie etwa Unterseeboote und Panzer, wurden sogar mit einem vollständigen Produktionsverbot und damit de facto auch mit einem Entwicklungsverbot belegt.36 Zur Durchsetzung dieses Produktionsverbots drohte die Reichsregierung mit hohen Strafen. So konnte u. a. die Herstellung von Waffen und Munition außerhalb der dafür zugelassenen Anlagen, die Herstellung von Giftgas, Panzern oder Unterseebooten mit Gefängnis von bis zu sechs Monaten oder einer Geldstrafe über bis zu 100.000 Mark bestraft werden. Außerdem war der Reichswirtschaftsminister berechtigt, Güter und Anlagen zu beschlagnahmen, unabhängig davon, ob sie sich im Besitz der Täter befanden oder nicht.37 Trotzdem hielt dieses Verbot viele Unternehmen im weiteren Verlauf der 20er Jahre nicht davon ab, gegen diese Bestimmungen des Versailler Vertrages zu verstoßen, indem sie z. B. ihre Entwicklungs- und Erprobungsarbeit mit Rückendeckung durch die Reichswehr ins Ausland, vorzugsweise in die Sowjetunion, verlegten.38 Etwas anders als mit der Produktion von Unterseebooten, Panzern und Giftgas verhielt es sich mit der Produktion von Flugzeugen und Flugzeugteilen, die zwar ebenfalls zu den modernsten Kampfmaschinen ihrer Zeit gehörten, aber auch zivil genutzt werden konnten. Während der Versailler Vertrag zunächst nur ein befristetes Produktionsverbot vorgesehen hatte (Art. 201), führte der Konflikt über die vom Versailler Vertrag vorgeschriebene Auslieferung sämtlicher Militärflugzeuge insofern zu einer Verschärfung, als das Produktionsverbot verlängert und auf den zivilen Flugzeugbau ausgeweitet wurde. Nachdem die deutschen Flugzeugbauer das Produktionsverbot für Zivilflugzeuge unter Duldung der Reichsregierung zunächst missachtet hatten, musste die Regierung Wirth unter dem Druck des Londoner Ultimatums den Bau von Luftfahrzeugen

36 Nach dem Versailler Vertrag war es zwar gestattet, Kriegsschiffe zu bauen, um solche Schiffe innerhalb der genehmigten Einheiten zu ersetzen, die ein bestimmtes Alter erreicht hatten (Art. 190). Da es aber der Marine verboten war, Unterseeboote zu besitzen (Art. 181), gab es auch keinen Bedarf für Ersatzbeschaffungen. 37 Ausführungsgesetz zum Friedensvertrage vom 31.8.1919, § 24, RGBl. 1919, 1537. 38 Rolf-Dieter Müller, Das Tor zur Weltmacht. Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche Wirtschafts- und Rüstungspolitik zwischen den Weltkriegen, Boppard 1984; Manfred Zeidler, Reichswehr und Rote Armee 1920–1933. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit, München 1993; Sergej A. Gorlow, Geheimsache Moskau-Berlin. Die militärpolitische Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich 1920–1933, in: VfZ 1 (1996), 133–165, hier 133 ff.

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im Juni 1921 gesetzlich verbieten.39 Ausschlaggebend für diese Verschärfung der ursprünglichen Vertragsbestimmungen war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr nur das Sicherheitsbedürfnis Frankreichs, sondern es ging jetzt vor allem um die Ausschaltung einer überlegenen Konkurrenz. Etwa ein Jahr blieb das Produktionsverbot in Kraft,40 bevor die deutsche Flugzeugindustrie den Bau ziviler Flugzeuge, allerdings mit beschränkter Höchstgeschwindigkeit, Reichweite, Nutzlast und Gipfelhöhe, wieder aufnehmen konnte. Die Schrumpfung der Luftfahrtindustrie konnte das zwar nicht aufhalten, aber einige wenige Unternehmen wie Junkers und Dornier spezialisierten sich nun ganz auf den Bau von Passagier- und Frachtflugzeugen und waren damit auch recht erfolgreich.41 Daneben entwickelte sich aber auch im Flugzeugbau eine enge Rüstungskooperation mit der Sowjetunion. Die Schwierigkeiten, die sich für viele deutsche Unternehmen durch die erzwungene weitgehende oder vollständige Aufgabe der Rüstungsproduktion ergaben, werden von Christian Böse exemplarisch am Beispiel des Krupp-Konzerns beleuchtet. Die Entwaffnungsbestimmungen kamen zwar für das Unternehmen nicht vollkommen überraschend, trafen den Krupp-Konzern aber in seiner Substanz. Denn sie erzwangen nicht nur kurzfristig Maßnahmen zur Rüstungskonversion bis hin zur Demontage ganzer Anlagen, sondern sie nahmen dem Unternehmen auch die technischen Möglichkeiten mittelfristig wieder in die Produktion von Kriegsmaterial einsteigen zu können. Obwohl das Unternehmen große Anstrengungen unternahm, neue zivile Absatzmärkte zu erschließen, fuhren die Produktionsbereiche der Rüstungskonversion, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ausschließlich Verluste ein. Deutlich besser gelang der BASF die Rüstungskonversion, wie Werner Plumpe in seinem Beitrag zeigt. Die BASF hatte mit der Stickstoffsynthese und dem Aufbau entsprechender Produktionskapazitäten vor und während des Krieges erst die Möglichkeit geschaffen, den vierjährigen Stellungskrieg durch die ausreichende Bereitstellung dieses für die Herstellung von Munition unverzichtbaren Rohstoffs überhaupt durchhalten zu können. Dabei handelte es sich jedoch um sog. Dual-Use-Anlagen, da der produzierte Stickstoff auch für die Düngemittelindustrie eingesetzt werden konnte. So bestand die Chance die Produktionskapazitäten zu erhalten, indem sie nicht mehr den Grundstoff für die Herstellung von Sprengmitteln, sondern für Mineraldünger lieferten, was der BASF durch geschicktes Taktieren auch gelang. 39 Gesetz über die Beschränkung des Luftfahrzeugbaues vom 29.6.1921, RGBl. 1921, 789. 40 Verordnung über den Luftfahrzeugbau vom 5.5.1922, RGBl. 1922/1, 476 f. 41 Lutz Budraß, Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1998, 62 f.

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Der Teil 6 behandelt in 14 Artikeln die Kriegsgefangenen und Grabstätten, die in den Beiträgen dieses Bandes keine Rolle spielen werden. Das gleiche gilt für den Teil 7 mit seinen vier Artikeln über die Strafbestimmungen. Denn Unternehmer hatten 1919, anders als 1945, nicht mit einer Anklage zu rechnen. So wurde etwa für den völkerrechtswidrigen Ersteinsatz von Giftgas die Militärführung verantwortlich gemacht, nicht die Produzenten dieser Massenvernichtungswaffe. Auch Unternehmen, die Kriegsgefangene mit völkerrechtwidrigen Tätigkeiten beschäftigten,42 waren nicht im Fokus der Alliierten. Es gab allerdings eine prominente Ausnahme. Die Brüder Hermann und Robert Röchling wurden im Dezember 1919 vom französischen Kriegsgericht in Amiens wegen Diebstahls von Maschinen und Rohstoffen sowie wegen mutwilliger Zerstörung fremden Eigentums zu einer zehnjährigen Zuchthausstrafe, einer Geldstrafe von 10 Mio. Francs sowie 15 Jahre Landesverweisung verurteilt, der Hermann Röchling wegen seines Wohnsitzes in Heidelberg entgehen konnte, während Robert eine Haftzeit von immerhin 22 Monaten verbüßen musste.43 In der Bewertung durch die Zeitgenossen in Deutschland und ganz sicher auch in der historischen Forschung ist wohl keinem Aspekt des Versailler Vertrages so viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden wie der „Wiedergutmachung“ mit dem einleitenden „Kriegsschuldartikel“ (Art. 231). Die Regelungen (Teil 8 mit 17 Artikeln und sieben Anlagen) schufen aber ebenso wenig Klarheit über die am Ende zu erbringenden Leistungen wie die Regelungen in Teil 2 zu der Frage der Grenzen gegenüber manchen Nachbarstaaten, und sie waren unter den Siegermächten mindestens genauso umstritten. Inwieweit der „Kriegsschuldartikel“ dem Deutschen Reich tatsächlich die Alleinschuld am Kriegsausbruch zuschrieb, mag umstritten sein.44 Auf jeden Fall lieferte er – und das ist für das Thema dieses Bandes ausschlaggebend – die Begründung für die Reparationsleistungen, die in den folgenden Artikeln präzisiert wurden. Grundsätzlich musste man auf deutscher Seite schon vor Beginn der Waffenstillstandsverhandlungen damit rechnen, dass das Reich die Schäden, die der Zivilbevölke42 Die Haager Landkriegsordnung von 1907 gestattete es zwar Kriegsgefangene, sofern es sich nicht um Offiziere handelte, als „Arbeiter zu verwenden“, aber nur wenn die Arbeiten „in keiner Beziehung zu den Kriegsunternehmungen stehen“ (Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18.10.1907, RGBl. 1910, 107 ff., hier Art. 6). Die Auslegung dieser Regelung war allerdings zwischen Regierung und Militärführung umstritten. Während das Auswärtige Amt Anfang 1915 Bedenken gegen den Einsatz von Kriegsgefangenen in der Rüstungsindustrie hatte, lehnte der Chef des Generalstabes solche Rücksichtnahmen ab und setzte sich mit dieser Haltung auch durch. Kai Rawe, „… und wir werden sie schon zur Arbeit bringen!“ Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit im Ruhrkohlenbergbau während des Ersten Weltkrieges, Essen 2005, 70 f. 43 Wolfgang von Hippel, Hermann Röchling 1872–1955, Göttingen 2018, 162 f. 44 Vgl. hierzu die Darstellung in Leonhard, Frieden (wie Anm. 17), 788 f.

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rung der Alliierten und deren Eigentum zugefügt worden waren, würde ausgleichen müssen. Das hatte bereits die (vierte) Note des US-Außenministers Robert Lansing klargestellt, die die deutsche Waffenstillstandsdelegation unmittelbar vor ihrer Abreise nach Compiègne Anfang November 1918 erreicht hatte.45 Im November 1918 hätten wahrscheinlich auch Briten und US-Amerikaner erschrocken auf die schier unendlich lange Liste von Forderungen gegenüber Deutschland geblickt, wie sie ein gutes halbes Jahr später in Paris zusammengestellt worden war. Abgesehen von den Wahlversprechungen des britischen Premierministers Lloyd George im Unterhauswahlkampf im Dezember 1918 waren die interalliierten Schulden, also die Verschuldung von Briten, Franzosen und Italienern gegenüber den USA, der Hauptgrund für die zwischenzeitlich immer höher festgesetzten Wiedergutmachungsleistungen. Aber auch die Verbündeten, deren Territorium gar nicht Kriegsschauplatz gewesen war, wollten für ihre Hilfslieferungen und Truppenkontingente eine Anerkennung erhalten. So liest sich die Liste der Forderungen gegenüber Deutschland wie ein Wunschzettel von Wiedergutmachungsleistungen unterschiedlichster Größenordnungen. Deutschland sollte beispielsweise zum einen über mehrere Jahre einen Großteil seiner Steinkohlenförderung an Belgien, Frankreich, Luxemburg und Italien liefern, zum anderen wurde das Reich verpflichtet, „alle bei dem Bankhause Bleichröder in Berlin hinterlegten Summen, die aus dem Verkauf von Kaffee herrühren“, freizugeben (Art. 263). Es soll an dieser Stelle die Berechtigung solch kleinteiliger Forderungen gar nicht in Frage gestellt werden, sie aber in einen Friedensvertrag aufzunehmen und ihnen sogar einen eigenen Artikel zu widmen, ist schon bizarr. Dabei war diese Begleichung der brasilianischen Kaffeerechnung keineswegs ein Einzelfall. Noch bizarrer war die Forderung, dem König der Hedschas den Originalkoran zurückzugeben, der dem Deutschen Kaiser „von den türkischen Behörden als Geschenk überreicht“ worden war oder der britischen Mandatarmacht in Ostafrika den Schädel des Sultans Makana zu übergeben, der vor dem Krieg nach Deutschland verbracht worden war (Art. 246), ganz zu schweigen von den französischen Fahnen, die im Krieg 1870/71 erbeutet worden waren (Art. 245). Die allgemeine Festlegung im „Kriegsschuldartikel“, wonach das Reich und seine Verbündeten die Verantwortung für die Kriegs- und Besatzungsschäden zu übernehmen hätten, lag noch in etwa auf der Linie der Lansing-Note vom November 1918. Allerdings enthielt die Formulierung im Versailler Vertrag eine folgenreiche Erweiterung. Hatte es im November 1918 noch geheißen, dass für 45 Klaus Schwabe (Hg.), Quellen zum Friedensschluss von Versailles, Darmstadt 1997, 68. Vgl. auch Michael Geyer, Reparationen, in: Gerhard Hirschfeld u. a. (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn ²2014, 794.

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Schäden der „Zivilbevölkerung der Alliierten und deren Eigentum“ Ersatz zu leisten sei, hieß es nun, dass das Reich „für alle Verluste und Schäden verantwortlich“ sei, „die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges […] erlitten“ hätten (Art. 231). Indem auch von den Regierungen die Rede war, bestand die Möglichkeit, die Deutschen auch an den Kosten der Kriegsführung der Alliierten und den Folgekosten des Krieges zu beteiligen. Hierzu zählten u. a. die Pensionen der geschädigten Zivilpersonen und der militärischen Opfer des Krieges sowie die Unterstützung für Kriegsgefangene und ihre Familien. Aus der Sicht von Briten, Franzosen und Italienern war das erforderlich, weil die Bevölkerung der Siegerstaaten auf der einen Seite eine Friedensdividende erwartete, auf der anderen Seite aber die USA ihren Schuldnern in der Frage der interalliierten Schulden nicht entgegenkam. Trotz des militärischen Sieges befanden sich Frankreich, Großbritannien und Italien 1919 in einer finanziellen Notlage. Für einen „milden Frieden“, zu dem sowohl der US-Präsident als auch der britische Premierminister unter anderen Umständen möglicherweise bereit gewesen wären, schien es keinen Spielraum zu geben; und nur so ist, abgesehen von der Wahlkampfrhetorik, das berühmte Zitat von Eric Geddes, dem konservativen britischen Minister im Kabinett von Lloyd George, zu verstehen, der forderte „to squeeze the German lemon until the pips squeak“.46 Dabei war aber auch den Siegern klar, dass das Deutsche Reich nicht in der Lage sein würde, „die volle Wiedergutmachung aller […] Verluste und Schäden sicherzustellen“ (Art. 232). Es war deshalb notwendig einen Wiedergutmachungsausschuss zu bilden, der einen Zahlungsplan erstellen und die Leistungen überwachen sollte, aber auch Leistungen stunden konnte (Art. 233). Zum Erlass bestimmter Verpflichtungen war er allerdings nicht berechtigt. Um die Zahlungen sicherzustellen haftete das Reich mit seinem gesamten Besitz und sämtlichen Einnahmen (Art. 248). Da das Reich praktisch kaum noch über Devisen verfügte, um Zahlungen leisten zu können und da bis zur Erstellung des Zahlungsplanes noch einige Zeit vergehen würde, sollte es, um „schon jetzt die Wiederaufrichtung des gewerblichen und wirtschaftlichen Lebens“ in den vom Krieg besonders betroffenen Staaten zu ermöglichen, in den Jahren 1919 bis 1921 Sachleistungen im Wert von 20 Mrd. Goldmark erbringen.47 Aus dieser uto46 Zit. nach Keith Grieves, Sir Eric Geddes. Business and Government in War and Peace, Manchester 1989, 72. 47 Die gesetzliche Grundlage, um diese Sachleistungen erbringen zu können, bildete das Ausführungsgesetz zum Friedensvertrage vom 31.8.1919. Darin wurde die Reichsregierung ermächtigt, Leistungen von privaten Unternehmern „anzufordern, die zur Ausführung des Friedensvertrags erforderlich“ sind (§ 4, RGBl. 1919, 1531). Außerdem war die Reichsregierung berechtigt, „über Preisverhältnisse und Vorräte sowie über die Leistungsfähigkeit und die

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pisch hohen Summe sollten allerdings auch die Besatzungskosten48 und die Rohstoff- und Nahrungsmittelimporte bezahlt werden, die erforderlich werden würden, „um Deutschland die Möglichkeit zur Erfüllung seiner Verpflichtung zur Wiedergutmachung zu gewähren“ (Art. 235). Wie diese Sachleistungen im Einzelnen aussahen, wurde in einem Anhang erläutert. In der Anlage 3 wurde zunächst festgelegt, dass für „alle durch Kriegsereignisse verlorenen oder beschädigten Handelsschiffe oder Fischereifahrzeuge“ Ersatz zu leisten sei, „Tonne für Tonne und Klasse für Klasse“. Dabei mussten die Alliierten jedoch davon ausgehen, dass die sich in deutschen Häfen noch befindlichen Schiffe nicht ausreichen würden, um den Verlust zu decken. Deshalb waren zunächst alle den Reichsangehörigen gehörenden Schiffe mit mehr als 1.600 Bruttoregistertonnen sowie die Hälfte der kleineren Schiffe und ein Viertel der Fischereiflotte abzuliefern (§ 1). Gleichzeitig sollte die Reichsregierung die deutschen Werften veranlassen, innerhalb von zwei Jahren weitere Schiffe neu zu bauen, um diese dann ebenfalls abliefern zu können (§ 5). Drittens waren alle erbeuteten Flussschiffe zurückzugeben und als Ersatz für verlorene Flussschiffe waren Schiffe in deutschem Eigentum zu übereignen, wobei ein Anteil von 20 Prozent des deutschen Flussfahrzeugparks allerdings nicht überschritten werden durfte (§ 6). Die Auswirkungen der Waffenstillstandsbedingungen und des Versailler Vertrages auf die maritime Wirtschaft, die Werften und Reedereien, ist das Thema des Beitrages von Harald Wixforth. Während die Werften nach Kriegsbeginn weiterhin gut verdienten, führten der kriegsbedingte Rückgang der Handelsschifffahrt und der Verlust zahlreicher sich außerhalb der deutschen Häfen aufhaltender Schiffe bei den Reedereien schon während des Krieges zu einer dramatischen Situation. Als der Versailler Vertrag die Handelsflotten der Reedereien dann noch weiter verkleinerte und der erhoffte Wiederaufbau der Flotte durch Entschädigungszahlungen des Reiches, die nach dem „Siegfrieden“ durch Reparationen refinanziert werden sollten, in weite Ferne rückte, drohte der Zusammenbruch der gesamten Branche. Dazu kam es jedoch nicht, sondern bereits 1921 zeichnete sich, getrieben durch die „Geldflüssigkeit“ der Inflation, zumindest für die größeren Unternehmen der maritimen Wirtschaft die Möglichkeit ab, wieder an das Geschäftsmodell der Vorkriegszeit anknüpfen zu können.

Arbeitsverhältnisse von Verbänden, Unternehmern und Betrieben jederzeit Auskunft zu verlangen“ (§ 10, ebd., 1533). 48 Die Übernahme der Besatzungskosten war bereits Teil der Waffenstillstandsbedingungen vom November 1918 und wurde im Versailler Vertrag (Art. 249) erneuert. Dort wurde den Besatzungskosten die oberste Priorität eingeräumt. Erst danach kamen die Wiedergutmachungen und danach die sonstigen Verpflichtungen des Deutschen Reiches (Art. 251).

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In einem sachlich engen Zusammenhang mit der Ausschaltung der deutschen Konkurrenz auf den Weltmeeren stand auch die Abtretung zahlreicher Seekabelverbindungen von Emden nach Nordamerika, Afrika, Brasilien sowie Südostasien und China (Anlage 7). Sofern es sich bei den Kabelbetreibern um Privatgesellschaften handelte, wurden die Anlagekosten abzüglich einer „angemessenen Abschreibung“ dem deutschen Reparationskonto gutgeschrieben. Anlage 4 legte die Schadensersatzforderungen für zerstörte Gebäude und während der Besatzungszeit beschlagnahmte Güter fest. Der Wiedergutmachungsausschuss sollte der Reichsregierung eine Liste mit den abzuliefernden Gütern übergeben. Als Sofortleistung listete der Vertrag die Mengen an Nutztieren auf, die innerhalb von zwei Monaten nach Inkrafttreten des Vertrages an die belgische bzw. französische Regierung abzuliefern waren (§ 6). Quantitativ weitaus bedeutsamer waren die Steinkohle und ihre Veredelungs- bzw. Nebenprodukte (Koks, Benzol, Teer und Ammoniak), die als die wohl wichtigste Entschädigungsleistung in Anlage 5 näher bestimmt wurden. Die Empfängerländer waren Frankreich, Belgien, Luxemburg und Italien, wobei der Gegenwert der Lieferungen dem Reparationskonto gutgeschrieben wurde. In Verbindung mit den Gebietsverlusten (Saarrevier und seit 1921 auch Ostoberschlesien) lösten diese Bestimmungen in Deutschland eine schwere Energiekrise aus, die in der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen als Reaktion auf nicht erfüllte Reparationsverpflichtungen im Jahr 1923 gipfelte. Die Ursachen dieser Energiekrise und die Reaktionen von Staat und Steinkohlenbergbau sind das Thema des Beitrages von Dieter Ziegler. Die zweite quantitativ bedeutende Sachlieferung betraf die chemische Industrie. Wie in Anlage 5 ausgeführt wurde, hatte die Reichsregierung ein Verzeichnis mit den Vorräten an Farbstoffen und chemisch-pharmazeutischen Produkten beim Wiedergutmachungsausschuss einzureichen (§ 1). Aus diesem Verzeichnis konnte der Ausschuss dann diejenigen Produkte auswählen, die im ersten Halbjahr 1920 abzuliefern waren, wobei das Bezugsrecht einen Anteil von 25 Prozent der gelisteten Güter nicht überschreiten durfte. Bei der Produktion der chemischen Industrie in den folgenden Monaten durfte der Wiedergutmachungsausschuss das Bezugsrecht auf jeweils bis zu 25 Prozent der laufenden Produktion ausüben (§ 2). Auch in diesem Falle wurde der Gegenwert der Lieferungen dem Reparationskonto gutgeschrieben (§ 3). Der Schaden für die chemische Industrie hielt sich allerdings in Grenzen. Wie Werner Plumpe in seinem Beitrag zeigen kann, erleichterten die mit der Ratifizierung des Friedensvertrages fälligen Sachleistungen vielmehr den Zugang zu den bis dahin verschlossenen Absatzmärkten der Siegerstaaten. Die „finanziellen Bestimmungen“ und die „wirtschaftlichen Bestimmungen“ in den Teilen 9 und 10 waren zwar nur mittelbar mit den Reparationsleis-

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tungen verbunden, aber gleichwohl für die Fähigkeit des Reiches, sich so weit wirtschaftlich zu erholen, dass es die Forderungen der Alliierten überhaupt erfüllen konnte, von großer Bedeutung. Die wirtschaftlichen Bestimmungen schränkten zunächst die Zollhoheit des Reiches ein, indem festgelegt wurde, dass die Zollsätze für Waren aus den Siegerstaaten nicht höher liegen durften als die für irgendein anderes (Export-)Land (Art. 264). Die Zollsätze waren außerdem dem Stand vom 31.7.1914 anzupassen (Art. 269). Ferner waren Importund Exportverbote untersagt, sofern sie sich nicht grundsätzlich gegen alle Handelspartner des Deutschen Reiches richteten (Art. 266). Um die „wirtschaftlichen Interessen“ der Bevölkerung in den besetzten Gebieten zu schützen, wurden die Besatzungszonen aus dem deutschen Zollraum ausgegliedert, und es oblag den Besatzungsmächten eine Zollordnung für diese Gebiete zu erlassen (Art. 270). Ein besonders schwerer Schlag für die deutschen Unternehmen waren die Regelungen zu den während des Krieges erlassenen Bestimmungen über Rechte und Eigentum feindlicher Ausländer einschließlich Niederlassungen und Tochtergesellschaften von Unternehmen. Während die Maßnahmen gegen feindliche Ausländer im Deutschen Reich, wie nicht anders zu erwarten war, aufgehoben werden mussten (Art. 297) und dort, wo ein Schaden entstanden war, dieser entschädigt werden musste (Art. 298), galt das für deutsche Staatsangehörige und deren Vermögen und Rechte im feindlichen Ausland nicht. In der Anlage zum Abschnitt 4 der „wirtschaftlichen Bestimmungen“ heißt es dazu, dass „die Gültigkeit aller Eigentumsübertragungen, aller Liquidationsanordnungen gegen Unternehmungen […] und aller anderen Verfügungen […] bestätigt [wird], die von einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde eines der Hohen vertragschließenden Teile in Anwendung der Kriegsgesetzgebung über feindliche Güter, Rechte und Interessen […] erlassen worden sind“. Diese „anderen Verfügungen“ wurden später u. a. folgendermaßen definiert: Sequestration, Zwangsverwaltung, Gebrauch, Überwachung oder Liquidation, Verkauf (ohne Genehmigung des Eigentümers) oder Verwaltung von Gütern, Rechten und Interessen (§ 1). Konkret bedeutete das, dass etwa im Falle Großbritanniens ein feindlicher Ausländer aufgrund des 1914 erlassenen Patent, Designs and Trade Marks (Temporary Rules) Act nach dem Krieg kein Recht hatte, vor einem britischen Gericht wegen Patentrechtsverletzungen auf Entschädigung zu klagen. Etwas weniger klar geregelt als der zurückliegende Umgang mit Eigentumsrechten feindlicher Ausländer in den Siegerstaaten war der künftige Umgang mit diesen Eigentumsrechten. Art. 306 sah zwar grundsätzlich die Wiederherstellung der Eigentumsrechte der früheren Rechteinhaber vor, schränkte diese Bestimmung aber gleich wieder ein. Denn den Siegermächten blieb „die Befugnis vorbehalten, diese Rechte […] in der für notwendig erachteten Weise zu be-

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grenzen, an Bedingungen zu knüpfen oder einzuschränken“. Als Gründe für solche Beschränkungen wurden genannt: das Interesse der Landesverteidigung, das Gemeinwohl oder als Druckmittel, um die vollständige Erfüllung aller sich aus dem Vertrag für Deutschland ergebenden Verpflichtungen sicherzustellen. Diese wachsweiche Formulierung gab den Siegermächten alle Möglichkeiten an die Hand, die Wiederherstellung der Eigentumsrechte zu unterlaufen, was im Falle Großbritanniens das Board of Trade auch weidlich ausnutzte. Die Rechtslage war gegenüber den USA zwar eine ganz andere, praktisch war die Situation aber auch nicht einfacher geregelt. Nach dem Versailler Vertrag sollten die USA an den Reparationszahlungen nicht direkt partizipieren, was auch dem deutschen Verständnis der „Wiedergutmachung“ nach den Waffenstillstandsbedingungen vom November 1918 entsprach. Denn seitens des Deutschen Reiches erwartete man zunächst noch, zu „Wiedergutmachungen“ lediglich dort herangezogen zu werden, wo der Zivilbevölkerung der Kriegsgegner im Westen Schäden durch Kriegshandlungen und Besatzung entstanden waren. Empfängerländer wären deshalb in erster Linie Belgien und Frankreich gewesen. Obwohl der Versailler Vertrag den „Wiedergutmachungs“-Begriff dann, wie oben erläutert, wesentlich weiter auslegte, hätten die USA, anders als etwa Großbritannien, von den Reparationszahlungen trotzdem nicht direkt profitiert, sondern lediglich mittelbar, indem die Kriegsschuldnerländer durch die deutschen Zahlungen eher in der Lage versetzt wurden, ihre Schulden gegenüber den USA abzutragen. Über die Beschlagnahmung von Vermögenswerten und Eigentumsrechten deutscher Staatsbürger in den USA erhielten aber auch die Vereinigten Staaten, quantitativ verglichen mit den Reparationszahlungen an die Verbündeten unbedeutende, aber qualitativ unter Umständen sehr hochwertige Reparationsleistungen. Während des Krieges waren auch in den USA seit 1917 in erheblichem Umfang Vermögen und darunter auch gewerbliches Eigentum deutscher Staatsbürger, insbesondere Niederlassungen und Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen beschlagnahmt worden. Für diesen Zweck war 1917 mit dem Office of Alien Property Custodian eine Behörde geschaffen worden, die seitdem sehr eifrig deutsches Eigentum in den USA beschlagnahmte und teilweise direkt an USamerikanische Interessenten weiter veräußerte. Nach Kriegsende wurde diese Praxis zwar etwas eingeschränkt, aber nicht beendet. Da die USA den Versailler Vertrag nicht ratifiziert hatten, musste das Land mit dem Deutschen Reich einen separaten Friedensvertrag schließen, der in vielerlei Hinsicht den Regelungen des Versailler Vertrages angepasst wurde. Das gilt insbesondere für die

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durch den Alien Property Custodian geschaffenen Fakten.49 Im Unterschied zu den Regelungen im Versailler Vertrag verständigten sich die US- und die Reichsregierung in einem zweiten Abkommen jedoch auf die Einrichtung einer Mixed Claims Commission, die über die Ansprüche von Regierung und Bürgern der USA entscheiden sollte,50 deren Befriedigung als Voraussetzung für die Freigabe von Vermögenswerten und Eigentumsrechten deutscher Staatsbürger in den USA angesehen wurden.51 So wie die Übergabe fast der gesamten deutschen Handelsflotte mit der Notwendigkeit der Kompensation für die kriegsbedingten Verluste der alliierten Hochseeflotten durch den uneingeschränkten deutschen U-Boot-Krieg legitimiert wurde, als Nebeneffekt aber auch die deutsche Konkurrenz für die britische Handelsflotte auf den Weltmeeren ausschaltete, so führte die Beschlagnahme von deutschen Vermögen in den USA im Falle von Niederlassungen oder Tochtergesellschaften deutscher Unternehmen dazu, dass amerikanische Unternehmen vor der deutschen Konkurrenz geschützt wurden. Denn vor dem Krieg wiesen die USA in manchen High-Tech-Branchen noch einen zum Teil erheblichen Rückstand gegenüber der deutschen Konkurrenz auf. Diesen Rückstand konnte die US-Industrie nun durch die Aneignung deutscher Vermögenstitel und Eigentumsrechte schnell und vor allem ohne dafür entschädigungspflichtig gemacht zu werden, aufholen. Die Rolle des Office of Alien Property Custodian in diesem Prozess – als Behörde, aber auch mit dem ersten Alien Property Custodian A. Mitchell Palmer als Person – sind das Thema des Beitrages von Joachim Scholtyseck. Johannes Bähr betrachtet diese Entwicklung dann von der anderen, der deutschen Seite am Beispiel von Siemens und Bosch, zweier vor dem Krieg stark weltmarktorientierter Unternehmen in High-TechBranchen, die durch den Verlust ihrer Vermögenswerte und Patente in den USA, aber auch in Großbritannien und Frankreich ihren ehemaligen Tochtergesellschaften in den 20er Jahren als neuen Konkurrenten auf diesen Märkten gegenüberstanden. Bei ihren Verhandlungen über den Vertragstext im Frühjahr 1919 hatten die Siegermächte immer wieder zwischen zwei Notwendigkeiten Kompromisse zu 49 Gesetz betreffend den am 25. August 1921 unterzeichneten Vertrag zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika, 20.10.1921, RGBl. 1921, 1317 ff., hier Sektion 2, 1318 f. 50 Gesetz über das am 10. August 1921 unterzeichnete deutsch-amerikanische Abkommen, 31.1.1923, RGBl. 1923, Teil 2, 113. 51 Im Text des Friedensvertrages vom August 1921 hatte es geheißen (Sektion 5): „Das Eigentum aller deutschen Staatsangehörigen […] soll von den Vereinigten Staaten von Amerika zurückbehalten werden. […] Dies gilt bis zu dem Zeitpunkt, wo die […] deutsche Regierung […] angemessene Vorkehrungen zur Befriedigung aller Forderungen […] getroffen“ hat. RGBl. 1921 (wie Anm. 49), 1319 f.

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suchen. Zum einen waren da die meist als berechtigt anerkannten Wiedergutmachungswünsche für unmittelbar zu behebende Schäden, die aber in ihrer Summe die derzeitige Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft übersteigen würden. Zum anderen war da die Gefahr, durch zu hohe Forderungen die Erholung der deutschen Wirtschaft zu verhindern. Die Erholung bildete aber die Voraussetzung dafür, um die auf mittlere Sicht verlangten Reparationszahlungen auch leisten zu können. Überdehnte man also die kurzfristigen Forderungen, riskierte man, am Ende gar nichts zu bekommen oder gar eine zweite, nun bolschewistische Revolution mit nicht abschätzbaren Folgen für das restliche Mitteleuropa. Deutschland verfügte über eine gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur mit einem dichten Eisenbahnnetz, das in den stärker ländlich strukturierten Regionen Nordwest- und Nordostdeutschlands durch regionale Neben- und Kleinbahnnetze ergänzt wurde sowie über zahlreiche schiffbar gemachte Flüsse, die zum Teil durch leistungsfähige Kanäle verbunden und ergänzt wurden. Wie in den anderen Krieg führenden Staaten auch waren das rollende Material sowie Schlepper und Kähne kaum erneuert oder ergänzt, sondern durch Verschleiß und Kriegseinwirkungen, gelegentlich auch durch Beschlagnahmungen, reduziert worden und in einem insgesamt schlechten Zustand. Wenn nun aber vor allem Frankreich und Belgien die Verluste durch kriegsbedingte Zerstörungen und Beschlagnahmungen ausgeglichen sehen wollten, schwächten sie damit die deutsche Verkehrsinfrastruktur und damit die Fähigkeit der deutschen Wirtschaft, die Werte zu schaffen, die die Sieger als Reparationsleistungen verlangten. Deshalb gab es in manchen Fällen, wie am Beispiel der Reparationskohle oder den Produkten der chemisch-pharmazeutischen Industrie schon erwähnt, eine Deckelung der Ansprüche. Die Teile 11 und 12 behandeln diese Kompromisse um die Eingriffe in die Verkehrsinfrastruktur, wobei der Teil 11 (mit sieben Artikeln) die Luftfahrt und der Teil 12 die Eisenbahnen und die Binnenschifffahrt (mit 74 Artikeln) regelte. Im Falle der Schlepper und Kähne konnte man sich offenbar zunächst nicht auf eine Deckelung der Ablieferungsverpflichtung verständigen. Der Versailler Vertrag bestimmte lediglich, dass „ein Teil der Schlepper und Boote“ auf Elbe, Oder, Memel und Donau abzutreten sei. Wie groß dieser Teil sein würde, sollte später durch einen „Schiedsrichter“ festgelegt werden (Art. 339). Die gleiche Regelung galt auch für Rhein und Mosel (Art. 357), wo nach dem Schiedsspruch eines amerikanischen Eisenbahnmanagers etwa 13 Prozent der Schleppkraft und 12 Prozent des Kahnraums abzuliefern waren. Da es sich bei den Eigentümern überwiegend um private Gesellschaften handelte, wurden unter Vermittlung der Reichsregierung die abzugebenden Schlepper und Kähne ausgewählt, wofür dann auch das Reich eine Entschädigung an die betroffenen Eigentümer

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zahlte.52 Obwohl viele Reedereien die Entschädigungszahlungen nutzten, um die Verluste durch Neubauten auszugleichen, wurde die deutsche Binnenschifffahrt durch diesen Aderlass erheblich beeinträchtigt, wobei die Einschränkung der Leistungsfähigkeit allerdings zu einem Zeitpunkt eintrat, als der andere große Verkehrsträger, die Eisenbahn, seine Verluste schon wieder auszugleichen begann, wie Christopher Kopper in seinem Beitrag herausarbeitet. Die Beschlagnahme von rollendem Material war rechtlich einfacher als die Beschlagnahme von Binnenschiffen, weil sich die deutschen Eisenbahnen überwiegend im Eigentum der öffentlichen Hand, meist der Bundesstaaten, befanden. Hier erfolgte der Aderlass bereits Ende 1918, weil in den Waffenstillstandsbedingungen festgelegt worden war, dass über 20 Prozent des Bestandes an rollendem Material sofort abzutreten war, was die Demobilisierung, also den Abtransport von Soldaten und Material von der Front, ebenso verzögerte wie ein gutes Jahr später die Reparationskohlelieferungen. Allerdings setzte bereits 1919 ein umfangreiches Neubeschaffungsprogramm ein, das die Lücken vergleichsweise schnell wieder auffüllen konnte und ein gigantisches Konjunkturprogramm für den Lokomotiv- und Waggonbau darstellte. Als der deutschen Delegation der Vertragstext in Paris übergeben wurde, waren die Reparationsleistungen der deutschen Eisenbahnen bereits Geschichte, so dass der Vertrag darauf nicht mehr weiter einzugehen brauchte. Geregelt wurde nur noch, dass mit der Abtretung von Gebieten, die zuvor zum Deutschen Reich gehört hatten, neben den Wasserstraßen und Häfen auch die dortigen „Eisenbahnanlagen und -einrichtungen […] vollständig […] und in gutem Zustand“ mit dem dazugehörigen rollenden Material übergeben werden mussten (Art. 371). Das wird für die deutsche Delegation aber keine Überraschung gewesen sein. Schwerer wog wahrscheinlich die im bereits erwähnten Art. 248 steckende massive Bedrohung deutscher Souveränitätsrechte. Danach haftete „der gesamte Besitz und alle Einnahmequellen des Deutschen Reiches und der deutschen Staaten an erster Stelle für die Bezahlung der Kosten der Wiedergutmachung und aller anderen Lasten“. Es war für die Reichsregierung und die Eisenbahnverwaltungen keine Frage, dass damit nicht zuletzt die Eisenbahnen gemeint waren, denen im Falle der Nichterfüllung von Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag die Übernahme der Kontrolle durch eine alliierte Kontrollbehörde drohte. Während es bei Luftfahrt und Eisenbahn sowie beim Nord-Ostsee-Kanal in erster Linie um den internationalen Zugang für ausländische Nutzer und ein Preisdiskriminierungsverbot ging, erlitt das Reich durch die Internationalisie52 Zu den Regelungen im Einzelnen vgl. Anton Napp-Zinn, Rheinschiffahrt 1913–1925, Berlin 1925, 132 ff.

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rung der großen Schifffahrtswege Rhein, Mosel, Elbe, Oder und Memel, die anders als Weser, Ems und die meisten Kanäle auch als Schifffahrtsweg für die Nachbarstaaten als Anrainer von Bedeutung waren, einen weiteren Souveränitätsverlust. Während die Schiffe, die unter einer anderen als der deutschen Flagge diese Wasserstraßen befuhren, in den deutschen Häfen und auf den deutschen Flussabschnitten nicht anders behandelt werden durften als deutsche Schiffe, galt das für deutsche Schiffe, die regelmäßig zwischen Häfen der Siegerstaaten verkehrten, nicht. Sie benötigten eine Genehmigung des jeweils betroffenen Staates für die Einrichtung einer solchen Schifffahrtsverbindung (Art. 332). Für die Verwaltung von Elbe und Oder wurden außerdem internationale Ausschüsse aus Vertretern der Anrainerstaaten und Vertretern der Siegermächte gebildet, in denen die deutschen Vertreter jeweils keine Stimmenmehrheit besaßen (Art. 340 für Elbe, Art. 341 für Oder). In den Häfen von Stettin und Hamburg musste das Reich außerdem an die Tschechoslowakei „Landstücke“ verpachten, um den Durchgangsverkehr zwischen Nord- bzw. Ostsee und den Oberläufen der beiden Flüsse zoll- und abgabefrei zu gewährleisten (Art. 363). Im Falle der Donau wurde die vor dem Krieg bereits bestehende Europäische Donaukommission wieder in ihre Rechte eingesetzt. Deutsche und Vertreter der Nachfolgestaaten der Donaumonarchie und damit außer Rumänien alle Anrainerstaaten waren dort allerdings zunächst ausgeschlossen (Art. 346). Die Anrainerstaaten waren lediglich zu Sonderausschüssen für bestimmte Flussabschnitte zugelassen (Art. 347). Im Falle des Rheins wurde die Revidierte Rheinschifffahrtsakte von 1868 wieder in Kraft gesetzt (Art. 354), der Sitz der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt wurde von Mannheim nach Straßburg verlegt und ihre Zuständigkeit auf den deutschen Abschnitt der Mosel ausgedehnt. Der Vorsitz dieser Kommission lag dauerhaft bei einem französischen Vertreter. Als neue Mitglieder der Zentralkommission wurden außerdem Vertreter der Nichtanrainerstaaten Belgien, Großbritannien und Italien bestimmt, so dass von den 19 Mitgliedern der Kommission nur noch vier aus Deutschland kamen (Art. 355). Wegen der Rückgabe Elsass-Lothringens an Frankreich waren die Schifffahrt auf dem Rhein und die Hoheitsrechte über die Nutzung des Rheins als neuem Grenzfluss zwischen Deutschland und Frankreich durch den Versailler Vertrag besonders stark betroffen. So gestand der Versailler Vertrag Frankreich das alleinige Recht zur beliebigen Ableitung von Rheinwasser sowie zur Nutzung der Wasserkraft des Rheins an der gemeinsamen Grenze mit Deutschland zu (Art. 358). Damit war die Grundlage für den Bau eines Kanals geschaffen, der westlich parallel zum Oberrhein verlaufen und den Rhein bei Straßburg mit der Rhone verbinden sollte. Da der Kanal nicht nur der Schifffahrt, sondern

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auch der Stromerzeugung dienen sollte, war geplant, fast die gesamte Wassermenge des Rheins durch den Kanal und die an ihm geplanten französischen Kraftwerke abzuleiten. Damit das Reich die Errichtung des Kanals nicht durch ein Betretungsverbot des deutschen Rheinufers verhindern konnte, musste es Wegerecht einräumen und Frankreich durfte alle rechtsrheinischen Grundstücke – allerdings gegen Entschädigung – in Besitz nehmen, die zur Errichtung des Kanals erforderlich werden würden. Nach der Errichtung des Rheinseitenkanals sollte im Grenzfluss außer bei Hochwasser nur noch eine geringfügige Rest-Wassermenge verbleiben. Die deutschen Rheinhäfen oberhalb von Kehl wären damit weitgehend vom Schiffverkehr mit Rhone und Mittelrhein abgeschnitten gewesen. Der Hafen von Kehl wurde darüber hinaus für die Dauer von sieben Jahren in einer Betriebseinheit mit dem Hafen von Straßburg zusammengefasst und damit de facto französisch kontrolliert (Art. 65). Um ein deutsches Konkurrenzprojekt östlich des Rheins zu verhindern, sah der Versailler Vertrag ausdrücklich ein Errichtungsverbot für einen „Seitenkanal […] auf dem rechten Stromufer“ vor (Art. 358). Kurz- und mittelfristig hatten diese Bestimmungen allerdings keine Auswirkungen, denn mit dem Bau des französischen Kanals wurde erst 1928 begonnen. Außerdem konnte er aus hydrologischen Gründen nicht in der Weise ausgeführt werden wie ursprünglich geplant. Abgeschlossen wurden die Bauarbeiten erst nach dem Zweiten Weltkrieg.53 Des Weiteren war das Reich verpflichtet worden, den Bau eines „Großschiffahrtswegs Rhein-Maas“ durch den belgischen Staat zu gestatten und auf seinem Territorium „in der Höhe von Ruhrort“ bis zur belgischen Grenze zu errichten (Art. 361). Dazu sollte es aber nie kommen. Während die Internationalisierung der großen mitteleuropäischen Ströme und der Souveränitätsverlust über die rein deutschen Flussabschnitte und die deutschen Häfen in der zeitgenössischen Literatur vor allem politisch bewertet wurden, als Teil der angeblichen Demütigungsabsicht des Versailler Vertrages, bedeuteten die Regelungen für die deutschen Binnenschiffer und die Reedereien vor allem eine Zunahme der Konkurrenz und damit einen Verfall der Frachtraten. Aus deren Sicht war es besonders bitter, dass ihnen nun Reedereien Konkurrenz mit Schiffen machten, die ihnen bis vor kurzem noch gehört hatten und die sie freiwillig kaum abgegeben hätten. Während die Ablehnung des Versailler Vertrages von allen im Reichstag vertretenen Parteien im Grundsatz geteilt wurde, war sich der Reichstag in der Frage, wie man mit den Bedingungen für einen dauerhaften Frieden umgehen 53 Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte (hrsg. i. A. d. Kommission für geschichtliche Landeskunde Baden-Württembergs), Bd. 5, Wirtschafts- und Sozialgeschichte seit 1918, Stuttgart 2007, 309.

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sollte, alles andere als einig. Rhetorisch war es für jede Oppositionspartei leicht sich dafür auszusprechen, dieser oder jener Forderung nicht zu entsprechen. Aber als Opposition musste man für die Folgen einer Nichterfüllung auch nicht geradestehen. Deshalb stimmten, wenn die ansonsten als „Erfüllungspolitiker“ gebrandmarkte Regierung keine Mehrheit hatte, doch fast immer ausreichend Oppositionspolitiker mit der Regierung, so dass mit Ausnahme der Erweiterung der rechtsrheinischen Brückenköpfe 1921 und der Ruhrbesetzung 1923 Gewaltmaßnahmen der Entente zur Erzwingung von Leistungen vermieden werden konnten. So war es auch, als die Alliierten der Reichsregierung im Mai 1921 das „Londoner Ultimatum“ übermittelten. Nachdem der Reichstag unter dem Druck einer drohenden Ruhrbesetzung dem Zahlungsplan zugestimmt hatte, stellte sich für die Reichsregierung die Frage, wie die geforderten Summen aufgebracht werden konnten. Dazu bediente sie sich des ein Jahr zuvor als Beratungsgremium geschaffenen vorläufigen Reichswirtschaftsrats, der für diese Frage in konstruktiver Weise eine Antwort erarbeiten sollte. Dessen Beratungen in den Jahren 1921 und 1922 analysiert Franz Hederer in seinem Beitrag. Im Raum standen dabei zum einen Verbrauchssteuererhöhungen, zum anderen aber auch der Zugriff auf das Produktivvermögen der deutschen Industrie, womit eine internationale Anleihe marktfähig gemacht werden sollte. Auch wenn die Arbeiten dieses Gremiums letztlich für den Papierkorb waren, zeigen die Diskussionen deutlich das Dilemma auf, vor dem die Reichsregierungen zwischen dem „Londoner Ultimatum“ und dem Dawes-Plan, mit dem die Reparationsgläubiger einen gangbaren Weg zur Erfüllung der Zahlungsverpflichtungen ermöglichten, standen. Die Reichsregierungen mussten auf der einen Seite Haushaltüberschüsse durch zusätzliche Steuern und Ausgabenkürzungen erwirtschaften, ohne den auch unabhängig davon kaum noch vorhandenen Zusammenhalt der Gesellschaft und damit die Stabilität des politischen Systems zu gefährden, an der im Übrigen auch die Siegermächte ein großes Interesse haben mussten. Denn sowohl ein Putsch von rechts als auch eine sozialistische Revolution hätten Regierungen hervorgebracht, die sich an die Unterschriften unter den Versailler Vertrag von 1919 und den Zahlungsplan von 1921 ihrer Vorgänger nicht mehr gebunden gefühlt hätten. Diese Quadratur des Kreises kannte dann nur eine Lösung: die Inflation. Sie ermöglichte durch Währungsdumping einen Exportboom mit entsprechenden Beschäftigungseffekten, während gleichzeitig Reparationsleistungen in Goldmark unmöglich wurden. Aber sie verschob die Strukturprobleme der deutschen Wirtschaft auf die Zeit nach der Währungsstabilisierung und hinterließ durch die Vernichtung der Ersparnisse weiter Teile der Bevölkerung eine tickende Zeitbombe, deren Sprengkraft die Weimarer Republik erst zu Beginn der 30er Jahre zu spüren bekommen sollte.

Dieter Ziegler

Die „Kohlennot“ 1919–1923 Der Versailler Vertrag und der deutsche Steinkohlenbergbau Es dürfte kaum eine andere Branche der deutschen Volkswirtschaft gegeben haben, auf die der Versailler Vertrag einen solch starken Einfluss ausgeübt hat wie der Kohlenbergbau, insbesondere der Steinkohlenbergbau. Da die Steinkohle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast eine Monopolstellung als Primärenergieträger besessen hatte und sie trotz des Siegeszuges des elektrischen Stroms seit der Jahrhundertwende, der immerhin zum Teil durch Braunkohle und Wasserkraft erzeugt wurde, immer noch eine Bedeutung besaß, wie sie kein anderer Primärenergieträger im 20. Jahrhundert je erreichen sollte, mussten Versorgungsprobleme mit Steinkohle in den frühen zwanziger Jahren die gesamte deutsche Volkswirtschaft in Mitleidenschaft ziehen. Der Versailler Vertrag hatte dem Deutschen Reich die Alleinschuld am Kriegsausbruch zugewiesen und daraus den Anspruch auf umfangreiche „réparations“ bzw. „reparations“, in der offiziellen deutschen Übersetzung „Wiedergutmachung“, abgeleitet. Da das Reich die im Versailler Vertrag noch nicht genau bezifferten Reparationszahlungen zunächst nicht in Gold oder (Gold-)Devisen erbringen konnte, erfolgten die Leistungen während der ersten Jahre nach Inkrafttreten des Vertrages in Sachgütern, von denen die Steinkohle das mit Abstand wichtigste Reparationsgut war. Die Beziehung zwischen dem Versailler Vertrag und dem Steinkohlenbergbau in Deutschland wird in der Forschung meist im Zusammenhang mit der Ruhrbesetzung durch französische und belgische Truppen und dem daraufhin von der Reichsregierung ausgerufenen passiven Widerstand im Jahr 1923 thematisiert, deren Auslöser ausgebliebene deutsche Reparationsgüterlieferungen, d. h. im wesentlichen Steinkohlelieferungen, gewesen waren. Dabei wird aber der außenpolitischen Dimension der Ruhrbesetzung und deren Bedeutung für die vollkommene Zerrüttung der deutschen Währung deutlich mehr Aufmerksamkeit zuteil als der energiepolitischen Dimension. Die Jahre 1919 bis 1923 waren in Deutschland Jahre der „Kohlennot“ und in Anbetracht der überragenden Bedeutung der Steinkohle als Primärenergieträger hatte das nicht nur Auswirkungen auf Industrie und Verkehr, sondern auch auf das alltägliche Leben der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Denn die Menschen hungerten nicht nur, sondern sie froren auch im Winter, weil die Hausbrandversorgung für die 1917 eingeführte Kohlenbewirtschaftung die nied-

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rigste Priorität besaß; und dieser Brennstoffmangel war keineswegs nur ein Problem des Jahres 1923. Dieses Jahr markiert nur den Höhepunkt einer Entwicklung, die während des Krieges begann, aber im Nachkriegsfrieden keineswegs beendet wurde, was sehr viel mit „Versailles“ zu tun hatte. Eine deutsche Energiekrise nach Kriegsende konnte eigentlich niemanden überraschen. John Maynard Keynes, der für das Schatzamt Mitglied der britischen Delegation in Versailles gewesen und bereits während der Verhandlungen, aber vor allem danach einer der schärfsten Kritiker der dem Deutschen Reich auferlegten Friedensbedingungen war, sah bereits unmittelbar nach Vertragsunterzeichnung eine Energiekrise auf das Reich und Europa zukommen. In seinem nach der Rückkehr aus Paris verfassten Werk „Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“, das in deutscher Übersetzung 1920 erschien, widmete er der Kohlenwirtschaft ein ganzes (Teil-)Kapitel.1 Er erwartete, dass der weitgehende Ausfall der französischen Steinkohlenförderung durch die Kriegszerstörungen und die Kompensation durch deutsche Reparationskohlenlieferungen sowie durch die Enteignung der Kohlegruben an der Saar in einem Verteilungskampf der europäischen Staaten um die verknappte Ressource Steinkohle münden würden. Betroffen wäre zunächst das Reich, das bei Erfüllung der Lieferverpflichtungen und des erwarteten Verlustes auch des oberschlesischen Reviers2 ganze Industrien würde stilllegen müssen und deswegen nicht in der Lage sei, die Steinkohlenexporte an seine Nachbarstaaten Österreich, Schweiz und Niederlande, die vor dem Krieg mit deutscher Kohle versorgt worden waren, wieder aufzunehmen. Außerdem erwartete er, dass die kriegsbedingte Erschöpfung von Menschen und Material nicht nur in den verbliebenen deutschen Revieren, sondern auch in den britischen Revieren zu einem deutlichen Rückgang der Förderung gegenüber den letzten Vorkriegsjahren führen werde, so dass britische Kohle nicht in der Lage sein würde, die ausbleibenden deutschen Lieferungen in diese Länder zu ersetzen. In seiner ein Jahr später verfassten, polemischer gehaltenen Kurzversion „Der Friedenvertrag von Versailles“ sah Keynes in dem Verteilungskampf um die Kohle sogar eine Gefahr für die angestrebte neue Friedensordnung: „Die Kohlenparagraphen des Friedensvertrages sind nicht ausführbar und werden es niemals sein. Aber für diesen Fall sieht der Friedensvertrag keine Bestimmung vor und die Höhe der Kohlenablieferungen wird eine Quelle ständiger Reibun-

1 John Maynard Keynes, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, München 1920, 63 ff. 2 Zum Zeitpunkt der Abfassung des Werks war die Zukunft Oberschlesiens noch offen und Keynes ging bei seinen Berechnungen davon aus, dass ganz Oberschlesien an den neuen polnischen Staat fallen würde.

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gen bilden, [...] welche die industrielle Tätigkeit aller europäischen Länder [...] dauernd hemmen werde. [...] Es wird zu militärischen Okkupationen und Blutvergießen kommen. Denn die Kohlenlage ist in ganz Europa [...] beinahe verzweifelt und kein Land wird seine Rechte aus dem Vertrag billigerweise aufgeben wollen.“3 In der Folge diente Keynes mit seiner Vertragskritik wiederholt der nationalistischen Rechten in Deutschland als Kronzeuge für ihre Agitation gegen das „Diktat“ und die deutschen „Erfüllungspolitiker“. Insbesondere seine, auf die Kohlenversorgung der europäischen Staaten bezogene dramatische Zuspitzung in dem Satz, „Menschen werden papierenen Diktaten nicht gehorchen, um durch sie ums Leben zu kommen“,4 wurde nur zu gerne zitiert. Aber das allein ist kein Grund sich nicht ernsthaft mit Keynes’ Kritik auseinanderzusetzen, zumal die Voraussage einer deutschen Energiekrise, zeitgenössisch in Deutschland als „Kohlennot“ bezeichnet, tatsächlich eingetroffen ist. Dieser Beitrag fragt deshalb, welches die Ursachen der „Kohlennot“ waren, wie auf die Problemlagen seitens des Staates und des Steinkohlenbergbaus reagiert wurde und vor allem, was das mit dem Versailler Vertrag zu tun hatte. Welche Auswirkungen die „Kohlennot“ auf die Volkswirtschaft besaß, kann an dieser Stelle nur am Rande thematisiert werden.

1 Die Gebietsverluste Im Jahr 1913 verfügte das Deutsche Reich über drei große und drei mittlere Steinkohlenreviere. Daneben gab es noch kleinere Kohlenfelder, die, da in Bayern und Norddeutschland gelegen, etwas abseits der großen ebenfalls erschlossen worden waren, aber quantitativ für die deutsche Energieversorgung nur eine sehr geringe Rolle spielten. Fünf der sechs großen und mittleren Reviere lagen unmittelbar an der Grenze des Reiches zu einem der Nachbarstaaten, das Saarrevier zu Frankreich und Luxemburg, das Aachener Revier zu Belgien und den Niederlanden, das oberschlesische Revier zu Russland (Polen) und dem Habsburger Reich (Böhmen) sowie die Reviere in Niederschlesien und Sachsen ebenfalls zu Böhmen; und selbst das größte dieser Reviere, das Ruhrgebiet, lag nicht weit von der Westgrenze des Reiches entfernt und besaß für die Energieversorgung und besonders für die Koksversorgung der westlichen Nachbarstaaten Niederlande, Luxemburg und Frankreich eine große Bedeutung.

3 John Maynard Keynes, Der Friedensvertrag von Versailles, Berlin 1921, 24 f. 4 Ebd., 24.

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Fast 90 Prozent der deutschen inländischen Steinkohle wurde aus den drei großen Revieren an der Ruhr, an der Saar und in Oberschlesien an die deutsche Wirtschaft und die deutschen Haushalte geliefert. Für den Hausbrand spielten daneben aber auch noch die drei Braunkohlenreviere am Rhein, in Mitteldeutschland und in der Lausitz vor dem Krieg eine nicht unbedeutende Rolle und auch die Importkohle aus Großbritannien (Steinkohle) und Böhmen (Braunkohle) besaß eine gewisse Bedeutung. Andererseits exportierten die Reviere in Oberschlesien und an der Ruhr weit mehr Steinkohle in das Ausland als das Reich aus dem Ausland einführte. Insofern trug der Steinkohlenbergbau nicht unerheblich dazu bei, das Handelsbilanzdefizit des Reiches zu mindern. Während des Krieges war der Braunkohlentagebau massiv ausgebaut worden, so dass die Braunkohle nach dem Krieg durch ihre Verstromung eine größere Bedeutung für die Energieversorgung besaß als vor dem Krieg. Für die Wasserkraft galt das so nicht, weil sie während des Krieges nicht in ähnlicher Weise ausgebaut worden war. Flüssige Treibstoffe (aus heimischen Mineralölquellen sowie Benzol) spielten wegen des geringen Motorisierungsgrades in den frühen zwanziger Jahren auch nur eine untergeordnete Rolle. Davon abgesehen war Benzol ebenso wie (Stadt-)Gas ein Nebenprodukt der Steinkohle und stellte insofern keine Alternative zur Steinkohle dar, sondern erhöhte noch die Abhängigkeit der Volkswirtschaft von diesem Primärenergieträger. Fasst man deshalb den deutschen Energiemix in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zusammen, dann hing die Energieversorgung ganz wesentlich von der Leistungsfähigkeit dreier Steinkohlenreviere ab, von denen zwei, das Saar- und das oberschlesische Revier, direkt Gegenstand des Versailler Vertrages gewesen waren, während eines, nämlich das Ruhrgebiet, in unmittelbarer Nähe der im Versailler Vertrag festgelegten linksrheinischen Besatzungszonen5 lag und dessen Besetzung seitdem als Druckmittel zur Erfüllung der deutschen Reparationsverpflichtungen gegen die Reichsregierung eingesetzt wurde. Es ist deshalb zunächst sinnvoll, die Bedeutung des Versailler Vertrages für die Kohlenwirtschaft an der Saar und in Oberschlesien zu betrachten, wobei im Falle Oberschlesiens der Versailler Vertrag den Status des Gebietes noch nicht endgültig geklärt hatte, so dass in diesem Fall auch das auf Druck der Entente abgeschlossene sog. Genfer Abkommen zwischen dem Deutschen Reich und der Republik Polen vom 15. Mai 1922 in die Betrachtung einbezogen werden muss.

5 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten v. 16. Juli 1919, Teil 14, Abschnitt 1, Artikel 428, RGBl. 1919, 1309.

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Der Versailler Vertrag und die Montanregionen im Westen des Reiches Nach dem Waffenstillstand fiel die gesamte Steinkohlenproduktion an der Saar, d. h. der preußische, der bayerische und der lothringische Teil des Kohlefeldes an Frankreich. Ende November 1918 rückten französische Truppen in das Saargebiet ein, lösten die auch dort entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte auf und stellten die staatliche Bergwerksdirektion Saarbrücken mit Wirkung vom 1. Dezember unter ihre Oberleitung. Für den Bedarf der Besatzungstruppen wurden seitdem Saarkohlen requiriert, was nach dem Waffenstillstandsabkommen auch rechtens war. Daneben wurde Saarkohle aber auch in erheblichem Umfang nach Frankreich verkauft und die auf die verkaufte Kohle zu zahlende Kohlen- und Umsatzsteuer nicht mehr an das Reich abgeführt. Unter diesen Bedingungen konnten die Gruben Lieferverpflichtungen gegenüber süddeutschen Abnehmern nicht mehr einhalten. Denn dem französischen Bedarf wurde uneingeschränkt Vorrang eingeräumt. Damit fiel bereits unmittelbar nach dem Waffenstillstand praktisch die gesamte Steinkohlenproduktion des Saarreviers in das französische Wirtschaftsgebiet, wozu nach dem Versailler Vertrag der preußische und bayerische Teil des Reviers gehörte, der nun „Saarbeckengebiet“ genannt und territorial durch den Vertrag abgegrenzt wurde.6 Dieses Gebiet wurde allerdings nicht von Frankreich annektiert, wie ursprünglich von französischer Seite gefordert, sondern unter die Verwaltung des Völkerbundes gestellt, der zu diesem Zweck eine sog. Regierungskommission einsetzte, die wesentlich unter französischem Einfluss stand. Nach 15 Jahren sollte „die Bevölkerung dieses Gebietes zu einer Äußerung darüber berufen“ werden, „unter welche Souveränität sie zu treten wünscht“.7 Da fast alle preußischen und der Großteil der bayerischen Steinkohlengruben im Besitz des preußischen bzw. bayerischen Staates waren, herrschte über die Eigentumsverhältnisse im Steinkohlenbergbau relativ schnell Klarheit. Denn gegen den anfänglichen Widerstand des US-Präsidenten Wilson hatte die französische Regierung ihr Ziel durchsetzen können, als wirtschaftliche Wiedergutmachung der Kriegsschäden durch den Versailler Vertrag in den Besitz der Saarbergwerke zu gelangen, was im Januar 1920 dann auch praktisch vollzogen wurde. Die Enteignungen betrafen aber nicht nur die preußischen und bayerischen Staatsgruben, sondern auch die private Gewerkschaft Hostenbach im ursprünglich preußischen und die Grube Frankenholz im ursprünglich bayeri-

6 Ebd., Teil 3, Abschnitt 4, Artikel 48, 769 ff. 7 Ebd., Artikel 49, 773.

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schen Teil des Reviers.8 Dabei war es „Sache Deutschlands, die Eigentümer oder Beteiligten zu entschädigen“.9 Ähnlich ging man bei den Anwartschaften auf Invaliden- bzw. Altersrenten der Belegschaften vor. Sie blieben zwar grundsätzlich bestehen. Allerdings hatte das Reich „dem französischen Staat die versicherungstechnischen Reserven der von dem Personal erdienten Renten zu übermitteln“.10 Nachdem die Eigentumsfrage an den Saargruben Anfang 1920 geklärt war, wurde im März 1920 mit der Administration des Mines Domaniales Française du Bassin de la Sarre eine französische Bergbehörde geschaffen, von der in der Folgezeit neben den ehemaligen preußischen Staatsbergwerken auch die bayerischen Staatsgruben und das Bergwerk Hostenbach geleitet wurden. Nur die Grube Frankenholz wurde an eine private Betreibergesellschaft verpachtet.11 Der Versailler Vertrag bestimmte weiter, dass für den Fall, dass die Saar aufgrund einer Volksabstimmung in 15 Jahren wieder an Deutschland fallen sollte, die Bergwerke weiterhin im Besitz des französischen Staates blieben. Dem Reich wurde lediglich das Recht zugestanden, die Bergwerke von Frankreich zurückzukaufen. Der Kaufpreis war in diesem Falle von einer vom Völkerbund eingesetzten Sachverständigenkommission festzusetzen.12 Was in der Nachbetrachtung wie ein Entgegenkommen aussieht, war aber ursprünglich nicht so gedacht. Denn in dem der deutschen Delegation vorgelegten Entwurf folgte ein Nachsatz: Danach sollte das Saargebiet endgültig an Frankreich fallen, wenn das Reich nicht in der Lage sein sollte, den festgelegten Kaufpreis für die Gruben innerhalb von sechs Monaten zu entrichten.13 Doch hier hatten die

8 In der Anlage zum Vertragstext, Absatz V „Saarbecken“, heißt es: „Das Eigentumsrecht des französischen Staates erstreckt sich auf die freien und noch nicht verliehenen sowie auf die bereits verliehenen Kohlenfelder, einerlei, wer der gegenwärtige Eigentümer ist. Es begründet keinen Unterschied, ob sie dem preußischen Staate, dem bayerischen Staate, anderen Staaten oder Körperschaften, Gesellschaften oder Privatleuten gehören, auch keinen Unterschied, ob sie bereits ausgebeutet werden oder nicht. [...] Bei den bereits erschlossenen Gruben erstreckt sich die Übertragung des Eigentums an den französischen Staat auf alle Nebenanlagen dieser Gruben, insbesondere auf die Einrichtungen und das Gerät zur Gewinnung über und unter Tage, [...] überhaupt auf alles, was die Eigentümer der Gruben oder diejenigen, die sie betreiben, zur Ausbeutung der Gruben und ihrer Nebenanlagen in Besitz oder Nutzung haben.“ (§ 2, § 3, 777) 9 Ebd., Teil 3, Abschnitt 4, Anlage, Kapitel 1, § 5, 779. 10 Ebd., § 4, 779. 11 Max Schulz-Briesen, Der preußische Staatsbergbau, Bd. 2: Der preußische Staatsbergbau von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart, Berlin 1934, 220 f. 12 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten v. 16. Juli 1919, Teil 3, Abschnitt 4, Anlage, Kapitel 1 § 5, 779. 13 Wolfgang von Hippel, Hermann Röchling 1872–1955, Göttingen 2018, 156.

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Franzosen überzogen. Denn der später ratifizierte Vertragstext sah für den Fall, dass das Deutsche Reich den Kaufpreis nicht innerhalb eines Jahres entrichten sollte, vor, dass die erwähnte Kommission „die Angelegenheit [...] durch die Liquidation des in Frage kommenden Teils der Gruben ordnen“ würde.14 Die Verhinderung der Annexionsmöglichkeit durch die Hintertür war nicht nur in der Sache wichtig, sondern sie stellte auch eine der wenigen Verbesserungen dar, die durch die deutsche Delegation in Versailles erreicht werden konnte. Für den Vertreter der Saarinteressen in der deutschen Delegation, den Stahlindustriellen Hermann Röchling war die Frage des Zugriffs auf die Saarkohle eine Frage von Leben oder Tod der gesamten Saarindustrie. Denn nach dem Steinkohlenbergbau war die Eisen- und Stahlindustrie der wichtigste Arbeitgeber der Region. Da an der Saar nur vergleichsweise wenig Fettkohle gefördert wurde, die vor dem Krieg noch nicht einmal ausgereicht hatte, um die Kokereien der Region ausreichend mit Kokskohle für den benötigten Hüttenkoks zu versorgen, würde ein französischer Zugriff auf die Saarkohle bedeuten, dass vorrangig die französischen Hütten beliefert werden würden, was zur Folge habe, so Röchling in einer im Februar 1919 für das Auswärtige Amt verfassten Denkschrift, dass „die Saareisenindustrie stillgelegt werden [müsse] und 50.000 Arbeiter [...] mit ihren Familien zur Auswanderung gezwungen“ würden.15 Soweit sollte es zwar nicht kommen, aber die französische Regierung nutzte ihre Kontrolle über den Saarbergbau, um den deutschen Einfluss an der Saar wirtschaftlich weiter zurückzudrängen. So drohte sie den sich im deutschen Besitz befindlichen Hüttenwerken an, sie von den Kohlenlieferungen abzuschneiden, wenn sie sich nicht bereitfänden, 60 Prozent des Kapitals an französische Interessenten zu übertragen. Da das Saargebiet nach einer Übergangszeit von fünf Jahren in den französischen Zollraum integriert werden würde,16 war nicht sicher, inwieweit das Reich zusätzlich zu den Reparationsverpflichtungen Kohle in den französischen Wirtschaftsraum würde liefern können, zumal man an der Saar nicht davon ausgehen konnte, dass ein dortiges Hüttenwerk in deutschem Besitz an Reparationskohlelieferungen beteiligt werden würde. Unter diesem Druck blieb den deutschen Unternehmen nichts anderes übrig, als der französischen Forderung nachzukommen, so dass bis Mitte 1920 die Kapitalmehrheit aller Hüttenwerke im Saargebiet, sofern sie sich nicht schon im Besitz ausländischer Eigentümer befanden, an französische Konsorti-

14 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten v. 16. Juli 1919, Teil 3, Abschnitt 4, Anlage, Kapitel 2, § 36, 801. 15 Zit. in Hippel, Röchling (wie Anm. 13), 146. 16 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten v. 16. Juli 1919, Teil 3, Abschnitt 4, Anlage, Kapitel 2, § 31, 795.

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en veräußert war. Lediglich die Mehrheit der Völklinger Hütte blieb im Besitz der deutschen Familie Röchling.17 Auch die im nun an Frankreich zurückübertragenen Teil Lothringens gelegenen Kohlegruben fielen zunächst an den französischen Staat, der sie nach dem Waffenstillstand beschlagnahmte. Nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages war er dann berechtigt, die Gesellschaften zu liquidieren, sofern es sich bei den Eigentümern um Bürger des Deutschen Reiches handelte. In diesen Fällen hatte die Entschädigung für die Enteignung wiederum das Reich zu tragen.18 So wurde etwa die Saar- und Mosel-Bergwerks-Gesellschaft, die von dem Ruhrindustriellen Hugo Stinnes erworben und von ihm als Hüttenzeche auf seine Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten-AG übertragen worden war, vom französischen Staat liquidiert und anschließend an ein französisches Industriekonsortium verpachtet. Stinnes’ Versuch, seinen Besitz vor dem Zugriff des französischen Staates zu retten, indem er die Aktien auf eine Holdinggesellschaft übertrug, die zu diesem Zweck in der Schweiz gegründet worden war, nützte nichts.19 Anders als Stinnes und die Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten-AG war die Grube de Wendel von diesen Eigentumsverschiebungen nicht betroffen, da die Eigentümer der Muttergesellschaft, der Kommanditgesellschaft Les petit-fils de F. de Wendel, die französische Staatsbürgerschaft besaßen und den Krieg auf der französischen Seite der Front verbracht hatten. Außerdem befand sich der Sitz der Muttergesellschaft im lothringischen Hayange und damit wieder in Frankreich.20 Bereits beim Waffenstillstand 1918 musste die Reichsregierung einwilligen, dass Truppen der Siegermächte die linksrheinischen Gebiete und vier rechtsrheinische Brückenköpfe besetzten. An die Grenze der Besatzungszone schloss sich östlich ein 10 Kilometer breiter Streifen als entmilitarisierte Zone an. Mit dem Versailler Vertrag wurde die Rheinlandbesetzung dann zwar auf eine völkerrechtlich verbindliche Grundlage gestellt, aber auf 15 Jahre befristet.21 Auch wenn diese Regelungen in erster Linie dem Sicherheitsbedürfnis Frankreichs und Belgiens geschuldet waren, betrafen sie auch die deutsche Energieversorgung, indem nun mit dem rheinischen Braunkohlen- und dem Aachener Stein17 Gerhard Seibold, Röchling. Kontinuität im Wandel, Stuttgart 2001, 182. 18 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten v. 16. Juli 1919, Teil 3, Abschnitt 5, Artikel 74, 821. 19 Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, 555. 20 Harold James, Familienunternehmen in Europa. Haniel, Wendel und Falck, München 2005, 175 f. 21 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten v. 16. Juli 1919, Teil 14, Abschnitt 1, Artikel 428, 1309.

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kohlenrevier zwei weitere deutsche Montanregionen dem unmittelbaren Zugriff der Besatzungsmächte unterlagen. Während die nahe der niederländischen Grenze gelegenen Steinkohlegruben zur belgischen Besatzungszone gehörten, gehörten die Gruben bei Eschweiler zur französischen Zone. Anders als an der Saar nahmen die Besatzungsmächte auf die Eigentumsverhältnisse der Gruben im Aachener Revier aber keinen Einfluss. Das lag zum einen an der im Versailler Vertrag nicht in Frage gestellten Zugehörigkeit des Besatzungsgebiets zum Deutschen Reich und zum anderen befanden sich alle Gesellschaften mindestens zum Teil entweder in französischem, luxemburgischem oder in niederländischem Besitz.22 Solche Unternehmen, Gruben- wie Hüttengesellschaften, blieben, wie erwähnt, ja auch an der Saar und in Lothringen eigentumsrechtlich weitgehend unangetastet.

Der Versailler Vertrag und die Montanregion im Osten des Reiches Nach dem Versailler Vertrag sollten Volksabstimmungen im Osten des Reiches über den Grenzverlauf zwischen dem Deutschen Reich und dem neu geschaffenen polnischen Staat entscheiden.23 In Oberschlesien war es bereits einige Monate vor Ende des Krieges, insbesondere aber nach dem Waffenstillstand zu heftigen Unruhen gekommen, wodurch sich die Kohlenförderung des Reviers, die während des Krieges noch vergleichsweise günstige Ergebnisse erzielt hatte, deutlich verringerte. Nachdem bereits 1919 interalliierte Truppen in Oberschlesien einmarschiert waren, wurde das gesamte Gebiet zu Beginn des Jahres 1920 der Verwaltung einer Interalliierten Kommission unterstellt, deren Hauptaufgabe darin bestand, die Abstimmung über die Zukunft Oberschlesiens vorzubereiten.24 Die Bestimmungen der deutschen Kohlenbewirtschaftung galten dort nicht. Der Kohlenmarkt und die Ausfuhr in das übrige Reichsgebiet unterstanden in dieser Zeit einer Interalliierten Kohlenverteilungsstelle, auf die die Funktionen des oberschlesischen Steinkohlenkartells („Kohlenkonvention“) und des

22 Zu den Eigentumsverhältnissen der vier Zechengesellschaften im Aachener Revier vgl. Friedrich Schunder, Geschichte des Aachener Steinkohlenbergbaus, Essen 1968, 249 ff. 23 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten v. 16. Juli 1919, Teil 3, Abschnitt 8, Artikel 88, 841 ff. 24 Ebd., Abschnitt 8, Anlage § 2; vgl. auch Gisela Bertram-Libal, Die britische Politik in der Oberschlesienfrage 1919–1922, in: VfZ 2 (1972),105–132, hier 109 f.; Guido Hitze, Carl Ulitzka (1873–1953). Oberschlesien zwischen den Weltkriegen, Düsseldorf 2002, 257 ff.

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Reichskommissars für die Kohlenverteilung („Reichskohlenkommissar“)25 weitgehend übertragen wurden.26 An der Abstimmung in Oberschlesien im März 1921 beteiligten sich 97,5 Prozent der Wahlberechtigten. Davon stimmten knapp 60 Prozent für einen Verbleib bei Deutschland und nur etwas über 40 Prozent für eine Angliederung an Polen. Dieses Ergebnis war eine Überraschung, da das Abstimmungsgebiet nur denjenigen Teil Oberschlesiens umfasste, in dem bei früheren Volkszählungen ein hoher Anteil polnischsprachiger Bevölkerung ermittelt worden war. Aufgrund des Abstimmungsergebnisses legten die britische und die italienische Regierung einen Gebietsaufteilungsvorschlag vor. Dieser Vorschlag, der drei Viertel Oberschlesiens, darunter fast das gesamte Kohlenrevier, bei Deutschland belassen wollte („Percival-de Marinis-Linie“), wurde nicht nur von polnischer Seite abgelehnt, sondern führte Anfang Mai 1921 zu einem Aufstand der polnischen Bevölkerung, in deren Verlauf polnische Freiwilligenverbände große Teile Oberschlesiens besetzten, die wiederum von deutschen Freikorpsverbänden zurückgedrängt wurden.27 Auf Druck der Interalliierten Kommission wurde zwar ein Waffenstillstand geschlossen. Aber vor allem dank der uneingeschränkten Unterstützung der polnischen Seite durch Frankreich verabschiede-

25 Der im Februar 1917 eingesetzte Reichskohlenkommissar war für die gesamte Kohlenverteilung für Heeres-, Marine und Zivilbedarf zuständig, was die Aufsicht über die gesamte Förderung des Kohlenbergbaus voraussetzte. Er war dem Reichskanzler direkt unterstellt und besaß das Recht zur Kohlebeschlagnahme. Seiner Behörde in Berlin waren elf amtliche Verteilungsstellen unterstellt, die jeweils in einem der elf Reviere angesiedelt waren, wodurch eine komplementäre Struktur zu den ebenfalls revierweise organisierten Kohlensyndikaten geschaffen wurde. Die Aufgabe der Verteilungsstellen bestand in der Kontrolle der Kohlenförderung und ihrer Verteilung, die bei den Syndikaten bzw. ihren Absatzorganisationen verblieben. Die Behörde hatte lediglich die Aufgabe, die Einhaltung der im Rahmen der Bewirtschaftung erlassenen Verordnungen zu überwachen. Lediglich im Konfliktfall konnte sich der Reichskohlenkommissar Kompetenzen aneignen, die bisher ausschließlich bei den Syndikaten gelegen hatten. Dazu kam es in der Praxis allerdings nicht. Reichskommissar und Syndikate pflegten einen ausgesprochen kooperativen Umgang miteinander. Gustav Stutz, Die öffentlich-rechtliche Organisation der deutschen Kohlenwirtschaft, Diss. TH Aachen 1925, 4 f.; Eva-Maria Roelevink, Organisierte Intransparenz. Das Kohlensyndikat und der niederländische Markt 1915–1932, München 2015, 106 f.; Christian Böse/Dieter Ziegler, Die Ruhrkohle in der kriegswirtschaftlichen Regulierung 1914–1918, in: JWG 2 (2015), 421–450, hier 444 f. 26 Dieter Wilhelm, Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat und die Oberschlesische Kohlenkonvention bis zum Jahr 1933, Diss. Erlangen-Nürnberg 1966, 277. 27 Zur komplizierten Gemengelage des deutschen Widerstands und zur ambivalenten Haltung der Reichsregierung gegenüber den Freikorpsverbänden nach dem Kapp-Putsch in Berlin s. Boris Barth, Die Freikorpskämpfe in Posen und Oberschlesien 1919–1021. Ein Beitrag zum deutsch-polnischen Konflikt nach dem Ersten Weltkrieg, in: Dietmar Neutatz/Volker Zimmermann (Hrsg.), Die Deutschen und das östliche Europa, Essen 2006, 317–333, hier 317 ff.

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te eine Botschafterkonferenz in Paris im Oktober 1921 einen neuen Aufteilungsplan, der den polnischen Forderungen weit entgegenkam. Danach verblieb beim Deutschen Reich mit Westoberschlesien zwar der flächen- und bevölkerungsmäßig größere Teil des Abstimmungsgebiets, aber dieser Teil war weitgehend agrarisch strukturiert. Mit Ostoberschlesien ging der Großteil des oberschlesischen Industriegebietes mit Kattowitz und Königshütte an Polen. Dort lagen 53 der 67 Steinkohlengruben und etwa 75 Prozent der oberschlesischen Steinkohle war sowohl 1913 als auch 1921 in den nun im polnischen Teil des Reviers gelegenen Zechen gefördert worden.28 Dort wurden außerdem sogar 85 Prozent der Kohlenvorräte vermutet. Von den acht Eisenhütten des Reviers mit zusammen 37 Hochöfen verlor das Reich außerdem fünf Eisenhütten mit zusammen 22 Hochöfen. Von den zwölf Stahlwerken lagen neun Stahlwerke im polnischen Teil, ferner gingen sämtliche zwölf Zinkhütten und die beiden Blei- und Silberhütten für das Reich verloren.29 Damit fiel ein Großteil der kohleverbrauchenden Industrie innerhalb des Reviers als Abnehmer für die westoberschlesische Steinkohle aus. Dabei hatte die oberschlesische Industrie schon vor dem Krieg in Relation zur Gesamtförderung deutlich weniger Steinkohle verbraucht als die energieintensiven Industrien im Ruhrrevier. Damit war zu befürchten, dass die verbliebenen westoberschlesischen Gruben einen noch größeren Teil ihrer Förderung außerhalb des Reviers absetzen mussten als vor dem Krieg, was neben der äußersten Randlage im Reichsgebiet wegen der dadurch anfallenden hohen Transportkosten nicht einfach werden würde. Auch die Mehrheit der großen Montankonzerne besaß Bergwerke und Produktionsanlagen in beiden Teilen des Reviers. Von den 19 größten Unternehmen Oberschlesiens verblieben mit dem Borsigwerk, der Donnersmarckhütte und den Oberschlesischen Kokswerken und Chemischen Fabriken AG nur drei mit ihren sämtlichen Anlagen auf deutschem Gebiet. Sechs Unternehmen befanden sich dagegen mit ihren sämtlichen Anlagen auf polnischem Gebiet und zehn Unternehmen waren wie das Revier geteilt worden.30 Auf beiden Seiten der Grenze setzte deshalb eine Tendenz zu Fusionen ein, um die Verluste auszugleichen und Ersatz für verlorene Rohstoff- oder Halbzeugquellen durch die Errichtung neuer Kapazitäten zu schaffen. Auf der westlichen Seite des Reviers ist in diesem Zusammenhang besonders die mit massiver staatlicher Unterstützung erfolgte Bildung der Vereinigten Oberschlesischen Hüttenwerke AG durch den Zusammenschluss von Oberschlesischer Eisenindustrie AG („Obereisen“) und 28 Paul Deutsch, Die oberschlesische Montanindustrie vor und nach der Teilung des Industriebezirks, Bonn 1926, 22. 29 Konrad Fuchs, Wirtschaftsgeschichte Oberschlesiens 1871–1945, Dortmund 1981, 175. 30 Wilhelm, Kohlensyndikat (wie Anm. 26), 279.

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Oberschlesischer Eisenbahnbedarfs-AG („Oberbedarf“) im Jahr 1926 von Bedeutung, wobei Oberbedarf schon vorher den Verlust der gesamten Kohlenbasis durch den Erwerb der Aktienmehrheit an der Donnersmarckhütte mit ihrem umfangreichen, ausschließlich in Westoberschlesien gelegenen Grubenbesitz ausgeglichen hatte.31 Darüber hinaus wurde in Oberschlesien kaum Fettkohle gefördert, so dass die Hütten des Reviers schon vor dem Krieg Fettkohle bzw. Koks aus Niederschlesien für ihre Hochöfen zukaufen mussten. Der Mangel an verkokbarer Kohle war nach der Teilung besonders für die deutschen Hütten ein Problem. Denn die wenigen Zechen Oberschlesiens, die backfähige und damit verkokbare Kohle förderten, lagen in den Landkreisen Pless und Rybnik, die nach der Teilung beide zum polnischen Teil des Reviers gehörten. Um die Verluste ihrer in Ostoberschlesien gelegenen Steinkohlengruben zu kompensieren und die Koksversorgung zu sichern, gingen manche der großen vertikal integrierten Werke Oberschlesiens dazu über, Gruben im niederschlesischen (Waldenburger) Revier zu erwerben. So sicherte sich die Oberschlesische Eisenindustrie AG schon 1920 die Kuxenmehrheit an der Gewerkschaft Steinkohlenwerk Vereinigte Glückhilf-Friedenshoffnung in Hermsdorf.32 Unter dem Mangel an Kokskohle hatten aber auch die ostoberschlesischen Hütten zu leiden, zumal der Import aus Niederschlesien in den ersten Jahren nach der Teilung wegen der deutschen „Kohlennot“ kaum möglich war. Sie mussten deswegen minderwertige Kohlensorten verkoken und erzielten so einen weniger dichten und weniger festen Koks, der für den Einsatz im Hochofen eigentlich nicht geeignet war, aber mangels Alternativen trotzdem verarbeitet werden musste. Erst 1927 sollte es gelingen durch eine für solche minderwertigen Kohlensorten ausgelegte, aus Deutschland importierte Koksofenbatterie einen Koks zu produzieren, der wegen seiner höheren Festigkeit für den Einsatz in einem modernen Hochofen geeignet war. Dennoch war es auch weiterhin notwendig, für höhere Roheisenqualitäten wesentlich teureren Koks aus dem niederschlesischen oder aus dem Karwiner Revier (Tschechoslowakei) einzuführen, um ihn mit dem einheimischen Koks zu mischen.33 Die (preußisch-)fiskalischen Steinkohlegruben auf polnisch-oberschlesischem Boden ereilte nach der Teilung mit der Enteignung das gleiche Schicksal wie die fiskalischen Gruben an der Saar. Allerdings wurden die Gruben nach der Übernahme durch den polnischen Staat an eine polnisch-französische Akti31 Fuchs, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 29), 180 f. 32 Deutsch, Montanindustrie (wie Anm. 28), 51 f. 33 Heinrich Kufjetta, Die Lage der ostoberschlesischen Eisenindustrie seit ihrer Zugehörigkeit zu Polen, Diss. Breslau 1931, 51.

Die „Kohlennot“ 1919–1923 

47

engesellschaft (Société fermière des mines fiscales de l’Etat polonais en HauteSilésie S. A., kurz: Skarboferm) für 36 Jahre verpachtet. Mitte der zwanziger Jahre kontrollierte Skarboferm etwa 30 Prozent der ostoberschlesischen Steinkohlenförderung.34 Etwas komplizierter war die Situation der privaten Gruben. Nach dem Versailler Vertrag konnten die im polnischen Teil des Reviers gelegenen „Güter, Rechte und Interessen der deutschen Reichsangehörigen […] liquidiert werden“, wobei der Liquidationserlös allerdings „unmittelbar an die Berechtigten ausbezahlt“ werden musste.35 Wie das genau geschehen sollte, sollte in einem „späteren Abkommen geordnet“ werden. Doch das „spätere Abkommen“, das Deutsch-Polnische Abkommen über Oberschlesien („Genfer Abkommen“) vom Mai 1922, war in dieser Hinsicht wenig hilfreich. Die polnische Seite berief sich auf den Artikel 256 des Versailler Vertrages, wonach „die Mächte, in deren Besitz deutsches Gebiet übergeht, […] gleichzeitig alles Gut und Eigentum des Deutschen Reichs und der deutschen Staaten, das in diesen Gebieten gelegen ist“, erwarben. Der Gegenwert wurde dabei dem vormaligen Eigentümer nicht erstattet, sondern lediglich auf die Wiedergutmachungsschuld angerechnet.36 Die deutsche Seite sah dagegen in dem Genfer Abkommen eine Einschränkung des Enteignungsrechts. Darin hieß es nämlich, dass „unbeschadet der Bestimmungen des Artikels 256 des Versailler Friedensvertrages […] von Deutschland und Polen die Rechte aller Art […], die vor dem Übergange der Staatshoheit von natürlichen Personen, Gesellschaften oder juristischen Personen erworben worden sind, auf ihrem Teil des Abstimmungsgebiets […]“ anerkannt werden mussten37 und weiter, dass „Güter, Rechte und Interessen […] von deutschen Reichsangehörigen kontrollierten Gesellschaften in Polnisch-Oberschlesien nicht liquidiert“ werden durften.38 Ausnahmen waren in den ersten 15 Jahren nach der Teilung nur für „Großunternehmen“, zu denen Bergwerke ausdrücklich gehörten, mit Genehmigung einer Schiedskommission des Völkerbundes zulässig.

34 Deutsch, Montanindustrie (wie Anm. 28), 35 f.; Reinhard Lattka, Die Konzentrationsbewegung in der oberschlesischen Schwerindustrie, Diss. Köln 1927, 75; Christophe Laforest, La stratégie française et la Pologne (1919–1939). Aspects économiques et implications politiques, in: Histoire, économie & société 3 (2003), 395-411, hier 397 f.; Piotr Greiner, Die Teilung Oberschlesiens nach 1922 und ihre wirtschaftlichen Folgen, in: Lutz Budraß u. a. (Hrsg.). Industrialisierung und Nationalisierung, Essen 2013, 181–190, hier 184. 35 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten v. 16. Juli 1919, Teil 3, Abschnitt 8, Artikel 92, 857. 36 Ebd., Teil 9, Artikel 256, 1063. 37 Deutsch-Polnisches Abkommen über Oberschlesien v. 15. Mai 1922, Teil 1, Titel 2, Artikel 4 § 1, RGBl. 1922/II, 241. 38 Ebd., Titel 3, Artikel 6, 245.

48  Dieter Ziegler

Erst danach war der polnische Staat berechtigt, eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse bei privaten deutschen Unternehmen zu erzwingen.39 Eine naheliegende Interpretation wäre zwar gewesen, dass der Reichs- oder preußische Besitz entschädigungslos enteignet werden durfte, während Privatbesitz einstweilen unangetastet bleiben musste. Aber der polnische Staat hatte 1922 die Oberschlesischen Stickstoffwerke entschädigungslos enteignet und in Staatsbesitz überführt. Dieses Kalkstickstoffwerk war während des Krieges durch das Reich als Reichsstickstoffwerk Königshütte errichtet und im August 1920, also nach der Annahme des Versailler Vertrages durch die Nationalversammlung, aber vor dem Abschluss des Genfer Abkommens, privatisiert worden, wobei es sich bei den Käufern nach polnischer Auffassung allerdings um Strohmänner handelte, da sie den Kaufpreis vom Reich als Darlehen gegen die Verpfändung der Aktien erhalten hatten. Der polnische Staat sah sich deshalb nach Artikel 256 des Versailler Vertrages berechtigt, das Werk entschädigungslos zu enteignen, da es sich de facto weiterhin in Reichsbesitz befand. Die deutsche Seite klagte daraufhin vor dem Internationalen Schiedsgerichtshof des Völkerbunds in Den Haag, der nach Artikel 2, § 1 des Genfer Abkommens in Streitfällen zu entscheiden hatte.40 Ein Urteil erging aber erst 1926, so dass die Rechtslage während des hier betrachteten Untersuchungszeitraums in hohem Maße unsicher war.41 Deshalb wollten viele deutsche Industrielle nicht abwarten, bis ihr Besitz im polnischen Teil Oberschlesiens enteignet wurde. Einige Konzerne wie die Hohenlohe Werke AG, vor dem Krieg mit sieben Gruben der größte private Kohleproduzent des Reviers, reagierte auf diese Bedrohung, indem er das Unternehmen in zwei Teile aufspaltete, die Hohenlohe Werke mit den Gruben und Werken im polnischen Teil und die Oehringen Bergbau AG im deutschen Teil des Reviers. Gleichzeitig wurde ein größeres Aktienpaket der ostoberschlesischen Gesellschaft an einen französischen Interessenten verkauft, um sich auf diese Weise gegen Enteignung und „Polonisierung“ zu schützen.42 39 Ebd., Artikel 7 und Artikel 8, 246 f. 40 Ebd., Titel 1, Artikel 2, § 1, 240. 41 Das Schiedsgericht bestritt in seinem Urteil vom Mai 1926 grundsätzlich ein Entschädigungsrecht des polnischen Staates, weil sich das Deutsche Reich und Polen nicht im Kriegszustand befunden hätten, so dass Artikel 256 auf Polen keine Anwendung finden könne. Die Frage, ob sich die Stickstoffwerke nun in Privat- oder in Reichsbesitz befanden, war insofern irrelevant. Vielmehr hatte das Urteil eine grundsätzliche Bedeutung, da es jeglichen enteigneten Besitz betraf. Nach Ansicht von zeitgenössischen Beobachtern müsste das Deutsche Reich durch dieses Urteil auf einen Schlag zum größten Gläubiger des polnischen Staates geworden sein. Vgl. Frankfurter Zeitung (27.5.1926) und Neue Zürcher Zeitung (27.7.1927). 42 Klemens Skibicki, Industrie im oberschlesischen Fürstentum Pless im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 230.

Die „Kohlennot“ 1919–1923 

49

2 Die Reparationskohle Eine weitere gravierende Auswirkung auf den deutschen Steinkohlenbergbau und die Energieversorgung der deutschen Wirtschaft hatte der Versailler Vertrag durch seine Reparationsregelungen. Danach hatte das Reich an Frankreich, Belgien, Luxemburg und Italien zehn Jahre lang eine bestimmte Menge Kohlen als Reparation zu liefern, und zwar pro Jahr bis 1929 – an Frankreich sieben Mio. Tonnen, – an Belgien acht Mio. Tonnen und – an Luxemburg vier Mio. Tonnen. Italiens Ansprüche wurden von 4,5 Mio. Tonnen im Kohlenjahr 1919/20 auf eine jährliche Lieferung von 8,5 Mio. Tonnen ab 1924/25 gesteigert. Durchschnittlich mussten also etwa 25 Mio. Tonnen Steinkohle als Reparationsleistung vom deutschen Steinkohlenbergbau aufgebracht werden. Das entsprach mehr als 20 Prozent der Steinkohlenförderung des Deutschen Reiches im Jahr 1919 und immerhin noch etwa 13 Prozent der letzten Vorkriegsförderung. Zusätzlich musste der Produktionsausfall auf den zerstörten französischen Gruben durch deutsche Kohle ausgeglichen werden. Diese Mengen waren variabel und mussten die aktuelle Förderung der französischen Gruben auf den Stand von 1913 aufstocken. Diese Entschädigungsleistung durfte in den ersten fünf Jahren den Wert von 20 Mio. Tonnen und danach von acht Mio. Tonnen nicht überschreiten. Außerdem waren die Empfängerländer berechtigt, sich an Stelle von Kohle drei Viertel der Menge in Koks liefern zu lassen. Schließlich musste das Reich drei Jahre lang Kokereinebenprodukte wie Benzol, Teer und Ammoniak nach Frankreich liefern.43 Für die Festlegung und Überwachung der Reparationsleistungen war nach dem Versailler Vertrag eine Reparationskommission (in der offiziellen Übersetzung „Wiedergutmachungsausschuss“) zuständig, die sich unter französischem Vorsitz aus jeweils einem Vertreter der vier Gläubigerstaaten und den USA zusammensetzte.44 Ein zu diesem Zweck in Essen errichteter Unterausschuss (Commission des Charbons) vereinbarte mit der Reichsregierung, vertreten durch die Deutsche Kohlenkommission, einer Behörde des für Reparationsfragen neu gebildeten Reichsministeriums für Wiederaufbau, die monatlichen Liefermengen. Die Aufgabe der Deutschen Kohlenkommission war es, die Einzelheiten der auszuführenden Kohlenlieferungen im Benehmen mit der Commission des Charbons „festzustellen“ und die „Ausführung der Lieferungen zu 43 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten v. 16. Juli 1919, Teil 8, Abschnitt 1, Anlage 5, 1035 ff. 44 Ebd., Teil 8, Art. 233, 987 sowie Anlage 1, § 2, 1001.

50  Dieter Ziegler

veranlassen“.45 Zum „Veranlassen“ war die Behörde jedoch personell nicht ausgestattet.46 Dafür bediente sie sich des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats („Ruhrkohlensyndikat“), weil, wie schon während des Krieges, allein dessen Absatzorganisation in der Lage war, die Vorgaben logistisch umzusetzen.47 Lediglich die quantitativ wenig bedeutenden Reparationskohlenlieferungen der Aachener Zechen, die über keine vergleichbare gemeinsame Absatzorganisation verfügten, dürften von der Deutschen Kohlenkommission „veranlasst“ worden sein. Die Bezahlung der Kohlen erfolgte aus dem Reichshaushalt. In Frankreich wurde die Reparationskohle von der Office des houillères sinistrés übernommen und an die französischen Verbraucher verkauft, wobei der Abgabepreis unterhalb des Preises für englische Importkohle lag, um keine Absatzstockung eintreten zu lassen. Der Erlös wurde an den französischen Staatshaushalt abgeführt.48 An der grundsätzlichen Berechtigung der französischen Entschädigungsforderung herrschte außerhalb Deutschlands kaum ein Zweifel. Vor dem Krieg hatten etwa 134.000 Bergleute in den französischen Departements Pas-de-Calais und Nord auf 160 Gruben rund 27 Mio. Jahrestonnen Steinkohle gefördert. Schon im September 1914 wurden etwa zwei Drittel der nordfranzösischen Felder von deutschen Truppen besetzt und die dortigen Steinkohlenbergwerke vier Jahre lang für die deutsche Kriegswirtschaft ausgebeutet. Im französischen Herrschaftsgebiet verblieben in dieser Zeit nur 47 Bergwerke, die zusammen etwa 8,7 Mio. Tonnen jährlich förderten. Abgesehen von den Kriegsschäden durch Artilleriefeuer zerstörten die deutschen Truppen schließlich auf ihrem Rückzug systematisch Übertageanlagen, Wohnsiedlungen und fluteten zahlreiche Gruben.49 Im Jahr 1920 schätzte das französische Bauministerium deshalb, dass das Land im laufenden Jahr höchstens 20 Mio. Tonnen selber fördern wür45 Kabinettssitzung v. 11. Februar 1920, in: Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik, Das Kabinett Bauer, Bd. 1, Dokumente, Nr. 165, Berlin 1980, 593 f. 46 Dirk Hainbuch, Das Reichsministerium für Wiederaufbau 1919 bis 1924, Frankfurt a. M. 2016, 418. 47 In einer Besprechung des Reichsministers für Wiederaufbau mit rheinisch-westfälischen Großindustriellen über Wiedergutmachungsfragen äußerte sich das Vorstandsmitglied des Ruhrkohlensyndikats Georg Lübsen Mitte November 1919 zu der neuen Behörde, dass es das Syndikat begrüße, „wenn jetzt eine amtliche deutsche Kommission die Verhandlungen führt, damit das Syndikat nicht als Vertretung der Regierung auftreten muß, sondern sich wieder auf die Rolle des Sachverständigen und unter Umständen auch auf die Rolle der privatwirtschaftlichen Unternehmung zurückziehen kann“. Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik, Das Kabinett Bauer, Bd. 1, Dokumente, Nr. 98, Berlin 1980, 360 f. 48 Stutz, Organisation (wie Anm. 25), 6; Roelevink, Intransparenz (wie Anm. 25), 135. 49 Ferdinand Friedensburg, Kohle und Eisen im Weltkriege und in den Friedensschlüssen, München 1934, 92 f.; Natalie Piquet, Charbon – Travail forcé – Collaboration. Der nordfranzösische und belgische Bergbau unter deutscher Besatzung, 1940 bis 1944, Essen 2008, 33.

Die „Kohlennot“ 1919–1923



51

de, wobei zu berücksichtigen ist, dass der Energiebedarf aufgrund des Bevölkerungszuwachses und besonders aufgrund der Hüttenwerke in Lothringen und an der Saar deutlich höher lag als vor dem Krieg. Selbst unter Berücksichtigung der Saarkohle, mit der man etwa auf den Vorkriegsstand der Inlandsförderung kommen konnte, musste weit mehr als die Hälfte des Kohlenbedarfs eingeführt werden – Reparationskohlen aus Deutschland und teure, mit Devisen zu zahlende Kohlen aus Großbritannien.50 Auf der Konferenz von Spa im Jahr 1920, bei der einige im Versailler Vertrag offen gebliebene Fragen verhandelt wurden, wurden die Kohlenlieferungen auf monatlich zwei Mio. Tonnen Steinkohle festgesetzt. Aber diese Regelung hatte nicht lange Gültigkeit. Denn ein weiteres Jahr später wurde in London erneut über die Höhe der deutschen Reparationsleistungen und damit auch über die deutschen Kohlelieferungen verhandelt. Als die Reichsregierung mit 30 Mrd. (Gold-)Mark ein „absurd niedriges Angebot“ (Tooze) vorlegte, reagierte die Entente mit der Besetzung Düsseldorfs, Duisburgs und des Hafens in Ruhrort durch britische und französische Truppen.51 Mit Blick auf die Reparations (-sach-)leistungen war der Ruhrorter Hafen deswegen so bedeutend, weil von dort aus zu dieser Zeit etwa ein Drittel der Ruhrkohlenproduktion verschifft wurde. In den Augen der meisten Deutschen entbehrte das Vorgehen der Entente jeder nachvollziehbaren Begründung. Denn erstens kam der Wiederaufbau der nordfranzösischen Zechen sehr viel schneller voran als ursprünglich erwartet worden war52 und zweitens litten die belgische, die französische und die Saarkohle wegen der 1921 in den meisten Siegerstaaten einsetzenden Nachkriegsdepression unter erheblichen Absatzproblemen. Von einer „Kohlennot“ konnte im Gegensatz zum Reich demnach keine Rede sein, ja die Reparationskohlenlieferungen aus Deutschland verschärften die schwierige Situation für den dortigen Steinkohlenbergbau sogar noch. Während in Deutschland nach Überwindung der Demobilisierungskrise annähernd Vollbeschäftigung herrschte, wurden viele Bergleute in den Nachbarstaaten (einschließlich Großbritanniens)53 arbeitslos. Ein Umdenken setzte deswegen jedoch nicht ein. Frankreich war wegen der Kosten des Wiederaufbaus ebenso wie Großbritannien wegen seiner DollarSchulden dringend auf Reparationsleistungen angewiesen, wenn sie die dro-

50 Adam Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015, 454. 51 Gerald D. Feldman, The Great Disorder. Politics, Economics and Society in the German Inflation 1914–1924, Oxford 1993, 330 ff.; Tooze, Sintflut (wie Anm. 50), 456 f. 52 Piquet, Charbon (wie Anm. 49), 36. 53 Barry Supple, The History of the British Coal Industry, vol. 4, Oxford 1987, 194 ff.

52  Dieter Ziegler

hende Zahlungsunfähigkeit abwenden wollten.54 Um den Druck auf das Reich zu erhöhen, wurden in Paris sogar schon konkrete Pläne für eine Besetzung des gesamten Ruhrgebiets ausgearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt schreckte das französische Außenministerium aber vor einer solch radikalen Maßnahme noch zurück, zumal sich die Reichsregierung im Mai 1921 den französischen Bedingungen beugte.55 Der Grund für das Einlenken Berlins war aber nicht nur die angespannte Lage im Rheinland. Denn der deutschen Delegation gelang es in London nicht, die erhofften Garantien für den Verbleib Oberschlesiens beim Reich zu bekommen. Eine Teilung des Reviers rückte nun immer näher. Damit drohte die deutsche Steinkohleversorgung sich noch weiter zu verschlechtern, wodurch das zarte Pflänzchen der wirtschaftlichen Stabilisierung der Republik aufs Äußerste gefährdet wurde. Eine weitere Verschärfung der Konflikte mit den westlichen Nachbarn glaubte die Reichsregierung deshalb nicht riskieren zu können.

3 Gebietsverluste, Reparationskohle und die deutsche „Kohlennot“ In Anbetracht der Verpflichtungen gegenüber den Siegermächten bei gleichzeitigem Ausfall der Saarkohle und einige Zeit später auch des größten Teils der oberschlesischen Kohle gingen die deutsche Steinkohlenförderung und damit auch der Steinkohleverbrauch dramatisch zurück. Am dramatischsten war der Rückgang der Förderung im Jahr 1919 mit nur noch gut 60 Prozent der Vorkriegsförderung (s. Tab. 1). Die für den Verbrauch im Reich in diesem Jahr zur Verfügung stehende Steinkohlenmenge war allerdings noch niedriger, weil in der Statistik die Saarförderung noch enthalten ist, die für den Kohlebedarf im Reichsgebiet schon in diesem Jahr de facto kaum noch zur Verfügung stand. Auf der anderen Seite schlugen die Reparationsleistungen im Jahr 1919 noch nicht so stark zu Buche (Tab. 2). Auf den dringenden Wunsch der Franzosen hin hatte sich die Reichsregierung zwar im August 1919 bereiterklärt, bereits vor dem im Versailler Vertrag festgelegten Beginn im April 1920 mit den Lieferungen anzufangen, die auf die später zu leistenden Kohlenmengen angerechnet werden sollten. Aber aufgrund des Widerstands des Ruhrkohlensyndikats, das 54 Vgl. hierzu Tooze, Sintflut (wie Anm. 50), 361 ff. 55 Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985, 124; Ralph Blessing, Der mögliche Frieden. Die Modernisierung der Außenpolitik und die deutsch-französischen Beziehungen 1923–1929, München 2008, 94.

Die „Kohlennot“ 1919–1923 

53

die Kohlenlieferungen als Druckmittel gegen künftige französische Ansprüche einzusetzen gedachte, und aufgrund von Transportschwierigkeiten56 wurden bis März 1920 lediglich knapp vier Mio. Tonnen geliefert.57 Im Ergebnis bedeutete dies, dass die Förderung, außer der des Saarreviers, 1919 noch weitestgehend für den Inlandsverbrauch zur Verfügung stand (Tab. 3), auch wenn es natürlich aufgrund des Mangels an rollendem Material schwierig war, die Kohle dorthin zu transportieren, wo sie gebraucht wurde. Es war demzufolge noch nicht die Reparationskohle, die im Reich 1919 die „Kohlennot“ auslöste, sondern der Einbruch der Förderung aufgrund des Arbeitskräftemangels wegen der laufenden Demobilisierung und aufgrund von Streiks und politischen Unruhen. Tab. 1: Deutsche Steinkohlenförderung nach Oberbergamtsbezirken (1918–1924) Jahr

Fördermenge in 1.000t

davon im Oberbergamtsbezirk

Beschäftigte

Dortmund

Breslau

Bonn

1913

190.109

110.765

48.963

19.399

686.341

1918

158.254

91.952

44.307

15.966

566.677

1919

116.707

67.943

29.789

13.842

661.581

1920

131.356

84.993

35.937

5.604

713.278

1921

136.251

91.006

34.311

5.634

812.931

1922

119.182

93.800

14.324

6.059

694.340

1923

63.316

39.974

14.067

3.575

595.548

1924

118.769

90.796

16.490

6.839

558.938

Anmerkung: Der Oberbergamtsbezirk Dortmund umfasste im Wesentlichen das Ruhrgebiet, der Oberbergamtsbezirk Bonn das Saar- und das Aachener Revier und der Oberbergamtsbezirk Breslau die Reviere in Niederschlesien (Waldenburg) und Oberschlesien, wobei 1913 eine Förderung von etwa 44 Mio. Tonnen auf Oberschlesien (1922: knapp 9 Mio. Tonnen) und etwa 6 Mio. Tonnen auf Niederschlesien (1922: etwa 5,5 Mio. Tonnen) sowie etwa 17 Mio. Tonnen auf das Saar- und gut 2 Mio. Tonnen auf das Aachener Revier entfielen. Quelle: Eva-Maria Roelevink/Dieter Ziegler, Rohstoffwirtschaft: die bergbaulichen Rohstoffe, in: Marcel Boldorf (Hg.), Deutsche Wirtschaft im Ersten Weltkrieg, Berlin 2020, Tab. 1, 126.

56 Zur Überbeanspruchung der Eisenbahn bei gleichzeitigem Kohlenmangel 1919/20 vgl. Manfred Pohl, Von den Staatsbahnen zur Reichsbahn 1918–1924, in: ders./Lothar Gall (Hrsg.), Die Eisenbahn in Deutschland, München 1999, 71–108, hier 85 f.; vgl. auch den Beitrag von Christopher Kopper in diesem Band. 57 Hainbuch, Reichsministerium (wie Anm. 46), 403.

54  Dieter Ziegler

Im Oktober 1918 waren allein im Ruhrbergbau etwa 70.000 Kriegsgefangene sowie 20.000 belgische und russisch-polnische Zivilarbeiter beschäftigt. Innerhalb von drei Monaten waren fast alle Ausländer in ihre Heimat zurückgekehrt. Um die Jahreswende 1918/19 fehlten deshalb allein im Ruhrbergbau etwa 150.000 noch nicht demobilisierte oder gefallene Bergleute. Im Laufe des Jahres 1919 verschlimmerte sich die Lage trotz der von der Front zurückgekehrten Arbeitskräfte noch, weil sich viele „Ruhrpolen“ in die Steinkohlereviere nach Belgien und Nordfrankreich abwerben ließen. Diese zum großen Teil erfahrenen Arbeitskräfte wurden überwiegend durch bergfremde Arbeitsuchende fast aus dem gesamten Reichsgebiet ersetzt. Damit leistete der Ruhrbergbau zwar einen bedeutenden Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit während der Demobilmachung, und anders als in den meisten anderen Branchen wurden sogar die Frauen in den Tagesanlagen nicht sofort nach Kriegsende wieder entlassen. Aber der Mangel an erfahrenen Bergleuten war so nicht zu beheben. Auch die Anwerbeversuche von oberschlesischen Hauern waren nur bedingt erfolgreich, was nicht zuletzt daran lag, dass die Behörden zum „Schutze des Deutschtums“ kein Interesse an der Abwanderung der deutschen Bevölkerung aus Oberschlesien hatten.58 Tab. 2: Deutsche (Reparations-)Kohlenlieferungen 1920–1924 (in 1.000 Tonnen) Jahr

Frankreich/ Luxemburg

Belgien

Steinkohle

Steinkohle

Koks

Italien Koks

1919

1.100

817

1920

5.995

3.888

1.292

1921

6.683

3.882

2.610

135

1922

4.518

5.648

2.317

462

1923

1.690

2.277

1.284

231

1924

4.269

3.190

3.313

505

Steinkohle

Gesamt Koks

Steinkohle 1.204

Koks

104

33

850

1.406

113

8.693

4.001

2.797

83

12.090

4.100

2.616

94

9.451

6.204

1.348

33

4.322

2.541

3.797

102

11.416

3.703

Anmerkung: Die Lieferungen von Braunkohlenbriketts sind hier nicht berücksichtigt. Quelle: Eva-Maria Roelevink, Organisierte Intransparenz. Das Kohlensyndikat und der niederländische Markt 1915–1932, München 2015, Anhang, Tab. VII.II, 380.

Im Jahr 1920 stabilisierte sich der Arbeitsmarkt, so dass wieder deutlich mehr Menschen im Steinkohlenbergbau beschäftigt waren als gegen Kriegsende 58 Karin Hartewig, Das unberechenbare Jahrzehnt. Bergarbeiter und ihre Familien im Ruhrgebiet 1914–1924, München 1993, 62 f.

Die „Kohlennot“ 1919–1923 

55

(s. Tab. 1). Die politische Situation hatte sich zwar mit dem Kapp-Putsch und dem folgenden „Ruhrkrieg“ im Westen und wegen der polnischen Aufstände in Oberschlesien im Osten noch immer nicht beruhigt, aber es konnte trotzdem wieder mehr Steinkohle gefördert werden, obwohl in diesem Jahr erstmals die Saarkohle auch in der Statistik nicht mehr berücksichtigt wurde. Die für den Verbrauch im Reichsgebiet zur Verfügung stehende Menge erhöhte sich aber dennoch kaum. Denn nun kamen die Kohlelieferungen an Frankreich, Belgien und Italien langsam in Gang. Der Anteil der nach dem Versailler Vertrag zu liefernden Kohlen machte in diesem Jahr bereits etwa elf Prozent und im Folgejahr sogar mehr als 13 Prozent der gesamten deutschen Jahresförderung aus (s. Tab. 2). Der Inlandsverbrauch erholte sich deshalb von dem 1919 erreichten Tiefstand nur langsam und auch nur dann, wenn man berücksichtigt, dass mit den energieintensiven Industrien an der Saar und in Ostoberschlesien einige Verbraucher nicht mehr mit deutscher Kohle versorgt werden mussten (Tab. 3). Tab. 3: Die Steinkohlenversorgung Deutschlands 1919–1925 Jahr

Förderung

Ausfuhr

in 1.000 t

in 1.000 t

1913 = 100

in 1.000 t

Einfuhr 1913 = 100

Verbrauch

1913

190.109

45.478

100

11.360

100

155.991

1919

116.707

6.632

15

48

0

110.123

1920

131.356

23.048

51

356

3

108.664

1921

136.251

26.079

57

942

8

111.114

1922

119.182

23.980

53

14.146

125

109.348

in 1.000 t

1923

62.316

9.827

22

25.840

227

78.329

1924

118.769

27.100

60

13.463

118

105.132

1925

132.622

32.700

72

7.690

68

107.612

Anmerkung: Seit 1919 ohne Lothringen, seit 1920 ohne Saargebiet, seit 1922 ohne Ostoberschlesien. Der Verbrauch errechnet sich durch die Förderung abzüglich des Ausfuhrüberschusses. Quelle: Bericht des Rheinisch-Westfälischen Kohlen-Syndikats Geschäftsjahr 1933/34, 19.

Da ein großer Anteil der oberschlesischen und der Ruhrkohleförderung vor dem Krieg exportiert worden waren, wirkten sich der Verlust des östlichen Teils des oberschlesischen Reviers und die Überbeanspruchung der Ruhrkohle für die Reparationsleistungen auch negativ auf die Handelsbilanz aus. Nach einer Berechnung des Reichskohlenverbandes aus dem Jahr 1924 hatte sich die Kohlenausfuhrbilanz aktuell gegenüber dem Vorkriegsstand um knapp eine Mrd. (Gold-) Mark verschlechtert. Da neben der Kohlenausfuhr ein Großteil der oberschlesi-

56  Dieter Ziegler

schen Steinkohle, insbesondere die Förderung der fiskalischen Gruben, an die Reichsbahn geliefert worden war, wurde die Außenhandelsbilanz durch den Ausfall dieser Lieferungen noch zusätzlich belastet. Während die Reichsbahn von Januar bis Mai 1922 monatlich durchschnittlich 1,4 Mio. Tonnen Kohle aus inländischer Produktion bezogen hatte, waren es nach der Teilung Oberschlesiens von Juni bis Dezember 1922 keine 1 Mio. Tonnen monatlich, so dass die Reichsbahn für ihren Bedarf im Osten Deutschlands nun weitgehend auf ausländische, d. h. in den Jahren 1922 bis 1924 ostoberschlesische (also polnische) Kohle angewiesen war.59 Die „Kohlennot“ der Nachkriegsjahre war aber nicht nur ein quantitatives Problem. Sie führte auch zu einer deutlichen Qualitätsverschlechterung der gelieferten Kohle und der Nebenprodukte. So verschlechterte sich etwa die Gasqualität durch den vermehrten Zusatz von Wassergas und auch die Koksqualität sank, weil sich Frankreich einen Großteil der Reparationsleistungen als Koks liefern ließ (s. Tab. 2) und darauf achtete, dass nur erstklassige Qualitäten versandt wurden. Für den Absatz in Deutschland hatte das zur Folge, dass sich das Verhältnis von Kokskohlen zu anderen Kohlensorten deutlich zuungunsten der hochwertigen Kokskohlen verschob und deshalb auch minderwertigere Sorten an die Kokereien geliefert werden mussten. Dieser, aufgrund der schlechteren Sortenzusammensetzung produzierte Koks konnte aber nicht nach Frankreich geliefert werden und musste demzufolge in erster Linie auf dem Inlandsmarkt abgesetzt werden. Welche Auswirkungen die Reparationskohlenlieferungen auf den Ruhrbergbau hatten, ist bisher leider nur unzureichend erforscht. Sicher ist lediglich, dass die Rolle des Ruhrkohlensyndikats keineswegs nur die eines Ausführungsorgans für Anweisungen des Reichskohlenkommissars bzw. der Deutschen Kohlenkommission war. Was die klassischen Funktionen eines Kartells anbelangt, die Regulierung von Preis und Fördermengen, war der Handlungsspielraum tatsächlich begrenzt: Produktionsbeschränkungen waren in Anbetracht der „Kohlennot“ nicht angebracht und die „gemeinwirtschaftliche“ Regulierung durch das Kohlenwirtschaftsgesetz von 1919 verhinderte eine freie Preisbildung der Syndikate. Für das Ruhrkohlensyndikat stellte aber der Transport der Reparationskohlen ein lukratives Geschäft dar, das es sich auch nicht durch die Reparationsgläubiger aus der Hand nehmen ließ. Entsprechende Versuche der Reparationskommission, das Syndikat aus der Abwicklung der Reparationskohlenlieferungen auszuschalten, liefen ins Leere.60 59 Ernst Storm, Geschichte der deutschen Kohlenwirtschaft von 1913–1926, Berlin 1926, 124; Deutsch, Montanindustrie (wie Anm. 28), 28. 60 Roelevink, Intransparenz (wie Anm. 25), 135.

Die „Kohlennot“ 1919–1923



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Über die Größenordnung dieses bisher wenig beachteten Aspekts der Reparationskohlenfrage ist nichts bekannt. Aber die Gewinne müssen erheblich gewesen sein. Denn obwohl das Syndikat nach außen stark auftreten konnte, besaß die Transportfrage nach innen ein erhebliches Spaltpotenzial. Insbesondere die sog. Reederzechen, also die Zechengesellschaften mit einer eigenen Rheinflotte, hatten wenig Neigung, die Gewinne aus dem Reparationskohlentransport mit allen Syndikatsmitgliedern zu teilen und forderten, den Handel eigenständig, unabhängig vom Syndikat durchführen zu dürfen.61 Dazu kam es allerdings nicht, weil daran weder die Syndikatsleitung noch die anderen Mitglieder ein Interesse hatten; und ein Austritt einzelner Mitglieder aus dem Syndikat war durch eine Bundesrats-Verordnung aus dem Jahr 1915 und nach dem Krieg durch das Kohlenwirtschaftsgesetz untersagt.62 Dem Transportdienstleister Ruhrkohlensyndikat kam womöglich auch zugute, dass der Transportdienstleister Reichsbahn weiterhin Kapazitätsprobleme hatte. Die Wiederbeschaffung des nach dem Waffenstillstand abgelieferten rollenden Materials erfolgte nicht so schnell wie die neue Aufgabe der Reparationskohlenlieferungen Frachtkapazitäten in Anspruch nahm, so dass sich die erwartete Entspannung der Transportsituation für Steinkohle im Inland nach Kriegsende und Demobilisierung zunächst nicht einstellte. Insofern könnte es auch im Interesse der Reichsbahn gelegen haben, wenn die Rheinflotte des Ruhrkohlensyndikats die Bahn bei solchen Bestimmungsorten entlastete, die mit dem Binnenschiff erreichbar waren. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Versailler Vertrag auch die Auslieferung von bis zu 20 Prozent des deutschen Flussschifffahrtsparks vorschrieb,63 wodurch die Leistungsfähigkeit der Binnenschifffahrt erheblich beeinträchtigt wurde. In Anbetracht der Belastung durch die Reparationskohlen war an einen Steinkohlenexport außerhalb der Zwangslieferungen nicht zu denken. Im Gegenteil, selbst das im Vergleich zur Vorkriegszeit niedrige Niveau der deutschen Energieversorgung war überhaupt nur erreicht worden, weil zwischenzeitlich der Kohlenimport wieder aufgenommen worden war. Der deutliche Anstieg der Importe, den Tabelle 3 für das Jahr 1922 nahelegt, stellt allerdings insofern gar keine Veränderung dar, als es sich bei der Importkohle überwiegend um ostoberschlesische Kohle handelte, die vorher nicht als Importkohle, sondern bei der inländischen Förderung verbucht gewesen ist. Insofern ist es kein Zufall, 61 Ebd., 144 f. 62 Eva-Maria Roelevink/Dieter Ziegler, The Syndicate in a Web of Intervention: The RhenishWestfalian Coal Syndicate and the State 1893–1945, in: Ralf Banken/Ben Wubs (Hrsg.), The Rhine: A Transnational Economic History, Baden Baden 2017, 115–144, hier 125 f. 63 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten v. 16. Juli 1919, Teil 8, Abschnitt 1, Anlage 3, § 6, 1025.

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dass der Anstieg der Importkohle im Jahr 1922 nur geringfügig niedriger liegt als der Rückgang der Inlandsförderung im gleichen Jahr. Das niedrige Niveau der für den Inlandsverbrauch zur Verfügung stehenden Steinkohle in den Jahren 1919 bis 1923 bedeutete aber auch, dass sich der deutsche Steinkohlenbergbau weitgehend aus den alten Absatzgebieten außerhalb des Reiches zurückziehen und diese Märkte der britischen und zum Teil auch der nordamerikanischen Kohle überlassen musste. Auf mittlere Sicht drohte dadurch ein großes Problem vor allem für den Ruhrbergbau zu entstehen. Insofern war der extrem hart geführte Arbeitskampf im britischen Steinkohlenbergbau des Jahres 1926 für den deutschen Steinkohlenbergbau ein besonderer Glücksfall, weil er es der deutschen Konkurrenz nach Überwindung der „Kohlennot“ ermöglichte, dank des Ausfalls der britischen Kohle die alten Auslandsmärkte wenigstens zum Teil zurückzuerobern.64 Der deutlich verkleinerte deutsche Steinkohlenbergbau war aber noch von einer ganz anderen Seite in seiner Existenz gefährdet. Denn kein anderer Sektor der deutschen Wirtschaft stand so sehr im Zentrum der Sozialisierungsforderungen während der Revolution von 1918/19 wie der Steinkohlenbergbau. Obwohl im Dezember 1918 eine Kommission eingesetzt worden war, die bis Ende Januar 1919 insgesamt elfmal zusammentrat, kam es jedoch zu keinen Enteignungsmaßnahmen gegen die Eigentümer der deutschen Bergwerke.65 Zum einen hatte die Regierung Scheidemann, die nach der Wahl zur Nationalversammlung Mitte Februar ins Amt gekommen war und sich neben den Mehrheitssozialdemokraten auf die linksliberale Deutsche Demokratische Partei und das sozialkonservative (katholische) Zentrum stützte, kein Interesse an ordnungspolitischen Experimenten. Zum anderen drohte bei der Verstaatlichung von Bergwerksbesitz die entschädigungslose Übernahme durch die Siegermächte, wie es mit den fiskalischen Gruben an der Saar und in Oberschlesien dann auch, durch den Versailler Vertrag legitimiert, geschehen sollte. Die Sozialisierungskommission wurde deswegen von der Regierung einfach ignoriert,66 obwohl sich die Arbeitskämpfe in den Revieren, insbesondere im Ruhrrevier, wieder deutlich verschärften und die Lage dort den sozialdemokratischen und christlichen Gewerkschaften weitgehend entglitt. Als „weiße Salbe“ wurde dann zwar im März 1919 ein Sozialis64 Zu den Auswirkungen des Streiks auf den Ruhrbergbau sowie auf den west- und den ostoberschlesischen Steinkohlenbergbau vgl. Wilhelm, Kohlensyndikat (wie Anm. 26), 192, 289, 297 f. 65 Hans Mommsen, Die Bergarbeiterbewegung an der Ruhr 1918–1933, in: Jürgen Reulecke (Hg.), Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Rheinland-Westfalen, Wuppertal 1974, 275–314, hier 292 f. 66 Peter Wulf, Die Auseinandersetzung um die Sozialisierung der Kohle in Deutschland 1920/21, in: VfZ 1 (1977), 46–98, hier 47.

Die „Kohlennot“ 1919–1923 

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ierungsgesetz verabschiedet, das alle Unternehmen „zur Gewinnung von Bodenschätzen und zur Ausnutzung von Naturkräften“ ausdrücklich als für eine Sozialisierung gegen Entschädigung „geeignet“ bezeichnete. Aber konkrete Maßnahmen oder auch nur einen Zeitplan enthielt es nicht.67

4 Die „Kohlennot“ und die Arbeitsproduktivität unter Tage In der Zeit der „Kohlennot“ gab es im Ruhrrevier kaum einen Anreiz Rationalisierungsinvestitionen durchzuführen. Die Festsetzung der Kohlenpreise durch das Ruhrkohlensyndikat war nach dem Kohlenwirtschaftsgesetz nur noch mit der Genehmigung durch das „gemeinwirtschaftliche“ Kontrollorgan des Reichskohlenrates möglich, wobei es sich in den ersten Nachkriegsjahren inflationsbedingt immer um Preiserhöhungen handelte, die in der Regel auch von den Syndikaten durchgesetzt werden konnten. Denn die ebenfalls mit Sitz und Stimme im Reichskohlenrat vertretenen Gewerkschaften stützten die Preiserhöhungswünsche der Syndikate, weil sich damit auch Spielraum für Lohnsteigerungen ergab, den der Zechenverband als Arbeitergeber im Ruhrbergbau auch mehr oder weniger bereitwillig nutzte. Je mehr sich die Inflation beschleunigte, desto stärker wurde die Lohnentwicklung von der Produktivitätsentwicklung abgekoppelt.68 Denn die hatte sich schon während des Krieges und auch danach außerordentlich ungünstig entwickelt. So lag die Schichtleistung eines Untertagearbeiters 1921 an der Ruhr im Schnitt nur noch bei 68 Prozent des Wertes von 1913, in Oberschlesien war die Schichtleistung sogar auf 53 Prozent abgesunken.69 Dafür können im wesentlichen drei Faktoren verantwortlich gemacht werden: Erstens waren die Bergleute körperlich nach der langen Entbehrungszeit, die mit der Einstellung der Kampfhandlungen im November 1918 keineswegs zu Ende gegangen war, ausgezehrt, was sich bei dem zu dieser Zeit noch geringen Mechanisierungsgrad der Arbeit unter Tage bei der Gewinnung deutlich bemerkbar machen musste. Außerdem waren während des Krieges nur die notwendigsten Nebentätigkeiten durchgeführt worden und die Maschinen dort, wo sie eingesetzt waren, auch nur selten ersetzt worden, was zu hohen Ausfallzeiten führte. Zweitens mussten während der „Kohlennot“ wegen der niedrigen Arbeitsproduktivität zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt werden, die als „Berg67 Sozialisierungsgesetz vom 23. März 1919, RGBl. 1919, 341. 68 Rudolf Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau 1918–1933, Berlin 1986, 155. 69 Deutsch, Montanindustrie (wie Anm. 28), 82.

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fremde“ die durchschnittliche Schichtleistung pro Mann weiter senkten. So waren im Ruhrbergbau 1913 gut 360.000 Arbeiter, im Jahr 1921 aber gut 450.000 Arbeiter beschäftigt gewesen. Die Förderung lag aber trotzdem um etwa 15 Prozent niedriger als der letzte Vorkriegswert (s. Tab. 1). In Oberschlesien war die Situation ähnlich. Dort waren 1913 etwa 120.000 Menschen im Steinkohlenbergbau beschäftigt und auf dem Höhepunkt der Beschäftigung 1920 knapp 165.000. Die Förderung war hier sogar um gut 25 Prozent zurückgegangen. Es ist kaum vorstellbar, dass auch nur eine relevante Minderheit der Neubergleute in Oberschlesien Berufserfahrung mitbrachte. Denn die Zuwanderung von qualifizierten „Ruhrpolen“ setzte erst ein, als die staatsrechtliche Stellung Oberschlesiens geklärt war.70 Für diese Probleme kann der Versailler Vertrag nicht verantwortlich gemacht werden, denn sie hätten sich nach dem Krieg auf jeden Fall gestellt und stellten sich beispielsweise auch im britischen Steinkohlenbergbau in ähnlicher Weise. Der dritte Grund für die geringere Schichtleistung der Untertagearbeiter in den Revieren neben der physischen Überbeanspruchung von Bergleuten und Maschinen sowie dem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften war die vor allem an der Ruhr erkämpfte Schichtzeitverkürzung auf siebeneinhalb bzw. sieben Stunden unter Tage. Hinzu kam, dass im Unterschied zur Vorkriegszeit seit 1919 auch die Seilfahrt und der Transport zum und vom Arbeitsplatz unter Tage als Arbeitszeit gerechnet wurde, so dass die „produktive Arbeit“ unter Tage noch stärker verkürzt wurden als es in der nominalen Schichtzeitverkürzung zum Ausdruck kam. Bei dieser effektiven Arbeitszeitverkürzung um, je nach Revier, mindestens eineinhalb und bis zu mehr als zweieinhalb Stunden spielte der Versailler Vertrag insofern mittelbar eine Rolle, als es sich um ein Zugeständnis der Arbeitergeberseite zur Abwehr der „Sozialisierung“ des Bergbaus handelte. Ein wichtiges Argument der Sozialisierungsgegner war schon vor dem Bekanntwerden der Friedensvertragsbedingungen, wie erwähnt, die drohende Enteignung staatlichen Bergwerksbesitzes durch die Entente. Dieses Argument hatte durch den Versailler Vertrag mit seinem Artikel 256 noch einmal an Überzeugungskraft gewonnen. In einem gemeinsamen Gutachten hatten Reichsjustizministerium und Auswärtiges Amt 1921 festgestellt, dass eine Sozialisierung in Form eines Obereigentums des Reiches an Bergwerken ohne weiteres zur Anwendbarkeit des Artikels 248 des Versailler Vertrages auf bisherigen privaten Bergwerksbesitz führen würde.71 Artikel 248 legte fest, dass das Reich seinen ge70 Miroslaw Piotrowski, Die Polen im Ruhrgebiet in den deutsch-polnischen Beziehungen von 1918 bis 1939, in: D. Dahlmann (Hg.), Schimanski, Kuzorra und andere: polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg, Essen 2006, 201–226. 71 Schulz-Briesen, Staatsbergbau (wie Anm. 11), 95.

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samten Besitz und alle Einnahmequellen vorrangig für Wiedergutmachungszwecke einzusetzen hatte.72 Den Bergarbeitern wurde demnach damit gedroht, dass ihr Arbeitgeber im Falle einer Sozialisierung schon nach kurzer Zeit nicht mehr der vergleichsweise arbeitnehmerfreundliche (preußische) Staatsbergbau sein würde, sondern eine französisch dominierte interalliierte Grubenverwaltung, die sicherlich genauso wenig empfänglich gegenüber den Forderungen deutscher Bergleute sein würde wie die „Schlotbarone“ in der Vorkriegszeit – nur mit dem Unterschied, dass eine arbeitnehmerfreundliche deutsche Gesetzgebung zwar die privaten deutschen Unternehmer in ihrem „Herr im Haus“-Denken zügeln konnte, eine interalliierte Grubenverwaltung sich darum aber wohl wenig scheren würde. Neben diesem Drohszenario wurde den Bergleuten auf der anderen Seite eine sozialpartnerschaftliche Zukunft, abgesichert durch eingeschränkte Verfügungsrechte der Bergwerksbesitzer in Aussicht gestellt, in der sich die soziale Lage der Bergleute auf mittlere Sicht deutlich verbessern würde. Aus dieser Perspektive konnte die deutliche Schichtzeitverkürzung als eine Art Vorschuss auf diese bessere Zukunft verstanden werden, um damit dem revolutionären Teil der Bergarbeiterschaft das Wasser abzugraben. In Oberschlesien machte sich die neue Arbeitszeitregelung noch gravierender bemerkbar als an der Ruhr. Denn in Oberschlesien waren vor dem Krieg in der Regel zehn Stunden und in den ersten Nachkriegsjahren siebeneinhalb Stunden gearbeitet worden, an der Ruhr sank die Schichtzeit dagegen von achteinhalb auf siebeneinhalb und zeitweise auf sieben Stunden. Den deutlich schärferen Rückgang der Arbeitsproduktivität in Oberschlesien gegenüber dem Ruhrgebiet kann die Arbeitszeitverkürzung aber vermutlich nur zum Teil erklären. Die zeitgenössische Literatur macht für diesen Unterschied auch den Nationalitätenkonflikt verantwortlich, der durch die im Versailler Vertrag nicht endgültig geklärte Zukunft der Region von 1919 bis 1921 so sehr verschärft worden sei, dass es innerhalb der Belegschaften immer wieder zu Konflikten zwischen sich als Deutsche und sich als Polen verstehenden Arbeitern gekommen sei, die im Extremfall nicht mehr bereit waren, zusammen an einem Betriebspunkt zu arbeiten.73 Auf der anderen Seite kann die schließlich vollzogene Teilung des Reviers auch zu einer Pazifizierung der Belegschaften und damit zu einem Wiederan-

72 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten v. 16. Juli 1919, Teil 9, Art. 248, 1053. 73 Mit einer etwas anderen Wortwahl: Deutsch, Montanindustrie (wie Anm. 28), 85 f.; vgl. auch Eduard Skoczowski, Die Lage der oberschlesischen Bergarbeiter insbesondere während der Jahre 1914–1919, Oppeln 1921, 8.

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stieg der Arbeitsproduktivität beigetragen haben. Die 1922 endgültig vollzogene Teilung war zwar keine Lösung des Konfliktes, aber sie gab den Bergleuten Rechtssicherheit über ihre Zukunft, was auch die Möglichkeit einschloss, den Arbeitsplatz zu wechseln, um auf der „richtigen“ Seite der Grenze arbeiten zu können. Dieser Effekt lässt sich allerdings noch weniger quantifizieren als die These vom negativen Einfluss des Nationalitätenkonflikts auf die Arbeitsproduktivität 1919 bis 1921. Denn das Ruhrrevier unterlag im Jahr 1923 der Sonderbedingung von Besetzung und passivem Widerstand und fällt als Vergleichsregion für Oberschlesien in diesem Jahr aus. Auffällig ist allerdings, dass die Unternehmer in Westoberschlesien offenbar bereits vor der Stabilisierung der Währung ihre Gruben zu modernisieren begannen. Ein Grund dafür war die Bestimmung eines Zusatzabkommens zum Genfer Abkommen, wonach Polen und Deutschland das Recht besaßen, aus grenzüberschreitenden Erz- oder Kohlefeldern weiter zu fördern, auch wenn es auf der jeweils anderen Seite der Grenze keine eigene Schachtanlage gab.74 Wollten demnach deutsche Bergwerksunternehmen die Förderung in einem grenzüberschreitenden Kohlefeld ohne Schachtanlage auf deutscher Seite nicht allein der polnischen Bergwerksgesellschaft überlassen, mussten sie eine Schachtanlage auf deutschem Territorium errichten und das taten sie auch. Diese Schachtanlagen waren wesentlich moderner und leistungsfähiger als die aus der Vorkriegszeit stammenden Anlagen auf polnischer Seite. So ging die Gräflich Henckel von Donnersmarcksche Verwaltung schon unmittelbar nach der Teilung des Reviers daran, für das geteilte Grubenfeld Kons. Radzionkaugrube einen Doppelförderschacht auf deutscher Seite abzuteufen. In der Zwischenzeit wurde ein alter Wetterschacht zur Förderung genutzt, um die Förderung auf deutscher Seite nicht völlig einstellen zu müssen,75 was von der Bergbehörde offenbar auch nicht beanstandet wurde. Möglich war das frühzeitig hohe Investitionsvolumen im westoberschlesischen Bergbau vermutlich dadurch geworden, dass Unternehmensteile in Ostoberschlesien verkauft und die dadurch gewonnenen Mittel in den Ausbau der westoberschlesischen Gruben investiert wurden, um die Produktion zu erhöhen und damit den Verlust der ostoberschlesischen Gruben zu kompensieren. Die Erhöhung der Arbeitsproduktivität war aufgrund der modernen und leistungsfähigen neuen Anlagen zwar eher ein Nebeneffekt, der sich aber nach der Stabilisierung der deutschen Währung noch auszahlen sollte. Tatsächlich hatte die Arbeitsproduktivität der westoberschlesischen Gruben schon 1925 wieder das Vorkriegsniveau erreicht und damit den 74 Gesetz, betr. das deutsch-polnische Oberschlesische Bergwerksabkommen v. 22. Februar 1923, Artikel 3, RGBl. 1923/II, 120 f. 75 Deutsch, Montanindustrie (wie Anm. 28), 92.

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Rückstand gegenüber dem Ruhrbergbau aus den ersten Nachkriegsjahren aufgeholt. In Ostoberschlesien dagegen, wo die Unternehmen in der Zwischenzeit deutlich weniger hatten investieren können, lagen die Gruben noch etwa 15 Prozent unter dem Vorkriegsniveau.76

5 Die Ruhrbesetzung Als die Reichsregierung im Dezember 1922 um einen dreimonatigen Aufschub einer bis Jahresende fälligen Holzlieferung nachsuchte, stellte die Reparationskommission auf französischen Druck hin fest, dass Deutschland seinen Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag nicht in vollem Umfang nachgekommen war und schuf damit die rechtliche Voraussetzung für eine Besetzung des Ruhrgebiets. Britische und US-Diplomaten bemühten sich in den folgenden Wochen zwar darum, die Ruhrbesetzung noch zu verhindern. Aber da die USA als Gegenleistung für eine französische Zurückhaltung nicht bereit waren, Paris in der Frage der interalliierten Kriegsschulden entgegenzukommen, konnten sie sich nicht durchsetzen.77 Anfang Januar 1923 stellte die Reparationskommission fest, dass die deutschen Kohlenlieferungen nicht die festgesetzten Mengen erreicht hatten. Daraufhin überreichten die Botschafter Frankreichs und Belgiens in Berlin dem deutschen Außenminister eine Note ihrer Regierungen, in der eine Überwachung des Ruhrkohlensyndikats in Essen durch die Reparationsgläubiger angekündigt wurde, um künftig die Lieferungen der Reparationskohlen sicherzustellen. Zum Schutz der entsandten Ingenieursmission (Mission interalliée de Contrôle des Usines et des Mines, kurz: Micum) sollten französische und belgische Truppen eingesetzt werden.78 Daraufhin wurde der Sitz des Syndikats umgehend nach Hamburg verlegt, was die belgischen und französischen Truppen allerdings nicht davon abhielt am 11. Januar in das Ruhrgebiet einzurücken. Die Reichsregierung rief daraufhin den passiven Widerstand gegen die Besatzer aus und konnte sich dabei auf ein breites Bündnis der Parteien im Besatzungsgebiet stützen. Keinem Beamten war es danach gestattet, Anweisungen der Besatzungsmächte entgegenzunehmen, wodurch insbesondere das Verkehrssystem weitgehend zum Erliegen kam und die Kohle nicht mehr abtransportiert werden konnte. Im März 1923 gingen die Besatzer deshalb dazu über, 76 Schichtförderanteil für die bergmännische Gesamtbelegschaft, vgl. ebd., 94. 77 Blessing, Frieden (wie Anm. 55), 99 f. 78 Carl Bergmann, Der Weg der Reparationen, Frankfurt a. M. 1926, 221; Feldman, Disorder (wie Anm. 51), 633 f.

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Zechen, Kokereien und wenig später auch Eisen- und Stahlwerke stillzulegen, um den passiven Widerstand zu brechen. Außerdem wurden die Reichsbahnbeamten aus dem besetzten Gebiet ausgewiesen und das Eisenbahnwesen in eigener Regie übernommen.79 Diese Maßnahmen verbesserten die Versorgung Frankreichs und Belgiens mit Ruhrkohle und Koks jedoch nicht. Wie Tab. 2 zeigt, konnte Frankreich auf das gesamte Jahr 1923 gerechnet gerade einmal gut ein Drittel der Reparationskohlenlieferungen des Vorjahres sicherstellen, obwohl die Reparationskohlenlieferungen 1922 schon deutlich geringer ausgefallen waren als 1921 und damit den Anlass für die Ruhrbesetzung gebildet hatten. Die Ruhrbesetzung hatte auch für die französische Wirtschaft nicht die erhoffte Wirkung.80 So hatte die Produktion der lothringischen Hüttenwerke seit Beginn der Ruhrbesetzung nach einem Bericht des Verbandes der französischen Eisenindustriellen vom April 1923 wegen der ausgebliebenen Ruhrkokslieferungen um die Hälfte zurückgefahren werden müssen. Außerdem gelang es nicht, die ausbleibende Ruhrkohle auch nur ansatzweise durch Aachener Kohle zu substituieren, da auch im linksrheinischen Besatzungsgebiet der Aufruf zum passiven Widerstand von der Reichsbahn befolgt wurde und sich die Grubenbelegschaften in mehreren, teilweise wochenlangen Streiks den Anweisungen der Besatzer widersetzten.81 Verschlimmert wurde die Situation aus französischer Sicht auch noch dadurch, dass sogar an der Saar gestreikt wurde. Ursprünglich war dieser Streik zwar durch unerfüllte Lohnforderungen ausgelöst worden. Aber durch das harte Vorgehen der Regierungskommission wie den Einsatz von Militär gegen die Streikenden, Entlassungen von Bergleuten und Kündigungen von Werkswohnungen bekam der Streik schnell auch eine politische Dimension.82 Als Ende September 1923 der passive Widerstand von der Reichsregierung beendet wurde, weigerte sich die Reparationskommission weiter mit der Reichsregierung über die Kohlenlieferungen zu verhandeln. Die Durchführung der Reparationskohlelieferungen wurde nun auf die Micum übertragen, die mit einzel-

79 Vgl. hier ausführlich Klaus Schwabe (Hg.), Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 1984; Barbara Müller, Passiver Widerstand im Ruhrkampf: eine Fallstudie zur gewaltlosen zwischenstaatlichen Konfliktaustragung und ihren Erfolgsbedingungen, Münster 1995. 80 In der Literatur wird zwar gelegentlich behauptet, dass Frankreich durch die Ruhrbesetzung „erhebliche Gewinne“ erzielt habe (Tooze, Sintflut (wie Anm. 50), 550 mit Hinweis auf weitere Literatur). Aber für die Kohlenlieferungen – und nur die sind an dieser Stelle relevant – kann von einem französischen Gewinn sicherlich keine Rede sein. 81 Blessing, Frieden (wie Anm. 55), 107; Schunder, Geschichte (wie Anm. 22), 259. 82 Hippel, Röchling (wie Anm. 13), 229 f.

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nen Zechengesellschaften entsprechende Lieferverträge abschloss.83 Um für ein geschlossenes Vorgehen zu sorgen, bildete der Zechenverband eine Kommission, die mit der Micum eine Gesamtregelung verhandeln sollte.84 Nachdem sich die Reichregierung bereiterklärt hatte, die Reparationskohlenlieferungen zu einem späteren Zeitpunkt zu entschädigen, wurde Ende November 1923 ein bis April 1924 befristeter Rahmenvertrag geschlossen, der die Koks- und Kohlenmengen festlegte, die während der Vertragslaufzeit von den Steinkohlenzechen an der Ruhr als Reparationsleistungen an die Alliierten zu liefern waren. Im Gegenzug konnte die Ruhrindustrie ihre Produktion im vollen Umfang wieder aufnehmen. Wenig später trat dann auch der Aachener Steinkohlenbergbau dem Abkommen bei, wobei allerdings der Anteil der Reparationskohle an der Gesamtförderung mit Rücksicht auf die Versorgung der luxemburgischen Hütten etwas niedriger angesetzt wurde als an der Ruhr.85 Im Ergebnis erreichten die Reparationskohlenlieferungen 1924 schon fast wieder ihren Höchststand von 1921 (s. Tab. 2). Im Gegenzug ermöglichte es das Abkommen, dass bei allen Problemen im Einzelnen die Energieversorgung der deutschen Wirtschaft auch außerhalb der Reviere wieder in Gang kam und sich das Land dadurch wirtschaftlich erholen konnte, was wiederum eine der Voraussetzungen für eine Währungsreform mit dem Ziel einer dauerhaften Stabilisierung der Mark war. Trotz der Neuregelung der Reparationsleistungen nach dem Dawes-Bericht im September 1924 und der (Wieder-)Einführung einer deutschen Goldwährung wurden die Reparationskohlenlieferungen nicht eingestellt, was sich aufgrund der schwachen Inlandskonjunktur 1924/25 und der geringen inländischen Kohlennachfrage als ein Segen für den deutschen Steinkohlenbergbau erweisen sollte. Die Reparationskommission stellte jeweils für drei Monate ein „Kohlenprogramm“ auf, wobei bei Nichterfüllung nur noch eine Konventionalstrafe drohte. Da gleichzeitig die deutsche Kohlenförderung wieder anstieg, was nicht zuletzt durch eine im Dezember 1923 zwischen den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften vereinbarte Schichtzeitverlängerung auf den Vorkriegswert von achteinhalb Stunden unter Tage erreicht wurde, kam es seitdem nicht mehr zu Lieferengpässen. Im Gegenteil, obwohl sich nach Überwindung der Stabilisierungskrise die Inlandskonjunktur erholte, litt der deutsche Steinkohlenbergbau weiterhin an Überkapazitäten, was einerseits durch Rationalisierungsinvestitionen zur Verbesserung der internationalen Konkurrenzfähigkeit der deutschen Steinkohle und andererseits mit Zechenschließungen und der Entlassung 83 Stutz, Organisation (wie Anm. 25), 6. 84 Karl Dietrich Erdmann, Alternativen der deutschen Politik im Ruhrkampf, in: Schwabe, Ruhrkrise (wie Anm. 79), 32; Feldman, Stinnes (wie Anm. 19), 894. 85 Schunder, Geschichte (wie Anm. 22), 261.

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zehntausender Bergleute bekämpft wurde. Außerdem konnte mit dem Ende der „Kohlennot“ die Kohlenbewirtschaftung aufgehoben werden. Die Deutsche Kohlenkommission, seit Januar 1923 praktisch funktionslos, wurde im Oktober 1924 aufgelöst, während die Behörde des Reichskohlenkommissars nur noch die Zuständigkeit für die Regelung der Kohlenimporte und Exporte (einschließlich der Reparationskohlenlieferungen) besaß.86

6 Fazit: Die „Kohlennot“ und Versailles Auch wenn sich die den Steinkohlenbergbau betreffenden Regelungen des Versailler Vertrages seit 1924 mittelbar sogar positiv für den deutschen Steinkohlenbergbau auswirkten, waren die Folgen des Versailler Vertrages in der Zeit der „Kohlennot“ überwiegend unmittelbar und in ihrer Wirkung verheerend. Die Ursachen der „Kohlennot“ waren die territorialen Verluste des Reiches, die Reparationskohlenlieferungen und die dramatisch gesunkene Schichtleistung im Ruhr- und im oberschlesischen Steinkohlenbergbau. Für den Verlust der Saar- und der ostoberschlesischen Kohle war der Versailler Vertrag direkt verantwortlich. Auch das Argument, dass die ostoberschlesische Kohle grundsätzlich seit 1922 der deutschen Volkswirtschaft zur Verfügung stand, da die Republik Polen – anders als Frankreich im Falle der Saarkohle – nun weit mehr Steinkohle förderte als das Land selbst aufnehmen konnte, kann nicht gelten. Denn das Reich verfügte nicht über die Devisen, um Importkohlenlieferungen bezahlen zu können. Lediglich in den Jahren 1922 und 1923 waren Importe möglich, als auch die ostoberschlesische Industrie auf Importe aus Westoberschlesien angewiesen war und noch bis November 1923 die deutsche Mark in Ostoberschlesien als Zahlungsmittel geduldet worden war. Als auch die währungspolitische Teilung Oberschlesiens durch die Einführung der Rentenmark im Westen (November 1923) und des Złoty im Osten (April 1924), beides Maßnahmen zur Beendigung der Hyperinflation, vollzogen war, war der Import ostoberschlesischer Kohle für das Reich keine Option mehr. Wenig später eskalierte die Situation sogar noch durch einen Wirtschaftskrieg, den das Reich gegen den ostoberschlesischen Steinkohlenbergbau führte. Nach dem Genfer Abkommen hatte sich das Reich für drei Jahre verpflichtet, ostoberschlesische Kohle in Höhe von monatlich 500.000 Tonnen einzuführen. Als diese Verpflichtung im Juni 1925 ausgelaufen war, genehmigte der Reichskohlenkommissar die Einfuhr ostoberschlesischer Kohle nicht mehr. Denn ab86 Stutz, Organisation (wie Anm. 25), 5.

Die „Kohlennot“ 1919–1923 

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gesehen von der Tatsache, dass die „Kohlennot“ in Deutschland überwunden war und die Einfuhr ausländischer Kohlen auch andernorts auf Sorten beschränkt wurde, die der deutsche Kohlenbergbau nicht in ausreichender Menge liefern konnte (wie etwa Anthrazit), ging es auch darum, die polnische Wirtschaft insgesamt zu schädigen und insbesondere Skarboferm in die Knie zu zwingen.87 Insofern sind Keynes’ düstere Vorhersagen von 1919 eingetreten – auch wenn die „Kohlennot“ in Deutschland nicht so dramatisch ausfiel, wie er erwartet hatte. Das lag erstens daran, dass die oberschlesische Kohlenförderung wenigstens zum Teil im Reichsgebiet verblieb und zweitens lieferte das Reich wesentlich weniger Reparationskohle als im Versailler Vertrag festgelegt worden war. Das sollte dann aber vier Jahre später tatsächlich zu dem vorhergesagten Verteilungskampf mit „militärischer Okkupation“ und „Blutvergießen“ führen. Gänzlich falsch lag Keynes allerdings mit seiner Prognose einer europäischen Energiekrise. Die trat nicht ein, weil der erwartete Rückgang der MannSchicht-Leistung zwar in allen wichtigen Kohlen fördernden Ländern in Europa eintrat, aber erstens die Förderung in Deutschland durch den Zustrom von zehntausenden Neubergleuten auf dem bei Kriegsende erreichten Niveau gehalten werden konnte und zweitens die Wiederinbetriebnahme der zerstörten französischen Zechen schneller erfolgte als 1919 erwartet. Im Ergebnis litt deshalb besonders der britische Steinkohlenbergbau. So hätte er wegen der schwachen Binnennachfrage in Folge der Deflationspolitik der britischen Regierung vermutlich gerne zur Linderung der deutschen „Kohlennot“ beigetragen. Aber abgesehen von der extremen Notlage des Jahres 1923 war britische Kohle in Anbetracht des überbewerteten britischen Pfunds und der unterbewerteten Mark schlicht nicht bezahlbar. Die Briten litten aber auch unter den deutschen Reparationskohlen. Denn auch wenn die Lieferungen nicht den Mengen entsprachen, die in Versailles als „Wiedergutmachung“ festgelegt worden waren, verschlossen sie den französischen und italienischen Markt für die britische Kohle, da sich die Abgabepreise für Reparationskohle im Wesentlichen an dem Preis für britische Importkohle orientierten und diese in jedem Fall unterboten.88 Darüber hinaus sah sich die britische Kohle mit dem Problem konfrontiert, dass auch die Niederlande aus ihrer „Kohlennot“ während des Krieges die Lehre gezogen hatten, dass sie sich nicht unter allen Umständen auf Newcastle und Ruhrort verlassen konnten. Die Konsequenz war die Erschließung ihrer eigenen Kohlefelder in der Provinz Limburg, um dadurch die Importabhängigkeit zu re87 Deutsch, Montanindustrie (wie Anm. 28), 37; Stutz, Organisation (wie Anm. 25), 25 f. Zu den Auswirkungen dieser antipolnischen Politik auf die Kohlenimporte des Reiches vgl. Tab. 3. 88 Feldman, Disorder (wie Anm. 51), 335.

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duzieren.89 Schließlich bekam es die britische Kohle in Skandinavien, einem weiteren wichtigen Absatzmarkt der Vorkriegszeit, nun mit polnischer Kohle zu tun, die in Anbetracht der verschlossenen deutschen Grenze auf diese Märkte drängte.90 Es war deshalb keineswegs nur das Deutsche Reich, dessen Wirtschaft unter den die Steinkohle betreffenden Bestimmungen des Versailler Vertrages litt. Nationale Egoismen hatten schon bei der Abfassung des Vertragstextes die Feder geführt und die Problemlagen in den Volkswirtschaften aller europäischen Kriegsbeteiligten in den ersten Nachkriegsjahren waren nicht dazu angetan, ein Umdenken einzuleiten. Das zu erwarten, wäre wohl auch unhistorisch angesichts der Dimensionen dieses Krieges, der menschliches Leid in einem Maße verursacht hatte, wie es die Menschheit bis dahin nicht kannte und der materielle Güter in einem Umfang vernichtet hatte wie kein Krieg zuvor. Das macht die Regelungen des Versailler Vertrages zwar verständlich, aber nicht besser und zwar für die Besiegten wie für die Sieger.

89 Roelevink, Intransparenz (wie Anm. 25), 108 ff. 90 Piotr Greiner, Die Entwicklung der Wirtschaft vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, in: Joachim Bahlke u.a. (Hrsg.), Geschichte Oberschlesiens: Politik, Wirtschaft und Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 2015, 427–466, hier 452.

Charles Barthel

Aus für den „Zug nach der Minette“ – Der Waffenstillstand von Compiègne und die (Zwangs)Veräußerung deutscher Hüttenwerke im Großherzogtum Luxemburg (1918–1919) Am 29. Januar 1920, nach vollzogener Übernahme der linksrheinischen Besitztümer der Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG) durch ein luxemburgisch-französisch-belgisches Konsortium, begrüßte der Verwaltungsratspräsident der Aciéries Réunies de Burbach-Eich-Dudelange (ARBED) Gaston Barbanson die neuen ausländischen Teilhaber mit einer überschwänglichen Hommage an die bewegten Zeiten des ‚Großen Krieges‘. Noch während 1915 die Schlacht im Artois tobte, hätten er und Eugène Schneider von der französischen Rüstungsschmiede Schneider et Cie in Le Creusot dank einer „glücklichen Fügung“* zusammengefunden und seither, vereint in dem „unbeirrbaren Glauben“* an den „Alliierten Endsieg“*, alles Erdenkliche daran gesetzt, „die Deutschen aus den mächtigen Stahlwerken, die sie im lothringisch-luxemburgischen Erzbecken errichtet hatten, zu vertreiben“*.1 Die unternehmerische Selbstdarstellung eines Eroberungszuges mit (eher unerwartet) erfolgreichem Ausgang entspricht allerdings genauso wenig den historischen Begebenheiten wie die eigentümlichen Ausführungen der Brüder Emil und Adolf Kirdorf, die für die Kohle- bzw. die Stahlseite in der Leitung der GBAG verantwortlich waren. In Übereinstimmung mit Hugo Stinnes und dem Management seiner Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten-AG (Deutsch-Lux) mit Sitz in Bochum, die wie die GBAG eine Niederlassung im unabhängigen Großherzogtum besaß und diesen Standort nun räumen musste, waren sie bestrebt, der Öffentlichkeit den herben Verlust von riesigen Vermögenswerten so zu vermitteln, als sei er durch „Verrat“ seitens des neutralen Kleinstaats verursacht worden. Denn der einstige Juniorpartner im Deutschen Zollverein habe sich gleich nach dem Waffenstillstand von

1 Entwurf der Eröffnungsansprache für die Verwaltungsratssitzung vom 29.01.1920, in: Aciéries Réunies de Burbach-Eich-Dudelange [künftig ARBED], P.1. Hinweis: Alle mit einem * versehenen Zitate sind Übersetzungen des Originals https://doi.org/10.1515/9783110765359-003

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Compiègne „auf die falsche Seite gelegt“, als er dem Reich den Rücken kehrte und den Anschluss an die Siegermächte suchte.2 Die gegenseitigen, vom subjektiven Zeitgeist beschwingten Anfeindungen – sie belasten auch noch Jahre danach den transnationalen Dialog, nicht nur unter Industriellen – sollen im Folgenden hinterfragt werden, insbesondere vor dem Hintergrund der doch recht spezifischen Ausgangslage in Luxemburg. Im Gegensatz zu dem vormaligen Reichsland Elsass-Lothringen, das seit dem 11. November de facto an Frankreich zurückübertragen worden war, fand hier nämlich eine behördliche Beschlagnahme ‚feindlichen Besitzes‘ mitnichten statt. Auch sonst blieben luxemburgische Regierungsstellen den privaten Verkaufsverhandlungen unter Firmenlenkern weitestgehend fern. Zumindest theoretisch wäre demnach ein Verbleib der rheinisch-westfälischen Hüttenwerke im Lande durchaus vorstellbar. Es stellt sich deshalb die Frage, weshalb sich die Gelsenkirchener und die Bochumer von ihren Werken im südwestlichen Revier dennoch trennten? Die Klärung der Motivation ihres Handelns gibt zugleich Aufschluss über das zunächst seltsam zögerliche ‚Zugreifen‘ potentieller Nachfolgeunternehmen und trägt somit zu einem wesentlich differenzierteren Bild jener Transaktionen bei, die den seit Bismarck verfolgten deutschen „Zug nach der Minette“ noch vor dem Inkrafttreten der Versailler Friedensordnung zum Stehen brachten.3

1 Rechtliche Grundlagen Wie erwähnt fand in Luxemburg nach dem Krieg weder die Zwangsverwaltung noch eine Einziehung deutschen Firmenbesitzes statt. Gewiss, es gab viel Gerede darüber. Befeuert wurde es durch die höchst instabilen Verhältnisse im Land. Es kam auch in Luxemburg zu Arbeiterunruhen und revolutionären Aktivitäten nach deutschem oder sowjetischem Vorbild sowie zu einem heftigen Streit über die Zukunft der Monarchie. Erbitterte Grabenkämpfe zwischen der antiklerikalen Linken (Liberale und Sozialisten) und der christlich-sozialen Rechtspartei von Émile Reuter taten ein Übriges. Sie spalteten die Bevölkerung in sich unversöhnlich gegenüberstehende Lager. Auch außenpolitisch war die Atmosphäre extrem aufgeladen. Seit dem 18. November 1918 bezogen US-amerikanische Truppen Quartier im Land; wenige Tage später rückte ein französi2 Karl Heimann-Kreuser an Émile Mayrisch, 24.12.1924, in: ARBED, AC.7501.I. 3 Der Ausdruck stammt von Markus Nievelstein, Der Zug nach der Minette. Deutsche Unternehmen in Lothringen. 1871–1918. Handlungsspielräume und Strategien im Spannungsfeld des deutsch-französischen Grenzgebietes, Bochum 1993.

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sches Infanterieregiment nach. Es diente dem Schutz von Marschall Ferdinand Foch, der den Generalstab seiner ins Rheinland vorrückenden Armeen nach der Hauptstadt des Großherzogtums verlegt hatte. Etwa zeitgleich nötigten Paris und Brüssel ihren kleinen Nachbarn, die Mitgliedschaft im Deutschen Zollverein, dem das Land seit 1842 angehört hatte, zum Jahresende aufzukündigen. Die gemeinsam von den zwei Siegermächten angestrebte Herauslösung Luxemburgs aus der Einflusssphäre des Reichs darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide fortan in einem heftigsten Wettstreit um die Vorherrschaft über ein strategisch wie ökonomisch heiß begehrtes Fleckchen Erde standen, dessen staatsrechtliche Unabhängigkeit demzufolge wenigstens in den ersten Nachkriegsmonaten bedrohlich auf der Kippe stand. Zu alledem gesellten sich auch luxemburgische Strömungen, die zwar nur von Minderheiten getragen wurden, aber lautstark der vollständigen Angliederung Luxemburgs, sei es an Frankreich, sei es an Belgien, das Wort redeten.4 Das verworrene politische Tagesgeschehen und die vollkommen unkalkulierbaren Zukunftsperspektiven ließen die Gerüchteküche entsprechend brodeln. Gewieften Geschäftemachern kamen die Umstände sehr gelegen, weil sie allzu leicht mit vermeintlich ‚erstklassigen‘ Informationen aus ‚absolut sicherer‘ Quelle bluffen konnten, um ihre Gegenüber zu überrumpeln. Der Luxemburger Nicolas Zimmer ist solch ein Beispiel. Seit Jahren bestritt er seinen Lebensunterhalt als lokaler Vertreter des Charlottenburger Metallhandelsunternehmen Rawack & Grünfeld, in deren Auftrag er auch Geschäfte im französischsprachigen Grenzgebiet tätigte. Die ausgezeichneten Kontakte nach hüben wie drüben prädestinierten ihn förmlich als Mittelsmann, der Anfang Februar 1919 im Auftrag einer „Gruppe interalliierter Industrieller“* in Düsseldorf unterwegs war, um Deutsch-Lux ein Angebot für ihr Werk in Differdingen zu unterbreiten. „Zur Zeit laufen in Luxemburg Bestrebungen einflussreicher Politiker, die dahin zielen, die Luxemburger Regierung zu bestimmen, die deutschen Hüttenwerke bzw. den deutschen Besitz in Luxemburg zur Sicherstellung der Forderungen, die Luxemburg gegen Deutschland präsentieren wird, zu beschlagnahmen“, mahnte Zimmer eindringlich gleich zum Auftakt seiner schriftlich abgefassten Offerte, die er für den gerade aus Düsseldorf abgereisten Konzernchef Hugo Stinnes hinterlegte. „Im Falle die Beschlagnahme eintritt“, erläutert er dem ‚Prinzipal‘, „würde sehr wahrscheinlich eine Versteigerung der Werke erfolgen. Es wird angenommen, dass dann hohe Preise nicht erzielt werden. Selbst aber auch, wenn keine Beschlagnahme erfolgen sollte, so sei daran erinnert, dass die luxembur4 Einen guten Einblick in die Lage Luxemburgs nach dem Krieg vermittelt Gilbert Trausch, La stratégie du faible: le Luxembourg pendant la Première Guerre mondiale (1914–1919), in: ders. (Hg.), Le rôle et la place des petits pays en Europe au XXe siècle, Baden-Baden 2005, 45–176.

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gische Regierung neulich bei der Aufhebung des Zollvertrages die Interessen des Landes und seiner Einwohner unter den Schutz der Alliierten gestellt hat und sich mit deren Zuhilfenahme sofort nach Klärung der wirtschaftlichen Annäherung an deutschem Besitz schadlos halten werde. In diesem Falle wäre die Folge Sequestrierung oder Enteignung oder Veräußerung auf Betreiben der Alliierten. Es ergibt sich […] die Frage, ob es bei dieser Sachlage für ein deutsches Werk in Luxemburg nicht besser ist, jetzt zu annehmbaren Bedingungen zu verkaufen, als später lediglich Regressansprüche gegen den deutschen Staat entgegennehmen zu müssen“?5 Die scheinbar gutgemeinte Warnung Zimmers beinhaltete zwar einzelne Aussagen, die, wie zu zeigen sein wird, ein Fünkchen Wahrheit enthielten, insgesamt aber nicht zutrafen, da es sich lediglich um Halbwahrheiten mit oft ausgesprochen spekulativem Einschlag handelte. Richtig ist, dass die luxemburgische Regierung erwog, in Berlin Entschädigungen einzuklagen und sich dabei auf die Verletzung der Neutralität durch des Kaisers Heer stützte. Es ging hierbei hauptsächlich um Abfindungen für zivile Opfer von Fliegerangriffen sowie um die Entrichtung einer Kompensation für die etwa 200 Millionen Mark, mit denen das besetzte Staatsterritorium während des Krieges förmlich überschwemmt worden war und die nun mehr oder weniger wertlos waren. Korrekt ist auch, dass die Angelegenheit für heftigste Debatten im nationalen Parlament sorgte. Ausgerechnet Pierre Prum, der Sohn jenes Abgeordneten, der 1912/13 August Thyssen in der sogenannten Minenkonzessionsaffäre verteidigt hatte, entpuppte sich als stürmischer Widersacher der Ruhrmagnaten.6 In seiner Interpellation vom 19. März 1919 ermahnte er Staatsminister (Premierminister) Reuter, die im Großherzogtum angesiedelten Zweigstellen der GBAG, von DeutschLux und des Kölner Kabelherstellers Felten & Guilleaume in Steinfort als „Faustpfand“* oder, besser gesagt, als eine Art Rückversicherung einzusetzen, also die Übertragung der Werke solange zu verbieten, bis Deutschland die offenstehende Rechnung beglichen haben würde.7 Sofort nahmen militante Sozialisten und Gewerkschafter die Gelegenheit beim Schopf, um ihre wesentlich weitergehenden Forderungen öffentlichkeits5 Offerte, 06.02.1919, in: Archiv für Christlich Demokratische Politik, Sankt-Augustin [künftig ACDP], I-723, Mappe 15. 6 Vgl. Jacques Maas, August Thyssen und die luxemburgische Minenkonzessionsaffäre von 1912, in: Hémecht 2 (1994), 353–387. 7 Abgeordnetenkammer, Sitzungsbericht, 19.03.1919, 2248. Die Steinforter Schmelz wird im Folgenden ausgeklammert, um den Beitrag nicht über Gebühr aufzublähen. Ihr Ausschluss lässt sich im Übrigen dadurch rechtfertigen, dass es sich um eine eher bescheidene Hochofenanlage mit Elektrostahlwerk handelt. Vgl. Steve Kayser, La société des «Hauts Fourneaux et Aciéries de Steinfort» (1910–1962) …, in: Nos cahiers 3–4 (2003), 47–73.

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wirksam zu präsentieren: „Wir sollten nicht auf halbem Wege stehen bleiben“, argumentierten ihre Deputierten, „wir müssen die zu ergreifende Maßnahme auch auf die Luxemburger Schmelzen ausdehnen und Hand anlegen mit der vollständigen Sozialisierung des gesamten Industriegewerbes“*. Ihre unverhohlene Drohung, „der Tag werde kommen, […] an dem [das Proletariat] sich die großen Produktionsmittel aneignen wird“*, machte offenbar Eindruck auf den ewig zaudernden Regierungspräsidenten.8 Wie schon beim Achtstundentag wenige Monate zuvor, knickte Reuter auch diesmal ein, um seine Koalition der nationalen Einheit über die Runden zu retten. Vor allem aber fürchtete er den Dissidenten Prum, der weitere konservative Agrarier aus den Reihen der ‚Klerikalen‘ an sich binden und die erst bei den Wahlen im Sommer 1918 errungene Mehrheit der Rechten im Parlament gefährden könnte. Trotzdem bleibt Reuters Einlenken rätselhaft, weil er dem Ansinnen seines Kontrahenten auch mit vorhandenen Rechtsmitteln hätte begegnen können: Seit dem 11. Dezember 1918 untersagte eine großherzogliche Verordnung die „Veräußerung von unbeweglichen Gütern, sowie von Betriebsmaterial“ ab einem Verkaufspreis von läppischen 50.000 Franken (40.000 Mark) ohne die ausdrückliche „Zustimmung der Regierung“. Nachdem die Frankfurter Zeitung in einem Presseartikel darauf hingewiesen hatte, mit welch einfachen Winkelzügen eine solche Auflage problemlos durch langfristige Mietverträge umschifft werden konnte, wurde sofort nachgebessert und das Schlupfloch durch einen weiteren Beschluss vom 28. Februar 1919 gestopft.9 Reuters Nachgeben ist umso unverständlicher, als ihm sein Parteikollege und Finanzminister Alphonse Neyens nachdrücklich von überstürztem Handeln in der Angelegenheit abgeraten hatte. Neyens dachte wie viele andere Experten zuerst an die katastrophalen Auswirkungen der mit ziemlicher Sicherheit zu erwartenden Repressalien. Würde Berlin im Gegenzug sämtliches Luxemburger Kapital einfrieren, das in deutschen Banktresoren schlummerte oder in deutschen Anleihen oder Aktien angelegt war, käme spielend ein Gesamtbetrag von „Minimum ungefähr eine halbe Milliarde Mark“* beisammen, also weit mehr als die zu beschlagnahmenden Werte in Luxemburg Wert waren.10 Obwohl sogar manch einsichtiger Sozialdemokrat auf Anhieb verstand, dass diese Rech8 Abgeordnetenkammer, Sitzungsbericht, 19.03.1919, 2252. 9 Memorial des Großherzogtums Luxemburg, 12.12.1918, 1401–1402 und 28.02.1918, 219–220; Abgeordnetenkammer, Sitzungsbericht, 26.03.1919, 2328. 10 Abgeordnetenkammer, Sitzungsbericht, 19.03.1919 und 26.03.1919, insbesondere 2331. Siehe auch Charles Barthel, Goldene Zeiten? Eine (vorläufige und bruchstückhafte) Bilanz des Anschlusses Luxemburgs an den Deutschen Zollverein, in: Archives Nationales de Luxembourg (Hg.), David & Goliath. Die Anbindung des Großherzogtums Luxemburgs an den Deutschen Zollverein 1842–1918, Luxemburg 2019, 347–411.

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nung nicht aufgehen konnte, verfasste Reuter ein den Wünschen Prums entgegenkommendes Sequesterdekret. Der Entwurf ging sofort „in den Druck; Herr Prum korrigierte bereits die Probeabzüge“*, als ARBED-Generaldirektor Émile Mayrisch die Notbremse zog. Belgischen Diplomatenkreisen zufolge war der Hüttenherr, gleich nachdem er von Reuters Vorhaben erfahren hatte, wegen der „neuerlichen Komplikationen“* mit dem nächstbesten Zug nach Paris gereist. Dort habe er eine Unterredung mit dem französischen Premier Georges Clemenceau und dessen Außenminister Stephen Pichon gehabt. Beide Franzosen „hätten ihm aufgetragen der Luxemburger Regierung mitzuteilen, dass sie die Sequestrierung deutscher Aktiva als eine unfreundliche Geste ansähen“*. Nach seiner Heimkehr ließ Mayrisch dann die Katze aus dem Sack: Im Anschluss an die Übermittlung der Botschaft des französischen ‚Tigers‘ eröffnete der ‚Grand Patron‘ seinem Staatsminister, dass die ARBED gemeinsam mit den Établissements Schneider et Cie aus der Saône-et-Loire bereits kurz zuvor (1. März) einen verbindlichen Vorvertrag mit GBAG-Unterhändlern unterzeichnet hatte.11 Reuter, der davon bisher nichts wusste oder höchstens Gerüchte über den sich anbahnenden Kauf kannte, ließ nach Mayrischs Auftritt die unterschriftsreife Beschlussvorlage in der Versenkung verschwinden. Mehr noch: Als Ende April 1919 in Brüssel die ersten Sondierungsgespräche zur möglichen Bildung einer belgisch-luxemburgischen Zollunion anliefen, blieb der Regierungschef standhaft. Da den zuständigen Stellen in Belgien allmählich dämmerte, dass ihre französischen Freunde unlängst dabei waren, den wallonischen Industriellen die erhoffte fette Beute abzujagen, nahmen sie die großherzogliche Delegation in die Mangel. „Alle Staaten der Entente haben Maßnahmen zur Abwehr deutscher Interessen ergriffen“*, belehrten sie die Luxemburger, „wenn ihr den Anschluss an die Entente wollt, dann müsst ihr die gleiche Politik anwenden, oder ihr seid nicht mit der Entente“*!12 Den Vorgaben von Gustave Trasenster, dem Geschäftsführer des Lütticher Stahlkonzerns Ougrée-Marihaye, folgend hatten sie ein gemeinsames, beidseitiges Protokoll vorbereitet, in dem „ad hocMaßnahmen“* aufgeführt waren, nach denen deutsche Firmen im Luxemburger Minettebecken binnen sechs Monaten „fest verbriefte Übernahmeverträge mit Alliierten [gemeint waren: belgische] Konsortien“* vorzulegen hätten, die sowohl von den Behörden diesseits wie jenseits der Ardennen abgezeichnet werden mussten. Sollten die Zentralen an Rhein und Ruhr das Regelwerk missachten, würde ihren Niederlassungen kurzerhand eine „kommissarische Leitung“* 11 Notiz von Léon Nemry, 09.04.1919, in: Ministère des Affaires étrangères, Bruxelles [künftig MAEB], B.12. 12 Sitzungsprotokoll, 26.04.1919, in: MAEB, B.17.

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aufgebürdet.13 Alphonse Neyens – er führte die luxemburgische Abordnung an – stach seine Gegenüber aber gleich geschickt aus, indem er ihre eigennützigen Vorschläge ins Leere laufen ließ. „Bei uns hat niemand an den Sequester gedacht…“*; „Wir haben zu diesem Thema keine genauen Vorstellungen […]“*, mimte er den Ahnungslosen.14 Das vorbereitete Protokoll blieb infolgedessen unterschriftslos in der Brüsseler Rue de la Loi zurück; in den Luxemburger Akten findet sich nicht einmal eine Kopie. Trotz der zwischen Mitte März und Anfang April 1919 geführten Debatten über die Einführung rechtlicher Grundlagen für Zwangsmaßnahmen gegen deutsche Unternehmen, wurden im Großherzogtum keine weiteren behördlichen Vorkehrungen als die genannten Auflagen betreffs den Verkauf (Dezember 1918) oder die Verpachtung (Februar 1919) von gewerblichen Immobilien und Fabrikationsanlagen getroffen, die im Übrigen für alle Betriebe, egal welcher Nationalität, galten. Von der Genehmigungspflicht sollte Reuter überhaupt erst im November 1919 Gebrauch machen, als er, kurz vor der Besiegelung der Transaktion, den deutschen Verkäufern die Hinterlegung einer millionenschweren Kaution abverlangte, die Steuerrückstände, unbeglichene Debets und eine Teuerungszulage an die hiesige Belegschaft decken sollte.15

2 Beweggründe eines Millionentransfers Damit dürfte klar geworden sein, dass die wenigen, äußerst zurückhaltenden Vorschriften seitens der großherzoglichen Obrigkeit entgegen der Behauptungen von Stinnes und den Kirdorf-Brüdern nicht als der ausschlaggebende Grund für die Abwanderung der rheinisch-westfälischen Stahlriesen gewesen sein können. Die wahre Motivation ihres Rückzugs ist außerhalb der Landesgrenzen zu suchen, vornehmlich in den lothringischen Dependenzen der Luxemburger Produktionsstätten. Neben der „Aachener Hütte“ im luxemburgischen Esch-Grenze und der im Oktober 1911 von den Kirdorf-Brüdern eingeweihten Adolf-Emil-Hütte in EschBelval unterhielt die GBAG ein reines Hochofenwerk im nur wenige Kilometer entfernten Deutsch-Oth (Audun-le-Tiche) im Reichsland Elsass-Lothringen. Das 13 Klausel bezgl. der deutschen Hütten, [Frühjahr 1919], in: MAEB, B.21. 14 Sitzungsprotokoll, 26.04.1919, ebd. 15 U. a. Émile Reuter an Albert Vögler und Théodore Laurent, 13.12.1919, in: Hauts-Fourneaux et Aciéries de Differdange-St. Ingbert-Rumelange [künftig HADIR], AC.01734; Unterredung mit Herrn [Heinrich] Vehling, 20.11.1919; Laurent an Jean Jadot, 19.11.1919, ebd., AC.01731; Gespräche zum Verkauf von Differdingen, 11.12.1919, ebd. AC.01733.

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dort gewonnene Roheisen wurde entweder zum Stahlwerk Rothe Erde in Aachen verschickt oder diente der vollen Auslastung der Weiterverarbeitungsanlagen im Hauptwerk Esch-Belval. Auch die in unmittelbarer Nähe zu den Fabriken, beiderseits der Grenze liegenden Erzfelder mit ungefähr 1.700 Hektar Umfang und einem durchschnittlichen Fe-Gehalt des Erzes von 28 bis 34 Prozent gehörten der GBAG. Hinzu kam eine 913 Hektar umfassende Konzession unter dem Plateau von Briey. Die vermeintliche „Erzknappheit“ hatte kurz nach der Jahrhundertwende zu einem „veritablen Ansturm“* auf die restlichen Kuxen der bis zu 40 Prozent eisenoxydhaltigen Minette des französischen Departements der Meurthe-et-Moselle geführt, an dem sich die GBAG durch den Einstieg in die Société Civile des Mines de Saint-Pierremont beteiligte.16 Schon ein Jahr nach der Gründung (1906) gehörten ihr 7/12, später sogar 2/3 der zunächst mehrheitlich französischen Gesellschaft mit belgischer Teilhabe. Deutsch-Lux bezog ebenfalls den Löwenanteil der verhütteten Minette sowohl aus dem 1871 vom Reich annektierten Lothringen (Gewerkschaft Rosenmühle; Öttingen [Ottange] II und III) als auch von der südlich von Briey ansässigen Société Minière de Moutiers, von der sie 1903 im Windschatten französischer und belgischer Mitinhaber 16 Prozent des Firmenkapitals gezeichnet hatte und sich von Anfang an 25 Prozent der Erzförderung vertraglich zusichern ließ.17 Trotz dieser auf den ersten Blick gelungenen Teilhabe an ‚hochwertigen‘ Briey-Bergwerken, die über nahezu unerschöpfliche Vorräte zu verfügen schienen, war die Rohstoffversorgung in Wirklichkeit schon vor dem Krieg alles andere als unproblematisch. Von August Thyssen wissen wir, dass sein mehr als „großzügig dimensioniertes Hüttenwerk“ in Hagendingen (Hagondange) auf einer desaströsen Fehleinschätzung beruhte: Das Werk besaß zwar das ausgedehnteste Erzlager in ganz Ostfrankreich, konnte es aber nur sehr beschränkt und unter den widrigsten Bedingungen heranziehen, um seine Hochöfen zu beschicken.18 Schikanen der Pariser Behörden verursachten schließlich eine „Erzkalamität“ von derart bedrückendem Ausmaß, dass Thyssen der ARBED schon im Jahr der Inbetriebnahme die Grube samt Hütte zum Kauf anbot (1912).19

16 Luxemburger Zeitung, AA [Abendausgabe] (04.03.1911); Claude Prêcheur, La Lorraine sidérurgique, Paris 1959, 50 und 55. 17 Wertbesitz, 31.03.1919, in: HADIR, AC.01733; Études préliminaires – documents remis à Laurent le 18 avril 1919. 18 Jörg Lesczenski, August Thyssen. 1842–1926. Lebenswelt eines Wirtschaftsbürgers, Essen 2008, 97; Nievelstein, Der Zug nach der Minette (wie Anm. 3), 215 und 218. 19 Thyssen in Düdelingen, in: Luxemburger Wort (30.07.1912). Siehe auch Raymond Poidevin, Les relations économiques et financières entre la France et l’Allemagne, Paris 1969, 214–216.

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Die Kirdorfs traf ein ähnlicher Rückschlag, wenn auch nicht ganz so hart. Ihnen widerfuhren größte Schwierigkeiten beim Transport der Saint-Pierremont-Erze nach Esch-Belval, so dass der während der Planungsphase einkalkulierte Gestehungspreis je Tonne Gusseisen – es hätte einer der niedrigsten in ganz Westeuropa sein sollen – nicht im Entferntesten erzielt werden konnte. Weil das Oberkommando der französischen Armee sich beharrlich weigerte, eine Genehmigung für die Anbindung des Schienennetzes der Compagnie de l’Est an die Gleise der von der Reichsbahn Elsaß-Lothringen betriebenen Wilhelm-Luxemburg-Bahn in der Nähe von Villerupt an der deutsch-französischen Grenze auszustellen, mussten zunächst große Umwege über Longwy gefahren werden. Am selben militärischen Widerstand scheiterten zwei weitere Unterfangen, die Zugstrecke durch den Bau einer transnationalen Seilbahn bzw. eines unterirdischen Stollens zu verkürzen. Am Ende blieb nur die höchst kostspielige Variante einer Erzrutsche auf dem Privatgrundstück der Société métallurgique d’Aubrives-Villerupt übrig. Denn zu diesem Zweck mussten in einer ersten Etappe drei Viertel aller Aktien des Unternehmens aufgekauft werden, bevor im Nachgang die Einrichtung einer Siloanlage erwirkt werden konnte, mittels derer 36 Meter Höhenunterschied zwischen dem Ostbahn-Anschluss im höhergelegenen Firmengelände mit der Wilhelm-Luxemburg-Anbindung am Fuße eines Steilhangs im unteren Teil überwunden werden konnten. Erst mitten im Krieg wurde die direkte Bahnverbindung von einem deutschen Pionierbataillon hergestellt. Zu dem

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Zeitpunkt lagen die Fördertürme von Saint-Pierremont indes im Sperrgebiet der Westfront!20 Ob Deutsch-Lux ähnliches Ungemach vor Ausbruch der Kämpfe im Sommer 1914 widerfuhr, ist nicht aktenkundig. In Anbetracht dieser Vorgeschichte, die unter Industriellen mit Sicherheit kein Geheimnis geblieben war, lässt sich leicht ermessen, was den Ruhrkapitänen beim Anblick des zurückflutenden Heeres im Spätherbst 1918 unweigerlich durch den Kopf gegangen sein musste: Nach der sich abzeichnenden Niederlage würden die Franzosen sie erst recht aus ihrem Territorium verjagen. Das aber bedeutete, dass den deutschen Hochöfen in Luxemburg mittelfristig weder ausreichend Erzmengen noch Erzqualitäten in der gewünschten chemischen Zusammensetzung zur Verfügung stünden, um den bestmöglichen Möller aus zwei Dritteln kalkiger und einem Drittel siliziumhaltiger Minette verarbeiten zu können. Man brauchte also nicht lange die Waffenstillstandsbestimmungen abzuwarten; die bösen Vorahnungen waren Grund genug, sofort erste Gespräche mit Käufern in spe aufzunehmen. Eine solche Besprechung fand spätestens am 4. November 1918, vielleicht schon einige Tage zuvor, zwischen Albert Vögler und Émile Mayrisch statt. Der Vorstandsvorsitzende von Deutsch-Lux erfuhr bei dieser Gelegenheit von seinem ARBED-Homolog „dass die Belgier unter Führung von Trasenstéres [gemeint ist: Trasenster, C. B.] die Auslieferung der deutschen Werke fordern würden. Die klugen Leute [in Belgien] sagen sich ganz richtig, dass […] es viel besser sei, die guten deutschen Werke [aus dem Großherzogtum] zu nehmen [als die zerstörten im eigenen Land wieder aufzubauen]. Mayrisch zweifelt keinen Augenblick daran, dass sie ihr Ziel erreichen werden. Er hält auch den Weiterbetrieb der deutschen Werke während des Waffenstillstandes für aussichtslos, da die Entente ohne Frage Luxemburg besetzen würde. Einspruch seiner Regierung sei nutzlos. Die Entente würde sich über dergleichen Formsachen hinwegsetzen“.21 Trotz düsterster Prognosen, die bei den deutschen Kollegen zusätzliche Verunsicherung, wenn nicht gar blankes Entsetzen auslösen mussten, machte Mayrisch aber keine Anstalten, Vögler ein Angebot zu unterbreiten. 20 Zu den Erztransporten von St-Pierremont nach Belval, siehe Charles Barthel/Michel Kohl, Les forges du Bassin minier luxembourgeois sous le signe de la concentration dans l’industrie lourde en Allemagne wilhelmienne, 1903/04–1911/12, 1. Teil, in: Charles Barthel/Josée Kirps (Hrsg.), Terres rouges – histoire de la sidérurgie luxembourgeoise, Bd. 3, Luxemburg 2011, 154–285, hier 260–277; Charles Barthel, Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat das schönste Stahlwerk im Land? – Die Gebrüder Kirdorf und der Bau der Adolf-Emil-Hütte im Luxemburger Erzbecken (1906–1914), in: Michaela Bachem-Rehm u. a. (Hrsg.), Teilungen überwinden. Europäische und internationale Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilfried Loth, München 2014, 435–445. 21 Vögler an Stinnes, 04.11.1918, in: ACDP, I-723, Mappe 27.

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Ähnlich verlief ein etwa um dieselbe Zeit stattfindendes Treffen mit der GBAGSpitze, vermutlich vertreten durch den Werksdirektor von Belval, Heinrich Vehling. Statt lange um den heißen Brei zu reden, machte Letzterer gleich „Eröffnungen“ bezüglich eines eventuellen Abstoßens des gesamten Adolf-Emil-Komplexes an die ARBED. Der Luxemburger Stahlbaron wollte aber von dem Anerbieten nichts wissen. „Meine Firma interessierte sich nicht für die Übernahme einer deutschen Hütte“ – räumte er einige Monate später unumwunden in einem Schreiben an den Justizminister ein – „wir haben damals die Anträge, die uns für die Abnahme des besagten Betriebs gemacht wurden, ausgeschlagen“*.22 Warum Mayrisch den selten günstigen Augenblick der allgemeinen ‚Rettesich-wer-kann‘-Stimmung verstreichen ließ, ohne das aus schwerster Not geborene Schleuderangebot auch nur zu überdenken, geht aus seinen Zeilen an den Minister nicht hervor. Der Industrielle hielt sich darin bedeckt, weil er davon ausgehen musste, dass seine Mitteilung in der Abgeordnetenkammer bekannt werden könnte.23 Also verbot er sich jede Erklärung, die ihn in ein schlechtes Licht gerückt hätte. Wäre er nämlich bei der Wahrheit geblieben, hätte sein Verhalten das klägliche Bild eines deprimierten, sich keinen Rat mehr wissenden Firmenchefs widergespiegelt. Vöglers Berichte an Stinnes sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Auf die Zukunft der Zollunion angesprochen, antwortete der Luxemburger, dass „auch in dieser Frage […] die Entscheidung lediglich bei der Entente l[äge], die wahrscheinlich Luxemburg und Belgien zusammen in ein engstes Wirtschaftsverhältnis […] bringen würde“. Aus dieser zweifellos richtigen Erwartung zog Mayrisch aber den Schluss, dass „er unsere [Deutsch-Lux] Meinung [teilte], dass Luxemburg viel richtiger bei Deutschland bleibt“ und weiter: „M[ayrisch] hat das dringende Interesse, dauernd mit uns in Fühlung zu bleiben, da er sich bei den belgischen Vorhaben sehr unbehaglich fühlt und offenkundig mit uns zusammengehen will“.24 Ein gleichlautendes Plädoyer zugunsten der Fortsetzung des Zollvereins hatte der ARBED-Generaldirektor bereits im März 1918 in seinem Zwischenbericht an die wirtschaftliche Orientierungskommission abgegeben.25 Aber das war vor der entscheidenden Kaiserschlacht gewesen. Mayrisch scheint wie gelähmt gewesen zu sein angesichts der Gefahr, die von den wallonischen Rivalen ausging und die keineswegs nur die deutschen

22 Mayrisch an Auguste Liesch, 17.03.1919, in: ARBED, AC.01722. 23 Abgeordnetenkammer, Sitzungsbericht, 26.03.1919, 2331–2336. 24 Vögler an Stinnes, 04.11.1918, in: ACDP, I-723, Mappe 27. 25 Mayrisch an die Wirtschaftliche Orientierungskommission, 20.03.1918, in: Archives nationales de Luxembourg [künftig ANLux], AE-0466.

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Hersteller betraf. Seit geraumer Zeit stand auch sein eigener Konzern unter heftigem Beschuss. So warf Trasenster der ARBED in aller Öffentlichkeit „intensive Arbeit“* und „vollste Auslastung aller Anlagen“* seit dem Tag der Invasion im August 1914 vor – womit er sagen wollte, dass die Luxemburger im Zuge der gegnerischen Rüstungsanstrengungen viel Geld verdient hätten. Der ARBED-Direktor sei sich deshalb auch nicht zu schade gewesen, in den besetzten Gebieten „überall umherzulaufen, um Grundstoffe zu besorgen“*.26 Neben dem unverblümten Vorwurf der Kollaboration mit den Mittelmächten wurden in der Presse gezielt Falschmeldungen verbreitet, wonach Thyssen seit Jahren an der Börse alle ARBED-Aktien aufgekauft habe, die er hätte bekommen können, oder dass die luxemburgische Stahlschmiede sowieso ein rheinisches Unternehmen sei, obwohl „sicher nicht mehr als 1 % deutsches Kapital“* in ihr steckte.27 All dies gehörte zur Taktik führender Leute aus Politik, Diplomatie, Handel und Industrie, die in Brüssel ganz offen und ungeniert die „wirtschaftliche Eroberung des Großherzogtums“* vorantrieben,28 wie es Jean Jadot, der Gouverneur der belgischen Großbank Société Générale de Belgique (SGB) ausdrückte. Jadot wusste besser als sonst jemand Bescheid über die reale Zusammensetzung des ARBED-Kapitals, das zu nahezu zwei Dritteln belgischen Anteilseignern gehörte. Aber das hinderte weder ihn noch Gleichgesinnte die ins Visier genommene Montangesellschaft bereitwillig zur Masse jener Vermögenswerte zu schlagen, an der man gedachte, sich schadhaft zu halten, um die durch deutsche Zerstörungen und Plünderungen in Belgien angerichteten Schäden auszugleichen. Die ARBED reagierte sofort mit der Umbesetzung ihres Spitzengremiums: Verwaltungsratsmitglied Gaston Barbanson, ein belgischer Staatsbürger, wurde nach seiner Rückkehr aus dem französischen Exil zum Präsidenten gekürt, derweil drei Vertreter des Eschweiler Bergwerkvereins (EBV), mit dem die ARBED in einer Interessengemeinschaft verbunden war, ihres Amtes enthoben wurden. Die Entscheidung gegen die EBV-Vertreter traf Mayrisch „nicht leichten Herzens“, obgleich sie vordergründig als Replik auf den Rauswurf belgischer ARBED-Vertreter im Aufsichtsrat der Aachener Zechengesellschaft unvermeidlich erschienen sein mochte.29 Die wirksamste Waffe gegen die belgischen Begehrlichkeiten sah die ARBED jedoch in Eugène Schneiders Etablissement. Statt sich von den Belgiern regelrecht verschlingen zu lassen, zogen es Barbanson und Mayrisch vor, sich in französische Obhut zu begeben, indem sie die bereits wäh26 Notiz von Gaston Barbanson, 05.12.1918, in: ARBED, P.XXIX. 27 SA Arbed, [Dezember 1918], in: Académie François Bourdon, Le Creusot [künftig: AFB], 01 G0005-B-01. 28 Zitiert nach René Brion/Jean-Louis Moreau, La Société Générale de Belgique. 1822–1997, Antwerpen 1998, 261. 29 Mayrisch an Julius Frank, 31.12.1918, in: ARBED, P.1.

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rend des Krieges verfolgten Diskussionen über eine Kooperation zwischen beiden Häusern weiter vertieften. Ging es vor Compiègne höchstwahrscheinlich bloß um den Einstieg der ARBED in die gemeinsame Ausbeutung der Erzmine Droitaumont in der französischen Meurthe und die Erschließung der Zeche Winterslag in der belgischen Campine, so wurde nun zwecks Abwendung größeren Unheils eine „wahrhaftige Assoziation“* beider Häuser ins Auge gefasst.30 Was genau darunter zu verstehen ist, geben die Quellen nicht preis. Es muss aber ein ernstgemeinter enger Zusammenschluss angestrebt worden sein, da andernfalls die Übermittlung der ARBED-Gewinne und Verluste bzw. ihre Kosten-Nutzen-Rechnung an die Franzosen kaum erfolgt wäre. Geschäftsgeheimnisse dieser Art teilt niemand einem Dritten grundlos mit. Ein weiteres Indiz für einen die autonome Gesellschaftsstruktur beeinträchtigenden Umbau ist der Besuch von Achille Fournier im Großherzogtum Anfang Januar 1919. In nur drei Tagen inspizierte der Chefingenieur von Schneider & Cie in Begleitung eines halben Dutzends engster Mitarbeiter sämtliche ARBED-Hütten, inklusive Burbach im Saarland.31 Dabei ist bemerkenswert, dass keine einzige deutsche Hütte auf dem Reiseplan der Franzosen stand. Die Anlagen der GBAG wurden erst viele Wochen danach von ihnen in Augenschein genommen. Die verzweifelte Beinahe-Selbstaufgabe der ARBED war demnach erfolgreich. Entscheidend war nämlich, so Barbanson, Fourniers Vermittlung zwischen den Pariser Ministerien und den weniger einsichtigen kommissarischen Stellen in Metz. Dadurch konnten die Luxemburger vor der sofortigen Einziehung ihrer ausgedehnten lothringischen Erzfelder bewahrt werden.32 Allem Anschein nach ging der schon wenige Tage nach der Waffenruhe in den ‚Départements recouvrés‘ (wiedererlangten Departements) eingerichtete Service industriel d’Alsace-Lorraine in der Tat nicht gerade zimperlich bei der praktischen Umsetzung des Dekrets vom 30. November über den Sequester von Feindvermögen vor.33 Während die ARBED somit gerade eben noch glimpflich davonkam, stand für die rheinisch-westfälischen Konzerne unabwendbar fest: Mit dem Verlust der Kontrolle über ihre Erzbasis in Lothringen waren implizit auch die im benachbarten Großherzogtum beheimateten Hüttenwerke nicht mehr zu halten. Wegen der Kappung des grenzüberschreitenden Materialflusses und, damit verbunden, der schlagartigen Zerstörung einer über Jahre gewachsenen Balance innerhalb der Unternehmensstruktur ge30 Anonyme Notiz, 08.01.1919, in: Archives générales du Royaume, Brüssel [künftig AGR], Papiers Borchgrave 308. 31 Visites à Burbach-Eich-Dudelange, 23.01.1919, in: AFB, 01 G0005-B-15. 32 Barbanson an Eugène Schneider, 27.06.1921, in: ARBED, AC.0407. 33 Journal Officiel de la République française, 07.12.1918; Circulaire relative au séquestre des biens ennemis en Alsace et en Lorraine [Ausführungsbestimmungen], in: ibid., 12.12.1918.

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riet das gesamte Geschäftsmodell aus den Fugen. Praktisch wirkte sich das sofort verheerend aus: Verteuerung des Möllers durch Zukauf von Minette oder Beimischung von Zuschlägen, ungenutzte Überkapazitäten bei gleichbleibenden Fixkosten, Produktionsrückgang mit negativen Folgen für die nachgelagerten Weiterverarbeitungsstätten, die weder hinreichend mit Roheisen noch mit Halbzeug versorgt werden konnten. Das galt insbesondere für den Schalker Gruben- und Hüttenverein und die Eschweiler Drahtfabrik bei der GBAG sowie für die Nordseewerke in Emden und das Walzwerk Krämer in Sankt Ingbert bei Deutsch-Lux. Statt also ziemlich ausweglos mit Luxemburger Rumpfbetrieben weiterzumachen, erschien es wesentlich sinnvoller anderswo, am besten in der Nähe der eigenen Ruhrzechen, nach Ersatz zu suchen, den man mit dem Erlös aus dem abzustoßenden linksrheinischen Besitz finanzieren wollte. Deshalb musste es auch „schnell gehen“* mit dem Verkauf, solange das Waffenstillstandsprovisorium Geldtransfers noch erlaubte und deren Empfänger frei über die ausgehandelten Beträge verfügen konnten. Sobald jedoch der Friedensvertrag ratifiziert sein würde – das war für jedermann abzusehen – würde dies nur noch schwer möglich sein, da dann alle Zahlungen nicht mehr direkt geleistet werden würden, sondern nur mittelbar über Reparationskonten liefen und die Verkäufer bestenfalls auf eine Rückerstattung der erlittenen Vermögensverluste durch den deutschen Staat hoffen durften.34

3 Jagd auf potentielle Käufer Das Problem war jedoch, dass nicht bloß die ARBED, sondern auch ihr französischer Partner zunächst kein Interesse an einem Erwerb zeigte. Das Comité des Forges de France hatte zwar Anfang Januar 1919 diverse „Finanzstudien zur Umstrukturierung der Gruben und Hütten in Lothringen“* erstellt, aber sämtliche darin enthaltenen Angaben beruhten einzig auf im Buchhandel erhältlichen Schriften der Vorkriegsära. Sie begnügten sich damit, Fabrikationsweise, Produktpalette und Absatzmöglichkeiten „von einem ganz allgemeinen Standpunkt“* zu beleuchten. Zum Vorlauf einer millionenschweren Investition waren sie samt und sonders untauglich. Den übrigen Herstellern aus dem französischen Mutterland fehlte offenbar ebenfalls der Mut zu „spontanen Initiati-

34 Communication faite au nom du ministre de la Reconstruction industrielle, […], 28.01.1919, in: Archives industrielles de St.-Gobain-Pont-à-Mousson, Blois [künftig PAM], 18966.

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ven“*.35 Verschanzt hinter hohen Zollschranken und einem Binnenmarkt, der nahezu ihre gesamte Produktion zu mehr als auskömmlichen Preisen abnahm, waren sie seit Jahrzehnten auf dem „Ruhekissen der Faulheit“* gebettet;36 warum in aller Welt sollten sie jetzt urplötzlich ins hartumkämpfte Exportgeschäft einsteigen, indem sie sich freiwillig annähernd fünf Millionen Tonnen lothringischen und luxemburgischen Stahl aufhalsten?37 Und auch die Belgier bemühten sich vorerst nicht. Sicher, sie würden schon gerne die neuen Fabrikherren werden, zogen es aber vor, in Lauerstellung zu verharren, bis ihre Regierung endlich die in Aussicht gestellte Annexion des Großherzogtums vollzogen haben würde, um sich dann zu bedienen, am besten ohne tief in die Tasche greifen zu müssen oder höchstens, indem man mit wertloser Papiermark Aktien kaufte. Für die Deutschen engte sich damit der Kreis der Anwärter deutlich ein. Mit wem Werksdirektor Vehling oder andere Granden der GBAG nach Mayrischs frühzeitiger Absage Fühlung nahmen, war nicht zu ermitteln. Bekannt ist nur, dass „englische oder amerikanische Finger“* im Spiel waren.38 Verschiedene Anhaltspunkte verweisen auf „eine englische Gruppe um Vickers & Armstrong“*, die hinter dem Rücken eines Luxemburger Maklers „in den Kulissen agierte“*.39 Reichlich merkwürdig war nämlich ein Besuch britischer Delegierter des Interalliierten Wirtschaftsausschusses, die eines Tages unangemeldet vor dem Haupttor in Differdingen aufkreuzten und die Anlage von Deutsch-Lux zu besichtigen wünschten. Angeführt von einem Vertreter des britischen Ministeriums für Rüstung gaben sich die Herren von der Partington Iron and Steel Co. aus Manchester, Dorman Long & Co. Ltd. aus Middlesbrough und Frodingham Iron and Steel Co. Ltd. aus Scunthorpe in Lincolnshire außergewöhnlich neugierig bei allen technischen Einrichtungen, die ihnen gezeigt wurden, aber merkwürdig zugeknöpft, wenn sie nach Sinn und Zweck ihrer Mission gefragt wurden.40 Aber wie dem auch sei, Hugo Stinnes schien sowieso in den letzten Wochen des Jahres 1918 eine Zusammenarbeit mit Geschäftsleuten der Wall Street bevor-

35 Reproduktion eines Artikels der Journée industrielle, in: Bulletin quotidien de la ColumetaLuxembourg (07.07.1923), in: ANLux, ARBED, AC-Co-1. 36 Ausdruck von Loucheur (14.02.1919), zitiert nach Stephen D. Carls, Louis Loucheur. 1872– 1931. Ingénieur, homme d’État, modernisateur de la France, Villeneuve d’Ascq 2000, 143. 37 Siehe u. a. Conditions de Paix avec l’Allemagne [Bericht von François De Wendel], 21.10.1915, in: AFB, SS 0110–02. 38 Henri-Claude Coqueugnot an Achille Fournier, 24.12.1919, in: Société Minière des Terres Rouges [künftig SMTR], «Gestion du séquestre». 39 Besuch bei Herrn Wurth, 23.05.1919, in: HADIR, AC.01733. 40 Fritz Sellge [Direktor der Abteilung Differdingen] an das Comité Économique Interallié, 28.04.1919, in: ACDP, I-723, Mappe 15.

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zugt zu haben. Mit ihrer Hilfe plante er, das bedrohte Kapital durch eine ausgeklügelte Kombination in Sicherheit zu bringen. Dabei sollte zunächst der Vertrag, den Deutsch-Lux drei Jahre vor Kriegsbeginn mit der SA des Hauts-Fourneaux et Aciéries de Rumelange-St. Ingbert geschlossen hatte, förmlich umgekehrt werden. Was damit gemeint ist, wird ersichtlich, wenn man die Hintergründe näher kennt: Im Jahr 1911 hatten die überwiegend belgisch-luxemburgischen Aktionäre der eher bescheidenen Rümelinger Hochofengesellschaft, zu der auch die Hütte Öttingen im deutschen Teil Lothringens und das Walzwerk Krämer in Sankt Ingbert im pfälzischen Bayern41 gehörten, einen drohenden Konkurs nur dank der Bildung einer Interessengemeinschaft mit Deutsch-Lux abwenden können. Als Gegenleistung hatten sie Stinnes und Co. die operative Leitung ihres Betriebs auf 30 Jahre übertragen. Darüber hinaus mussten sie Deutsch-Lux zugestehen, dass diese das einverleibte Unternehmen jederzeit zu einem festgeschriebenen Fixpreis von 37½ Mio. Franken erwerben konnten (Artikel V der Vereinbarung). Genau von dieser Option beabsichtigte man nun Gebrauch zu machen, weil – das ist der springende Punkt – Rümelingen eine Firma nach Luxemburger Gesetz war, in die dann anschließend der Besitz von Differdingen eingebracht werden sollte. Das deutsche Werk wäre dann kein Feindvermögen mehr gewesen, sondern rechtlich gewissermaßen ‚neutralisiert‘. Zur weiteren Absicherung sollte das durch die Transaktion stark vermehrte Kapital von Rümelingen in einem zweiten Schritt ins nicht am Krieg beteiligte Ausland geschafft werden, vorzugsweise in die Schweiz oder nach Dänemark. Dort würde es „zugunsten einer amerikanischen Gesellschaft“* angelegt werden.42 Vermutlich schwebte Stinnes eine Holding vor, an der Prominente aus der US-Finanzwelt beteiligt werden oder auch nur als Strohmänner fungieren sollten.43 Wer genau diese Leute von jenseits des Atlantiks waren, war anhand der ausgewerteten Quellen leider nicht ausfindig zu machen, ebenso wenig wie die Gründe, die den clever ausgeheckten Notfallplan letzten Endes vereitelten.

41 Sankt Ingbert kommt erst durch den Versailler Frieden zum Saarland. 42 Information aus Basel (6. Februar), verbreitet durch die Journée Industrielle (07.03.1919). 43 Vgl. Gerald D. Feldmann, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen. 1870–1924, München 1998, 557–558; Jacques Bariéty, Les relations franco-allemandes après la Première Guerre mondiale. 10 novembre 1918 – 10 janvier 1925, Paris 1977, 121–171.

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Sein Scheitern ist womöglich mit dem französischen „Projet sidérurgique“ (Montanprojekt) verwoben, bei dem es – grob formuliert – um die Ausschaltung der Ruhrmagnaten als Spitzenreiter unter Europas Stahlherstellern zugunsten Frankreichs ging.44 Gelingen konnte dieses Vorhaben natürlich nur durch die Angliederung der lothringischen und saarländischen Schmieden. Kein Wunder also, dass die Umtriebe angelsächsischer Konkurrenten in der Region mit allergrößtem Argwohn von den Pariser Behörden verfolgt wurden. Insbesondere Louis Loucheur sah sich in seiner Eigenschaft als zuständiger Minister für den industriellen Wiederaufbau herausgefordert. Auf sein Geheiß trommelte Oberst Ernest Mercier am 28. Januar 1919 die Elite der französischen Eisenbarone zwecks Einweisung in eine neue Vorgehensweise zusammen: Weil es im Nachhinein „wesentlich schwieriger wäre, alliierten, insbesondere amerikanischen Bürgern Aktien abzukaufen“*, sei das Kabinett zur Einsicht gelangt, dass das bisher angewandte, jeden Kontakt mit dem Feind vermeidende „Prozedere gefährlich“* ist; mit Abwarten riskiere man zum Schluss „vor das Fait accompli 44 Georges-Henri Soutou, L’or et le sang. Les buts de guerre économiques de la Première Guerre mondiale, Paris 1989, passim.

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gestellt zu werden“*, weswegen es fortan von höchster Dringlichkeit wäre, nicht Anteilsscheine, sondern „die Anlagen an sich, zu ihrem realen Wert“* zu kaufen.45 Mercier schlug daher die Bildung von Konsortien vor, die sich nach Möglichkeit nicht gegenseitig behindern und idealerweise kriegsgeschädigte Unternehmen bevorzugen sollten. Loucheurs Strategiewechsel erwähnte das Großherzogtum freilich zunächst mit keiner Silbe. Aber das änderte sich schon bald. Denn in der ARBED erkannte man sofort, dass des Ministers Unbehagen vor der Niederlassung überseeischer Nebenbuhler das Zeug zu einer glücklichen Wende hatte: Wenn die Franzosen keine Angelsachsen auf ihrem Hoheitsgebiet duldeten, dann sicherlich auch nicht direkt vor ihrer Haustür. Es reichte also, kompetenten Stellen, beispielsweise dem Hochkommissariat für die besetzten Gebiete, einen diskreten Wink zu geben, indem man „auf die Gefahren der ungewissen Zukunft deutscher Hütten in Luxemburg“* aufmerksam machte. Anfang Februar 1919 ging ein entsprechendes Schreiben an den Hochkommissar Paul Tirard ab.46 Die Reaktion aus Paris kam postwendend: „Beseelt vom Willen, den deutschen Einfluss im Großherzogtum endgültig einzudämmen, forderte die französische Regierung ihre Landsleute auf, die deutschen Fabriken in Luxemburg zu kaufen. Die französischen Industriekonsortien haben dem Appell sofort Folge geleistet.“*47 Plötzlich war also keine Rede mehr von einer einfachen Übernahme durch Schneider, sondern von Kooperation auf Augenhöhe, ja von der Rolle als Speerspitze bei der Verwirklichung des gemeinsamen Ziels. Mayrisch war geschmeichelt. Die Aufgabe als Vermittler zwischen den Fronten ließ ihn zu Hochform auflaufen. Mitte Februar traf er sich mit Vehling in Köln, mit dem er einen unterschriftsreifen Vorvertrag zum Erwerb des GBAG-Besitzes in Luxemburg aushandelte, der nur vierzehn Tage später, am 1. März, nach Rücksprache mit den französischen Kollegen bzw. der Gelsenkirchener Zentrale in Kraft trat.48 Das erstaunlich rapide Zustandekommen einer prinzipiellen Übereinkunft war vielen Faktoren geschuldet. Käufer und Verkäufer waren einander seit langen Jahren vertraut; Mayrisch kannte die technischen Anlagen der drei Produktionsstätten im Großraum Esch und konnte auch ohne aufwendige Vorstudien ermessen, wie sie in ein vernünftiges Gesamtkonzept mit der ARBED-Hütte Esch-Schifflingen integriert werden konnten. Entscheidend dürfte allerdings 45 Communication faite au nom du ministre de la Reconstruction industrielle, […], in: PAM, 18966. 46 Historique de la fondation des sociétés Minière et Métallurgique des Terres Rouges, 23.01.1930, in: SMTR, «Constitution Domaine». 47 Projet de note au sujet de l’accord économique entre la Belgique & le Luxembourg, September 1920, in: HADIR, 1.q.0. 48 Telegrammaustausch, verschiedene Daten, in: ARBED, AC.01723.

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der Wunsch beider Parteien gewesen sein, möglichst rasch aus dem Tal der Unwägbarkeiten zu entrinnen. Nachdem ein Urteil des Bezirksgerichts Metz die Sequesterverwaltung am 28. Januar bestätigt hatte und wenig später eine Anweisung durchsickerte, dass Loucheurs Ministerium gewillt war, nur mehrheitlich französische Unternehmen zu den angekündigten öffentlichen Ausschreibungen zuzulassen, platzten die bisher gehegten (amerikanischen) Träume der Deutschen.49 Sie hätten also bei der Suche nach potenziellen Erwerbern noch einmal ganz von vorne anfangen müssen, mit fraglichem Ausgang, dafür aber mit der Gewissheit, auf den „Erbfeind“ zugehen zu müssen. Mayrisch als neutraler Bevollmächtigter war da wesentlich angenehmer. Auch für die ARBED stand viel auf dem Spiel. Ihren Verantwortlichen kam es hauptsächlich darauf an, das Geschäft, so schnell es ging, dingfest zu machen, weil sie nur so ihre Freunde aus Le Creusot – man könnte fast behaupten: ihre französische Schutzmacht – fest an sich zu binden vermochten, wohl wissend, dass Schneider die einzige Alternative war, der immer noch von Belgien ausgehenden Bedrohung ein für allemal einen Riegel vorzuschieben. Für einen zügigen Abschluss waren deshalb beide Seiten – ARBED wie GBAG – auch bereit, Konzessionen bezüglich des Verkaufspreises und/oder der Vertragsbedingungen zu machen. Deutsch-Lux profitierte ganz anders von Loucheurs Anregung, Luxemburg in seinen patriotischen Traum von Frankreich als europäischer Stahlmacht Nummer Eins einzubetten: In Differdingen gaben sich die Bewerber mittlerweile die Klinke in die Hand. Jules Bernard von den Usines Métallurgiques de la Basse Loire schien einer der ersten gewesen zu sein. Es ist darum nicht auszuschließen, dass der oben erwähnte Nicolas Zimmer in seinem Auftrag unterwegs gewesen war und er auch den Kontakt zwischen Bernard und der Rümelinger Hochofengesellschaft hergestellt hatte. Letztere wurde von dem Belgier Georges de Laveleye, dem Chef der Banque de Bruxelles und Verwaltungsratspräsidenten in Rümelingen, sowie von dem Luxemburger Paul Wurth, dem ursprünglichen Gründer der Differdinger Schmelze, angeführt. Wurth, der mit zwei Landsleuten sein Amt als Deutsch-Lux-Aufsichtsrat demonstrativ niedergelegt hatte, um gegen die Verwendung von in Frankreich und Belgien erbeuteter Maschinen zu protestieren, hegte seither eher spannungsgeladene Beziehungen zu Stinnes. Nichtdestotrotz lag das Trio Bernard-Laveleye-Wurth zunächst gut im Rennen, u. a. auch weil Generaldirektor Albert Vögler an der Grippe erkrankt war und zwischenzeitlich durch den Leiter der Verkaufsabteilung, Emil Feldes, ersetzt

49 Mémoire de la Société Métallurgique de Knutange, 1935, Anhang, in: SMTR, «Reprise de Gelsenkirchen».

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werden musste.50 Feldes war Luxemburger, der mit Wurth bestens bekannt war und einen neuen Job suchte, der es ihm ermöglichen würde, in der Heimat zu bleiben: Beste Voraussetzungen also, um dem Deal zum Erfolg zu verhelfen. Aber das Gegenteil trat ein. Die Sache endete mit einer Bruchlandung, die zu einem nicht unerheblichen Teil von den Übernahmeanwärtern selbst verschuldet war. Angetrieben vom Willen, sich der Rümelinger Firma als einer Art Auffangbecken für sämtliche zu veräußernde Werte zu bedienen, ähnlich wie das Stinnes auch vorgeschwebt hatte, gaben sie sich betont antideutsch und kämpferisch, um das Gros der belgisch-luxemburgischen Aktionäre zu umgarnen. Statt der laut Interessengemeinschaftsvertrag vorgesehenen Mindestdividende von 1,2 Mio. Mark, verlangte Laveleye nun von den Bochumern den zum Vorkriegskurs umgerechneten Betrag von 1,5 Mio. belgischer Franken. Gleichzeitig schlug er der Rümelinger Hauptversammlung vor, sein Amt als Präsident zu verlängern, die Mandate der beiden Vertreter von Deutsch-Lux, Hugo Stinnes und Hermann Thomas, dagegen nicht, sondern durch die Nominierung von Wurth und Feldes zu ersetzen.51 Als der Versuch, sich im fünfköpfigen Gremium die unangefochtene Führung zu verschaffen, fehlschlug, weil die Rümelinger Kleinanleger traditionsgemäß erst gar nicht von ihrem Stimmrecht Gebrauch machten, legte der Brüsseler Bankier nach. Ein wenig im Stile der Emser Depesche ließ er den Tageszeitungen mitteilen, er stelle seinen Posten zur Disposition, denn er sei nicht gewillt, mit zwei Kandidaten, „die deutscher Nationalität sind [im Original unterstrichen], auf einer Liste [zu] stehen“.52 Die „unliebsamen Presseerörterungen“ (Vögler) brachten das Fass zum Überlaufen. Da Stinnes ohnehin seit geraumer Zeit Zweifel an der Zahlungsfähigkeit der Gruppe Basse Loire/Banque de Bruxelles hegte, brach er die Verhandlungen ab, zumal er schon ziemlich früh darüber nachgedacht hatte, gleichzeitig auch die eine oder andere Zeche zu veräußern. Die Rechnung könnte somit leicht die 200 Millionen-Marke überschreiten, was, so der Prinzipal, für Laveleye, Bernard und Wurth „ein zu großer Brocken“ sein dürfte.53 Aus genau dem gleichen Grund nahm man in Bochum auch weitere Interessenten, die sich unterdessen über verschiedenste Kanäle angemeldet hatten, nicht weiter ernst. So z. B. die „Italiener“, die einen Ex-Angestellten der Verkaufsabteilung um Vermittlung gebeten hatten.54 Oder die „Gruppe Michel“. Hinter dem Codenamen könnte sich ein lothringisches Konsortium bestehend 50 Sellge an Hermann Thomas, 10.04.1919; Vögler an Emil Feldes, 24.04.1919, in: ACDP, I-723, Mappe 15. 51 Sellge an Stinnes, 10.04.1919, in: ACDP, I-220, 055/1. 52 Luxemburger Zeitung (05.04.1919). 53 Vögler an Feldes, 24.04.1919, op. cit. 54 Heimann-Kreuser an Stinnes, 08.08.1919, in: ACDP, I-723, Mappe 15.

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aus der Société Lorraine Industrielle von Hussigny und den Hauts-Fourneaux de Saulnes verbergen, die beide nur durch die lothringisch-luxemburgische Grenze von Differdingen getrennt waren, von Anfang an aber als viel zu kapitalschwach eingestuft wurden, „um einen so großen Besitz übernehmen zu können“.55 Völlig anders schaute es diesbezüglich beim „Rombacher Syndikat“ aus. Es entstammte der sogenannten Marmichpont-Allianz unter Leitung von Théodore Laurent, dem es gelungen war, seine Compagnie des Aciéries de la Marine et d’Homécourt, die Aciéries de Micheville und die Hauts-fourneaux et fonderies de Pont-à-Mousson zusammenzuführen, um gemeinsam die Rombacher Hütte in Lothringen und das Dillinger Eisenwerk im Saarland zu übernehmen. Das Konsortium verfügte offenbar über ausreichend Mittel, um auch noch Deutsch-Lux ein Angebot zu unterbreiten. Mitte April kam es zu einem ersten Austausch, den Heinrich Vehling, der früher selber auf der Gehaltsliste von Homécourt gestanden hatte, im Luxemburger Grand Hotel Brasseur arrangiert hatte. Hervorzuheben ist in dem Kontext ein Detail, das sehr eindrucksvoll die Mentalität der Beteiligten reflektiert und deswegen hier nicht ausgespart werden soll. Obwohl Vehling die Franzosen als verlässliche Geschäftspartner präsentierte,56 riet Vögler Stinnes eindringlich von einer Teilnahme an dem Rendezvous ab. Er hegte den Verdacht, Laurent könne lediglich darauf erpicht sein, die Deutschen über ihre Strategien auszuhorchen. Möglicherweise war ihm bekannt, dass der Sprecher der Rombacher Seilschaft und General Gabriel Maugas aus Fochs Hauptquartier Studienfreunde waren. Erst nachdem Ende Mai definitiv feststand, wie ernst Laurent es meinte und wie mächtig das Syndikat war, das hinter ihm stand (dazu gehörten die Aciéries de France, die Aciéries de Longwy, Fives Lille, die Société Nancéenne de Crédit Industriel, um nur einige wenige zu nennen), nahm Stinnes ein erstes Mal persönlich an den Verhandlung teil. Bis dahin beobachtete er, nicht ohne Genugtuung, wie jetzt auch wallonische Industrielle allmählich vorstellig wurden. Am 26. April schickten die Lütticher Aciéries d’Angleur ihren Luxemburger Chefingenieur Pierre Ries vor. Er sollte in Differdingen herausfinden, ob Gespräche noch möglich waren. Bei einem weiteren Treffen stellte sich dann aber heraus, dass Angleur nur die Vorhut eines noch zu formierenden Konsortiums war, bei

55 „Besonders die Anschauungen und Tendenzen dieser Herren sind durchaus nicht chauvinistisch, dahingegen großzügig-industriell und kaufmännisch richtig geschult. Herr Laurent selbst ist ein höchst ehrenwerter Herr, den ich ganz besonders schätze.“ Bericht über die am 8. Mai 1919 in Luxemburg stattgefundene Besprechung […], 09.05.1919, ebd. 56 Vehling an Vögler, 14.04.1919, ebd.

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dem der Gouverneur der SGB Jean Jadot die Strippen zog.57 Es war Stinnes nicht entgangen, dass Jadot zur gleichen Zeit auch noch den Anschluss an das Rombacher Syndikat suchte. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen musste der Leiter der Brüsseler Großbank bald erkennen, dass die belgischen Anleger doch lieber in den Wiederaufbau der inländischen Industrie investierten anstatt sich im Ausland zu engagieren. Der Erwerb der Anlagen von Deutsch-Lux in Luxemburg ausnahmslos mittels belgischer Geldgeber war deshalb vermutlich gar nicht zu stemmen. Zum anderen hatte ihm Laurent, den neuerlichen Anweisungen aus Paris folgend, den Einstieg in die französische Gruppe bereitwillig angeboten.58 An der Seine war man inzwischen überzeugt, den Belgiern Zugeständnisse machen zu müssen: Loucheur plante bereits den Absatz der drei Mio. Tonnen Lothringer Stahl, die in Frankreich keine Verwendung fanden und allein mit Hilfe eines Exportkartells lukrativ an den Markt zu bringen waren. Dazu brauchte er die Mitwirkung der luxemburgischen und der wallonischen Hersteller (später auch der Deutschen).59 Auch andere Minister setzten mittlerweile auf Kooperation mit den Belgiern: Außenminister Stephen Pichon plante eine Militärkonvention mit Brüssel und Handelsminister Étienne Clémentel pochte auf den Ausbau des Warenaustauschs durch ein bilaterales Zollabkommen. Die ‚Grande Nation‘ musste also dem Königreich entgegenkommen – sehr zur Freude der Bochumer, denn dadurch dass sich immer neue Aspiranten meldeten, wurde „den Käufern unser Besitz wertvoller [ge]macht“.60 Stinnes konnte es sich sogar leisten, auf einen Vorvertrag, ähnlich wie bei der GBAG, zu verzichten. Laurent, dem er eindeutig den Vorzug gab, gewährte er lediglich eine mündliche Zusage, bis die abwechselnd in Luxemburg und Köln stattfindenden Besprechungen im Oktober 1919 mit dem Austausch zweier provisorischer Konventionen besiegelt wurden, in denen das Kaufobjekt genau definiert und die Zahlungsmodalitäten festgeschrieben waren, einerseits für Differdingen und andererseits für Rümelingen-St.Ingbert.61 Hier lässt sich ein markanter Unterschied zwischen dem 57 Notizen über die am 2. d. M. in Differdingen stattgefundene Besprechung […], 05.05.1919, ebd. 58 Laurent an Jadot, 12.06.1919, in: Archives de la SGB, Bruxelles [künftig ASGB], 5; Note sur les pourparlers pour l’acquisition de l’usine de Differdange, [Dezember 1919], in: HADIR, AC.01733. 59 Robert Pinot [Generalsekretär des Comité des Forges] an Loucheur, 09.07.1919, in: ARBED, P.160.D. 60 Bericht über die am 8. Mai 1919 in Luxemburg stattgefundene Besprechung […], in: ACDP, I723, Mappe 15. 61 Den Inhalt beider Konventionen kennen wir nur durch die später verfassten Abschlussverträge: Convention réglant la vente […] de Differdange; Convention réglant la vente […] de Rumelange-St. Ingbert, beide 10.03.1920, in: HADIR, AC.01731.

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kaltblütig taktierenden Stinnes und der eher nervös gewordenen Gelsenkirchener Konzernspitze erkennen: Während letztere dazu neigte, möglichst rasch zu einem annehmbaren Ergebnis zu gelangen, nutzte Stinnes die Vollmacht, die er sich schon vor Kriegsende, am 28. Oktober 1918, vom Bochumer Aufsichtsrat hatte geben lassen, um das Maximum herauszuholen, nicht ohne dabei große Risiken einzugehen.62 Seine Weigerung, sich früh festzulegen hatte zwar den unbestreitbaren Vorzug, die einzelnen Bieter gegeneinander auszuspielen, was aber wäre gewesen „wenn [die] Gr[uppe] I [Rombacher Vereinigung, C.B.] dann zurücktritt“? Die Antwort stand ungeschminkt in einem Zwischenbericht über die laufenden Unterredungen: Dann „wäre D[eutsch]-L[ux] pleite“!63 Fragt sich also am Ende, ob sich das Draufgängertum ausgezahlt hat?

4 Gutes Geschäft – schlechtes Geschäft? „Ich finde“, hielt Vögler in einem vertraulichen Schreiben an Stinnes fest, „dass Gelsenkirchen für ihren Besitz nicht allzu viel bekommen haben [sic]. Wenn man bedenkt, dass die beiden Werke [Belval bzw. Ex-Aachener Hütten EschGrenze und Deutsch-Oth, C. B.] zusammen 1 Mill[ion t] Rohstahl erzeugt haben, und den Erzbesitz berücksichtigt, dann ist unsere Differdinger Forderung mindestens 50–60 % höher“.64 Wie solche und ähnliche Beurteilungen einzuschätzen sind, ist nur schwer abzuwägen. Es mangelt nicht nur an Hintergrundinformation; oft gehen die spärlichen Angaben auseinander oder es fehlen Vergleichswerte, ganz zu schweigen von den manchmal undurchschaubaren Tricks, derer sich Käufer wie Verkäufer gleichermaßen bedienten, um die jeweils gegnerische Partei zu täuschen oder einfach nur, um Steuern zu sparen. Im Falle der GBAG kann als sicher angenommen werden, dass der in Köln vereinbarte und im Vorvertrag vom 1. März bestätigte Verkaufspreis nicht mehr grundlegend diskutiert wurde, auch nicht nachdem die ARBED mehrfach um Aufschub gebeten hatte (zuerst bis zum 18. April, dann zum 16. Mai, bevor am 15. November ein endgültiger Entwurf unterzeichnet wurde).65 Schuld an den Verzögerungen waren Schwierigkeiten mit den Falken im Brüsseler Außenmi62 Aufsichtsratssitzung, 28.10.1918, in: ACDP, I-220, 089/2. 63 Anonymer Bericht, 28.04.1919, in: ACDP, I-220, 055/1. 64 Vögler an Stinnes, 15.04.1919, in: ACDP, I-723, Mappe 15. 65 Die erste Bitte um Aufschub erfolgte am 18. April, die zweite am 16. Mai. Die Vertragsunterzeichnung erfolgte dann erst am 15. November. Parallèle entre le contrat d’option du 1er mars et celui du 23 mai 1919; Promesse de vente, 07.06.1919, in: ARBED, AC.01722; Contrat d’acceptation et contrat définitif, 15.11.1919, ebd.

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nisterium, die einfach nicht einsehen wollten, dass „der einzige Weg so ein Ding zu drehen, nur gemeinsam mit den Franzosen zu beschreiten ist“* und deswegen den, in ihren Augen unbotmäßigen ARBED-Direktoren, alle nur erdenklichen Steine in den Weg legten, um sie daran zu hindern, einen Teil der Vertragssumme in belgischen Francs über firmeneigene Konten im Königreich an die Deutschen zu überweisen.66 Da die deutschen Herren darauf beharrten, die gesamte Summe „rein in Pariser Francs“ und nicht wie ursprünglich vereinbart, zur Hälfte in Mark zu bekommen, blieb nur das Umdisponieren. Es fiel angeblich mit erheblichen Mehrkosten zu Lasten der Käufer aus. Auf deutscher Seite redete man sich heraus, Berlin verlange harte Devisen, um dringend benötigte Lebensmitteleinkäufe im Ausland zu tätigen.67 Ein böses Ende für die GBAG nahm dagegen die öffentliche Ausschreibung ihrer lothringischen Besitzungen. Der französische Sequester veranschlagte das Los mit ‚lediglich‘ 38½ Mio. Franken. „Die Deutschen waren darüber sehr erstaunt“*, hielt ARBED-Präsident Barbanson fest. „Sie schätzten den Wert ihrer lothringischen Aktiva auf mindestens hundert Millionen Gold-Mark“*, also glatt das Dreifache.68 Nachweisen lässt sich das zwar nicht, aber der letztgenannte Betrag scheint doch übertrieben hoch angesetzt. Erstens schloss das Kaufobjekt lediglich die grenznahen Erzgruben im ehemaligen Reichsland ein, nicht aber die Pierremont Konzession, welche die ARBED-Schneider-Gruppe wegen ihrer entlegenen Lage bezeichnenderweise erst gar nicht haben mochte. Zweitens handelte es sich bei der Hütte in Deutsch-Oth um ein reines Roheisenwerk mit lediglich vier Hochöfen, die zudem reichlich veraltet waren. Zum Vergleich: Die 1911 in Betrieb genommene Adolf-Emil-Hütte in Belval, mit sechs Hochöfen, einem Stahl- und Walzwerk modernster Bauart, war in einem Kostenvoranschlag 1909 mit 38.391.000 Mark (rund 48 Mio. Franken) verbucht worden.69 Drittens: Da sich die Käufer der Maßgabe beugen mussten, nach der nur Unternehmen mit überwiegend französischer Beteiligung Submissionen einreichen durften, kamen sie nicht darum herum – anders als eingangs geplant –, das Kaufobjekt zu splitten und gleich zwei neue Gesellschaften zu gründen, die Société Minière des Terres Rouges für die Übernahme des früheren lothringischen Teils der GBAG und die Société Métallurgique des Terres Rouges für die übrigen linksrheinischen Anlagen. Nun wurde natürlich aus steuerlichen Erwägungen das 66 Notiz von Barbanson, 17.04.1919, in: MAEB, B.12; Bericht über die „Affaire de l’Arbed“, 04.04.1919, ebd. 67 Adolf Salomonsohn an Mayrisch, 23.04.1919, in: ARBED, AC.01722. 68 Note à Messieurs Schneider & Cie, in: SMTR, «Audun-le-Tiche». 69 Anlage 1 [1909], in: Bergbau-Archiv beim Deutschen Bergbaumuseum, Bochum [künftig BBA], 55/14; Begründung des auf die Tagesordnung der außerord. Generalversammlung vom 28. Oktober 1911 gesetzten Antrags auf Erhöhung des Aktienkapitals, in: BBA, 55/15.

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Grundkapital der erstgenannten AG mit 20 Mio. Francs bewusst niedrig gehalten und somit nicht unbedingt dem Realwert angepasst, aber auch der Fiskus ließ sich nicht unumschränkt in die Irre führen. So oder so, die Erwerbssumme von 38½ Mio. Franc wurde an das französische Office des Séquestres gezahlt. Die Entschädigung für das entzogene Vermögen war dann Angelegenheit des Deutschen Reichs. Tab. 1: Kaufpreis für die Übernahme der GBAG-Anlagen (in französischen Francs) Quellen Versteigerung Deutsch-Oth + lothringische Gruben – Zahlung an den französischen Sequester Lagerbestände Rohstoffe

2.691.243

Verwaltungskosten des Sequesters

2.589.237 5.280.480

SMTR, passim

F. CHOMÉ70

38.500.000

38.500.000

5.280.480



Barzahlung an GBAG

65.000.000

direkt nach Gelsenkirchen

16.280.000

an Banken, zugunsten der GBAG Pierson & Cie (Amsterdam); Nederlandsche Handelsmaatschappij (Amsterdam); Privatbanken (Kopenhagen); Skandiaviska Kreditaktienbolaget (Stockholm)

54.000.000

Unkosten (Geldtransfers, usw.)

4.000.000



Obligationen zugunsten der Gelsenkirchener

40.000.000

40.000.000

Lagerbestände und Umlaufvermögen

40.000.000



7.220.000



Unvorhergesehenes Jährliche Vergütung für die aus GBAG-Gruben geschürfte Minette: sechs Franken je Tonne während 30 Jahren (Saldo wird 1934 mit einer letzten Zahlung beglichen) TOTAL (annähernd)

50.000.000

50.000.000

255.280.480

193.500.000

Fest steht, dass die GBAG für die Luxemburger und Aachener Fabriken 155 Mio. französische Francs erhielt: 65 Mio. Francs in bar, wovon 49 Mio. Francs an Banken in Amsterdam, Bern, Kopenhagen und Stockholm und lediglich etwas 70 Félix Chomé (Hg.), Aciéries Réunies de Burbach-Eich-Dudelange. Un demi-siècle d’histoire industrielle. 1911–1964, Luxemburg 1964, 56. Die beachtliche Differenz zwischen dem anhand mehrerer zeitgenössischer, interner SMTR-Quellen von uns zusammengestellten Gesamtbetrag einerseits, und der 1964 vom ARBED-Aufsichtsratsvorsitzenden Félix Chomé in einer „offiziellen“ Unternehmensgeschichte genannten Verkaufssumme andererseits, legt nahe, dass die Käufer unter keinen Umständen in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken wollten, als haben sie damals dem „Feind“ einen zu hohen Preis gezahlt.

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mehr als 16 Mio. an den Gelsenkirchener Konzern; 40 Mio. in Form von zu emittierenden Terres Rouges Obligationen; 50 Mio. zahlbar in 30 Annuitäten als Vergütung für die aus GBAG-Gruben geschürfte Minette zu sechs Franken je Tonne.71 Weitere 40 Mio. wurden pauschal für sämtliche Lagerbestände gezahlt. Berücksichtigt man dabei erstens, dass die Ofenanlage von Esch-Grenze ziemlich in die Jahre gekommen und das Stahlwerk Rothe Erde in Aachen gar so veraltet gewesen war, dass es nur noch kurze Zeit in Betrieb blieb, bevor es nach der Ruhrbesetzung endgültig stillgelegt wurde und zweitens, dass der Komplex Belval unter den Kirdorfs nie das erwirtschaftet hatte, was sich seine Planer erhofft hatten, dann scheint der Preis durchaus angemessen.72 Selbiges dürfte auch für den bescheideneren Besitz von Deutsch-Lux gegolten haben. Laurent bot am Schluss 135 Mio. Francs; Stinnes verlangte aber 2½ Mio. mehr. Im Führungszirkel des Rombacher Syndikats kam es daraufhin zu einem regen Austausch. „Herr Laurent fragte uns, Herrn [Paul] Nicou [Generaldirektor von Micheville] & mich selbst [Camille Cavallier, Pont-à-Mousson], was wir davon halten. – Ich antwortete, wenn man ein Objekt zum Preis von 135 Millionen kauft, dann kauft man es auch zu 137½. Herr Nicou, der sehr unversöhnlich ist, […] hat anders geantwortet: wenn man, sagt er, bei 137½ verkauft, dann verkauft man auch bei 135. Ich denke, er hat recht“*.73 Nicou, der drei Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft verbracht hatte, konnte sich dennoch nicht gegen den auf Ausgleich bedachten Patron der Marine et d’Homécourt durchsetzen. Es blieb bei der Vertragssumme von 137½ Mio. Franken und zwar 100 Mio. für Differdingen und 37½ Mio. für Rümelingen-St.Ingbert, allesamt zu zahlen in belgischer Währung.74 Die Erfüllung letzterer Bedingung war zu dem Zeitpunkt kein unüberwindliches Hindernis mehr. Seitdem Jean Jadot mit von der Partie war, nahm Brüssel es nicht mehr so genau mit seinen restriktiven Devisenbestimmungen.75 Der vereinbarte Betrag ging jedoch nicht vollständig an Deutsch-Lux. zwölf Mio. Francs erhielt der französische Sequester, insbesondere für Werte, die zum

71 Bis 1933 überweist die ARBED jährlich 2 Mio. Franken. Der Saldo von 32 Mio. wird 1934 mit einer Einmalzahlung beglichen. 72 Reprise des Biens de la Gelsenkirchen, 10.11.1919, in: SMTR, «Syndicat de l’Alzette»; Règlement de l’acquisition […], 18.12.1919, in: SMTR, «Gestion du Séquestre». 73 Camille Cavallier, Duplicata, 20.07.1919, in: PAM, 7276. 74 Während Rümelingen restlos in klingender Münze bezahlt wurde, gab es für Differdingen 40.500.000 Franken in bar und 59.500.000 Franken in Obligationen, die an der Brüsseler Börse emittiert wurden, handelbar und mit 5 Prozent verzinst innerhalb von 40 Jahren zu 102 Prozent abzuschreiben waren. Das Barguthaben ging vermutlich größtenteils an die eigens von Stinnes im Schweizer Schaffhausen gegründete Oberrhein AG für Industriewerte. 75 Henri Jaspar [belgischer Wirtschaftsminister] an Jadot, 14.08.1919, in: HADIR, AC.01731.

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Rümelinger Vermögen gehörten, und das, obwohl sich Staatsminister Émile Reuter eigens an den Straßburger Hochkommissar Alexandre Millerand wandte, um ihn darauf hinzuweisen, dass die angesetzte Versteigerung nicht rechtens sei, weil sie eine neutrale, Luxemburger Gesellschaft mit vornehmlich belgischem Kapital träfe. Schützenhilfe kam ferner von den Rombachern. In einem Zusatzabkommen zum Kaufvertrag gaben sie ihr Ehrenwort, „alles in ihrer Macht stehende“ zu unternehmen, um die Liquidation der drei kleinen Hochöfen von Öttingen mitsamt den Erzfeldern zu verhindern.76 Sogar Louis Loucheur warb bei Millerand um Verständnis. Eine Grube wie Öttingen III, die nur mittels einer Seilbahn vom Werk Differdingen aus zu erreichen war und damit für andere Lothringer Betreiber ohne jeglichen Nutzen blieb, dürfe seines Erachtens nicht unter den Hammer kommen. Da die Förderung der Grube für die Produktion im Großherzogtum „unabdingbar“* sei, müsse sie „gütlich, im gegenseitigen Einvernehmen“* den Besitzer wechseln.77 Jedes gute Zureden half aber nichts. Im Gegenteil. Die in der unteren und mittleren Laufbahn angesiedelten Beamten des Service industriel d’Alsace-Lorraine witterten eine inakzeptable Einmischung seitens des Großkapitals. Aufgrund ihrer Fronterfahrung hatten sie ihre ganz eigene Meinung über die Kanonenbarone, egal ob sie von diesoder jenseits des Rheins stammten. Um den vorhersehbaren Schaden zu minimieren, machte Stinnes Laurent in letzter Minute ein eher überraschendes Angebot: Statt mittels der ausgemachten Summe von 37½ Mio. Franken die Interessengemeinschaft mit Rümelingen frühzeitig abzulösen – dafür musste er laut Vertrag von 1911 die bestehenden 15.000 Anteilsscheine zum fünffachen Preis ihres Nominalwerts von 500 Franken abgelten [15.000 x (500 x 5) = 37.500.000] –, bevor in einem weiteren Schritt das Eigentum der liquidierten Firma an die Käufervereinigung übergeben werden sollte, bot er der Gegenpartei an, eine drei Viertel Stimmenmehrheit in der Hauptversammlung von Rümelingen durch den Erwerb von 75 Prozent der Aktien zu besorgen. Für Laurent und seine Mitstreiter hätte diese Vorgehensweise einen nicht von der Hand zu weisenden Vorteil gehabt. Da die zwangsläufige Abwicklung der Rümelinger Hochofengesellschaft in dem Fall nicht stattgefunden hätte, hätte sie bestehen bleiben können und es hätte gereicht, wenn die neuen Inhaber dank ihrer absoluten Majorität eine Statutenänderung mit Kapitalerhöhung vorgenommen hätten, ehe sie Differdingen in Rümelingen aufgehen ließen. Steuerlich wäre das allemal günstiger als die Gründung einer neuen Gesellschaft gewesen, an der man sonst nicht vorbeikam. 76 Entwurf eines Briefs betr. Rümelingen, 06.10.1919, in: ACDP, I-220, 206/2. 77 Resümee einer Konversation Fournier/Loucheur am 25. August 1919, 27.08.1919, in: SMTR, «Syndicat de l’Alzette».

96  Charles Barthel

Gleichzeitig hätte man Nebenkosten wie etwa die Notarhonorare eingespart. Für Deutsch-Lux hätte der Vorteil darin bestanden, dass sie statt 37,5 Mio. Francs zu vereinnahmen, um sie gleich wieder auszugeben, bis zu 9.375.000 Francs (also der Gegenwert der nicht benötigten Aktien) in ihre eigene Tasche geflossen wären. Sollte es gar gelingen, die Rümelinger Aktien zu einem niedrigeren Kurs als 500 Prozent des Nominalwerts zu beschaffen, wäre für die Bochumer noch mehr zu holen gewesen. So unwahrscheinlich war das auch nicht, denn die aktuelle Börsennotierung schwankte um 1.800 Francs (= nur etwa 70 Prozent der ansonsten fälligen 2.500 Francs bei der Einlösung des Interessenvertrags). Aber es war zu schön, um wahr zu sein. Tab. 2: Verkauf der Anlagen von Deutsch-Lux an das Rombacher Syndikat (in belgischen Franken)78 Besitz Deutsch-Lux in Differdingen

Besitz Rümelinger Hochofenges.

Bargeld:

40.500.000

Bargeld:

Obligationen (5 % Zins, rückzahlbar zu 102 % in 40 Jahren)

59.500.000

an Deutsch-Lux

24.479.000

ans frz. Sequester

12.021.000

Total:

100.000.000

37.500.000

Nebenabkommen: – 600.000 belgische Franken Abfindung für Direktoren u. Aufsichtsräte – Nachzahlung sechs Monate Gehalt an alle Angestellten, die das Werk verlassen – Exklusives Verkaufsrecht für Grey-Träger in Deutschland79 – Absichtserklärung: Lieferkontrakt 500.000 t Koks gegen 500.000 t Minette – usw.

Das Problem war, dass Stinnes die Aktien innerhalb von sechs Wochen von Aktionären beschaffen musste, deren Namen er nicht kannte.80 Die Operation war deshalb von vornherein so gut wie sicher zum Scheitern verurteilt und tatsächlich gelang es den Deutschen gerade einmal knapp 400 Aktien zu hinterlegen.81 Möglicherweise war die Operation aber auch ein Ablenkungsmanöver, um Laurent davon abzuhalten, kurz vor Abschluss die Unterschrift zu verweigern, um eine neue Diskussion über die 100 Mio. Francs für Differdingen zu entfachen. Denn das ist glasklar: Ohne die ergänzenden Erz- und Stahlkapazitäten von Rü78 Procès-verbal de la Conférence à Cologne, 03.01.1920, in: ACDP, I-220, 026/2. 79 Die Greyträgerlizenz für den gesamten Deutschen Zollverein war im Auftrag von Paul Wurth längst vor der Übernahme von Differdingen durch Deutsch-Lux erworben worden und durch verschiedene Vertragsklauseln fest an das Luxemburger Stammwerk gebunden. 80 Compte rendu de la réunion tenue à Cologne le 3 janvier 1920, in: HADIR, AC.01734. 81 Besprechung im Hotel Brasseur, 08.01.1920, in: ACDP, I-220, 206/2.

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melingen „wäre ja der Differdinger Besitz ganz außerordentlich geschädigt, und man würde uns wohl dementsprechende Bedingungen vorlegen“. Albert Vöglers Befürchtungen stützen die These. Danach musste sein Chef immer wieder auf die Käufer einwirken, um ihnen durch ein Junktim der beiden Geschäfte die Gewissheit zu geben, das vollständige Erbe antreten zu können. Dabei schwang ständig die Angst mit, die Rombacher Gruppe könnte sich mit dem scheidenden Rümelinger Präsidenten de Laveleye und seinem Luxemburger Verbündeten Wurth auf ein wie auch immer andersgeartetes Geschäft einlassen, bei dem Differdingen außen vor bliebe. „Sehr bedenklich hat mich vor allem gestimmt“, fügte Vögler seinen Ratschlägen an Stinnes’ Adresse hinzu, „dass Herr Laurent bei Herrn Wurth zum Essen eingeladen war“.82 Wenn es also tatsächlich weniger auf eine Gewinnmaximierung im Rümelinger Nullsummenspiel ankam als auf die Sicherung des sehr respektablen Ergebnisses für Differdingen, hatte Stinnes sein Ziel vollständig erreicht. Die allgemeine Zufriedenheit mit dem Errungenen lässt sich außerdem am Nicht-Zustandekommen manch angedachter Zusatzgeschäfte ablesen. Aufgrund des Schwunds ihrer Erzvorräte war Deutsch-Lux bestrebt, einen Langzeitliefervertrag über eine halbe Mio. Tonnen Minette jährlich abzuschließen, womit sie bei Laurent auf offene Ohren stießen. „Im Gegenzug“, ließ der Franzose mitteilen, erbitte er „die Zustellung von Koks oder Kokskohle“*.83 Aus der Sicht Stinnes’ wäre das Tauschgeschäft insgesamt eine prima Sache. Durch den Verlust der luxemburgisch-lothringischen Stahlstandorte musste er für den Absatz seiner Steinkohlenbergwerke Ersatz finden oder eine seiner Steinkohlenzechen abstoßen. Er brachte zu diesem Zweck die Saar- und Mosel-BergwerksGesellschaft mit Sitz im lothringischen Karlingen ins Gespräch, später auch linksrheinische Felder bei Neukirchen-Vluyn. Das Karlinger Bergwerk wäre für die Betreiber von Differdingen/Rümelingen optimal gewesen, erwies sich aber als viel zu teuer, wohingegen die zweite Option zwar preisgünstiger gewesen wäre, allerdings den Anforderungen keineswegs entsprach. Deswegen bot Stinnes Laurent schließlich eine Beteiligung an einigen seiner Ruhrzechen an, u. a. an den Gruben Dannenbaum und Prinz Regent in Bochum, die seit Jahren auch die Luxemburger Schmelzen belieferten. In diesem Zusammenhang stellt sich erneut die Frage, inwiefern die deutschen Vorschläge ernst gemeint oder bloß taktische Manöver waren, um die Absichten der Gegenseite auszuloten. Spätestens Mitte August eruieren nämlich im Düsseldorfer Industrieclub führende Ruhrindustrielle – darunter auch Stin82 Vögler an Stinnes, 29.09.1919, in: ACDP, I-723, Mappe 15. 83 Compte rendu confidentiel de la réunion tenue à Cologne le 31 mai 1919, in: HADIR, AC.01734, Note III.

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nes84 – die geheimen Pläne Loucheurs, die darauf abzielten, „über den Friedensvertrag hinaus Kohlenlieferungen und Minettebezüge zu vereinbaren. […] Die diesbezüglichen Verträge sollen zwischen den Industrien abgeschlossen werden und nicht von Staat zu Staat“; sie sahen außerdem eine „Beteiligung französischen Kapitals an deutschen Unternehmungen“ vor. Auf deutscher Seite hatte man prinzipiell nichts gegen „eine Verständigung zwischen der französischen und der deutschen Industrie“, man blieb aber der Meinung, dass „die Franzosen, wenn sie die Werke in Lothringen [und Luxemburg] weiterbetreiben wollen, unbedingt die Deutschen [brauchen]“. Diese Abhängigkeit kannte drei Hauptursachen. 1) Im Moseltal und im Briey-Becken musste man die überschüssige Minette absetzen. Die Ruhr brauchte das Erz allerdings nicht so dringend, wie der Pariser Minister für den Wiederaufbau und das Comité des Forges dachten. Wegen des anhaltenden Koksmangels war es nämlich für die rheinisch-westfälischen Hütten auf unabsehbare Zeit billiger, Fe-reiche Manganerze aus Schweden oder von anderen Lieferanten aus Übersee zu beziehen. 2) Die Lothringer/Luxemburger mussten nach wie vor mit ihrem Stahl an den deutschen Markt bzw. in den Export an die europäische Peripherie. Loucheur beabsichtigte deswegen, wie bereits erwähnt, „eine solche Verständigung [zu treffen], dass der Export gemeinsam erfolgt“. Davon wollten die Ruhrbarone aber nichts wissen, weil das angestrebte Ausfuhrkartell sie „für die Zukunft fesseln soll“. 3) Ohne Ruhrkohle ging im Nordosten Frankreichs rein gar nichts. Warum aber sollten die deutschen Montankonzerne jetzt auch noch, neben den großen Mengen Reparationskohle, zusätzlich und freiwillig einem Handel Erz gegen Koks zustimmen, an dem Loucheurs Vorstellungen zufolge auch noch „nichts verdient werden [soll]“? Es war deswegen kein Wunder, dass die Herren im Industrieclub rasch zu einer einhelligen Schlussfolgerung gelangten: „Wir zeigen guten Willen […]. Die Kohlen aber müssen wir unter allen Umständen behalten, [denn] die Franzosen haben uns dann nicht so in der Hand“! Deutsch-Lux verstand sehr gut, dass es nur auf den ersten Blick sehr verlockend klang, das Geschäft mit Laurent durch die Aufstockung des Angebots unter Zuhilfenahme der inzwischen überflüssig gewordenen Kohlereserven zu veredeln. Man hätte damit aber ipso facto das beste Argument zur Unterminierung des Versailler „Diktats“ preisgeben. Denn dann wäre es nicht mehr so einfach gewesen, die unerfüllten Reparationsforderungen der Franzosen und Belgier mit dem gebetsmühlenartig wiederholten Satz „macht was ihr wollt, wir können

84 An dem(n) „vollkommen vertraulichen“ Gespräch(en) nahmen des Weiteren Geheimrath Otto Wiedtfeld, Legationsrat Hermann Schmitt, Paul Kind, Carl Rabes, August Thyssen, Peter Klöckner, Arthur Klotzbach, Albert Janus, Georg Lübsen und Arnold Woltmann teil.

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nicht“ abzuweisen.85 Außer schwammigen Absichtserklärungen stand folglich in der Endabmachung zwischen Stinnes und der Nachfolgegesellschaft HautsFourneaux et Aciéries de Differdange-St.Inbert-Rumelange (HADIR) kein Wort über die konkrete Lösung der Rohstofffrage. Stattdessen redete man lieber über Abfindungen für die Herren Aufsichtsräte (600.000 Francs allein bei der Deutsch-Lux) oder die Weiterbeschäftigung ehemaliger leitender Angestellter, wie Direktor Vehling von der GBAG, dem eine Stellung als beratender Ingenieur auf Rothe Erde zugedacht wurde. Auch wenn manchmal auf der Käuferseite von den „Boches“ gesprochen wurde, kann insgesamt gesehen aber wohl kaum von einem Akt der „Piraterie“ in Bezug auf die Abwicklung deutschen Eigentums auf dem linken Rheinufer die Rede sein.86

5 Schlussfolgerung Das bereits früh im Ersten Weltkrieg von Mitarbeitern des Quai d’Orsay skizzierte Projet sidérurgique war unbestreitbar Dreh- und Angelpunkt der sich seit dem Einbruch der Front im Oktober/November 1918 abzeichnenden Vertreibung deutscher Schwerindustrieller aus dem einstmaligen Südwestbecken. Dabei passt das Bild der regelrechten Verjagung eigentlich bloß zu Lothringen, speziell zum chauvinistischen Gebaren öffentlicher Bediensteter der kommissarischen Stellen, während für das Großherzogtum eher die Vorstellung einer mehr oder minder freiwilligen Räumung zutreffend ist. Sie war die einzig sinnvolle Konsequenz aus den zerschnittenen transnationalen Geschäftsstrukturen. Aller Nuancen zum Trotz kann festgehalten werden: 1. Ohne die von patriotischen Hochgefühlen animierte und mit Nachdruck angekündigte Pariser Zielvorgabe, deren praktische Umsetzung nach der Waffenruhe in der Obhut von Handelsminister Étienne Clémentel und Industrieminister Louis Loucheur lag, wäre die Mehrheit der französischen Stahlbarone aus eigener Initiative kaum zum umfangreichen Erwerb feindlicher Hütten und Erzfelder übergegangen. Allein ihr ausgeprägter Individualismus und das stete 85 Industrieclub Düsseldorf, 16.08.1919, in: ACDP, I-723, Mappe 27. 86 Barbanson an Fournier, 27.11.1919, in: SMTR, «Gestion du séquestre»; Nicou an Cavallier, 28.01.1923, in: PAM, 18969. Weitere Einzelheiten zum Verkauf finden sich bei Monique Kieffer, La reprise du potentiel industriel de la société Gelsenkirchen et la constitution du groupe Arbed – Terres Rouges (1919–1926), in: Les années trente, Sonderheft der Hémecht, Luxemburg 1996, 69–97 und Charles Barthel, Bras de fer. Les maîtres de forges luxembourgeois entre les débuts difficiles de l’UEBL et le Locarno sidérurgique des cartels internationaux. 1918–1929, Luxemburg 2006, 27–131 und 190–197.

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Streben nach Eigenständigkeit hätten sie daran gehindert, die zur Aufbringung der erforderlichen Geldmittel notwendigen finanzstrategischen Bündnisse zu schließen. 2. Ohne die von Großmachtdenken und Hegemoniegelüsten geprägte Politik Frankreichs wären Luxemburgs Stahlhütten zum Zulieferer belgischer Weiterverarbeitungsbetriebe verkommen. Das kleine Großherzogtum hätte sich damit begnügen müssen, seinen westlichen Nachbarn mit billigen Roh- und Halbfabrikaten zu beliefern; wallonische Hersteller von Fertigwaren hätten dagegen ein gutes Geschäft gemacht. So aber konnte die ARBED ihr Schicksal wenden. Während es zunächst zu befürchten stand, dass sie in der gleichen Weise wie die deutschen Besitzer zum Opfer der neuen Herrschaftsverhältnisse geworden wäre, wurde die Firma am Ende, völlig unvorhergesehen, an die Spitze der europäischen Schwerindustrie katapultiert. 3. Auch die Ruhrmagnaten zogen Nutzen aus Loucheurs Ansinnen, wirtschaftliche Belange außerhalb der internationalen Friedensordnung zu regeln. Für einen alles in allem fairen Preis schlugen sie Werke los, die eigentlich nie das erwirtschaftet hatten, was ihre Erbauer sich im Erzrausch der Nach-Bismarck’schen Eroberung riesiger Lagerstätten in Lothringen erträumt hatten. Der ‚Zug nach der Minette‘ wäre ohnehin früher oder später durch die verschärfte internationale Konkurrenz angehalten oder zumindest ausgebremst worden, weil das eisenarme lothringisch-luxemburgische Erz nur bei einem verglichen etwa mit Schwedenerzen hohen Koksverbrauch, also zu hohen Kosten, zu qualitativ eher minderwertigem Thomasstahl verhüttet werden konnte. Dank der ansehnlichen Verkaufssummen, die überdies in harten Devisen vereinnahmt und am deutschen Fiskus vorbei ins neutrale Ausland geschafft wurden, bildeten Firmen wie Deutsch-Lux und die GBAG Anlagefonds, aus denen sie den höchst profitablen Umbau ihrer Konzerne finanzierten: hin zu gesteigertem Einsatz kostensparender Schwedenerze, weg von Massenfertigung und Allerweltsprodukten zugunsten von Qualitätsware bzw. fortgeschrittener Verfeinerung. Die Frage darf also erlaubt sein, ob die Rückverlegung des gewerblichen Schwerpunkts an die Ruhr bei gleichzeitig vertikaler Integration der jeweiligen Einzelunternehmen ihr Zusammengehen in der Vereinigte Stahlwerke AG Anfang 1926 nicht ungemein beflügelt hatte, wohingegen französische und belgische Betriebe über die Zwischenkriegszeit hinaus nie zu einer vernünftigen Kooperation fanden, trotz der von Paris angestoßenen Konsortien. Bestes Beispiel ist das Konglomerat zwischen der ARBED und den beiden Terres-Rouges-Töchtern. Erst nachdem Émile Mayrisch und Gaston Barbanson die neugewonnenen ‚Freunde‘ aus Lothringen, mit Ausnahme von Schneider & Cie, durch eine Übernahme fast des gesamten Aktienkapitals wieder hinauskomplimentiert hatten,

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gelang es, die Interessengemeinschaft um die Jahreswende 1925/26 durch eine effiziente Führung und zielstrebige Investitionen in die Spur zu bringen.87 Zu dem Zeitpunkt war das Projet sidérurgique bereits Geschichte. Eigentlich ließ es sich nie wirklich umsetzen, u. a. weil die Deutschen Loucheurs Minette gegen Koks-Angebot gleich von Anfang an sabotierten. Die gescheiterte Ruhrbesetzung und das Ende der fünfjährigen Versailler Übergangsbestimmungen am 10. Januar 1925, insbesondere das Auslaufen der zollfreien Einfuhr des sog. lothringisch-luxemburgischen Kontingents (Artikel 268), versetzten dem Plan schließlich den Todesstoß. Etwas anderes war eigentlich auch nicht zu erwarten. Lösungsansätze, „die auf dem Prinzip fußen“, dass „1914–1915 [sic] für uns [Franzosen] das werden muss, was 1870–1871 für die Deutschen war“*, wie Gabriel Cordier, Präsident der Union des industries métallurgiques et minières, meinte, haben wenig Aussicht auf Dauerhaftigkeit.88 1925/26 mussten die Karten deshalb neu gemischt werden. Diesmal saßen die Ruhrkapitäne allerdings mit am Tisch bei der Ausarbeitung des schwerindustriellen Locarno der internationalen Kartelle. Ihre Position war auch so stark wie nie zuvor, gerade weil die Politik der Siegermächte sich als unfähig gezeigt hatte, angemessen mit dem Erbe des Friedens umzugehen.

87 Vgl. hierzu Charles Barthel, Die Stunde des Herrn Mayrisch. Neue Erkenntnisse und offene Fragen zur Mitwirkung des luxemburgischen Stahlindustriellen an der wirtschaftlichen Entspannung in Europa (1925/26), in: Galerie 3 (2007), 403–481. 88 Zitiert nach Jean-Philippe Passaqui, Eugène II Schneider et la sidérurgie lorraine, au lendemain de la Première Guerre mondiale, https://www.academia.edu/21636992 [letzter Zugriff Oktober 2019].

Christian Risse und Dieter Ziegler

Die Rombacher Hüttenwerke und der Versailler Vertrag Konzernpolitik nach dem Ersten Weltkrieg

1 Einleitung Die Schwerindustrie gehörte zu denjenigen Industrien in Deutschland, die massiv von den Bestimmungen des Versailler Vertrages betroffen waren. Der Verlust wichtiger Rohstoffquellen und Absatzmärkte in den durch den Kriegsausgang verloren gegangenen Gebieten war nicht so einfach zu kompensieren. Darüber hinaus hatte die instabile politische Lage in Deutschland zu einer Verunsicherung über die Entwicklungsperspektiven der Wirtschaft geführt, was nicht ohne Rückwirkungen auf Investitionen und Konsum bleiben konnte. Für die Unternehmen der Schwerindustrie im Ruhrgebiet, von denen die größten und auch manche kleinere den Steinkohlen- und Eisenerzbergbau sowie Hütten- und Stahlwerke unter einem Dach zusammenfassten, waren die Auswirkungen des Versailler Vertrages 1919 nur schwer abzuschätzen. Während die Perspektiven für die Steinkohlezechen wegen der Reparationskohlenlieferungen sowie wegen des Ausfalls der Konkurrenz seitens der Saar- und der oberschlesischen Kohle nicht ganz so düster waren, erschien die Zukunft der Hüttenwerke wegen des Verlustes der Erzbasis in Lothringen und Luxemburg in Verbindung mit dem Versuch der französischen Eisen- und Stahlindustrie, die Vormachtstellung der deutschen und damit vor allem der Ruhrgebietskonkurrenz in Kontinentaleuropa zu brechen, vielen „Ruhrbaronen“ als stark gefährdet. Hinzu kam für alle Unternehmen im Ruhrgebiet die Unsicherheit über die Zukunft des Rheinlands. Denn die Gefahr einer Abtrennung des besetzten linksrheinischen Reichsgebiets und die Gründung eines wirtschaftlich eng an Frankreich angelehnten Pufferstaates war mit dem Versailler Vertrag noch nicht vom Tisch; und auch das Ruhrgebiet selber war durch die auf der gegenüberliegenden Rheinseite stationierten Entente-Truppen in seiner territorialen Integrität bedroht. Zudem war damit zu rechnen, dass französische Interessenten die Schwäche mancher deutschen Unternehmen nutzen würden, um Steinkohlegruben im Ruhrgebiet zur Sicherung der Koksversorgung der lothringischen Eisenindustrie zu übernehmen. Die Autoren danken Eva-Maria Roelevink für ihre kritische Kommentierung des Manuskripts. https://doi.org/10.1515/9783110765359-004

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Im Folgenden wird die Strategieentwicklung und ihr Erfolg nicht für eine bestimmte Branche oder eines der großen Unternehmen der Region untersucht, sondern mit der Rombacher Hüttenwerke AG ein vergleichsweise kleiner Konzern, der gleichwohl ungewöhnlich stark von den Auswirkungen des Versailler Vertrages betroffen war. Die Rombacher Hüttenwerke waren damit ganz sicher nicht repräsentativ für die Unternehmen der Montanindustrie des Ruhrgebiets. Aber sie zeigen exemplarisch, wie stark Unternehmen der Montanindustrie durch den Versailler Vertrag unter Druck geraten konnten und welche Strategien sie im Einzelfall entwickelten, um zu überleben. Für die Rombacher Hüttenwerke hatte der Versailler Vertrag zum einen den Verlust des Stammwerks im lothringischen Rombach zur Folge und zum anderen wurde das überhaupt erst kurz vor Kriegsbeginn 1914 über einen Interessensvertrag etablierte Konzerngefüge, das das Hüttenwerk in Rombach mit der Oberhausener Zeche Concordia verband, aufgelöst. Die Rombacher Hüttenwerke und die Zeche Concordia hatten vor dem Krieg komplementäre Interessen, die sie in Anbetracht der Entstehung großer vertikal integrierter schwerindustrieller Konzerne zu einer Zusammenarbeit motivierten. Für die Rombacher Hüttenwerke sollte die Zeche Concordia die Sicherung der Versorgung mit Kohle und Koks gewährleisten und damit neue Entwicklungsperspektiven am Standort Rombach eröffnen. Die Zeche Concordia suchte einen sicheren Absatz ihrer, zur technischen Feuerung besonders geeigneten Kohle außerhalb des Rheinisch-Westfälischen-Kohlensyndikats (Ruhrkohlensyndikat), ohne den Syndikatsverbund verlassen zu müssen. Die Bedingungen des Syndikats für so genannte Hüttenzechen erforderten es allerdings, dass ein Passus in den Interessensvertrag aufgenommen wurde, der langfristig die Möglichkeit einer Übernahme der Zeche durch die Hüttenwerke vorsah. Durch den Versailler Vertrag sollte dieser Passus dann eine Bedeutung bekommen, die ursprünglich so nicht vorherzusehen war. Denn der Interessensvertrag von 1914 wurde 1920 zum zentralen Baustein der Neuausrichtung der Unternehmensstrategie der Rombacher Hüttenwerke. Natürlich kann die Entwicklung während der 20er Jahre nicht ausschließlich durch den Versailler Vertrag, auch nicht mit dem durch den Vertrag erzwungenen Verlust des Stammwerks in Lothringen erklärt werden. Aber die Vertragsfolgen waren der Auslöser für eine strategische Neuausrichtung, die ohne die Bestimmung, wonach Frankreich berechtigt war, auch privates gewerbliches Eigentum deutscher Staatsbürger in Lothringen zu liquidieren und an französische Interessen zu veräußern, in dieser Form sicherlich nicht erfolgt wäre. Insofern ist das Scheitern der nach dem Krieg neu erworbenen Eisen- und Stahlsparte des Konzerns zumindest mittelbar eine Folge der Bestimmungen des Versailler Vertrages. Das Gleiche gilt aber auch für die Zeche Concordia, die

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Ende der 20er Jahre womöglich sogar besser aufgestellt war als 1914. Zur Erklärung dieser Entwicklung werden drei Faktoren herangezogen werden: – die die ganze Entwicklung auslösenden Bestimmungen des Versailler Vertrages, – die sich radikal verändernden Rahmenbedingungen für die Montanindustrie während Inflation, Hyperinflation und Ruhrbesetzung sowie Währungsstabilisierung und schließlich auch – die Persönlichkeit des Generaldirektors Gustav Dechamps.

2 Vorgeschichte – Der Interessensvertrag von 1914 Der zwischen der Rombacher Hüttenwerke AG und der Concordia Bergwerks AG am 22. April 1914 geschlossene Interessensvertrag sah vor, dass die Concordia den Rombacher Hüttenwerken ihren gesamten Bergwerksbetrieb und die Verwaltung ihres Vermögens übertrug, wobei die rechtliche Selbstständigkeit der Concordia zunächst bestehen bleiben sollte. Die Rombacher Hüttenwerke sollten im Gegenzug das Bergwerk in einem guten und betriebssicheren Zustand halten, den Betrieb nach wirtschaftlich und technisch angemessenen Gesichtspunkten sichern und die notwendigen Mittel für Erweiterungen, Neubauten und weitere notwendige Investitionen zur Verfügung zu stellen. Den Aktionären der Concordia sollte in den ersten fünf Jahren eine Dividende von 21 Prozent, später 22 Prozent gezahlt werden. Dabei wurde den Rombacher Hüttenwerken die Option eingeräumt, die Aktien der Concordia entweder nach 30 Jahren zu einem Kurs von 375 Prozent zu erwerben oder während der Vertragsdauer jederzeit das gesamte Vermögen inklusive aller Aktiva und Passiva zu einem festen Preis von 41 Mio. Mark zu übernehmen.1 Der Interessensvertrag war für beide Seiten vorteilhaft. Für die Concordia Bergwerks AG bedeutete die Zusammenarbeit mit den Rombacher Hüttenwerken den Aufstieg zur Hüttenzeche. So konnte innerhalb des Ruhrkohlensyndikats ein höherer Selbstverbrauch an Kohlen geltend gemacht werden. Das bedeutete, dass neben den Kohlen, die aufgrund der Kartellquote zu einem vertraglich fixierten Preis an das Syndikat verkauft wurden, zusätzlich Kohlen und Koks an die Rombacher Hüttenwerke geliefert und dort verrechnet werden durften. Um 1913 hatte die Eisen- und Stahlindustrie in Lothringen, darunter auch 1 Gerhard Gebhard, Ruhrbergbau. Geschichte, Aufbau und Verflechtung seiner Gesellschaften und Organisation, Essen 1957, 103–104.

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die Rombacher Hüttenwerke, einen jährlichen Koksbedarf von etwa 4,5 Mio. Tonnen.2 Das war mehr als das Reich nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages im Durchschnitt der Jahren 1920 bis 1924 als Teil der Reparationskohlenlieferungen nach Frankreich und Luxemburg liefern sollte.3 Durch die Verbindung mit den Rombacher Hüttenwerke konnte die Zeche Concordia seit 1914 einen nicht unwesentlichen Teil davon ohne Vermittlung des Ruhrkohlensyndikats nach Rombach liefern, so dass sie neben den Zechen des Thyssen- und des Stinnes-Konzerns zum bedeutendsten Kokslieferanten der Lothringer Eisenund Stahlindustrie aufgerückt sein dürfte. Da die Zeche Concordia 1913 die Duisburger Reederei H. Paul Disch übernommen hatte, war es nach der Eröffnung des Rhein-Herne-Kanals ein Jahr später zudem möglich, die geförderten Kohlen direkt vor Ort zu verladen und die Transportkosten intern zu verrechnen. Die eingesetzten Schiffe konnten mit den Kohlen der Concordia befeuert werden,4 so dass eine enge Verbindung nach Lothringen und den Rombacher Hüttenwerken einfach zu bewerkstelligen und deshalb gewinnbringend möglich war. Für die Rombacher Hüttenwerke bedeutete die Verbindung mit der Concordia, dass man von nun an den Kohle- und Koksbezug betriebsintern sicherstellen konnte. Dadurch war es möglich sich von dem Preisdiktat des Ruhrkohlensyndikats unabhängig zu machen. Denn für die von dem Lothringer Hüttenwerk benötigten Kohlensorten und den Koks besaß das Ruhrkohlensyndikat trotz der größeren geographischen Nähe des Saar- und des Aachener Reviers fast ein Monopol. Zudem konnte auf diese Weise der erwartete wachsende Kohlenbezug gewährleistet werden, um das Hüttenwerk in Rombach weiter auszubauen, dessen Entwicklungsmöglichkeiten ohne diese Sicherung der Energiebasis begrenzt gewesen wären. Die Zeche Concordia hatte sich vor dem Abschluss des Interessensvertrags auf den Bereich der Kohleveredelung und -weiterverarbeitung konzentriert. Auf Concordia wurde für die Kohlechemie und zur Kokserzeugung gut geeignete Fettkohle gefördert, so dass sich die Zeche schon länger als Lieferant spezieller Kohle zur technischen Feuerung und Kokserzeugung etabliert hatte.5 Auch in der Zeit direkt nach Abschluss des Interessensvertrags forschte man, nun auch in Zusammenarbeit mit Technikern der Rombacher Hüttenwerke, weiter an Verfahren zur Kohleveredelung. Bereits 1914 wurde das Concordia-Linde-Bronn Verfahren zur Gewinnung von Wasserstoff aus Kokerei2 Schadensaufstellung vom 9.10.1930, in: ThyssenKrupp-Konzernarchiv [künftig TKA], VSt 4083. 3 Vgl. hierzu Tab. 2 des Beitrages von Dieter Ziegler in diesem Band. 4 August Henrichsbauer, Der Ruhrbergbau in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Essen 1948, 117 ff. 5 O. V., Hundert Jahre Concordia. Die Geschichte einer Zeche, Oberhausen 1950, 32.

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ofengas entwickelt, 1917 erfolgte die Gründung der Chemischen Werke Rombach GmbH in Oberhausen zur Herstellung von Natriumsulfat und Salzsäure.6 Die Partnerschaft der beiden Unternehmen war allerdings keine auf Augenhöhe. Die Rombacher Hüttenwerke waren rentabler als die Zeche Concordia.7 Die schlechte Ertragslage der Zeche hatte zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses einen Investitionsstau verursacht, der den Preisvorteil der internen Verrechnung gefährdete; ja es war noch nicht einmal sicher, ob die Zeche den Bedarf des Hüttenwerks aktuell überhaupt decken konnte. Außerdem war die Anerkennung der Concordia als Hüttenzeche durch das Ruhrkohlensyndikat anfangs keineswegs garantiert, da die Zeche nach dem Interessensvertrag immer noch rechtlich selbstständig war.8 Deshalb musste der Chefjustiziar der Rombacher Hüttenwerke Gustav Dechamps seinen Aufsichtsratsvorsitzenden Wilhelm von Oswald erst davon überzeugen, dass die Verbindung mit der Zeche Concordia in der von ihm vorgeschlagenen Form die einzig realistische Möglichkeit zur Sicherung der Energiebasis der Hüttenwerke sei. Denn für die Hüttenwerke war der Erwerb der Zeche nicht finanzierbar. Das Errichten einer eigenen Zeche oder der Neubau eines Hüttenwerks an einem anderen Standort wären zwar eher möglich gewesen, hätte aber das Problem der ausreichenden und preisgünstigen Kohlen- und Koksversorgung nur langfristig lösen können. Der Vertrag in der abgeschlossenen Form hatte, so Dechamps, demgegenüber den Vorteil, dass die notwendigen Aufwendungen über einen längeren Zeitraum verteilt werden konnten, der Bezug von Kohle aber kurzfristig und zu festen Konditionen aufgenommen werden konnte. Grundsätzlich sei aber klar, dass die Rombacher Hüttenwerke mit dem Interessensvertrag die Zeche als Hüttenzeche zur Rohstoffsicherung auf längere Sicht nach den Regeln des Ruhrkohlensyndikats übernehmen würden.9 Mit dieser Argumentation setzte sich Dechamps schließlich auch durch.

6 Manfred Rasch, Industrielle thermisch-chemische Kohlenveredelung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und insbesondere im Ruhrgebiet, in: Günter Bayerl (Hg.), Braunkohleveredelung im Niederlausitzer Revier, Münster 2009, 35–72, hier 57. 7 Bericht des Aufsichtsrates und der Direktion der Rombacher Hüttenwerke AG 1914/15, in: Montanhistorisches Dokumentationszentrum beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum/Bergbau-Archiv [künftig Montan.dok/BBA] 8/21. 8 Schreiben von Oswald an Dechamps vom 6.3.1915, in: Montan.dok/BBA 8/26. 9 Schreiben von Dechamps an Oswald vom 8.3.1915, in: Montan.dok/BBA 8/26.

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3 Die Auswirkungen des Versailler Vertrags und der Neuanfang der Rombacher Hüttenwerke nach dem Ersten Weltkrieg Der Ausgang des Ersten Weltkriegs bedeutete für Deutschland u. a. den Verlust Elsass-Lothringens,10 „frei und ledig von allen Schulden“.11 Nach dem Versailler Vertrag war der französische Staat nicht nur berechtigt, Eigentum des Reiches oder der Bundesstaaten zu enteignen, wie beispielweise die Reichseisenbahnen in Elsass-Lothringen, sondern auch „Güter, Rechte und Interessen, die am 11. November 1918 deutsche Reichsangehörige […] besaßen, […] einzubehalten und zu liquidieren“. In diesen Fällen hatte das Deutsche Reich „seine durch diese Liquidationen enteigneten Angehörigen unmittelbar zu entschädigen“.12 Wenn der französische Staat anschließend die Liquidationsmasse oder Teile davon an einen aus seiner Sicht geeigneten Interessenten veräußerte, ging der Erlös an den französischen Staatshaushalt und wurde dem deutschen Reparationskonto gutgeschrieben. Einen Rückerwerb der Anlagen schloss der Versailler Vertrag ausdrücklich aus. Außerdem durften deutsche Staatsangehörige keine Beteiligungen an Gruben und Steinbrüchen aller Art, sowie an Hüttenwerken neu erwerben, auch wenn diese nicht in Verbindung mit einem Bergwerk standen.13 Damit sollte zwar die überaus enge Verbindung von lothringischem Erz und Ruhrkohle nicht aufgelöst werden, denn die lothringischen Hüttenwerke blieben ja weiterhin von der Belieferung mit Kohle und Koks von der Ruhr abhängig; und auch die lothringischen Erzgruben wollten weiterhin Minette an die Hüttenwerke von der Ruhr verkaufen.14 Aber der unternehmensinterne Verbund von Erz, Kohle, Roheisen, Stahl und Stahlverarbeitung in deutscher Hand war gekappt, so dass sich die vertikal integrierten Ruhrkonzerne neu orientieren mussten – manche stärker, manche weniger stark, je nachdem welche Bedeutung ihre Besitzungen in Lothringen für den Gesamtkonzern besessen hatten. Das Werk in Rombach und die dazugehörigen Erzfelder wurden als eines der ersten Objekte in Lothringen nach den Regeln des Versailler Vertrages vom französischen Staat konfisziert und liquidiert. Anschließend wurde der größte Teil der Liquidationsmasse zum 1. Januar 1920 von einem französischen Konsor10 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 16. Juli 1919, Teil 3, Abschnitt 5, Art. 51, RGBl. 1919, 803 ff. 11 Ebd., Art. 55, 807. 12 Ebd., Art. 74, 821 ff. und Teil 10, Abschnitt 4, Art. 297, 1125 ff. 13 Ebd., Teil 3, Abschnitt 5, Art. 70, 819. 14 Stefan Przigoda, Unternehmensverbände im Ruhrbergbau. Zur Geschichte von Bergbau-Verein und Zechenverband 1858–1933, Bochum 2002, 285.

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tium erworben und unter der Firma Société Lorraine des Aciéries de Rombas neu gegründet. Der Kaufpreis lag bei 125 Mio. Franc, die dem deutschen Reparationskonto gutgeschrieben wurden. Dabei blieben noch vorhandene Vorräte und Rohmaterialien im Besitz der Rombacher Hüttenwerke und wurden getrennt abgerechnet.15 Ebenfalls nicht von den neuen Eigentümern übernommen wurden allem Anschein nach die im Reichsgebiet gelegenen Standorte der den Rombacher Hüttenwerken gehörenden Portlandzement Rombach AG. Im Gegensatz zum in Rombach gelegenen Hauptwerk verblieben sie bei den deutschen Eigentümern.16 Die Rombacher Hüttenwerke standen nun ohne industrielle Basis da. Allerdings begründete die Enteignung der lothringischen Anlagen eine Forderung der Rombacher Hüttenwerke gegen das Reich, über deren Höhe jedoch ebenso Unklarheit herrschte, wie über den Zeitpunkt der Auszahlung. Die unsichere finanzielle Situation machte Investitionen schwierig und schränkte die Handlungsoptionen der Rombacher Hüttenwerke zusätzlich ein. Es hätte sich zwar angeboten das bisherige Unternehmensprofil als Hüttenwerk wieder aufzubauen, weil das notwendige Know-how dafür zur Verfügung stand und schnell mobilisierbar war. Aber die notwendigen Investitionsmittel standen dafür nicht zur Verfügung. Außerdem wäre das eine langfristige Option gewesen, die Zeit aber hatten die Rombacher Hüttenwerke nicht. Immerhin war die Reichsregierung wenige Wochen nach der Enteignung der Anlagen in Lothringen bereit, einen „Vorschuss“ auf die zu erwartende Entschädigung zu zahlen, der jedoch nur zum Wiederaufbau der Eisen- und Stahlerzeugung sowie insbesondere zur Erschließung neuer Erzfelder im Inland verwendet werden durfte.17 Die Höhe dieses „Vorschusses“ lässt sich allerdings nicht rekonstruieren. Er war aber offenbar ausreichend, um die nach dem Interessensvertrag von 1914 mögliche Übernahme der Zeche Concordia zu finanzieren. Die Führung der Rombacher Hüttenwerke entschloss sich daher, dem Unternehmen kurzfristig eine industrielle Basis zu sichern und die gesamten Vermögenswerte der Concordia Bergwerks AG zum im Jahr 1914 vereinbarten Preis von 41 Mio. Mark zu erwerben.18 Widerstand seitens der Reichsregierung wegen der im engeren Sinne nicht

15 Bericht des Aufsichtsrates und der Direktion der Rombacher Hüttenwerke AG 1919/20, in: Montan.dok/BBA 8/21. 16 Allgemeine Dokumentation zu den Rombacher Hüttenwerken 1919, in: Westfälisches Wirtschaftsarchiv [künftig WWA] F26/30. 17 Bericht des Aufsichtsrates und der Direktion der Rombacher Hüttenwerke AG 1919/20, in: Montan.dok/BBA 8/21; siehe auch Rainer Haus, Lothringen und Salzgitter in der Eisenerzpolitik der deutschen Schwerindustrie von 1871–1940, Salzgitter 1991, 80. 18 Gebhardt, Ruhrbergbau (wie Anm. 1), 104 f.

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zweckentsprechenden Verwendung der Mittel scheint es nicht gegeben zu haben. Von nun an firmierte die Zeche als Rombacher Hüttenwerke, Abteilung Oberhausen. Die Concordia Bergbau AG trat im Juni 1920 in Liquidation. Für jede Aktie im Nominalwert von 100 Mark wurden 400 Mark gezahlt.19 Die Rombacher Hüttenwerke finanzierten die Übernahme der Zeche Concordia demnach mit Papiermark, was nach der Stabilisierung der Währung 1924 zu einem Konflikt mit Altaktionären der Concordia führen sollte. Einige Aktionäre argumentierten, sie hätten den Aktienkauf getätigt, als die Mark noch eine Goldwährung gewesen war, während sie für ihre Aktien 1920 nur Papiermark bekommen hätten. Unter Zugrundelegung der für 1920 gültigen Umrechnungsfaktoren hätten die Rombacher Hüttenwerke für die Zeche Concordia, so die Argumentation, lediglich 3,4 Mio. Goldmark, statt der im Vertrag festgelegten 41 Mio. (Gold-) Mark, gezahlt.20 Auch wenn die Verärgerung der Altaktionäre durchaus nachvollziehbar war, eine Klage nach der Rechtslage des Jahres 1925 besaß kaum eine Chance. Aber selbst wenn die Concordia-Aktionäre 1920 gewollt hätten, wäre die Übernahme zu den 1914 vereinbarten Bedingungen nicht zu verhindern gewesen. Sie hatten dem Interessensvertrag 1914 zugestimmt, um die Eigenschaft als Hüttenzeche zugesprochen zu bekommen und hatten sich im Gegenzug der Verfügungsrechte über ihre Zeche weitgehend entledigen müssen. Davon abgesehen hatten aber auch Vorstand und Aufsichtsrat der Concordia der Übernahme durch die Rombacher Hüttenwerke positiv gegenübergestanden. Denn sie schätzten die Entwicklungsperspektiven der Zeche ohne Anbindung an ein Hüttenwerk als ungünstig ein. Im Geschäftsbericht für das Jahr 1918, der verfasst worden war, bevor die Siegermächte der deutschen Delegation in Versailles den Entwurf des Friedensvertrages übergeben hatten und demzufolge die Bedingungen noch gar nicht bekannt waren, heißt es, dass die „prekäre wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage“ das Geschäft aktuell erheblich beeinträchtige und die „Zwangswirtschaft“, womit die fortgesetzte Bewirtschaftung der Kriegsjahre gemeint war, eine erhebliche Belastung für die Zukunft darstelle. Letztlich, so der Bericht, drohe der völlige Zusammenbruch des Unternehmens.21 Auch der Bericht für 1919 schätzte die Lage des Unternehmens pessimistisch ein. Im Mittelpunkt standen nun die Arbeitszeitverkürzung und die gesunkene Mann-

19 Geschäftsbericht der Concordia Bergwerks AG 1920, in: Montan.dok/BBA 8/160. 20 Abschrift aus den Vormundschaftsakten des Amtsgerichts Uelzen M VII 125; Vormundschaftssache Armgard Freiin Röder von Diersberg, Uelzen, 20.12.1924, in: Montan.dok/BBA 8/20. 21 Geschäftsbericht der Concordia Bergwerks AG 1918, in: Montan.dok/BBA 8/160.

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Schicht-Leistung, die eine größere Belegschaft erforderte, ohne dass die Förderung entsprechend gesteigert werden konnte. Im Ergebnis reichte der Unternehmensgewinn nicht aus, um aus eigener Kraft die im Interessensvertrag garantierte Dividende auszuzahlen. Das war nur dank der vertraglich zugesicherten Zuweisung der Rombacher Hüttenwerke möglich gewesen.22 Aus der Perspektive des Jahres 1919 war die Zeche aufgrund der geförderten Kohlensorten vor allem im Verbund mit einem Hüttenwerk konkurrenzfähig. Der vor und während des Krieges betriebene Ausbau der Kohlechemie wurde im Zuge der Übernahme und wohl auch vor dem Hintergrund der schwierigen finanziellen Lage der Zeche zunächst weitgehend eingestellt. Die neuen Besitzer hatten an diesem neuen und zu dieser Zeit auch risikobehafteten Geschäftsfeld kein Interesse und konzentrierten sich darauf, den Status quo ante wiederherzustellen. Denn die Übernahme der Concordia allein bot keine ausreichende Perspektive für das Überleben. Kurzfristig war das Ziel die Wiederherstellung des 1914 geschaffenen Verbunds von Kohle und Eisen und auf längere Sicht womöglich darüber hinaus ein neuer vertikal integrierter schwerindustrieller Konzern vom Rohstoff bis zum Endprodukt. Die Möglichkeit zur Bildung eines neuen Kohle-Eisen-Verbunds ergab sich dann auch sehr schnell. Der Mehrheitsaktionär der Rombacher Hüttenwerke Carl Spaeter besaß seit 1917 auch die Mehrheit des Aktienkapitals eines kleineren Hüttenwerks in Bendorf am Rhein, nahe seines Wohnortes und des Firmensitzes der Rombacher Hüttenwerke in Koblenz,23 und er war bereit, dieses Hüttenwerk in einen Verbund mit der Zeche Concordia einzubringen. Offenbar reichte der „Vorschuss“ der Reichsregierung, um auch diese Akquisition zu tätigen und so erwarben die Rombacher Hüttenwerke bereits unmittelbar nach der Übernahme der Zeche Concordia im Juli 1920 die Concordia Hütten AG in Bendorf.24 Mit der Zeche Concordia hatten die Rombacher Hüttenwerke auch deren Beteiligung an der Duisburger Reederei Disch übernommen. Auch diese Tochtergesellschaft war von den Folgen des Versailler Vertrages direkt betroffen. Durch die Internationalisierung der Wasserstraßen25 wurde die Konkurrenz in der Rheinschifffahrt größer und auch das bislang gewinnbringende und vor allem sichere Geschäft der Transporte vom Zechenhafen der Concordia am Rhein-Her22 Geschäftsbericht der Concordia Bergwerks AG 1919, in: Montan.dok/BBA 8/160. 23 Ralf Banken, „Spaeter, Carl“ in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), 608 f. 24 Bericht des Aufsichtsrates und der Direktion der Rombacher Hüttenwerke AG 1920/21, in: Montan.dok/BBA 8/21. Die Namensgleichheit mit der Ruhrgebietszeche war reiner Zufall. Eine Verbindung zwischen Zeche und Hütte hatte es vor 1920 nicht gegeben. 25 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 16. Juli 1919, Teil 12, Abschnitt 1, § 357, RGBl. 1919, 1207.

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ne-Kanal in Richtung Mittel- und Oberrhein war gefährdet.26 Auch wenn die Reparationskohlen auf mittlere Sicht eine zusätzliche Beschäftigung erwarten ließen, stand die Reederei hier unter einem erheblichen Konkurrenzdruck. Zudem sah der Versailler Vertrag vor, dass Deutschland verlorene und zerstörte Schiffskapazitäten zu entschädigen hatte (Art. 357), so dass Schlepper und Kähne aus dem Bestand der westdeutschen Binnenflotte abgegeben werden mussten.27 Da die Einzelheiten im Versailler Vertrag nicht geregelt worden waren, sollte eine Schiedskommission unter dem Vorsitz eines US-amerikanischen Eisenbahnmanagers über die Höhe der Entschädigungen entscheiden. Nach dem Anfang Januar 1921 verkündeten Schiedsspruch hatte Deutschland u. a. Kahnraum in Höhe von 254.150 Tonnen und Schleppkraft in Höhe von 23.761 PS abzuliefern. Das entsprach knapp 12 Prozent des Kahnraums und gut 13 Prozent der Schleppkraft der deutschen Rheinflotte.28 Die Rombacher Hüttenwerke als neuer Eigentümer der Reederei Disch sahen sich bereits durch den Verlust der Werksanlagen in Lothringen „aufs schwerste geschädigt“ und argumentierten, dass es unbillig sei, wenn nun auch noch Disch für die Ersatzleistungen von Transportkapazitäten herangezogen würde. Schließlich gäbe es am Markt durchaus Reedereien, die durch den Kriegsausgang nicht in dem Ausmaß betroffen waren, wie es bei den Rombacher Hüttenwerken der Fall gewesen war. Die Leitung der Firma Disch wurde deshalb angewiesen, diesen Standpunkt bei den anstehenden Verhandlungen mit der Reichsregierung deutlich zu vertreten.29 Es nützte aber nichts. Der für die Auswahl der abzugebenden Fahrzeuge zuständige Reichsausschuss für den Wiederaufbau der Handelsflotte verschonte lediglich die Partikulierschiffer, deren wirtschaftliche Existenz mit der Abgabe ihres einzigen Schiffes sofort vernichtet worden wäre, so dass die Reedereien den gesamten Verlust tragen mussten, der nach einer zeitgenössischen Berech26 Zur Organisation des Absatzes der Ruhrkohle über den Rhein vor dem Krieg vgl. Christian Böse, Kartellpolitik im Kaiserreich. Das Kohlensyndikat und die Absatzorganisation im Ruhrbergbau 1893–1919, Berlin 2018, 128 ff.; Dieter Ziegler, Kohlenschifffahrt, Reederzechen und die Gründung der Rheinischen Kohlenhandel- und Rhederei GmbH Mülheim 1903, in: Der Anschnitt 1–2 (2018), 21–35, hier 21 ff. 27 Schiedsspruch vom 8.2.1921 gem. § 357 des Gesetzes über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 16. Juli 1919, Teil 12, Abschnitt 2, § 357, RGBl. 1919, 1239–1241. 28 Schiedsspruch vom 8.1.1921 nach § 357 des Gesetzes über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 16. Juli 1919, Teil 12, Abschnitt 2, § 357, RGBl. 1919, 1239–1241, in: WWA F26/648; vgl. zu den deutschen und französischen Berechnungen und den Entscheidungsgründen Anton Napp-Zinn, Rheinschiffahrt 1913–1925, Berlin 1925, 112 ff. 29 Paul Disch, Reederei und Handelsgesellschaft mbH, Schreiben der Geschäftsführung der Rombacher Hüttenwerke an die Firma H. Paul Disch vom 30.12.1920, in: WWA F 26/648.

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nung im Durchschnitt etwa 20 Prozent ihres Gesamtbesitzes entsprach.30 Die Reederei Disch musste von den insgesamt nach Art. 357 des Versailler Vertrages abgelieferten Lastkähnen drei mit einer Kapazität von jeweils zwischen 860 Tonnen und 1.203 Tonnen abtreten und von den 32 Schleppern einen.31 Über die Höhe der vom Reich gezahlten Entschädigung ist nichts bekannt. Da die Abgaben aber zwischen Mai 1921 und Oktober 1922 erfolgten, waren die Reedereien gezwungen, die Entschädigung sofort wieder in Sachwerten, in der Regel Ersatzbeschaffungen, anzulegen. So verfuhr auch die Reederei Disch, wobei nicht bekannt ist, ob die Entschädigungssumme ausreichend war, um den gesamten Verlust zu kompensieren.32 Trotzdem sah das Konsolidierungskonzept der Rombacher Hüttenwerke in Handel und Transport ein drittes Standbein neben dem Steinkohlenbergbau und der Roheisenerzeugung vor. Deshalb wurde nicht nur der Kahnraum der Reederei Disch wieder ergänzt, sondern es wurde 1921 eine eigene Handelsgesellschaft gegründet, aber nicht in Deutschland, sondern in den Niederlanden, die von den Bestimmungen des Versailler Vertrages höchstens mittelbar betroffen waren. Die NV Industrie en Handel Maatschappij Concordia, kurz: NV Concordia mit Sitz in Rotterdam, sollte insbesondere den Erzbezug für die Hütten des Konzerns organisieren. Denn lothringische Minette spielten für die Ruhrindustrie nach dem Krieg nur noch eine untergeordnete Rolle, selbst bei Rombach. Vielmehr verarbeiteten sie stattdessen die wertvolleren schwedischen und andere Importerze, die sie über Rotterdam bezogen. Eine niederländische Handelsgesellschaft hatte deswegen den Vorteil, einerseits möglichen weiteren Restriktionen der Entente zu entgehen und andererseits die Gewinne aus dem Handel mit Eisenerz und (in der Gegenfracht) Eisen- und Eisenerzeugnissen für den Konzern zu sichern. Der Handel mit Steinkohle war zunächst nicht möglich, da die Statuten des Ruhrkohlensyndikats den Zechenhandel ausdrücklich untersagten und den Kohlenabsatz der Syndikatsmitglieder exklusiv den Syndikatshandelsgesellschaften als Monopolgesellschaften für ein bestimmtes Absatzgebiet zuwiesen. Aber ohne den Kohlenhandel war die NV Concordia nicht rentabel zu führen. Bereits ein Jahr nach ihrer Gründung musste Dechamps des30 Napp-Zinn, Rheinschiffahrt (wie Anm. 28), 132. 31 Paul Disch, Reederei und Handelsgesellschaft mbH, Schreiben der Geschäftsleitung der Reederei H. Paul Disch an Wilhelm von Oswald vom 8.2.1921, in: WWA F 26/648. 32 Bekannt ist lediglich, dass der heute dem Binnenschifffahrtsmuseum in Duisburg als Museumsschiff dienende Schleppdampfer „Oscar Huber“ 1922 als „Wilhelm von Oswald“ von der Reederei H. Paul Disch in Dienst gestellt worden war (Gert Schuth, Schleppdampfer auf dem Mittelrhein, Erfurt 2014, 119) und vermutlich den später unter dem Namen „Nancy“ fahrenden Schleppdampfer ersetzte, der 1921 an das Office National de Navigation hatte abgegeben werden müssen.

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halb erkennen, dass es sich bei der NV Concordia unter den gegenwärtigen Bedingungen um eine Fehlinvestition handelte.33 Neben der Übernahme der Zeche Concordia hätten die Rombacher Hüttenwerke grundsätzlich auch andere Möglichkeiten gehabt, die eigene industrielle Basis zu sichern. Trotz der für sie günstigen Vertragsbedingungen schätzten die Rombacher Hüttenwerke die Übernahme der Zeche Concordia neben der allgemein unsicheren Wirtschaftslage vor allem wegen der schwebenden Entschädigungsfrage als ein Risiko ein.34 Dieses war allerdings, im Gegensatz zum Erwerb eines mit den Anlagen in Rombach vergleichbaren Hüttenwerks oder einer anderen Grube, zumindest insofern kalkulierbar, als man mit der Concordia einen Betrieb übernahm, mit dem man bereits über fünf Jahre eng zusammengearbeitet hatte und über dessen Zustand man vergleichsweise gut informiert war. Außerdem bot das im Frühjahr 1919 verabschiedete Kohlenwirtschaftsgesetz, propagandistisch als „Zwangswirtschaft“ verunglimpft, einer „reinen Zeche“ wie der Concordia nach dem Verlust des lothringischen Hüttenwerks kurzfristig einen gewissen Schutz vor einem Preiskrieg. Stärkere Syndikatsmitglieder waren durch das Gesetz daran gehindert, aus dem Syndikat auszutreten und mussten sich demzufolge weiterhin der Syndikatsdisziplin unterwerfen.35 Schließlich war die Übernahme der Zeche zumindest als langfristige Perspektive seit 1914 Teil der Unternehmensstrategie. Der Kriegsausgang und die Suche nach einem Ersatz für die in Rombach verlorenen Werksanlagen beschleunigten daher eher eine Entwicklung, die ihre Ursprünge bereits vor dem Krieg hatte. Inwieweit die Entwertung der Mark durch die an Fahrt aufnehmende Inflation, wodurch sich der reale Kaufpreis gegenüber dem 1914 vertraglich fixierten Preis zwischenzeitlich deutlich verringert hatte, Einfluss auf die Übernahmeentscheidung besaß, lassen die Quellen offen. Wahrscheinlich ist das eher eine Ex-Post-Erkenntnis gewesen, denn Mitte 1920 herrschte auch in weiten Teilen der Wirtschaft noch die Überzeugung vor, dass Mark gleich Mark sei.36 Im Jahr 1921 trafen die durch den Verlust ihrer Anlagen in Lothringen betroffenen Unternehmen mit der Reichsregierung eine Vereinbarung über die Ge33 Eva-Maria Roelevink, Organisierte Intransparenz. Das Kohlensyndikat und der Niederländische Markt 1915–1932, München 2015, 262 f. 34 Interner Vermerk vom 10. September 1920, in: WWA F26/569. 35 Eva-Maria Roelevink/Dieter Ziegler, The Syndicate in a Web of Intervention: The RhenishWestfalian Coal Syndicate and the State, 1893–1945, in: Ralf Banken/Ben Wubs (Hrsg.), The Rhine: A Transnational Economic History, Baden Baden 2017, 115–144, hier 126 f. 36 Wixforth datiert die Erkenntnis in der deutschen Wirtschaft, dass Mark nicht gleich Mark sei, auf das Jahr 1921, da erst in diesem Jahr auf breiter Front die „Flucht in die Sachwerte“ einsetzte. Harald Wixforth, Die Banken und der Kollaps der Mark, in: Manfred Köhler/Keith Ulrich (Hrsg.), Banken, Konjunktur und Politik, Essen 1995, 55–72, hier 61.

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samthöhe der Entschädigungen, so dass weitere Zahlungen über den bereits erwähnten, 1920 gewährten „Vorschuss“ hinaus erfolgten. Nach dieser Vereinbarung sollte die Höhe der Entschädigung rechnerisch etwa 150 Prozent der nachgewiesenen Friedenswerte der Schäden betragen. Tatsächlich wurden in den nächsten beiden Jahren weitere Zahlungen geleistet. Das Problem war dabei nur, dass 1921, erst recht aber 1922 die Entwertung der (Papier-)Mark gegenüber der (Gold-)Mark, nach der der „Friedenwert“ ermittelt worden war, unübersehbar geworden war. In einer Aufstellung des Jahres 1930 war der den Rombacher Hüttenwerken zustehende Entschädigungsbetrag mit gut 150 Mio. Mark angegeben worden. Das war der zweithöchste Entschädigungsbetrag, den ein deutsches Unternehmen für die „Schäden“ erhalten sollte, die durch die Regelungen des Versailler Vertrages für Lothringen entstanden waren. Nur der August Thyssen Hütte stand mit gut 330 Mio. Mark ein höherer Entschädigungsbetrag zu. Alle Entschädigungszahlungen des Reiches, die im Laufe der 20er Jahre an die Rombacher Hüttenwerke geleistet worden waren, betrugen dagegen, in Goldmark umgerechnet, knapp 12 Mio. Mark.37 Das war aber solange kein allzu großes Problem, als es gelang, die zufließenden Entschädigungen zügig in Sachwerte zu investieren. Diese Gelegenheiten wurden gesucht und gefunden. Da die Concordia Hütte für die Sicherung der alten Höhe an Verbrauchsbeteiligung der Zeche Concordia im Ruhrkohlensyndikat zu klein war, wurden gut ein Jahr nach dem Erwerb der Zeche Concordia und der Concordia Hütte, im August 1921, vermutlich nachdem eine weitere Rate der Entschädigungszahlung des Reiches eingegangen war, Teile der Westfälischen Stahlwerke in Bochum übernommen. Außerdem schlossen die Rombacher Hüttenwerke, ebenfalls noch im gleichen Jahr, einen Interessensgemeinschaftsvertrag mit der im Jahr 1900 am Nord-Ostsee-Kanal errichteten Eisenhütte Holstein AG ab.38 Diese Erwerbungen könnte man als den zielgerichteten Aufbau eines schwerindustriellen Konzerns interpretieren. Denn die Kapazität des mit einer mittelgroßen Ruhrzeche verbundenen kleinen Hüttenwerks in Bendorf wurde durch die Angliederung eines zweiten kleinen Hüttenwerks erweitert und um ein mittelgroßes Stahlwerk mit mehreren Siemens-Martin-Öfen ergänzt. Damit war der Kern für einen neuen vertikal integrierten schwerindustriellen Konzern geschaffen, den man aus der Sicht des Jahres 1921 für zukunftsfähig halten konnte. Der einsetzende Bauboom der Nachkriegszeit, durch die Inflation er37 Schadensaufstellung vom 9.10.1930, in: TKA, VSt 4083. Wir danken Eva-Maria Roelevink für den Hinweis auf diese Quelle. 38 Bericht des Aufsichtsrates und der Direktion der Rombacher Hüttenwerke AG 1920/21, in: Montan.dok/BBA 8/21.

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leichterte Investitionen und durch Währungsdumping unschädlich gemachte ausländische Schutzzölle verhießen auf mittlere Sicht deutlich verbesserte Perspektiven für die Eisenerzeugung und Eisen- bzw. Stahlverarbeitung als in den ersten Nachkriegsjahren. Zu dieser Interpretation passt auch der Versuch der Rombacher Hüttenwerke, sich eine eigene Eisenerzbasis zu erschließen. Mehrere Unternehmen der rheinisch-westfälischen Stahlindustrie suchten ab 1919/20 im Raum Salzgitter Ersatz für ihre verlorenen Erzgruben in Lothringen, nicht zuletzt weil das Reich, wie erwähnt, erwartete, dass ein Teil der Entschädigungszahlungen für die enteigneten Gruben in Lothringen in die Erschließung inländischer Erzfelder investiert werden würden. Auch die Rombacher Hüttenwerke begannen 1919 mit Bohrungen in diesem Gebiet.39 Die ersten Ergebnisse erwiesen sich auch als erfolgversprechend. Aber der Prospektor und Vertreter der Rombacher Hüttenwerke vor Ort in Salzgitter verfolgte nach Ansicht des Vorstands auch Eigeninteressen, was letztlich zum Bruch zwischen den beiden Parteien und zum einstweiligen Stillstand der Arbeiten führte.40 Ähnlich enttäuschend entwickelten sich auch die Portlandzementwerke Rombach AG in Hadamar und die Cement- und Kalkwerke Rombach AG in Haiger, die die Rombacher Hüttenwerke zur Verwertung der Hochofenschlacke bzw. zur Lieferung von Kalk als Zuschlagsstoff für die Hochöfen erworben hatten41 und die zwischenzeitlich komplett stillgelegt werden mussten.42 Es soll an dieser Stelle nicht bestritten werden, dass die Vision eines Konzerns vom Erz- und Steinkohlenbergbau über die Erzverhüttung und die Stahlherstellung bis zu verschiedenen Stahl verarbeitenden Betrieben handlungsleitend gewesen ist. Aber mindestens ebenso wichtig war es für die Rombacher Hüttenwerke, die ihnen zufließenden liquiden Mittel so schnell wie möglich in Sachwerte zu investieren, damit sich die Entschädigungszahlungen durch die galoppierende Inflation nicht in Luft auflösten. Der Konzernaufbau verband insofern das Notwendige, also die „Flucht in die Sachwerte“, mit dem Nützlichen, also dem Erwerb von Komponenten für einen vertikal integrierten schwerindustriellen Konzern. Der Einstieg in ein komplett neues und damit unbekanntes Geschäftsfeld wäre ebenso wenig eine Alternative zu dieser Strategie gewesen wie eine stärkere Konzentration auf den Steinkohlenbergbau. Denn 1920 war die Frage der Sozialisierung des Bergbaus noch nicht völlig ad acta gelegt und we39 Haus, Lothringen und Salzgitter (wie Anm. 17), 90. 40 Protokoll zu Verhandlungen vom 11. April 1923 in Hannover, in: Montan.dok/BBA 8/39. 41 Zum technischen Zusammenhang von Hütten-, Zement- und Kalkwerken vgl. Hermann Passow, Die Hochofenschlacke in der Zementindustrie, Würzburg 1908, 53 ff.; Otto Lueger, Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 9, Stuttgart 1914, 230 f. 42 Geschäftsbericht der Cement- und Kalkwerke Rombach AG 1926, in: WWA F26/730, 54–57.

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gen der nach dem Ende der Reparationskohlenlieferungen zu erwartenden schwierigen Marktlage hätte die Rückkehr in die Vergangenheit der Concordia als „reiner Zeche“ ein unwägbares Risiko bedeutet. Natürlich erfolgte dieser Aufbau nicht so planvoll wie es vor dem Ersten Weltkrieg möglich gewesen wäre, sondern Schnelligkeit musste vor Gründlichkeit bei der Auswahl der Übernahmeobjekte gehen. Allein so erklärt sich ein Konzern mit einer Steinkohlenzeche in Oberhausen, Erzfeldern in Salzgitter, Zement- und Kalkwerken im Kreis Limburg, Hüttenwerken in Schleswig-Holstein und am Mittelrhein und einem Stahlwerk in Bochum. Die Folgen dieses rasanten Wachstums zeigten sich sofort. So wurde die Verwaltung des Gesamtunternehmens, das seinen Sitz in Koblenz hatte, immer aufwändiger und es entstanden zahlreiche ineffiziente Doppelstrukturen. Mangels eigener Fachleute überließ die Konzernführung die Leitung der einzelnen neu akquirierten Betriebe weitgehend den ursprünglichen Leitern. Diese nutzten ihre Befugnisse und damit ihren Spielraum auch weiterhin voll aus, was Vorstand und Aufsichtsrat in Koblenz durchaus bewusst war und dies auch kritisch betrachteten.43 Aber Abhilfe konnte zunächst nicht geschaffen werden. Natürlich musste sich die zersplitterte Konzernstruktur als ein Konkurrenznachteil gegenüber den über Jahrzehnte gewachsenen Konkurrenten wie der Gutehoffnungshütte, Thyssen oder dem Phoenix erweisen, sobald sich die Marktlage verschlechterte. Aber eine erfolgversprechende Alternative ist auch in der Ex Post-Betrachtung nur schwer vorstellbar. Die treibende Kraft bei Umbau und Neuausrichtung der Rombacher Hüttenwerke war Gustav Dechamps. Er war kein Hütteningenieur oder Bergassessor und auch kein Kaufmann wie die meisten Führungsfiguren in der rheinischwestfälischen Schwerindustrie, sondern als Jurist auf Syndikats- und Handelsrecht spezialisiert. Diese Expertise sowie sein Verhandlungsgeschick und sein Durchsetzungsvermögen waren ein wesentlicher Faktor für die dynamische Entwicklung, die die Rombacher Hüttenwerke AG nach dem Krieg nehmen sollte. Sein ungewöhnlicher Karrierehintergrund erlaubte es ihm, außerhalb der festgefahrenen Strukturen der Montanindustrie zu planen und zu agieren, was sich insbesondere in der unübersichtlichen Nachkriegssituation als ein Vorteil herausstellte.

43 Besprechung zwischen Gustav Dechamps und Wilhelm von Oswald am 2.2.1923, in: Montan.dok/BBA 8/183.

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4 1923 – Ruhrkrise und Kurswende Bereits 1921 waren französische Truppen ins westliche Ruhrgebiet einmarschiert, um die Reichsregierung in der Reparationsfrage unter Druck zu setzen. Das Ziel war zwar in erster Linie der Ruhrorter Hafen, von dem aus etwa ein Drittel der Ruhrkohlenproduktion verschifft wurde. Aber auch in Teile von Oberhausen rückten die Truppen vor, um sich im Konfliktfall wertvolle „Pfände“ sichern zu können.44 Neben der Gutehoffnungshütte und ihren Oberhausener Konzernteilen war damit vor allem die Zeche Concordia von einer Besetzung im Falle einer erneuten Eskalation des Konfliktes bedroht. Diese weitere Eskalation trat dann im Januar 1923 ein, als französische und belgische Truppen das gesamte Ruhrgebiet besetzten und die Reichsregierung als Reaktion den passiven Widerstand ausrief.45 Das Ruhrgebiet wurde daraufhin vom restlichen Reichsgebiet abgeschnitten und die bereits galoppierende Inflation beschleunigte sich immer weiter, so dass eine betriebswirtschaftliche Kalkulation in deutscher Währung praktisch unmöglich wurde. Für die Rombacher Hüttenwerke bedeutete die Besetzung des Ruhrgebiets, dass neben der Zeche Concordia auch die Westfälischen Stahlwerke in Bochum nun im französisch kontrollierten Gebiet lagen. Die Zeche Concordia war sogar eine der ersten, die in Folge der Ruhrbesetzung stillgelegt werden mussten. Bald darauf wurde auch der Betrieb auf den Anlagen der Westfälischen Stahlwerke in Bochum und zuletzt auch auf der Concordiahütte in Bendorf eingestellt.46 Während der Ruhrkrise wurde die Zeche an insgesamt 67 Tagen von französischen Truppen besetzt, die außerdem noch Kohlen und Koks für die ausgefallenen Reparationslieferungen requirierten.47 Das Ende März 1923 verhängte Verbot, die Reichsbahn zum Transport von Rohstoffen zu nutzen,48 bedeutete für die dezentral organisierten Rombacher Hüttenwerke zusätzliche Schwierigkeiten, in den verschiedenen Betriebsteilen, die noch in Produktion standen, den Nachschub an Kohle, Koks und Erz zu sichern. Da Concordia innerhalb des Unternehmens die einzige Möglichkeit darstellte, betriebsintern den Bedarf an Kohle und Koks zu decken, wirkte sich die Lage an der Ruhr unmittelbar auf das Gesamtunternehmen aus. Lediglich die am Nord-Ostsee-Kanal 44 Christoph Steegmanns, Die finanziellen Folgen der Rheinland- und Ruhrbesetzung 1918– 1930, Stuttgart 1999, 27. 45 Klaus Schwabe, Einführung, in: ders., Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkte der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 1985, 1–10, hier 1 ff. 46 Bericht des Aufsichtsrates und der Direktion der Rombacher Hüttenwerke AG 1922/23, in: Montan.dok/BBA 8/21. 47 Steegmanns, Folgen (wie Anm. 44), 277. 48 Ebd., 272.

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gelegene Eisenhütte Holstein konnte 1923 mit (vermutlich britischer) Importkohle versorgt werden, deren Bezug von der Reichsregierung subventioniert wurde.49 Zusätzlich kamen Probleme in der betriebsinternen Kommunikation auf, die in den zum Teil chaotischen Umständen der Ruhrbesetzung und der Situation am Rhein immer wieder unterbrochen und gestört wurde. Die Verlegung des Unternehmenssitzes nach Hannover50 in das unbesetzte Reichsgebiet dürfte die Situation kaum verbessert, sondern eher noch verschlimmert haben. Unter diesen Umständen konnte sich die Unternehmensführung weder auf ihr Rechnungswesen (wegen der Hyperinflation) noch auf Berichte der einzelnen Betriebsteile (wegen der unterbrochenen Kommunikation) stützen, was die Steuerung des Gesamtunternehmens, aber auch in den einzelnen Standorten erschwerte. Insofern war es den Rombacher Hüttenwerken auch unmöglich, die Konsolidierung des Unternehmens in einigermaßen berechenbarem Rahmen voranzutreiben, geschweige denn eine langfristige Strategie zu entwickeln. Es galt vielmehr, sehr kurzfristig auf immer neue Probleme zu reagieren und dabei zu versuchen, das reine Fortbestehen zu sichern. Notizen interner Besprechungen zeigen, dass die Unternehmensführung der Rombacher Hüttenwerke und insbesondere Gustav Dechamps dabei nur wenig auf staatliche Hilfe oder gar auf Entschädigungszahlungen für die Folgen des passiven Widerstandes gaben.51 Die Rombacher Hüttenwerke waren in gewisser Weise wieder an dem Punkt angekommen, von dem aus sie 1919 neu gestartet waren. Die industrielle Basis des Unternehmens war zwar nicht verloren, aber das Band, das die verschiedenen Unternehmensteile zusammenhalten sollte, war aktuell zerrissen und es war völlig unklar, ob und wann es wieder neu geknüpft werden konnte. Auf lange Sicht zeichnete sich ein Rückgang von Investitionen und Bauvorhaben und damit ein Nachfrage- und Preisrückgang bei Eisen- und Stahlprodukten ab.52 Auch die Zukunft des Ruhrkohlensyndikats, dessen Sitz von Essen nach Hamburg verlegt worden war, war völlig offen und damit die Wettbewerbsbedingungen, unter denen die Zeche Concordia nach der Beendigung des Konfliktes ihren Betrieb fortführen konnte.

49 Bericht des Aufsichtsrates und der Direktion der Rombacher Hüttenwerke AG 1922/23, in: Montan.dok/BBA 8/21. 50 Bericht des Aufsichtsrates und der Direktion der Rombacher Hüttenwerke AG 1923/24, in: Montan.dok/BBA 8/21. 51 Besprechung am 2.2.1923 in Koblenz, in: Montan.dok/BBA 8/183. 52 Przigoda, Unternehmensverbände im Ruhrgebiet (wie Anm. 14), 287.

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Im September 1923 beendete die Reichsregierung den passiven Widerstand und die Ruhrindustrie einigte sich im sog. Micum-Abkommen53 mit den Reparationsgläubigern auf eine Wiederaufnahme der Kohlelieferungen. Für die Zeche Concordia ergaben sich daraus nicht nur kurzfristig, sondern auch auf mittlere Sicht neue Perspektiven, nachdem sich die Reichsregierung verpflichtet hatte, die nach dem Micum-Abkommen gelieferten Kohlen zu einem späteren Zeitpunkt zu vergüten. Da das Abkommen zunächst bis April 1924 befristet war, war der Absatz im Rahmen fester Verträge für ein knappes halbes Jahr gesichert.54 Die Bestimmungen sahen vor, dass der Versand der Reparationskohle zwar grundsätzlich nach den Vorgaben der Reparationskommission zu regeln war, behielt sich aber kurzfristige Änderungen der Regelungen vor, um die Lieferungen sicherzustellen.55 Schwierigkeiten scheint es dabei nicht gegeben zu haben. Auch für das Standbein Handel und Transport ergaben sich mit dem Micum-Abkommen neue Perspektiven. Das Ruhrkohlensyndikat hatte sich aufgrund sehr unterschiedlicher Interessen seiner Mitglieder schon vor dem Krieg in einer schweren Krise befunden und war nur mit der Drohung einer Zwangssyndizierung zusammengehalten worden. Nach dem Ende des passiven Widerstands brachen die Konflikte wieder offen aus. Denn während Ruhrbesetzung und passivem Widerstand hatte jeder Absatzkanal genutzt werden müssen, um die inländische Kohlenversorgung sicherzustellen. Die Absatzorganisation des Ruhrkohlensyndikats war mit seinen Syndikatshandelsgesellschaften dazu allein aber nicht in der Lage, so dass das Syndikat die Ausschließlichkeitsklausel aussetzen musste, mit der die Gebietsmonopole der Syndikatshandelsgesellschaften vertraglich gegenüber konkurrierenden Kohlenhandelsorganisationen abgesichert worden waren. Damit brach die Stunde derjenigen Zechen an, die über eine eigene Handelsgesellschaft verfügten. Sie organisierten beispielsweise auch den Import englischer Kohle über Rotterdam und Hamburg, was unter normalen Umständen ganz und gar nicht im Syndikatsinteresse lag. Nach dem Ende des passiven Widerstands waren diese Zechen unter der Führung von Fritz Thyssen nicht mehr bereit, auf das lukrative Geschäft zu verzichten. Der Konflikt über diese Frage währte gut ein Jahr, in der das weitgehend ungeregelte Nebeneinander der Absatzwege weiterhin existierte. Das Jahr 1924 wurde deswegen aus der Rückschau als ein zwar nicht de jure, aber als ein de facto „syn53 Näheres zum Micum-Abkommen im Artikel von Dieter Ziegler in diesem Band. 54 Besprechung am 15.10.1923 in Berlin, in: Montan.dok/BBA 8/184. 55 Das Micum-Abkommen des Ruhrbergbaues vom 23.11.1923, als Volltext verfügbar unter: https://sammlungen.ulb.uni-muenster.de/hd/content/pageview/3158235 [letzter Zugriff 29.1.2021]

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dikatsfreies Jahr“ bezeichnet. Der Syndikatsvorstand Albert Janus charakterisierte den Zustand des Kohlenmarktes in dieser Zeit sogar als „anarchisch“.56 Ganz offensichtlich konnte die Zeche Concordia von dieser offenen Situation profitieren. Denn ihre verkehrsgünstige Lage direkt am Rhein-Herne-Kanal und damit ihre direkte Anbindung an den Rhein sowie die vorhandenen Transportkapazitäten scheinen ein wichtiger Faktor gewesen zu sein, sie nach dem Micum-Abkommen bei der Lieferung von Reparationskohlen stärker einzubeziehen als andere Ruhrzechen, die über diese Vorteile nicht verfügten.

5 Das Ende der Rombacher Hüttenwerke und die Wiedergeburt der Concordia Mit der Stabilisierung der Mark und der Einführung der goldbasierten Reichsmark 1924 war die Zeit des Währungsdumpings vorbei. In vielen Bereichen zeigte sich nun, dass die deutsche Wirtschaft während der Kriegs- und Nachkriegsjahre ihre internationale Konkurrenzfähigkeit eingebüßt hatte. Das galt auch für den deutschen Steinkohlenbergbau, der nach der Überwindung der „Kohlennot“ eigentlich seine Exportaktivitäten wieder hätte aufnehmen können. Aber durch den Krieg und den folgenden Einbruch der Kohleförderung durch Gebietsverluste und Arbeitszeitverkürzung waren viele Auslandsmärkte für die deutsche Steinkohle verloren gegangen. Hinzu kam, dass die Stabilisierungskrise im Inland 1924/25 nicht ohne Rückwirkungen auf die Energienachfrage der deutschen Wirtschaft blieb. Aus der „Kohlennot“ war innerhalb weniger Monate ein Kohlenüberfluss geworden, mit entsprechenden Rückwirkungen auf die Kohlenpreise.57 Diese Situation löste bei vielen widerspenstigen Syndikatsmitgliedern eine Rückbesinnung auf die Vorteile einer Kartellorganisation aus und so gelang es auch dem Ruhrkohlensyndikat sich nach den chaotischen Jahren 1923 und 1924 wieder zu stabilisieren. Auch die Rombacher Hüttenwerke dürften kein Interesse an einer Auflösung des Ruhrkohlensyndikats gehabt haben, aber Dechamps versuchte dennoch die Verhandlungen über einen neuen Syndikatsvertrag im Jahr 1924 zu nutzen, um für die Zeche Concordia mit ihrer eigenen Absatzorganisation, d. h.

56 Ernst Ledermann, Die Organisation des Ruhrbergbaues unter Berücksichtigung der Beziehungen zur Eisenindustrie, Berlin 1927; Roelevink, Organisierte Intransparenz (wie Anm. 33), 150. 57 Dieter Ziegler, Kriegswirtschaft, Kriegsfolgenbewältigung, Kriegsvorbereitung. Der deutsche Bergbau im dauernden Ausnahmezustand (1914–1945), in: ders. (Hg.), Rohstoffgewinnung im Strukturwandel, Bd. 4: Geschichte des deutschen Bergbaus, Münster 2013, 15–182, hier 63 ff.

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für die NV Concordia und die Reederei H. Paul Disch, bessere Konditionen als vor der Ruhrbesetzung durchzusetzen. Denn zwischenzeitlich hatte die Zeche Concordia auch zu den Zechengesellschaften gehört, die den Absatz selbständig organisierten. Ausgangspunkt waren wahrscheinlich die Kohlen- und Kokslieferungen nach Lothringen: Denn in die seit 1914 geschlossenen Liefervereinbarungen zwischen der Zeche Concordia und den alten Rombacher Hüttenwerken war nach der Enteignung die französische Nachfolgerin Société Lorraine des Aciéries de Rombas eingetreten. Die Abwicklung der Lieferungen übernahmen nun offenbar die NV Concordia und H. Paul Disch. Hinzu kamen 1924 auch noch die Exporte von Concordia-Kohlen in die Niederlande, wodurch die NV Concordia zu einer Zechenhandelsgesellschaft zunächst für die Niederlande und dann auch für Abnehmer im Inland ausgebaut wurde.58 So war es der Zeche Concordia in den rund 14 „syndikatsfreien“ Monaten gelungen, gut 370.000 Tonnen Kohle und knapp 125.000 Tonnen Koks „unmittelbar“, d. h. ohne Vermittlung durch das Syndikat abzusetzen.59 Der Geschäftsbericht bewertete die Bedeutung von NV Concordia und H. Paul Disch 1925 entsprechend positiv: „Im Absatze unserer Kohlen waren wir durch die rege Tätigkeit unserer eigenen Handelsorganisation zunächst in besserer Lage als die Mehrzahl der sonstigen Zechen“.60 Im Interesse dieses attraktiven Nebengeschäfts weigerte sich Dechamps im Oktober 1924 den Absatz der Concordia-Kohlen in die Niederlande erneut einer Syndikatshandelsgesellschaft zu übertragen. Dechamps pokerte hoch und setzte sich durch. Gegen den energischen Widerstand des Syndikatsvorstands gelang es ihm, den zweiten Vertriebsweg neben den Syndikatshandelsgesellschaften durch den Zechenhandel in dem neuen, 1925 geschlossenen Vertrag syndikatsrechtlich zu verankern und damit die Stellung der Syndikatshandelsgesellschaften als Gebietsmonopole für den Absatz der Ruhrkohle auszuhöhlen. Bei seinem Widerstand war er von anderen Syndikatsmitgliedern mit einer eigenen Zechenhandelsgesellschaft unterstützt worden. Während Fritz Thyssen vor allem die Bedeutung seiner Zechen für das Syndikat in die Waagschale werfen konnte, war Dechamps in der Lage, dem Syndikatsvorstand vor allem als im Syndikatsrecht versierter Jurist Paroli zu bieten. In der Folge stieg er sogar zu einer einflussreichen Persönlichkeit innerhalb des Ruhrkohlensyndikats auf, was für den Vertreter einer im Vergleich zu den großen, wie der Gelsenkirchener Bergwerks AG, der Harpener Bergbau AG oder der Gewerkschaft Friedrich 58 Vgl. Roelevink, Organisierte Intransparenz (wie Anm. 33), 154 ff. 59 Aufstellung für den RWKS-Vorstand vom 17.8.1925, in: Montan.dok/BBA 33/1284. 60 Bericht des Aufsichtsrates und der Direktion der Rombacher Hüttenwerke 1925/26, in: Montan.dok/BBA 8/21.

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Thyssen mit jeweils zahlreichen Grubenbetrieben und hohen Kartellquoten, eher kleinen Zechengesellschaft sehr ungewöhnlich war. Insbesondere in den wichtigen Handelsausschüssen des Ruhrkohlensyndikats kam ihm als Vertreter der Ruhrkohlen-Zechenhandels-Firmen in der zweiten Hälfte der 20er Jahre eine Art Oppositionsführerfunktion der mittelgroßen Syndikatsmitglieder gegenüber dem Syndikatsvorstand zu.61 Diese positive Entwicklung der Kohlen- und Handelssparte bestärkte die Rombacher Hüttenwerke darin, ihre ursprüngliche Strategie des Aufbaus eines vertikal integrierten Eisen- und Stahl-Konzerns fortzuführen, obwohl die Aussichten für die Eisen- und Stahlsparte weiterhin nicht günstig waren. Während des Krieges waren die Kapazitäten deutlich ausgebaut worden und die Umstellung von der Kriegs- auf die Friedensproduktion war oftmals nur mäßig erfolgreich.62 Überkapazitäten, eine geringe Binnennachfrage, der weitgehende Verlust der internationalen Konkurrenzfähigkeit und der dadurch ausgelöste Preisverfall setzten der Eisen- und Stahlindustrie noch stärker zu als dem Steinkohlenbergbau. Zunächst hoffte man im Konzern aber noch, dass es zeitnah zu einer Vereinigung der Eisenverbände ähnlich dem Ruhrkohlensyndikat kommen würde, um auch das Stahlgeschäft in stabileren Verhältnissen und zu „auskömmlichen Preisen“ weiter betreiben zu können.63 Außerdem erwarben die Rombacher Hüttenwerke mit den Howaldtswerken in Kiel einen ehemaligen Großverbraucher von Stahl. Die Howaldtswerke waren 1910 von Walter Boveri erworben worden und gehörten während des Krieges und in der Nachkriegszeit zum Mannheimer Konzern Brown, Boveri & Cie. Zum Zeitpunkt des Erwerbs war das Unternehmen eine der größten Werften des Reiches und auf den Bau von Kriegsschiffen spezialisiert. Der wichtigste Kunde war demzufolge die Kaiserliche Marine. Mit der durch den Versailler Vertrag verfügten Entwaffnung und der Begrenzung der Marinerüstung, insbesondere dem Verbot des Neubaus von Schlachtschiffen und U-Booten64 geriet das Unternehmen in eine schwere Krise. In der Nachkriegszeit musste sich die Werft vor allem mit Schiffsreparaturen mehr schlecht als recht über Wasser halten. Mit der Entwicklung eines neuen und nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages zukunftsfähigen Geschäftsmodells tat sie sich schwer. Deshalb wollten

61 Protokolle verschiedener Sitzungen des Handelsausschusses im Jahr 1928, in: Montan.dok/ BBA 8/425. Wir danken Eva-Maria Roelevink für den Hinweis auf diese Quelle. 62 Vgl. hierzu den Beitrag von Christian Böse in diesem Band. 63 Bericht des Aufsichtsrates und der Direktion der Rombacher Hüttenwerke AG 1923/24, in: Montan.dok/BBA 8/21. 64 Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 16. Juli 1919, Teil 5, Abschnitt 2, 943 ff.

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sich Brown, Boveri & Cie. 1924 von den Howaldtswerken trennen.65 Weshalb die Rombacher Hüttenwerke dieses dicht vor der Insolvenz stehende Unternehmen erwarben, ist durch interne Quellen nicht zu klären. Da eine „Flucht“ in Sachwerte zu diesem Zeitpunkt kein Motiv mehr sein konnte, muss wohl ein scheinbar günstiger Kaufpreis in Verbindung mit der Hoffnung, auf mittlere Sicht einen verlässlichen Abnehmer für Rombachstahl zu gewinnen, den Ausschlag gegeben haben. Tatsächlich wurden die Rombacher Hüttenwerke mit dieser letzten großen Akquisition nicht glücklich. Dem Verlust der internationalen Konkurrenzfähigkeit versuchten die Unternehmen sowohl im Steinkohlenbergbau als auch in der Eisen- und Stahlindustrie durch technische Rationalisierung zu begegnen. Das erforderte Investitionen in einer Größenordnung, die die Unternehmen aus eigener Kraft meist nicht stemmen konnten. Aber auch die Banken, die vor dem Krieg in der Regel in der Lage waren, die Kreditlinien schwerindustrieller Unternehmen anstandslos auszuweiten, wenn sie die Investitionsvorhaben für sinnvoll erachteten, befanden sich seit der Stabilisierung der Währung in einer prekären Situation. Die meisten regionalen Banken waren zwischenzeitlich von den Berliner Großbanken übernommen worden, deren Ressourcen und damit auch deren Spielraum bei der Kreditvergabe aber trotz dieser Übernahmen deutlich geringer waren als vor dem Krieg.66 Sie konnten größere Kredite vor allem dann vergeben, wenn es eine berechtigte Aussicht gab, den Kredit über den Kapitalmarkt durch die Emission einer Anleihe auf das Anlegerpublikum abzuwälzen. Diese Aussicht bestand aber nur bei großen Konzernen. In einer guten Position waren vor allem solche Konzerne, deren Größe und deren internationales Standing ausreichend waren, um eine Anleihe in New York, Amsterdam, Zürich oder London zu platzieren. Der Konzentrationsprozess in der Schwerindustrie der Inflationsjahre setzte sich demzufolge auch nach der Stabilisierung fort. Jetzt ging es aber nicht mehr um eine „Flucht“ in Sachwerte oder um „Marktmacht“, sondern um eine Verbesserung der Kostenstruktur und den Zugang zum Kapitalmarkt. Die Bildung eines Ruhrstahlkartells konnte bei diesen Problemen jedoch keine Abhilfe schaffen. Vielmehr setzte sich nach der Stabilisierung mehr und mehr die Idee eines „Stahltrusts“ als Weiterentwicklung eines herkömmlichen Kartells wie dem Stahlwerksverband durch. Der „Stahltrust“ sollte als ein in einem Betrieb 65 O. V., 175 Jahre Werftgeschichte in Kiel, Kiel 2013, 4 66 Wilhelm Moritz von Bissing, Die Schrumpfung des Kapitals und seiner Surrogate, in: Untersuchungen des Bankwesens 1933, 1. Teil, Bd. 1, 62 sowie Tab. 1e; Carl-Ludwig Holtfrerich, Die Eigenkapitalausstattung deutscher Kreditinstitute 1871–1945, in: Bankhistorisches Archiv 5 (1981), 83; Wixforth, Banken (wie Anm. 36), 67 f.

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integriertes Kartell angelegt werden und über seine enorme Größe eine möglichst starke Verhandlungsposition gegenüber Behörden, Kartellen, Kunden und vermutlich auch Banken und Kapitalmarkt sicherstellen.67 Die Unternehmensführung der Rombacher Hüttenwerke AG, insbesondere Gustav Dechamps, erkannte sehr früh die Gefahr, die von einem „Stahltrust“ für den während der Inflationsjahre aufgebauten vertikal integrierten Konzern ausging. Denn bei dessen Errichtung war es nach dem Krieg vor allem um die in kürzester Zeit vollzogene Wiederherstellung einer industriellen Basis und weniger um die betriebliche Koordination der einzelnen Unternehmensteile zur Erzielung von Synergien gegangen. Weder die Concordiahütte noch die Eisenhütte Holstein oder die Westfälischen Stahlwerke waren in Anbetracht ihrer geringen Kapazitäten und ihrer ungünstigen Kostenstruktur bei einem schrumpfenden Absatzmarkt gegenüber einem „Stahltrust“ konkurrenzfähig und auch ein rentabler Betrieb der Zeche Concordia war auf lange Sicht nicht gesichert, wenn nicht ein Teil des Absatzes an die eigenen Konzernteile geliefert werden konnte, sondern die gesamte Förderung ausschließlich über das Kohlensyndikat verkauft werden musste. Schon bald war klar, dass die Rombacher Hüttenwerke außerhalb des geplanten „Stahltrusts“ keine wirtschaftliche Überlebenschance hatten. Doch schon bevor der „Stahltrust“ überhaupt ins Leben gerufen war, drohte den Rombacher Hüttenwerken die Insolvenz. In dieser Situation, für die nicht zuletzt auch die Howaldtswerke verantwortlich waren, entschlossen sich die Gläubigerbanken zu einer Intervention. Deutsche Bank, Berliner Handelsgesellschaft und Commerz- und Privatbank bildeten einen Bankenausschuss, der im September 1925 die kaufmännische Leitung des Konzerns übernahm. Das Ziel der Banken war es, Unternehmensteile zu verkaufen, „bei denen zu irgend annehmbaren Bedingungen eine baldige Verkaufsmöglichkeit besteht“,68 um auf diese Weise Teile der von ihnen gewährten Kredite tilgen zu können. Solange die Rombacher Hüttenwerke mit den Rückzahlungen nicht begonnen hatten, weigerten sich die Gläubigerbanken weiterhin Betriebsmittelkredite zu gewähren. Sie erklärten sich lediglich bereit, bei dem preußischen Handelsminister vorstellig zu werden, um eine Beteiligung des preußischen Staates an der Sanierung zu erreichen. Sie argumentierten damit, dass der Konkurs eines Ruhrkonzerns das Vertrauen der ausländischen Anleger in die Zukunftsfähigkeit der 67 Alfred Reckendrees, From Cartel Regulation to Monopolistic Control? The Founding of the German „Steel-Trust“ in 1926 and its Effect in the Market Regulation, in: Business History 3 (2003), 22–51, hier 22 f. 68 Protokoll der Bankenausschusssitzung vom 30.10.1925, zit. in: Alfred Reckendrees, Das „Stahltrust“-Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke AG und ihre Unternehmensentwicklung 1926–1933/34, München 2000, 247.

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deutschen Wirtschaft schwer schädigen würde. In der Folge könnte der Zufluss von Auslandskapital versiegen, auf den die deutsche Industrie dringend angewiesen sei. Von dieser Argumentation zeigte sich die preußische Regierung aber wenig beeindruckt. Lediglich die Reichsbank stellte eine finanzielle Überbrückungshilfe zur Verfügung, wobei die Howaldtswerke als Empfänger eines Teils dieser Überbrückungshilfe ausdrücklich ausgeschlossen wurden.69 Da das Fortbestehen des Konzerns für die Banken von untergeordneter Bedeutung war, musste Dechamps versuchen, erneut innerhalb kürzester Zeit eine Entwicklungsperspektive für die Rombacher Hüttenwerke zu entwickeln, die die Gläubigerbanken von der Zukunftsfähigkeit des verkleinerten Konzerns überzeugen konnte. Mit Blick auf das „Stahltrust“-Projekt war es naheliegend, die Westfälischen Stahlwerke und die Concordiahütte zu verkaufen. Inwieweit Dechamps an dieser Entscheidung oder auch nur an den Verhandlungen beteiligt wurde, war nicht zu ermitteln. Tatsächlich nahm der Bankenausschuss im Dezember 1925 Kontakt mit dem Bochumer Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation auf, der zur Rhein-Elbe-Union, dem Konzern des im Vorjahr verstorbenen Hugo Stinnes gehörte, und bot ihm den Verkauf der Westfälischen Stahlwerke an. Als sich aber wenig später abzeichnete, dass die Rhein-Elbe-Union aufgelöst und in den 1926 gebildeten „Stahltrust“ unter der Firma Vereinigten Stahlwerke überführt werden würde, gelang es dem Bankenausschuss die Westfälischen Stahlwerke, die Concordiahütte und die Eisenhütte Holstein an die Vereinigten Stahlwerke zu verkaufen, die den Kaufpreis allerdings in Aktien der Vereinigten Stahlwerke im Nominalwert von 15 Mio. Reichsmark erbrachten.70 Auch von den Howaldtswerken musste sich der Konzern keine zwei Jahre nach dem Erwerb wieder trennen. Ein Käufer fand sich jedoch nicht, so dass das Unternehmen 1926 liquidiert werden musste.71 Der Geschäftsbericht für 1925/26 stellte den Verkauf der Eisen- und Stahlsparte zwar als die einzige Möglichkeit zur Abwendung des Konkurses dar, weil bei einem Verkauf der Zeche Concordia kein annehmbarer Preis erzielt worden wäre. Aber diese Aussage darf wohl bezweifelt werden. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass Dechamps den Verkauf der Zeche verhindert hätte, wenn der Bankenausschuss das tatsächlich verlangt haben sollte. Denn ihm muss klargewesen sein, dass ohne die Kohlenseite des Konzerns der Handelssparte mit der NV Concordia und H. Paul Disch die Geschäftsgrundlage entzogen worden

69 Reckendrees, „Stahltrust“-Projekt (wie Anm. 68), 248. 70 Ebd., 247 f. 71 Ein Konsortium unter der Führung eines Hamburger Großkaufmanns übernahm die Kieler Anlagen aus der Liquidationsmasse und gründete die Werft als Howaldtswerke AG noch im gleichen Jahr neu. 175 Jahre Werftgeschichte (wie Anm. 65), 5.

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wäre, so dass auch sie hätte verkauft werden müssen. Damit hätten die Rombacher Hüttenwerke nur noch aus der Stahlsparte bestanden, die anders als Krupp, Hoesch, die Gutehoffnungshütte oder Mannesmann sicher nicht gegen den „Stahltrust“ hätte bestehen können. Auch die Banken dürften sich in Anbetracht dieser Perspektive gegen das Herauslösen der Zeche Concordia aus dem Verbund der Rombacher Hüttenwerke entschieden haben. Denn sie mussten davon ausgehen, dass sie in diesem Falle sämtliche Kredite, die durch die Verkaufserlöse nicht hätten getilgt werden können, abschreiben mussten. Davon abgesehen stellte auch der Geschäftsbericht für 1925/26 die Perspektiven der Zeche Concordia als vergleichsweise gut dar. So fördere sie aktuell ohne Probleme und beinahe auf Vorkriegsniveau, was nicht nur, aber auch auf den englischen Bergarbeiterstreik72 zurückzuführen sei. Auf längere Sicht böte außerdem das vertraglich neu aufgesetzte Ruhrkohlensyndikat eine gute Perspektive. Die Perspektiven der Eisen- und Stahlwerke wurden hingegen als schwierig beurteilt. Letztlich könnten die dortigen Verluste allenfalls abgemildert werden, jedoch seien die Aussichten insbesondere für kleinere Betriebe angesichts der Gründung der Vereinigten Stahlwerke eher düster. Der Verkauf an den „Stahltrust“ und damit das Ende für diesen Geschäftsbereich sei daher, obwohl ein angemessener Verkaufspreis nicht hätte erzielt werden können, die einzige Möglichkeit gewesen das Überleben zu sichern.73 Zur gleichen Einschätzung kam auch die Generalversammlung des Unternehmens, die Ende des Jahres 1926 zusammentrat, um die Umbildung der Rombacher Hüttenwerke zur Concordia Bergwerks AG unter Trennung der beiden Geschäftsteile Kohlenzeche und Hüttenwerke durch den Verkauf der Eisen- und Stahlsparte an die Vereinigten Stahlwerke zu beschließen.74 Mit der Trennung der beiden Unternehmensteile hörten die Rombacher Hüttenwerke auf zu existieren. Die Werksanlagen in Bochum und Bendorf sollten zunächst aufgrund von Überkapazitäten, ebenso wie die Eisenhütte Holstein, komplett abgerissen werden, was allerdings trotz der Unternehmenspolitik der Vereinigten Stahlwerke, kleinere Standorte mit geringer Rentabilität stillzulegen, bis auf weiteres ausgesetzt wurde.75 Allerdings wurden in Bochum die Siemens-Martin Öfen und in Bendorf die Hochöfen, das Schlackewerk und das 72 Der sich über Monate hinziehende Streik hatte auf die Exportfähigkeit der englischen Kohle den gleichen Effekt wie „Kohlennot“ und Ruhrbesetzung auf die Ruhrkohle. Der Ruhrkohle war es deshalb möglich Exportmärkte, die in den Nachkriegsjahren verloren gegangen waren, zurückzuerobern. Vgl. hierzu den Beitrag von Dieter Ziegler in diesem Band. 73 Bericht des Aufsichtsrates und der Direktion der Rombacher Hüttenwerke 1925/26, in: Montan.dok/BBA 8/21. 74 Umbildung Rombacher Hüttenwerke zur Concordia BAG, 01–03, in: WWA F26/1. 75 Reckendrees, „Stahltrust“-Projekt (wie Anm. 68), 376.

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Presswerk stillgelegt und die Beschäftigtenzahl deutlich reduziert. Die neue Concordia Bergwerks AG hingegen startete optimistisch in die Zukunft. Der Geschäftsbericht des Jahres 1926 spricht von einem insgesamt positiven Ergebnis. Das Geschäft mit Kohle und ihren Nebenprodukten habe sich positiv entwickelt und durch die Erhöhung des Aktienkapitals und die Emission einer Anleihe seien die Bankschulden deutlich verringert worden.76 Die Zeche wandte sich nun wieder verstärkt dem Bereich der Kohlechemie zu. Schon 1914 war in einem Exposé, das im Zuge der Übernahme durch die Rombacher Hüttenwerke erstellt worden war, festgestellt worden, dass die Koksherstellung und die Gewinnung von Nebenprodukten des Kokereibetriebs „einer der wichtigsten Faktoren für die zukünftige Entwicklung des Werkes“ sei.77 Die Oberschlesischen Kokswerke und chemische Fabriken in Berlin (kurz: Oberkoks) hatten bereits 1925 43 Prozent der Anteile an den Rombacher Hüttenwerken übernommen, wobei der Kaufpreis über zehn Jahre hinweg gezahlt werden sollte.78 Das Motiv für diese Beteiligung war vermutlich, ähnlich wie bei den Rombacher Hüttenwerken 1914, eine größere Unabhängigkeit von den Kohle- und Kokslieferungen der Syndikate. Die Beteiligung selbst warf für das Berliner Unternehmen allerdings, so jedenfalls Christopher Kobrak, nur einen geringen Gewinn ab.79 Auch das war schon den Rombacher Hüttenwerken nach 1914 so ergangen. Auf der anderen Seite war die Zeche Concordia wieder dort angelangt, wo sie bereits 1914 gestanden hatte, nur dass sie sich nun nicht mehr in einem Verbund mit einem Hüttenunternehmen wiederfand, das seine Koksversorgung sicherstellen wollte, sondern mit einem Unternehmen der Kohlechemie, das nicht nur an Koks, sondern auch an den Nebenprodukten des Verkokungsprozesses interessiert war. Das waren aus der Perspektive des Jahres 1926 keine schlechten Aussichten. Der Syndikatsvorstand, der vermutlich zu diesem Zeitpunkt gar nicht gut auf die Zeche Concordia und ihren Generaldirektor zu sprechen war, nahm aber den Eigentümerwechsel nicht einfach hin. Im Jahr 1927 musste Dechamps Verhandlungen mit dem Syndikatsvorstand darüber führen, ob Oberkoks, die mittlerweile 51 Prozent der Aktien der Concordia Bergwerks AG hielten, „faktisch als Alleineigentümer“ anzusehen seien. In diesem Falle hätte die Zeche ihren Status als Hüttenzeche verloren. Um diesen zu sichern, mussten mindestens 51 Prozent des Kapitals im Besitz eines Hüttenunternehmens sein. Dechamps

76 Geschäftsbericht der Concordia Bergwerks AG 1926, in: WWA F 26/25. 77 Anlage zum Exposé vom 12. Juni 1914, in: Montan.dok/BBA 8/20. 78 Christopher Kobrak, National Cultures and International Competition. The Experience of Schering AG 1851–1950, Cambridge 2002, 134. 79 Ebd, 86.

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nahm daraufhin Kontakt mit Herbert Kauert auf, der als kaufmännischer Vorstand der Gelsenkirchener Bergwerks AG für die Steinkohle in den im Zustand des Zusammenwachsens begriffenen Vereinigten Stahlwerke zuständig war und erklärte ihm, dass es zwar ein Leichtes sei, die Mehrheit an der Concordia Bergwerks AG beispielsweise an ein lothringisches Unternehmen zu veräußern, aber bei der Concordia würde man es vorziehen, das Geschäft mit einem deutschen Unternehmen zu machen.80 Für das konkrete Interesse eines französischen Unternehmens gibt es zwar keine Hinweise, aber glaubwürdig war die Behauptung schon. Denn Kauert muss bekannt gewesen sein, dass die Concordia weiterhin durch einen Kohlen- und Koksliefervertrag mit der Société Lorraine des Aciéries de Rombas in einer engen Geschäftsbeziehung stand. Folglich setzte die Nachricht Kauert erheblich unter Druck. Denn neben der Reichsregierung und dem Ruhrkohlensyndikat waren vor allem die Vereinigten Stahlwerke nicht daran interessiert, wenn sich ein weiterer französischer Konkurrent zur Sicherung seiner Koksversorgung in ihrem Hinterhof niederließ. Tatsächlich erinnert Dechamps’ Verhalten stark an Friedrich Flick in der sog. Gelsenberg-Affäre wenige Jahre später, als dieser den Ankauf seines Besitzes an Aktien der Gelsenkirchener Bergwerks AG zu einem deutlich überhöhten Preis durch die Reichsregierung mit dem Hinweis auf einen französischen Interessenten erzwang.81 Zur Sicherung des Hüttenzechenprivilegs der Concordia Bergwerks AG erklärten sich die Vereinigten Stahlwerke bereit, das Aktienpaket von Oberkoks zu übernehmen, so dass nun der Vorgabe des Ruhrkohlensyndikats Genüge getan war, wonach die Aktienmehrheit der Zechengesellschaft von einem Hüttenwerk gehalten werden musste. Die einzige Bedingung der Vereinigten Stahlwerke war es, dass ihnen keine Kosten entstehen durften.82 Im Gegenzug erklärten sie sich bereit ihr Stimmrecht an Oberkoks zu übertragen, die daraufhin weiterhin über die Stimmenmehrheit auf den Generalversammlungen der Concordia Bergwerks AG verfügten.83 Der neue, maßgeblich von Dechamps gestaltete Ver80 Abschluss und Auflösung eines Pool-Vertrages zwischen der Concordia Bergwerks AG und den Vereinigten Stahlwerken 1927–1942, Aktennotiz über eine telefonische Besprechung zwischen Herrn Kauert von den Vereinigten Stahlwerken und Dechamps vom 14.1.1927, in: WWA F 26/55. 81 Vgl. hierzu Kim Priemel/Alfred Reckendrees, Politik als produktive Kraft? Die „GelsenbergAffäre“ und die Krise des Flick-Konzerns (1931/32), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2006), 41–71, hier 63 ff. 82 Abschluss und Auflösung eines Pool-Vertrages zwischen der Concordia Bergwerks AG und den Vereinigten Stahlwerken 1927–1942, Aktennotiz zur Besprechung mit den Vereinigten Stahlwerken wegen Ausnutzung des Selbstverbrauchs am 24.1.1927, in: WWA F 26/55. 83 Abschluss und Auflösung eines Pool-Vertrages zwischen der Concordia Bergwerks AG und den Vereinigten Stahlwerken 1927–1942, Schreiben Bie an Dechamps vom 27.1.1927, in: WWA F 26/55.

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trag, sicherte damit die Concordia (und Oberkoks) gegen eine mögliche Einflussnahme aus Eigeninteresse der Vereinigten Stahlwerke ab, festigte trotzdem den Status als Hüttenzeche mit den entsprechenden Privilegien im Ruhrkohlensyndikat und sorgte durch eine feste Bindung an die Kohlechemie für gute technische Weiterentwicklungsmöglichkeiten. Die Zeche selbst entwickelte sich stabil weiter, wobei seit 1926 wieder verstärkt investiert wurde, um die Förderung unter Tage zu modernisieren und die Anlagen der Kohlechemie über Tage zu erweitern.84 Der Verkauf von Koks konnte 1927 mehr als verdreifacht werden, so dass statt der im Jahr 1926 verkauften 215.000 Tonnen, im Jahr 1927 702.400 Tonnen abgesetzt werden konnten, und damit der Reingewinn des Unternehmens bei beinahe gleichem Umsatz von rund 3,2 Mio. Reichsmark auf 6,8 Mio. Reichsmark verdoppelt werden konnte.85 Außerdem wurden letzte nicht gewinnbringende Unternehmensteile abgewickelt, so die Reederei Disch, deren Schiffe aufgrund der unklaren Lage der Rheinschifffahrt an die ebenfalls zum Konzern der Vereinigten Stahlwerke gehörende Kohlenhandelsfirma Raab Karcher & Cie. abgegeben wurden.86

6 Fazit Der Versailler Vertrag, die Ruhrbesetzung und die Stabilisierungskrise ab 1924 hatten auf die Konzernpolitik der Rombacher Hüttenwerke einschneidenden Einfluss. Ging es zunächst darum, angesichts des Verlustes der industriellen Basis in Lothringen, durch die Übernahme der Zeche Concordia schnell einen Neuanfang zu finden, wurde das operative Geschäft auch später noch durch die Vertragsfolgen, insbesondere während der Besetzung des Ruhrgebiets, belastet. Daneben machten aber auch die Entschädigungsleistungen in der Binnenschifffahrt und die Rüstungsbeschränkungen, insbesondere der Marinerüstung, einzelnen Konzernteilen zu schaffen. Damit beschleunigte der Versailler Vertrag einerseits eine Entwicklung, die eigentlich auf 30 Jahre angelegt war, nämlich 84 Ausbau und Produktionssteigerung der Concordia 1926 – 1941, Stand und Entwicklung der Schachtanlagen der Concordia Bergbau A. G.; Mai 1928, in: WWA F26/407; siehe auch den weiteren Verlauf in F26/407 und die Ausführungen in Gebhardt, Ruhrbergbau (wie Anm. 1). 85 Die Gewinnentwicklung nach der Übernahme durch Oberkoks widerspricht der oben zitierten Bewertung von Christopher Kobrak, wonach das Aktienpaket der Concordia Bergwerks AG Oberkoks nur geringe Erträge abwarf. Dieser Widerspruch kann an dieser Stelle aber nicht aufgelöst werden. 86 Geschäftsbericht der Concordia Bergwerks AG 1927, in: WWA F 26/3. Zur Stellung von Raab, Karcher & Cie. innerhalb der Vereinigten Stahlwerke vgl. Reckendrees, „Stahltrust“-Projekt (wie Anm. 68), 196 f.

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den Zusammenschluss der Rombacher Hüttenwerke und der Zeche Concordia. Andererseits war der Verlust des Stammwerks in Lothringen dabei natürlich nicht eingeplant gewesen. So standen die Rombacher Hüttenwerke nach der Übernahme der Zeche Concordia zunächst ohne Hüttenwerk da und die Zeche Concordia war wieder dort angelangt, wo sie vor Abschluss des Interessenvertrages mit den Rombacher Hüttenwerken im Jahr 1914 gestanden hatte, nur mit anderen Eigentümern. Es erwies sich aus der Rückschau zwar als ein Fehler, weiterhin der alten Idee eines vertikal integrierten schwerindustriellen Konzerns zu folgen. Aber aus der Sicht des Jahres 1919, nach den Erfahrungen der Vorkriegszeit, erschien die Zeche Concordia als „reine Zeche“ ohne die feste Abnahme durch ein Hüttenwerk innerhalb des Ruhrkohlensyndikats als zu verletzlich. Sie wäre als „reine Zeche“ ein Übernahmekandidat gewesen und wäre womöglich während der Inflation von einem größeren Konzern übernommen worden, wenn sich die Eigentümer der Rombacher Hüttenwerke 1919 entschlossen hätten, ihr Unternehmen zu liquidieren, womit dann auch der Schutz der Concordia durch den Interessensvertrag hinfällig geworden wäre. Immerhin hatte sich die Zeche Concordia in der Zwischenzeit mit der Kohlechemie ein neues Standbein geschaffen und profitierte auch von den Reparationskohlenlieferungen nach Frankreich und Belgien. Aber langfristig schien eine Zukunft als Hüttenzeche innerhalb des Ruhrkohlensyndikats als der am wenigsten unsichere Weg. Ein Kartell mit einer vergleichbaren Marktmacht und damit auch die entsprechende Sicherheit gegenüber Einbrüchen bei Absatz und Preisen fehlten in der Eisen erzeugenden Industrie. Deshalb erschien es als folgerichtig, nicht bei der Verbindung von Steinkohlenzeche und Hüttenwerk stehenzubleiben, sondern die Werkbank bis zu den Endprodukten zu verlängern, zumal die Finanzierung des Erwerbs während der Inflationsjahre kein allzu großes Problem darstellte und als zeittypische „Flucht in die Sachwerte“ auch als ein sicherer Hafen für die liquiden Mittel des Unternehmens angesehen werden muss. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass das Unternehmen in Zeiten höchster Unsicherheit eine Politik zur Verringerung von Unsicherheit verfolgte. Da das aber unter einem erheblichen Zeitdruck erfolgen musste, entstand kein vertikal integrierter Konzern, sondern ein Sammelsurium verschiedener Bestandteile eines schwerindustriellen Konzerns, die kaum aufeinander abgestimmt waren. Der Generaldirektor Gustav Dechamps versuchte ohne Zweifel das Beste aus der verfahrenen Situation zu machen und war auf seinem Spezialgebiet, dem Syndikatsrecht, auch sehr erfolgreich. Denn es gelang ihm, der 1919 kaum über Erfahrungen im Steinkohlenbergbau verfügt haben dürfte, ab 1923 auf der Syndikatsklaviatur so virtuos zu spielen, dass die Zeche Concordia durch die maßgeblich von ihm 1925 durchgesetzten neuen Syndikatsregeln stärker profi-

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tierte als alle anderen Zechen vergleichbarer Größe. Lediglich mit dem Erwerb der Howaldtswerke beging Dechamps einen schweren Fehler. Denn das nur wenig später eintretende Debakel war auch schon zum Zeitpunkt des Erwerbs absehbar gewesen. Ansonsten erwies sich seine Bereitschaft, außerhalb der festen Denkstrukturen der Montanindustrie zu agieren, für die Rombacher Hüttenwerke und die Concordia Bergwerks AG als ein Segen. So akzeptierte Dechamps die unvermeidliche Abwicklung der Eisen- und Stahlsparte der Rombacher Hüttenwerke frühzeitig und entwickelte ein neues tragfähiges Geschäftsmodell für die Zeche, die nur kurz unterbrochen durch die Weltwirtschaftskrise danach in ruhigeres Fahrwasser steuerte. Auch wenn die Unabhängigkeit durch die Übernahme der Aktienmehrheit an der Concordia Bergwerks AG durch Oberkoks wieder verloren ging, scheint Dechamps seinen Handlungsspielraum weitgehend erhalten zu haben. Darauf deutet auch seine Berufung in den OberkoksVorstand im Jahr 1933 hin.87

87 Gustav Dechamps, Dechamps. Ein Aachener Geschlecht und seine Herkunft, Görlitz 1940, 110.

Christian Marx

Enteignung – Entschädigung – Expansion Der Versailler Vertrag und die Gutehoffnungshütte (1918–1923)

1 Einleitung Als der Generaldirektor des größten deutschen Stahlkonzerns (Vereinigte Stahlwerke) Albert Vögler 1929 aus Protest gegen die Reparationsforderungen von seinem Amt als Sachverständiger zurücktrat und sich sein Nachfolger in dieser Position Ludwig Kastl – zu dieser Zeit geschäftsführendes Präsidialmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RDI) – dem Druck der Industriellenkreise entzog und die Vereinbarung zum Young-Plan unterschrieb, zeigte der Vorstandsvorsitzende der Gutehoffnungshütte (GHH) Paul Reusch zwar Verständnis für Kastls Verhalten, doch wollte er die damit verbundenen, dauerhaften finanziellen Belastungen keineswegs hinnehmen.1 „Mit der im Youngplan vorgesehenen Festlegung der Tributpflicht auf weitere 58 Jahre kann und wird sich nach meiner Ansicht das deutsche Volk nicht abfinden. Wer – wie ich – Enkelkinder hat […] muss bei Durchführung des Abkommens mit der geradezu erschütternden Tatsache rechnen, dass seine Nachkommen bis in die fünfte, vielleicht auch bis in die sechste Generation tributpflichtig bleiben.“2 Mit dieser Haltung war Reusch keineswegs alleine. Viele Deutsche nahmen die dem Deutschen Reich zugewiesene Schuld am Ausbruch des Weltkrieges und die daraus abgeleiteten Reparationen als Kern des Versailler Vertrages wahr.3 Der Young-Plan war der letzte der Reparationspläne der Weimarer Republik, welcher die Zahlungsverpflichtungen des Deutschen Reichs auf Basis des Friedensvertrags von Versailles regelte. Nachdem ab 1928/29 erstmals die vollen 1 Johannes Bähr/Christopher Kopper, Industrie, Politik, Gesellschaft. Der BDI und seine Vorgänger 1919–1990, Göttingen 2019, 90–91; Doris Pfleiderer, Deutschland und der Young-Plan. Die Rolle der Reichsregierung, Reichsbank und Wirtschaft bei der Entstehung des Youngplans, Stuttgart 2002, 172–184; Alfred Reckendrees, Albert Vögler (1877–1945), in: Patrick Bormann u. a. (Hrsg.), Unternehmer in der Weimarer Republik, Stuttgart 2016, 259–275. 2 Paul Reusch: Eröffnungsansprache auf der Mitgliederversammlung des Langnamvereins, 8. Juli 1929, in: Mitteilungen des Vereins zur Wahrung der Gemeinsamen Wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen (1929), 4–9, hier 5. Trotz seiner Vorbehalte war Reusch bereit, in die durch das Abkommen geschaffene „Bank für Internationalen Zahlungsausgleich“ (BIZ) einzutreten. 3 Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, Bonn 2019, 789. https://doi.org/10.1515/9783110765359-005

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Jahresraten von 2,5 Mrd. Reichsmark fällig geworden waren, hatte der Druck zugenommen, die Reparationsfrage neu aufzurollen. Eine Gruppe internationaler Finanzexperten unter Vorsitz des US-Industriellen Owen D. Young handelte daraufhin von Februar bis Juni 1929 in Paris die neuen Zahlungsbedingungen aus. Der Young-Plan trat im Frühjahr 1930 rückwirkend zum 1. September 1929 in Kraft, sah eine durchschnittliche Annuität von rund zwei Mrd. Reichsmark vor und hatte eine Laufzeit bis 1988. Jene zeitliche Perspektive bildete den Hintergrund für Reuschs Äußerung über die Langfristigkeit der Reparationslast. Allerdings wurde der Vertrag bereits im Juni 1931 durch das Hoover-Moratorium ausgesetzt und im Juli 1932 auf der Konferenz von Lausanne aufgehoben. Ziel des Young-Plans war es, die durch den Dawes-Plan entstandenen Probleme zu revidieren, denn statt eines Realtransfers kompensierten unter dem Reparationsregime des Dawes-Plans gegenläufige Kapitalströme in Form von ausländischen Krediten die Reparationslast, so dass die deutsche Auslandsverschuldung massiv anstieg. Hieraus erwuchs im Zusammenspiel mit dem Zinsendienst für Auslandskredite und den Reparationsverpflichtungen die deutsche Schuldenproblematik am Ende der 1920er Jahre.4 Obschon der Young-Plan für Deutschland eine gewisse finanzielle Entlastung gegenüber dem bestehenden Abkommen bedeutete, stieß er keineswegs auf breite Zustimmung – zumal die YoungPlan-Annuitäten unter wesentlich strikteren Bedingungen zu leisten waren. Besonders die rechtsgerichteten Parteien machten im Wege eines Volksentscheids Stimmung gegen das Verhandlungsergebnis; nicht zuletzt die NSDAP fand auf diese Weise einen Weg aus ihrer politischen Isolation. Hier zeigte sich die langfristige Wirkung des Versailler Vertrags auf die deutsche wie die europäische Geschichte der Zwischenkriegszeit.5 Für Paul Reusch waren die Belastungen infolge des Young-Plans im Grunde genauso unannehmbar wie der Versailler Vertrag von 1919. Reusch gehörte seit 1905 dem Vorstand der Gutehoffnungshütte an und fungierte ab 1909 als ihr Vorstandsvorsitzender. Die GHH ging auf einen Zusammenschluss mehrerer Hütten im Raum Oberhausen (St. Antony, Gute Hoffnung, Neu Essen) zurück, war 1873 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt worden, und befand sich auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch mehrheitlich im Besitz der 4 Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008, 350–357; Leonard Gomes, German Reparations, 1919–1932. A Historical Survey, New York 2010; Pfleiderer, Young-Plan (wie Anm. 1); Albrecht Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin 2002, besonders 107–192. 5 Schon 1919 war der Zusammenhang zwischen Reparationsforderungen und interalliierten Schulden offen benannt worden. Vgl. Leonhard, Frieden (wie Anm. 3), 794–795.

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Unternehmerfamilie Haniel.6 Vor dem Ersten Weltkrieg – teils sogar schon im Anschluss an den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 – hatte die GHH umfangreiche Erzlagerstätten in der Normandie und Lothringen erworben. Der „Zug nach der Minette“7 im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte zu zahlreichen engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen der Ruhrregion und Lothringen-Luxemburg geführt.8 Die GHH steht damit exemplarisch für eine ganze Reihe schwerindustrieller Ruhrunternehmen, deren Investitionen in Frankreich und Deutsch-Lothringen nach dem Ersten Weltkrieg enteignet wurden und infolge des Vertrages von Versailles dauerhaft verloren waren. Es stellt sich daher die Frage, welche konkreten Folgen aus der Kriegswirtschaft und dem Friedensvertrag für die GHH erwuchsen, inwiefern sich die inländischen wie auch die internationalen Marktbedingungen für das Unternehmen im Rahmen der neuen Weltordnung wandelten, und mit welchen Maßnahmen die Unternehmensleitung hierauf reagierte. Viele deutsche Eisen- und Stahlindustrielle – und nicht nur sie – machten sich noch 1918 gewisse „Illusionen“9 über die Ausgestaltung des Friedensvertrags. So forderte Reusch in einer mit den beiden Industriellen Wilhelm Beukenberg und Louis Röchling verfassten Denkschrift, die ehemaligen Besitzverhältnisse wiederherzustellen und die Enteignungen durch Frankreich rückgängig zu machen.10 In der neuesten Literatur zum Vertrag von Versailles wurde jüngst mehrfach darauf hingewiesen, dass zahlreiche Deutsche in der Zeit zwischen dem Waffenstillstand im November 1918 und der Vorlage des Friedensvertragsentwurfs im Mai 1919 in der Erwartung eines relativ milden Friedens lebten, da sie auf den Punktekatalog des US-Präsidenten Woodrow Wilson vertrauten. Die tatsächlichen Bedingungen des Vertrags versetzten großen Teilen der deut6 Ralf Banken, Die Gutehoffnungshütte. Vom Eisenwerk zum Konzern (1758–1920), in: Johannes Bähr u. a. (Hrsg.), Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München 2008, 15–129, 487– 520; Harold James, Familienunternehmen in Europa. Haniel, Wendel und Falck, München 2005. 7 Markus Nievelstein, Der Zug nach der Minette. Deutsche Unternehmen in Lothringen 1871– 1918. Handlungsspielräume und Strategien im Spannungsfeld des deutsch-französischen Grenzgebietes, Bochum 1993. 8 Christian Marx, Deutsch-luxemburgisch-lothringische Wirtschaftsverflechtungen im „imperialen Zeitalter“. Das Streben der Ruhrindustrie nach Rohstoffen in Luxemburg und Lothringen am Beispiel der Gutehoffnungshütte (1873–1914), in: Hémecht. Zeitschrift für Luxemburger Geschichte – Revue d’Histoire Luxembourgeoise 4 (2012), 41–55; Christian Marx, La Lorraine comme ressource et lieu de production de l’industrie de la Ruhr pendant l’Empire allemand et la Première Guerre mondiale, 1871–1918, in: Guerres Mondiales et Conflits Contemporains 3 (2017), 73–86. 9 Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 2020. 10 H. Wilhelm Beukenberg u. a., Austausch von Kohle und Koks einerseits und Erz andererseits zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich, o. O. [1918].

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schen Bevölkerung daher einen tiefen Schock und überforderten die an ihn gestellten Erwartungen – auf allen Seiten.11 Das Festhalten von Reusch, Beukenberg und Röchling an im Grunde überkommenen Zielen konnte nur neue Enttäuschungen und Konflikte hervorrufen. Aus unternehmerischer Perspektive galt dies auch für die Wiederherstellung der Weltmarktbedingungen aus der Vorkriegszeit. Der Verlust von Auslandsinvestitionen und Patenten, die Verdrängung von ausländischen Märkten, die Umstellung auf Friedensproduktion und die Wiedereingliederung zurückkehrender Soldaten verlangten den deutschen Unternehmen zweifellos enorme Anstrengungen ab, dennoch agierten viele von ihnen schon nach wenigen Jahren wieder überaus erfolgreich und kehrten oft wieder auf den Weltmarkt zurück. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden zunächst die Expansion der GHH in Richtung Normandie und Lothringen vor dem Ersten Weltkrieg dargestellt (2), da die im Versailler Vertrag festgelegten Gebietsabtrennungen für die GHH hier ihre größte Wirkungskraft entfalteten (3). In einem nachfolgenden Teil werden die längerfristigen unternehmerischen Konsequenzen des Ersten Weltkriegs aufgrund der veränderten in- wie ausländischen Marktbedingungen behandelt (4), bevor abschließend ein kurzes Resümee zur Bedeutung des Versailler Vertrages auf die Unternehmensentwicklung der GHH gezogen wird.

2 Expansion nach Deutsch-Lothringen und in die Normandie vor 1914 Noch Anfang der 1870er Jahre hatte die GHH ihre Hochöfen nahezu vollständig aus eigenen west- und mitteldeutschen Eisenerzgruben bedienen können. Da die Produktion weiter anstieg, einige Erzgruben aber bereits erschöpft waren, sank der Anteil der Eigenförderung bis 1891 auf 25 Prozent. Auch der teils spekulative Erwerb von Feldern im 1871 annektierten Lothringen sowie in Luxemburg konnte den Bedarf der GHH zunächst nicht vollständig decken, weil dort nicht die notwendigen Erzsorten lagerten. Erst die Einführung des Thomasverfahrens bei der GHH im Jahr 1882, welches die Verhüttung phosphorhaltiger Erze erlaubte, brachte die zuvor erworbenen Rohstoffreserven im Minettegebiet wieder ins Spiel und machte dieses schon bald zum Schwerpunkt der GHH-Erzförderung. Durch die Senkung des Eisenbahntarifs 1899 wurde die Minetteför11 Conze, Illusion (wie Anm. 9); Leonhard, Frieden (wie Anm. 3); ähnlich: Eberhard Kolb, Der Frieden von Versailles, München ³2019, 75. Bei Conze wird jene Phase als „Traumland der Waffenstillstandsperiode“ charakterisiert.

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derung in Lothringen und Luxemburg für die in Oberhausen gelegenen Werke zusätzlich attraktiv, dennoch musste das Unternehmen etwa die Hälfte seines Gesamtbedarfs im Ausland decken und importierte vor allem Erze aus Schweden und Spanien, um qualitativ hochwertiges Roheisen herstellen zu können.12 Ab 1908 versuchte man bei der GHH den Fehlbedarf an Erz durch den Ausbau der lothringisch-luxemburgischen Gruben zu kompensieren. Aufgrund der Produktionsausweitung in der Eisen- und Stahlerzeugung deckten die eigenen Rohstoffreserven nur noch einen Bruchteil des benötigten Materials; lediglich etwa ein Viertel des Roheisens wurde zu dieser Zeit mit Erz aus eigener Förderung erzeugt.13 Die GHH stand dabei vor ähnlichen Problemen wie andere deutsche Eisenproduzenten: Da im Inland kaum hochwertige Erze zur Erzeugung von (qualitativ hochwertigem) Roheisen verfügbar waren, war sie auf Importe aus dem Ausland angewiesen. Hierbei nahm Schweden wegen seiner eisenhaltigen Rohstoffvorkommen eine herausragende Stellung ein.14 Für die GHH stellte sich zudem das Problem, dass sich der Bedarf an Erz aufgrund 1906 beschlossener Investitionen zur Erweiterung der Kapazitäten in der Eisen- und Stahlerzeugung in absehbarer Zeit noch vergrößern würde. Reusch steigerte daher die Förderung auf den bisherigen Feldern der GHH und bemühte sich um den Kauf neuer geeigneter Vorkommen mit hochwertigen Erzen. Da die bisher noch nicht erschlossenen Erzlager der GHH in West- und Süddeutschland als Reserve für Notlagen dienen sollten, konzentrierte sich die Ausweitung der Förderung im Wesentlichen auf die lothringisch-luxemburgischen Minettefelder, deren Ausstoß bis zum Geschäftsjahr 1913/14 auf 566.000

12 Die Minetteerze hatten einen hohen Phosphorgehalt und eigneten sich deshalb weniger als die spanischen oder schwedischen Erze, um hochwertiges Roheisen zu produzieren; vgl. Banken, Gutehoffnungshütte (wie Anm. 6), 105; Nievelstein, Minette (wie Anm. 7), 166–172; KlausDieter Walter Pomiluek, Heinrich Wilhelm Beukenberg. Ein Montanindustrieller seiner Zeit, Düsseldorf 2002, 71, 78, 129–138; Gemeinschaftlicher Minettebesitz GHH/Phoenix, 1914–18, in: Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv zu Köln [künftig RWWA], 130-300193006/20. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Charles Barthel in diesem Band. 13 Die GHH verbrauchte in den Geschäftsjahren 1904/05 bis 1908/09 jeweils etwa 927.000t Erz, förderte jedoch durchschnittlich nur ca. 405.000t, wobei die eigene Förderung eisenarme Minette und Rasenerz beinhaltete, die demzufolge nicht voll genutzt werden konnte. Vgl. Wilfried Feldenkirchen, Die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets, 1879–1914. Wachstum, Finanzierung und Struktur ihrer Großunternehmen, Wiesbaden 1982, 138–139, 165; Nievelstein, Minette (wie Anm. 7), 167; Paul Rudolf Szymanski, Die Entwicklung der Gutehoffnungshütte zum Konzern, 1908–1929, Oberhausen 1930 (Werksarchiv der GHH im RWWA), Teil I, 9. 14 Feldenkirchen, Eisen- und Stahlindustrie (wie Anm. 13), 62–63; Ulrich Wengenroth, Auslandsinvestitionen der deutschen Schwerindustrie zur Sicherung ihrer Erzversorgung zwischen Gründerjahren und Weltwirtschaftskrise, München 1998, 7–12.

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Tonnen Minette erhöht werden konnte – und damit den GHH-Bedarf an eisenarmen Erzen weitgehend deckte.15 Phoenix und GHH hatten gemeinsam zwischen 1872 und 1875 insgesamt ca. 3.500 Hektar in Lothringen und Luxemburg erworben. Damit nahmen die beiden Unternehmen eine gewisse Vorreiterrolle ein, doch schon bald folgten weitere rheinisch-westfälische Unternehmen. Der Besitz von Phoenix und GHH wurde 1910 auf über 188 Mio. Tonnen geschätzt; hiermit nahm ihr Erzvorkommen in Deutsch-Lothringen den ersten Platz unter den Ruhrunternehmen ein. Vor dem Ersten Weltkrieg kontrollierte die Stumm-Gruppe 22 Prozent, Thyssen 21 Prozent, Phoenix und die GHH etwa 17 Prozent, die GBAG sieben Prozent, Röchling sechs Prozent, Klöckner und Deutsch-Luxemburg jeweils fünf Prozent sowie Phoenix-Hoesch-Klöckner, die Rheinischen Stahlwerke und Krupp je drei Prozent des Felderbesitzes im deutschen Teil Lothringens. Thyssen hatte damit zwar den größten Felderbesitz unter den Ruhrunternehmen, diese hatten jedoch eine schlechtere Qualität, wodurch seine Position gegenüber den übrigen Montanunternehmen etwas abgeschwächt wurde.16 Neben der intensiveren Nutzung der luxemburgischen und lothringischen Felder stellte Reusch ab 1906 Erkundungen über neue Erzvorkommen im Ausland an, die jedoch oftmals zu keinem günstigen Resultat führten. Vor diesem Hintergrund entschloss er sich 1910 unter der Mitwirkung der Handelsfirma Wm. H. Müller & Co. die in der Normandie gelegene Grube Barbery sowie mehrere Konzessionen (Urville, Estrées-la-Campagne, Gouvix) zu erwerben.17 Andere deutsche Unternehmer, wie Thyssen und Krupp, hatten in der Normandie bereits zuvor Felder gekauft, obschon es deutliche Spannungen in den deutsch-

15 Banken, Gutehoffnungshütte (wie Anm. 6), 118; Nievelstein, Minette (wie Anm. 7), 171–172; Erich Maschke, Es entsteht ein Konzern. Paul Reusch und die GHH, Tübingen 1969, 75–76. 16 Banken, Gutehoffnungshütte (wie Anm. 6), 105; Feldenkirchen, Eisen- und Stahlindustrie (wie Anm. 13); James, Familienunternehmen (wie Anm. 6), 175–177; Stefanie van de Kerkhof, Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft. Unternehmensstrategien der deutschen Eisen- und Stahlindustrie vom Kaiserreich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Essen 2006, 140–141; Nievelstein, Minette (wie Anm. 7), 166–172; Pomiluek, Beukenberg (wie Anm. 12), 71, 78, 129–138; Gemeinschaftlicher Minettebesitz GHH/Phoenix, 1914–18, in: RWWA, 130-300193006/20; Arnold Woltmann, Geschichte der Gutehoffnungshütte, in: ders./Friedrich Frölich (Hrsg.), Die Gutehoffnungshütte Oberhausen Rheinland. Zur Erinnerung an das 100jährige Bestehen 1810– 1910, Oberhausen 1910, 3–60, hier 33–36. 17 Das Handelshaus William H. Müller & Co. aus Rotterdam und die Firma Ludwig Possehl & Co. in Lübeck organisierten zwischen 1895 und 1913 etwa 80 Prozent des gesamten schwedischen Erzhandels. Vgl. Feldenkirchen, Eisen- und Stahlindustrie (wie Anm. 13), 64; Wengenroth, Auslandsinvestitionen (wie Anm. 14), 7.

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französischen Beziehungen gab.18 Die GHH übernahm zunächst 80 Prozent des Aktienkapitals der „Société des Mines de fer de Barbery“, die im Besitz der Grube Barbery war, während Wm. H. Müller & Co. einen großen Teil der restlichen Aktien hielt. Aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung in Frankreich wirkte die GHH nur mittelbar auf die Verwaltung der Gesellschaft ein. Dennoch entstanden zahlreiche Konflikte mit den französischen Behörden. Im Frühjahr 1911 gründete die GHH zudem eine französische Holdinggesellschaft unter dem Namen „Société d’Extraction de Minerais“, die sämtliche Aktien der verschiedenen in der Normandie gelegenen Erzfelder übernahm.19 Der Erwerb der Grubenunternehmen kostete die GHH insgesamt ca. zwei Mio. Francs. Die anschließende Modernisierung der Grubeneinrichtungen, die Errichtung einer weiteren Anschlussbahn sowie der Ausbau des Hafens und der Werkswohnungen erforderten bei der „Société des Mines de fer de Barbery“ weitere sechs Mio. Francs. Noch im September 1913 wurde die Förderung aufgenommen, so dass sich die Versorgungslage endlich zu entspannen schien, doch der Kriegsausbruch ein Jahr später beendete die Erzzufuhr aus Frankreich abrupt.20 Ebenso kamen die Planungen für ein eigenes Hüttenwerk auf den Minettelagerstätten 1914 plötzlich an ihr Ende. Mit der angedachten Errichtung eigener Produktionskapazitäten im Minettegebiet hätte die GHH einen qualitativen Sprung in Richtung einer zweigliedrigen Produktionsstruktur vollzogen. Die schwerindustriellen Ruhrunternehmen stellten schon seit den 1880er Jahren entsprechende Überlegungen an.21 Die Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG) verfügte bereits über Hochofenwerke im Minettegebiet, als sie 1908 die impo18 Kerkhof, Unternehmensstrategien (wie Anm. 16), 142–144; Wengenroth, Auslandsinvestitionen (wie Anm. 14), 6. 19 Die Konzession Urville war 1911 in die Gesellschaft „Société des Mines de Fer d’Urville“ eingebracht worden, an der die GHH vor der Übertragung auf die Holding 80 Prozent hielt. Die Konzession Estrées-la-Campagne war Eigentum der „Société des Mines de Fer de la Basse-Normandie“, die zu 70 Prozent im Besitz der französischen Holding der GHH war; der Erwerb der Konzession von Gouvix wurde durch das Eingreifen der französischen Behörden verhindert. Mitte 1911 verfügte die GHH über etwa 1.350ha an Erzfeldern mit einem Vorrat von 300 Mio. t. Vgl. Maschke, Konzern (wie Anm. 15), 78–79; Szymanski, Gutehoffnungshütte, Teil I (wie Anm. 13), 13. 20 Christian Marx, Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens, Göttingen 2013, 70–73. Die Grube Barbery sollte eine Leistung von 600.000 bis 1.000.000t pro Jahr erreichen und damit den Bedarf der GHH an diesen Erzsorten sicherstellen. Bis zum Sommer 1914 wurden die ersten 50.000t Erz nach Oberhausen geliefert. Vgl. Banken, Gutehoffnungshütte (wie Anm. 6), 119; Szymanski, Gutehoffnungshütte, Teil I (wie Anm. 13), 14. 21 In den 1890er Jahren ging der Absatz des Saarkoks nach Elsass-Lothringen zurück und die Bedeutung der Rohstofflieferungen vom Ruhr- ins Minetterevier nahm zu. Vgl. Ralf Banken, Die Industrialisierung der Saarregion 1815–1914. Bd. 2: Take-Off-Phase und Hochindustrialisierung 1850–1914, Stuttgart 2003, 256–258.

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sante Adolf-Emil-Hütte im luxemburgischen Esch errichtete. Ebenso verlagerte August Thyssen 1910 mit dem Bau eines modernen Stahlwerks in Hagendingen (Hagondange) bei Metz, welches 1912 die Produktion aufnahm, einen bedeutenden Teil seiner Produktion in Richtung der Minette.22 Zudem ließ er nahe der nordfranzösischen Stadt Caen ein Hüttenwerk erbauen, welches sich unweit seiner Eisenerzgruben in der Normandie befand.23 Die GHH unter Reusch wollte in ähnlicher Weise verfahren und stieg in die Planungen für den Bau eines Hüttenwerks im lothringischen Monhofen (Manom) bei Diedenhofen (Thionville) ein. Die Vorbereitungen zum Bau des Werks waren bereits weit vorangeschritten und auch die Verhandlungen mit der Eisenbahnverwaltung über einen Gleisanschluss befanden sich in der Abschlussphase.24 Das Gelände sollte sowohl in der Nähe der GHH-Minettegruben liegen als auch über einen Zugang zur Mosel verfügen, um diese als möglichen zukünftigen Wasserweg nutzen zu können. Die weiteren Vorbereitungen und die Durchführung des Projekts wurden jedoch durch den Beginn des Ersten Weltkriegs schlagartig gestoppt.25

22 Jeffrey R. Fear, Organizing Control. August Thyssen and the Construction of German Corporate Management, Cambridge 2005, 290; Nievelstein, Minette (wie Anm. 7), 149–166, 268–270. Zwischen 1899 und 1913 stieg der Anteil des Minettereviers an der deutschen Stahlproduktion von 7,9 auf 22,6 Prozent. Vgl. Banken, Hochindustrialisierung (wie Anm. 21), 299–302, 408–409. Die Ausgaben für den Bau des Stahlwerks in Hagendingen und die Erweiterungen im Krieg beliefen sich nach Angaben der Gewerkschaft August-Thyssen auf 101 Mio. Mark. Vgl. dazu Nievelstein, Minette (wie Anm. 7), 149–166, 268–270. Fear schätzt das von Thyssen errichtete Stahlwerk in organisatorischer und technischer Hinsicht sehr modern ein. „Its construction took less than three years, and it became the best-designed, most modern, most ‚American‘ steel factory on the continent.“ Fear, Organizing Control (wie Anm. 22), 290. 23 Feldenkirchen, Eisen- und Stahlindustrie (wie Anm. 13), 84–89; Kerkhof, Unternehmensstrategien (wie Anm. 16), 141; Nievelstein, Minette (wie Anm. 7), 172–180. 24 Nievelstein, Minette (wie Anm. 7), 74, 185–188; GHH an Kreisdirektor Diedenhofen-Ost, 15. November 1913, in: RWWA, 130–3001193/0; Kaiserliche Generaldirektion der Eisenbahnen in Elsass-Lothringen an GHH, 19. Februar 1913, in: RWWA, 130–3030/14. 25 Marx, Lorraine (wie Anm. 8); François Roth, La Lorraine Annexée. Étude sur la Présidence de Lorraine dans l’Empire Allemand (1870–1918), Metz ²2007, 224, 316; Grunderwerb in Lothringen, in: RWWA, 130–300193006/14; Schriftwechsel betr. Stahl- und Walzwerk auf Monhofen, 1910–1913, in: RWWA, 130-3001012/36; Vorläufiger Eisenbahnanschluss für das Hüttenwerk Monhofen, 1912–1914, in: RWWA, 130-3001114/0; Verhandlungen mit der Reichsbahn wegen Gleisanschluss für das Hüttenwerk Monhofen, 1911–1918, in: RWWA, 130-3001114/1; Hüttenund Walzwerk Monhofen, in: RWWA, 130-3001193; Projekt eines Eisenwerks in Lothringen und Grundstückskäufe in Monhofen, 1910–1911, in: RWWA, 130-300193006/14; Hüttenwerk Monhofen, in: RWWA, 130-33010.

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3 Auswirkungen des Versailler Vertrags: Verlust und Entschädigung Nach dem Krieg wurde das Grundstück für das geplante Hüttenwerk unter französische Zwangsverwaltung gestellt – letztlich wurde das zweite Produktionsbein der GHH in Lothringen nie realisiert. Da das Vorhaben noch in der Planungsphase beendet wurde, blieb die GHH im Unterschied zu anderen Ruhrkonzernen allerdings vor größeren finanziellen Ausfällen bewahrt. Für Thyssen war der Verlust seines modernen Stahlwerks in Hagendingen weitaus einschneidender. Der Traum einer dauerhaft lukrativen Verbindung von luxemburgisch-lothringischer Minette und Ruhrkohle unter dem Dach einzelner privatwirtschaftlicher Unternehmen hatte sich damit aufgelöst.26 Für die GHH bedeutete vor allem der Verlust ihres Erzbesitzes in Lothringen und der Normandie einen herben Rückschlag. Während des Krieges hatte Reusch aufgrund des GHH-Besitzes in Lothringen mehrfach die Verteidigung bzw. Erweiterung des deutschen Staatsgebietes gefordert. Dabei vertrat er eine ähnliche Linie wie August und Fritz Thyssen, indem er gegenüber dem Reichsamt des Inneren eine Sicherung der dort erworbenen Erzfelder verlangte. Er wandte sich gegen Gebietsansprüche im Osten und forderte stattdessen die dauerhafte Annexion des französischen Elsass-Lothringens. Zum einen ging er davon aus, dass England, Frankreich und Belgien gegenüber Deutschland ohnehin feindlich eingestellt seien; zum anderen war diese Haltung dadurch begründet, dass inzwischen gesicherte Kenntnisse vorlagen, wonach sich das

26 Jörg Lesczenski, August Thyssen 1842–1926. Lebenswelt eines Wirtschaftsbürgers, Essen 2008, 315–316; Marx, Wirtschaftsverflechtungen (wie Anm. 8); Marx, Lorraine (wie Anm. 8). Mit der Abtretung von Elsass-Lothringen wurde das Eigentum deutscher Reichsangehöriger liquidiert; Deutschland war nach dem Versailler Vertrag verpflichtet, die Eigentümer zu entschädigen. Vgl. Friedensvertrag von Versailles, 28. Juni 1919, Teil III: Politische Bestimmungen über Europa (Abschnitt V: Elsaß-Lothringen), Teil X: Wirtschaftliche Bestimmungen (Abschnitt IV: Güter, Rechte und Interessen), http://www.documentarchiv.de/index.html [Zuletzt eingesehen 31.03.2020]; Leonhard, Frieden (wie Anm. 3), 779. Der britische Finanzexperte John Maynard Keynes wandte sich u. a. gegen die Enteignung von Privatpersonen in Elsass-Lothringen; er galt als lautstarker Kritiker des Versailler Vertrags, trat resigniert aus dem Beraterstab der englischen Delegation bei den Verhandlungen in Versailles aus und verfasste 1919 mit der Autorität eines Wirtschaftsexperten eine Denkschrift, die die ökonomischen Folgen des Friedensvertrags beleuchtete – und damit seine politische Legitimität untergrub. Denn Keynes ging davon aus, dass Deutschland in eine tiefe politische und ökonomische Krise stürzen würde, falls es tatsächlich zur Zahlung der Reparationen gezwungen werden sollte. Vgl. John Maynard Keynes, The Economic Consequences of the Peace, Breinigsville, PA 2019 [1919]; Adam Tooze, Sintflut die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015, 365–376.

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Erzbecken weit über das von Deutschland 1871 annektierte Gebiet von DeutschLothringen hinaus erstreckte.27 Erst im Herbst 1918 realisierte Reusch, dass das Deutsche Reich weder eine Expansion nach Osten noch nach Westen würde betreiben können, sondern umgekehrt mit Gebietsverlusten zu rechnen hatte: „Was Elsass-Lothringen betrifft, so fürchte ich, dass wir den größten Teil dieses Landes verlieren werden.“28 Die erwartete Übergabe von Elsass-Lothringen an Frankreich lehnte er nicht nur aus politischen Gründen ab, vielmehr drohten damit auch der Verlust des dortigen deutschen Privateigentums und der Bruch der strategischen Achse zwischen Minette und Ruhrkohle. Vor diesem Hintergrund erarbeitete er mit Wilhelm Beukenberg und Louis Röchling die bereits oben angesprochene Denkschrift über den Austausch von Kohle und Erz zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich aus, die sich intensiv mit den neuen wirtschaftlichen Gegebenheiten auseinandersetzte.29 Die Abtretung von Elsass-Lothringen an Frankreich sowie von Posen und Westpreußen an Polen, die Abtrennung des Saargebietes aus dem deutschen Wirtschaftsraum, der Rückzug Luxemburgs aus dem Deutschen Zollverein und der Verlust der Kolonien bedeuteten für das Deutsche Reich wie auch für die GHH im Speziellen eine erhebliche Veränderung der bisherigen Wirtschaftsstruktur. Daran änderten auch die vergeblichen Eingaben der Industriellen – wie von Beukenberg, Reusch und Röchling – nichts. Konkret war die GHH in vierfacher Weise von den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges betroffen: Erstens mussten die Produktion von Kriegs- auf Friedensgüter umgestellt und die während des Krieges stark beanspruchten Anlagen erneuert oder modernisiert werden. Im Unterschied zu Krupp waren die GHH oder Thyssen zu Beginn des Ersten Weltkriegs kaum an der Rüstungswirtschaft des Deutschen Reichs beteiligt gewesen und hatten ihre Werke erst einmal den neuen Bedürfnissen anpassen müssen. Besonders in den weiterverarbeitenden Betrieben war die Umstellung auf Kriegsproduktion recht schnell vonstattenge27 Gerald D. Feldman, Paul Reusch and the Politics of German Heavy Industry, in: Gene Bruckner (Hg.), People and Communities in the Western World, Bd. 2, Homewood 1979, 293–331, hier 306–307; Reusch an W. Hirsch, 8. August 1916, in: RWWA, 130-3001933/10. Reusch wies Staatsminister Dr. Karl Helfferich im Reichsamt des Inneren darauf hin, dass die GHH im Vergleich mit anderen deutschen Unternehmen wohl über den größten Besitz in Frankreich verfügen würde; insgesamt habe die GHH etwa 50 Millionen Mark in Frankreich investiert. Vgl. Liquidation des Besitzes der GHH in der Normandie, Bd. 1, 1916–1920, in: RWWA, 130-300111/25; Frankreich, 1914–1918, in: RWWA, 130-300111/34; Reusch an Helfferich, 25. Juni 1916, in: RWWA, 130-300193006/15; Reusch an Wilhelm Hirsch, 31. Juli 1916, in: RWWA, 130-3001933/ 10. 28 Paul Reusch an Hermann Reusch, 12.10.1918, in: Privatarchiv Reusch, Backnang, 400101298/2. 29 Beukenberg u. a., Austausch (wie Anm. 10); Pomiluek, Beukenberg (wie Anm. 12), 294.

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gangen. In verschiedenen Artilleriewerkstätten des GHH-Maschinenbaus hatte man schon im Spätherbst 1914 die Bearbeitung von Geschossrohlingen aufgenommen. Die Walzwerke der GHH produzierten fortan Granatstahl, neue Maschinen für die Rüstungsendfertigung wurden angeschafft, und die Kapazitäten für Martinstahl erweitert. Dabei griff die Unternehmensleitung auch auf ausländische Zivilarbeiter sowie Kriegs- und Strafgefangene zurück, um den Rückgang der Stammbelegschaft infolge der Mobilisierung zu kompensieren und die steigende Rüstungsnachfrage des Staates zu befriedigen. Nach einigen Erweiterungen lieferte die GHH schließlich etwa zehn Prozent des gesamten Stacheldrahtbedarfs der deutschen Armee; hinzu kamen zahlreiche Geschütze, Minenwerfer und Geschosse aus der Maschinenbauabteilung der GHH, während die Brückenbauabteilung Schwimmdocks lieferte und Instandsetzungsarbeiten in den besetzten Gebieten verrichtete, um den militärischen Nachschub zu sichern.30 Dennoch handelte Reusch bedachtsamer als einige andere Unternehmer, verwies auf die Risiken infolge einer Vernachlässigung bisheriger Märkte und die fortbestehende Konkurrenzsituation zu anderen Unternehmen, und machte vor allem die vorhandenen Fertigkeiten der bestehenden Abteilungen für die Kriegswirtschaft nutzbar, um die Umstellungskosten nach dem Krieg zu begrenzen. Auch die GHH avancierte in den Jahren 1914 bis 1918 zu einem bedeutenden Rüstungsproduzenten, blieb aber hinter den beiden führenden Firmen des Ruhrbezirks, der Fried. Krupp AG und der Rheinischen Metallwaaren- und Maschinenfabrik, wie auch hinter der Maschinenfabrik Thyssen & Co. zurück. August Thyssen hatte seine Zurückhaltung gegenüber dem Rüstungsgeschäft mit Kriegsbeginn weitgehend aufgegeben. Darüber hinaus entwickelte Reusch über mehrere Denkschriften eine Konzeption für eine rasche Rückumstellung der Produktion bei Friedensschluss. Dabei sollten nicht nur die vorhandenen Rüstungswerkstätten wieder die Produktion ziviler Güter aufnehmen, sondern Beteiligungen in der Weiterverarbeitung und Verfeinerungsindustrie erworben werden, da er auch nach dem Ende des Krieges auf absehbare Zeit nicht mit einer Erholung des Exportmarktes rechnete.31 30 Banken, Gutehoffnungshütte (wie Anm. 6), 125–127; Marx, Leitung (wie Anm. 20), 91–93. 31 Banken, Gutehoffnungshütte (wie Anm. 6), 129; Christian Leitzbach, Rheinmetall. Vom Reiz, im Rheinland ein großes Werk zu errichten, Bd. 1, Köln 2014, 23–86; Marx, Leitung (wie Anm. 20), 88–89; Manfred Rasch, August Thyssen: Der katholische Großindustrielle der Wilhelminischen Epoche, in: ders./Gerald D. Feldman (Hrsg.), August Thyssen und Hugo Stinnes. Ein Briefwechsel 1898–1922, München 2003, 13–107, hier 78–79. Reusch äußerte sich wie folgt zu den Gewinnmöglichkeiten nach dem Krieg: „Ein Erfahrungssatz lehrt, dass, wenn rohund Halbzeugfabrikate vielfach nur noch ohne Gewinn oder zu Verlustpreisen abgestoßen werden können, an der Verfeinerung immer noch ein, wenn auch bescheidener Gewinn zu machen war. In je größerem Umfange ein großes Werk sich der Verfeinerung zugewendet hat, desto

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Zweitens stand die Unternehmensführung vor der Herausforderung, die durch den Verlust des in der Normandie gelegenen Besitzes sowie der in ElsassLothringen befindlichen Minette auftretenden Rohstoffprobleme zu kompensieren. Lediglich die in Kooperation mit dem Phoenix in Luxemburg betriebene Minettegrube Steinberg, die nach dem Ersten Weltkrieg erweitert werden konnte und nun durch eine Zollgrenze vom Stammunternehmen getrennt war, lieferte weiterhin Eisenerz an die GHH.32 Auch wenn Reusch im Mai 1918 im Industrieclub in Düsseldorf von der deutschen Regierung noch die Wiederherstellung der Besitzverhältnisse der Vorkriegszeit in der Normandie gefordert hatte, gab es nach dem Waffenstillstand hierfür im Grunde keine realistische Chance mehr.33 Die neue Grenze zu Frankreich orientierte sich an derjenigen vom 18. Juli 1870 (Artikel 27); damit war das lothringische Minettegebiet für Deutschland verloren. Ebenso waren hiermit die Planungen eines Hüttenwerks in Monhofen von den politischen Ereignissen überholt worden. Kurzzeitig, d. h. vor der Unterzeichnung des Friedensvertrags im Juni 1919, mochten Reusch und einige andere Ruhrindustrielle noch die Möglichkeit umfangreicher Minettelieferungen ins Ruhrgebiet auf Basis der Vorkriegsverhältnisse in Erwägung ziehen, doch spätestens ab diesem Zeitpunkt lagen solche Ideen außerhalb eines realistischen Möglichkeitsraums. Stattdessen bestimmte Artikel 236, dass Deutschland neben seinen finanziellen Mitteln auch Kohle zur Wiedergutmachung einsetzen müsste. Konkret wurde in Anlage V des Vertrages festgehalten, dass Deutschland an Frankreich zehn Jahre lang sieben Mio. Tonnen Kohle jährlich sowie darüber hinaus einen Kohlenausgleich für die durch den Krieg zerstörten Bergwerke in den Départements Nord und Pas-de-Calais zu liefern habe. Weite-

sicherer muss die Verwertung der Rohstoffe erscheinen, wenn die Marktlage rückläufig ist.“ Vgl. Maschke, Konzern (wie Anm. 15), 93. Krupp musste nach dem Krieg erhebliche Umstellungskosten in Kauf nehmen. Vgl. Klaus Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen. Unternehmensgeschichte der Fried. Krupp AG 1914 bis 1924/25, in: Lothar Gall (Hg.), Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin 2002, 15–165, hier 98–117 sowie den Beitrag von Christian Böse in diesem Band. 32 Marx, Wirtschaftsverflechtungen (wie Anm. 8), 46, 50. Da die GHH-Phoenix-Gruppe die luxemburgische Grube auch während des Ersten Weltkrieges betrieben hatte, musste sie 1922 eine Entschädigungszahlung in Höhe von 1.287.835 Francs leisten. Vgl. Beschreibung der Minettegrube Steinberg, Rümelingen, in: RWWA, 130-17-9; Betriebsvertrag bzgl. des Feldes Aachen mit der Gewerkschaft Monceau St-Fiacre, Belgien, betr. die Grube Steinberg, Luxemburg. Bd 1–3, 1905–1907, 1920–1923, in: RWWA, 130-30011151/0-2. Im Geschäftsjahr 1928/29 förderte die Grube Steinberg 188.900t Minette, wovon 94.450t auf die GHH entfielen. Dies war mengenmäßig deutlich mehr als die Erzförderung in den GHH-Gruben Reichensteinerberg oder Eisenkaute im Westerwald. Vgl. 58. Ordentliche Generalversammlung, 29. November 1930, S. 45, in: RWWA, 130-3001091/65 58. 33 Reusch an Romeiser, 16. Mai 1918, in: RWWA, 130-300193004/7.

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re Kohlenlieferungen waren für Belgien, Italien und Luxemburg vorgesehen. Die Rohstoffgrundlage der GHH stand angesichts dieser Gebiets- und Eigentumsverluste (Erz) sowie dieser Reparationsforderungen (Kohle) vor einer doppelten Herausforderung.34 Drittens musste der Vorstand das Unternehmen an die neuen Marktbedingungen anpassen, welche sich sowohl durch langfristige weltwirtschaftliche Verschiebungen – beispielsweise mit dem ökonomischen Aufstieg der USA –35 als auch durch kurzfristige Veränderungen infolge des Ersten Weltkrieges und seiner nachfolgenden Friedensbestimmungen in mehrfacher Weise wandelten. Mit Kriegsbeginn waren viele deutsche Unternehmen von ihren traditionellen Exportmärkten abgeschnitten und blieben dies zunächst auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zudem hatte sich durch die Gebietsverluste des Deutschen Reiches auch der nationale Markt erheblich verändert: Durch das Ausscheiden der Konkurrenten in den abgetretenen Gebieten und die Konzentration der Produktionskapazitäten der deutschen Eisen- und Stahlindustrie innerhalb einer kleiner gewordenen Gruppe großer Konzerne waren die Produktionskapazitäten jener Branche vor allem im rheinisch-westfälischen Industriegebiet zusammengefasst, während der süddeutsche Raum, der seinen Eisen- und Stahlbedarf besonders mittels Lieferungen aus Luxemburg und Lothringen gedeckt hatte, vor enormen Versorgungsproblemen stand.36 Für zahlreiche Firmen des süddeutschen Maschinenbaus zerfielen damit eingespielte Lieferbeziehungen für Vorund Zwischenprodukte, gleichzeitig brachen klassische Absatzmärkte weg. Viertens wurden die Unternehmensleitungen bereits während des Ersten Weltkrieges verstärkt mit Forderungen der Arbeiterbewegung und Arbeitsniederlegungen konfrontiert. Im Gegenzug zum Erlass des Vaterländischen Hilfsdienstgesetzes 1916 hatten die Gewerkschaften die Bildung von Arbeiter- und Angestelltenausschüssen erreicht und dadurch die Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten gestärkt, auch wenn sie dafür auf Streiks zu verzichten hatten.37 34 Friedensvertrag von Versailles, 28. Juni 1919, http://www.documentarchiv.de/index.html [letzter Zugriff 27.3.2020]. Vgl. hierzu auch: Büttner, Weimar (wie Anm. 4), 124–126; Leonhard, Frieden (wie Anm. 3), 975; Guido Goldman, Heavy Industry and Foreign Policy in the Weimar Republic. The Ruhr and Reparations in Germany after the First World War, o. O. 1970. Das Deutsche Reich verlor 48 Prozent seiner Eisenerzvorkommen. 35 Vgl. hierzu Tooze, Sintflut (wie Anm. 26). 36 Fear, Organizing Control (wie Anm. 22), 288–295; Feldman, Politics (wie Anm. 27), 314–317. Der Anteil der gesamten deutschen Roheisenerzeugung in Rheinland-Westfalen betrug 1913 etwa 59 Prozent und kletterte bis 1921 auf 76,6 Prozent. Vgl. Gerald D. Feldman/Heidrun Homburg, Industrie und Inflation. Studien und Dokumente zur Politik der deutschen Unternehmer 1916–1923, Hamburg 1977, 78, 111. 37 Steitz, Walter (Hg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Weimarer Republik, Darmstadt 1993, 56–60 (Gesetz über den vater-

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In der Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (ZAG) erlangten die Gewerkschaften endgültig ihre Anerkennung als legitime Verhandlungspartner, obgleich nicht alle Unternehmer jene zur Umstellung auf eine Friedenswirtschaft ins Leben gerufene, korporative Institution unterstützen. Um die allseits geäußerten Sozialisierungsforderungen – insbesondere in der Zeit der Streikbewegungen 1917/18 – abzuwenden und die bestehende Wirtschaftsordnung zu erhalten, fanden sich die Arbeitgeber im Rahmen der ZAG sogar zur Einführung des Acht-Stunden-Tages bereit. Dass jener Konsens Grenzen hatte, zeigte sich beispielsweise an Paul Reusch, der die ZAG-Regelung, wonach die Unternehmer die „gelben“ wirtschaftsfreundlichen Gewerkschaften nicht länger unterstützen durften, strikt ablehnte.38 Mit Blick auf den Versailler Vertrag stachen unter diesen vier Punkten vor allem die Gebietsabtrennungen und die – teils noch vom Wiedergutmachungsausschuss näher zu bestimmenden – Reparationsleistungen heraus. Nachdem die in der Normandie gelegenen Erzfelder 1916 beschlagnahmt und die Gruben der GHH im lothringischen Minettegebiet nach dem Krieg unter französische Zwangsverwaltung gestellt worden waren, mussten umfangreiche Umstrukturierungen in der Eisen- und Stahlherstellung wie auch in der Rohstoffbeschaffung in Angriff genommen werden. Mit dem Wegfall der Minetteerze drosselte die GHH ihre Produktion von Thomasstahl und griff nun noch stärker auf die Verwertung von Schrott zurück. Bereits während des Ersten Weltkrieges waren beide Martinwerke modernisiert und erweitert worden, um die verminderte Roheisenerzeugung zu kompensieren und eine bessere Schrottverwertung zu erreichen. Infolgedessen erhöhte sich der Anteil an Martinstahl, der im Vorkriegszeitraum etwa nur ein Drittel der GHH-Produktion ausmachte, so dass sich die Gesamterzeugung nach dem Krieg etwa hälftig auf beide Sorten verteilte.39 Gleichzeitig musste Reusch neue Wege in der Erzversorgung beschreiten. ländischen Hilfsdienst, 5. Dezember 1916); Tenfelde, Unternehmensgeschichte (wie Anm. 31), 63–64; Horst Thum, Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung. Von den Anfängen 1916 bis zum Mitbestimmungsgesetz 1976, Köln 1991, 23–29; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München ³2008, 114–122. 38 Peter Langer, Paul Reusch. Der Ruhrbaron, Essen 2012, 174–175; Marx, Leitung (wie Anm. 20), 120–121; Werner Milert/Rudolf Tschirbs, Von den Arbeiterausschüssen zum Betriebsverfassungsgesetz. Geschichte der betrieblichen Interessenvertretung in Deutschland, Köln 1991; Andrea Rehling, Konfliktstrategie und Konsenssuche in der Krise. Von der Zentralarbeitsgemeinschaft zur Konzertierten Aktion, Baden-Baden 2012; vgl. zu den Streikbewegungen 1917/18: Gerd Krumeich, Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik, Freiburg 2018, 48–71. 39 Fritz Büchner, 125 Jahre Geschichte der Gutehoffnungshütte, Oberhausen 1935, 51–52, 85.

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Ein Rechtsstreit der GHH wegen der Ausbeutung von Erzvorkommen in Chile (Algarrobo-Vorkommen) war noch nicht beendet, und eine Steigerung der Förderung auf den eigenen deutschen Gruben war kaum mehr möglich. Der GHHVorstand erwarb daher neben einigen Feldern in der Region Peine-Salzgitter vor allem Erzvorkommen in Süddeutschland, allerdings hatten die württembergischen Doggererze nicht die Qualität der aus dem Ausland importierten Erze. Der Gesamtbedarf der GHH konnte hierüber auf lange Sicht nicht gedeckt werden. In der unmittelbaren Nachkriegszeit verursachte die geringe Erzzufuhr aufgrund des allgemeinen Produktionsrückgangs noch keine größeren Probleme, doch langfristig konnten nur Lieferkontrakte über qualitativ höherwertige Eisenerze aus Schweden und Spanien den Bedarf befriedigen.40 In strategischer Perspektive war Reusch davon überzeugt, dass sich aufgrund der verschobenen Marktsituation vor allem Profite im Bereich der Weiterverarbeitung und Verfeinerung erzielen lassen würden und strebte daher den Ausbau dieses Unternehmensbereiches an. Viele ausländische Märkte waren seiner Meinung nach für deutsche Hüttenprodukte auf absehbare Zeit verschlossen. Zugleich erwuchs aus der Abtrennung des Saargebietes und dem Abtransport der dort geförderten Kohle nach Frankreich die Grundvoraussetzung für die Expansion der GHH in Richtung Süddeutschland. Die dort ansässigen weiterverarbeitenden Unternehmen waren bis zu diesem Zeitpunkt vornehmlich mit Saarkohle beliefert worden und hielten nun nach neuen Rohstofflieferanten Ausschau. Der Frachtkostennachteil der im Ruhrgebiet gelegenen Werke verlor vor diesem Hintergrund an Bedeutung.41 Der Expansionsdrang des GHH-Vorstandsvorsitzenden traf somit mit den strukturellen Veränderungen der deutschen Wirtschaft, insbesondere der Schwäche vieler Maschinenbauunternehmen, und den finanziellen Möglichkeiten des von ihm geführten Unternehmens zusammen. Neben den Kriegsgewinnen erhöhte sich der Geldstock bei der GHH durch drei weitere Elemente:42 Erstens hatte die GHH gegenüber dem Reich noch erhebliche Forderungen aufgrund nicht beglichener Rüstungslieferungen offen. Reusch verständigte 40 Büchner, Gutehoffnungshütte (wie Anm. 39), 79–80; Gerald D. Feldman, Iron and Steel in the German Inflation, 1916–1923, Princeton 1977, 203–204; Szymanski, Gutehoffnungshütte (wie Anm. 13), Teil I, 18–29. Die deutschen Unternehmen hatten nach dem Ersten Weltkrieg hohe schwedische Erzschulden, welche sich im März 1919 auf 120 Millionen Mark summierten und 1920 fällig wurden. Die GHH hatte im Juni 1919 rund neun Millionen Kronen schwedische Erzschulden und damit geringere Verpflichtungen als andere deutsche Unternehmen. Vgl. Feldman/Homburg, Industrie (wie Anm. 36), 70–71; Reusch an August Haniel, 12. Juli 1919, in: RWWA, 130-300193000/5. 41 Maschke, Konzern (wie Anm. 15), 130–131. 42 Marx, Leitung (wie Anm. 20), 194–195.

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sich bereits kurz nach Kriegsende mit dem Reichswehrminister auf die Erstattung der gezahlten Arbeitslöhne durch das Reich und verzichtete im Gegenzug auf die Begleichung der sonstigen Material- und Sachkosten. Im Unterschied zu anderen Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie, die auf eine Zahlung sämtlicher Ansprüche bestanden und in der Inflation mit entwertetem Geld entschädigt wurden, erreichte Reusch schon in der ersten Jahreshälfte 1919 eine Vereinbarung mit den staatlichen Stellen, die der GHH eine Zahlung von 80 Mio. Mark einbrachte.43 Dabei verliefen die staatlichen Rüstungsgeschäfte nicht immer konfliktfrei. Im Jahr 1920 leitete das Reichsfinanzministerium eine Untersuchung gegen die GHH ein, da das Unternehmen angeblich unbrauchbare Geschosse und Einzelteile für Minenwerfer und Rohrbremsen in Rechnung gestellt sowie ferner nicht verwendbare Mantelrohre und Geschütze geliefert habe.44 Der GHH gelang es zwar im September 1921, einen Vergleich mit dem Kommissar des Reichsfinanzministeriums für Rechtsangelegenheiten zu schließen, doch musste sie sich zu einer Zahlung von 3.550.000 Mark verpflichten, so dass sich der zur Expansion zur Verfügung stehende Betrag etwas reduzierte.45 Zweitens erhielt die GHH Anfang 1920 vom Reichsfiskus eine erste Entschädigung für den Verlust der Erzgruben in Lothringen in Höhe von 27 Mio. Mark; bis Ende des Jahres erhöhte sich der Vorschuss des Reiches auf 32,2 Mio. Mark.46 Der GHH-Vorstand beschloss, jene Gelder für den Ausbau des Schachts Franz Haniel (14,6 Mio. Mark) und des Rheinhafens (10 Mio. Mark) sowie den Kohlen- und Erzbergbau (8,9 Mio. Mark) zu verwenden und investierte somit zunächst in die Modernisierung der GHH-Stammbetriebe.47 Insgesamt beanspruchte die GHH für ihre in Lothringen gelegenen Grundstücke und Anlagen etwa 41 Mio. Mark; für die Erzfelder in der Normandie beliefen sich ihre Forderungen auf über 135 Mio. Mark und überstiegen damit sogar das nominelle Aktienkapital der Gesellschaft. Bis Mai 1922 erhielt die GHH 100 Mio. Mark sowie 35 Mio. Mark in Reichsschatzanweisungen für ihren ehemaligen Besitz in der Nor43 Johannes Bähr, GHH und M. A. N. in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit (1920–1960), in: ders. u. a. (Hrsg.), Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München 2008, 231–371, 538–569, hier 233; Maschke, Konzern (wie Anm. 15), 71. 44 Untersuchung des Kriegsgewinns des Aktienvereins für Bergbau und Hüttenbetriebe Oberhausen (Gutehoffnungshütte), Bd. 1, 1920-März 1921, in: Bundesarchiv Berlin [künftig BArchB], R2/50235. 45 Untersuchung des Kriegsgewinns des Aktienvereins für Bergbau und Hüttenbetriebe Oberhausen (Gutehoffnungshütte), Bd. 2, März-November 1921, in: BArchB, R2/50236. 46 Bähr, GHH (wie Anm. 43), hier 233; Maschke, Konzern (wie Anm. 15), 71; Deutsche Bank an GHH, 16./24. Januar 1920; Schreiben Hauptbuchhaltung, Hilbert, 24. Dezember 1920, in: RWWA, 130-300070/15. 47 Schreiben Abteilung G, Nefferdorf, 30. Juli 1921, in: RWWA, 130-300070/15. Bis Juli 1921 summierte sich die Entschädigung bereits auf 34,7 Mio. Mark.

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mandie, mit denen zunächst die bei der Erschließung der Felder entstandenen Kosten beglichen wurden. Der Überschussbetrag stand für die Expansion des Unternehmens zur Verfügung.48 Insgesamt zahlte das Deutsche Reich Entschädigungen in Höhe von einer Mrd. Mark für den Verlust an deutschem Besitz in Lothringen.49 Im Jahr 1929 erhielt die GHH schließlich eine Schlussentschädigung für den in der Normandie verloren gegangenen Besitz in Höhe von weiteren 4,4 Mio. Mark, da die Zahlungen hierfür teilweise in der Inflationsphase 1922 geleistet worden waren.50 Drittens wurde der Beschluss gefasst, das Aktienkapital der GHH deutlich zu erhöhen. Bereits im März 1917 hatte eine außerordentliche Generalversammlung das Grundkapital der GHH durch Ausschüttung einer Rücklage um ein Drittel von 30 auf 40 Mio. Mark erhöht.51 Im Februar 1920 erfolgte nochmals eine Verdopplung des Aktienkapitals auf 80 Mio. Mark.52 Reusch zufolge profitierten sowohl das Unternehmen selbst als auch die Aktionäre der Gesellschaft von der Steigerung des Stammkapitals, da die Dividende nicht mehr so hoch ausfallen müsse und infolgedessen weniger Steuern zu entrichten seien.53 Auch wenn die Entschädigungszahlungen für den ehemaligen Besitz in Lothringen und der Normandie teilweise für die Begleichung der dort entstandenen Anlaufkosten und für den inneren Ausbau der GHH genutzt wurden und das Grundkapital teils über Rücklagen aufgestockt wurde, verfügte das Unternehmen aufgrund dieser drei Einnahmequellen sowie der während des Ersten Weltkriegs erzielten Gewinne nach 1918 über beträchtliche Finanzreserven. Die anschließende Expansion der GHH wurde – im Unterschied zu Stinnes – nicht auf der Basis von Krediten betrieben und ebenso nicht in Zeiten einer beschleunigten Geldentwertung vollzogen. Diese Finanzierungspolitik war einerseits typisch für den gegenüber den Banken distanziert eingestellten Reusch, andererseits entsprach sie auch den Prinzipien der Eigentümerfamilie Haniel, die sich nach schlechten Erfahrungen mit den Banken im 19. Jahrhundert auf eine familieninterne Unternehmensfinanzierung verständigt hatte.

48 Aktennotiz, Strässer und Hilbert an Rabes, 5. April 1922, Bl. 168; Rabes an GHH, 18. April/ 18. Mai 1922, in: RWWA, 130-300070/15. 49 Abkommen mit dem Reich wegen Entschädigung Elsaß-Lothringen, 1925, in: RWWA, 130300111/32. 50 Reusch an Karl Haniel, 12. Oktober 1928/15. Februar 1929, in: RWWA, 130-4001012000/2. Vgl. zu den Entschädigungen insgesamt: Dirk Hainbuch, Das Reichsministerium für Wiederaufbau 1919 bis 1924, Frankfurt a. M. 2016. 51 Außerordentliche Generalversammlung, Bd. 1, 31. März 1917, in: RWWA, 3001091/49. 52 Außerordentliche Generalversammlung, 27. Februar 1920, in: RWWA, 3001091/53. 53 Reusch an August Haniel, 14. Januar 1920, in: RWWA, 130-300193000/5; Reusch an Wiskott, 9. Februar 1920, in: RWWA, 130-300193000/9.

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4 Strategische Konsequenzen: Expansion unter Nachkriegsverhältnissen Neben den unmittelbaren Folgen des Versailler Vertrags für die GHH resultierten aus dem Friedensvertrag zugleich längerfristige wirtschaftliche und politische Konsequenzen, welche sich mit säkularen Marktverschiebungen wie dem Aufstieg der USA zur führenden Wirtschaftsmacht oder dem Bedeutungsgewinn bestimmter Branchen überlagerten. Jene Verschiebungen sind aufgrund ihrer Überlappungen nicht immer vollkommen trennscharf voneinander zu differenzieren, zweifelsohne kristallisierten sich für die GHH nach dem Ersten Weltkrieg jedoch neben der Rohstoffversorgung zwei Felder heraus, auf denen Reusch das Unternehmen im Kontext der Nachkriegsverhältnisse langfristig umsteuerte. Erstens ging er von einer anhaltenden Schwächung der deutschen Unternehmen auf den ausländischen Märkten aus und forcierte daher nach 1918 den Ausbau und die Modernisierung der GHH-Handelsorganisation. Zweitens war er infolge des Wegfalls von Exportmärkten und der Beschränkungen im Rahmen der Kartellierung der Ansicht, dass sich in der Weiterverarbeitung und in der Verfeinerung höhere Gewinne erzielen lassen würden. Jene Überlegung koinzidierte mit der – durch die Bestimmungen des Versailler Vertrages mitverursachten – Schwächung des süddeutschen Maschinenbaus, dem durch die Gebietsabtrennungen wichtige Beschaffungs- und Absatzmärkte weggefallen waren.

Reorganisation der Handelsorganisation Mit Blick auf die süddeutschen Märkte wurde innerhalb der Mannheimer Zweigniederlassung der Franz Haniel & Cie. GmbH (FHC), einem Gemeinschaftsunternehmen der GHH und der drei Haniel-Zechen Rheinpreußen, Zollverein und Neumühl, 1919 zunächst die Abteilung Eisenhandel Gutehoffnungshütte gegründet, welche die neuen Absatzchancen nutzen und den direkten Kundenkontakt nach jahrelanger Belieferung durch die Syndikate wieder herstellen sollte. Aus ähnlichen Motiven schuf das von der GHH übernommene Eisenwerk Nürnberg im Sommer 1920 die Fränkische Eisenhandelsgesellschaft. Doch nicht nur in Süddeutschland, auch darüber hinaus wurde das Handelsgeschäft der GHH gestärkt. Im Juli 1921 errichtete die GHH gemeinsam mit der Steffens & Nölle AG die Firma Steffens & Nölle Essen GmbH und übertrug ihr den Alleinverkauf ihrer wichtigsten Eisenerzeugnisse und Schiffsbaumaterialien in Norddeutschland. Damit schuf Reusch eine mehrgliedrige Absatzorganisation für

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den Eisenhandel, die den gesamten deutschen Markt abdeckte und besonders die Position der GHH in Süddeutschland stärkte.54 Allerdings waren damit die Probleme auf den Auslandsmärkten noch nicht beseitigt. Im März 1919 legte Hans Spannagel, der vor dem Ersten Weltkrieg die Generalvertretung der GHH in London innehatte, ein Memorandum vor, in dem er die wirtschaftlichen Nachkriegsbedingungen für deutsche Unternehmen im Ausland nachzeichnete und die Errichtung einer ausländischen Handelsgesellschaft vorschlug.55 Es würde eine krankhafte Selbsttäuschung sein, wenn man nach den schmachvollen Waffenstillstandsbedingungen an eine glatte und baldige Wiederbelebung unserer heimischen Schwerindustrie glauben wollte. Nicht genug mit den bevorstehenden weiteren Erschwerungen durch die Friedensverhandlungen, droht die deutsche Arbeiterschaft resp. eine politisch verblendete Kaste, die deutsche Wirtschaft durch wahnsinnige Forderungen in den Abgrund zu stürzen. Nach der Ernüchterung wird der Wille zur Arbeit allein nicht genügen. […] Wer kennt nicht aus der Tagespresse die Forderungen und Ziele unserer Gegner; es heisst der deutschen Industrie und dem Handel das Grab zu graben. Doch einen lebenden Körper kann man nicht begraben. Unsere Pflicht bleibt es, jedem Vernichtungsstoss auszuweichen. Während des Krieges nahm man uns unsere Auslandsmärkte; in Südamerika die Amerikaner, in Ostasien die Japaner, in Afrika die Engländer, im Balkan und Kleinasien reissen sich die Engländer, Franzosen und Italiener darum und in den Kolonien unserer Feinde wird die Einfuhr deutscher Erzeugnisse leicht zu hemmen sein. […] Worin können die Heilmittel gesucht werden? Viele der grossen deutschen Unternehmungen haben ihren Werken schon getrennte Einund Verkaufsgesellschaften angegliedert, doch vorwiegend beschränkte sich ihre Tätigkeit auf das Inland. Diejenigen Gesellschaften, welche über eine solche Organisation noch nicht verfügen […] sollten unverzüglich, selbst heute schon vor Friedensschluss, nach dieser Richtung hin Vorbereitungen treffen. […] Vor allen Dingen müsste eine Ein- und Verkaufsorganisation dieser Art sofort auf das neutrale Ausland und später auf die Erzeugungsländer selbst ausgedehnt werden. […] Das Ganze wäre gedacht gewissermassen als Sprungbrett für die Wiederanbahnung internationaler Handelsbeziehungen im Interesse der deutschen Wirtschaft.56

Reusch schloss sich diesem Urteil grundsätzlich an und konzentrierte sich im Folgenden auf den Ausbau einer Handelsorganisation in den Niederlanden, zumal hier bereits langjährige Geschäftsbeziehungen zur niederländischen Handelsfirma Wm. H. Müller & Co. bestanden. Anfang 1920 übernahm die GHH zu-

54 Marx, Leitung (wie Anm. 20), 172–173; vgl. zu FHC: ebd., 77–79. 55 Franz Haniel an Reusch, 30. Mai 1919; Reusch an Franz Haniel, 31. Mai 1919, in: RWWA, 130-300193000/2. 56 N. V. Rollo, Denkschrift Spannagel, 1. März 1919, in: RWWA, 130-308/39.

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nächst die Mehrheit an der niederländischen Aktiengesellschaft N. V. Goederentransport Maatschappij Rollo in Dordrecht, der der Auslandsabsatz der Walzwerk- und Drahtverfeinerungsware der GHH übertragen wurde. Zwar verkleinerte sich die von der N. V. Rollo angebotene Produktpalette bald, da die GHH noch weitere ausländische Handelsunternehmen erwarb und der Einfluss der Verkaufsverbände in der deutschen Eisen- und Stahlindustrie wieder an Bedeutung gewann, dennoch fungierte das Unternehmen als wichtiges Einfallstor der GHH in den Niederlanden. So ergab sich über die N. V. Rollo der Kontakt zu einem weiteren niederländischen Unternehmen, das Schmalspurbahnen produzierte und im Handel aktiv war: N. V. J. C. Goudriaan’s Industrie en Export Maatschappij in Delft. Reusch versprach sich von einem Einstieg nicht nur die Möglichkeit zur Belieferung von Goudriaan mit leichten Schienen, sondern insbesondere die Ausweitung des internationalen Vertriebs von GHH-Produkten, und erwarb im September 1920 die Hälfte des Aktienkapitals. Doch erfüllte das Unternehmen nicht die mit ihm verbundenen Erwartungen, sodass Reusch schon bald alternative Übernahmeoptionen sondierte.57 Hierbei fiel sein Augenmerk auf die niederländische Handelsgesellschaft N. V. Algemeene Ijzer- en Staal-Maatschappij Ferrostaal in Den Haag, welche 1920 aus einem Konsortium zwischen der Frankfurter Metallgesellschaft, der Wm. H. Müller & Co., der AG für In- und Auslandsunternehmungen sowie mehreren Banken hervorgegangen war, um das beim Heer noch vorhandene Feldbahnmaterial und andere Militärgüter zu verwerten. Da die Teilhaber das Unternehmen auch nach der Veräußerung der Kriegsvorräte nicht abwickeln wollten, waren sie an einem dauerhaft leistungsfähigen Lieferanten aus der Schwerindustrie interessiert. Nach einigen Verhandlungen erhielt die GHH daraufhin im Juni 1921 ein größeres Paket von Stamm- und Vorzugsaktien. Anschließend grenzte Reusch die Verkaufsgebiete der drei Auslandsgesellschaften voneinander ab und konzentrierte das Auslandsgeschäft bei der N. V. Ferrostaal, die in den folgenden Jahren zu einer internationalen Handelsgesellschaft des GHHKonzerns avancierte.58 Allerdings war die N. V. Ferrostaal durch eine strukturelle Schwäche gekennzeichnet: Sie verfügte über keine zentrale Verwaltung, vielmehr teilten sich die Wm. H. Müller & Co. und die Metallgesellschaft die Geschäftsführung; Letztere gründete hierfür eigens im November 1921 die Ferrostaal GmbH mit Sitz in Berlin. Reusch nutzte diese missliche Lage, um den Einfluss der GHH sukzessive zu steigern. Als die Metallgesellschaft nach wenigen Jahren immer weniger Interesse an der Entwicklung der Gesellschaft zeigte und ihre Ferrostaal-Aktien 57 Marx, Leitung (wie Anm. 20), 173–174. 58 Ebd., 174–175.

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gleichmäßig an Wm. H. Müller & Co. und die GHH veräußerte, übernahm Reusch auch die deutsche Ferrostaal GmbH. Schließlich wurde das gesamte Handelsgeschäft der GHH Mitte der 1920er Jahre restrukturiert, indem die Goudriaan 1925 liquidiert und das gesamte Warengeschäft auf die Ferrostaal GmbH übertragen wurde; ferner zog sich die Wm. H. Müller & Co. gleichfalls aus der N. V. Ferrostaal zurück. Die Ferrostaal GmbH verlegte ihren Gesellschaftssitz daraufhin im März 1926 nach Essen und entwickelte sich zu einer bedeutenden Tochtergesellschaft für das Auslandsgeschäft der GHH.59 Trotz der finanziellen Probleme der N. V. Ferrostaal Mitte der 20er Jahre, welche die Reorganisation letztlich auch erforderlich gemacht hatte, trug das Unternehmen zweifellos zur Wiederankurbelung des Auslandsgeschäfts bei. Im Vergleich zur deutschen Chemieindustrie, die vor dem Ersten Weltkrieg eine führende Stellung auf dem Weltmarkt hatte, war die deutsche Montanindustrie stärker auf den Inlandsmarkt ausgerichtet, dennoch exportierten auch deutsche Eisen- und Stahlunternehmen beträchtliche Mengen ins Ausland – und dies galt in besonderer Weise für die GHH mit ihrer Weiterverarbeitung und ihrem Brückenbau. Bis zum Geschäftsjahr 1925/26 stieg der ausländische Warenumschlag des Stammunternehmens, der GHH Oberhausen AG, wieder auf 31,6 Prozent und überstieg 1930/31 sogar die 40-Prozent-Marke; bei den Handels- und Vertriebsgesellschaften der GHH lag jener Wert zwischen 1926 und 1931 ständig über 40 Prozent.60 Nachfragerückgänge im Inland konnten durch den Export zwar nicht vollständig kompensiert, aber zumindest in größerem Umfang ausgeglichen werden. Darüber hinaus verweisen jene Exportzahlen auf die partiell erfolgreiche Rückkehr deutscher Unternehmen auf den Weltmarkt, vor allem wenn sie Spezialwaren wie beispielsweise ingenieurtechnisch anspruchsvolle Brückenbaukonstruktionen herstellten. Auch wenn die Einschätzung von Hans Spannagel, wonach deutsche Unternehmen infolge des Ersten Weltkriegs enorme Marktanteile im Ausland verloren hatten, nicht falsch war, unterschätzte sie gewissermaßen das ökonomische Potenzial deutscher Unternehmen und die Nachfrage nach bestimmten Gütern im Ausland.61

59 Ebd., 176, 233–237. 60 Ebd., 238. 61 Neben kriegsbedingten Überkapazitäten verschärfte sich nach 1918 die Konkurrenz auf dem Inlandsmarkt, da Deutschland nach Teil X des Friedensvertrags fünf Jahre keine Zölle auf alliierte Importe erheben durfte und den Alliierten zudem den Status von Meistbegünstigten einräumen musste. Vgl. Friedensvertrag von Versailles, 28. Juni 1919, http://www.docu mentarchiv.de/index.html [letzter Zugriff 31.03.2020]; Leonhard, Frieden (wie Anm. 3), 801– 802.

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Expansion in die Weiterverarbeitung Der Aus- und Umbau der Handelsorganisation war ohne Zweifel ein bedeutender Schritt, um den durch den Ersten Weltkrieg verursachten ökonomischen Verwerfungen auf Unternehmensebene zu begegnen, noch folgenreicher war jedoch die Entscheidung, das Unternehmen strategisch stärker in der Weiterverarbeitung zu positionieren. Bereits vor 1914 sah Reusch angesichts der zahlreichen Kartellierungsregelungen größere Gewinnmöglichkeiten in nachgelagerten Produktionsstufen. In diesem Zusammenhang integrierte die GHH bereits 1912 das übernommene Drahtwerk Boecker & Comp. in Gelsenkirchen in ihre Werksstruktur. Parallel verhandelte Reusch mit den Gesellschaftern der im Sauerland gelegenen Altenhundemer Walz- und Hammerwerk GmbH, die durch eine Anlehnung an die GHH ihre Rohstofflieferungen sichern und ihre Einkaufskosten senken wollten. Aus der Perspektive der GHH war die Kooperation ähnlich wie im Fall des Drahtwerks Boecker gelagert: Reusch wollte durch die Hinzufügung einer nachgelagerten Produktionsstufe abermals den Eigenverbrauch erhöhen. Als sich am Ende des Ersten Weltkriegs die Versorgungsprobleme der weiterverarbeitenden Industrie verschärften, veräußerten die Eigentümer ihr Walz- und Hammerwerk Ende April 1918 an die GHH.62 Auch bei der Übernahme der Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk AG (OKD) ging die Initiative von dem übernommenen Unternehmen aus. Am 1. November 1914 einigten sich beide Parteien zunächst auf einen für beide Seiten bindenden Liefervertrag über jährlich 18.000t Rohwalzdraht. Das Abkommen wie auch die Motive ähnelten damit den Absprachen, die zuvor mit Boecker & Comp. und dem Altenhundemer Walzwerk getroffen worden waren, denn auch hier waren den Übernahmen mehrjährige Lieferverträge vorausgegangen. Die endgültige Angliederung der OKD erfolgte erst nach dem Ersten Weltkrieg, als das Unternehmen nicht nur unter einem akuten Rohstoffmangel litt, sondern darüber hinaus in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, weshalb die Eigentümer die GHH baten, sich am Aktienkapital der OKD zu beteiligen. Hier zeigte sich die Schwäche vieler deutscher Maschinenbauer in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die sich die GHH in den folgenden Jahren mehrmals zunutze machte. Im Jahr 1919 übernahm sie zunächst neue OKD-Aktien im Wert von drei Mio. Mark und erhöhte ihren Anteil Anfang 1920 durch Zukäufe auf dem freien Markt auf 55 Prozent des Aktienkapitals.63 Die mit der GHH zunächst vertraglich verbundenen Unternehmen konnten einerseits ihre Kosten durch die langfristigen Lieferabkommen senken, zum an62 Marx, Leitung (wie Anm. 20), 79–84. 63 Ebd., 85–86.

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deren war die gleichbleibende Qualität der Halb- und Zwischenprodukte ein entscheidender Faktor. Auf diese Weise konnten sie ihre Such- und Informationskosten auf dem freien Markt reduzieren. Umgekehrt erhöhte die GHH mit der Integration der Fremdfirmen ihren Eigenverbrauch und umging damit teilweise die geltenden Kartellbeschränkungen. Im Unterschied zum Drahtwerk Boecker und zum Altenhundemer Walzwerk behielt die OKD nach der Übernahme ihre rechtliche Eigenständigkeit und diente damit als Blaupause für weitere, bald folgende Akquisitionen. Die OKD-Übernahme stellt somit in gewisser Weise den Übergang zur Nachkriegsexpansion der GHH dar. Dabei bemühte sich Reusch durchweg um die Mehrheitsrechte qua Aktienkapital. Den Anfang machte am Ende des Krieges die Deutsche Werft. Die Angliederung von Werften durch die Ruhrindustrie war keineswegs ungewöhnlich; so hatte Krupp 1902 die Germaniawerft in Kiel übernommen, und ab 1919 beteiligte sich auch Thyssen an der Großwerft Bremer Vulkan AG.64 Reusch informierte sich seit 1916 intensiv über die Geschäftsmöglichkeiten im Schiffbau und wandte sich Anfang März 1918 an den Aufsichtsratsvorsitzenden der 1916 durch HAPAG und AEG gegründeten Hamburger Werft, Albert Ballin, um mit ihm eine Beteiligung der GHH zu sondieren. Nicht zuletzt das Gesetz über die Wiederherstellung der Handelsflotte vom 7. November 1917, welches Beihilfen für die Ersatzbeschaffung von Schiffen und Inventar gewährte, sofern das Schiff nach dem 31. Juli 1914 durch Maßnahmen ausländischer Regierungen oder kriegerische Ereignisse verloren gegangen oder beschädigt worden war, bestärkte Reusch darin, die GHH in den Schiffbau zu führen.65 Die GHH sollte von dieser staatlichen Konjunkturspritze profitieren und ihr bisheriges Produktionsprogramm auf Eisenteile für den Schiffbau erweitern, um die im Krieg entstandenen Kapazitäten besser auszulasten. Vor diesem Hintergrund wurde am 6. Juni 1918 die Deutsche Werft AG in Hamburg mit einem Aktienkapital von zehn Mio. Mark durch die HAPAG (10 Prozent), die GHH (51 Prozent) und die AEG (39 Prozent) gegründet, welcher anschließend die Betriebseinrichtungen und das Kapital der Hamburger Werft übertragen wurden. Noch 1918 übernahm die neue Werft seitens des Marineamts Aufträge zur Reparatur von U-Booten, doch grundsätzlich war das Gemeinschaftsunternehmen auf den Bau von Handels-

64 Boris Gehlen, Internationalisierungsfaktor maritime Wirtschaft? Reedereien, Handelsgesellschaften und Werften der Thyssen-Bornemisza-Gruppe 1906/26 bis 1971, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 2 (2020), 161–195; Tenfelde, Unternehmensgeschichte (wie Anm. 31), 22; Harald Wixforth, Kooperation und Kontrolle im Schiffsbau. August Thyssen und der Bremer Vulkan, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2 (2014), 154–179. 65 Gesetz über die Wiederherstellung der Handelsflotte vom 7. November 1917, in: Reichs-Gesetzblatt 1917, Nr. 201/6132, ausgegeben am 13.11.1917, 1025–1035.

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schiffen ausgerichtet.66 Neben den Kriegsverlusten und den Beschlagnahmungen während des Krieges kam mit dem Versailler Vertrag die Auslieferung großer Teile der deutschen Handelsflotte hinzu: Anlage III im Abschnitt „Wiedergutmachungen“ (Teil VIII) bestimmte, dass die deutsche Regierung den Alliierten alle Handelsschiffe von mehr als 1.600 Bruttotonnen, ferner die Hälfte des Tonnengehalts der Schiffe, deren Bruttotonnengehalt zwischen 1.000 und 1.600 Tonnen betrug, sowie ein Viertel des Tonnengehalts der Fischdampfer und anderen Fischereifahrzeuge übereignete. Dies umfasste 90 Prozent der Handelsflotte und ein Viertel der Fischfangflotte, was insbesondere den globalen Handelsinteressen der USA und Großbritanniens entgegenkam.67 Obschon die Ausgangslage für die Deutsche Werft somit günstig schien, war das Tochterunternehmen kein wirtschaftlicher Selbstläufer, vielmehr rutschte sie 1924/25 sogar zeitweise in die Verlustzone; dennoch schuf Reusch mit ihrer Gründung langfristig einen stabilen Absatz für die Oberhausener Stammbetriebe.68 Auch die Beteiligung an den Schwäbischen Hüttenwerken (SHW) war in weiten Teilen auf den Versailler Vertrag und die Folgen des Ersten Weltkrieges zurückzuführen; gleichzeitig spiegelten sich hier gewisse persönliche Verbindungen wider. Nach dem Verlust der Erzfelder in der Normandie und in Lothringen, musste der aus Schwaben stammende Reusch der GHH eine neue solide Erzbasis verschaffen. Jene strukturellen Schwierigkeiten koinzidierten mit den wirtschaftspolitischen Zielen des württembergischen Staates, der seine königlichen Hüttenwerke privatisieren wollte. Im Jahr 1920 unterzeichneten die GHH und die württembergischen Staatshüttenwerke, bei denen Reuschs Vater als Hüttenverwalter beschäftigt gewesen war, daher einen Liefervertrag. Seit Beginn des Jahres 1921 wurden dann die Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit austariert. Dabei machte die württembergische Regierung die Übernahme der zugehörigen Hüttenwerke zur Voraussetzung für die Übertragung der Erzrechte, an denen die GHH vornehmlich interessiert war. Letztlich stimmte die GHH dieser Bedingung zu. Die Gründung der Schwäbischen Hüttenwerke

66 Wolfram Claviez, Die Deutsche Werft 1918–1960. Gründung und erste Jahrzehnte der Entwicklung, Hamburg 1961, 2–31; Marx, Leitung (wie Anm. 20), 127–132. 67 Friedensvertrag von Versailles, 28. Juni 1919, http://www.documentarchiv.de/index.html [letzter Zugriff: 31.3.2020]; Büttner, Weimar (wie Anm. 4), 125; Leonhard, Frieden (wie Anm. 3), 801–802; vgl. hierzu auch Hainbuch, Reichsministerium für Wiederaufbau (wie Anm. 50). Die deutsche Kriegsflotte musste nach den „Bestimmungen über die Seemacht“ (Artikel 181– 197 des Versailler Vertrages) mit Ausnahme von sechs Schlachtschiffen, sechs kleinen Kreuzern, zwölf Zerstörern und zwölf Torpedobooten (oder eine gleiche Anzahl von Ersatzschiffen) in Reserve gestellt oder Handelszwecken dienstbar gemacht werden; der Betrieb von Unterwasserfahrzeugen war untersagt. 68 Marx, Leitung (wie Anm. 20), 132.

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GmbH im Mai 1921 – als Joint Venture von GHH und württembergischem Staat – war somit ein beidseitiger Kompromiss. Im Juni 1921 schloss das neue Unternehmen einen Pachtvertrag mit Württemberg ab, durch den es die Hüttenwerke wie auch die Eisenerzfelder bis zum 31. März 1951 übernahm. Damit sicherte sich die GHH die Rechte für die württembergischen Erzlagerstätten und verbreiterte ihre Rohstoffbasis umfänglich. Umgekehrt verpflichtete sie sich, den Hüttenwerken während der Dauer des Pachtvertrages hinreichend Kohle zur Verfügung zu stellen, gleichwohl konnte der Gesamtbedarf der GHH an Erzen hierdurch nicht befriedigt werden, so dass sie weiterhin auf ausländische Lieferungen angewiesen blieb.69 Neben der Integration der ebenfalls im Besitz der Eigentümerfamilie Haniel befindlichen Düsseldorfer Firma Haniel & Lueg (1919) und der Nietenfabrik Ludwig Möhling in Schwerte (1920–1924)70 bestimmten in den folgenden Jahren gleich mehrere Großakquisitionen – wie die der Eisenwerk Nürnberg AG vormals J. Tafel & Co. – in Süddeutschland die Unternehmensentwicklung. Da die bisherigen böhmischen Kohlelieferanten infolge der neuen europäischen Grenzziehungen ausgefallen waren, stand der süddeutsche Betrieb vor erheblichen Versorgungsproblemen. Zwar ging bis Ende 1921 noch die Hälfte des tschechoslowakischen Außenhandels in die ehemaligen Habsburger Staaten und auch in den folgenden Jahren blieben Teile der Wirtschafts- und Außenhandelsstrukturen der Nachfolgestaaten noch intakt, doch gleichzeitig zerbrachen viele traditionelle Wirtschaftsverbindungen – auch nach Deutschland. Dies hing insbesondere mit zahlreichen staatlichen Reglementierungen im Außenhandel zusammen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit erlassen worden waren.71 Nachdem die GHH im Juni 1919 zugesichert hatte, dass die M. A. N. auch nach 69 Uwe Fliegauf, Die Schwäbischen Hüttenwerke zwischen Staats- und Privatwirtschaft. Zur Geschichte der Eisenverarbeitung in Württemberg (1803–1945), Ostfildern 2007, 248–270; Marx, Leitung (wie Anm. 20), 132–135. 70 Marx, Leitung (wie Anm. 20), 137–140. 71 Weder waren die Nachfolgestaaten in der Lage, die Rolle als Agrar- und Rohstofflieferant für die Tschechoslowakei zu übernehmen, noch avancierten sie in ausreichendem Maße zu Abnehmern tschechoslowakischer Exportprodukte, weshalb die tschechoslowakischen Unternehmen gezwungen waren, sich weltweit neue Handelspartner zu suchen. Langfristig sank dabei der relative Anteil Deutschlands und der Habsburger Staaten im tschechoslowakischen Außenhandel bis in die 1930er Jahre deutlich ab, auch wenn das Deutsche Reich der führende Handelspartner blieb. Innerhalb der Gruppe der Nachfolgestaaten galt die Tschechoslowakei als fortschrittliches Industrieland, allerdings exportierte sie auch viele landwirtschaftliche Produkte und importierte neben Rohstoffen insbesondere Maschinen, Geräte und Chemieprodukte aus westlichen Ländern. Auf diese Weise entstand sowohl zu den westlichen Staaten als auch zu Agrarwirtschaften der mittel- und südosteuropäischen Länder ein Ungleichgewicht in den Außenhandelsbeziehungen. Vgl. Jiří Kosta, Die tschechische/tschechoslowakische Wirtschaft im

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einer Angliederung des Eisenwerks Nürnberg an die GHH weiterhin von diesem beliefert würde, wenn sich die M. A. N. umgekehrt zur Fortsetzung der Auftragsvergabe an das Eisenwerk verpflichtete, verständigten sich beide Seiten auf eine Übernahme durch die GHH. Daraufhin übernahm die GHH Anfang Juli 1919 umgehend die Belieferung des Eisenwerks Nürnberg mit Kohle, das zwischenzeitlich nur noch einen Vorrat für zwei Tage hatte.72 Damit gaben erneut durch den Friedensschluss bedingte Versorgungsfragen den Ausschlag. Zugleich avancierte das Nürnberger Unternehmen für die GHH zum Sprungbrett nach Süddeutschland, denn sein Vorstandsvorsitzender Lambert Jessen entwickelte sich dort zur zentralen Verbindungsperson Reuschs.73 Eine ähnliche Motivlage lässt sich für die Maschinenfabrik Esslingen AG (MFE) ausmachen, in der sich die durch den Ersten Weltkrieg verursachten strukturellen Schwierigkeiten des süddeutschen Maschinenbaus exemplarisch widerspiegelten. Das Unternehmen hatte gleichfalls Probleme bei der Beschaffung notwendiger Rohstoffe und verzeichnete einen steigenden Kapitalbedarf infolge erhöhter Rohstoffpreise, so dass die Verschuldung immer weiter anstieg. Auch eine Kapitalerhöhung im Dezember 1919 brachte keine dauerhafte Erholung. Vor diesem Hintergrund wuchs bei der MFE das Bedürfnis, mit einem finanzstarken Rohstofflieferanten zu kooperieren. Auch sie trat an die GHH heran, welche im Sommer 1920 zunächst fünfzig Prozent des Aktienkapitals übernahm und sich dann über weitere Aktienkäufe auf dem freien Markt die Kapitalmehrheit verschaffte.74 Schließlich gelang Reusch mit der schrittweisen Übernahme des großen süddeutschen Maschinenbauers Maschinenfabrik-Augsburg-Nürnberg (M. A. N.) 1920/21 ein Coup in der deutschen Unternehmensgeschichte. Der Wegfall der Zulieferer aus der Saarregion und Lothringen verursachte nach 1918 im Zusammenspiel mit der großen Entfernung zum Ruhrgebiet bei der M. A. N. einen mehrfachen Wandel, Münster 2005, 33–54; Alice Teichova, Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei 1918–1980, Wien 1988, 50–56. 72 Reusch an Romeiser, 28. Juli 1919, in: RWWA, 130-300193004/7; Reusch an Jessen, 1. Juli 1919, in: RWWA, 130-300193017/1. 73 Marx, Leitung (wie Anm. 20), 140–142; Besprechung und Vereinbarung zwischen Reusch und Tafel, 2. Juni 1919; Reusch an Eisenwerk Nürnberg, 13. Juni 1919; Jessen an M. A. N., 17. Juni 1919, in: RWWA, 130-300193017/1. 74 Vereinbarung zwischen der GHH (Reusch) und der MFE (Trick/Kessler), 2. Juli 1920; Protokoll Nr. 170 über die Aufsichtsratssitzung der MFE, 12. Juli 1920, in: Daimler AG, Mercedes-Benz Archives & Collection, Stuttgart [künftig DAG-MB-AC] II/53; (GHH-MFE: Zusammenarbeitsvertrag – Aktienübernahme): Bericht über Besprechung mit Herrn Kommerzienrat Dr. Paul Reusch auf unserem Werk in Mettingen, 27. Mai 1920, in: DAG-MB-AC Akte ohne Nummer; Dieter Lindenlaub, Maschinenbauunternehmen in der deutschen Inflation 1919–1923, Berlin 1985; Marx, Leitung (wie Anm. 20), 143–148.

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enormen Frachtkostennachteil gegenüber ihren Konkurrenten. Gleichzeitig verfügte sie nicht mehr über eine ausreichend hohe Kapitaldecke, um selbst Unternehmenszukäufe zu tätigen und sich aus eigener Kraft aus jener ungünstigen Lage zu befreien – wie dies vor 1914 einmal angedacht worden war. Vielmehr stand das süddeutsche Unternehmen nach dem Ersten Weltkrieg vor erheblichen finanziellen Schwierigkeiten, die durch die hohen Rohstoffpreise und das Ausfallen der Heeresaufträge nochmals verschärft wurden. Auch eine nochmalige Erhöhung des Stammkapitals 1919 und die Ausgabe neuer Teilschuldverschreibungen brachten nur eine kurze Entlastung. Die M. A. N. hatte 1920 Bankschulden von rund 100 Mio. Mark und weitere 50 Mio. Mark Warenschulden. Vor diesem Hintergrund beschloss eine außerordentliche Generalversammlung am 5. August 1920, das Aktienkapital um 46 Mio. auf 100 Mio. Mark zu erhöhen und ferner eine weitere fünfprozentige Teilschuldverschreibung in Höhe von 50 Mio. Mark aufzunehmen.75 Der M. A. N.-Vorstand war grundsätzlich an einer Zusammenarbeit mit einem finanzstarken Großunternehmen aus der Eisen- und Stahlindustrie interessiert, allerdings strebten die Vorstellungen innerhalb des Managements auseinander. Während der M. A. N.-Vorstandsvorsitzende Anton von Rieppel eine Interessengemeinschaft mit Stinnes favorisierte, stellten sich die Mehrheit des Leitungsgremiums und letztlich auch mehrere Eigentümer auf die Seite Reuschs und übertrugen der GHH Ende 1920 eine Minderheitsbeteiligung von etwa einem Drittel des Aktienkapitals.76 Über den Kauf zusätzlicher Aktien auf dem freien Markt stieg der GHH-Anteil bis Juni 1921 auf 41,5 Prozent und übertraf im Juli 1921 schließlich die 50-Prozent-Marke. Eine Mehrheitsbeteiligung der GHH entsprach keineswegs der Intention aller M. A. N.-Aktionäre und so ergaben sich während und besonders nach der Übernahme zahlreiche Konflikte, dennoch blieb die M. A. N. von diesem Zeitpunkt an dauerhaft ein Teil der GHH.77 Die Angliederung der M. A. N. bildete zweifelsfrei den Höhepunkt, aber noch nicht das Ende der Nachkriegsexpansion. Zum einen wurden mit der Übernahme der M. A. N. auch deren Tochtergesellschaften an die GHH gebunden, zum anderen hatten das Eisenwerk Nürnberg und die M. A. N. noch zu einer Reihe mittelgroßer Betriebe in Süddeutschland Kontakt, die nun ins Blickfeld der 75 Bähr, GHH (wie Anm. 43), 240; Lindenlaub, Maschinenbauunternehmen (wie Anm. 74), 24– 120, 224–236; Marx, Leitung (wie Anm. 20), 148–149. 76 Reusch an Winkler, 22. Dezember 1920, in: Historisches Archiv MAN, MAN-HA A 1.1.6/2; Cramer-Klett an Reusch, 5. Januar 1921, Reusch an Cramer-Klett, 30. Juni 1921, in: RWWA, 130300193010/16. 77 Bähr, GHH (wie Anm. 43), 240–247; Langer, Ruhrbaron (wie Anm. 38), 252–256; Marx, Leitung (wie Anm. 20), 149–163; Briefwechsel Jessen-Reusch, März-Juni 1921, in: RWWA, 130300193017/3.

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GHH gerieten. Bereits während der Verhandlungen mit der M. A. N. hatte Reusch den Kontakt zur Fritz Neumeyer AG in Nürnberg hergestellt, deren Lage ebenfalls durch Versorgungsprobleme und Finanznöte gekennzeichnet war. Nachdem sich der Firmengründer Fritz Neumeyer im Oktober 1920 an den Direktor des Nürnberger Eisenwerks Lambert Jessen gewandt hatte, schloss auch dieses Familienunternehmen im Februar 1921 mit der GHH einen Anbindungsvertrag ab. Es folgten aus einer ähnlichen Motivlage heraus der Erwerb der L. A. Riedinger Maschinen- und Bronzewaren-Fabrik AG in Augsburg (1920/21), der Zahnräderfabrik Augsburg AG vormals Joh. Renk (1923) sowie der Deggendorfer Werft und Eisenbau GmbH (1923).78

Aufbau der Konzernorganisation und Gründung der Holding Die Angliederung einer Vielzahl neuer Tochterunternehmen erhöhte den internen Absprachebedarf und machte schon bald erste Versuche zur systematischen Aufteilung der Produktionsfelder notwendig. Vor diesem Hintergrund entstand im März 1921 eine sogenannte „Konzernstelle“, die den Erfahrungsaustausch zwischen den Betriebsteilen effizienter gestalten sollte.79 Die interne Koordinierung erhielt dadurch eine neue organisatorische Grundlage. An die Stelle der Einzelbesprechungen traten nun regelmäßige „Konzernsitzungen“, auf denen die Vertreter aller Produktionsunternehmen ihre Fabrikationsgebiete voneinander abgrenzten. Bei Preis- und Qualitätsgleichheit sollten die Werke ihre Produkte fortan innerhalb des Konzerns bestellen.80 Mit der Errichtung einer Konzernstelle und der Implementierung von Konzernsitzungen waren bereits zwei zentrale Merkmale einer modernen Unternehmensorganisation etabliert, doch fehlte der GHH weiterhin eine übergeordnete Konzernorganisation.81 Nachdem sich die Alliierten im Januar 1921 auf die Höhe und die Laufzeit der von Deutschland zu zahlenden Reparationen geeinigt hatten, der Vorschlag jedoch von der deutschen Regierung abgelehnt worden war, besetzten alliierte Truppen am 8. März 1921 Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort und übernahmen die Zollverwaltung im besetzten Gebiet durch die Internationale RheinlandKommission. Schließlich wurde dem Deutschen Reich im Mai 1921 ein in Lon-

78 Marx, Leitung (wie Anm. 20), 163–172. 79 Ebd., 178. 80 James, Familienunternehmen (wie Anm. 6), 209; Bericht über die 6. Konzernsitzung in Oberhausen, 28. November 1922, in: RWWA, 130-308/27. 81 Marx, Leitung (wie Anm. 20), 177–181.

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don ausgehandelter Gesamtbetrag der Reparationen in Höhe von 132 Mrd. Mark übermittelt.82 Die Besetzung der drei Städte festigte bei Reusch die Überzeugung, dass Frankreich in Wirklichkeit an den Kohlenbeständen des Ruhrgebiets interessiert sei.83 Damit sah er zugleich den Bestand des Unternehmens – im Fall einer möglichen Besetzung oder Beschlagnahmung – gefährdet und regte daher eine Verlegung des Gesellschaftssitzes an. Noch während der Besetzung der drei Städte erfolgte deshalb am 27. Mai 1921 eine außerordentliche Generalversammlung in Hamburg, die dazu übereinkam, den Sitz des Unternehmens nach Nürnberg zu verlegen und eine Zweigniederlassung in Oberhausen einzurichten, falls ein Einmarsch der Franzosen ins Ruhrgebiet abzusehen sei.84 Nachdem die Reparationskommission im Dezember 1922 festgestellt hatte, dass das Deutsche Reich mit den Reparationslieferungen im Rückstand war, spitzte sich der internationale Konflikt zu. Am 9. Januar 1923 behauptete die Kommission, das Deutsche Reich halte absichtlich Lieferungen zurück. Dies nahm Frankreich zum Anlass, ins Ruhrgebiet einzumarschieren, woraufhin Reusch umgehend den Abtransport des wichtigsten Aktenmaterials nach Nürnberg veranlasste.85 Anschließend wurde der im Mai 1921 gefasste Unternehmensbeschluss umgesetzt und der Sitz der GHH nach Nürnberg verlegt. Darüber hinaus wurden sämtliche ausländischen GHH-Beteiligungen im Juli 1923 auf die niederländische N. V. Rollo übertragen, die fortan als ausländische Holding der Muttergesellschaft fungierte.86 Der Einmarsch französischer und belgischer Truppen ins Ruhrgebiet im Januar 1923 sowie die sich beschleunigende Inflation führten auch bei der GHH zu massiven Problemen. Jener Erfahrungshintergrund und Reuschs Ressentiments gegenüber Frankreich erklären, warum er sich zu einem der prominentesten Befürworter des passiven Widerstands entwickelte. Gleichzeitig bemühte sich der GHH-Vorstand – nach der Verlegung des Gesellschaftssitzes – um eine noch weitergehende Änderung der Gesellschaftsstruktur, um die in den unbesetzten Gebieten gelegenen Unternehmensteile vor einer französischen Einfluss82 Büttner, Weimar (wie Anm. 4), 153–158; Leonhard, Frieden (wie Anm. 3), 808; Hans Mommsen, Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar 1918–1933, Berlin ²2004, 148; Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, 146–147. 83 Reusch an August Haniel, 6. August 1922, in: RWWA, 130-300193000/5. 84 Außerordentliche Generalversammlung, 27. Mai 1921, in: RWWA, 130-3001091/56; Gründung der Gutehoffnungshütte Oberhausen Aktiengesellschaft (Bardtholdt-Kopie), 1923, in: RWWA, 130-300193002/5. 85 Büttner, Weimar (wie Anm. 4), 164–165; Leonhard, Frieden (wie Anm. 3), 1233; Mommsen, Aufstieg (wie Anm. 82), 169–170; Wehler, Gesellschaftsgeschichte 1914–1949 (wie Anm. 37), 405–406; Winkler, Weimar (wie Anm. 82), 186–189. 86 Langer, Ruhrbaron (wie Anm. 38), 305–308; Marx, Leitung (wie Anm. 20), 181–183.

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nahme zu sichern. Hierfür wurden ab September Maßnahmen zur Loslösung der in Oberhausen und Umgebung produzierenden Werke und Zechen vorbereitet.87 Konkret beschloss der Geschäftsausschuss der GHH am 9. November 1923 in Osnabrück die „Gutehoffnungshütte Oberhausen AG“ als Tochtergesellschaft der bisher bestehenden, nach Nürnberg verlegten „Gutehoffnungshütte, Aktienverein für Bergbau und Hüttenbetrieb“ zu gründen. Der GHH Oberhausen AG wurden sämtliche im besetzten Gebiet liegenden Zechen und produzierenden Werke des GHH Aktienvereins übertragen, der nun – aus sicherer Entfernung zum Ruhrgebiet – als Holding der GHH Oberhausen AG wie auch der Beteiligungen an den weiterverarbeitenden Tochtergesellschaften und den Handelsgesellschaften fungierte.88 Sowohl die Verlegung des Gesellschaftssitzes des Aktienvereins nach Nürnberg als auch die Gründung der GHH Oberhausen AG als Untergesellschaft waren direkte Reaktionen auf die Ruhrbesetzung und zunächst nur als Provisorium gedacht. Sie sollten die GHH – und speziell ihren frisch erworbenen Besitz in Süddeutschland – vor einer französischen Einflussnahme schützen, blieben jedoch selbst nach dem Abzug der französischen Truppen bestehen und bestimmten die Organisationsstruktur der GHH bis nach dem Zweiten Weltkrieg.

5 Fazit Die Bedeutung des Versailler Vertrages für die Entwicklung deutscher Unternehmen in der Zwischenkriegszeit kann kaum überschätzt werden. Der Konzernaufbau der GHH zwischen 1918 und 1923 ist ohne seine Implikationen im Grunde kaum zu erklären. Gleichzeitig überlagerten sich die Auswirkungen des Friedensschlusses mit kriegsbedingten Veränderungen – wie dem Aufbau neuer Rüstungs- und Stahlkapazitäten und den dadurch hervorgerufenen Umstellungskosten am Ende des Krieges – sowie Marktverschiebungen in der Weltwirtschaft, welche teils durch den Krieg (wie dem Verlust von Auslandsvermögen und -patenten und der Übernahme deutscher Marktanteile durch ausländische 87 Reusch an August Haniel, 5. September 1923, in: RWWA, 130-300193000/5. 88 Büchner, Gutehoffnungshütte (wie Anm. 39), 77–78; Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften 1923/24, Bd. 2a, 511; Marx, Leitung (wie Anm. 20), 183–187; Maschke, Konzern (wie Anm. 15), 188; Niederschrift der Geschäftsausschusssitzung, 9. November 1923; Verhandlung der Gesellschafter der GHH Oberhausen AG, 9. November 1923, Abschrift des Gründungsvertrages der GHH Oberhausen AG, 10. November 1923; Pachtvertrag zwischen der GHH Aktienverein Nürnberg und der GHH Oberhausen AG, 13. November 1923, in: RWWA, 130-300193002/ 5.

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Konkurrenten), teils durch längerfristige Verschiebungen (wie dem Bedeutungsgewinn und -verlust einzelner Volkswirtschaften in der Weltwirtschaft) bedingt waren. Nicht immer waren diese Prozesse trennscharf voneinander zu differenzieren, oftmals waren Nachkriegsentwicklungen gerade durch das Zusammenspiel jener Faktoren gekennzeichnet. Die Implikationen des Versailler Vertrages für die GHH drückten sich vor allem in fünf Punkten aus: Eindrücklich zeigten sich die Folgen des Friedensvertrages erstens im Verlust von Erzfeldern in Lothringen und der Normandie; hierdurch kam die vor dem Ersten Weltkrieg angebahnte enge Verbindung zwischen Minette und Ruhrkohle weitgehend an ihr Ende, weshalb die Ruhrunternehmen neue Wege in der Erzversorgung beschreiten oder bestehende alternative Versorgungsbeziehungen ausbauen mussten. Mit dem Verlust der Erzlagerstätten waren zweitens umfangreiche finanzielle Entschädigungen des Staates verbunden, welche den Grundstock für die anschließende Expansion bildeten. Drittens verursachten die im Versailler Vertrag festgelegten Gebietsabtrennungen des Deutschen Reichs eine strukturelle Schwäche des süddeutschen Maschinenbaus, für den mit der Saarregion und Böhmen zentrale Versorgungsund Absatzgebiete wegfielen. Dies machte sich die GHH nach 1918 zunutze und übernahm in den nachfolgenden Jahren gleich mehrere größere Firmen in der dortigen Weiterverarbeitung. Viertens förderte ein staatliches Konjunkturprogramm im Bereich der Handelsflotte, welches die kriegsbedingten Verluste ausgleichen sollte, im Zusammenspiel mit der im Friedensvertrag festgelegten Abgabe weiter Teile der Handelsflotte, den Anreiz, in den Schiffbau einzusteigen. Die dem Deutschen Reich auferlegten Reparationen, deren Höhe im Vertrag von Versailles zunächst noch nicht näher festgesetzt und erst 1921 beschlossen wurde, führten 1923 schließlich fünftens zur Besetzung des Ruhrgebiets und bewirkten damit die Verlegung des Gesellschaftssitzes der GHH nach Nürnberg und die Etablierung der Doppelstruktur mit GHH Oberhausen und GHH Aktienverein. Nicht alle Firmengründungen und -übernahmen der GHH nach 1918 können monokausal auf das Kriegsende und/oder den Versailler Vertrag zurückgeführt werden, gleichwohl besteht zwischen dem Konzernaufbau und den Friedensregelungen ein untrennbarer Zusammenhang. Mit den zahlreichen Übernahmen im süddeutschen Maschinenbau veränderte Reusch das Unternehmensgefüge der GHH in doppelter Weise: Zum einen erhielt sie neben ihrem Schwerpunkt in der Eisen- und Stahlerzeugung ein zweites gewichtiges Produktionsstandbein im Maschinen- und Anlagenbau. Zum anderen wandelte sich die geographische Struktur entscheidend: Während die GHH bis zum Ersten Weltkrieg im Grunde auf den Großraum Oberhausen (bzw. das Ruhrgebiet) begrenzt war, erstreckte sie sich ab Anfang der 20er Jahre von Hamburg über Oberhausen bis nach Augs-

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burg. Reusch erwartete aufgrund von Syndikats- und Kartellbestimmungen höhere Gewinnmargen in nachgelagerten Produktionsstufen und hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg den Weg in die Weiterverarbeitung eingeschlagen, doch die sprunghafte Erweiterung jenes Geschäftsbereichs ab 1918 ist zweifellos nur durch die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs zu erklären. Die Beteiligung an der Deutschen Werft war insbesondere auf die Folgen des Krieges für die deutsche Handelsflotte zurückzuführen, während die Übernahmen in Süddeutschland aus einer Gemengelage von Versorgungs- und Finanzproblemen des dortigen Maschinenbaus einerseits und dem Expansionsdrang und der nötigen Kapitalkraft der GHH andererseits zu erklären sind. Umfang und Tempo der GHH-Expansion waren beeindruckend, gleichwohl war ihre grundsätzliche Entwicklung kein Einzelfall. Neben Zusammenschlüssen auf horizontaler Ebene über Fusionsverträge und Interessengemeinschaften waren viele deutsche Montankonzerne an der Vervollständigung ihres vertikalen Aufbaus interessiert. Der Verlust eines Großteils ihres Besitzes in der Normandie, Lothringen, Luxemburg oder Oberschlesien sowie die Auflösung der Rüstungseinheiten in der Nachkriegszeit schufen die Grundlagen für ihr Expansionsstreben. Während einige Konzerne vornehmlich auf einen Ausgleich erlittener Verluste zielten, gingen andere Unternehmen, wie der Stinnes- oder der Stummkonzern, weit über diesen Vervollkommnungsprozess hinaus. Jene „Inflationskonzerne“ gerieten im Zeichen der monetären Stabilisierung nach der Hyperinflation oftmals an ihre finanzielle Grenze und fielen teilweise wieder in sich zusammen. Die GHH zählte nicht dazu, vielmehr fanden bei ihr zahlreiche Angliederungen noch vor der exorbitanten Geldentwertung statt. Einen gewissen Abschluss fand diese Phase des rasanten externen Wachstums 1923, als Reusch die langfristige Unternehmensorganisation mit der Doppelstruktur aus GHH Oberhausen und GHH Aktienverein sowie entsprechenden Konzerngliederungen etablierte. Wie für weite Teile Europas, die den Ersten Weltkrieg als Übergang von einem 1914 begonnenen Staatenkrieg zu sich ab 1916/17 ausbreitenden und über 1918 hinausreichenden Bürgerkriegen erlebten, dauerte auch die Nachkriegszeit der GHH mindestens bis 1923 an.89 Obschon Reusch es verstand, aus den Nachkriegsverhältnissen Nutzen für die GHH zu ziehen, mochte er sich mit den Ergebnissen des Vertrages von Versailles im Grunde nicht abfinden. Je länger der Krieg dauerte und je mehr Opfer er forder-

89 Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017; Leonhard, Frieden (wie Anm. 3), besonders 1051–1153, 1212–1236.

Enteignung – Entschädigung – Expansion



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te, desto schwieriger wurde es, einen Kompromissfrieden zu finden.90 Reusch und viele Montanindustrielle lehnten die in Paris festgelegten Gebietsabtrennungen nicht nur aus politischen Gründen ab, vielmehr waren damit auch augenfällige ökonomische Interessen verbunden. Zugleich erlitten die Unternehmer einen Machtverlust auf dem Feld der industriellen Beziehungen, wie er in der Anerkennung der Gewerkschaften, der Einführung des Acht-Stunden-Tags und dem Erlass des Betriebsrätegesetzes seinen Niederschlag fand. Gleichwohl darf dabei nicht übersehen werden, dass der Friedensvertrag weder die territoriale Integrität des deutschen Nationalstaats von 1871 noch die nationale Souveränität oder die Wirtschaftsordnung Deutschlands an sich in Frage stellte und auch das deutsche Wirtschaftspotenzial in seinem Kern nicht zerstört wurde.91 Das Zarenreich oder die Habsburgermonarchie waren in dieser Perspektive weitaus stärker von den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs betroffen. In gewisser Weise lässt sich für die GHH eine ähnliche Bilanz ziehen: Obwohl sie in Lothringen und der Normandie enorme Besitzverluste hinnehmen musste, verstand es die Unternehmensleitung, den sich nach 1918 öffnenden Möglichkeitsraum zu nutzen und aus dem regional begrenzten Unternehmen einen überregionalen Montan- und Weiterverarbeitungskonzern zu formen, der schon bald wieder im internationalen Geschäft etabliert war.

90 Leonhard, Frieden (wie Anm. 3), 69. 91 Ebd., 861; Tooze, Sintflut (wie Anm. 26), 336–339.

Christian Böse

Krupp zwischen Erstem Weltkrieg und Versailler Vertrag – Verluste, Entschädigungen und Neuorientierung 1 Einleitung Wie kaum ein anderes Unternehmen in Deutschland war Krupp während des Ersten Weltkrieges in die Rüstungswirtschaft des Deutschen Reiches eingebunden. Obgleich die Oberste Heeresleitung im Ersten Weltkrieg etwa 40.000 deutsche Industriebetriebe jeglicher Art zur Rüstungsproduktion herangezogen hatte, entfielen Schätzungen zufolge rund zwei Prozent der deutschen Kriegsausgaben auf den Essener Konzern.1 Die Herstellung von Rüstungsgütern hatte bei Krupp bereits vor Kriegsausbruch einen großen Anteil – er lag zum Beispiel im Jahr 1913/14 bei 34 Prozent – doch hatte das damals größte deutsche Unternehmen im Kriegsverlauf nicht nur die Waffenfertigung massiv ausgebaut, sondern auch die Produktion fast ausschließlich auf die Kriegswirtschaft ausgerichtet. Entsprechend führten der Waffenstillstand im November 1918 und der im Juli 1919 abgeschlossene Friedensvertrag von Versailles zu massiven Umwälzungen. Zusätzlich zum notwendigen Personalabbau mussten innerhalb kürzester Zeit neue Tätigkeitsfelder aufgebaut werden, um die Existenz des Unternehmens zu sichern. Begleitet wurde dieser Umstrukturierungsprozess von großen finanziellen Schwierigkeiten, die das Unternehmen noch über viele Jahre stark belasten sollten. In diesem Beitrag sollen die Einbindung Krupps in die Kriegswirtschaft sowie die Folgen des Kriegsendes und des Versailler Vertrages für das Unternehmen dargelegt werden. Neben den konkreten Auswirkungen und der Ausführung der Abrüstungsbestimmungen des Versailler Vertrages sollen dabei die Anpassungsstrategien in den Blick genommen werden, mit denen das Unternehmen die wirtschaftlichen Verwerfungen der Nachkriegszeit zu überwinden versuchte. Hierbei muss die Frage gestellt werden, ob die weitgehende Einstellung der rüstungswirtschaftlichen Aktivitäten auch positive Folgen für das Un1 Vgl. Ernst Willi Hansen, Reichswehr und Industrie. Rüstungswirtschaftliche Zusammenarbeit und wirtschaftliche Mobilmachungsvorbereitungen 1923–1932, Boppard/Rhein 1978, 28 und Klaus Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen. Unternehmensgeschichte der Fried. Krupp AG 1914 bis 1924/25, in: Lothar Gall (Hg.), Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin 2002, 15–165, hier 52. https://doi.org/10.1515/9783110765359-006

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ternehmen hatte. Hatte diese Entwicklung womöglich zu einer stärkeren wirtschaftlichen Stabilität und Krisenfestigkeit geführt? Oder waren diese Maßnahmen allenfalls ein kurzzeitiger Rettungsanker, bis der Konzern schließlich in den 30er Jahren, bedingt durch die nationalsozialistischen Aufrüstungsaktivitäten, wieder im Bereich der Rüstungswirtschaft aktiv werden konnte? Ausgehend von einem Überblick zur Entwicklung des Krupp-Konzerns bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird im ersten Teil dieses Beitrages die umfangreiche Einbindung des Unternehmens in die deutsche Kriegswirtschaft dargelegt. Der zweite Teil nimmt die unmittelbaren Folgen des Waffenstillstandes in den Blick, die bei Krupp bereits innerhalb kürzester Zeit zu großen Umwälzungen und Veränderungen führten. Der Friedensvertrag von Versailles hat diesen Prozess ab 1919 für zunächst nicht absehbare Zeit manifestiert und zugleich durch die darin festgeschriebenen, umfangreichen Abrüstungsbestimmungen das Unternehmen zusätzlich belastet. Im dritten Teil werden die staatlichen Entschädigungsleistungen aufgrund der Folgen von Kriegsende und Friedensvertrag sowie die schwierige wirtschaftliche Situation in den Blick genommen, die das Unternehmen noch bis in die 30er Jahre hinein belasteten.

2 Der Krupp-Konzern vor und während des Ersten Weltkrieges Der Aufstieg des Unternehmens zur „Rüstungsschmiede“ Krupp war am Vorabend des Ersten Weltkrieges nicht nur das größte deutsche Unternehmen, sondern wurde zugleich regelmäßig als Synonym für die Rüstungswirtschaft im wilhelminischen Kaiserreich genannt.2 Zweifelsohne nahm das Waffengeschäft eine große Bedeutung im Unternehmen ein, und auch der Krupp-Konzern und dessen Inhaber arbeiteten gerade in der Kaiserzeit selbst gerne daran, den Ruf als deutsche „Waffenschmiede“ weiter zu festigen und auszubauen.3 Tatsächlich war Krupp in dieser Zeit deutlich diversifizierter auf-

2 Vgl. u. a. Lothar Burchardt, Zwischen Kriegsgewinnen und Kriegskosten: Krupp im Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte (ZUG), 2 (1987), 71–122, hier 72. 3 Vgl. hierzu u. a. Michael Epkenhans, Friedrich Alfred Krupp: Ein Großindustrieller im Spannungsfeld von Firmeninteresse und Politik, in: Michael Epkenhans/Ralf Stremmel (Hrsg.), Friedrich Alfred Krupp. Ein Unternehmer im Kaiserreich, München 2010, 77 ff. und Harold James, Krupp. Deutsche Legende und globales Unternehmen, München 2011, 116 ff.

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gestellt als es in der öffentlichen Wahrnehmung und in der unternehmenseigenen Außendarstellung oftmals wirkte. Allein innerhalb des letzten Vierteljahrhunderts vor Kriegsausbruch hatte sich die Mitarbeiterzahl des Konzerns parallel zum konjunkturellen Aufschwung dieser Zeit auf über 80.000 Beschäftigte nahezu verdoppelt.4 Wesentliche Motoren für das Wachstum des 1811 gegründeten Unternehmens waren seit den 1840er Jahren das Eisenbahngeschäft, vor allem Radreifen und Schienen, sowie eben auch die Herstellung von Rüstungsgütern, die seit den 1860er Jahren stärker expandierte.5 Für die Versorgung mit Rohstoffen begannen bei Krupp seit den 1860er-Jahren vertikale Expansionsbestrebungen, um eine stärkere Unabhängigkeit vom freien Markt sicherzustellen. Neben dem Ankauf bzw. einer Beteiligung an mehreren Kohlenzechen im Ruhrgebiet6 investierte Krupp für den zweiten wichtigen Rohstoff – Eisenerz – auch im Ausland: 1873 beteiligte sich das Unternehmen gemeinsam mit drei weiteren Firmen an den Orconera-Eisenerzgruben im spanischen Bilbao, deren Unternehmenssitz wiederum in London lag. Vor allem für die Herstellung von Qualitätsstahl wurden die in Bilbao abgebauten, phosphorarmen Erze für Krupp in den Folgejahren unerlässlich. Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kamen 25 Prozent der bei Krupp benötigten Eisenerze aus Bilbao.7 Eigens für den Transport der in Spanien geförderten Eisenerze gründete Krupp 1873 eine eigene Reederei.8 Für die Herstellung von Massenstahl griff das Unternehmen stärker auf Erze aus den eigenen deutschen Lagerstätten zurück, deren Betriebe seit 1906 durch zwei Bergverwaltungen, Betzdorf und Weilburg, geführt wurden. Hierzu gehörten auch drei Eisenerzgruben in 4 Vgl. Ralf Stremmel, Friedrich Alfred Krupp: Handeln und Selbstverständnis eines Unternehmers, in: Michael Epkenhans/Ralf Stremmel (Hrsg.), Friedrich Alfred Krupp. Ein Unternehmer im Kaiserreich, München 2010, 27–75, hier 27 ff. 5 Vgl. Zdenĕk Jindra, Zur Entwicklung und Stellung der Kanonenausfuhr der Firma Friedrich Krupp / Essen 1854–1912, in: Wilfried Feldenkirchen u. a. (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1995, 956–976, hier 958 ff.; Lothar Gall, Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin 2000, 133 ff. 6 Vgl. Jahrbuch für den Oberbergamtsbezirk Dortmund, 1912/13, Essen 1914, 418 ff. 7 Vgl. Javier Loscertales, Deutsche Investitionen in Spanien 1870–1920, Stuttgart 2002, 94 ff.; Ulrich Wengenroth, Auslandsinvestitionen der deutschen Schwerindustrie zur Sicherung ihrer Erzversorgung zwischen Gründerjahren und Weltwirtschaftskrise, Arbeitspapier Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte, München 1998, 1 ff.; Typoskript, Die Kruppsche Reederei, ca. 1941, in: Historisches Archiv Krupp [künftig HA Krupp], WA 4/1776; Otto Lenz, Erze und Roheisen. Ferrochrom, Ferromangan, Nickel (Kriegsdenkschrift, Kapitel B II und B III), in: HA Krupp, WA 7 f 1087. 8 Vgl. Typoskript, Die Kruppsche Reederei, ca. 1941, in: HA Krupp, WA 4/1776 und Loscertales, Deutsche Investitionen (wie Anm. 7), 94 ff.

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Lothringen. Weitere Erzmengen kaufte das Unternehmen im Ausland ein, was vor allem aus qualitativen Gründen für die Herstellung hochwertiger Stähle unumgänglich war.9 Verarbeitet wurden die Erze zu Roheisen und Rohstahl ab 1896 in einem neuen integrierten Hüttenwerk in Rheinhausen am Rhein, das für Krupp gleichzeitig Produktionsort für Massenstahl und Walzwerkserzeugnisse wurde.10 In der horizontalen Integration sind bei Krupp vor allem die Übernahme bereits bestehender Weiterverarbeitungsbetriebe zu nennen. In Hinblick auf die Rüstungsproduktion gehörten hierbei das Magdeburger Grusonwerk und die Germaniawerft in Kiel zu den wichtigsten Beispielen. Beide Unternehmen kamen in den 1890er Jahren unter den Einfluss des Essener Konzerns. Während das Grusonwerk vor allem für die Herstellung von Geschützen und Panzertürmen eine wichtige Position auf dem Markt für Rüstungsgüter besaß und damit bis zur Übernahme in direkter Konkurrenz zu Krupp stand,11 ermöglichte die Übernahme der Germaniawerft in Kiel den Einstieg in den Bau von Kriegsschiffen. Zuvor war das Unternehmen in diesem Sektor lediglich Zulieferer. Trotz des Schwerpunktes auf Kriegsschiffe, 1906 lief bei der Germaniawerft auch das erste deutsche U-Boot vom Stapel, wurden dort weiterhin Schiffe für zivile Zwecke gebaut. Seitens des neuen Eigentümers wurde bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges erheblich in den Ausbau der Werft investiert.12 Kern des Unternehmens blieben aber weiterhin die Essener Betriebe, die aus der Firmentradition heraus fortwährend zusammenfassend als „Gussstahlfabrik“ bezeichnet wurden. Dieses Stammwerk war eine Ansammlung von mehr als 60 Betrieben auf einer Werkstattfläche von 270.000 Quadratmetern, wo im Jahr 1914 etwa 42.000 Mitarbeiter beschäftigt waren, also mehr als die Hälfte der gesamten Krupp-Belegschaft. Dort wurden vor allem Halbfertigfabrikate hergestellt: Stangen, Blöcke, Bleche aus Stahl, Eisenbahnmaterial wie Räder, Achsen und Schienen, Bauteile für den Maschinen- und Schiffbau sowie eben

9 Vgl. Förster, Gutachten zur Erz- und Kohlenbasis von Krupp, 1915, in: HA Krupp, WA 4/1426; Jahrbuch für den Oberbergamtsbezirk Dortmund (wie Anm. 6), 418 ff.; Zdenĕk Jindra, Der Rüstungskonzern Fried. Krupp AG 1914–1918. Die Kriegsmateriallieferungen für das deutsche Heer und die deutsche Marine, Prag 1986, 15 f. und Gall, Krupp Industrieimperium (wie Anm. 5), Berlin 2000, 287 f. 10 Zuvor hatte Krupp seit den 1860er Jahren zur Sicherstellung der Rohstahlversorgung mehrere kleinere Hüttenwerke angekauft, deren Kapazitäten mit der weiteren Expansion des Unternehmens aber nicht mehr Schritt halten konnten; vgl. Stremmel, Friedrich Alfred Krupp (wie Anm. 4), 37 ff. und Gall, Krupp Industrieimperium (wie Anm. 5), 288 ff. 11 Vgl. Stremmel, Friedrich Alfred Krupp (wie Anm. 4), 39 ff. 12 Vgl. James, Krupp (wie Anm. 3), 109 ff. und Gall, Krupp Industrieimperium (wie Anm. 5), 263 ff.

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auch Rüstungsgüter.13 In dieser Sparte kamen ab 1890 neben Geschützen als weitere bedeutende Produktinnovation Panzerplatten hinzu, die vor allem in Kriegsschiffen eingebaut wurden. In der Folgezeit besaß Krupp in diesem Sektor, vor allem gegenüber der deutschen Marine, gemeinsam mit der Dillinger Hütte quasi eine Monopolstellung.14 In den Jahren zwischen 1900 und 1914 gab es in der Gussstahlfabrik zahlreiche Modernisierungen. Ein großer Teil der Neu- und Umbauten betraf Betriebe der Rüstungsproduktion, deren Leistungsfähigkeit aufgrund der starken Aufrüstungsbestrebungen vieler Länder in dieser Zeit erhöht wurde.15 Der Anteil der Rüstungsgüter am Gesamtumsatz des Konzerns lag im letzten Vorkriegs-Geschäftsjahr bei etwa 34 Prozent. Bezogen auf die Essener Gussstahlfabrik entfielen 64 Prozent vom Umsatz im Jahr 1913/14 auf Rüstungsprodukte. Knapp 30 Prozent des Umsatzes von Rüstungsgütern wurde kurz vor Kriegsausbruch im Ausland erwirtschaftet. Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Zusammenhang, dass Krupp neben den erwähnten sowie weiteren Tochterunternehmen seit 1907 eine Sperrminorität und seit 1909 die Aktienmehrheit am stärksten Konkurrenten in der Geschützfabrikation, der „Rheinischen Metallwaren- und Maschinenfabrik Düsseldorf“ (Rheinmetall) besaß.16

Der Krupp-Konzern in der deutschen Kriegswirtschaft 1914 bis 1918 Das für Krupp so bedeutsame Exportgeschäft war mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914 einer der Bereiche, der unmittelbar von massiven Veränderungen betroffen war. Quasi „über Nacht“ fielen die meisten ausländischen Abnehmer weg, da diese durch das Deutsche Reich zu Feindstaaten erklärt wurden oder weil die Frachtwege auf See aufgrund feindlicher Blockaden 13 Vgl. Jahrbuch für den Oberbergamtsbezirk Dortmund (wie Anm. 6), 412 ff. und Stremmel, Friedrich Alfred Krupp (wie Anm. 4), 29. 14 Vgl. Michael Epkenhans, Die wilhelminische Flottenrüstung 1908–1914. Weltmachtstreben, industrieller Fortschritt, soziale Integration, München 1994, 154 und Stremmel, Friedrich Alfred Krupp (wie Anm. 4), 36 f. 15 Vgl. Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 1: 1914–1919, unveröffentlichtes Manuskript, S. 12 f., in: HA Krupp, FAH 4 E 10.1 und Gall, Krupp Industrieimperium (wie Anm. 5), 296 ff. 16 Vgl. Gall, Krupp Industrieimperium (wie Anm. 5), 295, 318 ff.; Burchardt, Krupp im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 2), 74; James, Krupp (wie Anm. 3), 139 sowie ausführlich zum Exportgeschäft: Ralf Stremmel, Globalisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Ausgewählte Daten zum Export der Firma Krupp, in: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen (2009), 97–113 und Jindra, Kanonenausfuhr der Firma Krupp (wie Anm. 5).

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nicht zur Verfügung standen. Der Wegfall der ausländischen Kunden konnte jedoch durch die massive Nachfrage der deutschen Heeres- und Marineverwaltung mit Kriegsbeginn nicht nur problemlos ausgeglichen werden, sondern übertraf die Nachfragemenge der ausländischen Kunden in der Folgezeit erheblich. Parallel zu den damit verbundenen Auftrags- und Umsatzzuwächsen geriet das Unternehmen während der gesamten Kriegszeit aber auch in eine massive Abhängigkeit zum Staat. Zudem bedeutete die starke Konzentration auf die Rüstungsaufträge ein hohes unternehmerisches Risiko, weil dies den weiteren Aufbau von hochspezialisierten Fertigungsanlagen notwendig machte, die für eine Friedenswirtschaft kaum geeignet waren. Im Laufe des Ersten Weltkrieges erreichte der Anteil der Rüstungsproduktion bei Krupp zeitweise bis zu 85 Prozent.17 In den bereits vor Kriegsausbruch bestehenden Mobilmachungsplänen der Obersten Heeresleitung waren für Krupp zunächst nur Rüstungsaufträge vorgesehen, die ungefähr der gleichen Kapazität der Betriebe wie in der Vorkriegszeit entsprachen. Zudem sicherte sich die Oberste Heeresleitung über den Weg der Beschlagnahmung zahlreiche bei Krupp in der Fertigung stehende Waffen, die für ausländische Kunden bestimmt waren. Zwar stiegen bereits wenige Wochen nach Kriegsausbruch aufgrund der ersten Erfahrungen an der Front die Auftragsmengen an, sie lagen aber zunächst auf relativ überschaubarer Höhe, da die Werksanlagen zu diesem Zeitpunkt noch nicht an der Auslastungsgrenze arbeiteten. Daher wurden trotz der steigenden Nachfrage die Produktionskapazitäten bei Krupp anfänglich nur in einem begrenzten Umfang ausgebaut, da man – wie bekanntlich fast überall im Deutschen Reich – von einem kurzen Feldzug ausging. Auch die immensen Personalzuwächse, die bei Krupp im Ersten Weltkrieg schließlich noch zu verzeichnen waren, schlugen sich erst ab 1915 deutlicher in der Belegschaftsstatistik nieder.18 Stärkere Veränderungen waren beim Unternehmen ab Ende 1914 zu erkennen, nachdem sich die Hoffnungen auf ein schnelles Kriegsende endgültig zerschlagen hatten. Neben den stark ansteigenden Fertigungsaufträgen für Geschütze und Munition kamen für den Krupp-Konzern zahlreiche Sonderaufträge hinzu, so zum Beispiel die Instandsetzung beschädigter Kanonen und die Bearbeitung von Beutematerial und dessen Umbau für die Bedürfnisse der deut-

17 Vgl. Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 32 f.; Burchardt, Krupp im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 2), 80 und Toni Pierenkemper, Die Finanzkrise der Fried. Krupp AG im Jahre 1925, in: ders. (Hg.), Festschrift Prof. Zdenĕk Jindra, Prag 2003, 61–80, hier 64. 18 Vgl. Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 1: 1914–1919, S. 12 f., in: HA Krupp, FAH 4 E 10.1; Burchardt, Krupp im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 2), 74 und Tenfelde, Krupp in Krieg und Frieden (wie Anm. 1), 57 f.

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schen Streitkräfte.19 Im Laufe des Jahres 1915 nahmen die Anforderungen der Heeres- und Marineverwaltungen an die Firma Krupp weiter zu. So hatte sich die Anzahl der neu hergestellten Geschütze in der Gussstahlfabrik im Geschäftsjahr 1915/16 gegenüber dem Vorjahr nahezu verdoppelt und die Anzahl neu angefertigter Granaten bei Krupp fast verdreifacht. Parallel stieg natürlich der Personalbedarf massiv an. Mitte 1916 waren in der Gussstahlfabrik und den ihr organisatorisch angeschlossenen Betrieben bereits mehr als 69.000 Menschen beschäftigt, darunter aufgrund der Personalengpässe in zunehmendem Maße Frauen und ausländische Beschäftige (Kriegsgefangene und Zivilarbeiter).20 Der größte, kriegsbedingte Expansionsschub für den Krupp-Konzern folgte ab Sommer 1916, nachdem sich die militärische Situation für die Mittelmächte an den verschiedenen Fronten deutlich verschärft hatte. Das so genannte Hindenburg-Programm, das häufig als Zäsur in der deutschen Kriegswirtschaftspolitik des Ersten Weltkrieges betrachtet wird, bedeutete für Krupp einen weiteren massiven Ausbau der Produktionskapazitäten. Damit die Firma die dafür notwendigen Investitionen ohne größeres Risiko ausführen konnte, gab die Oberste Heeresleitung dem Unternehmen neben staatlichen Zuschüssen in Höhe von 55 Mio. Mark für den Bau neuer Werksanlagen quasi eine Abnahmegarantie für Kriegsmaterial. In der Summe führte das Hindenburg-Programm dazu, dass sich zum Kriegsende die Werkstattflächen in Essen um das Zweieinhalbfache gegenüber dem Vorkriegszustand erhöht hatten.21 Auf den gesamten KruppKonzern betrachtet hatte sich die Mitarbeiterzahl bis Mitte 1918 auf über 168.000 Beschäftigte gegenüber dem Vorkriegsstand mehr als verdoppelt.22 Die zunehmende Produktionsausweitung während des Ersten Weltkrieges brachte auch einen entsprechend stetig steigenden Rohstoffbedarf mit sich. Die Versorgung der Werke mit Kohle wurde durch die eigenen Bergwerke sowie durch zusätzliche Zukäufe über das Rheinisch-Westfälische Kohlen-Syndikat 19 Vgl. Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 1: 1914–1919, S. 24 ff., in: HA Krupp, FAH 4 E 10.1 und Burchardt, Krupp im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 2), 74 f. 20 Vgl. Typoskript, Die Entwicklung der Artillerie-Werkstätten während des Krieges, S. 8 ff., in: HA Krupp, WA 4/1342; Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 1: 1914–1919, S. 35 ff., in: HA Krupp, FAH 4 E 10.1; Burchardt, Krupp im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 2), 76 ff. und Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 56 ff. 21 Vgl. Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014, 513; Burchardt, Krupp im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 2), 74 ff.; Gerhard Hecker, „Metallum-Aktiengesellschaft“. Industrielle und staatliche Interessenidentität im Rahmen des Hindenburg-Programms, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1 (1984), 113–139, hier 114 f. und Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 33 f. 22 Vgl. James, Krupp (wie Anm. 3), 149 und Burchardt, Krupp im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 2), 76 ff.

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(RWKS) sichergestellt. Selbstkritisch hatte das Unternehmen hierzu in Laufe der Kriegszeit festgestellt, dass die unabhängige Versorgung mit Rohstoffen nicht entsprechend der Konzerngröße mitgewachsen war, was sich nun im Krieg noch deutlicher bemerkbar machte, zumal neben dem hohen Bedarf etwa ab 1916 die Preise für Kohle massiv angestiegen waren und bis 1918 das Doppelte des Vorkriegsniveaus erreichten.23 Daher begann Krupp während der Kriegszeit damit, die eigene Kohlenbasis weiter zu vergrößern. 1917 bekam das Unternehmen Anteile an der Zeche Friedrich Heinrich am linken Niederrhein, die zuvor im Besitz französischer Eigentümer war. Nach Kriegsausbruch wurde das Bergwerk von deutscher Seite als Feindvermögen beschlagnahmt und im weiteren Verlauf deutschen Unternehmen zum Kauf angeboten. Hierbei bekam offiziell die Rheinische Stahlwerke AG den Zuschlag, die aber zuvor mit den Unternehmen Krupp und BASF eine Kooperationsvereinbarung über den gemeinsamen Zugriff auf die dort geförderten Kohlen abgeschlossen hatte.24 Bei Eisenerz war die Abhängigkeit des Unternehmens von externen Zulieferern, wie bereits erläutert, noch deutlich größer. Bereits unmittelbar nach Kriegsausbruch führte die englische Seeblockade dazu, dass die Hauptzufuhr von Erz aus den Krupp-eigenen Gruben in Spanien sowie aus fremden amerikanischen Fördergebieten gestoppt wurde. Zudem verlor Krupp den Zugriff auf die unternehmenseigene Reederei. Zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs lagen die beiden Schiffe im spanischen Hafen und wurden dort belassen, um sie vor dem Zugriff der Kriegsgegner zu schützen.25 Weiter zur Verfügung standen die eigenen Erzgruben in den verschiedenen deutschen Fördergebieten, darunter auch in Lothringen. Zudem bestand seitens des Unternehmens die Hoffnung, bei einem aus deutscher Perspektive positiven Kriegsverlauf auf weitere Erzquellen im französischen Minette-Gebiet zugreifen zu können, was während des Krieges zeitweise realisiert werden konnte. Den Großteil der Lieferausfälle konnte Krupp 23 Vgl. Förster, Gutachten zur Erz- und Kohlenbasis von Krupp, 1915, in: HA Krupp, WA 4/1426 und Burchardt, Krupp im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 2), 86. Das 1893 gegründete RWKS fungierte als Preis- und Produktionskartell nahezu aller Ruhrzechen. Während des Ersten Weltkrieges wurde dessen Fortbestand durch staatliche Anordnung gesichert (vgl. Christian Böse, Kartellpolitik im Kaiserreich. Das Kohlensyndikat und die Absatzorganisation im Ruhrbergbau 1893–1919, Berlin 2018, 214 ff.). 24 Vgl. Stefan Moitra, Tief im Westen. Ein Jahrhundert Steinkohlenförderung am linken Niederrhein – Von Friedrich Heinrich zum Bergwerk West, Bochum 2012, 68 ff. und Schreiben der Rheinischen Stahlwerke AG, Fried. Krupp AG und IG Farben an das Reichswirtschaftsministerium, 10. Januar 1941, in: HA Krupp, WA 4/2880. 25 Vgl. Förster, Gutachten zur Erz- und Kohlenbasis von Krupp, 1915, in: HA Krupp, WA 4/1426; Otto Lenz, Erze und Roheisen. Ferrochrom, Ferromangan, Nickel (Kriegsdenkschrift, Kapitel B II und B III), in: HA Krupp, WA 7 f 1087; Typoskript, Die Kruppsche Reederei, ca. 1941, in: HA Krupp, WA 4/1776.

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allerdings durch neue Lieferverträge und direkte Beteiligungen an Eisenerzgruben in Schweden ausgleichen. Die finanziellen Aufwendungen für diese Geschäfte waren jedoch erheblich. Allein während des Krieges wurden hierfür rund 32 Mio. Mark investiert. Diese Investitionen konnten zwar die Versorgungsprobleme mit Eisenerz bei Krupp lösen, führten aber in der Nachkriegszeit aufgrund der Geldentwertung zu einer erheblichen finanziellen Belastung, die als so genannte Schwedenschuld auf die Bilanz des Konzerns drückte.26

3 Das Unternehmen Krupp nach dem Ende des Ersten Weltkrieges Massive Umwälzungen mit dem Waffenstillstand Als im September 1918 Kaiser Wilhelm II. die Essener Gussstahlfabrik besucht und dort die Arbeiter in den Werkshallen zum Durchhalten motivieren will, war für die meisten Kruppianer die Niederlage des Deutschen Reiches nur noch eine Frage der Zeit. Die kaiserliche Stippvisite in der wichtigsten deutschen Rüstungsschmiede wird von den meisten Beobachtern als misslungener Versuch interpretiert, nach den großen militärischen Rückschlägen an der Westfront, die kaum noch vorhandene Kriegsmoral bei der Bevölkerung zu stärken.27 Die Versorgungsprobleme, die sich seit dem Jahr 1916 immer deutlicher zeigten, hatten bereits zu einer großen Kriegsmüdigkeit und Radikalisierung in der Zivilbevölkerung geführt, wodurch es auch in der Belegschaft der Krupp-Betriebe bereits zu Protestaktionen und Streiks gekommen war. Hinzu kam die hohe Arbeitsbelastung, die in der Rüstungsindustrie besonders stark zu spüren war.28 Trotz aller Mutmaßungen über ein bevorstehendes Ende der Kampfhandlungen lief bei Krupp die Rüstungsproduktion zunächst uneingeschränkt wei-

26 Vgl. Otto Lenz, Erze und Roheisen. Ferrochrom, Ferromangan, Nickel (Kriegsdenkschrift, Kapitel B II und B III), in: HA Krupp, WA 7 f 1087; Denkschrift Wiedfeldt zur Finanzlage von Fried. Krupp, S. 2, in: HA Krupp, WA 4/1263; Burchardt, Krupp im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 2), 85 f. und Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 35 ff. 27 Vgl. Klaus Wisotzky, Unruhige Zeiten. Politische und soziale Unruhen im Raum Essen 1916– 1919, Münster 2019, 4; Kruppsche Mitteilungen 36, 1918, S. 219; James, Krupp (wie Anm. 3), 152 f.; Lothar Machtan, Kaisersturz. Vom Scheitern im Herzen der Macht, Darmstadt 2018, 12 f. und Leonhard, Geschichte des Ersten Weltkriegs (wie Anm. 21), 827 ff. 28 Ausfühlich zu den Streiks während der Kriegszeit vgl. Wisotzky, Unruhige Zeiten (wie Anm. 27), 35 ff.

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ter.29 Dennoch hatte das Unternehmen, das sich in den vergangenen vier Jahren nach eigenen Worten „ohne Rücksicht auf die Zukunft“30 fast ausschließlich auf die Rüstungsproduktion konzentriert hatte, die Augen nicht vor der Realität verschlossen. Ohne direkt über ein Kriegsende zu sprechen, schrieb die Führungsspitze von Krupp Anfang November 1918 an die regionalen Vertreter: „Die Entwickelung, welche die Verhältnisse in letzter Zeit genommen haben, gibt uns Veranlassung, der baldigen Wiederaufnahme der Herstellung von Friedensmaterial in möglichst grossem Umfange unsere besondere Aufmerksamkeit zu widmen.“31 Frühere Kunden sollten nach dem Willen der Unternehmensleitung informiert werden, dass Krupp wieder dabei ist, sich dem Wettbewerb zu stellen.32 Einer kurzfristigen Rückkehr zu einer geregelten und dazu noch ausreichend großen „Friedenswirtschaft“ standen jedoch zahlreiche Hindernisse entgegen, die trotz erster loser Planungen für eine Nachkriegszeit nicht ohne weiteres beseitigt werden konnten. Unabhängig davon, wie schnell Krupp wieder in frühere Tätigkeitsbereiche einsteigen und womöglich neue Geschäftsfelder erschließen konnte, war der zum Waffenstillstand am 11. November 1918 auf über 186.000 Beschäftigte angewachsene Personalstamm ohne die kriegsbedingte Rüstungsproduktion natürlich völlig überdimensioniert. Allein in der Essener Gussstahlfabrik waren zu diesem Zeitpunkt über 111.000 Menschen beschäftigt, denen quasi „über Nacht“ ein Großteil der Beschäftigung verloren ging. Trotz einer weitreichenden Stornierung seitens der Heeresverwaltung fielen jedoch nicht alle Rüstungsaufträge unmittelbar mit dem Waffenstillstand weg. Noch bis in den November 1918 hinein liefen bei Krupp Bestellungen für Waffen und Befehle zur Freimachung von Mitarbeitern für den Kriegsdienst ein. Bis in das Frühjahr 1919 hinein baute und reparierte Krupp weiterhin Geschütze für das deutsche Heer. Dies war zum einen als Notstandsarbeit gedacht, zum anderen diente es aber auch dazu, die bereits mit dem Waffenstillstand dem deutschen Heer auferlegten Ablieferungs-

29 Vgl. Zdenĕk Jindra, Verfall und Umstellung führender Rüstungsunternehmen nach dem Ersten Weltkrieg: Das Beispiel der Steyr- und Krupp-Werke, in: Mitteilungen aus dem Österreichischen Staatsarchiv, Sonderband 5, Wien 2000, 203–218, hier 207 f. und Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 1: 1914–1919, 284, in: HA Krupp, FAH 4 E 10.1. 30 Ebd., 283. 31 Schreiben der Fried. Krupp AG an Herrn Ingeniör G. Mieth, Radebeul, 2. November 1918, WA 4/2789. 32 Vgl. ebd.

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pflichten an die Alliierten erfüllen zu können. Zudem gab es einzelne laufende Bestellungen neutraler Länder, die zum Abschluss gebracht wurden.33 Unabhängig von diesen noch wenigen laufenden Aufträgen gehörte der Personalabbau in der Rüstungsindustrie zu den vordringlichsten Aufgaben der wirtschaftlichen Demobilmachung. Angesichts der revolutionären Umbrüche im Deutschen Reich musste dieser Prozess auch unter der Maßgabe umgesetzt werden, die öffentliche Ordnung und Sicherheit nicht noch weiter zu destabilisieren.34 Für Krupp und andere Unternehmen aus der Rüstungswirtschaft standen daher behördliche Auflagen der Möglichkeit entgegen, über kurzfristige Entlassungen den Personalstamm zu reduzieren. Dies war in Teilen nur bei Arbeitskräften möglich, die seinerzeit ohnehin über einen geringen arbeitsrechtlichen Schutz verfügten, also Frauen, Kriegsgefangene und zivile ausländische Beschäftigte. Außerdem mussten aus dem Kriegsdienst zurückkehrende Mitarbeiter aus der Stammbelegschaft wieder eingestellt werden.35 Krupp ging daher den Weg, auswärtige Arbeitskräfte, die im Laufe des Krieges angeworben worden waren, über freiwillige Vereinbarungen zum Ausscheiden und zum Verlassen der Stadt zu bewegen. Dies war mit finanziellen Anreizen verbunden – der Auszahlung von zwei Wochenlöhnen sowie der Gratis-Zugfahrt zum Heimatort. Mit dieser Maßnahme gelang es, die Belegschaft bereits bis Ende November um rund 52.000 Arbeitskräfte zu reduzieren. Für den weiteren Personalabbau im Zuge der Demobilmachung waren ab Anfang 1919 zusätzlich Kündigungen notwendig. Die verbliebene Belegschaftsstärke des gesamten Krupp-Konzerns pendelte sich ab 1919 zunächst bei etwas über 80.000 Beschäftigen ein, in der Essener Gussstahlfabrik wurde Mitte 1919 mit knapp 39.000 Beschäftigten ungefähr wieder der Vorkriegsstand erreicht.36 Trotz des umfangreichen Personalabbaus setzten sich in Essen Hunger und Wohnungsnot weiter

33 Vgl. Typoskript, Hindenburg-Programm (Kriegsdenkschrift, Kapitel B IX), S. 89 ff., in: HA Krupp, WA 7 f 1116; Ehrhard Reusch, Die Fried. Krupp AG und der Aufbau der Reichswehr in den Jahren 1919–1922, Bochum 1980, 11 f. und Jindra, Verfall (wie Anm. 29), 209 f. Zu den Belegschaftsstatistiken vgl. Lothar Gall (Hg.), Krupp im 20. Jahrhundert. Die Geschichte des Unternehmens vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Stiftung, Berlin 2002, 664 ff. 34 Vgl. Jindra, Verfall (wie Anm. 29), 208 f. und Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 1: 1914–1919, S. 291, in: HA Krupp, FAH 4 E 10.1. 35 Vgl. Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 1: 1914–1919, S. 285 ff., in: HA Krupp, FAH 4 E 10.1. und Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 89 ff. 36 Vgl. Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 1: 1914–1919, S. 285, in: HA Krupp, FAH 4 E 10.1; Burchardt, Krupp im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 2), 112 f.; Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 137 ff. und Jindra, Verfall (wie Anm. 29), 209 f.

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fort und waren Katalysator für zusätzliche Unruhen, von denen das Ruhrgebiet nach dem Ersten Weltkrieg erschüttert werden sollte.37 Für Krupp war es von existenzieller Bedeutung, für die verbliebenen Belegschaften eine ausreichende Beschäftigung zu finden. Die Nachfrage nach Rüstungsgütern war nach dem Waffenstillstand nahezu komplett eingebrochen, und es war zunächst nicht damit zu rechnen, dass sich daran auf absehbare Zeit etwas ändern würde, obgleich über die künftige Friedensordnung noch keine Klarheit herrschte. Da bereits seit dem Kriegsausbruch kaum noch ausländische Kunden beliefert wurden, konnte das Unternehmen nicht ohne größeren Aufwand an frühere internationale Geschäftsbeziehungen anknüpfen. Erste Möglichkeiten zu einer wieder stärkeren Tätigkeit im zivilen Sektor bildeten die Materiallieferungen für die Eisenbahn, vor allem Schienen und Radreifen, die zu den wenigen Geschäftsfeldern gehörten, die während des Krieges abseits der Rüstungsproduktion fortgeführt worden waren. In diesem Bereich waren, begünstigt durch eine vergleichsweise gute Konjunkturlage im Stahlsektor, schon bald nach dem Waffenstillstand Nachfragesteigerungen, auch aus dem Ausland, zu erkennen, von denen Krupp wider Erwarten sehr gut profitieren konnte.38 Für eine Auslastung der Kruppschen Produktionskapazitäten mussten darüber hinaus neue Geschäftsfelder erschlossen werden. Hierzu schrieb Krupp sogar einen Ideenwettbewerb in der Belegschaft aus, der zu mehr als 1.300 Vorschlägen führte. Einige der eingereichten Ideen wurden tatsächlich umgesetzt.39 Bereits relativ schnell nach dem Waffenstillstand fiel die Entscheidung, nicht nur Vormaterial für die Eisenbahn, sondern zukünftig auch Lokomotiven und Waggons komplett selbst herzustellen. Ein Teil der so genannten HindenburgWerkstätten wurde bereits während des Krieges für den Bau von Lokomotiven in Erwägung gezogen, da man nach einem möglichen Kriegsende ohnehin von einer deutlich geringeren Nachfrage nach Rüstungsgütern ausging. Angefangen mit einem Großauftrag der Preußischen Staatsbahn im April 1919, dem kurze Zeit später ein weiterer langfristiger Auftrag von gleicher Stelle folgte, konnte der Kruppsche Lokomotiv- und Wagenbau (kurz: Lowa) in den folgenden Jahren zahlreiche Kunden im In- und Ausland gewinnen. Neben einem Schwerpunkt bei Lokomotiven für den normalspurigen Güterverkehr gehörten auch Gruben- und Feldbahnen sowie dafür notwendiges Zubehör zum neuen Pro37 Vgl. u. a. Ralf Stremmel, Die Rote Ruhr-Armee in Essen. Neue Aspekte eines Bürgerkrieges, Münster 2020, 77 ff. 38 Vgl. Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 98 ff. 39 Vgl. ebd., 99; Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 2: 1919–1926, S. 34, in: HA Krupp, FAH 4 E 10.2 und Kruppsche Mitteilungen 48, 7. Dezember 1918, 305.

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duktportfolio des Lowa.40 Im Vergleich zur Vorkriegszeit richtete sich Krupp bei zivilen Gütern nun verstärkt auf Fertigprodukte aus. Das wohl bekannteste Beispiel aus dieser Zeit ist abgesehen von den Lokomotiven der Einstieg in den Bau von Lastkraftwagen, der im Jahr 1919 in den früheren Rüstungswerkstätten der Gussstahlfabrik aufgenommen wurde. Hierfür gab es auf den zunächst noch überschaubaren Märkten für Kraftfahrzeuge durchaus eine respektable Nachfrage.41 Am Standort Essen dominierten nach dem Krieg Stahlverarbeitung und Maschinenbau, wohingegen sich die Friedrich-Alfred-Hütte in Rheinhausen neben der Herstellung von Roheisen und Rohstahl weiterhin wie in der Vorkriegszeit vor allem um Schienen kümmerte. Eine vollständige Konzentration auf Massenstähle wurde nach dem Krieg bei Krupp immer wieder in Erwägung gezogen, doch mit den neuen Produkten war zudem das Ziel verbunden, die auf Qualitätsfertigung beruhende Tradition des Unternehmens zu bewahren. Dies sollte unter anderem mit Produkten wie Landmaschinen und Registrierkassen gelingen, war aber nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Der Bau von Motorrollern erweis sich sogar als völliger Fehlschlag und wurde bereits nach kurzer Zeit wieder eingestellt.42 Unabhängig von Erfolgen auf den Märkten fuhren die neuen Produktionsbereiche in der Folgezeit allerdings fast ausschließlich Verluste ein. Ausnahmen bildeten der Bereich Widia-Hartmetall sowie Industrie- und Feldbahnen. Haupteinnahmequelle blieb bei Krupp weiterhin die klassische Stahlherstellung und -verarbeitung.43 Die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Umstellung der Produktpalette waren äußerst schwierig. Es fehlte an Know-how auf allen Ebenen im Unternehmen und an der für den Absatz notwendigen Position auf den Märkten. 40 Vgl. Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 2: 1919–1926, S. 15 ff., in: HA Krupp, FAH 4 E 10.2; Werner Quambusch, Das Problem der Arbeitsleistungen bei der Fried. Krupp Aktiengesellschaft Gußstahlfabrik, Essen infolge des Weltkrieges, Diss., Würzburg 1922, 176 f.; Karl Rainer Repetzki (Bearb.), Krupp im Dienste der Dampflokomotive, Nachdruck der Ausgabe von 1940, Moers 1981, 68 ff. und Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 100 ff. 41 Vgl. Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 103 f. und Bernd Regenberg, Das Lastwagen-Album Krupp. Geschichte der Krupp-Lastkraftwagen, Brilon 1996, 7 ff. 42 Vgl. u. a. Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 2: 1919–1926, S. 31 ff., in: HA Krupp, FAH 4 E 10.2; Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 104 f.; James, Krupp (wie Anm. 3), 159 f.; Pierenkemper, Finanzkrise der Fried. Krupp AG (wie Anm. 17), 68 f. und Ralf Stremmel, Krupp und der erste deutsche Motorroller, in: Industriekultur 4 (2019), 44 f. 43 Vgl. Unveröffentlichte Aufstellung zur Bedeutung verschiedener Produktionszweige des Krupp-Konzerns während der Weimarer Republik (Verf.: Ralf Stremmel, Historisches Archiv Krupp, 4. Februar 2006) sowie Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 101 ff.

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Die während des Krieges erwirtschafteten Gewinne wurden zwar deutlich weniger zur Auszahlung einer Dividende an die Eigentümerfamilie genutzt, sondern stärker zur Reinvestition in die Bereiche der Rüstungswirtschaft und zur Stärkung der Reserven, doch waren diese Rücklagen nach Kriegsende schnell aufgebraucht. Die Inflation hatte zwar in Teilen den Zugang zu ausländischen Märkten erleichtert, aber gleichzeitig die notwendige Kapitalbeschaffung erschwert.44 Zudem waren vor allem die ersten Monate der Umstellungsphase von der Hoffnung geprägt, dass perspektivisch wieder neue Rüstungsaufträge auf das Unternehmen zukommen würden. Diese Möglichkeit sollte mit dem Abschluss des Versailler Vertrages jedoch auf absehbare Zeit nahezu vollständig verschwinden.

Der Versailler Vertrag und die Einrichtung der Militärkontrolle Während Krupp nach dem Waffenstillstand im November 1918 zwar in immensem Maße den wegbrechenden Rüstungsaufträgen und den großen Umwälzungen in Deutschland ausgesetzt war,45 behielt das Unternehmen zunächst eine gewisse, wenn auch durch die äußeren Umstände stark eingeschränkte Handlungsfreiheit. Dies änderte sich mit dem Abschluss des Versailler Vertrages im Juni 1919, der die weitere Entwicklung des Konzerns ebenso institutionell beschränkte und zu einer langfristigen Umstellung führen sollte. Obgleich Krupp bereits seit dem Waffenstillstand am Aufbau neuer Geschäftsfelder arbeitete und nicht alle im Friedensvertrag festgelegten Bedingungen völlig überraschend kamen, bedeutete die Umsetzung des Vertrages einen weiteren massiven und existenzgefährdenden Einschnitt. Über den Verlauf der Verhandlungen zur Ausarbeitung des Versailler Vertrages dürfte das Unternehmen gut informiert gewesen sein, da Otto Wiedfeldt, der seit 1918 zum Direktorium des Unternehmens gehörte, gleichzeitig als wirtschaftlicher Berater für die deutsche Friedensdelegation in Versailles tätig war. Doch auch dessen an die Politik formulierten Eingaben hatten wie alle von deutscher Seite vorgetragenen Einwände und Proteste gegen einzelne Vertrags-

44 Vgl. Pierenkemper, Finanzkrise der Fried. Krupp AG (wie Anm. 17), 64; Burchardt, Krupp im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 2), 118 f. und Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 106 f. 45 Vgl. Wisotzky, Unruhige Zeiten (wie Anm. 27), 78 ff. und Stremmel, Die Rote Ruhr-Armee (wie Anm. 37), 7 ff.

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klauseln keinen nennenswerten Erfolg.46 Das am 28. Juni 1919 unterzeichnete Vertragswerk von Versailles enthielt letztlich 440 Artikel, in denen zahlreiche Einzelaspekte der künftigen Friedensordnung zum Teil bis ins kleinste Detail geregelt wurden. Neben dem politisch bedeutsamen Kriegsschuld-Artikel (Art. 231) regelte der Vertrag unter anderem Reparationsleistungen, Gebietsabtretungen und Entwaffnungsbestimmungen, die erhebliche Auswirkungen auf die deutsche Industrie hatten. So sah Artikel 168 vor, die deutschen Fertigungskapazitäten für Waffen und Kriegsgerät auf ein Minimum zu reduzieren. Diese Produktion sollte auf wenige Fabriken beschränkt bleiben, die durch die Alliierten gesondert genehmigt werden mussten. Die Herstellung bestimmter Waffen wie Panzer, Flugzeuge oder schwerste Geschütze wurde gänzlich verboten. Zudem erfolgte ein Verbot der Ausfuhr jeglichen Kriegsmaterials. Die nicht mehr benötigten Werkzeuge und Maschinen für die Herstellung von Kriegsgeräten mussten, so Artikel 169 des Friedensvertrages, an die Alliierten ausgeliefert oder zerstört werden.47 Es erklärt sich damit von selbst, dass die Entwaffnungsbestimmungen den Krupp-Konzern in seiner Substanz treffen würden. Nicht nur eine Rückkehr zur Rüstungsproduktion würde auf absehbare Zeit unmöglich sein, ebenso sollten dem Unternehmen die technischen Möglichkeiten genommen werden, ohne größeren Aufwand wieder in die Produktion von Kriegsmaterial einsteigen zu können. Damit standen dem Konzern umfangreiche Demontage- und Abrüstungsarbeiten bevor. Zur Überwachung der Entwaffnung und Militärkontrolle Deutschlands setzten die Siegermächte Kontrollkommissionen ein. Vorgesehen waren hierzu eine für den Heeresbereich zuständige Interalliierte Militär-Kontroll-Kommission (IMKK), eine für die Marine zuständige Naval Interallied Commission of Control (NIACC) sowie die Interalliierte Luftfahrt Überwachungs-Kommission (ILÜK). Diese Kommissionen sollten sowohl für die unmittelbare Überwachung im militärischen Bereich als auch für die Überwachung der Demontage in den Industriebetrieben in Deutschland zum Einsatz kommen.48 Während der Verhandlungen zwischen den Siegermächten zur Einrichtung der Kontrollkommissionen wurde die wohl eher rhetorische Frage aufgeworfen, ob es nicht ausreichen würde, lediglich die Krupp-Werke zu zerstören, um jegli46 Vgl. hierzu diverser Schriftwechsel von Otto Wiedfeldt, u. a. in den Akten HA Krupp, WA 3/ 226 und HA Krupp, WA 7 f 1412; Jindra, Verfall (wie Anm. 29), 211 f. und Leonhard, Die Büchse der Pandora (wie Anm. 21), 951. 47 Vgl. Leonhard, Die Büchse der Pandora (wie Anm. 21), 951 ff.; Hans-Christof Kraus, Versailles und die Folgen. Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung 1919–1933, Berlin 2013, 27 ff. und Hansen, Reichswehr und Industrie (wie Anm. 1), 30. 48 Vgl. Hansen, Reichswehr und Industrie (wie Anm. 1), 30 f. und Michael Salewski, Entwaffnung und Militärkontrolle in Deutschland 1919–1927, München 1966, 41 ff.

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ches Wiederbewaffnungspotenzial Deutschlands zu beseitigen.49 Solche Äußerungen zeigten vor allem, dass Krupp selbst in der Wahrnehmung von außen unbestritten eine äußerst wichtige Rolle in der deutschen Rüstungsindustrie zukam. Dies zeigte sich ebenfalls in der Durchsetzung der Abrüstungsauflagen: Zwar kamen rund 7.000 deutsche Industriebetriebe unter die Überwachung der IMKK, doch gehörte Krupp neben den in der Deutsche Werke AG zusammengefassten Rüstungsbetrieben zu den beiden einzigen Unternehmen, für die nochmals gesonderte Maßnahmen getroffen wurden. So zog ab Mai 1920 eine eigens für Krupp eingerichtete Spezialeinheit der IMKK in die Gussstahlfabrik, die die anstehenden Zerstörungs- und Demontagearbeiten überwachte. Dieser Untergruppe gehörten englische und französische Offiziere an. Bereits zu Beginn der Demontage rechnete die Kommission mit etwa 10.000 Maschinen, die bei Krupp zur Verschrottung oder zum Verkauf anstanden.50 Zum Arbeitsklima zwischen dem Unternehmen und den Offizieren der Kontrollkommission sind unterschiedliche Aussagen überliefert: Obwohl von Seiten der beteiligten Unternehmensvertreter rückblickend trotz der weit auseinanderliegenden Interessen von einer korrekten und in Teilen sogar fast freundschaftlichen Zusammenarbeit gesprochen wurde, klagten die Kontrolleure in der Rückschau über mangelhafte Kooperation und Versuche, die Offiziere zu hintergehen.51 Ein zweifellos regelmäßiger Streitpunkt zwischen beiden Parteien war die Frage, welche technische Ausstattung aus den Kruppschen Produktionshallen nun als Kriegsgerät definiert und somit zerstört oder abgegeben werden musste. So klagte das Unternehmen darüber, dass zum Beispiel selbst Kräne und Transportanlagen zerstört werden mussten, die zwar zur Herstellung von Geschützen genutzt, nun aber schon längst für zivile Zwecke eingesetzt wurden. Dies stellte jedoch nicht nur bei Krupp ein Problem dar, sondern zog sich trotz der Erstellung und mehrfachen Aktualisierung detaillierter Kriegsmateriallisten bei der IMKK durch den gesamten Prozess der industriellen Abrüstung.52 Neben 49 Vgl. Salewski, Entwaffnung und Militärkontrolle (wie Anm. 48), 23. 50 Vgl. Hansen, Reichswehr und Industrie (wie Anm. 1), 33 f.; Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 1: 1914–1919, S. 319, in: HA Krupp, FAH 4 E 10.2 und Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 109 f. 51 Diese Informationen gehen aus den Unterlagen der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg hervor und müssen daher mit etwas kritischer Distanz betrachtet werden (vgl. Aussage von Karl Wendt, 26. Januar 1948 und Aussage von August Suhlry, 18. Februar 1948, beide in: HA Krupp, WA 40/640; Ausschnitt aus dem Schlussbericht der IMKK, Januar 1927, in: HA Krupp, WA 40/265 sowie zusammenfassend Reusch, Fried. Krupp AG und der Aufbau der Reichswehr (wie Anm. 33), 12 ff.). 52 Vgl. Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 1: 1914–1919, S. 319, in: HA Krupp, FAH 4 E 10.1 und Salewski, Entwaffnung und Militärkontrolle (wie Anm. 48), 99 ff.

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der durchgehend schwierigen Frage, welches Material und welches Gerät nun tatsächlich der Waffenproduktion dient, kam es bei Krupp zusätzlich aufgrund der großen Ausdehnung der Fabrikanlagen in Essen bei den Kontrollen der IMKK immer wieder zu Vorwürfen gegenüber dem Unternehmen, dass Kriegsmaterial an vielen Stellen noch versteckt werden würde. Um der Kontrollkommission nach ersten Auseinandersetzungen keine weitere Angriffsfläche zu bieten, wurden die einzelnen Betriebsführer in der Gussstahlfabrik seitens des Unternehmens bereits längere Zeit nach Beginn der Kontrollmaßnahmen nochmals aufgefordert, ihre Bereiche genauestens nach möglichem Kriegsmaterial abzusuchen und dies zu melden.53 Für Anfang 1925 liegt ein Zwischenfazit über die Abrüstungsarbeiten in der Essener Gussstahlfabrik vor. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden auf Anordnung der Kontrolloffiziere 9.173 Maschinen mit einem Gewicht von 48.000 Tonnen zerstört oder zwangsweise verkauft. Dies entsprach 44,5 Prozent des gesamten Maschinenparks der Gussstahlfabrik. Hinzu kamen rund 400 weitere Anlagen, so zum Beispiel Pressen, Härteöfen, Laufkräne oder Montageschächte für Geschütze. Umfangreiche Zerstörungen baulicher Anlagen gab es ebenfalls in der werkseigenen Feuerwerkerei in Bottrop sowie auf den unternehmenseigenen Schießplätzen in Essen und Meppen.54 Auf den Schießplätzen mussten mehr als 150 Versuchsgeschütze und 110 Tonnen Versuchsmunition vernichtet werden. Dazu kam die Zerstörung von Lehren, Gesenken, Vorrichten und Spezialwerkzeugen, die potenziell für die Rüstungsproduktion geeignet waren. Deren Anzahl bewegte sich bei mehr als 800.000 Stücken mit einem Gesamtgewicht von rund 9.500 Tonnen.55 Bis zum endgültigen Abzug der IMKK zum 1. Januar 1926 kamen noch weitere Abrüstungsarbeiten hinzu: So erfolgte noch die Zerstörung von 38 Großmaschinen, unter anderem Dreh- und Bohrbänke mit einer Länge von bis zu 54 Metern, für deren Erhalt das Unternehmen massiv gekämpft hatte. Diese Maschinen wurden bereits für die Herstellung ziviler Güter verwendet, weshalb das Unternehmen hier von einer „sinnlosen Vernichtung wertvoller wirtschaftlicher Werte“56 sprach.57 Dagegen hieß es seitens der Alliierten, dass 53 Vgl. u. a. Schreiben an die Betriebe und Büros, 2.11.1920, in: HA Krupp, WA 4/1694. 54 In Meppen besaß Krupp seit 1876 als Versuchs- und Präsentationsstandort einen eigenen Schießplatz von 25 Kilometern Länge und 4 Kilometern Breite (vgl. u. a. Jahrbuch für den Oberbergamtsbezirk Dortmund (wie Anm. 6), 418 und Fried. Krupp Aktiengesellschaft, Der Kruppsche Versuchsplatz Meppen 1877–1927, Essen 1927). 55 Vgl. Aktennotiz, Zerstörte Maschinen und Anlagen der Fried. Krupp AG als Folge des Versailler Vertrages, in: HA Krupp, WA 104/2206 und Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 1: 1914–1919, S. 319, in: HA Krupp, FAH 4 E 10.1. 56 Bericht über die Tätigkeit der IMKK, in: HA Krupp, WA 16 v 44. 57 Vgl. ebd.

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diese Maschinen unkontrollierbar ausbaufähig seien. Faktisch ging es auf alliierter Seite aber nicht allein um militärische Gesichtspunkte, sondern in Teilen auch um eine wirtschaftliche Schwächung des Unternehmens.58 Die Beschlüsse des Versailler Vertrages hatten neben der Demontage in weiteren Bereichen Auswirkungen auf den Krupp-Konzern: Obwohl bereits während des Krieges die Zufuhr von Erzen aus dem spanischen Bilbao gestoppt wurde, verlor das Unternehmen nach Kriegsende endgültig die Anteile an der Orconera-Gesellschaft, die ihren Sitz wiederum in London hatte. Die Anteile Krupps wurden durch die britische Regierung an die anderen englischen Gesellschafter verkauft. Selbst der Liefervertrag wurde für ungültig erklärt, wogegen Krupp noch über viele Jahre erfolglos klagte. Mit den Gebietsabtretungen nach Frankreich verlor Krupp zudem den Zugriff auf die eigenen Eisenerzgruben in Lothringen.59 Auch bei der Kohlenversorgung waren neue Lieferverträge bzw. Interessensgemeinschaftsverträge mit verschiedenen Zechen erforderlich. Dies rührte unter anderem daher, dass das Unternehmen die lukrativen Anteile an der Zeche Friedrich Heinrich verlor, die es erst während des Krieges erworben hatte. Die französischen Vorbesitzer hatten auf Grundlage des Versailler Vertrages erfolgreich auf Rückgabe des linksrheinischen Bergwerks geklagt.60 Ungeachtet der großen Dimensionen der Abrüstung gehörte Krupp zu den wenigen Firmen in Deutschland, die auf Grundlage des Versailler Vertrages für eine begrenzte Rüstungsproduktion zugelassen waren. Hierzu gehörten zunächst Geschütze für die Marine sowie Luftkessel für Torpedos. Zudem stellte das Stahlwerk Annen, seit 1886 Tochterunternehmen von Krupp, Laufstäbe für Gewehre her, die an eine Gewehrfabrik zur Weiterverarbeitung geliefert wurden. Der Umsatzanteil dieser offiziellen Rüstungsproduktion am Gesamtumsatz des Konzerns betrug zwischen 1924 und 1933 aber lediglich 0,7 Prozent.61 Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang die Mitwirkung an der ver58 Vgl. Karl Heinrich Pohl, Die Finanzkrise bei Krupp und die Sicherheitspolitik Stresemanns. Ein Beitrag zum Verhältnis von Wirtschaft und Außenpolitik in der Weimarer Republik, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2 (1974), 505–525, hier 511. 59 Vgl. Loscertales, Deutsche Investitionen (wie Anm. 7), 94 ff.; Otto Lenz, Erze und Roheisen. Ferrochrom, Ferromangan, Nickel (Kriegsdenkschrift, Kapitel B II und B III), in: HA Krupp, WA 7 f 1087 und Denkschrift Wiedfeldt zur Finanzlage von Fried. Krupp, in: HA Krupp, WA 4/1263. 60 Vgl. Wilhelm Berdrow, Die Firma Krupp im Weltkrieg und in der Nachkriegszeit, Bd. 2: 1919–1926, S. 9 ff., in: HA Krupp, FAH 4 E 10.2 und Schreiben der Rheinischen Stahlwerke AG, Fried. Krupp AG und IG Farben an das Reichswirtschaftsministerium, 10. Januar 1941, in: HA Krupp, WA 4/2880. 61 Vgl. Reusch, Fried. Krupp AG und der Aufbau der Reichswehr (wie Anm. 33), 12 f.; Krupp Mitteilungen, 17. Januar 1925 (Beilage) und unveröffentlichte Aufstellung zur Bedeutung verschiedener Produktionszweige des Krupp-Konzerns während der Weimarer Republik, (Verf.: Ralf Stremmel, Historisches Archiv Krupp, 4. Februar 2006).

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deckten Wiederaufrüstung des Deutschen Reiches, an der Krupp bereits seit 1919 beteiligt war.62

Entschädigungszahlungen und Finanzkrise Krupp hatte während des Ersten Weltkrieges zweifellos gut verdient, obwohl die Kriegsgewinne bei genauerer Betrachtung nicht so exorbitant hoch ausgefallen waren, wie es in Teilen der Literatur beschrieben wurde. Dies änderte sich schlagartig mit dem Waffenstillstand. Demobilmachung, Produktionsumstellung, die Auswirkungen des Versailler Vertrages, die Inflation sowie die politischen Umwälzungen führten in der Nachkriegszeit zu erheblichen finanziellen Belastungen. Dies mündete für Krupp schließlich 1925 in einer ausgeprägten Finanzkrise, in der das Unternehmen auch mit staatlicher Unterstützung vor dem Ruin gerettet werden musste. Entschädigungszahlungen, die der Krupp-Konzern von öffentlicher Seite für die durch Krieg und Friedensvertrag erlittenen Verluste erhielt, sind bislang meist nur als Teil dieser Unterstützungszahlungen thematisiert worden.63 Der Auszahlung dieser Entschädigungen gingen jedoch abseits der Finanzkrise jahrelange Verhandlungen zwischen dem Unternehmen und den staatlichen Stellen voraus. Zudem blieben Entschädigungen nicht auf die 1925 erfolgten Auszahlungen beschränkt, sondern verteilten sich auf verschiedenste Bereiche und Zeitpunkte. Die folgenden Angaben zu Entschädigungen erheben daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit und können aufgrund von Inflation und Währungsumstellung ein verzerrtes Bild geben. Jedoch gibt diese Aufstellung zumindest einen Überblick zu Tatbeständen, zu denen Entschädigungszahlungen erfolgten. Die Ansprüche rührten zum einen aus nicht oder nur unvollständig erfüllten Lieferverträgen, aber eben auch aus Schäden, die dem Unternehmen durch Einwirkungen der Kriegsgegner entstanden waren, insbesondere durch Beschlagnahmungen, Reparationen und Demontagen. Bereits mit dem Hindenburg-Programm erfolgten aufgrund der eigens dafür bei Krupp ausgebauten Produktionskapazitäten Vereinbarungen mit der Heeres- und Marineverwaltung zu möglichen Entschädigungen bei Verzicht auf schon erteilte oder in Aussicht gestellte Aufträge oder bei einem vorzeitigen Kriegsende. Bezüglich der Auszahlung dieser Summen kam es mit der Marineverwaltung bis 1921 zu einem Abschluss, wohingegen sich die Verhandlungen 62 Vgl. Tenfelde, Krupp zwischen Krieg und Krisen (wie Anm. 1), 108 ff. und Reusch, Fried. Krupp AG und der Aufbau der Reichswehr (wie Anm. 33), 17 ff. 63 Zu den Kriegsgewinnen und zur Finanzkrise vgl. Burchardt, Krupp im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 2), 78 ff. und Pierenkemper, Finanzkrise der Fried. Krupp AG (wie Anm. 17), 63 f.

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mit der Heeresverwaltung deutlich länger hinzogen.64 Zwischenzeitlich hatte bei Krupp die durch den Versailler Vertrag angeordnete industrielle Abrüstung begonnen, aus denen der Konzern ebenso Entschädigungsansprüche gegenüber dem Deutschen Reich erhob. Unternehmenseigenen Berechnungen zufolge betrug der Anschaffungswert aller bis 1925 zerstörten oder abgegebenen Anlagen und Gegenstände umgerechnet 102 Mio. Goldmark.65 An Entschädigungsleistungen für den Restwert der Anlagen, den Zerstörungsaufwand, aus Verkaufserlösen sowie abzüglich des Schrottpreises wären zum gleichen Zeitpunkt nach Unternehmensangaben jedoch erst 6,4 Mio. Goldmark zusammengekommen. Der Auszahlung weiterer Zahlungen standen zu dieser Zeit noch nicht durch das Reich anerkannte Ansprüche sowie ab 1923 eine Reichsverordnung zur Aussetzung von Entschädigungsleistungen entgegen.66 Die staatliche Unterstützung des Krupp-Konzerns im Zuge der Finanzkrise bot in gewisser Weise beiden Seiten die Möglichkeit, unter die noch offenen Entschädigungsverfahren einen Schlussstrich zu ziehen. Krupp nahm im Frühjahr 1925 Verhandlungen mit der Reichsregierung zur finanziellen Unterstützung auf und ermittelte einen Geldbedarf von 49 Mio. Reichsmark (RM), um die Liquidität des Unternehmens zu sichern. Die Reichsregierung stellte schließlich Finanzmittel in Höhe von 40 Mio. RM in Aussicht, wovon ein Teil allerdings nur als Kredit ausgezahlt werden sollte. Von den Direktzahlungen ohne Rückzahlungspflicht waren 11 Mio. RM explizit als Abrüstungsentschädigungen deklariert, wobei ein Teil davon als Vorschuss für die noch laufenden Zerstörungen gezahlt wurde. Auch wenn dieser Betrag letztlich eine Vergleichszahlung zwischen dem Deutschen Reich und der Firma Krupp darstellte, beruhte die Festlegung dieses Betrages nicht allein auf groben Schätzungen. Während der Gespräche zur finanziellen Unterstützung Krupps liefen parallel im Frühjahr 1925 sehr ausgiebige Nebenverhandlungen mit detaillierten Aufstellungen über die bei Krupp entstandenen Abrüstungskosten und bereits ausgezahlten Entschädigungssummen.67 Abgeschlossen waren die Entschädigungszahlungen an Krupp mit dieser Auszahlung jedoch nicht. Die durch die IMKK erzwungene Zerstö64 Vgl. Die KM-Verkaufsbüros, Kalkulation, Preise und Zahlungsweise (Kriegsdenkschrift, Kapitel B V 12 e), S. 9 ff., in: HA Krupp, WA 7 f 1104 und Abkommen zwischen der Fried. Krupp AG und dem Reichsabwicklungsamt, 6. November 1920, in: Bundesarchiv Berlin [künftig BArch Berlin], R2103-175. 65 Vgl. Aktennotiz, Zerstörte Maschinen und Anlagen der Fried. Krupp AG als Folge des Versailler Vertrages, in: HA Krupp, WA 104/2206. 66 Vgl. Aktennotiz zur Abrüstung, 27. März 1925, in: HA Krupp, WA 4/3334. 67 Vgl. Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Fried. Krupp AG, 23. April 1925, in: HA Krupp, WA 4/3334; diverser Schriftverkehr im Vorfeld der Vertragsschließung in der gleichen Akte sowie Pierenkemper, Finanzkrise der Fried. Krupp AG (wie Anm. 17), 72.

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rung von 38 weiteren Großmaschinen, die wie im vorangegangenen Abschnitt erläutert, bis Anfang 1926 nach fast sechs Jahren den Abschluss der industriellen Abrüstung bei Krupp bildete, brachte zusammen mit der Zerstörung von elf zur Sprengstoffherstellung genutzten Pressen weitere Nachzahlungen, die zum Teil mit den bereits ausgezahlten Vorschüssen verrechnet wurden.68 Eine letzte aus der Demontage resultierende Entschädigungszahlung in Höhe von 150.000 RM wurde schließlich im Dezember 1927 an Krupp ausgezahlt.69 Im Rohstoffbereich von Krupp zogen sich Entschädigungszahlungen sogar noch länger hin. Für den Verlust der Zeche Friedrich Heinrich an die französischen Vorbesitzer wurden allen drei vormals beteiligten Unternehmen, also neben Krupp auch Rheinstahl und BASF, zwischen 1921 und 1930 Entschädigungen in Höhe von knapp 841.000 Goldmark gezahlt. Krupp rechnete dagegen vor, dass jedes beteiligte Unternehmen zuvor aber über 12 Mio. Goldmark investiert hatte, womit die Entschädigung nur einen Bruchteil des Verlustes abgedeckt hätte, ähnlich wie es bei den Zahlungen für die Demontage in der Gussstahlfabrik der Fall war.70 Deutlich stärker konnte hingegen von kriegsbedingten Entschädigungen die Kruppsche Reederei profitieren, die ihre beiden verbliebenen Schiffe mit dem Versailler Vertrag als Reparationsleistung an Frankreich übergeben musste.71 Deren Verluste fielen allerdings noch deutlich höher aus, denn schon während des Krieges im Jahr 1918 hatte Krupp bei der konzerneigenen Germaniawerft in Kiel zehn neue Schiffe für den eigenen Bedarf in Auftrag gegeben. Da die Bestimmungen des Versailler Vertrages auch für noch nicht fertig gestellte Schiffe eine Abgabepflicht vorsahen, fielen schließlich vier dieser zehn im Bau stehenden Schiffe aufgrund ihres Baufortschrittes ebenfalls unter die Abgabepflicht. Seitens der Reichsregierung wurden für deutsche Reedereien bereits im Laufe des Krieges durch die Einrichtung eines Wiederaufbaufonds Entschädigungszahlungen freigegeben, da diese Branche besonders stark unter den Kriegsfolgen zu leiden hatte. Insgesamt musste die deutsche Handelsschifffahrt infolge des Krieges – durch Kaperung, Versenkung, Beschlagnahmung oder als Ersatzleistung – den Verlust von 872 Schiffen hinnehmen, was auf Bruttoregis-

68 Vgl. hierzu den Schriftverkehr zwischen Krupp und dem Reichsfinanzministerium, insbesondere Niederschrift über eine Verhandlung am 13. Oktober 1925, in: BArch Berlin, R30011550a. 69 Vgl. Schreiben des Reichsministers der Finanzen an die Fried. Krupp AG, 1. Dezember 1927, in: HA Krupp, WA 4/3344. 70 Schreiben der Rheinischen Stahlwerke AG, Fried. Krupp AG und IG Farben an das Reichswirtschaftsministerium, 10. Januar 1941, in: HA Krupp, WA 4/2880. 71 Vgl. Typoskript, Die Kruppsche Reederei, ca. 1941, in HA Krupp, WA 4/1776.

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tertonnen gerechnet etwa die Hälfte des Vorkriegsbestandes betraf.72 Die an Krupp ausgezahlten Entschädigungen ermöglichten es der Reederei schließlich, drei der noch sechs bei der Germaniawerft im Bau befindlichen, aber nicht abgelieferten Schiffe zu erwerben. Dies führte nicht nur zu einem verhältnismäßig schnellen Wiederaufbau, sondern überdies zu einer Modernisierung der Flotte bei deutlicher Erhöhung der Traglast.73 Zugleich profitierte die konzerneigene Germaniawerft von den durch Entschädigungszahlungen finanzierten Bauaufträgen. Dort waren nach dem Krieg ebenso nahezu alle Aufträge weggebrochen, und zudem liefen auch dort umfangreiche Demontagearbeiten. Seitens der Germaniawerft hieß es, dass die mit staatlicher Unterstützung realisierten Aufträge für die konzerneigene Reederei eine wichtige Grundlage zur Sicherung des Unternehmens gewesen seien und einen Übergang zur Produktion von zivilen Handelsschiffen und Yachten erleichtert hätten. Trotz dieser staatlichen Unterstützungszahlungen blieb die finanzielle Situation bei der Germaniawerft jedoch auch in der Folgezeit durchweg prekär und hatte einen nicht geringen Anteil an der schwierigen finanziellen Situation des Gesamtkonzerns.74

4 Fazit Krupp war während des Ersten Weltkrieges wie kaum eine andere Firma vergleichbarer Größe in die Kriegswirtschaft des Deutschen Reiches eingebunden. Die Abhängigkeit von der Rüstungsproduktion, die im Laufe des Krieges nochmals deutlich zunahm, führte dazu, dass sich das größte deutsche Unternehmen nach Kriegsende innerhalb kürzester Zeit vollständig umstellen musste. Während dieser Prozess bereits mit dem Waffenstillstand im November 1918 eingeleitet wurde, stieg mit dem Abschluss des Versailler Vertrages die Notwendigkeit einer umfangreichen Umstrukturierung weiter an. Damit bedeutete der Friedensvertrag für Krupp einen erzwungenen Bruch mit der jahrzehntelangen Tradition als „Rüstungsschmiede“. Die dem Unternehmen damit „aufgezwungene“ Umstellung trug zwar in der Folgezeit zu einer stärkeren Risikostreuung bei, konnte oder wollte durch die Verantwortlichen aber nicht in aller Konsequenz durchgeführt werden. Vor allem konnte die Umstellung des Konzerns die 72 Vgl. Marc Fisser, Die deutsche Seeschiffahrt am Ende des Ersten Weltkrieges und in der Weimarer Republik, in: Deutsches Schiffahrtsarchiv (1990), 111–142, hier 111 ff. 73 Vgl. Typoskript, Die Kruppsche Reederei, ca. 1941, in: HA Krupp, WA 4/1776. 74 Vgl. Germaniawerft im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit (Kriegsdenkschrift, Kapitel B VIII), S. 78 ff., in: HA Krupp WA 7 f 1115 und Pierenkemper, Die Finanzkrise der Fried. Krupp AG (wie Anm. 17), 69.

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wirtschaftliche Krise der Nachkriegszeit auch deshalb bei weitem nicht abfangen, weil praktisch kein neuer Produktionszweig Gewinne einfuhr. Außerdem blieben die Belegschaftszahlen trotz des umfangreichen Personalabbaus nach Kriegsende weiterhin hoch, womit eine tatsächliche Anpassung des Konzerns und dessen Kostenstruktur an die wirtschaftliche Gesamtsituation ausblieb. Staatliche Entschädigungszahlungen aufgrund von durch Krieg und Friedensvertrag erlittenen Verlusten waren zwar willkommene Hilfen für den angeschlagenen Familienkonzern, deckten aber letztlich nur einen Bruchteil der entstandenen Finanzlücken ab. Fraglich bleibt, ob die Diversifizierung ab 1918 überhaupt als langfristige Umstrukturierung oder lediglich als eine kurzzeitige Überbrückung verstanden wurde, bis wiederum ein Einstieg in die Rüstungswirtschaft erfolgen konnte. Von den existenzbedrohenden Belastungen konnte sich das Unternehmen zwar in der zweiten Hälfte der 20er Jahre in Teilen befreien, von einer wirklichen Erholung kann man jedoch erst ab 1934 sprechen. Neben dem allgemeinen Konjunkturaufschwung profitierte Krupp von den nationalsozialistischen Aufrüstungsbestrebungen, die eine Rückkehr zum Waffengeschäft ermöglichten. Rüstungsgüter bekamen in der Folgezeit wieder einen hohen Anteil an der Gesamtproduktion, wenngleich nicht in vergleichbarer Höhe wie im Ersten Weltkrieg. Ob man dies als einen gewissen Lerneffekt aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges bezeichnen kann und welche Produktionszweige in dieser Zeit letztlich stärker zur wirtschaftlichen Erholung des Konzerns beigetragen haben, muss allerdings noch durch weitere Forschungen genauer analysiert werden.

Christopher Kopper

Ein Opfer der alliierten Reparationspolitik? Die technische und wirtschaftliche Sanierung der Reichsbahn von 1919 bis 1924

1 Die Ausgangssituation vor dem Waffenstillstand am 11. November 1918 Der Erste Weltkrieg war ein Verschleißkrieg, der Millionen Soldaten das Leben kostete und gewaltige Mengen Kriegsmaterial verschlang. Die bislang beispiellose Mobilisierung ökonomischer Ressourcen für die Kriegsführung schlug sich unter anderem im Anteil der Kriegsausgaben am Nettosozialprodukt des Deutschen Reiches nieder, der 1917 mit 59 Prozent einen Rekordwert erreichte.1 1916 prägte Feldmarschall Erich Ludendorff zur Rechtfertigung des Hindenburg-Programms für die kriegswirtschaftliche Mobilisierung aller ökonomischen Ressourcen den Begriff des „Totalen Krieges“, der Vorbild für die ökonomische Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg werden sollte. Obwohl die militärische und die ökonomische Kriegsführung ohne die Eisenbahn undenkbar war, schlug sich die kriegswirtschaftliche Bedeutung der Eisenbahn im Hindenburg-Programm nicht nieder. Die Oberste Heeresleitung (OHL) versäumte es, den obersten deutschen Eisenbahnpolitiker Paul Breitenbach (Preußischen Minister für öffentliche Arbeiten) vor der Aufstellung des Hindenburg-Programms zu konsultieren. An der Nichtberücksichtigung transportökonomischer Belange änderte auch die Berufung von General Wilhelm Groener nichts, der bis 1916 Chef der Eisenbahnabteilung im Generalstab war und im Hindenburg-Programm die Leitung des militärischen Beschaffungswesen erhielt.2 Bereits im Herbst 1916 führten die erhöhte Transportnachfrage und unzureichende Investitionen in die Waggonparks der Länderbahnen zu Transportausfällen, die zunächst die Lebensmittelversorgung an der „Heimatfront“ beeinträchtigten. Der tief im kollektiven Gedächtnis der Zeitgenossen – und 1 Carsten Burhop, Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871–1918, Göttingen 2011, 195, basierend auf eine international vergleichende Schätzung von Stephen Broadberry und Mark Harrison. 2 Wilhelm Groener, Die deutschen Eisenbahnen im Weltkriege, in: Wilhelm Hoff u. a. (Hrsg.), Das deutsche Eisenbahnwesen der Gegenwart, Berlin 1923, 21–34, hier 23. Zur Eisenbahn im Ersten Weltkrieg s. a. Christopher Kopper, Transport und Verkehr, in: Marcel Boldorf (Hg.), Handbuch Deutsche Wirtschaft im Ersten Weltkrieg, Berlin 2020, 105–120. https://doi.org/10.1515/9783110765359-007

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späterer Generationen – verankerte „Kohlrübenwinter“ von 1916/17 resultierte auch aus dem Mangel an Transportraum, der die nass geernteten Kartoffeln auf dem Weg in die Städte verfaulen ließ.3 Die seit dem Winter 1916/17 zunehmenden Transportengpässe im zivilen Güterverkehr und im Fronturlauberverkehr waren das Ergebnis unzureichender Neubeschaffungen bei Güterwaggons und Personenwaggons, die noch durch Lieferschwierigkeiten bei Ersatzteilen für Loks und Waggons verschärft wurden.4 Die OHL scheute sich vor Eingriffen in die Preisbildung bei militärischen Gütern und verschärfte damit die Betriebsschwierigkeiten der Eisenbahngesellschaften im Krieg. Wegen der deutlich höheren Gewinnspannen für Rüstungsgüter stellten die Zulieferer der Bahnen ihre Produktion teilweise auf Heeresgüter um und verschärften damit den Investitionsrückstand und die Instandhaltungsdefizite der Länderbahnen. Obwohl der OHL die kriegswirtschaftliche Bedeutung der Eisenbahnen bekannt war, erhielten ihre Bedürfnisse im kriegswirtschaftlichen Leitbild des „totalen Kriegs“ keinen angemessenen Stellenwert. Das kumulativ steigende Defizit bei der Neubeschaffung und Instandhaltung von Fahrzeugen konnte nicht durch zeitweilige Rückstellungen des Werkstattpersonals vom Kriegsdienst ausgeglichen werden. Eine Substitution der unzureichenden industriellen Ersatzteillieferungen durch arbeitsintensive Eigenfertigungen in den Eisenbahnwerkstätten war wegen des zunehmenden Anteils von ungelernten und angelernten Kräften nur sehr eingeschränkt möglich.5 Im letzten Kriegsjahr 1918 waren die negativen Folgen des Instandhaltungsrückstands bei Loks und Waggons bereits so hoch wie die Belastungen durch den Fahrzeugbedarf hinter der Front. Während die deutschen Länderbahnen 1917 fast ein Fünftel ihrer Loks (5.000 Lokomotiven) für den Verkehr in den besetzten Gebieten des Westens und Ostens abgeben mussten und diese Belastung nach dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk im Februar 1918 tendenziell fiel,6 waren im Jahresdurchschnitt 1918 34 Prozent der Loks wegen Reparaturfälligkeit und laufenden Wartungsarbeiten nicht einsatzfähig. Die Differenz gegenüber einer normalen Schadlokquote von 19 Prozent (1913) führte zum Mehrausfall von ca. 3.800 Lokomotiven, der die Betriebsschwierigkeiten an der Heimat-

3 August Skalweit, Die deutsche Kriegsernährungswirtschaft, Stuttgart 1927, 190 ff. 4 Adolph Sarter, Die deutschen Eisenbahnen im Kriege, Stuttgart 1930; Reichsverkehrsministerium (Hg.), Die Deutschen Eisenbahnen 1910 bis 1920, Berlin 1923, 162; Ludwig Röbe, Zusammenbruch der deutschen Eisenbahnen? Ein Beitrag zur Frage der Verkehrsnot, Berlin 1920. 5 Sarter, Eisenbahnen im Kriege (wie Anm. 4), 285. 6 Ebd., 287.

Ein Opfer der alliierten Reparationspolitik?



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front erheblich verschärfte.7 Unzureichende Lieferungen von Schienen und anderen Gleisbaustoffen zwangen die Länderbahnen, die Gleiserneuerung bis 1917 auf die Hälfte zu reduzieren. Die daraus folgenden Schienenbrüche und Weichendefekte und Betriebsstörungen durch unzureichend gewartete Loks und Waggons verringerten die Leistungsfähigkeit des Schienennetzes noch zusätzlich.8

2 Eisenbahnen, Waffenstillstandsverhandlungen und Reparationen Die militärischen und politischen Repräsentanten der alliierten Siegermächte erkannten im rollenden Material der deutschen Eisenbahnen wertvolle mobile Kapitalgüter, die sich hervorragend für eine sofortige Kriegsentschädigung eigneten. Im Unterschied zu Maschinen konnten Lokomotiven, Güterwaggons und Personenwaggons ohne vorherige Demontage schnell übergeben werden. Das Problem der Interoperabilität mit den Fahrzeugparks der belgischen Staatsbahn (SNCB) und den großen französischen Privatbahngesellschaften (grandes lignes) war bei normalspurigen kontinentaleuropäischen Lokomotiven und Waggons wegen der vergleichbaren technischen Standards für Kupplungen und Bremsen und der ähnlichen Achslasten und Größengrenzen (Lichtraumprofile) geringfügig. Mittelfristig schuf die Eingliederung deutscher Fahrzeuge in die französischen Eisenbahnen und die SNCB jedoch Probleme, da sich die Typenvielfalt und damit auch der Instandhaltungsaufwand erhöhte. Die alliierten Vertreter in der Waffenstillstandskommission konfrontierten den deutschen Verhandlungsführer Matthias Erzberger und die übrigen Repräsentanten der Reichsregierung unmittelbar vor der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens am 11. November 1918 mit der ultimativen Forderung, binnen 31 Tagen und noch vor dem Abschluss eines Friedensvertrags 5.000 Lokomotiven, 150.000 Güterwaggons und 20.000 Personenwagen als sofortige Kriegsentschädigung zu übergeben.9 Bei einem Fahrzeugbestand von 31.000 Lokomotiven, 660.000 Güterwaggons und 64.000 Personenwagen (Stand 1920)

7 Alfred C. Mierzejewski, The Most Valuable Asset of the Reich. A History of the German National Railways, Vo. 1 (1920–1932), Chapel Hill 1999, 4. 8 Sarter, Eisenbahnen im Kriege (wie Anm. 4), 183 f. 9 Siehe die von Marschall Foch festgesetzten und von den Vertretern der Reichsregierung unterschriebenen Waffenstillstandsbedingungen, 11.11.1918, in: Deutsche Geschichte in Bildern und Dokumenten, Bd. 6: Die Weimarer Republik.

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bedeutete dies je nach Fahrzeugkategorie eine Reparationslast von einem Sechstel bis fast 30 Prozent des Bestandes.10 Es gab mehrere Gründe, weshalb die alliierten Siegermächte und vor allem Frankreich und Belgien auf Lieferungen von Eisenbahnmaterial bestanden. Das französische Eisenbahnnetz im Norden und Osten des Landes war durch Kriegshandlungen und Requisitionen stark beschädigt und in seinem Wert gemindert worden. Obwohl die Kampfzone in Belgien kleiner war, hatte die belgische Staatsbahn unter dem Verschleiß ihres Lok- und Waggonmaterials durch die deutschen Besatzer leiden müssen. Es fällt auf, dass sich die ersten Reparationsforderungen der Alliierten auf Schienenfahrzeuge konzentrierten, während sie die Forderung nach Auslieferung eines größeren Teils der deutschen Handelsflotte erst zu einem späteren Zeitpunkt erhoben. Hierfür war das Motiv bestimmend, dass die deutschen Bundesstaaten unmittelbare Eigentümer der Regiebahnen waren und ohne ein Enteignungsverfahren sofort auf das Eisenbahnmaterial zugreifen konnten. Während die Alliierten die Zahl der abzuliefernden Schienenfahrzeuge für unabänderlich erklärten und die Einwände der deutschen Delegierten ignorierten, erwiesen sich die Waffenstillstandsbedingungen in einem Punkt als nicht erfüllbar.11 Die Zusatzbestimmung, die Loks und Waggons „in gutem Zustand“ an die Alliierten zu übergeben, ließ sich nicht mit der geforderten Zahl von Loks und Waggons vereinbaren. Angesichts des hohen Reparaturbestands an Lokomotiven und Waggons hätte bei der Sofortablieferung von 5.000 Loks und 150.000 Güterwaggons der Zusammenbruch des Bahnbetriebs im Deutschen Reich gedroht. Die Mitglieder der deutschen Delegation wiesen den französischen Kommissionsvorsitzenden Marschall Foch darauf hin, dass diese Forderung die Räumung der besetzten Gebiete im Westen und die Demobilmachung der deutschen Streitkräfte verhindern würde.12 Das wichtigste militärische Ziel der Alliierten, der Abzug des deutschen Heeres auf die rechte Rheinseite inner-

10 Manfred Pohl/Susanne Kill, Von den Staatsbahnen zur Reichsbahn 1918–1924, in: Lothar Gall/Manfred Pohl (Hrsg.), Die Eisenbahn in Deutschland, München 1999, 71–107, hier 84. Bestandszahlen für 1920 nach Mierzejewski, Most valuable asset (wie Anm. 7), 359. Da die Reparationen nicht aus dem Fahrzeugbestand für die abzutretenden Gebiete im Westen (ElsassLothringen, Eupen-Malmedy) und Osten (Posen, Westpreußen) des Reiches entnommen werden durften, ist es sinnvoll, die Bestandszahlen für 1920 statt für 1919 zu verwenden. 11 Die Bedingungen von Compiègne, in: Der Waffenstillstand 1918–1919. Das Dokumenten-Material der Waffenstillstands-Verhandlungen, i. A. der Deutschen Waffenstillstandskommission, 3 Bde., Berlin 1920, hier Bd. 1, 22–57. 12 Werner Haustein, Die völkerrechtliche Stellung der Eisenbahnen in Kriegs- und Nachkriegszeiten, Köln 1952, 28 f.

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halb von 31 Tagen, war durch ein kompromissloses Beharren auf diese Forderung gefährdet. Obwohl das deutsche Heer den Alliierten vor dem Abzug unter anderem 5.000 Kanonen übergeben musste und damit Transportraum sparte, bedeutete die Rückführung von mehreren Millionen Soldaten eine große logistische Herausforderung für die deutsche Eisenbahn, die nicht ohne die Mobilisierung aller betriebsfähigen Loks und Waggons möglich war. Angesichts dieses unabweisbaren Sachzwangs mussten die alliierten Vertreter in der Waffenstillstandskommission das Ende der Ablieferungsfrist vom 12. Dezember 1918 mehrfach bis zum 17. Februar 1919 verlängern.13 Aufgrund des schlechten Erhaltungszustands des rollenden Materials hatten sie keine andere Wahl, als ihre Forderungen und Erwartungen an die deutschen Länderbahnen zu reduzieren. Die deutschen Eisenbahnen mussten der Alliierten Abnahmekommission für das Eisenbahnmaterial 13.000 bis 14.000 Loks vorführen, bis das Soll von 5.000 Lokomotiven in gutem Zustand erreicht war.14 Bei den Güterwaggons war der Wartungszustand etwas besser; 63.000 von 105.000 vorgeführten Waggons erfüllten die technischen Forderungen der Alliierten. Im Endergebnis mussten sich die Alliierten zunächst mit der Übergabe von 4.500 Lokomotiven, 117.000 Güterwagen und 7.600 Personenwagen zufriedengeben.15 Erst Anfang November 1919 waren die ursprünglich geforderten Zahlen für Loks und für Güterwaggons fast erreicht.16 Die erzwungene Abgabe von Loks und Personenwagen und der Truppenrückzug über die Rheinlinie zwangen die Länderbahnen ab Dezember 1918 zu einer dramatischen Reduktion ihres Schnellzugverkehrs. Nur der volkswirtschaftlich essentielle Nah- und Berufsverkehr ließ sich noch aufrechterhalten. Nachdem die Länderbahnen den Schnellzugverkehr Anfang November 1918 auf 40 Prozent des Friedensstands reduzieren mussten, verminderten sie den Schnellzugverkehr im Dezember 1918 zunächst auf 20 Prozent, im Februar 1919

13 Siehe das Protokoll der Sitzungen der Waffenstillstandskommission am 13.12.1918 und die alliierte Note über die Erneuerung des Waffenstillstandsabkommens vom 14.1.1919, in: Der Waffenstillstand 1918–1919, Bd. 1, 125 ff., 137 ff.; sowie der Bericht der Deutschen Waffenstillstands-Kommission über ihre Tätigkeit, Januar 1920, in: ebd., Bd. 3, S. 330. Pohl/Kill, Von den Staatsbahnen zur Reichsbahn (wie Anm. 10), 84 geht fälschlicherweise von einer Ablieferungsfrist bis Mai 1919 aus. 14 Reichsverkehrsministerium (Hg.), Die Deutschen Eisenbahnen 1910 bis 1920 (wie Anm. 4), 187. 15 Abkommen über die Verlängerung des Waffenstillstands vom 16.1.1919, in: Der Waffenstillstand 1918–1919, Bd. 1, S. 182–188; vgl. Mierzejewski, Most valuable asset (wie Anm. 7), 4. 16 Bericht der Deutschen Waffenstillstands-Kommission über ihre Tätigkeit, Januar 1920, 333.

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sogar auf sieben Prozent.17 Da die Länderbahnen einen beträchtlichen Teil ihrer betriebsfähigen Loks als Reparationsgüter abliefern mussten, stieg der Anteil der nicht betriebsfähigen Loks 1919 bis auf 43 Prozent. Nach einer leichten Erholung im Sommer sahen sich die Länderbahnen im Herbst 1919 vor allem wegen des Lokmangels gezwungen, den Schnellzugverkehr auf Hauptstrecken bis auf ein tägliches Zugpaar zu vermindern. Erst im Sommer 1920 erreichte der Fernverkehr mit Personenzügen mit 47 Prozent der Vorkriegsleistung ein Niveau, das einen halbwegs normalen Fernreiseverkehr wieder ermöglichte. Für die großen Probleme des Zugverkehrs waren die Requisitionsforderungen der Waffenstillstandskommission keinesfalls allein verantwortlich, doch verschärften sie die Probleme aus dem kriegsbedingten kumulierten Instandhaltungsrückstand der Bahnen. Der reparaturbedingte Mehrausfall von 25 Prozent des gesamten Fahrzeugbestandes entsprach einem Verlust von 7.800 betriebsfähigen Lokomotiven und lag somit erheblich höher als der Fahrzeugausfall durch die alliierten Requisitionen. Trotz des Vorrangs für den Güterverkehr mussten die deutschen Eisenbahnen aufgrund ihrer erheblich gesunkenen Transportkapazitäten immer wieder Annahmesperren für nicht lebenswichtige und volkswirtschaftlich nicht essentielle Güter verhängen. Die Anzahl der bereitgestellten Güterwaggons sank 1919 im Vergleich zum letzten Kriegsjahr um 22 Prozent.18 Unter den wirtschaftlichen Bedingungen der Vorkriegszeit hätten die Länderbahnen die Neubeschaffung der Reparationsloks aus den eigenen Überschüssen finanzieren können. Da die Tarife für Güter und Personen hinter dem Anstieg des Betriebsaufwands zurückblieben, erwirtschafteten die Länderbahnen 1918 im Vergleich zum Friedensjahr 1913 anstelle eines Überschusses von 787 Mio. zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein Defizit von 1.229 Mio. Mark.19 1919 stieg das Defizit aufgrund des aufgestauten Instandsetzungsbedarfs, der Einführung des Achtstundentags und der Wiedereinstellung heimkehrender Eisenbahner auf 3.088 Mio. Mark. Der kriegsbedingte und durch das Waffenstillstandsabkommen verstärkte Investitionsbedarf konnte von den wirtschaftlich unselbstständigen Regiebahnen nur durch die finanzielle Beanspruchung der Länderhaushalte gedeckt werden. Das von der zeitgenössischen Eisenbahnerelite vertretene und von manchen Wirtschaftshistorikern wie Alfred Mierzejewski aufgegriffene Argument, die Einführung des Achtstundentags und die niedrige Arbeitsmoral der Eisen17 Reichsverkehrsministerium (Hg.), Die Deutschen Eisenbahnen 1910 bis 1920 (wie Anm. 4), 170. 18 Ebd., 176. 19 Ebd., 376 f.

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bahner seien für die um mehr als 40 Prozent gesunkene Arbeitsproduktivität verantwortlich, verdient eine kritische Erwiderung.20 Der hohe Arbeitskräftebedarf der Bahnbetriebswerke und Ausbesserungswerke und die personelle Aufstockung der Gleisbaurotten waren auch wegen des hohen kumulativen Instandhaltungsdefizits an Fahrzeugen und Gleisen erforderlich. Das Beharren der zum ersten Mal gewerkschaftlich organisierten Eisenbahner auf die strikte Einhaltung des Achtstundentags und die daraus resultierenden Mehraufwendungen für Lokbesatzungen und Zugbegleiter waren auch eine nachholende Auflehnung gegen die autoritäre Anordnung von Mehrarbeit während des Krieges.21 Die fortgesetzte Unterernährung hatte ebenso negative Folgen auf die körperliche Leistungsfähigkeit und den Krankenstand der Bahnarbeiter wie die im Herbst 1918 einsetzende Spanische Grippe, die weder in den zeitgenössischen Darstellungen noch in der historischen Forschung thematisiert wurden. Bürgerkriegsähnliche Zustände in Berlin und anderen Teilen des Reiches verschärften im Frühjahr und Sommer 1919 die Leistungsstörungen im Bahnverkehr und reduzierten die Arbeitsproduktivität der Bahn. Die negativen Folgen der Reparationslasten waren jedoch nur zu einem kleinen Teil dafür verantwortlich, dass die Landesregierungen 1919 einer Übertragung der Länderbahnen mitsamt ihrem gesamten Vermögen auf das Reich zustimmten. Noch im Juni 1918 lehnten fast alle Eisenbahnminister der Länder die Gründung einer Reichseisenbahn ab. Unter der Führung des preußischen Eisenbahnministers Breitenbach verständigten sich die Landesregierungen lediglich über die Absicht, den Fahrdienst und die Materialbeschaffung künftig gemeinsam zu organisieren. Die kriegsbedingte Überlastung der Eisenbahnen hatte den Eisenbahnministern die Probleme einer dezentralen Koordination des Betriebsdienstes und des Fehlens einer gemeinsamen Beschaffungsverwaltung eindrücklich vor Augen geführt. Doch lehnten Breitenbach und die meisten seiner Kollegen eine Reichseisenbahn aus ihrer habituellen Loyalität gegenüber dem obrigkeitsstaatlichen Prinzip grundsätzlich ab. Die Übertragung des Budgetrechts über die Eisenbahnen von den Dreiklassenparlamenten auf den in gleicher Wahl gewählten Reichstag mit einer Mehrheit aus Sozialdemokraten, Liberalen und Zentrum war mit dem autoritären Staatsverständnis der kaisertreuen Eisenbahnerelite nicht vereinbar. Mit Ausnahme der wirtschaftlich wie betriebstechnisch besonders stark belasteten Länderbahnen von Baden und Württemberg rechneten die Länderbahnminister noch immer mit einer wirtschaftlichen Wende durch einen Siegfrieden, eine Erwartung, die ihnen im Juni 20 Mierzejewski, Most valuable asset of the Reich (wie Anm. 7), 4 ff. 21 Reichsverkehrsministerium (Hg.), Die Deutschen Eisenbahnen 1910 bis 1920 (wie Anm. 4), 90 ff.

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1918 trotz der gescheiterten Frühjahrsoffensive an der Westfront realistisch schien.22 Die Novemberrevolution und die Bildung sozialdemokratisch geführter Landesregierungen führten zu einer Umbesetzung der Eisenbahnministerien mit Sozialdemokraten und Liberalen. Für die unitaristische Sozialdemokratie und für die DDP und den Schöpfer der Weimarer Reichsverfassung Hugo Preuß war der Fortbestand der Länderbahnen ein partikularistischer Anachronismus, der sich wegen der hohen Betriebsdefizite und der Probleme der Betriebskoordination auch wirtschaftlich überlebt hatte. Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (Zentrum) versprach den Ländern bereitwillig die Übernahme ihrer Eisenbahnschulden, um eine auf mittlere Sicht wieder Erträge bringende Vermögensmasse des Reiches zu gewinnen. Auch für den noch immer monarchistisch gesinnten Teil der Eisenbahnerelite hatte sich das Beharren auf die Länderbahnen nach der Abdankung der Landesherren und der vollständigen Parlamentarisierung der Länder politisch überlebt. Die hohen Defizite der Länderbahnen im Jahr 1918 und die sich weiter öffnende Schere zwischen Aufwand und Ertrag ließen die wirtschaftlichen Bedenken gegen die Verreichlichung der Länderbahnen weiter schwinden. Die Schätzungen über den Wert des abgetretenen Eisenbahnmaterials wichen aufgrund der unterschiedlichen Berechnungsmethoden erheblich voneinander ab. Eine Schätzung der Königlich Preußischen Eisenbahnverwaltung (KPEV) von Anfang 1920 bezifferte den Wert der abgelieferten Loks und Waggons auf 2.500 Mio. Mark,23 ein Wert, der offenbar auf der Grundlage der bereits inflationär erhöhten Wiederbeschaffungspreise ermittelt wurde. Während die Alliierte Reparationskommission dem deutschen Reparationskonto 824 Mio. Goldmark gutschrieb, bezifferte die Reichsregierung den deflationierten Wert des Eisenbahnmaterials in ihrer Endabrechnung auf 1.100 Mio. Goldmark.24 Demgegenüber spielten die finanziellen Belastungen durch die Reparationsablieferungen und die Wiederbeschaffung des rollenden Materials im wirtschaftlichen Kalkül der Eisenbahnverwaltungen und im Argumentationsgang der Reichsbahnanhänger eine allenfalls sekundäre Rolle. Auch wenn die alliierten Waffenstillstandsforderungen die Eisenbahnen in den Status eines produktiven Pfands erhoben und ihren Verkauf und ihre Verpachtung kategorisch un-

22 Pohl/Kill, Von den Staatsbahnen zur Reichsbahn (wie Anm. 10), 74 f. 23 So die Ausführungen Matthias Erzbergers in der Sitzung der Waffenstillstandskommission am 14.2.1919 in Trier, in: Der Waffenstillstand 1918–1919, Bd. 1, S. 206 f. Diese Zahlenangabe der KPEV lässt jedoch offen, ob es sich um den Zeitwert oder den Wiederbeschaffungswert handelte. 24 Mierzejewski, Most valuable asset (wie Anm. 7), 86.

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tersagten, hatten die alliierten Forderungen des Jahres 1919 keinen Einfluss auf das Eigentum und die Eigentumsform der deutschen Staatsbahn(en). Es ist aus heutiger Sicht bemerkenswert, dass die publizierte Kritik der Eisenbahnleitungen an den Requisitionen der Alliierten in einem sachlichen Duktus gehalten war und sich jeder anklagenden Rhetorik über einen „Schandfrieden“ enthielt. Die offizielle Darstellung des Reichsverkehrsministeriums von 1923 über die Entwicklung der deutschen Eisenbahnen von 1910 bis 1920 gewichtete die Auswirkungen des Waffenstillstandsabkommens im Verhältnis zu den übrigen Krisenursachen sehr angemessen. Sie kam in ihrer Analyse über die Ursachen für Betriebsstörungen im Bahnverkehr zu dem Schluss, dass lediglich die Hälfte der Störungen auf Mängel bei Lokgestellung – aus unterschiedlichen Gründen – zurückzuführen waren.25 In der Krisenanalyse prononcierte die im monarchischen Obrigkeitsstaat sozialisierte Eisenbahnerelite ihre Kritik an der sozialen Demokratisierung der Arbeitswelt deutlich schärfer als ihre Klagen über Reparationen. Die Krisenrhetorik der leitenden Eisenbahnbeamten betrachtete die Einführung des Achtstundentags, die als „gleichmacherisch“ beklagte zeitweise Aufhebung des Gedingeakkords in Werkstätten, die Forderungen nach betrieblicher Mitbestimmung und das Ende des unbedingten Gehorsams gegenüber Vorgesetzten weitaus kritischer. Die Länderbahnen starteten 1919 ein umfassendes Beschaffungsprogramm, um die Folgen des kriegsbedingten Verschleißes und der reparationsbedingten Verluste auszugleichen. Von 1919 bis 1923 bestellten die Länderbahnen und die zum 1. April 1920 konstituierte Reichsbahn 12.000 Personenwagen und damit 4.700 Fahrzeuge mehr, als sie an die Alliierten abgeliefert hatten. Die neuen Personenwagen glichen die Folgen des kriegsbedingten Verschleißes und der Reparationsablieferungen nicht nur aus, sondern verbesserten die Qualität der Fahrzeugflotte erheblich. Die neuen Personenwagen waren ausschließlich Durchgangswagen, die mit Druckluftbremsen ausgerüstet wurden und eine höhere Platzkapazität als die Fahrzeuggenerationen der Vorkriegszeit besaßen. Das Beschaffungsprogramm der Länderbahnen und der Reichsbahn erreichte bei den Güterwaggons eine noch größere Dimension. Von 1919 bis 1923 beschafften sie 236.000 Güterwaggons mit einem Auftragsvolumen von 706 Mio. Goldmark. Das bislang unerreichte Neubeschaffungsprogramm hatte zur Folge, dass zum Ende des Jahres 1923 ein Drittel aller Güterwaggons nicht älter als vier Jahre waren. Die Deutsche Reichsbahn besaß zu diesem Zeitpunkt einen Fahrzeugpark, der moderner und leistungsfähiger war als die Fahrzeugausstat25 Reichsverkehrsministerium (Hg.), Die Deutschen Eisenbahnen 1910 bis 1920 (wie Anm. 4), 189.

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tung der Länderbahnen vor Kriegsbeginn. Das hohe Auftragsvolumen in Höhe von 887 Millionen Goldmark sorgte für eine Sonderkonjunktur in der Schienenfahrzeugindustrie, in der von 1919 bis zum Ende der Hyperinflation Vollbeschäftigung herrschte.26 Die Reichsbahn erreichte bei der Beschaffung von Lokomotiven eine ähnlich hohe Innovationsleistung. Mit einem Beschaffungsvolumen von 8.400 Loks zu einem Gesamtpreis von 572 Mio. Goldmark wurde der Lokomotivbestand signifikant aufgestockt und grundlegend modernisiert. Am Ende des Beschaffungszeitraums im Jahr 1923 waren 28 Prozent aller Lokomotiven zwischen einem und vier Jahren alt. Bis 1923 konnte die Reichsbahn die Folgen des Kriegs und der Reparationen nicht nur ausgleichen, sondern überkompensieren. Das Neubeschaffungsprogramm für Lokomotiven brachte zugleich einen großen technischen und betriebswirtschaftlichen Innovationsschub, da sich die Reichsbahn auf wenige, aber besonders bewährte und leistungsfähige Baureihen der alten Länderbahnen konzentrierte. Es gelang ihr, die überkommene große Typenvielfalt aus der Länderbahnzeit zu reduzieren, die Instandhaltung der Lokomotiven zu rationalisieren und positive Skaleneffekte durch große Einzellose zu erzielen.27 Zehn Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs war die Reichsbahn technisch moderner und leistungsfähiger als vor dem Krieg. Da die Länderbahnen und die Reichsbahn von 1918 bis zum Ende der Hyperinflation hohe reale Verluste verzeichneten, wurden die Neubeschaffungsprogramme durch die steigenden Defizite der Länderhaushalte und des Reichshaushalts und letztlich durch die Notenpresse finanziert. Das Betriebsergebnis der Reichsbahn, gemessen als Differenz von Ausgaben und Einnahmen, verschlechterte sich jedoch nicht kontinuierlich. So verbesserte sich die sehr schlechte Betriebszahl von 1920 (173) bis 1921 auf 124 und erreichte 1922 mit 98 sogar einen leicht positiven Wert.28

26 Mierzejewski, Most valuable asset (wie Anm. 7), 44. 27 Ebd., 44 f. 28 Ebd., 54. Die Betriebszahl 100 steht für ein ausgeglichenes Betriebsergebnis. Aufgrund der hohen Inflation und der erschwerten Deflationierung von Nominaleinnahmen und Nominalausgaben in eine stabile Währung ist die Betriebszahl für die Inflationsperiode aussagekräftiger.

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3 Der Versailler Vertrag und seine unmittelbaren Folgen für die deutschen Eisenbahnen Der Friedensvertrag von Versailles enthielt über die generelle Wiedergutmachungspflicht des Deutschen Reiches (Art. 232) und die Aufstellung eines alliierten Ausschusses für die Festsetzung der Reparationssumme (Art.233) hinaus keine spezifischen Bestimmungen, in welchem Umfang die Eisenbahnen als Teil des deutschen Staatsvermögens für die Erfüllung der Reparationsschuld haften sollten. Nach Artikel 248 hafteten „der gesamte Besitz und alle Einnahmequellen des Deutschen Reiches und der deutschen Staaten an erster Stelle für die Bezahlung der Kosten der Wiedergutmachung und aller anderen Lasten“, zu denen auch die Länderbahnen und die künftige Reichsbahn gehörten. Einige eisenbahnspezifische Vertragsbestimmungen sollten den Volkswirtschaften der alliierten Siegermächte Wettbewerbsvorteile verschaffen. So statuierte der Artikel 321 ein striktes Gleichbehandlungsgebot für in- und ausländische Versender beziehungsweise Empfänger von Eisenbahnfrachten. Die Artikel 323 und 365 spezifizierten das Gleichbehandlungsgebot in Form einer eisenbahntariflichen Meistbegünstigungsklausel, die auf alle Frachten aus oder in alliierte Staaten anzuwenden war. Konkret bedeutete dies, dass alle Ausnahmetarife der Länderbahnen (ab 1920 der Reichsbahn) für den Inlandsverkehr auch für Frachten im Ein- und Ausfuhrverkehr mit den alliierten Siegermächten galten. Diese Öffnungsklausel für Ausnahmetarife galt für die rein binnenländischen Tarife gleichermaßen wie für die Seehäfen-Ausfuhrtarife, mit denen die gemeinwohlorientierten deutschen Staatsbahnen bislang den deutschen Güterexport und den Wettbewerb der deutschen Seehäfen mit konkurrierenden Häfen im Ausland gefördert hatten. Diese Meistbegünstigungsklausel machte die deutsche Exportförderung mit dem Instrument der Eisenbahn-Tarifpolitik unwirksam und förderte die Wettbewerbsfähigkeit alliierter Exportgüter, aber wirkte sich positiv für das Verkehrsvolumen der deutschen Eisenbahn aus. Die Meistbegünstigungsklausel verbilligte auch Transitfrachten im Verkehr zwischen den alliierten Staaten und steigerte damit die Wettbewerbsfähigkeit der Reichsbahn im internationalen Transitverkehr. In der Inflationszeit blieben die Erhöhungen der Gütertarife ohnehin hinter dem Anstieg der Großhandelspreise zurück, so dass sich die Transportkosten in Deutschland real verbilligten. Da der Kursverfall der Mark gegenüber den stabileren Nachbarwährungen den Anstieg der Gütertarife im Deutschen Reich weit überkompensierte, ist es praktisch unmöglich, den verkehrssteigernden Effekt der tariflichen Meistbegünstigungsklausel vom deutlich stärkeren Wechselkurseffekt zu isolieren.

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4 Die Reichsbahn als produktives Pfand der Siegermächte Aufgrund ihrer schlechten Betriebsergebnisse konnte die Reichsbahn in der Inflationszeit keinen Beitrag zur Bewältigung der hohen alliierten Reparationsforderungen leisten. Erst die französische Besetzung der Ruhr als „produktives Pfand“ für die Erfüllung der Reparationslasten setzte einen Denkprozess über die Reichsbahn als möglichen Garanten für die Erfüllung der deutschen Reparationspflichten in Gang. Bereits am 22. Dezember 1922, unmittelbar nach der Ankündigung der Ruhrbesetzung, schlug ein vom Reichsfinanzminister eingesetztes Expertenkomitee die Aufnahme einer internationalen Reparationsanleihe vor, die durch eine Hypothek auf die Reichsbahn gesichert werden könnte.29 Aufgrund ihrer hohen Betriebsdefizite war eine hypothekarische Belastung der Reichsbahn unter den gegebenen Umständen keine Handlungsmöglichkeit. Das erste detaillierte Konzept zur Umwandlung des defizitären Regiebetriebs Reichsbahn in ein gewinnbringendes Unternehmen stammte nicht aus der Reichsbahn oder dem Reichsverkehrsministerium, sondern von einem Hochschullehrer. Der habilitierte, an der klassischen englischen Theorie geschulte Ökonom Moritz Julius Bonn unterbreitete dem Staatssekretär der Reichskanzlei Eduard Hamm am 16. März 1923 in einem Gespräch den Vorschlag, die Reichsbahn in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Die Stammaktien und Anleihen der Reichsbahn sollten einem Agenten für die Reparationsschulden übereignet werden und als Sicherheiten für die vereinbarten Schuldenraten dienen.30 Auf der Grundlage von Bonns Konzept und einem Plan des Ministerialrats Franz Kempner erstellte die Reichskanzlei im Mai 1923 ein Memorandum für das Kabinett, die Reichsbahn mit einer hypothekarischen Schuld über 15 Mrd. Goldmark zu belasten. Diese mit 4 Prozent verzinste Hypothekenschuld sollte nach einer Sanierungsphase von vier Jahren bedient werden und eine jährliche Annuität von 600 Mio. Goldmark zu Gunsten des Reparationskontos erbringen.31 Am 7. Juni 1923 übermittelte die Reichsregierung den Alliierten einen Reparationsvorschlag auf der Basis dieses Konzepts mit einer jährlichen Annuität

29 Mierzejewski, Most valuable asset (wie Anm. 7), 87. 30 Ebd., 88. Zu Moritz Julius Bonn s. Jens Hacke, Liberale Alternativen für die Krise der Demokratie – der Nationalökonom Moritz Julius Bonn als politischer Denker im Zeitalter der Weltkriege, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung (2014), 295–318. Mierzejewski verwechselt den Ökonomen Moritz Julius Bonn mit dem Banker Paul Bonn, der dem Vorstand der Deutschen Bank angehörte. 31 Ebd.

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von 500 Mio. Goldmark. Doch blieb eine Reaktion der britischen und der französischen Regierung zunächst aus.32 Die Reichsregierung des Kanzlers Wilhelm Marx (Zentrum) und Reichsverkehrsminister Rudolf Oeser (DDP) schufen im November 1923 die materiellen Voraussetzungen für die Umwandlung der Reichsbahn in eine wirtschaftlich eigenständige Aktiengesellschaft. Da die Einführung der Rentenmark die Stabilisierung des Reichshaushalts zwingend erforderte, erhielt die Reichsbahn ab dem Tag der Rentenmarkeinführung am 15. November 1923 keine Reichsmittel zur Deckung ihres Defizits und musste ihre Aufwendungen deutlich senken. Auf der Grundlage einer allgemeinen Personal-Abbau-Verordnung des Reiches griff Oeser gravierender in die Beschäftigungsverhältnisse der Arbeiter, Angestellten und Beamten ein, als dies je zuvor und danach bei der Reichsbahn geschah. Die Führung der Reichsbahn setzte einen umfassenden Sanierungsplan um, der nach den Vorstellungen der Personalabteilung nicht weniger als 10 Prozent aller Arbeiter und 25 Prozent aller Beamten umfassen sollte.33 Im Endergebnis war die Sanierung der Reichsbahn durch Personalabbau noch radikaler: Innerhalb eines Jahres sank der Personalbestand von einer Mio. auf 770.000 Beschäftigte und damit um 23 Prozent. Das Auswärtige Amt erfuhr im Dezember 1923 von Plänen der belgischen und der französischen Regierung, die Reichsbahn als produktives Pfand der Reparationsgläubiger unter ausländische Kontrolle zu stellen.34 Angesichts des drohenden Souveränitätsverlusts über den wertvollsten Vermögensbestandteil des Reichsfiskus und den größten Wirtschaftsbetrieb des Reiches stand die Reichsregierung unter Druck, alliierten Eingriffen in die Reichsbahn zuvorzukommen und den Regiebetrieb in eine selbstständige Gesellschaft des Reiches zu transformieren. Während die Leitung der Reichsbahn und das Reichsverkehrsministerium mit den Eisenbahnexperten der Alliierten Reparationskommission über die künftige rechtliche Autonomie der Reichsbahn einig waren, bestanden zwischen der deutschen und der alliierten Seite große Interessendivergenzen über das Eigentum, die Leitung, die Aufsicht und die Grundsätze der Wirtschaftsführung der Reichsbahn. Nach den Vorstellungen der Reichsregierung sollte das Kapital der Reichsbahn unbedingt beim Reich verbleiben35 und Vorstand und Verwaltungsrat ausschließlich mit deutschen Eisenbahnern beziehungsweise mit Vertretern der 32 Ebd., 89. Der deutsche Reparationsvorschlag vom 7.6.1923 ist in Ursachen und Folgen, Bd. V, 145 f. abgedruckt. 33 Mierzejewski, Most valuable asset (wie Anm. 7), 69 ff. 34 Ebd., 76 ff., 92. 35 Protokolle der Ministerbesprechungen am 30.1.1924 und am 14.3.1924, in: Akten der Reichskanzlei, Kabinett Marx I, Bd. I, Nr. 81 und 143.

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Länder, der Wirtschaft und den Beschäftigten besetzt werden. Während die Eisenbahnexperten der Reparationsgläubiger eine Teilprivatisierung der Reichsbahn und eine strikt gewinnorientierte Wirtschaftsführung anstrebten, sollte sich die Reichsbahn nach den Vorstellungen von Regierung und Reichsbahnleitung weiterhin am Grundsatz des volkswirtschaftlichen Allgemeininteresses orientieren und eine gemeinwirtschaftliche Tarifpolitik verfolgen.36 Den Vertretern der Reichsregierung wurde bereits zu Beginn der Verhandlungen mit der Alliierten Reparationskommission deutlich, dass die Gläubigermächte auf jeden Fall auf einen Alliierten Eisenbahnkommissar bestanden. Über die Kompetenzen des Alliierten Eisenbahnkommissars existierten aber zwischen der britischen und der französischen Seite grundlegende Differenzen. Aus britischer Sicht sollten seine Kompetenzen auf die Aufsicht beschränkt bleiben und Eingriffe in das Management der Reichsbahn nur bei Nichterfüllung der Reparationsannuitäten möglich werden.37 Der britische Vorschlag, die Kompetenzen des Alliierten Eisenbahnkommissars auf Aufsichtsfunktionen zu begrenzen, war für die Reichsregierung akzeptabel. Die Reichsregierung lehnte den alliierten Vorschlag eines paritätisch mit Deutschen und Ausländern besetzten Aufsichtsrats der Reichsbahn jedoch grundsätzlich ab. Der Primat der deutschen Stakeholder, von Industrie, Landwirtschaft und Landesregierungen, im Aufsichtsrat der künftigen Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) war für die Reichsregierung nicht verhandelbar. Demgegenüber divergierten die deutschen und die alliierten Vorstellungen über die Höhe der jährlichen Reparationslasten der Reichsbahn deutlich weniger. Während die Reichsbahn eine jährliche Gewinnabführung von 500 Mio. Reichsmark für realistisch erachtete, hielt der belgische Repräsentant in der Reparationskommission Émile Franqui (Vizepräsident der Société Générale de Belgique) eine jährliche Annuität von 780 Mio. Reichsmark für angemessen. Die nicht unerhebliche Differenz von 280 Mio. Reichsmark zwischen den ersten Vorschlägen der deutschen und der allliierten Seite reduzierte sich jedoch durch Franquis, Anregung, dass die Reichsbahn ihre Einnahmen aus der Beförderungssteuer im Personenfernverkehr nicht mehr an das Reich abführen, sondern zur Bezahlung der Reparationen einsetzen sollte.38 Verkehrsminister Oeser vertrat am 14. April 1924 in einer Besprechung mit den Ministerpräsidenten die Auffassung, die finanziellen Forderungen der Alliierten an die Reichsbahn „lägen wohl im Be36 Protokoll der Kabinettssitzung vom 14.3.1924, in: Akten der Reichskanzlei, Kabinett Marx I, Bd. I, Nr. 144. 37 Mierzejewski, Most valuable asset (wie Anm. 7), 94 f. 38 Die Beförderungssteuer wurde 1917 als Reichssteuer zur Finanzierung der Kriegskosten und zur Reduzierung des Personenverkehrs eingeführt und war nach Klassen gestaffelt.

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reich des Möglichen“.39 Auf der Grundlage der Vorkriegsüberschüsse der Länderbahnen hielten die Eisenbahnexperten der Reparationskommission William Acworth und Gaston Leverve sogar einen jährlichen Betriebsüberschuss von 800 Mio. Goldmark für möglich, eine Erwartung, die angesichts eines durchschnittlichen Betriebsergebnisses der Preußischen Eisenbahn von 789 Mio. Goldmark in den Jahren von 1910 bis 1913 nicht zu hoch gegriffen war.40 In ihren Verhandlungen über die Umgestaltung der Reichsbahn im Mai und Juni 1924 gelang es den deutschen Delegierten Carl Bergmann (deutscher Vertreter in der Reparationskommission, Mitinhaber des Frankfurter Bankhauses Lazard-Speyer-Elissen) und Johannes Vogt (Staatssekretär im Reichsverkehrsministerium),41 Acworth und Leverve vom staatlichen Alleineigentum an der Reichsbahn und vom verkehrswerbenden Nutzen der Ausnahmetarife im Güterverkehr zu überzeugen. Acworth und Leverve akzeptierten die deutsche Position, die Mehrheit der Aufsichtsratssitze mit Deutschen zu besetzen.42 Die Vertreter des Reiches wiesen Acworths Versuch zurück, die Beamten der Reichsbahn nach britischem Vorbild in ein privatrechtliches Angestelltenverhältnis zu überführen.

5 Die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft und die Reparationsverpflichtungen: Eine Bilanz Das Reichsbahngesetz vom August 1924, das den Rechtsstatus der neu gegründeten Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) kodifizierte, entsprach weitgehend den Interessen der Reichsregierung und der deutschen Stakeholder der Reichsbahn.43 Obwohl die Reichsregierung die Internationalisierung der Reichsbahn konzedieren musste, blieben die Leitungsorgane der als Aktiengesellschaft verfassten Reichsbahn in deutschen Händen. Während der für die operative Führung verantwortliche Vorstand ausschließlich mit deutschen Eisenbahnern besetzt war, erhielten die Vertreter der Reparationsgläubiger nur eine 39 Protokoll der Besprechung der Reichsregierung mit den Ministerpräsidenten der Länder, 14.4.1924, in: Akten der Reichskanzlei, Kabinett Marx I, Bd. I, Nr. 175. 40 Reichsverkehrsministerium (Hg.), Die Deutschen Eisenbahnen 1910 bis 1920 (wie Anm. 4), 376 f. 41 Protokoll der Ministerbesprechung am 24.4.1924, in: Akten der Reichskanzlei, Kabinett Marx I, Bd. I., Nr. 184, Fußnote 6. 42 Mierzejewski, Most valuable asset (wie Anm. 7), 106. 43 Gesetz über die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft, 30.8.1924, in: Reichsgesetzblatt 1924, Teil II, 289 ff.

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Minderheit der Sitze im Aufsichtsrat. Auch die Befugnisse des alliierten Eisenbahnkommissars Gaston Leverve wurden auf Aufsichtsfunktionen beschränkt. Die Konzessionsbereitschaft der alliierten Reparationskommission gegenüber der Reichsregierung basierte vor allem auf dem Vertrauen der alliierten Eisenbahnexperten in die Fähigkeit der führenden deutschen Eisenbahner, eine Eisenbahngesellschaft nach volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten und dennoch rentabel führen zu können. Die wirtschaftliche Autonomie der DRG gegenüber der Reichsregierung erwies sich als eine ausreichende institutionelle Garantie für die Erzielung der Betriebsüberschüsse. Der Vorstand und der Aufsichtsrat der DRG orientierten sich wie die Länderbahnen der Vorkriegszeit am Ziel, kontinuierliche Betriebsüberschüsse zu erwirtschaften und weiterhin dem Anspruch und den Erwartungen der Reichsregierung und der Länderregierungen an eine gemeinwohlorientierte Tarifpolitik zu entsprechen. Die DRG erhielt die volle Autonomie über das Niveau und die Struktur ihrer Transporttarife und benötigte nicht mehr das Placet der Reichsregierung für eine schnelle wettbewerbsorientierte Anpassung der Tarife an die Marktlage im Verkehr. Bei Streitigkeiten zwischen der DRG und der Reichsregierung über die wirtschaftliche Angemessenheit einer allgemeinen Tariferhöhung entscheid ein ausschließlich mit deutschen Richtern besetztes Schiedsgericht, das am Reichsgericht angesiedelt war. Die jährliche Reparationsleistung der DRG in Höhe von 660 Mio. Reichsmark erwies sich während der gesamten Geltungsdauer des Dawes-Plans bis zu seiner Ersetzung durch den Young-Plan als tragbar. Von 1925 bis einschließlich 1929 lagen die jährlichen Betriebsüberschüsse der DRG im Durchschnitt bei 834 Mio. Reichsmark und damit deutlich höher als die Reparationsannuitäten, die 1925 bei 333 Mio. Reichsmark, 1926 und 1927 bei durchschnittlich 582 Mio. Reichsmark lagen und erst 1928 ihre volle Höhe erreichten.44 Obwohl die DRG recht hohe Überschüsse erwirtschaften musste, wurde ihre Investitionsfähigkeit durch die Gewinntransfers an die Reparationsgläubiger nicht beeinträchtigt. Die Reichsbahn hatte in der Inflationszeit auf Kosten des Reichshaushalts ihren Fahrzeugpark grundlegend modernisieren und den kriegsbedingten Instandhaltungsrückstand des Gleisnetzes aufholen können und kam ab 1924 mit deutlich niedrigeren Modernisierungs- und Erweiterungsinvestitionen als in den ersten Nachkriegsjahren aus. Die jährlichen Reparationstransfers von 660 Mio. Reichsmark entsprachen etwa dem Betrag, den die Preußische Staatsbahn bis 1914 an den Preußischen Staat ausgeschüttet hatte. Hätte es die Reparationslasten nicht gegeben und das Reich auf Ausschüttungen der Reichsbahn verzichtet, wäre eine Senkung 44 Mierzejewski, Most valuable asset (wie Anm. 7), 265, 360.

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der Tarife um 12 Prozent möglich gewesen.45 Die Reparationslasten wirkten wie eine Reparationssteuer, welche die deutsche Wirtschaft und die Bevölkerung dank der gemeinwirtschaftlichen Tarifstruktur gleichmäßig belastete, ohne sie zu überlasten.

45 Das Verhältnis zwischen den Reparationsannuitäten der DRG und den Einnahmen aus dem Güterverkehr und dem Personenverkehr lag von 1925 bis 1929 im Durchschnitt bei 12,3 Prozent (errechnet aus den Angaben bei Mierzejewski, Most valuable asset (wie Anm. 7), 160, 168 und 265).

Harald Wixforth

Zwischen Hoffen und Bangen – die Folgen des Versailler Vertrags für die maritime Wirtschaft in Deutschland 1 Einleitung Fraglos gehörten Schifffahrt, Schiffbau und die maritime Logistik im Deutschen Kaiserreich zu den wichtigsten Branchen der Wirtschaft. Seit der Frühen Neuzeit prägten sie die gesellschaftliche Entwicklung, vor allem in den großen Hafenstädten an Nord- und Ostsee, beeinflussten entscheidend ökonomische Wandlungsprozesse und vermittelten wichtige Impulse für die Errichtung neuer Institutionen und Organisationen.1 Im Gegensatz zu den letzten drei Jahrzehnten, in denen die negativen Schlagzeilen aus der Branche nicht abrissen, war diese im Kaiserreich ein Führungssektor der Wirtschaft und keinesfalls ein krisenanfälliger Sanierungsfall, wie man heute angesichts ihrer immensen aktuellen Probleme vermuten könnte.2 Im Kontrast zu ihrer Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft steht das Interesse der unternehmenshistorischen Forschung an der maritimen Ökonomie. Ambitionierte Studien zu Werften und Reedereien sind nach wie vor selten, vielmehr wird die Entwicklung der Branche im Kontext von Flottenpolitik und Flottenrüstung untersucht. Dies trifft vor allem für den Ersten Weltkrieg und die Nachkriegszeit zu. Diese Schwerpunktsetzung lässt sich angesichts der im Kaiserreich forcierten Marinerüstung und des Endes aller Großmachtphantasien nach Kriegsende nachvollziehen. Dennoch lässt

1 Siehe als Überblicksdarstellungen: Arnold Kludas, Die Geschichte der deutschen Passagierschifffahrt, Bd. I-V, Hamburg 1994; Gert Uwe Detlefsen, Deutsche Reedereien, Bd. 1–12, Bad Segeberg 1994–2000; Heide Gerstenberger/Ulrich Welke, Vom Wind zum Dampf. Sozialgeschichte der deutschen Handelsschifffahrt im Zeitalter der Industrialisierung, Münster 1996; dies., Wie sich die Seefahrt auf dem Festland entwickelte, in: dies. (Hrsg.), Zur See? Maritimes Gewerbe an den Küsten von Nord- und Ostsee, Münster 1999, 144–162; Bodo Hans Moltmann, Geschichte der deutschen Handelsschifffahrt, Hamburg 1981; Svante Domitzlaff/John T. Essberger, Eine deutsche Geschichte der Tankschifffahrt, Hamburg 1999; Hartmut Rübner, Konzentration und Krise der deutschen Schifffahrt. Maritime Wirtschaft und Politik im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Bremen 2005. 2 Der jüngste Fall war der Zusammenbruch der Beluga-Shipping GmbH in Bremen. Dazu: „Der Untergang der Reederei Beluga“, in: Financial Times Deutschland vom 10. März 2011; Burkhard Ilschner/Christof Spehr, Welche Lehren aus dem „Beluga Absturz“ sind nötig?, in: Waterkant 1 (2016), 7–10. https://doi.org/10.1515/9783110765359-008

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sich nicht übersehen, dass angesichts dieses politikhistorischen Zugriffs eine exakte unternehmenshistorische Analyse vielfach ausgeblendet wird.3 Dieses Manko wiegt schwer, werden dadurch doch zahlreiche Aspekte in der Entwicklung der Unternehmen aus der maritimen Wirtschaft sowohl während des Krieges als auch der Nachkriegsjahre nur unzureichend thematisiert. Dies gilt etwa für die Veränderungen in der corporate governance, für die Frage der adäquaten Strategiewahl und der Umsetzung unternehmensstrategischer Ziele während und nach dem Krieg, aber auch die direkte Beeinflussung der Unternehmenspolitik durch die Vorgaben der Kriegswirtschaft. Schließlich wurde bisher kaum untersucht, in welchem Umfang der Kriegsausgang, die Bestimmungen der diversen Waffenstillstandsabkommen und schließlich des Versailler Vertrags die Entwicklung und die Wettbewerbsposition von Firmen der maritimen Wirtschaft beeinflussten. Im Vergleich zu anderen Branchen der deutschen Wirtschaft, etwa der Schwerindustrie, ist hier ein erhebliches Desiderat zu konstatieren. Daher versucht der folgende Beitrag, die oben aufgeführten Fragen zu beantworten, wobei vor allem die Wettbewerbsposition der maritimen Wirtschaft im Vordergrund steht. Dabei erfolgt eine Konzentration auf die wichtigen Unternehmen der Handelsschifffahrt, also dem Schiffbau sowie den Reedereien mitsamt den dazu gehörenden Logistikbetrieben, während die Entwicklung der Kriegsmarine nur kontrastierend hinzugezogen wird. Angesichts des Forschungsstandes zur Geschichte der maritimen Wirtschaft besitzt der hier präsentierte Befund einen nur vorläufigen Charakter.

2 Im Kriegseinsatz Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 bedeutete für weite Teile der maritimen Wirtschaft nicht nur das Ende des bisherigen operativen Geschäfts, sondern auch ein Ereignis, das alle Strategieplanungen für die Zukunft obsolet machte. Vorstand und Aufsichtsrat der großen Reedereien wie des Norddeutschen Lloyd in Bremen und der HAPAG in Hamburg (Hamburg-Amerika-Li3 Ekkehard Böhm, Überseehandel und Flottenbau. Hanseatische Kaufmannschaft und deutsche Seerüstung 1879–1902, Düsseldorf 1972; Michael Epkenhans, Die kaiserliche Marine im Ersten Weltkrieg. Weltmacht oder Untergang, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Erste Weltkrieg, München 1994, 319–340; Jörg Michael Hormann/Eberhard Kliem, Die Kaiserliche Marine im Ersten Weltkrieg, München 2013; Jost Dülffer, Weimar, Hitler und die Marine. Reichspolitik und Flottenbau 1920–1939, Düsseldorf 1973; Konrad Ehrensberger, Hundert Jahre Organisation der deutschen Marine, 1890–1990, Bonn 1993.

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nie) erkannten ebenso wie ihre Kollegen in den Entscheidungsgremien der wichtigsten Werften, etwa beim Bremer Vulkan, der A. G. „Weser“ oder bei Blohm & Voss in Hamburg, dass der seit etwa acht Jahren anhaltende „Boom“ im Schiffbau und in der Schifffahrt jäh beendet war. Innerhalb weniger Tage nach Kriegsbeginn kamen die wichtigsten Sparten der Großreedereien, der Transatlantikverkehr sowie das Frachtgeschäft nach Übersee, zum Erliegen. Ein großer Teil der Dampfer wurde von der Marine als Lazarettschiffe requiriert bzw. lag in fremden Häfen fest, ein anderer wurde von den Feindmächten beschlagnahmt, vor allem Großbritannien, das zudem versuchte, in der Nordsee für die deutschen Häfen eine Seeblockade zu errichten. Schließlich wurde das Personal zur See auf den Schiffen deutscher Reedereien mehrheitlich einberufen und musste als Matrosen oder Offiziere für die Marine Dienst tun. Ein geordneter Geschäftsbetrieb war vor diesem Hintergrund nicht mehr möglich, die Rentabilität und die Ertragslage aller Großreedereien sanken drastisch ab. Das Geschäftsmodell mit einem Schwerpunkt im Passagiergeschäft und einem zweiten Standbein im Frachtgeschäft schien keine Zukunft mehr zu haben.4 Die Direktion des Norddeutschen Lloyds sah in den gegenseitigen Kriegserklärungen der europäischen Mächte im Sommer 1914 die größte Katastrophe für die zivile Handelsschifffahrt: „Für den überseeischen Verkehr bedeuteten diese Kriegserklärungen den schwersten Schlag, den er je erlitten. Neben den Passagieren, die von oder nach fernen Länder über See zu reisen beabsichtigten, neben den Verladern, die ihre Waren zur Verschiffung bereit gestellt hatten, sowie den Empfängern waren die Schifffahrts-Gesellschaften, die plötzlich für alle Folgen aufkommen sollten, die am schwersten Geschädigten. Die deutschen Schifffahrtslinien stellten ihren Dienst daher vollständig ein […].“ 5 Sowohl der Vorstand des Norddeutschen Lloyd unter seinem Vorsitzenden Philipp Heineken als auch derjenige der HAPAG unter dem langjährigen und charismatischen Generaldirektor Albert Ballin gehörten nicht zu den Unternehmern in Deutschland, die den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit Euphorie

4 So sanken die Zahlen für den nordatlantischen Personenverkehr beim Norddeutschen Lloyd von 175.693 im Jahr 1913 auf 62.781 im Jahr 1914, wobei in diesem Jahr die Passagen nur noch bis Ende Juli möglich waren. Im Passagierverkehr für den Mittelmeerraum fiel der Rückgang ähnlich dramatisch aus. Auch die anderen großen internationalen Schifffahrts-Linien, etwa die HAPAG, die Cunard Line, die White Star Line und die Red Star Line, mussten einen ebenso drastischen Rückgang im Passagiergeschäft hinnehmen wie der Norddeutsche Lloyd. Vgl. die statistischen Angaben in: Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd Bremen 1914/15, Statistische Angaben über den überseeischen Personenverkehr im Kriegsjahre 1914, Bremen 1915, 44–49. 5 Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd Bremen 1914/15, Der Ausbruch des Krieges und seine Folgen, Bremen 1915, 68.

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und einem unkritischen Patriotismus begrüßten. Sie glaubten nicht in Verkennung der tatsächlichen Verhältnisse an einen schnellen deutschen Sieg. Schon bald sah man sich in Bremen und Hamburg in der skeptischen und pessimistischen Einschätzung bestätigt. Vorstand und Aufsichtsrat der beiden Großreedereien waren sich darüber im Klaren, dass die Bedingungen der Kriegswirtschaft eine deutliche Zäsur für die bisher praktizierte Geschäftspolitik bedeuteten und das erfolgreiche operative Geschäft zunächst beendet war.6 Zudem wurde ihnen schnell bewusst, dass ein erheblicher Teil der Flotte für immer verloren war, vor allem die Dampfer, die in fremden Häfen ankerten und von den Feindmächten systematisch ausgeschlachtet wurden, indem Schiffsdiesel, nautisches Gerät und sogar die Inneneinrichtungen ausgebaut und anderweitig verwendet wurden. So blieb allein die Hoffnung, dass die Reichsregierung ihre stets wiederholten Versprechen halten würde, die Reedereien nach Kriegsende auf der Basis umfangreicher Reparationszahlungen ausreichend zu entschädigen.7 Trotz massiver Interventionen von Ballin und seinem Pendant Heineken wollten sich die zuständigen Behörden in Berlin jedoch lange Zeit nicht auf konkrete Summen festlegen. Durch ein ausgefeiltes Kriegsentschädigungsgesetz sollten die Modalitäten geklärt werden, wonach die Reedereien Gelder vom Reich erhalten sollten. Hier hoffte man darauf, dass auf der Grundlage eines solchen Gesetzes die Flotte wieder aufzubauen und zu modernisieren sei, so dass sich auf dieser Grundlage die Wettbewerbsposition nach Kriegsende wiederherstellen ließ. Die Reichsregierung verlautbarte zwar immer wieder in Absichtserklärungen, ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen, blieb mit Blick auf den Zeitpunkt und die zur Debatte stehenden Summe allerdings wenig konkret. Sie war bestenfalls bereit, 1,5 Mrd. Mark für den Wieder6 Die Geschäftsleitung des Norddeutschen Lloyds schrieb daher im Rückblick auf die Geschäftsjahre 1914 und 1915: „Von der einschneidenden Wirkung auf den gesamten Betrieb, die sich sofort nach Ausbruch des Krieges und in noch größerem Umfang während der späteren Monate geltend machte, wurden alle Abteilungen ziemlich gleichmäßig betroffen“. O. V., Die Betätigung des Norddeutschen Lloyds während des Krieges, in: Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd Bremen für 1914/15, Bremen 1915, 81. 7 Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 61 ff.; Imke Schwarzrock, Das Ende der Lloydseligkeit. Die bremische Schifffahrt im Ersten Weltkrieg am Beispiel des Norddeutschen Lloyd, in: Eva Schöck-Quinteros u. a. (Hrsg.), Eine Stadt im Krieg. Bremen 1914–1945, Bremen 2013, 393– 428, hier 420 ff.; Harald Wixforth, Kriegseinsatz und Kriegsfolgen – der Norddeutsche Lloyd im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegsinflation, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 3 (2018), 375–379; Gerhard A. Ritter, Der Kaiser und sein Reeder. Albert Ballin, die HAPAG und das Verhältnis von Wirtschaft und Politik im Kaiserreich und in den ersten Jahren der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 2 (1997), 137–162, hier 149 ff. Vgl. auch Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd Bremen 1914/15, Die Flotte des Norddeutschen Lloyds während des Krieges, Bremen 1915, 104–117.

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aufbau der Flotte zur Verfügung zu stellen, was den Reedereien jedoch viel zu wenig war. Die Sondierungen scheiterten daher immer wieder, so dass die Reichsregierung die Vertreter der Schifffahrt stets auf die Zeit nach dem – nach ihrer Einschätzung bald bevorstehenden – Kriegsende vertröstete.8 Beim Norddeutschen Lloyd versuchte man zunächst, die massiven Einbußen im Kerngeschäft durch den Ausbau anderer Geschäftssparten auszugleichen. Daher gründete man in Bremen zusammen mit der Deutschen Bank im November 1915 die Deutsche Ozean Rhederei GmbH (DOR), deren Geschäftszweck darin bestand, mit Hilfe von Tauch- und U-Booten die Handelsbeziehungen und den Warenverkehr mit den USA zu intensivieren. Die Geschäftsleitung der Reederei hoffte, kriegswichtige Güter wie Arzneimittel, Chemikalien und Gummi nach Deutschland transportieren zu können. Größere Gewinne konnte der Norddeutsche Lloyd mit der neuen Gesellschaft nicht erwirtschaften. Andererseits musste er keine weiteren Betriebsverluste befürchten, da das Reich für auftretende Defizite im operativen Geschäft Garantien abgegeben hatte.9 Die Hoffnungen auf einen „Siegfrieden“ und auf umfangreiche Reparationsleistungen zum Wiederaufbau der Flotte schwanden in der deutschen maritimen Wirtschaft mit dem Kriegseintritt der USA erheblich. Alle Reedereien mussten mitansehen, wie nun auch die in amerikanischen Häfen ankernden Dampfer beschlagnahmt und als „Feindesgut“ requiriert wurden. Die vage Aussicht, nach Kriegsende auf diesen Teil der Flotte schnell wieder zurückgreifen zu können, wurde damit zunichte gemacht.10 Umso mehr drängten Ballin und Heineken sowie die Entscheidungsträger anderer Reedereien darauf, dass die Reichsregierung endlich konkrete Zahlen und Modalitäten nannte, wie sie die deutsche Handelsschifffahrt für erlittene Kriegsverluste kompensieren wollte. Die 8 Phillip Heineken, Die deutsche Handelsschiffahrt im Weltkriege unter besonderer Berücksichtigung des Norddeutschen Lloyd, in: Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd Bremen 1916/17, Bremen 1917, 203–221, hier 220. Vgl. auch Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 61 ff.; Schwarzrock, Lloydseligkeit (wie Anm. 7), 421–424. 9 Das erste Handelstauchboot „Deutschland“, in: Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd Bremen 1916/17, Bremen 1917, 245–267. Vgl. auch Schwarzrock, Lloydseligkeit (wie Anm. 7), 422 ff.; Georg Bessell, 1857–1957. Norddeutscher Lloyd. Geschichte einer bremischen Reederei, Bremen 1957, 152 f.; Hans-Jürgen Witthöft, Der Norddeutsche Lloyd, Herford 1973, 57 ff.; Christian Ostersehlte, Aufstieg zur Größe, 1857–1918, in: Dirk Peters (Hg.), Der Norddeutsche Lloyd – von Bremen in die Welt. Globalplayer der Schifffahrtsgeschichte, Bremen 2002, 21–36. Der Norddeutsche Lloyd war während des Kriegs von der Publizitätspflicht als Aktiengesellschaft befreit, so dass für diese Zeit keine Geschäftsberichte und Angaben zur Geschäftsentwicklung vorliegen. Allerdings gab die Gesellschaft in den von ihr publizierten Jahrbüchern detaillierte Einblicke in ihr operatives Geschäft. 10 Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd Bremen 1917/18, Bremen 1918, 1. Vgl. auch Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 62 f.

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Unternehmen der Branche verlangten dafür ein exaktes juristisches Regelwerk, um Planungssicherheit für die Zeit nach einem „Friedensschluss“ zu erhalten. Sollte ein Kriegsentschädigungsgesetz für die maritime Wirtschaft zustande kommen und auf dieser Grundlage erhebliche Summen an einzelne Unternehmen der Branche gezahlt werden, so sah man in der deutschen Schifffahrt zumindest die Möglichkeit, die Flotte rasch wieder aufzubauen und den Verkehr auf den bisherigen Linien aufzunehmen. Angesichts umfangreicher Ersatz- und Modernisierungsinvestitionen witterten auch die deutschen Werften die Chance, nach Auslaufen der Aufträge für die Marine durch den Bau von neuen Handelsschiffen nach Kriegsende für eine geraume Zeit gut beschäftigt zu sein.11 Trotz aller Versuche, das operative Geschäft irgendwie aufrecht zu herhalten und die Palette an Dienstleistungen zu diversifizieren, verschlechterte sich bei allen Reedereien in den letzten beiden Kriegsjahren die Ertragslage dramatisch, so dass die Verschuldung erheblich wuchs. Das im November 1917 vor allem auf Druck Albert Ballins zustande gekommene „Gesetz betreffend den Wiederaufbau der Handelsflotte“ sollte den Schifffahrtsgesellschaften endlich die benötigte Rechtssicherheit bieten, neue Schiffe bei den Werften in Auftrag zu geben, zudem stellte das Reich dafür erneut die Summe von 1,5 Mrd. Mark in Aussicht. Unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft ließ sich das ambitionierte Programm aufgrund von Material- und Kapitalmangel nicht einmal in Ansätzen verwirklichen. Die Wiederherstellung von Tonnage – geplant war der groß dimensionierte Bau von Dampfern auf deutschen Werften – scheiterte vor allem daran, dass die Reichsregierung ihre Versprechen bis Kriegsende nicht erfüllte, das benötigte Kapital zur Verfügung zu stellen.12 Nicht nur der Geschäftsleitung des Norddeutschen Lloyd, sondern auch den Entscheidungsgremien anderer Reedereien blieb daher nur die traurige Erkenntnis, dass die Betriebskosten zu hoch waren, während die Betriebsverluste beständig stiegen. Damit war absehbar, dass fast alle deutschen Schifffahrtsgesellschaften bald überschuldet sein würden.13 Im Gegensatz zu den Reedereien war die Ertragslage bei den meisten Werften während des Krieges gut bzw. verbesserte sich stetig. Schiffbauunterneh11 Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 66. 12 Zum „Gesetz betreffend den Wiederaufbau der Handelsflotte vom 7. November 1917“ und der von den Reedereien erhofften Wirkung siehe Witthöft, Norddeutscher Lloyd (wie Anm. 9), 60. Zu den Verhandlungen mit der Reichsregierung und der besonderen Stellung Albert Ballins als „Scharnier“ zwischen maritimer Wirtschaft und der Politik im Kaiserreich, siehe Ritter, Der Kaiser und sein Reeder (wie Anm. 7), 155 ff. 13 Witthöft, Norddeutscher Lloyd (wie Anm. 9), 60; Reinhold Thiel, Die Geschichte des Norddeutschen Lloyd, 1857–1970, Bd. 3: 1900–1919, Bremen 2003, 258; Schwarzrock, Lloydseligkeit (wie Anm. 7), 424 f.; Wixforth, Kriegseinsatz und Kriegsfolgen (wie Anm. 7), 481 ff.

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men wie Blohm & Voss, der Bremer Vulkan, die zum Krupp-Konzern gehörende Germania-Werft in Kiel-Gaarden oder der Stettiner Vulcan profitierten von der sich stetig intensivierenden Rüstungswirtschaft und konnten auf volle Auftragsbücher blicken. Kosten für die Umrüstung der Helgen und Docks für die Anforderungen der Marine ließen sich durch steigende Gewinne in der Schiffsfertigung auffangen. Bei Kriegsbeginn sahen sich einige Schiffbauunternehmen mit einem Gewinneinbruch und Rentabilitätsproblemen konfrontiert, da die Aufträge der Großreedereien weitgehend wegfielen und ein harter Konkurrenzkampf um Bestellungen aus dem Reichsmarineamt einsetzte. Als diese Behörde ab 1915 eine Reihe von Schlachtschiffen und Kreuzern sowie Torpedo- und vor allem U-Booten in Auftrag gab, verbesserte sich die Ertragslage der Großwerften schlagartig, so dass Umsatz und Gewinne deutlich stiegen. Ursprünglich war geplant, dass nur die Germania-Werft in Kiel-Gaarden sowie die Kaiserliche Werft in Danzig die U-Boote fertigen sollte, die von allen Militärs als neue und effiziente Waffe im Seekrieg eingestuft wurde. Ab 1915 erhielten auch die A. G. „Weser“, der Bremer Vulkan, die Vulcan-Werft in Stettin sowie Blohm & Voss voluminöse Aufträge für den Bau solcher Schiffe.14 Allein die Hamburger Werft Blohm & Voss stellte bis 1918 91 U-Boote fertig, rund ein Viertel der gesamten deutschen Produktion in diesem Segment des Schiffbaus. Selbst als das Reichsmarineamt seit dem Herbst 1916 den U-BootBau wieder einschränkte, da die für die Kriegsführung vorhandenen Mittel nach dem Willen der Berliner Behörden in erster Linie für das Heer eingesetzt werden sollten, ließ sich diese Auftragsdelle durch den Bau von Kampfschiffen ausgleichen.15 Die Produktion ließ sich allerdings nicht wie von den Militärs gefordert steigern, da auch die Werften ab dem Herbst 1916 zunehmend unter einem Mangel an Material und Brennstoff sowie Fachkräften litten, so dass sich die Arbeiten an den in den Docks liegenden Schiffen immer wieder verzögerten.16 14 Vgl. Harald Vock, Kampfschiffe. Der Marineschiffbau auf deutschen Werften – 1870 bis heute, Hamburg 1995, 24 f.; Olaf Mertelsmann, Zwischen Krieg, Revolution und Inflation, Die Werft Blohm & Voss 1914–1923, München 2003, 31 f.; An dieser Stelle können weder die einzelnen Etappen der Marinerüstung nachgezeichnet noch die Ziele der Flottenpolitik und ihre Folgen diskutiert werden. Siehe dazu Dülffer, Weimar, Hitler und die Marine (wie Anm. 3), 25 ff.; Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 61 ff. 15 Mertelsmann, Zwischen Krieg, Revolution und Inflation (wie Anm. 14), 37 ff.; sowie zu den Verhandlungen im Reichsmarineamt, ebd., 89–95. Zudem konnten einige Werften wie Blohm & Voss Dampfer für Reedereien aus dem Ausland fertigstellen. 16 Mit dem Anlaufen des sogenannten „Hindenburgprogramms“ zur Intensivierung der Rüstungswirtschaft nahm die Zahl der Kriegsgesellschaften erheblich zu, was zu einem wachsenden Gerangel um Roh- und Brennstoffe sowie zu erheblichen Problemen beim Transport und in der Logistik führte. Im Ergebnis ließ sich die von den Militärs geforderte Steigerung der Rüstungsproduktion nicht erreichen. Dazu: Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft

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Dennoch lässt sich für fast alle Werften während des Krieges ein deutlicher Anstieg beim Umsatz und beim Gewinn konstatieren, der ohne die Versorgungsprobleme sicherlich noch höher ausgefallen wäre. Bei Blohm & Voss etwa stieg die Dividende von 690.000 Mark 1914 auf 1,25 Mio. Mark 1918, während die Summe der an die Komplementäre ausgezahlten Gelder im gleichen Zeitraum von 1,25 Mio. Mark auf 2,45 Mio. Mark zunahm und sich damit nahezu verdoppelte.17 Der Bremer Vulkan konnte von 1915 bis 1918 sogar die höchste Dividende seiner Geschichte an seine Aktionäre zahlen, bis zu 20 Prozent! Ähnlich gut war die Ertragslage bei der A. G. „Weser“.18 Der Vorstand des Bremer Vulkans konnte daher ab 1915 stets verkünden: „Infolge der vorherrschenden Verhältnisse müssen wir uns für dieses Jahr wiederum enthalten, Ihnen über die abgeschlossenen Aufträge und erfolgten Ablieferungen ausführliche Mitteilung zu machen. Wir können nur das im letzten Geschäftsbericht Gesagte wiederholen, dass wir auf Jahre hinaus in allen Betrieben mit Aufträgen voll besetzt sind.“19 Vor diesem Hintergrund sahen einige Ruhrindustrielle wie August Thyssen und Hugo Stinnes in einer Beteiligung an den Werften ein lohnendes Investment, auch nach einem Friedensschluss. Für die Schiffbaugesellschaften bedeutete eine solche Beteiligung, dass sie fortan finanzstarke Partner an ihrer Seite hatten, wodurch sich ihr finanzieller Handlungsspielraum erweiterte. Andererseits bestand die Gefahr, dass sie die Wünsche und Zielsetzungen ihrer neuen Anteilseigner in ihrer Strategieplanung berücksichtigen mussten, wodurch ihre unternehmerische Handlungsautonomie beeinträchtigt wurde.20 in Deutschland 1914 bis 1918, Berlin 1985, 242–283, 209–256; Harald Wixforth, Die Gründung und Finanzierung von Kriegsgesellschaften während des Ersten Weltkriegs, in: Hartmut Berghoff u. a. (Hrsg.), Wirtschaft im Zeitalter der Extreme. Beiträge zur Unternehmensgeschichte Deutschlands und Österreichs, München 2010, 84–89. 17 Mertelsmann, Zwischen Krieg, Revolution und Inflation (wie Anm. 14), 131 ff. 18 1916 verteilte der Bremer Vulkan an seine Anteilseigner eine Dividende von 12,5 Prozent, 1917 von 20 Prozent und selbst 1918 noch von 12 Prozent. Siehe Geschäftsberichte der Bremer Vulkan AG, Schiffbau und Maschinenfabrik, für die Geschäftsjahre 1916 bis 1918, in: Staatsarchiv Bremen [künftig StAB], Akte 7,2/1-121/1-113. Zur Entwicklung der A. G. „Weser“ siehe, Geschäftsbericht der Actien-Gesellschaft „Weser“ in Bremen für das Geschäftsjahr 1916, in: StAB, Akte 7,2/1-121/1-118. 19 Geschäftsbericht der Bremer Vulkan AG, Schiffbau und Maschinenfabrik, für das Geschäftsjahr 1917, in: StAB, Akte 7,2/1-121/1-113. 20 Unstrittig ist, dass Stinnes und Thyssen dem Beispiel des Krupp-Konzerns folgten, der seit längerem an Werften beteiligt war. Zum Einstieg von Stinnes bei der Emdener Werft und seinem Engagement in der Schifffahrt siehe Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, 426 f., 474 ff. Zur Entwicklung der Germania-Werft während des Ersten Weltkriegs siehe Klaus Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen. Die Unternehmensgeschichte der Fried. Krupp AG 1914–1924/25, in: Lothar Gall (Hg.), Krupp im 20. Jahrhundert, Berlin 2002, 32–43. Speziell zum Einstieg August Thyssens beim Bremer Vulkan: Harald

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Schiffbauunternehmen mit einem neuen Großinvestor setzten aber zunächst weiter auf Expansion und bauten ihre Kapazitäten bis Kriegsende aus. Ob und inwieweit diese nach einem Friedensschluss rentabel zu nutzen waren, blieb abzuwarten. Für die Werften wuchs damit das Risiko, dass sie ihre erweiterten Anlagen nach Kriegsende und bei einer Umstellung von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft verringern und ihre Investitionen abschreiben mussten.21 Dennoch lässt sich bis Kriegsende eine wachsende Kluft in der maritimen Wirtschaft konstatieren. Während die Ertragslage bei einer Reihe von Werften so gut war wie niemals zuvor, standen die Großreedereien vor einer ungewissen Zukunft und sahen sich gezwungen, ihr bisheriges Geschäftsmodell aufzugeben. Selbst bei einer gezielten Hilfe von außen, vor allem der Reichsregierung, wurde es schwierig, den Linienverkehr wie vor dem Krieg wieder aufzunehmen und die alte internationale Wettbewerbsposition wiederherzustellen. Diese Konstellation evozierte auch eine Gewichtsverschiebung innerhalb der maritimen Wirtschaft. Während die Bedeutung der Entscheidungsträger aus den Reedereien auf Verbandsebene bzw. in Verhandlungen mit der Reichsregierung sank, wuchs die der Direktoren aus den Werften. Fortan standen ihre Interessen im Zentrum von Sondierungen mit den Behörden in Berlin, während die Ziele und Pläne der einst so wichtigen Reedereien weitaus weniger Beachtung fanden.22

Wixforth, Kooperation und Kontrolle im Schiffsbau. August Thyssen und der Bremer Vulkan, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2 (2014), 156–159; Jörg Lesczenski, August Thyssen. Lebensbild eines Wirtschaftsbürgers, Essen 2008, 324. Zu den Verschiebungen in der Unternehmensstrategie des Bremer Vulkans nach dem Einstieg August Thyssens siehe Wixforth, Kooperation und Kontrolle im Schiffsbau (wie Anm. 20), 159–162. 21 Mit diesem Problem sahen sich vor allem die Unternehmen der Schwerindustrie konfrontiert, die ihre Produktion während des Kriegs auf die Anforderungen der Rüstungswirtschaft hin ausgerichtet hatten. Dazu exemplarisch Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 20), 98–117. 22 Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 68 f. Eine der maßgeblichen Persönlichkeiten an der Schnittstelle von maritimer Wirtschaft und Politik wurde zum Beispiel der langjährige Generaldirektor und ab 1922 Aufsichtsratsvorsitzende des Bremer Vulkan, Victor Nawatzki, der ab 1922 auch den Vorsitz im Verein Deutscher Schiffswerften übernahm. Siehe Niederschriften über die Sitzungen des Vereins Deutscher Schiffswerften e. V. 1924/25, in StAB, Akte 7,2/1-121/1-116; Niederschriften über die Sitzungen des Vereins Deutscher Schiffswerften e. V. 1924 und Korrespondenz des Wirtschaftsausschusses der Deutschen Werften, in: StAB, Akte 7,2/1-121/1-123; Handakten Nawatzkis, in: StAB, Akte 7,2/1-121/1-147. Zur Biografie Nawatzkis siehe Georg Bessell, 150 Jahre Schiffbau in Vegesack, Bremen 1955, 88–113; Lars-Uwe Scholl, Victor Nawatzki, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 19, Berlin 1999, 3 ff.

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3 Kriegsende und Kriegsfolgen Obwohl nach dem Kriegsverlauf im Jahre 1918 nicht völlig überraschend, so verursachten die Abdankung Kaiser Wilhelms II. und das Ende des Kaiserreiches sowie der dadurch eingeleitete politische Systemwechsel am 9. November 1918 in weiten Teilen der wirtschaftsbürgerlichen Funktionselite einen Schock, der sich durch den Waffenstillstand mit den Alliierten und die Bekanntgabe der Waffenstillstandsbedingungen intensivierte. Für die maßgeblichen Entscheidungsträger der maritimen Wirtschaft traf dies ebenfalls zu. Philipp Heineken, der Generaldirektor des Norddeutschen Lloyd, malte ein ausgesprochen düsteres Bild der Lage: „Der Leidensweg, den die deutsche Handelsschiffahrt nach dem Zusammenbruch unseres Vaterlandes gehen musste, ist an anderer Stelle ausführlich geschildert […] So ist denn unsere einst so mächtige Handelsflotte auf einen geringen Bruchteil ihres sie vor dem Kriege an die zweite Stelle unter den Flotten aller Länder stellenden Bestandes herab gesunken.“23 Nicht nur Heineken, sondern auch andere maßgebliche Persönlichkeiten aus der maritimen Wirtschaft sahen für diese Branche keine Zukunft mehr. Albert Ballin etwa fühlte sich nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und dem drohenden Ende der deutschen Passagierschifffahrt um sein gesamtes Lebenswerk betrogen. Besonders schmerzlich war für ihn, dass mit dem Aufstand der Matrosen in Kiel die von ihm so geschätzte kaiserliche Marine das Signal für den politischen Umsturz gab. Noch am Abend des 9. Novembers setzte er seinem Leben mit einer Überdosis Schlafmittel ein Ende.24 Verantwortlich für die Resignation, ja Depression unter Entscheidungsträgern der maritimen Wirtschaft waren nicht nur die neuen, zum Teil chaotischen wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in Deutschland, sondern auch die Verluste, die von der Branche bis Kriegsende zu verkraften waren. Von einer Gesamttonnage von knapp 5,6 Mio. Bruttoregistertonnen bei Kriegsbeginn hatte die Handelsschifffahrt durch direkte Kriegshandlungen bis zum November 1918 bereits 1,46 Mio. Bruttoregistertonnen verloren, hinzukamen weitere knapp 1,5 Mio. Bruttoregistertonnen infolge von Sequestrierungen durch die Alliierten. Damit mussten deutsche Reedereien bis zum Ende der Kriegshandlungen einen Verlust von knapp drei Mio. Bruttoregistertonnen hinnehmen, während sie noch

23 Phillip Heineken, Vergangenheit und Zukunft, in: Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd Bremen 1918/19, Bremen 1919, 9, 14. 24 Gottfried Klein, Albert Ballin, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 1, Berlin 1953, 561 f.; Ritter, Der Kaiser und sein Reeder (wie Anm. 7), 158.

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über eine Tonnage von circa 2,6 Mio. Bruttoregistertonnen disponieren konnten, ein Rückgang von 56 Prozent gegenüber dem Vorkriegsstand.25 Allen Beteiligten war klar, dass dieser Schiffsraum für immer verloren war. Nun hoffte man darauf, nach einem schnellen Waffenstillstand mit den Alliierten und der Fixierung einer tragfähigen europäischen Nachkriegsordnung mit dem Wiederaufbau und der Modernisierung der Flotte beginnen zu können, im Wesentlichen finanziert durch die immer wieder eingeforderten Mittel aus dem Reichshaushalt. Umso größer war die Ernüchterung und Empörung, als dieses Ziel nach Abschluss der Waffenstillstandsabkommen und der Unterzeichnung des Versailler Vertrags in weite Ferne rückte bzw. sich als gänzlich unrealistisch erwies.26

Das Trierer Waffenstillstandsabkommen vom 16. Januar 1919 Seit dem Spätsommer 1918 hatte die Oberste Heeresleitung (OHL) auf ein Ende der Kampfhandlungen gedrängt, da sie die militärische Lage für zunehmend aussichtlos hielt. Die seit Oktober 1918 amtierende Reichsregierung unter dem Reichskanzler Prinz Max von Baden ernannte daraufhin eine Kommission, die Verhandlungen über einen Waffenstillstand aufnehmen sollte.27 Ihr gehörten zunächst nur Militärs an, erst am 7. November übernahm der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger die Leitung und avancierte damit zum Verhandlungsführer mit den Alliierten.28 Am 11. November 1918 akzeptierte diese Kommission im Wald von Compiègne die von alliierter Seite vorgelegten Bedingungen und unterzeichnete das Waffenstillstandabkommen.29 Dieses sollte zunächst für 36 Tage gelten, so dass für eine Verlängerung der Waffenruhe weitere Abkommen 25 Zahlen nach Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 68. Die Zahlen divergieren etwas in der zur Verfügung stehenden Literatur. 26 Zur Einschätzung der wirtschaftlichen und politischen Lage im Hamburger Wirtschaftsbürgertum siehe etwa Niall Ferguson, Papers and Iron. Hamburg business and German politics in the era of inflation 1897–1927, Cambridge 1995, 153–162. 27 An dieser Stelle kann nicht näher auf die einzelnen Schritte eingegangen werden, die zur Bildung einer neuen Reichsregierung unter dem Prinzen Max von Baden, zum Aufstand der Matrosen in Kiel, zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten sowie schließlich zur Abdankung Kaiser Wilhelm II. und zum politischen Systemwechsel führten. 28 Zur Person und zum politischen Werdegang Erzbergers siehe Christopher Dowe/Matthias Erzberger, Ein Leben für die Demokratie, Stuttgart 2011. 29 Siehe dazu die ausführliche Schilderung in: Bundesarchiv Berlin, Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik, Online-Quellenedition des Bundesarchivs Berlin [künftig AdR], Das Kabinett Scheidemann, Bd. 1, Dokument Nr. 5 b, Vortrag des Generals von Hammerstein vor dem Reichskabinett über die Arbeit der Waffenstillstandskommission in Spa vom 4. März 1919.

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erforderlich waren. Die Verhandlungen darüber sollten nach dem Willen der Franzosen, Engländer und Amerikaner in Trier stattfinden. Am 13. Dezember 1918, am 16. Januar und am 16. Februar 1919 wurden hier die entsprechenden Vereinbarungen für die Fortsetzung der Waffenruhe unterzeichnet.30 Ein wesentlicher Teil des am 11. November 1918 unterzeichneten Waffenstillstandabkommen zielte auf das Schicksal der kaiserlichen Marine (Artikel 20 bis 31), während die Handelsflotte nur in zwei Artikeln (Artikel 32 und 33) behandelt wurde. Die Alliierten verlangten von Deutschland, dass es seine gesamte U-Boot-Flotte abliefern sollte, zudem sechs Panzerkreuzer, acht kleinere Kreuzer, 50 Zerstörer und zehn Linienschiffe. Zudem waren die Arbeiten an allen noch nicht fertiggestellten Neubauten für die Marine sofort zu beenden und die Schiffe an die Alliierten zu übergeben, die sie abwracken wollten.31 Damit war klar, dass die Marine keine Aufträge mehr an die Werften vergeben konnte, zudem bereits bestellte Schiffe auch nicht mehr bezahlte. Für Schiffbauunternehmen, die wie Blohm & Voss, der Stettiner Vulcan oder die Germania-Werft ihre Produktion zu einem erheblichen Teil auf die Marinerüstung umgestellt hatten, bedeutete dies einen ersten, massiven finanziellen Rückschlag.32 Für die Substanz der maritimen Wirtschaft noch bedrohlicher waren jedoch die Bestimmungen, die am 16. Januar 1919 in Trier unterzeichnet wurden, um die Waffenruhe zu verlängern. Die Bedingungen dieses Waffenstillstandsabkommen zielten auf alle Bereiche von Industrie, Handel und Gewerbe, wobei zum ersten Mal Listen an Sachleistungen präsentiert wurden, die Deutschland unverzüglich abzugeben hatte. Dies galt auch für die maritime Wirtschaft, die einen großen Teil des noch verfügbaren nautischen Materials den Alliierten aushändigen musste. Diese waren darüber hinaus der Meinung, die Marine habe die Ablieferung der angeforderten U-Boote bisher verschleppt. Daher ver30 Als Ort für die Verhandlungen bestimmten die Franzosen den auf einem Nebengleis des Trierer Bahnhofes stehenden Salonwagen des französischen Oberkommandierenden, Marschall Foch. Siehe Deutsche Waffenstillstandskommission, Die Verhandlungen zur Verlängerung des Waffenstillstandes in Trier am 15. und 16. Januar 1919 – nebst dem Briefwechsel zwischen Staatssekretär Erzberger und Marschall Foch, Berlin 1919 (Online-Ausgabe, Original im Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz, Koblenz); vgl. auch AdR, Das Kabinett Scheidemann, Bd. 1, Dokument Nr. 5 b, Vortrag des Generals von Hammerstein vor dem Reichskabinett über die Arbeit der Waffenstillstandskommission in Spa vom 4. März 1919. 31 Waffenstillstandsvertrag zwischen den Alliierten und Deutschland vom 11. November 1918, Online-Version, www.versailler-vertrag.de, Paragraph 22 und 23 [letzter Zugriff 16.2.2020]. 32 Rübner, Zwischen Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 69. Dies führte auch zu einem Auftragseinbruch bei Firmen, die in erster Linie Halbfabrikate und Vorprodukte für die Schiffsfertigung lieferten, etwa das Krupp-Gruson-Werk in Magdeburg, einem der führenden Hersteller von Panzerplatten, die für den Bau von Panzerkreuzern benötigt wurden. Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen (wie Anm. 20), 45 ff.

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langten sie zur Strafe die Übergabe weiterer Kriegsschiffe. Wichtiger war jedoch, dass die gesamte Handelsflotte der Kontrolle der Alliierten zu unterstellen war. Allein kleine Schlepper und Leichter für die Küstenschifffahrt blieben unter dem Kommando deutscher Reedereien. Franzosen, Amerikaner und Engländer sahen darin eine unverzichtbare Maßnahme, um alle Handelsverbindungen Deutschlands zu kappen, aber auch den Transport von Waffen und Soldaten aus den bei Kriegsende von deutschen Truppen noch gehaltenen Gebieten in Übersee in ihre Heimathäfen wirkungsvoll zu unterbinden.33 Als besonders schmerzlich empfanden die deutschen Reeder die Bestimmung, dass die alliierte Kontrolle auch für alle Handelsschiffe galt, die noch in deutschen Häfen ankerten. Nachdem die Schifffahrtsgesellschaften bereits kurz nach Kriegsausbruch einen erheblichen Teil ihrer Tonnage infolge der Beschlagnahmung von Dampfern in Häfen von Feindstaaten verloren hatten, war dies der zweite, existenzbedrohende Verlust an Schiffsraum. Das eigenverantwortliche operative Geschäft fast aller Reedereien kam damit fast vollständig zum Erliegen. Für den Norddeutschen Lloyd, der bei Kriegsende noch über eine Tonnage von 318.000 Bruttoregistertonnen disponieren konnte, bedeutete dieser Schritt einen weiteren Verlust von 160.000 Bruttoregistertonnen, als am 1. März 1919 ein großer Teil der noch unter seiner Flagge fahrenden Schiffe Bremen und Bremerhaven verließ und an die Alliierten übergeben wurde.34 Im Frühjahr 1919 konnte die Reederei nur noch über einen geringen Teil ihrer ursprünglichen Tonnage verfügen, wie einige kleine Dampfer für den Verkehr zu den ostfriesischen Inseln sowie einige Schleppschiffe und Leichter für den Betrieb in den Häfen. Das definitive Ende des ehemaligen Geschäftsmodells bedeutete auch, dass der größte Teil der Belegschaft, sowohl zur See als auch in der Verwaltung zu Lande, trotz aller Bemühungen um eine Weiterbeschäftigung zu entlassen war. Die Geschäftsleitung des Norddeutschen Lloyds kommentierte diese Entwicklung mit einem gewissen Grad an Sarkasmus und Zynismus: 33 Deutsche Waffenstillstandskommission, Die Verhandlungen zur Verlängerung des Waffenstillstandes in Trier am 15. und 16. Januar 1919, Artikel XXII und XXX; Brief der deutschen Waffenstillstandskommission an die Waffenstillstandskommission der Alliierten und der Vereinigten Staaten, z. Hd. Herrn Admiral Browning vom 15. Januar 1919; Abkommen zur Verlängerung des Waffenstillstandes vom 16. Januar 1919, Artikel V und VIII. Erstaunlicherweise wurde bei den Verhandlungen länger und erbitterter über die Abgabe von weiteren U-Booten und Kriegsschiffen gestritten als über die deutsche Handelsflotte. 34 Eine Aufstellung der Schiffe, die der Norddeutsche Lloyd während des Kriegs und danach durch die Ablieferung an die Alliierten verlor, befindet sich in: O. V., Die letzte Betätigung und Ablieferung der Lloydflotte, in: Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd Bremen 1918/19, 358–362. Vgl. auch Bessell, Norddeutscher Lloyd (wie Anm. 9), 134; Witthöft, Norddeutscher Lloyd (wie Anm. 9), 60 f.; Wixforth, Kriegseinsatz und Kriegsfolgen (wie Anm. 7), 381 f.

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„Schiffe verloren – alles verloren! Nicht Wiederaufbau, sondern Abbau! So lautete nun zunächst die Losung! Ablieferung der Flotte auf der einen Seite, Einschränkung und Verkleinerung des Geschäftsbetriebs auf der anderen!“35 In den deutschen Reedereien war man über die Bedingungen des Trierer Waffenstillstandabkommens zutiefst empört. Sowohl die Alliierten als auch die deutsche Waffenstillstandskommission standen im Kreuzfeuer massiver Kritik. Über ihre Interessenverbände machten die Entscheidungsträger in den Schifffahrtsgesellschaften massiv Front gegen das „Diktat des Marschall Foch“ und gegen „die Vergewaltigung eines so wichtigen Teils der deutschen Volkswirtschaft.“36 Auf der anderen Seite sparte man nicht mit Vorwürfen, ja sogar Häme, gegen die deutsche Waffenstillstandskommission, vor allem gegen ihren Chefunterhändler Erzberger. Gerade dessen Verhalten wurde immer wieder als zu nachsichtig und zu wenig entschlossen gerügt, was den Alliierten die Möglichkeit eröffnet habe, ihre Forderungen rigide durchzusetzen. Die Geschäftsleitung des Norddeutschen Lloyd, dessen Generaldirektor Heineken als Experte zu den Sondierungen nach Trier gefahren war, ohne dort gehört zu werden, sah gerade durch Erzbergers Verhandlungsführung alle ihre Bemühungen konterkariert, eine Ablieferung der Handelsflotte zu verhindern. Welche Maßnahmen die großen Schifffahrtsgesellschaften ergreifen wollten, um diesen Schritt zu vermeiden, welche Strategie sie genau verfolgten, blieb allerdings im Dunkeln.37 Alle Verbalattacken aus der maritimen Wirtschaft führten nicht dazu, die Bedingungen des Trierer Abkommens zu revidieren. Sie erwiesen sich vielmehr als kontraproduktiv, da sich die Fronten zwischen der deutschen Waffenstillstandkommission und den Alliierten weiter verhärteten. Die Versuche einiger prominenter Industrieller wie Hugo Stinnes, eine konstruktive Verständigung mit Franzosen und Engländern zu erreichen und dadurch weitere Sanktionen

35 O. V., Aus dem Lloydbetriebe 1918/19, in: Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd Bremen 1918/19, Bremen 1919, 300. Vgl. auch Jörn Lindner, Schiffahrt und Schiffbau in einer Hand. Die Firmen der Familie Rickmers 1918–2000, Bremen 2009, 30 f. 36 Zitiert nach Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 69. 37 So hieß es etwa in einem Rückblick auf das Geschäftsjahr 1918/19: „Diese Bemühungen wurden jedoch bei den Verhandlungen über die Verlängerung des Waffenstillstandes in Trier im Januar 1919 durch die deutschen Unterhändler durchkreuzt, die es nicht vermochten, dem Drängen der Alliierten zu widerstehen und die deutsche Seeschiffahrt vor dem Schlimmsten zu bewahren!“ O. V., Aus dem Lloydbetriebe 1918/19, in: Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd Bremen 1918/19, Bremen 1919, 300.

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für Deutschland zu verhindern, liefen zusehends ins Leere.38 Die Alliierten zeigten daher auch keinerlei Bereitschaft mehr, die Kontrolle über die Handelsflotte zeitlich zu begrenzen bzw. auf andere Wünsche der deutschen Seite einzugehen. Dies war riskant, da Großbritannien angekündigt hatte, die Seeblockade gegen Deutschland fortzusetzen. Die Lebensmittelversorgung des Landes hing damit vollends vom Wohlwollen der Alliierten ab, die dafür einen Teil der von ihnen kontrollierten Handelsflotte einsetzen wollten. Angesichts des permanenten Störfeuers gegen die Sondierungen in Trier durch Interessenverbände der Industrie und das Handels sowie der Attacken in der Presse sank deren Bereitschaft erheblich, hier großzügiger zu verfahren. Die Konsequenzen dieser Haltung bekam auch die maritime Wirtschaft zu spüren, als die Bedingungen des Vertrags von Versailles verkündet wurden.39

Die Bestimmungen des Versailler Vertrags Seit dem Frühjahr 1919 war das Klima zwischen den Alliierten und der deutschen Seite zunehmend belastet, als in Versailles über den Abschluss eines Vertrags verhandelt wurde, der den Kriegszustand endgültig beenden und die Grundlage für eine tragfähige europäische Nachkriegsordnung schaffen sollte. Angesichts der verhärteten Fronten wurde die deutsche Delegation unter der Leitung des ersten Außenministers der jungen Weimarer Republik, Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau, zu einer Reihe von Beratungen über einzelne Vertragspunkte nicht hinzugezogen, was man in Deutschland als Affront und bewusste Demütigung empfand.40 In dieser zunehmend vergifteten Atmosphäre, in der sich keine Seite um Deeskalation bemühte, wurden schließlich die Bestimmun38 Über die Rolle von Stinnes ist in der Forschung intensiv diskutiert worden. So wurde ihm vorgeworfen, er wolle zusammen mit Vertretern der Kreditwirtschaft wie dem Kölner Privatbankier Louis Hagen eine Verständigung mit den Franzosen erreichen, die Rheinprovinz aus dem preußischen Staat herauslösen und als „Pufferstaat“ zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich errichten. Dazu Feldman, Stinnes (wie Anm. 20), vor allem 533–545. 39 Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 69 f.; Wixforth, Kriegseinsatz und Kriegsfolgen (wie Anm. 7), 382. 40 An dieser Stelle kann nicht detailliert auf die Tätigkeit der deutschen Delegation bei den Verhandlungen in Versailles eingegangen werden, ebenso wenig auf das Verhalten ihres Leiters Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau. Zu dessen Vita und Karriere siehe Christiane Scheidemann, Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau (1869–1928). Eine politische Biographie, Frankfurt 1998; exemplarisch für die gerade in den letzten Jahren angeschwollene Literatur zum Versailler Vertrag siehe die Darstellungen bei Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 2018; Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018; Eberhard Kolb, Der Frieden von Versailles, München 2005.

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gen des Versailler Vertrags fixiert, welche auch die Zukunft der Schifffahrt und des Schiffbaus in Deutschland regelten. Die maßgeblichen Entscheidungsträger der maritimen Wirtschaft waren sich in ihrer Sicht und in ihrer Ablehnung der Vertragsbestimmungen einig, ähnlich wie wichtige Persönlichkeiten aus anderen Schlüsselindustrien: „Niemals sind einer geschlagenen, bis zum Tode erschöpften Nation schwerere, niemals demütigendere, niemals unberechtigtere Friedensbedingungen zur Unterzeichnung vorgelegt worden, als im Frühjahr 1919 dem deutschen Volke […] Trier, Spa, Brüssel, Versailles, so heißen die Stationen auf diesem Leidensweg.“41 Die Attacken aus Wirtschaft und Politik gegen das Vertragswerk nahmen im Sommer 1919 ebenso zu wie gegen die deutsche Verhandlungsdelegation, als einzelne Regelungen bekannt wurden. Vertreter der maritimen Wirtschaft artikulierten dabei besonders lautstark ihren Protest. Andererseits betonten sie immer wieder, Deutschland müsse einen Teil seiner Handelsflotte behalten, um durch die Fortführung von Handelsbeziehungen seine Lebensgrundlage zu sichern. Trotz der massiven Kritik wurde der Versailler Vertrag am 28. Juni 1919 von den Signatarstaaten unterzeichnet und am 14. Juli 1919 vom deutschen Parlament ratifiziert. Nach einem längeren Austausch von Vertragsdokumenten und den dazugehörenden Verbalnoten trat er am 20. Januar 1920 in Kraft.42 In Fortführung der Waffenstillstandsbestimmungen machte ein nicht unerheblicher Teil des Versailler Vertrags die Zukunft von Schiffbau und Schifffahrt in Deutschland zum Thema. Dabei behandelten die meisten Artikel die Zukunft der Marine (Artikel 181 bis 197). Bis auf sechs Schlachtschiffe, sechs kleine Kreuzer und zwölf Zerstörer musste die junge Weimarer Republik alle anderen Kriegsschiffe den Alliierten übergeben, darunter die komplette U-Boot-Flotte. Zudem verlor Deutschland alle Eigentumsrechte an Kriegsschiffen, die noch in neutralen Häfen ankerten. Jegliche Neubauten für die Marine waren darüber hinaus untersagt. Schließlich wurde festgelegt, dass die deutsche Marine in Zu-

41 Heineken, Vergangenheit und Zukunft (wie Anm. 23), 9 f. Ähnlich beurteilte der „Patriarch“ des Thyssen-Konzerns, August Thyssen die Bedingungen des Versailler Vertrags: „Die Friedensbedingungen sind schrecklich. Man verlangt von dem verarmten Deutschland mehr als es hat. Die Friedensbedingungen sind daher ganz unannehmbar. Ich bezweifle, dass die Gegner mit viel günstigeren Bedingungen sich abfinden lassen“. Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza vom 10. Mai 1919, in: Manfred Rasch (Hg.), August Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza. Briefe einer Industriellenfamilie 1919–1926, Essen 2010, 90. 42 Der Friedensvertrag von Versailles („Versailler Vertrag“) vom 28. Juni 1919, www.document archiv.de [letzter Zugriff 22.2.2020]. Vgl. RGBl., Jg. 1919, Nr. 140 vom 12. August 1919, Gesetz über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 12. August 1919.

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kunft nur noch über einen Personalbestand von insgesamt 15.000 Mann verfügen durfte.43 Um zu verhindern, dass ein Teil der Handelsschiffe für Zwecke der Marine umgerüstet wurde, mussten die Reedereien alle Dampfer mit mehr als 1.600 Bruttoregistertonnen an die Alliierten abtreten. Sofern sie diese nicht verwenden konnten, wurden diese Schiffe ebenfalls in den Naturhafen Scapa Flow auf den Orkney-Inseln geschleppt, in dem bereits die seit Dezember 1918 an die Engländer übergebenen Schlachtschiffe, Kreuzer und Zerstörer der Marine ankerten. Im Sommer 1919 waren sich das Reichsmarineamt und der zu diesem Zeitpunkt Oberkommandierende Konteradmiral der Marine, Ludwig von Reuter, darin einig, dass die Kriegsflotte und die Handelsschiffe nicht in die Hände der Engländer fallen sollten.44 Dies galt vor allem für die U-Boote, die mit der für die damalige Zeit modernster Technik ausgerüstet waren. Am 21. Juni 1919 gab von Reuter daher den Befehl zur Selbstzerstörung, so dass fast die gesamte Kriegsmarine in der Bucht von Scapa Flow versenkt wurde, ebenso wie einige Schiffe der Handelsmarine.45

Die Folgen des Versailler Vertrags Sowohl durch diese Maßnahme als auch durch die vorherigen Verluste waren die Kriegs- und die Handelsmarine auf einen Bruchteil ihrer Tonnage vor Beginn des Ersten Weltkriegs geschrumpft. Für die Reedereien wie den Norddeutschen Lloyd bedeutete dies das vollständige Ende des bisherigen operativen Geschäfts. Von einer Gesamttonnage von knapp 983.000 Bruttoregistertonnen vor Kriegsausbruch waren ihm noch 57.600 Bruttoregistertonnen geblieben, vor allem Hafenschlepper und Barkassen, die im Bremer Hafen zum Transport von Personal und Waren eingesetzt wurden. Vor diesem Hintergrund war die Geschäftsleitung gezwungen, den größten Teil des bisher noch beschäftigten Personals zu entlassen. Daher verlautbarte sie voller Bitterkeit: „Von einer der größten Weltreedereien war der Norddeutsche Lloyd zu einem kleinen Schleppschifffahrtsunternehmen herab gesunken.“46 43 Der Friedensvertrag von Versailles vom 28. Juni 1919, hier Artikel 181 bis 187. 44 Vgl. Dülffer, Weimar, Hitler und die Marine (wie Anm. 3), 28 ff. 45 Ludwig von Reuter, Scapa Flow: das Grab der deutschen Flotte, Leipzig 1921, hier OnlineVersion aus dem Archive San Francisco, www.archive.org. [letzter Zugriff 22.2.2020]; Andreas Krause, Scapa Flow. Die Selbstversenkung der Wilhelminischen Flotte, Berlin 1999. 46 Friedrich Lührßen, Der Wiederaufbau des Norddeutschen Lloyd, in: Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd für 1922/23, Bremen 1923, 170–204, hier 171. Vgl. auch Wixforth, Kriegseinsatz und Kriegsfolgen (wie Anm. 7), 381 f.; Schwarzrock, Lloydse-

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Daher drängten nicht nur der Vorstand der Bremer Reederei, sondern auch die Entscheidungsträger anderer großer Schifffahrtsgesellschaften bei der Reichsregierung darauf, möglichst schnell eine umfassende Revision des Wiederaufbaugesetzes vom November 1917 in Gang zu setzen und der deutschen Schifffahrt gezielt umfassende finanzielle Hilfen zur Verfügung zu stellen. Die Verhandlungen darüber verliefen jedoch zäh. Das neu gegründete Reichsfinanzministerium vertrat ebenso wie andere Ressorts den Standpunkt, den Schifffahrtsunternehmen nur die bereits im Gesetz über die Wiederherstellung der deutschen Handelsflotte in Aussicht gestellte Summe von 1,5 Mrd. Mark auszahlen zu können. Der Hinweis aus der maritimen Wirtschaft, seit dem November 1917 sei ein deutlich größerer Verlust an Tonnage eingetreten, daher sei eine wesentlich höhere Entschädigungssumme zu vereinbaren, stieß bei den Ministerien in Berlin zunächst auf wenig Verständnis. Immer wieder betonten ihre Vertreter in Kabinettssitzungen: „Die Kosten für die Entschädigung der deutschen Reedereien sind bereits durch Gesetz festgelegt worden und auf 1 ½ Milliarden Mark zu veranschlagen.“47 Erschwerend für die maritime Wirtschaft kam hinzu, dass die Interessenvertreter aus anderen Branchen, vor allem aus der Schwerindustrie, bei der Reichsregierung nachhaltiger ihre Interessen durchzusetzen konnten und daher umfangreiche finanzielle Hilfen erhielten. Von einem vom Reichskabinett im Spätsommer 1919 zugesagten Kredit für den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft in Höhe von neun Mrd. Mark floss der größte Teil an die Kohlenzechen und Stahlkonzerne an Rhein und Ruhr, während die maritime Wirtschaft davon nur eine kleine Summe erhielt.48 Auch in anderen Fällen blieben die Reichshilfen wenig konkret. Die in Weimar tagende Nationalversammlung verabschiedete im August 1919 verschiedene Gesetze zur Entschädigung von Firmen, die Kriegsligkeit (wie Anm. 7), 425–426. Der Verlust an Tonnage bei der HAPAG bewegte sich in einer ähnlichen Größenordnung. Siehe Susanne/Klaus Wiborg, 1847–1997 – Unser Feld ist die Welt. 150 Jahre HAPAG-Lloyd, Hamburg 1997, 245–247. 47 AdR, Das Kabinett Scheidemann, Bd. 1, Dokument Nr. 54 b, Ausführungen des Reichsfinanzministers vor dem Reichskabinett über die finanzielle Leistungsfähigkeit des Reiches vom 26. April 1919. Zwar erkannten einige Ressorts wie das Reichswirtschaftsministerium an, dass die Handelsmarine durch die Ablieferung fast ihrer kompletten Flotte außerordentlich hart getroffen worden sei, zeigten sich aber ebenfalls zurückhaltend, das Gesetz über den Wiederaufbau der Handelsflotte zu aktualisieren. AdR, Das Kabinett Scheidemann, Bd. 1, Dokument Nr. 63 b, Denkschrift des Reichswirtschaftsministeriums zur wirtschaftlichen Lage vom 7. Mai 1919. 48 AdR, Das Kabinett Bauer, Bd. 1, Dokument Nr. 43, Kabinettssitzung vom 12. August 1919, hier Kreditvorlage des Reichsministers der Finanzen. Vgl. auch Dokument Nr. 98, Besprechung des Reichsministers für Wiederaufbau mit rheinisch-westfälischen Großindustriellen über Wiedergutmachungsfragen in Essen am 10. November 1919.

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verluste erlitten hatten. Dies galt auch für die Schifffahrtsgesellschaften, deren Schiffe durch das Reich für Kriegszwecke beschlagnahmt oder von Feindstaaten sequestriert worden waren. Die einzelnen Gesetze stellten zwar Entschädigungszahlungen in Aussicht, nannten aber weder deren tatsächliche Höhe noch den Zeitpunkt der Zahlung.49 Zudem flossen die Gelder aus dem Reichsfinanzministerium, die für eine Entschädigung der großen Schifffahrtsgesellschaften vorgesehen waren, nur spärlich oder gar nicht.50 Der beabsichtigte und von den Reedereien sehnsüchtig erwartete Wiederaufbau der Flotte kam daher kaum oder nur schleppend in Gang. Erst im Frühjahr 1920 konnte die maritime Wirtschaft einen Teilerfolg erzielen. Das Reichskabinett und die zuständigen Ministerien hatten sich darauf verständigt, aus Mitteln eines großen Programms zur Eindämmung sozialer Härten nach Kriegsende, der produktiven Erwerbslosenfürsorge, an die Reedereien Gelder für den Bau von Schiffen auszuzahlen. Anfallende Mehrkosten bei der Schiffsfertigung sollten damit aufgefangen und die Unternehmen animiert werden, wieder Schiffe in Auftrag zu geben. Nach anfänglichen Erfolgen verebbte die Wirkung dieser Maßnahme jedoch schnell. Konkrete finanzielle Zusagen für den Wiederaufbau der Flotte konnten die Schifffahrtsgesellschaften von den zuständigen Ministerien in Berlin immer noch nicht erhalten.51 Vor diesem Hintergrund brach auch das Geschäft der Werften ein. Bereits bestellte Schiffe wurden noch fertiggestellt, Neuaufträge waren jedoch nur sehr schwer zu bekommen. Eine Reihe großer Werften musste daher 1919 ein deutlich schrumpfendes operatives Geschäft verbuchen.52 Dies galt jedoch nicht für alle Schiffbauunternehmen. Der Bremer Vulkan versuchte zum Beispiel neue Geschäftssparten zu entwickeln und auszubauen, etwa den Maschinenbau. Zudem ließen sich nicht zuletzt aufgrund der Initiative von Mitgliedern der Fami49 Hierbei handelte es sich um das „Gesetz über eine außerordentliche Kriegsabgabe für das Kriegsjahr 1919“; das „Gesetz über eine Kriegsabgabe vom Vermögenszuwachse“ und das „Enteignungs- und Entschädigungsgesetz zum Friedensvertrag“. Siehe dazu: weimarer-republik. net, August 1919. 50 AdR, Das Kabinett Bauer, Bd. 1, Dokument Nr. 43, Kabinettssitzung vom 12. August 1919, hier Kreditvorlage des Reichsministers der Finanzen. 51 AdR, Das Kabinett Fehrenbach, Bd. 1, Dokument Nr. 65, Kabinettssitzung vom 7. September, Tagesordnungspunkt acht, Allgemeine Wirtschaftslage; Dokument Nr. 80, Besprechung beim Reichspräsidenten mit Vertretern des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes am 2. Oktober 1920. 52 Zur Jahreswende 1918/19 waren auf allen deutschen Werften noch 47 Neubauten mit insgesamt 325.000 Bruttoregistertonnen in Arbeit, davon die Hälfte Schiffe für die Handelsmarine, deren Fertigstellung in den beiden letzten Kriegsjahren zugunsten von Aufträgen für die Kriegsmarine verschoben worden war. Vgl. Lindner, Schifffahrt und Schiffbau in einer Hand (wie Anm. 35), 34.

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lie Thyssen, die neuen Mehrheitsgesellschafter des Unternehmens, Aufträge aus den Niederlanden und aus Übersee akquirieren, so dass der Werftbetrieb wieder aufgenommen werden konnte, allen politischen Unruhen und Streiks auf den Docks zum Trotz.53 Dies war allerdings eher die Ausnahme: Die A. G. „Weser“, die Hamburger Großwerft Blohm & Voss, aber auch kleinere Betriebe wie die Rickmers-Werft bzw. die Norddeutsche Werft in Bremerhaven sahen sich mit erheblichen Umstellungsproblemen konfrontiert. Hinzu trat eine sich 1919 deutlich verschlechternde Auftragslage, zudem kam es immer wieder zu Streiks. Auch die Gefahr einer drohenden Sozialisierung belastete das operative Geschäft. Massenentlassungen waren auf den Werften unvermeidlich, was wiederum zu einer steigenden Arbeitslosigkeit und damit zu politischen Unruhen an den großen Standorten der maritimen Wirtschaft führte, etwa in Bremen und Hamburg, aber auch in Stettin. Im Ergebnis sah sich die maritime Wirtschaft sowohl in ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit als auch in ihrer Funktion als „Führungssektor“ für die wirtschaftliche Entwicklung einer ganzen Region erheblich geschwächt.54 Auch die Werften verlangten von der Reichsregierung Entschädigungszahlungen, allerdings blieben die Verhandlungen auch hier lange Zeit ohne konkretes Ergebnis.55 Die Reichsregierung stellte sich auf den Standpunkt, die Werften hätten im Krieg gut verdient, seien sogar „Kriegsgewinnler“, so dass ein Anspruch auf Zahlungen aus dem Reichsetat keineswegs bestehe. Angesichts von Ausschüttungen während der Kriegsjahre von bis zu 20 Prozent an die Anteils-

53 Die Geschäftsleitung des Bremer Vulkans schrieb daher mit Blick auf die Entwicklung im Geschäftsjahr 1919: „Die Überleitung in die Friedenswirtschaft hat sich bei uns verhältnismäßig schnell vollzogen, da uns vorläufig die nötigen Rohmaterialien zur Verfügung standen und wir die zur Kriegszeit an den Handelsschiffen eingestellten Arbeiten sofort wieder aufnehmen konnten. Leider waren wir im verflossenen Jahre mehrfach gezwungen, den Betrieb wegen Kohlemangels wochenlang stillzulegen.“ Geschäftsbericht der Bremer Vulkan AG, Schiffbau und Maschinenfabrik, Vegesack, über das Geschäftsjahr vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 1919, in: StAB, Akte 7,2/1-121/1-113. Siehe auch den Brief August Thyssens an Heinrich ThyssenBornemisza vom 10. Mai 1919, in: Rasch (Hg.), Briefe (wie Anm. 41), 89 ff., hier 90, sowie den intensiven Schriftverkehr zwischen August Thyssen und Victor Nawatzki in den Jahren 1919 bis 1921, in: StAB, Akte 7,2/1-121/1-150. Vgl. auch Wixforth, Kooperation und Kontrolle im Schiffsbau (wie Anm. 20), 162–165. 54 Mertelsmann, Zwischen Krieg, Revolution und Inflation (wie Anm. 14), 135–154; Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 74 f.; Lindner, Schifffahrt und Schiffbau in einer Hand (wie Anm. 35), 34 f. 55 AdR, Das Kabinett Bauer, Bd. 1, Dokument Nr. 126, Brief des Chefs der Admiralität an den Reichskanzler vom 10. Dezember 1919; Das Kabinett Fehrenbach, Bd. 1, Dokument Nr. 39, Denkschrift des Chefs der Admiralität über die Organisation der Marine vom 30. Juli 1920.

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eigner, wie beim Bremer Vulkan, lässt sich dieser Standpunkt sogar nachvollziehen. Zwar konzedierten die Ministerien in Berlin, dass die Lage der Werften infolge der Stornierungen und Absagen für Neubauten sowie des immer fühlbareren Mangels an Brenn- und Rohstoffen zunehmend problematisch war, Zahlungen wollten sie aber nur im Gesamtpaket mit den Entschädigungen für die gesamte maritime Wirtschaft verhandeln. Zum Jahreswechsel 1919/20 befand sich deutsche Schiffbau ebenfalls in einer schwierigen Situation.56 Schließlich gerieten durch die großen Probleme in der Schifffahrt und auf den Werften auch die Zulieferbetriebe und die Firmen der maritimen Logistik während des Jahres 1919 in eine Krise. Der Warenumschlag in den deutschen Häfen war auf einen geringen Teil des Umsatzes im letzten Friedensjahr gesunken, zudem waren mehrere Großkunden der Logistikbranche weggefallen, da sie ihr Geschäftsmodell nach Kriegsende nicht mehr aufrechterhalten konnten und nur noch die Küsten- oder die Flussschifffahrt betrieben. Ferner sorgte die Fortführung der Seeblockade durch die Engländer bzw. deren Ausdehnung auf die Ostsee dafür, dass kaum noch Schiffe die deutschen Häfen anlaufen konnten. Etwas Hoffnung keimte seit dem Sommer 1919 auf, als Lebensmittel von britischen Schiffen im Hamburger Hafen gelöscht wurden, um die Versorgung der deutschen Bevölkerung sicherzustellen. Das trübe Bild für die Logistikbranche wie auch für die gesamte maritime Wirtschaft erhielt dadurch nur unwesentlich freundlichere Konturen. Die Entscheidungsträger der Branche waren sich mehrheitlich darin einig, dass nur eine geringe Aussicht bestand, dass man in einem früheren Führungssektor in der Wirtschaft des Kaiserreiches jemals wieder ein ertragreiches operatives Geschäft betreiben könne. Vielmehr sahen sie gerade im Versailler Vertrag ein Instrument, um die deutsche damit auch die maritime Wirtschaft dauerhaft zu schwächen: „Der Friede wurde unterzeichnet und unser Todesurteil, das wir damit unterschrieben haben, wird ohne Erbarmen vollstreckt werden, dafür besteht für mich kein Zweifel!“57

56 AdR, Das Kabinett Fehrenbach, Bd. 1, Dokument Nr. 128, Bericht des Reichswirtschaftsministeriums über die Wirtschaftslage im Oktober 1920. Zur Ertragslage und zur Dividendenausschüttung beim Bremer Vulkan siehe Geschäftsberichte der Bremer Vulkan AG, Schiffbau und Maschinenfabrik, für die Geschäftsjahre 1916 bis 1918, in: StAB, Akte 7,2/1-121/1-113. 57 Heineken, Vergangenheit und Zukunft (wie Anm. 23), 25. Vgl. auch Lührßen, Der Wiederaufbau des Norddeutschen Lloyd (wie Anm. 46), 171 ff. Zur Lage in der Logistikbranche siehe Kai Kähler, Zwischen Wirtschaftsförderung und Wirtschaftsbetrieb. Hamburgs öffentlicher Hafenbetrieb im Wandel 1918–1970. Von staatlicher Kaiverwaltung in den freien Wettbewerb, Bremen 2010, 62 f.

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4 Neue Hoffnung Es gehört zu den lange Zeit kolportierten Mythen über die maritime Wirtschaft in Deutschland, dass diese aufgrund der Folgen des Versailler Vertrags in eine bisher nicht gekannte Krise geraten sei, aus der sie sich während der ganzen Weimarer Republik nicht mehr befreien konnte. Diese Entwicklung wurde dafür verantwortlich gemacht, dass die Branche entscheidend an internationaler Wettbewerbsfähigkeit einbüßte und erhebliche Marktanteile an die ausländische Konkurrenz verlor.58 Dieses Bild bedarf der Korrektur. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 1920, vor allem während des Jahres 1921 wuchs gerade in der Schifffahrt die Hoffnung, an das alte Geschäftsmodell wieder anknüpfen zu können. Für den Wiederaufbau des Geschäfts war ein Bündel von drei Faktoren verantwortlich, das gerade in der Nachkriegsinflation seine Wirkung entfaltete: 1. neue Möglichkeiten im Reedereigeschäft; 2. die Einigung mit der Reichsregierung über Entschädigungszahlungen; 3. die Entwicklung und die Möglichkeiten auf dem deutschen Kapitalmarkt während des Währungsverfalls.

Neue Möglichkeiten im Reedereigeschäft Die Ablieferung fast der gesamten deutschen Handelsflotte an die Alliierten veränderte die Koordinaten in der internationalen Schifffahrt erheblich. Vor allem englische und amerikanische Reedereien verfügten ab 1919 über eine Gesamttonnage, die sie eigentlich nicht benötigten, zumal sich auch ihr Geschäft nach Kriegsende nur langsam wieder belebte. Sie versuchten daher, den überschüssigen Schiffsraum auf dem internationalen Markt für die Charterung von Schiffen anzubieten. Durch den enormen Zuwachs der hier zur Verfügung stehenden Tonnage fielen die Charterraten deutlich, so dass ein großer Teil der ehemals unter deutscher Flagge stehenden Schiffe zu einem Preis angeboten wurden, der weit unter dem Niveau der Vorkriegsjahre lag. Einige deutsche Reedereien waren daher in der Lage, ihre ehemaligen Schiffe zu Konditionen zurück zu chartern, die deutlich günstiger waren als vor Kriegsausbruch. Dadurch ließen sich nicht nur die Betriebskosten reduzieren, sondern die Schifffahrtsgesell-

58 Diese Sichtweise wurde keineswegs nur in älteren Studien zur Entwicklung der maritimen Wirtschaft nach Ende des Ersten Weltkriegs kolportiert, sondern findet sich auch noch in neueren Darstellungen. Vgl. etwa Hans-Georg Prager, Reederei F. Laeisz – Von Großseglern zur Containerfahrt, Herford 2003, 80 ff.

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schaften konnten wieder über Schiffe disponieren und versuchen, das Geschäft auf ihren alten Routen aufzunehmen.59 Dies erwies sich jedoch als schwierig. Die Konkurrenz aus England und den USA sorgte 1919 und 1920 dafür, dass deutsche Reedereien auf den rentablen Transatlantikrouten nicht verkehren konnten. Zudem erfüllten die gecharterten Schiffe in der Regel nicht die Voraussetzungen an Komfort, die Passagiere an moderne „Ocean Liner“ stellten. Die deutschen Unternehmen waren daher gezwungen, auf „Nebenlinien“ auszuweichen. So baute etwa der Norddeutsche Lloyd den Linienverkehr auf der Ostsee aus, zudem richtete er einige Linie in der Levante ein. Dieses waren erste Versuche, zum alten Geschäftsmodell zurück zu kehren und sich nicht mehr auf die Küsten- und Hafenschifffahrt beschränken zu müssen. Große Gewinne ließen sich damit nicht erwirtschaften, doch nährte es bei einer Reihe von Unternehmen zumindest die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Den maßgeblichen Entscheidungsträgern in der Schifffahrt war jedoch klar, dass ein möglichst rascher Wiederaufbau der Handelsflotte die Voraussetzung dafür war, um einerseits wieder ein rentables Geschäft betreiben zu können, andererseits der internationalen Konkurrenz Paroli zu bieten.60

Die Einigung mit dem Reich über Entschädigungen Angesichts der nach wie vor schwierigen Lage vieler Reedereien drängten deren Interessenvertreter in der politischen Arena darauf, endlich ein verbindliches Abkommen über die Höhe von Entschädigungen zu unterzeichnen. Diese Forderung hielten sie gerechtfertigt, da die Branche bis Ende 1919 durch Krieg und Kriegsfolgen insgesamt eine Tonnage von 7,5 Mio. Bruttoregistertonnen verloren hatte.61 Ab dem Sommer 1920 wurden die Verhandlungen darüber mit der Reichsregierung intensiviert. Einige Ressorts verlangten nun selber, die Handelsflotte wieder aufzubauen, damit ausreichend Tonnage für den Transport

59 Vgl. dazu Lindner, Schiffbau und Schifffahrt in einer Hand (wie Anm. 35), 32 ff. Vgl. auch Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 75 f. 60 So richtete der Norddeutsche Lloyd zum Beispiel Ostsee-Linien mit den Zielhäfen Stettin und Danzig ein, die später bis in das Baltikum verlängert wurden. Vgl. Wixforth, Kriegseinsatz und Kriegsfolgen (wie Anm. 7), 383 f.; auch Lindner, Schiffbau und Schifffahrt in einer Hand (wie Anm. 35), 34 ff. 61 Aufstellung des Reichsministeriums für den Wiederaufbau vom 9. August 1922 über den Stand der Entschädigungen, in: Bundesarchiv Berlin [künftig BArch Berlin], Bestand R 43/1, Akte 2148, Bl. 191.

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von Waren und Truppen (!) zur Verfügung stand.62 In den ersten Sondierungen stellte sich allerdings heraus, dass die bisher erlassenen Regelungen Mängel aufwiesen. So wurden durch die Bestimmungen des Gesetzes zum Wiederaufbau der Handelsflotte vom November 1917 die Großreedereien eindeutig bevorzugt, während die kleinen Unternehmen fast gar keine Entschädigungen erhalten sollten. Auch ein anderer Punkt entpuppte sich lange Zeit als Hindernis für eine rasche Einigung. Zwar waren sich beide Seiten darin einig, dass die bisher zur Diskussion stehende Entschädigungssumme von 1,5 Mrd. Mark den veränderten Verhältnissen anzupassen sei, doch blieb strittig, in welcher Höhe der neue Gesamtbetrag zu fixieren sei. Zudem konnte man sich nicht darauf verständigen, ob dieser Betrag in Annuitäten gestückelt an die Reedereien auszuzahlen sei, oder ob deren Verluste durch eine einmalige Zahlung zu kompensieren seien. Die Vertreter des Reichsfinanz- und des Reichswirtschaftsministeriums sowie des Reichsministeriums für den Wiederaufbau betonten immer wieder, dass im ohnehin strapazierten Reichsetat gar keine Mittel vorhanden seien, um hohe jährliche Zahlungen an die Schifffahrtsgesellschaften zu leisten.63 Den Durchbruch in den Verhandlungen brachte ein Vorschlag der Reedereien vom Dezember 1920. Sie lancierten den Plan, anstelle von Annuitäten eine einmalige Abfindung in Höhe von 15 Mrd. Mark zu erhalten, die entweder vom Reich selbst oder einer von ihm beauftragten Institution aufzubringen war. Die Entscheidungsträger der großen Schifffahrtsunternehmen, etwa Wilhelm Cuno als Generaldirektor der HAPAG und sein Pendant Carl-Joachim Stimming vom Norddeutschen Lloyd als Nachfolger von Philipp Heineken, unterbreiteten zudem die Offerte, eine Treuhandanstalt zu errichten, an die das Reich die Summe von 15 Mrd. Mark überweisen sollte. Dafür verpflichteten sich die Reedereien, möglichst schnell die Hälfte der Handelsflotte, Stand der Tonnage im Sommer 1914, wieder aufzubauen und die fertigen Schiffe umgehend in Dienst zu stellen. Die in Rede stehende Summe verstanden sie daher nicht als Entschädigung für entstandene Kriegsverluste, sondern in erster Linie als gezielte Wiederaufbauhilfe für die Schifffahrt. Zur Jahreswende 1920/21 revidierten Cuno und Stimming jedoch ihre Offerte. Angesichts des seit dieser Zeit zunehmenden Währungsverfalls reichte ihrer Meinung nach eine Summe von 15 Mrd. Mark gerade 62 So verlangte etwa das Auswärtige Amt, Truppen über die Ostsee nach Ostpreußen zu bringen, um gewappnet zu sein, sollten polnische Heereseinheiten versuchen, in diese Region – ähnlich wie in Oberschlesien – einzumarschieren. Voraussetzung dafür war allerdings, dass ausreichend Schiffsraum zur Verfügung stand. AdR, Das Kabinett Müller, Bd. 1, Dokument Nr. 122, Schreiben des Auswärtigen Amtes an das Reichswehrministerium vom 31. Mai 1920. 63 Siehe dazu ausführlich die Ausführungen des Staatssekretärs Müller vom Reichsministerium für Wiederaufbau in seiner Rede vor dem Reichstag am 7. März 1921, in: Reichstagsprotokolle, Bd. 348, S. 2686, 77. Sitzung des Reichstages vom 7. März 1921.

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noch aus, um ein Drittel der Handelsflotte wieder herzustellen. Nach schwierigen Verhandlungen stimmten die wichtigsten Ministerien in Berlin Ende Januar 1921 diesem Vorschlag der Reedereien im Grundsatz zu, allerdings blieb die Höhe der endgültigen Entschädigung noch immer offen.64 Auf einer Kabinettssitzung der Reichsregierung am 21. Februar 1921 wurde diese Frage abschließend geklärt. Während das Reichsministerium für den Wiederaufbau den Reedereien eine Summe von zwölf Mrd. Mark als Entschädigung zugestehen wollte, bestand das Reichsfinanzministerium darauf, nur zehn Mrd. Mark zahlen zu können. In den Beratungen des Kabinetts konnte sich das Wiederaufbauministerium jedoch durchsetzen, indem es darauf verwies, dass man den Reedereien großzügig gegenüber treten müsse, wenn man die angestrebten wirtschafts- und außenpolitischen Ziele erreichen wollte – ein Standpunkt, dem sich die anderen Ressorts bis auf das Reichsfinanzministerium anschlossen.65 Am 23. Februar 1921 wurde zwischen dem Reich und den Schifffahrtsgesellschaften der Reedereiabfindungsvertrag unterzeichnet, in dem die Entschädigungssumme definitiv auf zwölf Mrd. Mark fixiert wurde. Dafür verpflichteten sich die Reedereien, innerhalb von zehn Jahren ein Drittel der verlorengegangen Tonnage oder 2,5 Mio. Bruttoregistertonnen wiederherzustellen. Von der Entschädigungssumme sollten 90 Prozent dazu verwandt werden, Schiffsneubauten bei deutschen Werften in Auftrag zu geben, mit den restlichen zehn Prozent sollten Schiffskäufe im Ausland finanziert werden. Eine wichtige Kautele wies der Vertrag allerdings auf: Er konnte nur dann in Kraft treten, sofern es den Vertretern der Schifffahrt gelang, bis zum 1. April 1921 mindestens 95 Prozent der Unternehmen, die einen Anspruch auf Entschädigung hatten, zum Beitritt zu diesem Abkommen mit der Reichsregierung zu bewegen.66 Der Reedereiabfindungsvertrag wurde im März 1921 als Gesetz in den Reichstag eingebracht und dort am 14. März als Reedereiabfindungsgesetz mit deutlicher Mehrheit verabschiedet.67 Mit dem Reedereiabfindungsvertrag wurde eine jahrelange Auseinandersetzung zwischen dem Reich und den Reedereien beendet. Auf den ersten Blick erhielt die deutsche Handelsschifffahrt eine beachtliche Summe, um Schiffe bei 64 AdR, Das Kabinett Fehrenbach, Bd. 1, Dokument Nr. 179, Kabinettssitzung vom 21. Februar 1921, hier Tagesordnungspunkt sieben, Abfindung der Reedereien. Soweit erkennbar, spielte in diesen Diskussionen die Bestimmung, dass die deutsche Handelsschifffahrt keine Schiffe mit mehr als 1.600 Bruttoregistertonnen besitzen durfte, keine größere Rolle mehr. Interessanterweise befürworteten vor allem die Vertreter des Auswärtigen Amtes den Bau größerer Schiffe. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ders., Das Kabinett Fehrenbach, Bd. 1, Dokument Nr. 187, Kabinettssitzung vom 2. März 1921, hier Tagesordnungspunkt drei, Verabschiedung des Reedereiabfindungsgesetzes.

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den Werften in Auftrag zu geben und ihre Flotte wieder aufzubauen. Die Reedereien und ihre Interessenverbände begannen daher unverzüglich damit, eine Finanzinstitution besonderen Rechts zu errichten, welche die vom Reich überwiesenen Gelder treuhänderisch verwalten und an einzelne Unternehmen verteilen sollte. Diese Aufgabe wurde der Schiffbau-Treuhandbank übertragen, die am 19. April 1921 in Hamburg gegründet wurde. Sie sollte die Entschädigungszahlungen zunächst in Fonds anlegen, aus denen dann entsprechende Summen an die Schifffahrtsgesellschaften als Kompensation für entstandene Verluste auszuzahlen waren. Darüber hinaus sollte das Institut wenn eben möglich langfristige Kredite vergeben, um den Wiederaufbau der Flotte zu forcieren.68 Die Einigung in der Entschädigungsfrage und die Aufnahme des operativen Geschäfts bei der Schiffbau-Treuhandbank werteten die Reedereien als das lange ersehnte Signal, um bei den Werften Schiffe in Auftrag zu geben. Ab dem Frühsommer 1921 konnte der deutsche Schiffbau einen regelrechten Boom verzeichnen. Die Geschäftsleitung des Bremer Vulkans verlautbarte daher im Rückblick auf das Geschäftsjahr 1921: „Im verflossenen Geschäftsjahr waren sämtliche Werkstätten gut beschäftigt, und der in das neue Geschäftsjahr hinübergenommene Auftragsbestand bietet vorläufig noch ausreichende Arbeitsmöglichkeit.“69 1921 glaubte man sowohl im Schiffbau als auch in der Schifffahrt, die schwere Krise nach Kriegsende sei überwunden und der Wiederaufbau und damit auch die Modernisierung der Flotte könne zügig voranschreiten. Der Norddeutsche Lloyd nahm etwa bei der Schiffbau-Treuhandbank bis zum Herbst 1922 Mittel von 750 Mio. Mark in Anspruch, um bei den Werften, vor allem beim Bremer Vulkan und der A. G. „Weser“, Schiffe in Auftrag zu geben, die mit modernster Technik ausgestattet waren. Die Geschäftsleitung der Reederei glaubte zu diesem Zeitpunkt, wieder an das alte Geschäftsmodell anknüpfen und seinen Spitzenplatz in der internationalen Schifffahrt zurückerobern zu können. Die düsteren Zukunftsperspektiven, die nach Kriegsende und während des Jahres 1919 kolportiert worden waren, schienen nun vergessen zu sein.70 Im Sommer und Herbst 1922 wuchs unter den deutschen Schifffahrtsgesellschaften jedoch die Kritik an der Schiffbau-Treuhandbank. Immer häufiger wur68 Zur Gründung und zum operativen Geschäft dieses Instituts liegen bisher nur wenige Informationen vor. Vgl. Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 106. 69 Geschäftsbericht der Bremer Vulkan AG, Schiffbau und Maschinenfabrik, für das Geschäftsjahr 1921, in: StAB, Akte 7,2/1-121/1-113. In diesem Jahr konnte der Bremer Vulkan an seine Anteilseigner eine Dividende von 30 Prozent ausschütten, die inflationsbereinigt jedoch nur noch einem geringen Teil des Werts der Dividenden aus der Vorkriegszeit entsprach. 70 Niederschriften über die am 13. und 30. Oktober sowie am 14. November 1922 stattgefundenen Vorstandssitzungen des Norddeutschen Lloyd, in: StAB, Akte 7,2010-8.

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de ihr vorgeworfen, sie brauche zu lange, um Entschädigungen auszuzahlen, zudem nehme der Schriftverkehr mit den Berliner Ministerien für die Erteilung der Auszahlungsgenehmigungen unnötig lange Zeit in Anspruch. Unter den Reedereien wuchs ebenso wie in anderen Branchen der Wirtschaft die Erkenntnis, dass die zur Verfügung gestellten Summen durch den immens zunehmenden Währungsverfall „aufgezehrt“ wurden. Da zwischen der Antragstellung bei der Schiffbau-Treuhandbank und der tatsächlichen Auszahlung der Summen viele Monate, ja sogar ein Jahr vergehen konnte, war der tatsächliche Wert der Entschädigungen inflationsbedingt auf ein Bruchteil gesunken, so dass diese immer weniger ausreichten, um Schiffsneubauten zu finanzieren.71 Die Vertreter der Schifffahrt verlangten daher im Herbst 1922, den Reedereiabfindungsvertrag neu zu verhandeln. Ihre Forderung war, entweder eine höhere Entschädigungssumme zu erhalten, oder die Verpflichtung zu streichen, ein Drittel der verlorengegangenen Tonnage wieder herzustellen. Im Reichskabinett wurde über diese Forderung erneut kontrovers diskutiert. Während sich das Wiederaufbauministerium dafür aussprach, die Gelder für die Schiffbau-Treuhandbank deutlich aufzustocken und damit zumindest die Fertigstellung aller von den Reedereien bereits bestellten Schiffe zu garantieren, lehnten das Auswärtige Amt und das Reichsfinanzministerium einen solchen Schritt ab. Das Außenressort sah darin eine zu großzügige Subvention für die maritime Wirtschaft. Eine so umfangreiche staatliche Hilfe für den Wiederaufbau der Handelsflotte könne zudem bei den Alliierten für Irritationen sorgen. Eine Entscheidung über diese Frage wollte das Kabinett in Berlin nicht überstürzt treffen und vertagte sich mehrfach. Daher lässt sich nicht ersehen, ob die Schiffbau-Treuhandbank tatsächlich neue Mittel erhielt. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Reichsregierung diesen Punkt angesichts der vielfältigen wirtschaftlichen und politischen Probleme im Herbst 1922 und Winter 1922/23 dilatorisch behandelte.72 Für die großen Reedereien war es zu diesem Zeitpunkt ohnehin von untergeordneter Bedeutung, ob sie vermehrt Gelder der Treuhandbank in Anspruch nehmen konnten. Für sie war längst ein anderes Instrument der Kapitalmobilisierung wichtig geworden: der Rückgriff auf den Kapitalmarkt.

71 Niederschrift über die am 31. August 1922 stattgefundene Vorstandssitzung des Norddeutschen Lloyd, in: StAB, Akte 7,2010-8. 72 AdR, Die Kabinette Wirth I/II, Bd. 2, Dokument Nr. 373, Kabinettssitzung vom 12. September 1922, hier: Tagesordnungspunkt Entschädigung für den Wiederaufbau der Handelsflotte.

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Die Mobilisierung von Geldern auf dem Kapitalmarkt Durch die zunehmende Geldflüssigkeit auf dem deutschen Kapitalmarkt infolge des Währungsverfalls und der Aufblähung der Geldmenge konnten sich viele Unternehmen die benötigten Mittel vor allem ab 1921 durch zum Teil voluminöse Emissionen beschaffen, sofern sie kapitalmarktfähig waren und mit Bankenkonsortien zusammen arbeiteten, die für sie diese Transaktionen durchführten. Dies traf auch für die großen Reedereien zu. Im Ergebnis lässt sich daher eine wachsende Kluft unter den Schiffbaugesellschaften feststellen. Kapitalmarktfähige Großreedereien konnten sich vor allem durch Kapitalerhöhungen vergleichsweise leicht die Mittel beschaffen, die sie für den Wiederaufbau der Flotte benötigten, während kleineren Unternehmen dieser Weg nicht offen stand. Sie blieben in erster Linie darauf angewiesen, die erforderlichen Gelder bei der Schiffbau-Treuhandbank zu erhalten, allen bürokratischen Hürden zum Trotz.73 Das Instrument, Kapital durch die Erhöhung des Eigenkapitals zu bekommen, wurde ab 1921 von allen großen Reedereien angewandt. Die HAPAG stockte ihr Kapital zum Beispiel von 185 Mio. Mark 1920 auf 385 Mio. Mark 1923 auf, die Deutsche Dampfschifffahrts-Gesellschaft „Hansa“ aus Bremen im selben Zeitraum von 60 Mio. Mark auf 170 Mio. Mark, die Roland-Linie ebenfalls aus Bremen von 24 Mio. Mark auf 180 Mio. Mark.74 Besonders konsequent setzte man beim Norddeutschen Lloyd auf die Kapitalmobilisierung durch die Aufstockung des Aktienkapitals. Carl-Joachim Stimming und seine Kollegen im Vorstand der Bremer Reederei sahen darin die willkommene Chance, problemlos bestehende Verbindlichkeiten zu tilgen und über erhebliche Gelder für Investitionen zu disponieren. Die Gefahren eines solchen Verfahrens wurden von ihnen ebenso wie von der Mehrheit der Entscheidungsträger in deutschen Industrieunternehmen verkannt. Sowohl die erhebliche Verwässerung des ursprünglichen, auf Goldmark lautenden Aktienkapitals, als auch die Fehlallokation der in Anspruch genommenen Mittel wurden von ihnen nicht näher reflektiert. Dennoch beschlossen die Geschäftsleitung und der Aufsichtsrat des Norddeutschen Lloyd im Frühjahr 1921, das Aktienkapital von bisher 125 Mio. Mark auf 250 Mio. Mark zu verdoppeln. Dieses war aber nur der erste Schritt. Zwei Generalversammlungen der Schifffahrtsgesellschaft am 21. Dezember 1921 und 8. Februar 1922 genehmigten zwei weitere Kapitalerhöhungen von 250 Mio. Mark um 225 Mio. Mark auf zunächst 475 Mio. und danach um weitere 125 Mio. Mark auf 600 73 Rübner, Konjunktur und Krise (wie Anm. 1), 106 f. 74 Zahlen nach Hans E. Priester, Der Wiederaufbau der deutschen Handelsschifffahrt, Berlin 1926, 62; vgl. auch die Aufstellung in Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 446, Tab. 11.

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Mio. Mark.75 Anfang Januar 1923 fand schließlich die letzte große Kapitalbeschaffungsmaßnahme statt, indem der Norddeutsche Lloyd sein Aktienkapital bis auf eine Milliarde Mark aufstockte. Seit diesem Zeitpunkt wuchs in der Geschäftsleitung der Reederei jedoch die Erkenntnis, dass selbst diese Maßnahme angesichts der „galoppierenden Inflation“ kaum ausreichte, um genügend Mittel zur Verfügung zu haben. Wichtiger wurden immer mehr wertbeständige Kredite in ausländischer Valuta, vor allem in niederländischen Gulden und englischen Pfund. Dem Norddeutschen Lloyd gelang es zum Beispiel, von der Treuhandverwaltung des deutsch-niederländischen Finanzabkommens ein Darlehen in Höhe von sechs Mio. Gulden zu erhalten, womit er vergleichsweise problemlos seinen Verpflichtungen im internationalen Geschäftsverkehr nachkommen konnte.76 Die relativ einfache Kapitalmobilisierung schürte ab 1921 und 1922 den Optimismus der Geschäftsleitung, Schritt für Schritt die alte Wettbewerbsposition wiederzuerlangen. Eine Neujustierung der in der unmittelbaren Nachkriegszeit praktizierten Unternehmensstrategie mit ihren Restriktionen schien sinnvoll, ebenso die Wiederaufnahme des Liniendienstes über den Atlantik nach Amerika. Möglich war dies, da der Norddeutsche Lloyd die durch die Kapitalerhöhungen gewonnenen Mittel konsequent dazu nutzte, sich an anderen SchifffahrtsLinien zu beteiligen, etwa an der Roland-Linie und der Woermann-Linie, zudem weitere große und moderne „Ocean Liner“ bei den Werften in Auftrag gab und in Dienst stellte. 77 Das Ereignis, das den Optimismus der Geschäftsleitung am meisten wachsen ließ, war die Wiederaufnahme des Passagierverkehrs nach Nordamerika. Das Auslaufen des Dampfers Seydlitz Ende Februar 1922 mit Ziel New York wurde entsprechend gefeiert. Mit gewisser Genugtuung sah die Geschäftsleitung darin den entscheidenden Schritt auf dem Weg zur alten Größe und Wettbewerbsposition.78 Der „Neubau-Boom“ auf den Werften verstärkte diesen Optimismus. Nach den Kriegsverlusten und der Unsicherheit, wie sich die maritime

75 O. V., Der Norddeutsche Lloyd im Jahre 1922, in: Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyds für 1922/23, Bremen 1923, 164; Priester, Wiederaufbau (wie Anm. 74), 26; Wixforth, Kriegseinsatz und Kriegsfolgen (wie Anm. 7), 386 ff. 76 Niederschrift über die am 30. Januar 1923 stattgefundene Vorstandssitzung des Norddeutschen Lloyd, in: StAB, Akte 7,2010-8. 77 Niederschrift über die am 31. August 1922 stattgefundene Vorstandssitzung des Norddeutschen Lloyd; Niederschrift über die am 15. Dezember 1922 stattgefundene Vorstandssitzung des Norddeutschen Lloyd, in: StAB, Akte 7,2010-8. Vgl. auch Rübner, Konzentration und Krise (wie Anm. 1), 107. 78 O. V,. Der Norddeutsche Lloyd im Jahre 1922, in: Norddeutscher Lloyd Bremen, Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd für 1922/23, Bremen 1923, 163 f.

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Wirtschaft nach Kriegsende entwickeln würde, verbesserte sich bei vielen Unternehmen die Auftrags- und Ertragslage ab 1921, auch die Beschäftigung nahm wieder zu. Zum Jahreswechsel 1922/23 schien es, als hätte die Branche die Folgen des Kriegsausgangs gemeistert und könne ihre Rolle als „leading sector“ der Wirtschaft an Nord- und Ostsee wieder einnehmen.79

5 Fazit Die maritime Wirtschaft in Deutschland war vielleicht die Branche, die am härtesten vom Ausgang des Ersten Weltkriegs und den Kriegsfolgen getroffen wurde. Bisher hat sich die Forschung bei der Diskussion dieser Frage vor allem auf die Schwerindustrie konzentriert. Sicherlich waren auch hier die Auswirkungen des Kriegsausgangs und des Versailler Vertrags erheblich, vor allem durch die Abtretung von Gebieten mit wichtigen schwerindustriellen Standorten, aber auch durch die zeitweilige Stilllegung der Betriebsanlagen infolge von politischen Unruhen, später durch die Besetzung der Alliierten. Einen kompletten Fortfall ihrer Basis für das operative Geschäft hatte diese Branche jedoch nicht zu beklagen. Dies war bei der maritimen Wirtschaft anders. Zum einen musste sie die Vernichtung der Kriegsmarine verkraften, zum anderen – und dies wog schwerer – den Verlust fast der gesamten Handelsflotte. Die Grundlage für die Wiederaufnahme der zivilen Schifffahrt nach Kriegsende fiel somit fort. Zudem bestand für die Werften kaum die Aussicht, von den Reedereien Aufträge für den Bau von Schiffen zu erhalten. Verständlich, dass maßgebliche Entscheidungsträger in der Branche 1919 kaum noch Hoffnung besaßen, jemals wieder an das alte operative Geschäft anknüpfen zu können und sich in düsteren Zukunftsprognosen ergingen. Verantwortlich für dieses Szenario waren zum einen die Bestimmungen des Versailler Vertrags, zum anderen – und dies war für die Handelsschifffahrt wichtiger – die Regelungen des Trierer Waffenstillstandabkommens, welche die Kontrolle fast der gesamte Handelsflotte durch die Alliierten sanktionierte. Den Verlust der Kriegsmarine hätte die maritime Wirtschaft verschmerzen können, das Ende der Handelsschifffahrt unter deutscher Flagge traf sie jedoch ins 79 Niederschrift über die am 15. Dezember 1922 stattgefundene Vorstandssitzung des Norddeutschen Lloyd; Niederschrift über die am 30. Januar 1923 stattgefundene Vorstandssitzung des Norddeutschen Lloyd, in: StAB, Akte 7,2010-8. Auch einige Industrielle beurteilten die Lage der Reederei zu diesem Zeitpunkt als außerordentlich positiv. Siehe etwa den Brief August Thyssens an Heinrich Thyssen-Bornemisza vom 6. Juni 1923, in: Rasch (Hg.), Briefe (wie Anm. 41), 196.

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Mark. Ob in Trier bei einer anderen Verhandlungsstrategie ein günstigeres Ergebnis für die deutsche Seite zu erreichen gewesen wäre – darüber lässt sich nur spekulieren. Welchen Verhandlungsspielraum die deutsche Delegation tatsächlich besaß, ob wirklich alle Optionen ausgeschöpft wurden oder ob angesichts des vergifteten Klimas kaum Chancen für eine konstruktive Verständigung bestanden, ist momentan nur schwer zu beantworten. Ein anderer Punkt schürte zudem die Zukunftsängste in der maritimen Wirtschaft nach Kriegsende. Seit dem November 1917 war man sich mit der Reichsregierung einig, dass ein Wiederaufbau der Flotte nur mit großzügigen Reichshilfen möglich sei. Mit den Ministerien in Berlin ließ sich jedoch lange Zeit keine Übereinkunft darüber erzielen, welche Summe konkret zu welchen Konditionen zu erwarten sei. Besonders schmerzlich war darüber hinaus, dass es die Interessenvertreter aus anderen Branchen, vorzugsweise der Schwerindustrie, schneller und geschickter verstanden, Reichshilfen und Wiederaufbaukredite zu erhalten. Lag dies allein daran, dass sich mit Albert Ballin der prominenteste Wortführer aus der maritimen Wirtschaft nach Kriegsende das Leben genommen hatte, da er keine Zukunft für seine Branche mehr sah? Diese personelle Lücke war sicherlich schwer zu schließen. Entscheidender war jedoch, dass man in Berlin lange Zeit befürchtete, gezielte und direkte staatliche Hilfen für den Wiederaufbau der Handelsflotte könnten Konflikte mit den Alliierten provozieren, so lange diese die deutsche Handelsschifffahrt kontrollieren wollten. Der Versailler Vertrag, mehr noch die zuvor erlassenen Regelungen erwiesen sich somit als Hindernis, größere Summen für eine effiziente Unterstützung der Reedereien auszuzahlen. Daher dauerte es vergleichsweise lange, bis sich eine Lösung erreichen ließ. Fatal war nur, dass diese Vereinbarung zustande kam, als sich der Währungsverfall in Deutschland schon deutlich beschleunigt hatte. Die vom Reich zur Verfügung gestellten Summen wurden durch die Inflation „aufgezehrt“. Ob und inwieweit sie tatsächlich den kleineren Schifffahrtsgesellschaften helfen konnten, ihre Flotte wieder aufzubauen, lässt sich nur schwer beantworten. Aussagekräftiges Archivmaterial steht für diese Unternehmen kaum zur Verfügung, so dass sich ihr operatives Geschäft in dieser Zeit und damit auch ihre Finanzierungspraxis kaum rekonstruieren lässt. Angesichts dieser Restriktionen ist es umso überraschender, dass die Branche ab 1921 wieder einen Expansionskurs einschlagen konnte. Die Reedereien forcierten den Wiederaufbau ihrer Flotte, vergaben umfangreiche Neubauaufträge an die Werften, deren Ertragslage sich dadurch deutlich verbesserte. Ab diesem Zeitpunkt nahmen die zuvor scharfen Attacken und die Polemik gegen den Versailler Vertrag erheblich ab, jetzt konzentrierte man sich in der Branche vor allem darauf, möglichst rasch wieder an das alte Geschäftsmodell anzuknüpfen. Die Entschädigungszahlungen des Reichs an die Reedereien sind si-

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cherlich als das lang ersehnte Signal einzustufen, um diesen Prozess in Gang zu setzen. Die dadurch zur Verfügung gestellten Gelder waren gewiss eine notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung, um Kapital für Schiffsneubauten zu mobilisieren. Vielmehr profitierten die großen Reedereien ebenso wie andere Unternehmen in Deutschland von den spezifischen Bedingungen auf dem deutschen Kapitalmarkt mit seiner steigenden „Geldflüssigkeit“, durch die sich großdimensionierte Investitions- und Neubauprogramme in Gang setzen ließen. Gerade sie erwiesen sich als der entscheidende Motor, um die Krise in der maritimen Wirtschaft zu überwinden. Der Versailler Vertrag und die vorab erlassenen Bestimmungen beeinträchtigten Schiffbau und Schifffahrt erheblich, allerdings bei weitem nicht so lange, wie in der Branche selber und später in der Literatur behauptet wurde. Die Ursachen für die Krise, in welche die maritime Wirtschaft nach der Stabilisierung der Mark schlitterte, und von der sie sich bis zum Ende der Weimarer Republik nicht mehr erholen konnte, sind andernorts zu suchen, aber nicht im Kriegsausgang mit all seinen Folgen.

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„Erfüllungspolitik wider Willen“: Die chemische Industrie und die Reparationsfrage 1918–1924 1 Einführung Ob der Erste Weltkrieg die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung, die sich in den Jahrzehnten vor dem Krieg differenziert und stark ausgeweitet hatte, zerstörte, ist in der Literatur umstritten. In den 1920er Jahren nahmen die globalen Imund Exporte nach den kriegsbedingten Tiefpunkten deutlich zu, vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise hatte das Volumen des Welthandels das Vorkriegsniveau übertroffen.1 Mit der Weltwirtschaftskrise änderten sich die Vorzeichen allerdings, und nach dem Zusammenbruch der internationalen Geld- und Finanzordnung im Sommer 1931 setzte in der Tat ein Prozess der Deglobalisierung ein, der bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs anhielt. Gleichwohl sollte die Bedeutung des Krieges 1914 bis 1918 für die internationale Arbeitsteilung auch nicht unterschätzt werden. Zwar wuchsen nach dem Krieg die Exportvolumina wieder deutlich an, aber die traditionelle Arbeitsteilung kehrte doch nicht oder nur sehr begrenzt wieder zurück. Denn im Zuge der Stabilisierungsmaßnahmen der Nachkriegszeit war die liberale Vorkriegsordnung nicht wieder hergestellt worden; die bereits während des Krieges von zahlreichen Stimmen geäußerte Befürchtung, an den Krieg der Waffen werde sich ein Wirtschaftskrieg anschließen, sollte sich bewahrheiten. In den Pariser Vorortverträgen, die den Krieg beendeten, kam nicht nur die Angst eines Teiles der Sieger zum Ausdruck, gegenüber Deutschland wirtschaftlich erneut zurückzubleiben, sollte dessen wirtschaftliche Entwicklung nicht eingeschränkt werden. Auch die Grenzziehungen im östlichen Mitteleuropa und in Südosteuropa dienten diesem Ziel; vor allem aber schufen sie eine Reihe neuer Staaten, die ihre Wirtschaft vor der überlegenen Produktivität der deutschen Industrie wirksam zu schützen suchten. Das Deutsche Reich war der eindeutige Verlierer nicht nur des Krieges, sondern auch der Nachkriegsordnung.2 Dabei spielten die Reparationsregelungen 1 Vgl. hierzu bereits Dietmar Petzina, Probleme der weltwirtschaftlichen Entwicklung in der Zwischenkriegszeit, in: Hermann Kellenbenz (Hg.), Weltwirtschaftliche und währungspolitische Probleme seit dem Ausgang des Mittelalters, Stuttgart 1981, 171–185. 2 Siehe Manfred F. Boemeke u. a., Introduction, in: dies. (Hrsg.), The Treaty of Versailles: A Reassessment after 75 Years, Cambridge 1998, 1–20. https://doi.org/10.1515/9783110765359-009

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eine zentrale Rolle, da sie neben den Gebietsverlusten und den Handelsrestriktionen, die Deutschland hinnehmen musste, eine im Grunde unbegrenzte Zahlungspflicht für alle nur vorstellbaren Kriegsschäden vorsahen, deren Höhe im Londoner Ultimatum im Mai 1921 schließlich auf etwa 125 Mrd. Goldmark festgelegt wurde, die in jährlichen Raten zu tilgen und zu verzinsen waren. Überdies musste Deutschland einen Teil seiner Kohlenförderung und bestimmte Industrieprodukte (u. a. Farbstoffe) ebenso an die Alliierten abliefern wie 20 Prozent seiner Exporterlöse. Dass eine derartige Lösung wirtschaftlich widersinnig war, war den beteiligten Mächten wahrscheinlich bewusst; John Maynard Keynes jedenfalls sprach es in aller Deutlichkeit auch mit großer öffentlicher Resonanz aus3, doch ging es letztlich nicht um ökonomischen Pragmatismus, sondern um die Verfolgung politischer Ziele u. a. mit ökonomischen Mitteln. Denn den beteiligten Mächten war ebenso klar, dass eine Rückkehr zur liberalen, globalen Weltwirtschaft der Vorkriegszeit unter den gegebenen ökonomischen Bedingungen der deutschen Wirtschaft erneut die Möglichkeit eingeräumt hätte, ihre Produktivitätsvorteile auszuspielen und zumindest ökonomisch rasch wieder eine hegemoniale Stellung zu erreichen. Das sollte die Nachkriegsordnung insbesondere nach dem Willen Frankreichs aber gerade verhindern.4 Die französischen Nachkriegsregierungen fürchteten nicht nur ein wirtschaftlich starkes Deutschland, das auf Revanche gesonnen wäre; sie wussten auch um die eigenen Produktivitätsdefizite, die es zumindest kurzfristig ausschlossen, mit der deutschen Wirtschaft in den entscheidenden Punkten gleichzuziehen oder diese gar zu übertreffen.5 Die in Versailles gefundene Lösung, Deutschland Reparationen in harter Währung (Devisen) zahlen zu lassen, ihm aber gleichzeitig den Zugang zu den Weltmärkten zu nehmen bzw. stark zu erschweren, sodass die Reparationsleistungen letztlich die wirtschaftliche Substanz des Landes schwer schädigen mussten, war insofern zwar wirtschaftlich nicht klug, aber politisch sinnvoll, zumal es Frankreich die Chance einzuräumen schien, seine Produktivitätsrückstände aufzuholen. Für die von den Reparationsmaßnahmen, insbesondere aber dem erschwerten Marktzugang und den neuen Handelsbarrieren substantiell betroffene deutsche Industrie wurde diese Konstellation nach und nach offensichtlich. Die moralische Empörung über die Reparationsverpflichtung als Ausgleich für eine vermeintliche alleinige deutsche Kriegsschuld verlor dadurch nicht an Bedeu-

3 John Maynard Keynes, Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles, Berlin 2006 (zuerst engl. 1919, dt. 1920). 4 Robert Boyce, The Great Interwar Crisis and the Collapse of Globalization, Basingstoke 2012. 5 Philipp Müller, Zeit der Unterhändler. Koordinierter Kapitalismus in Deutschland und Frankreich zwischen 1920 und 1950, Hamburg 2019.

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tung, trat hinter ökonomischen Überlegungen aber schließlich doch mehr und mehr in den Hintergrund. Der erschwerte Zugang zu den bislang entscheidenden Märkten war das sehr viel größere Problem, und in dieser Konstellation konnten die Reparationen sogar zum Hebel für eine sukzessive Wiederherstellung regulärer Marktbedingungen werden, denn es war ganz offensichtlich, dass nur eine auf den Weltmärkten erfolgreiche deutsche Industrie jene Devisen erwirtschaften konnte, mit denen das Deutsche Reich seine politischen Schulden in harter Währung begleichen konnte. Zwar waren nicht alle Industriebranchen und Unternehmen optimistisch, sich auf den Weltmärkten erneut erfolgreich behaupten zu können, und entsprechend unterschiedlich waren die strategischen Ausrichtungen und die praktischen Verhaltensweisen der jeweiligen Industriezweige, doch für die chemische Industrie, die im Folgenden näher betrachtet werden soll, war die zentrale Frage weniger die der Belastungen durch die Reparationsregelungen als die nach den Bedingungen und Möglichkeiten einer Rückkehr auf die Weltmärkte. Das Verhältnis zur Reparationsfrage wurde fast ausschließlich von Überlegungen bestimmt, die in diesen Bereich fielen. Hierauf einen Blick zu werfen, lohnt mithin auf jeden Fall, will man begreifen, welche Bedeutung das Reparationsregime für die deutschen Unternehmen besaß.

2 Die chemische Industrie in Europa Um diese Konstellation hinreichend transparent zu machen, ist ein Blick auf die globale, insbesondere aber die europäische Struktur der chemischen Industrie und die damit verbundene grenzüberschreitende Arbeitsteilung notwendig, die durch den Ersten Weltkrieg so abrupt unterbrochen worden war. Die in Deutschland populäre Vorstellung, die eigene chemische Industrie habe vor 1914 eine global dominante Position eingenommen, war nicht völlig aus der Luft gegriffen, aber letztlich doch nur teilweise begründet.6 Den Weltfarbstoffmarkt beherrschten die großen deutschen Farbstoffhersteller in der Tat fast nach Belieben; außer ihnen spielten im globalen Farbstoffhandel bestenfalls noch einige Schweizer Anbieter eine Rolle, die aber fest mit ihrer deutschen Konkurrenz verbunden waren. Schon nicht mehr so unbeschränkt vorherrschend, aber immer noch von erstaunlicher Größe war auch die deutsche Pharmaindustrie, die zwar nicht auf die 80 Prozent Exportanteil der Farbstoffherstel6 Die Daten im Folgenden nach Ludwig F. Haber, The Chemical Industry during the 19th Century: A Study of the Economic Aspect of Applied Chemistry in Europe and North America, Oxford 1958.

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ler kam, aber doch alles in allem noch etwa die Hälfte der weltweit gehandelten Pharmazeutika lieferte. Schon anders sah es im Bereich der anorganischen Chemie aus; hier war lange Zeit die Stellung der englischen Industrie, aus der auch die deutschen Werke viele Vorprodukte (Säure, Salze etc.) bezogen, erheblich bedeutender, doch verpasste die englische chemische Industrie, die mit älteren Anlagen produzierte, den technischen Wandel etwa bei der Sodaherstellung oder der Gewinnung von Schwefelsäure. Hier gelang es der deutschen chemischen Industrie, sich nach und nach von Importen zu befreien und selbst als Anbieter aufzutreten, doch blieb volumenmäßig die entsprechende Herstellung in Frankreich, Großbritannien und den USA, um nur diese Länder zu nennen, bedeutender. Dies bedingte auch, dass die vom Kapitalaufwand großen Unternehmen nicht notwendig ihren Sitz in Deutschland hatten; die größten Komplexe der chemischen Industrie fanden sich vielmehr vor allem in den USA, sodann in Großbritannien. Erst mit dem Zusammenschluss zur I. G. Farbenindustrie AG, der 1904 begann und erst 1925 zum Abschluss kam, gelang es dem größten deutschen Unternehmen von Seiten der Kapitalausstattung auf die vorderen Plätze der großen Konzerne vorzudringen, ohne – nebenher bemerkt – hier je an die Spitze zu gelangen, die traditionell von den großen US-amerikanischen Konzernen besetzt wurde.7 Die starke Stellung der deutschen Farbstoff- und Pharmahersteller war also keineswegs naturgegeben, sondern folgte einigen Weichenstellungen in den 1870er und -80er Jahren, die den Aufschwung der deutschen Farbstoffhersteller begünstigten, in deren Windschatten auch die pharmazeutische Industrie einen gewaltigen Aufschwung erlebte.8 Der rasche Ausbau der Werke auf modernem Niveau, wofür vor allem der zwischen 1892 und 1911 erfolgte Auf- und Ausbau des komplexen Chemiestandorts Leverkusen stehen mag, ermöglichte vor dem Hintergrund relativ niedriger Arbeitskosten (im internationalen Vergleich) die Herstellung einer qualitativ hochwertigen und dabei zugleich relativ preiswerten Produktpalette, die es in den meisten Staaten mit farbstoffverbrauchender Industrie (zumeist Textilindustrie) wenig sinnvoll erscheinen ließ, eigene Farbstoffkapazitäten zu entwickeln. Selbst dort, wo sie wie in Großbritannien und Frankreich bereits existierten, standen die Farbstoffanbieter meist im Schatten ihrer deutschen Konkurrenz, deren Farben und Preise für die heimische Industrie in der Regel attraktiver waren, zumal sich die deutschen Hersteller frühzeitig um ein entsprechendes Vertriebsnetz bemüht hatten oder eng mit dem je na7 Gottfried Plumpe, I. G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik, 1904–1945, Berlin 1990, 106. 8 Details hierzu bei Johann Peter Murmann, Knowledge and Competitive Advantage. The Coevolution of Firms, Technology, and National Institutions, Cambridge 2003.

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tionalen Farbstoffhandel kooperierten. Sie scheuten auch nicht davor zurück, sollte es die regulatorische Situation erfordern, vor Ort Produktionsstätten zu errichten; namentlich in den USA und in Russland gab es entsprechende deutsche Unternehmen oder Tochtergesellschaften, die die Produkte finalisierten und vertrieben. Diese Form der Arbeitsteilung war vielleicht in den Augen von Betrachtern, die mit einer nationalen Brille an die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung herangingen, bedauernswert; aus Sicht der Verbraucher gab es hingegen kaum Initiativen, die Dominanz der großen deutschen Anbieter, die für alle vorteilhaft war, in Frage zu stellen. Gern gesehen wurde sie gleichwohl nicht, und auch der gelegentlich triumphale Ton deutscher Fabrikanten stieß insbesondere in England auf eher feindselige Reaktionen9, und als in den Jahren nach der Jahrhundertwende die deutsche Chemie immer häufiger mit technischen Innovationen auftrat, die nun auch weit über den Farbstoff- und Arzneimittelmarkt hinausgingen, wurde der Ton noch rauher. Die Indigo-Synthese, die nach der Jahrhundertwende wirtschaftlich praktikabel vorlag,10 zerstörte innerhalb kurzer Zeit den vor allem von britischen Plantagenbesitzern kontrollierten Indigoanbau vollständig. Wenig später kündigte Bayer (freilich etwas zu vollmundig) die Herstellung synthetischen Kautschuks an, was die herkömmliche Kautschukgewinnung in Lateinamerika, Afrika und Asien in heftige Turbulenzen zu bringen drohte; und schließlich gelang 1913 der BASF die Stickstoffsynthese11, die nicht nur den gewaltigen Düngemittelmarkt, der vor allem an Guano-Importen aus Lateinamerika hing, revolutionieren konnte, sondern insgesamt geeignet war, ein neues Kapitel der industriellen Rohstoffversorgung aufzuschlagen. Wenn daher auch keine deutsche Dominanz in der Weltchemie bestand, dann war doch offenkundig, dass Stärken und Schwächen dieses Industriezweiges keineswegs regional gleichmäßig verteilt waren, sondern in einer Art Innovationsbilanz die deutsche Chemie vor dem Ersten Weltkrieg relativ gute Aussichten besaß, welche für ihre globalen Verbraucher, aber auch für ihre Konkurrenz eine ambivalente Bedeutung hatten, als Quelle vergleichsweise günstiger Vorund Hilfsstoffe einerseits, als Bedrohung vermeintlich starker Rohstoffpositionen andererseits. Diese für den Welthandel im Übrigen typische Mischung aus Nutzen und Konkurrenz trug sicher nicht zu der Konstellation entscheidend bei, die dann in den Krieg mündete; sie war aber auch nicht geeignet, zur Entspannung beizutragen, da in den Jahren vor 1914 industrielle Stärke zumindest 9 Werner Plumpe, Carl Duisberg 1861–1935. Anatomie eines Industriellen, München 2016, 346 f. 10 Alexander Engel, Farben der Globalisierung. Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1500–1900, Frankfurt a. M. 2009. 11 Margit Szöllösi-Janze, Fritz Haber 1868–1934. Eine Biographie, München 1998, Kap. IV.

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in der Öffentlichkeit stets auch als politisches Moment interpretiert wurde. Nach Kriegsausbruch war daher auch allen beteiligten Mächten relativ schnell klar, dass es nach dem Ende des Weltkrieges zu einer Neuordnung der Weltwirtschaft kommen sollte, die es den Feindnationen zumindest nicht erleichterte, ihre ökonomischen Stärken wie zuvor auszuspielen. Der Krieg, vor allem sein prospektierter Ausgang bekam daher von Anfang an die zusätzliche Last einer wünschenswerten Neugestaltung der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung. Und die Reparationsregelung sollte genau dieses gewährleisten, nämlich einerseits die Kriegsschäden zumindest teilweise ausgleichen, vor allem aber Strukturen der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung einleiten, die die älteren Gefahrenpotentiale begrenzten. Im Bereich der chemischen Industrie war das freilich leichter gesagt als getan, denn auf der Basis der globalen Arbeitsteilung vor 1914 konnte auf die deutsche chemische Industrie und ihre Stärken nur unter erheblichen eigenen Opfern, namentlich durch Inkaufnahme einer erheblich schlechteren Versorgung mit Vorprodukten und Hilfsmitteln, verzichtet werden. Da das bewusst war, begannen bereits während des Krieges die ersten Versuche, diese weltwirtschaftliche Arbeitsteilung zu korrigieren, Maßnahmen freilich, die von der jeweiligen feindlichen Seite beobachtet und zum Anlass genommen wurden, derartige Schritte durch eigene Maßnahmen zu kontern. Die Nachkriegszeit begann insofern bereits während des Krieges.

3 Die Herausforderungen des Krieges Der Krieg stellte eine doppelte Herausforderung dar, galt es doch einerseits die Kriegszeit selbst möglichst erfolgreich zu überstehen, und andererseits die zu erwartenden Herausforderungen der Nachkriegszeit einigermaßen vorwegzunehmen, ja in der kriegsbedingten Unternehmensentwicklung zu berücksichtigen. Dieser Horizont war den beteiligten Industriellen der chemischen Industrie völlig klar. In den ersten Kriegswochen herrschte noch ein gewisser Optimismus, der auf ein rasches Ende des Krieges hoffen ließ, doch zerstoben diese Illusionen mit der Marne-Schlacht im September 1914 und dem Übergang zum Stellungskrieg. Jetzt war offensichtlich, dass ein „Aussitzen“ des Krieges nicht in Frage kommen konnte, und angesichts des Fehlens der relevanten zivilen Märkte war auch die Bereitschaft, in die Waffenproduktion einzusteigen, nur eine Frage der Zeit, konnten doch die vorhandenen Anlagen mit der verbleibenden Produktion ziviler Güter nicht kostendeckend betrieben werden. Ausschlaggebende Bedeutung kam der britischen Blockade aber nicht allein deshalb zu, weil sie die deutsche chemische Industrie von ihren großen Absatzmärkten ri-

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goros abschnitt; sie beendete gleichzeitig den deutschen Zugriff auf strategische Ressourcen, die nur im Ausland bezogen werden konnten, wobei der südamerikanische Stickstoff, der Ausgangsrohstoff für die Herstellung der entscheidenden Sprengmittel, von zentraler Bedeutung war. Theoretisch konnte er durch den synthetischen Stickstoff der BASF zwar ersetzt werden; aber die in Ludwigshafen vorhandenen Produktionskapazitäten reichten bei weitem nicht aus, um den mit dem Stellungskrieg sprunghaft wachsenden Bedarf an Stickstoff zu befriedigen. Ohne die Bereitschaft der BASF, in kurzer Zeit große Kapazitäten für die synthetische Stickstoffherstellung bereitzustellen (Aufbau in Leuna), wäre der Krieg aus deutscher Sicht längere Zeit kaum führbar gewesen. Die Art, wie das geschah, war nun allerdings bezeichnend, denn die BASF benötigte hierfür zwar staatliche Hilfen, war aber keineswegs bereit, die unternehmerische Verantwortung für die Großsynthese aufzugeben oder nur zu teilen. Denn auch dies war sehr schnell klar: die Aussichten des Stickstoffabsatzes hingen keineswegs an der militärischen Nachfrage, auch wenn diese zunächst vollständig dominierte; künstlicher Stickstoff würde vielmehr als Kunstdünger auf eine quasi grenzenlose zivile Nachfrage treffen. Der Krieg beschleunigte damit einen Strukturwandel der chemischen Industrie, der ohnehin zu erwarten war. Kriegsteilnahme und Friedensvorbereitung fielen in diesem Bereich mithin zusammen; allerdings musste die BASF zumindest für die Dauer des Krieges eine Art staatliches Stickstoffmonopol akzeptieren; es gelang hingegen einen direkten Eingriff in die Unternehmensautonomie abzuwehren.12 Dieses Ziel verfolgte die chemische Industrie auch auf anderen Gebieten, wie sich überhaupt die Strategie durchsetzte, kriegswichtige Investitionen über die bei deren Nutzung erzielten Umsätze möglichst rasch, im optimalen Fall noch während des Krieges selbst, vollständig abzuschreiben und auf diese Weise größere Reserven zu bilden, die dann den Übergang zur Friedenswirtschaft ermöglichen sollten. Das setzte voraus, dass die kriegswichtigen Anlagen skalenökonomisch effizient betrieben werden konnten; vor allem aber, dass die mit den militärischen Beschaffungsstellen auszuhandelnden Preise ausreichend hoch waren, um die Abschreibungen und die Reservebildung zu ermöglichen. In der Regel gelang das auch, obwohl spätestens seit 1916 die Klagen immer lauter wurden, die Unternehmen würden die Zwangslage des Staates nutzen, um unangemessene Kriegsprofite zu erwirtschaften, ein Vorwurf, der sich schließlich in der öffentlich verbreiteten These von der „Kriegsgewinnlerei“ festsetzte und maßgeblich die soziale Unzufriedenheit, die spätestens 1917 immer offen12 Szöllösi-Janze, Fritz Haber (wie Anm. 11), 270–315; Jeffrey Allan Johnson, Die Macht der Synthese (1900–1925), in: Werner Abelshauser (Hg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002, 117–219, hier 158–182.

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kundiger wurde, beförderte. Die Unternehmen wiesen diese Vorwürfe stets zurück, doch waren die Zusammenhänge zu offensichtlich; schließlich teilten sogar große Teile des Militärs diese Kritik und verlangten, freilich erfolglos, eine schärfere Kontrolle der Preisbildung in den Unternehmen, um unangemessene Profite beschneiden zu können.13 So sehr die industrielle Kostenkalkulation und die auf dieser Basis erfolgenden Preisforderungen auch kritisierbar waren; aus der Luft gegriffen war die Strategie der Firmen keineswegs und sie diente auch keineswegs der Anhäufung von Sonderprofiten. Lothar Burchardt hat bereits vor längerer Zeit am Beispiel der Kostenrechnung von Krupp gezeigt, dass die Kriegsgewinne fast eins zu eins in den Ausbau der Anlagen reinvestiert wurden, also der postulierten Verwendung in der Tat auch zugeführt wurden. Bayer weigerte sich während des Krieges, die Ausschüttungen an die Aktionäre zu erhöhen oder Sonderausschüttungen vorzunehmen mit ganz ähnlichen Argumenten: das Unternehmen sei für die Sicherung der eigenen Existenz auf große Reserven angewiesen.14 Die Auseinandersetzungen um die Herstellung chemischer Kampfstoffe können diesen Komplex, grauenhaft genug, gleichwohl transparent machen.15 Die Entwicklung chemischer Kampfstoffe und die Einrichtung entsprechender Produktionslinien, nachdem das Militär die entsprechenden Stoffe abgenommen hatte, erfolgten auf Kosten des Unternehmens, das entsprechend auf den massenhaften Absatz standardisierter Gasgeschosse setzte, die aber vom Militär nicht bestellt wurden. Es dauerte lange, bis ein entsprechender Absatz möglich wurde, und auch dann brachten die militärischen Überlegungen und die wechselnde militärische Lage stets neue Unterbrechungen oder Anforderungen, die mit den Bedingungen einer skalenökonomisch effizient organisierten Produktion fast unvereinbar waren. All das führte zu den entsprechenden Preisforderungen, die dann ihrerseits wiederum als Beleg für die Kriegsgewinnlerei herhalten mussten. In der Regel stieg die chemische Industrie also aus eigenem Kalkül in die Rüstungs- bzw. in steigendem Maße in die Ersatzstoffproduktion ein, um so den Ausfall der zivilen Nachfrage zu kompensieren und Reserven für den Übergang zur Nachkriegswirtschaft zu bilden.16 Das waren zwei Seiten einer Medaille. Auf staatliche Unterstützung, etwa Investitionszuschüsse, setzten die Unternehmen der chemischen Industrie hingegen nur in Ausnahmefällen, namentlich dann, 13 Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918, Berlin 1985, 310–315. 14 Carl Duisberg an Henry Theodor Böttinger, 5.4.1917, in: BAL AS. 15 Werner Plumpe, Carl Duisberg (wie Anm. 9), Kap. 21, 466–480. 16 Werner Plumpe, Die Logik des modernen Krieges und die Unternehmen: Überlegungen zum Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2015), 325–357.

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wenn es um die Errichtung von Produktionsanlagen ging, die ausschließlich militärischen Zwecken dienten, im Leverkusener Fall also beim Bau einer Granatenfüllanlage oder bei der Ausweitung der Herstellungskapazitäten für Salpetersäure, die ausschließlich der Sprengmittelherstellung diente. Insofern lag dem Kriegsengagement der chemischen Unternehmen ein klares, privatwirtschaftliches Kalkül zugrunde, das von der Vorstellung der begrenzten Kriegsdauer und der Beschränktheit der militärischen Absatzchancen diktiert wurde. Dieses Kalkül hatte freilich eine u. U. erhebliche Konsequenz; denn der Charakter der chemischen Anlagen änderte sich dadurch stark, und sollte der Krieg verloren gehen, war abzusehen, dass die so rüstungswichtige chemische Industrie kaum ungeschoren bleiben würde. Auch das war in den Chefetagen der großen Fabriken bekannt; hier rechnete man nicht nur mit dem generellen „Handelsneid“ vor allem Englands, sondern auch mit gezielten Maßnahmen zur Beschädigung der deutschen chemischen Industrie, einer der Gründe nebenher, weshalb die Bereitschaft, sich für einen deutschen Sieg im Krieg einzusetzen, so ausgeprägt war. Optimistisch war die Stimmung keineswegs: „Aber selbst wenn wir England besiegen und auf der ganzen Linie Erfolg haben, wird die Bilanz dieses schrecklichen Krieges immer noch nicht mit einem Kredit-, sondern mit einem Debetsaldo Deutschlands in wirtschaftlicher Beziehung enden“, schrieb Carl Duisberg am 19. August 1914: „Leider kann ich mich nicht zu der Ansicht bekennen, daß, wenn wir uns glänzend durchhauen, wir dann einer großen Zukunft entgegensehen. Gewiss, wir werden innerlich politisch und ethisch gestärkt und gekräftigt werden, aber wir werden Feinde ringsum bekommen und wirtschaftlich viele Jahre brauchen, bis wir wieder die Höhe erreicht haben, auf der wir uns befanden.“17 Die Reservebildungsstrategie ging zumindest im Fall der späteren I. G. Farbenindustrie AG auf, doch sank mit dem Kriegsverlauf, der sich beschleunigenden Preisentwicklung und vor allem der Verteuerung vieler Roh- und Hilfsstoffe die Profitabilität der Unternehmen in der zweiten Kriegshälfte.18 Die Vorbereitung auf die Nachkriegszeit konnte sich mithin nicht darauf beschränken, größere Geldsummen zu horten und auf einen glücklichen Kriegsausgang zu hoffen; spätestens 1915 drangen weitere Nachrichten nach Deutschland, die für die Nachkriegszeit eine völlig veränderte Konkurrenzsituation erwarten ließen. Schon kurz nach Kriegsausbruch waren deutsche Warenbestände und Guthaben in den Feindstaaten beschlagnahmt worden; wenig später wurde generell deutsches Eigentum einschl. von Patenten, Rechten und Warenzeichen eingezogen, wobei diese Enteignungen nicht auf wenige Staaten beschränkt blieben, 17 Carl Duisberg an Emil Fraas, 19.8.1914, in: BAL AS. 18 Gottfried Plumpe, I. G. Farbenindustrie AG (wie Anm. 7), 94 f.

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sondern immer mehr um sich griffen, um schließlich nach Kriegseintritt der USA 1917 dort umfassend betrieben zu werden.19 Es war daher damit zu rechnen, dass der technologische Vorsprung der deutschen organischen Chemie dahinschmolz, vor allem aber, dass nach Kriegsende die deutschen Unternehmen mit ihren eigenen Produkten um Weltmarktanteile konkurrieren mussten. Der Selbstversorgungsgrad mit Farbstoffen, der vor dem Krieg in den USA gut 13 Prozent und in Großbritannien etwa 30 Prozent betragen hatte, lag 1920 in den USA bei knapp 100 Prozent und in Großbritannien immerhin bei 83 Prozent; den alten Weltfarbenmarkt gab es entsprechend nicht mehr.20 Weiterhin kamen in vielen, auch neutralen Staaten, die während des Krieges von deutschen Lieferungen ausgeschlossen waren, Importsubstitutionsprozesse in Gang. Das war zwar kein übertrieben großes Risiko, da die deutschen Unternehmen um die Komplexität chemischer Produktionsabläufe wussten, die nicht einfach zu kopieren waren, aber hier drohte eine weitere Marktzugangsbarriere einfach deshalb, weil davon auszugehen war, dass die Staaten, in denen es junge chemische Fabriken gab, nach Kriegsende die deutsche Industrie kaum ungehindert ins Land lassen würden.21 Und zu allem kam noch hinzu, dass zumindest in Großbritannien und Frankreich, später auch in den USA die Bedingungen der Kriegswirtschaft genutzt wurden, um, teilweise mit massiver Unterstützung des Staates, die Unternehmen der chemischen Industrie zu reorganisieren und große schlagkräftige Unternehmenskomplexe zu bilden. Die I. G. Gruppe, die zusammengenommen vom Grundkapital her gesehen vor 1914 eines der größten chemischen Unternehmen der Welt war, fiel nach dem Krieg deutlich zurück; jetzt waren vom Kapital her die großen amerikanischen Konzerne jeweils knapp dreimal so groß, und auch die britische Konkurrenz war nahe herangerückt. Gleichzeitig entstanden in Frankreich und Italien mit Montecatini und Kuhlmann, die ihr Kapital während des Krieges mehr als verzehnfachten, ernstzunehmende Konkurrenten.22 Teilweise als Reaktion auf diese Änderungen forcierten die Firmen der I. G. Gruppe seit 1915 ihren eigenen festeren Zusammenschluss, eine Reaktion freilich, die nicht unbeobachtet blieb und ihrerseits die Anstrengungen der Konkurrenz, sich vor einem übermächtigen deutschen Unternehmen zu schützen, nur weiter befeuerte.23 Ziel dieser Kräftebündelungen war ganz offenkundig eine verbesserte Wettbewerbssituation unter den erwarteten schwierigen Nachkriegsbedingungen zu 19 Siehe den Beitrag von Joachim Scholtyseck in diesem Band. 20 Gottfried Plumpe, I. G. Farbenindustrie AG (wie Anm. 7), 114. 21 Ludwig F. Haber, The Chemical Industry 1900–1930. International Growth and Technological Change, Oxford 1971. 22 Gottfried Plumpe, I. G. Farbenindustrie AG (wie Anm. 7), 106. 23 Zum Zusammenschluss Werner Plumpe, Carl Duisberg (wie Anm. 9), 677–683.

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erlangen, was indes im Falle der deutschen Chemie nicht wirklich gelang, da der I. G.-Vertrag von 1916 noch sehr lose war und wichtige Produktionsbereiche, wie etwa die Großsynthese, gar nicht einbegriffen wurden. Carl Duisberg, auf den bereits die ersten Vertrustungsbemühungen von 1903/04 zurückgingen, war erneut einer der treibenden Faktoren hinter dem Zusammenschluss. Ihm war allerdings klar, dass allein eine Fusion, die ihre offenkundigen Schwachstellen hatte, nicht ausreichen würde. Parallel forcierte er zusätzlich in enger Kooperation mit der preußischen Kultusbürokratie die Wissenschaftsförderung, indem er Gelder für die Förderung der Hochschulforschung sammelte, aber auch gezielt die einschlägigen Forschungsinstitute der Kaiser Wilhelm-Gesellschaft unterstützte, deren reguläre Arbeit während des Krieges fast vollständig zum Erliegen gekommen war. Ziel war es, über Innovationen den technologischen Vorsprung der deutschen organischen Chemie auch in der Nachkriegszeit zu behaupten. Mit Mäzenatentum hatte das entsprechend nichts zu tun; es ging um die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, und Duisberg, der davon überzeigt war, dass die Industrie ohne derartige Interessen kaum bereit sein würde, größere Geldmittel bereitzustellen, ließ im Konfliktfall hier auch keinen Zweifel aufkommen. Gegen erhebliche Widerstände etwa von Fritz Haber, der sich gegen die Zweckbindung industrieller Gelder wandte, setzte Duisberg genau diese Zweckbindung durch. Duisberg gelang es mit dem Argument, die Forschungsförderung nutze unmittelbar der Innovationsfähigkeit der Branche, widerstrebende Stimmen in der eigenen Industrie, die angesichts der schlechten Ertragslage bei Kriegsende jedes entsprechende Engagement skeptisch sahen, zu neutralisieren. Hätte er sich in den Berliner Gesprächen offener gezeigt und wäre etwa Habers Wünschen nach einer allgemeinen Forschungsfinanzierung gefolgt, dürfte ihm aus der Industrie erheblicher Widerstand sicher gewesen zu sein. Schon so war es nicht einfach, die Mittel für die Weiterfinanzierung des KWI Chemie in Berlin-Dahlem zusammenzubringen, aber es gelang schließlich, denn den Vertretern der großen Chemieunternehmen war letztlich klar, dass ihr Wiederaufstieg maßgeblich von ihrer Innovationsfähigkeit, und das bedeutete von einschlägigen Forschungsergebnissen und der Verfügbarkeit hochqualifizierter Chemiker abhing.24 Obwohl sich die Rahmenbedingungen dramatisch verschlechtert hatten, waren die Voraussetzungen, um sich in der internationalen Konkurrenz erfolgreich zu behaupten, nach Kriegsende daher nicht schlecht. Die deutsche chemische Industrie trat 1918/19 zumindest nicht unvorbereitet in die Nachkriegswirtschaft ein: Sie besaß erhebliche Reserven, um die Konversion zur zivilen Fertigung zu ermöglichen, die Unternehmensstrukturen waren deutlich straffer als 24 Werner Plumpe, Carl Duisberg (wie Anm. 9), Kap. 28, 619–650.

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vor 1914, die Innovationsfähigkeit der Branche war zumindest im Grundsatz abgesichert und – nicht zuletzt wegen der Erfahrungen mit der Großsynthese von Stickstoff – besaßen die Unternehmen, die schließlich 1925 die endgültige I. G. Farbenindustrie AG bildeten, einen erheblichen Vorsprung in einer der zentralen chemischen Zukunftstechnologien. Denn es war offenkundig, dass die Großsynthese nicht beim Stickstoff stehen bleiben würde, sondern weitere zentrale Roh- und Hilfsstoffbereiche erschlossen werden könnten.25 Die Frage war allein, ob die Friedensbedingungen es erlauben würden, diese Stärken auf den globalen Märkten auszuspielen. Den Waffenstillstandsbedingungen und den abschließenden Friedensregelungen kam für die chemische Industrie daher überaus große Bedeutung zu, denn deren Regelungen entschieden darüber, ob überhaupt und wenn ja, wie die chemische Industrie in die Weltwirtschaft zurückkehren konnte.

4 Vom Waffenstillstand zum Vertrag von Versailles Die Bestimmungen des Waffenstillstandsabkommens26 vom 11. November 1918 wurden in Deutschland rasch bekannt; bei allen denjenigen, die sich auf der Basis von Wilsons 14 Punkten Hoffnungen auf einen mehr oder weniger erträglichen Kriegsausgang gemacht hatten, löste die Härte der Bestimmungen Entsetzen aus. Dabei war es nicht die faktische Selbstentwaffnung Deutschlands, die im Vordergrund stand, oder die überstürzte Räumung der besetzten Gebiete und die Wegnahme Elsass-Lothringens; all das brachte zweifellos auch viele Industrielle auf, doch deren Sorgen galten anderen Bereichen. Die pauschale Bestimmung, dass Deutschland für die Kriegsschäden aufzukommen habe, was mit der Einforderung großer Mengen von Eisenbahnmaterial unmittelbar Realität wurde, sorgte für sehr viel größere Empörung, da mit Lasten zu rechnen war, deren Höhe kaum kalkuliert werden konnte. Sodann war das Verbot der Rüstungsproduktion gravierend, zumal alliierten Kommissionen Inspektionsrechte eingeräumt werden mussten, die, so vermutete man in der chemischen Industrie, letztlich auf das Ausspionieren von Verfahrenstechniken hinauslaufen mussten. Die Besetzung des Rheinlandes und von einigen Brückenköpfen östlich des Rheins, wovon Leverkusen als Teil des Kölner Brückenkopfes betrof25 Zur Großchemie vgl. den Überblick bei Walter Teltschik, Geschichte der deutschen Großchemie. Entwicklung und Einfluss in Staat und Gesellschaft, Weinheim 1992. 26 Eberhard Kolb, Der Frieden von Versailles, München 2005.

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fen war, löste ebenfalls heftige Kritik aus, die jedoch zumindest bei Bayer verstummte, als sich herausstellte, dass alliierte Besatzungstruppen das wirksamste Mittel gegen revolutionäre Unruhen sein würden.27 Die zugleich fixierten hohen Abgabepflichten, namentlich an Farbstoffen, waren hingegen weniger ein Problem; hier ging es vor allem um die Festlegung der Preise und die Frage, wer die Farbstoffe, die an die Alliierten zu liefern waren, im Zweifelsfall bezahlen sollte.28 Die größte Angst jedenfalls, das zeigte sich schnell, betraf mögliche Produktionsverbote, da viele der Anlagen der chemischen Industrie sog. dualuse-Anlagen darstellten, die auch für die Herstellung von Sprengmitteln oder chemischen Kampfstoffen Verwendung gefunden hatten. Sollte es hier zu harten Auflagen kommen, war die Existenz der Industrie betroffen, namentlich der gesamte Bereich der Großsynthese, den die zur Vorbereitung der Friedensverhandlungen vom Auswärtigen Amt herangezogenen Sachverständigen Carl Bosch von der BASF, Carl Duisberg von Bayer und Carl von Weinberg von der Cassella deshalb auch vorrangig zu schützen suchten. Entgegen aller öffentlichen Rhetorik, die die alliierten Forderungen hart kritisierte, Duisberg hatte im November 1918 bei der Lektüre des Waffenstillstandsvertrages vom „gemeinste (n) aller Waffenstillstandsverträge, die seit Bestehen der Welt geschlossen sind“, gesprochen29, und von der Unerfüllbarkeit der sich abzeichnenden Forderungen ausging, waren die Chemieindustriellen intern zu großen Kompromissen bereit; Duisberg konnte sich gar eine hohe französische (Minderheits-)Kapitalbeteiligung an den großen deutschen Unternehmen vorstellen, um ein mögliches Verbot der Großsynthese zu verhindern. Die Hoffnungen, die während der Vertragsvorbereitungen entstanden, wurden allerdings gründlich enttäuscht.30 Die deutsche Seite wurde nicht einmal gehört; eigentliche Friedensverhandlungen gab es nicht, sondern es handelte sich in der Tat um ein Diktat, über dessen historische Bedeutung gegenwärtig zwar erneut gestritten wird31, dessen zeitge27 Werner Plumpe, Carl Duisberg (wie Anm. 9), 551 f. 28 Die Verhandlungen über Farbstofflieferungen wurden schon im Februar 1919 u. a. in Rotterdam, Köln und Mainz aufgenommen, in durchaus feindseliger Atmosphäre, wie sich Duisberg erinnerte, wobei die alliierte Seite die Fortdauer der Blockade als Druckmittel nutzte, während die deutschen Industriellen im Gegenzug die bolschewistische Gefahr beschworen, sollte die alliierte Seite der deutschen Regierung nicht stärker entgegenkommen; Werner Plumpe, Carl Duisberg (wie Anm. 9), 599 f. 29 Werner Plumpe, Carl Duisberg (wie Anm. 9), 597. 30 Zu den Friedensverhandlungen und ihrer Vorbereitung auf deutscher Seite vgl. Peter Krüger, Deutschland und die Reparationen 1918/19. Die Genesis des Reparationsproblems in Deutschland zwischen Waffenstillstand und Versailler Friedensvertrag, Stuttgart 1973. 31 Die Bemühungen, den Vertrag als mögliches Friedensfundament zu retten, sind relativ vielfältig, jüngst etwa Adam Tooze, The Deluge: The Great War, America and the Remaking of the Global Order, 1916–1931, London 2014. Doch verkörpern diese Darstellungen durchweg eine Art

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nössische Beurteilung allerdings den Pessimismus der deutschen Industriellen durchweg stützt. Der Versailler Vertrag, den nebenher die USA nie ratifizierten, folgte der vorwiegend französischen Forderung nach einer dauerhaften Schwächung des rechtsrheinischen Konkurrenten, was unter den konkreten Bedingungen 1919 zwar nicht ohne Grund war.32 Doch hätte das freilich nicht nur eine dauerhafte Beschädigung der traditionellen weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung mit nachteiligen Folgen nicht allein für die deutsche Wirtschaft nach sich gezogen, sondern – wie John Maynard Keynes nachdrücklich betonte – nicht einmal eine Befriedigung der alliierten Reparationsforderungen zugelassen. Im Versailler Vertrag war freilich die französische Handschrift unverkennbar. Neben der bedingungslosen Anerkennung der Kriegsschuld legte er der deutschen Seite massive, in der Summe noch nicht präzisierte Zahlungsverpflichtungen auf, die nur durch erhebliche Exportüberschüsse hätten erwirtschaftet werden können, die der Vertrag mit seiner Diskriminierung des deutschen Außenhandels, der zeitweiligen Beseitigung der handelspolitischen Souveränität Deutschlands, vor allem aber über den automatischen Einzug eines Viertels der Exporterfolge aber geradezu ausschloss. Hinzu kamen Verbote bzw. Kontrollen rüstungswichtiger Anlagen, die entsprechend der Bestimmungen des Vertrages stillzulegen oder ganz zu zerstören waren. Die Gefahr einer vollständigen Stilllegung der Stickstoffsynthese drohte mithin weiterhin, ja konnte jetzt in der Tat konkret werden. Damit nicht genug, gab es im Bereich der chemischen Industrie weitere detaillierte Vorschriften in der Anlage 6 des Vertrages. Hiernach hatte die chemische Industrie nicht nur die Hälfte ihrer Vorräte abzutreten; sie musste in den kommenden Jahren auch ein Viertel ihrer Produktion zu den jeweils günstigsten Preisen an die Reparationsgläubiger liefern.33 Bedrohliche Bedeutung besaßen schließlich auch die Vorschriften über die Zwangsausfuhr von Kohle (in den folgenden zehn Jahren jährlich 40 Mio. Tonnen an die Hauptreparationsgläubiger), die in der ersten Nachkriegszeit zum zentralen Engpass bei der Umstellung der Produktion auf die Friedenswirtschaft wurde. Die Förderziffern, die ohnehin im Krieg immer weiter zurückgegangen waren, litten zusätzlich unter den zahlreichen sozialen Konflikten im Ruhrbergbau ebenso wie unter den Arbeitszeitverkürzungen, die nach der Revolution geWunschdenken, das der historischen Entwicklung nicht entspricht. Die Zeitgenossen urteilten sehr viel nüchterner, u. a. die englischen Delegationsangehörigen John Maynard Keynes und Harold Nicholson; generell siehe den Diskussionsbeitrag von Gerald D. Feldman, in: Boemeke u. a. (Hrsg.), The Treaty of Versailles (wie Anm. 2), 441–450. 32 Robert Boyce, The Great Interwar Crisis and the Collapse of Globalization, Basingstoke 2012, 91–118. 33 Hans Joachim Flechtner, Carl Duisberg. Vom Chemiker zum Wirtschaftsführer, Düsseldorf 1959, 298. Gottfried Plumpe, I. G. Farbenindustrie AG (wie Anm. 7), 110.

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kommen waren und nun einen ständigen Zankapfel zwischen Zechenleitungen und Belegschaften bildeten; vor allem die Frage von Überschichten zur Steigerung der Förderung war heftig umkämpft.34 Bis auf die Farbwerke in Leverkusen, die sich Bezugsrechte bei der im besetzten Gebiet liegenden Zeche Walsum gesichert hatten, mussten alle großen chemischen Betriebe wiederholt wegen Kohlenmangel den Betrieb einstellen, der noch durch das zeitweilige Abschneiden der besetzten Gebiete von der Zufuhr aus dem Reich verstärkt wurde. Das betraf insbesondere die BASF; Hoechst litt hingegen unter den geringen Mengen, die von der Ruhr kamen; ähnlich erging es den Berliner und den mitteldeutschen Betrieben.35 Nicht zuletzt deshalb wurden die ersten Verhandlungen im Rahmen des Versailler Vertrages, bei denen es um Art und Menge der Zwangsausfuhr von Kohle ging, von den Vertretern der chemischen Industrie genau verfolgt und gegenüber der deutschen Delegation nachdrücklich auf die Probleme der Unterversorgung mit Kohle hingewiesen.36 Die im Frühjahr 1919 in der deutschen chemischen Industrie noch genährten Hoffnungen, man werde zu einem Friedensvertrag kommen, der die Branche in der Substanz nicht treffe und ihr in absehbarer Zeit eine Rückkehr auf die Weltmärkte ermögliche, waren damit schlagartig vom Tisch. Bosch, Duisberg und von Weinberg waren gemeinsam der Auffassung, der Vertrag sei kaum erfüllbar, jedoch bestimmte diese pessimistische Grundhaltung keinesfalls das Kalkül der Chefetage der I. G. Farbenindustrie, die in den Vorschriften des Vertrages vielmehr die Möglichkeit sah, mit der ausländischen Konkurrenz zu gesonderten Verständigungen zu gelangen, auf deren Basis dann eine Rückkehr auf den Weltmarkt oder zumindest deren einigermaßen faire Aufteilung zu erreichen sein könnten. Die Kontakte namentlich zwischen der deutschen und der französischen Farbstoffindustrie waren schon im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens wiederhergestellt worden; die Verhandlungen über deutsche Lieferungen führte auf französischer Seite der Chef des größten französischen Farbstoffproduzenten, Joseph Frossard, der sich jetzt auch als Gesprächspartner anbot. Denn die Lieferung von zugleich hochwertigen und preiswerten deutschen Farbstoffen auf Reparationskonto war für die im Krieg enstandenen neuen französischen Unternehmen, namentlich die jetzt gebildete „Compagnie Nationale des Matières Colorantes“, deren Chef Joseph Frossard war, keinesfalls ein Glücksfall, da sie auf ihrem Heimatmarkt mit einer Flut überlegener deut34 Gerald D. Feldman, Arbeitskonflikte im Ruhrbergbau 1919–1922. Zur Politik von Zechenverband und Gewerkschaften in der Überschichtenfrage, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2 (1980), 168–223. 35 Zu den Verhandlungen vgl. Gerald D. Feldman, The Great Disorder, Politics, Economics, and Society in the German Inflation 1914–1924, Oxford 1997. 36 Werner Plumpe, Carl Duisberg (wie Anm. 9), 605.

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scher Farbstoffe rechnen mussten. Das Ziel der französischen Regierung, über den Versailler Vertrag die deutsche Exportwirtschaft als Konkurrent auszuschalten, drohte gar auf das Gegenteil hinauszulaufen. Die Möglichkeiten, sich mit der französischen Konkurrenz zu verständigen, waren daher relativ groß, und so stieß eine entsprechende Initiative der I. G. bei Frossard keineswegs auf Ablehnung. Die Auflagen des Vertrages wurden im so genannten Duisberg-Frossard-Abkommen vielmehr in eine Art privatwirtschaftliche Vereinbarung überführt, nach der das Frossardsche Unternehmen die deutschen Produkte für den französischen Markt auf eigene Rechnung vertreiben konnte und dafür lediglich entsprechende Lizenzgebühren zu zahlen hatte. Dieses Abkommen funktionierte zwar später eher schlecht als recht; aber in gewisser Hinsicht wurde der Versailler Vertrag – gegen seine Intention – hier sogar zum Mittel, den Zugang zum großen französischen Markt für die deutsche Farbstoffindustrie offen zu halten bzw. überhaupt erst wieder zu eröffnen.37 Immerhin sah das in der französischen Öffentlichkeit allerdings überaus angefeindete Abkommen vor, dass die deutschen Hersteller sich vom französischen Markt fernhielten, aber von den „Matières Colorantes“ für diesen Verzicht sowie die Zurverfügungstellung der deutschen Farbstofftechnologie 50 Prozent des hiermit erzielten Gewinns erhalten sollten. Nicht zuletzt wegen schleppender französischer Zahlungen wurde das Abkommen 1924 aufgekündigt.38 Ähnlich erfolgreich war Carl Bosch mit einer Initiative, die gegen alle Auflagen verstieß, denen er als Angehöriger der deutschen Delegation in Versailles im Sommer 1919 unterlag. Gerade um private Gespräche zu verhindern, waren die deutschen Diplomaten und Geschäftsleute in einem Hotel regelrecht „kaserniert“, was Carl Bosch durch heimliche („nächtliche“) Ausflüge umging, auf denen er mit Vertretern der französischen chemischen Industrie, aber auch offiziellen Regierungsvertretern zusammentraf. Ziel war es, in einer Art „deal“ zu erreichen, dass die französische Seite nicht auf einem Verbot der Hochdrucksynthese bestünde, wenn als Gegenleistung die BASF in Toulouse eine funktionsfähige Anlage zur Stickstoffgewinnung bauen und der französischen Industrie übergeben würde. Genau das wurde auch erreicht, denn der französischen Seite war der wirtschaftliche Nutzen der Synthese (Düngemittel) ebenso klar wie die Tatsache, dass aufgrund mangelnder Erfahrung nur die Kenntnis der Verfahrensweisen kaum ausreichend sein dürfte, um eine wirtschaftlich kon-

37 Gottfried Plumpe, I. G. Farbenindustrie AG (wie Anm. 7), 121–123. 38 Gottfried Plumpe, I. G. Farbenindustrie AG (wie Anm. 7), 122 f. Gleichwohl entwickelten sich die Beziehungen zumindest der I. G. Farbenindustrie nach Frankreich während der Weimarer Zeit durchaus eng; der Großteil der Lieferungen erfolgte dabei freilich bis zur Weltwirtschaftskrise über Reparationskonto, ebd., 451 f.

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kurrenzfähige Anlage in absehbarer Zeit allein betreiben zu können. Mit der pünktlichen Inbetriebnahme der Stickstoffsynthese in Toulouse war auch die Gefahr vom Tisch, dass die deutschen Anlagen zerstört werden müssten. Die I. G.-Gruppe, deren Umsatzstruktur sich durch den Krieg deutlich geändert hatte, da Farbstoffe im Gewicht deutlich zurückgegangen waren, während die Synthese mittlerweile einen großen Umfang hatte, konnte aufatmen. Ihr Zukunftspotential schien gesichert, zumal die Möglichkeiten der Synthese bei weitem nicht ausgeschöpft erschienen. Wenn auch unternehmensintern später keineswegs unumstritten, trug diese „Reparationslösung“ erheblich zur Aufwertung der Synthese und damit zu der Tatsache bei, dass sie in der strategischen Ausrichtung des Unternehmens schließlich eine dominante Position einnahm.39

5 Erfüllungspolitik Die unmittelbaren Gefahren der Reparationspolitik für die Zukunft der chemischen Industrie schienen spätestens 1920 gebannt; allerdings hingen die Reparationsforderungen, die ja weit umfangreicher waren, weiterhin wie eine Art Damokles-Schwert über der deutschen Wirtschaft und verbanden sich dabei, Gerald Feldman hat das im Detail gezeigt, mit zahlreichen Fragen der deutschen Innen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik.40 Nicht nur über die materiellen Reparationslieferungen (Kohle, Chemikalien, Maschinen, Anlagen, Teile der Handelsflotte etc.) wurde dabei heftig debattiert; vor allem spielten die verlangten Geldzahlungen und deren Aufbringung eine eminente Rolle. Anfang 1921 hatten sich die alliierten Mächte endlich auf eine Summe geeinigt, die die deutsche Seite direkt als völlig illusorisch zurückwies.41 Die alliierten Forderungen wurden daher noch einmal beraten, schließlich im April 1921 aber ultimativ vorgetragen (Londoner Ultimatum), was die Regierung Fehrenbach, die eine Annahme der Forderungen ablehnte, zum Rücktritt veranlasste. Die Nachfolgeregierung unter dem Zentrumspolitiker Joseph Wirth lehnte die alliierten Forderungen ebenso ab, wechselte aber von einem Konfrontations- in einen Kooperationsmodus und versprach sich zu bemühen, die alliierten Forderungen, die allein für 1921 eine Zahlung von 3,3 Mrd. Goldmark vorsahen, zu „erfüllen“, 39 Zu den Verhandlungen Karl Holdermann, Im Banne der Chemie: Carl Bosch. Leben und Werk, Düsseldorf 1953, 163–175. Zur strategischen Bedeutung der Synthese, Gottfried Plumpe, I. G. Farbenindustrie AG (wie Anm. 7), 203 ff. 40 Feldman, The Great Disorder (wie Anm. 35). 41 An dieser ablehnenden Haltung war auch Duisberg beteiligt, der die alliierten Forderungen für völlig überzogen hielt; Werner Plumpe, Carl Duisberg (wie Anm. 9), 607.

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wobei die erste Milliarde schon im Mai 1921 gezahlt werden sollte. Es begann die Phase der „Erfüllungspolitik“, die vor allem mit dem Namen des Wiederaufbau- und späteren Außenministers Walther Rathenau verbunden ist, dessen Agieren die deutsche Öffentlichkeit extrem polarisierte.42 Auch Rathenau war das Utopische der alliierten Forderungen bewusst, doch ebenso klar war ihm, dass durch Konfrontation wenig zu erreichen war, zumal man in anderen Fragen, etwa der noch offenen Zukunft Oberschlesiens, zumindest auf ein gewisses Wohlwollen der alliierten Mächte angewiesen war. Die Frage spitzte sich schließlich in dem Problemkreis zu, wie die Devisen beschafft werden könnten, um die unmittelbaren Forderungen der Alliierten bedienen zu können, damit weitreichende Sanktionen, u. a. die Besetzung weiterer deutscher Gebiete, vermieden werden konnten. Die von der SPD ins Spiel gebrachte umfangreiche Erhöhung der Steuern zur Finanzierung der alliierten Forderungen war wenig populär, hätte aber das entscheidende Problem nicht gelöst, nämlich die Beschaffung der notwendigen Devisen, da sich die alliierten Mächte keineswegs mit dem Transfer deutscher Papiermark zufrieden gegeben hätten. Die Regierung Wirth wollte zahlen, konnte aber aus eigener Kraft die notwendigen Devisen nicht beschaffen. Angesichts der weiterhin betriebenen Inflationspolitik, d. h. der Finanzierung des gewaltigen Staatsaufwandes über die Notenpresse, war auch an einen Zugang zu internationalen Krediten zu einigermaßen akzeptablen Bedingungen kaum zu denken.43 In dieser Situation kam in einem Teil der Industrieverbände, namentlich im Kreis um das geschäftsführende Vorstandsmitglied des Reichsverbandes der Deutschen Industrie (RDI), Karl Bücher, die Idee auf, die deutsche Industrie könne an den internationalen Kapitalmärkten einen Kredit aufnehmen und dem Reich so helfen, seinen Reparationsverpflichtungen einigermaßen nachzukommen. Der sich hiermit verbindende Streit, der die Arbeit des RDI im Sommer und Herbst 1921 maßgeblich prägte,44 fand die chemische Industrie, die durch den Vorsitzenden des Chemieverbandes Carl Duisberg im Präsidium des RDI vertreten war, ganz auf Seiten von Karl Bücher. Die chemische Industrie hielt die mit dem Londoner Ultimatum durchgesetzten Forderungen zwar ebenfalls für völlig überhöht und warnte wiederholt vor den damit verbundenen Belastungen der Wirtschaft, namentlich der Schwächung der Ertragskraft der Indus42 Zu Rathenaus Erfüllungspolitik und den innenpolitischen Kontroversen vgl. etwa Harry Graf Kessler, Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk, Frankfurt a. M. 1988 (zuerst 1928), Kap. X. 43 Hierzu Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, 4. Aufl., München 2005, 159–185. 44 Hierzu Johannes Bähr/Christopher Kopper, Industrie, Politik, Gesellschaft. Der BDI und seine Vorgänger 1919–1990, Göttingen 2019, 56–59.

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trie durch reparationsbedingt hohe Steuern und Abgaben, die ohnehin schon gering sei. Eine harte, konfrontative Haltung, wie sie unter der Führung von Hugo Stinnes von den tonangebenden Herren der Schwerindustrie vertreten wurde, kam für die Betriebe der chemischen Industrie aber nicht in Frage, deren Ziel ja gerade die erfolgreiche Teilnahme am weltwirtschaftlichen Wettbewerb war, die es daher um fast jeden Preis sicherzustellen galt. Überdies gab es gute Gründe davon auszugehen, dass es Stinnes nicht allein um das hehre Ziel der Reparationsabwehr ging, sondern er mit seiner Blockade weitgehende Zugeständnisse der Reichsregierung, etwa in der Frage der Organisation der Reichsbahn, erpressen wollte, die allein ihm, nicht aber der übrigen Wirtschaft nützen würden.45 Duisberg, der die gesamte Branche hinter sich wusste, stützte daher nicht nur Büchers Initiative einer internationalen Industrieanleihe; er beteiligte sich auch an der Berechnung von alternativen Reparationsvorschlägen, um den Gesprächsfaden zu den Alliierten nicht zu verlieren; gegen die starke Position der Schwerindustrie, die von Hugo Stinnes zudem mit eigenen Interessen und dem öffentlichen Ressentiment gegen die Reparationsverpflichtungen geschickt verknüpft wurde, war diese Variante der Erfüllungspolitik nicht durchsetzbar; die Kreditinitiative blieb erfolglos, zumal die Entscheidung der Alliierten, trotz anderslautender Ergebnisse der Volksbefragung das östliche Oberschlesien Polen zuzusprechen, die öffentliche Meinung zusätzlich gegen jede Verständigung aufgebracht hatte.46 Diese nach außen harte, angesichts der öffentlichen Stimmung in Deutschland wäre anderes auch kaum möglich gewesen, im Kern aber moderate Haltung mochte nicht sonderlich affektiv besetzt sein – und im privaten Umfeld wurde Duisberg nicht müde, über die niederträchtige Reparationspolitik und die mit den Abrüstungsauflagen verbundene Industriespionage zu klagen. Sie folgte dabei nicht ausschließlich reparationspolitischen Überlegungen und dem Kalkül, möglichst rasch wieder möglichst ungehinderten Zugang zu den Weltmärkten zu erlangen. Anders als große Teile der Schwerindustrie und viele kleine und mittlere Unternehmen etwa der Metallverarbeitung gab es in der chemischen Industrie auch nur wenig Vorbehalte gegen die sich abzeichnende republikanische Ordnung. Während des Kapp-Putsches, als Teile des Militärs und verwandter politischer Kräfte die auf der Basis der Versailler Bestimmungen zwingende Demilitarisierung Deutschlands noch einmal aufzuhalten hofften47,

45 Zu Stinnes’ Politik ausführlich Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, 717 ff. 46 Ebd. 47 Zum Kapp-Putsch Winkler, Weimar (wie Anm. 43), 119–127.

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blieb der RDI „neutral“ und zwar gegen den erklärten Willen der chemischen Industrie, die den Putsch für ein einziges „Verbrechen“ hielt und zeitweilig sogar überlegte, ihren Arbeitern den Lohnausfall während des Generalstreiks zu erstatten.48 Duisberg und dem gesamten Führungskreis der I. G. Farbenindustrie AG war durchweg klar, dass es den führenden Kreisen der Schwerindustrie um Hugo Stinnes nicht allein um eine harte Haltung in der Reparationsfrage ging, sondern man insgesamt die Veränderungen im Arbeitsrecht und in den industriellen Beziehungen ablehnte, die mit der Novemberrevolution, dem Zentralarbeitsgemeinschaftsabkommen und den ersten gesetzlichen Maßnahmen der Republik an die Stelle des arbeitsrechtlichen Liberalismus des Kaiserreiches getreten waren. In den programmatischen Auseinandersetzungen innerhalb des RDI, bei denen vor allem das Sprachrohr von Hugo Stinnes, der Rheinbraun-Generaldirektor Paul Silverberg, immer deutlicher einer Rücknahme zahlreicher „Errungenschaften“ der Nachkriegszeit das Wort redete, war Duisberg unmissverständlich: „Sie kehren in Ihren Forderungen m. E. zum Manchestertum zurück, ohne das Gute zu behalten und in Ihr Programm aufzunehmen, was die letzten Jahrzehnte uns gebracht haben. Auch wenn Ihr Programm vom wirtschaftlichen Standpunkt aus richtig ist und von mir in den meisten Punkten geteilt wird, so dürfte doch manche Ihrer Forderungen, politisch und taktisch gewertet, unangebracht sein. Es ist das, was Sie schreiben, ein völlig umfassendes, kraftvolles und machtvolles Diktat. Sie wissen, daß ich auch nicht gerade zu den schwachen und labilen Männern gehöre, aber ich habe von jeher ein gewisses Gefühl für die Zeiterfordernisse gerade gegenüber der Arbeitnehmerschaft gehabt und habe mich nicht gescheut, hin und wieder nachzugeben und Kompromisse zu schließen. Bisher bin ich mit dieser Taktik ganz gut gefahren. Man soll der historischen Entwicklung nicht in die Speichen fallen und ferner beachten, daß ein möglichst geschlossenes Deutschland zu einem täglich größeren Erfordernis wird.“49 Diese, wenn man so will, Verbindung aus erfüllungspolitischem Kalkül und republikfreundlicher Haltung war dabei keineswegs eine Duisbergsche Spezialität; die gesamte Führung der I. G. Farbenindustrie sah das ähnlich, ja manchen der leitenden Herren ging Duisberg in seinem Willen, eine geschlossene Front zu bilden, gegenüber der Schwerindustrie nicht weit genug. Sie drängten ihn immer wieder, hier klare Haltung zu zeigen, und so passt es auch ins Bild, dass die chemische Industrie wiederholt mit dem Auszug aus dem RDI drohte, sollte sich die Schwerindustrie nicht kompromissbereit

48 Werner Plumpe, Carl Duisberg (wie Anm. 9), 555–561. 49 Carl Duisberg an Paul Silverberg, 12.1.1923, in: BAL AS.

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genug zeigen.50 Eine Konfrontationshaltung war aus ihrer Sicht nicht sinnvoll; Ziel war die möglichst rasche Rückkehr auf die Weltmärkte, und dieses Ziel setzte ein pragmatisches Arrangement mit den alliierten Mächten voraus. Alles andere war ausgeschlossen.51 Im Vorfeld der Ruhr-Besetzung vom Januar 1923 waren daher die Bemühungen um Kompromissvorschläge, an denen sich die chemische Industrie beteiligte, groß, letztlich aber nicht erfolgreich. Noch kurz vor der Eskalation der Reparationskrise Ende Januar 1923 unterstützte Duisberg die Arbeit einer von der Regierung Cuno eingesetzten Sachverständigengruppe, die eine Reparationslast von 40 Mrd. Mark als akzeptabel ansah, damit vor allem aber auf eine Wiederherstellung der internationalen Kreditfähigkeit Deutschlands zielte, ohne die eine Lösung des Reparationsproblems ausgeschlossen war. Doch kam die Sachverständigengruppe zu keinem definitiven Ergebnis; Ende Januar marschierten französische und belgische Truppen wegen vermeintlicher Rückstände bei Reparationszahlungen in das Ruhrgebiet ein, der Konflikt eskalierte; die Reichsregierung rief im besetzten Gebiet den passiven Widerstand aus, der mit der Notenpresse finanziert wurde, was den endgültigen Ruin der deutschen Währung durch den Übergang zur galoppierenden Inflation einleitete. Mit der übrigen chemischen Industrie verurteilte Duisberg zwar den Ruhreinmarsch und unterstützte die entschiedene Haltung der Regierung Cuno; faktisch aber handelte die chemische Industrie aus einer Beobachterrolle heraus, denn der Großteil ihrer Werke lag im besetzten Gebiet. Am „passiven Widerstand“ beteiligten sich jedenfalls die chemischen Fabriken bestenfalls rhetorisch, wie es etwa Duisberg stets tat, wenn er die Möglichkeit hatte, sich zu den alliierten Forderungen zu äußern. Offenen Auseinandersetzungen mit den Besatzungsmächten ging er nicht erst 1923 konsequent aus dem Weg. Auch zuvor hatte er stets jede Konfrontation vermieden und zwar ganz offen, weil er überzeugt war, „dass wir aus Gründen der Klugheit unser Verhalten gegenüber den feindlichen Bedrückern so einstellen müssen, dass wir nicht Gefahr laufen, noch durch schärfere Gewaltmaßnahmen in der vollen Aufrechterhaltung unserer Produktionen gehemmt oder gar lahm gelegt zu werden.“52 Die Folgen des passiven Widerstandes, insbesondere der Übergang zur galoppierenden Inflation und der Zusammenbruch des Geldsystems in Deutschland im Sommer 1923 waren folgerichtig keineswegs im Sinne der chemischen 50 Werner Plumpe, Carl Duisberg (wie Anm. 9), 616. 51 Generell hierzu Werner Plumpe, Carl Duisberg, das Kriegsende und die Geburt der Sozialpartnerschaft aus dem Geist der Niederlage, in: Hartmut Berghoff u. a. (Hrsg.), Wirtschaft im Zeitalter der Extreme. Beiträge zur Unternehmensgeschichte Deutschlands und Österreichs. In Gedenken an Gerald D. Feldman, München 2010, 134–159. 52 Carl Duisberg an Freiherr von Lersner, 19.4.1921, in: BAL AS.

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Industrie, die die realen Gefahren der Wiederkehr bürgerkriegsähnlicher Verhältnisse ebenso sah wie sie die Chancen, auf diese Weise zu einem reparationspolitischen Arrangement zu kommen, realistisch als gering beurteilte. Der Abbruch des passiven Widerstandes und die Bildung einer Art Notstandsregierung der großen Koalition unter Gustav Stresemann (mit Einbezug der Sozialdemokratie) im August 1923 fand daher auch die vehemente Unterstützung der chemischen Industrie, die die gelegentlich laut werdende Kritik an der Tatsache, dass die Notstandsregierung unter Gustav Stresemann auch die SPD einbezog, entschieden zurückwies. Der Regierung Stresemann gelang es mit den Mitteln eines vom Reichspräsidenten Ebert abgesegneten Ermächtigungsgesetzes und mehrerer Notverordnungen im November 1923 die Inflation zu beenden und die wertlos gewordene Papiermark durch die fiktiv gesicherte, gleichwohl Vertrauen schaffende Rentenmark zu ersetzen. Die Inflation endete abrupt und machte einer Anpassungskrise Platz, die vor allem durch die scharfe Deflationspolitik der Reichsregierung, aber auch durch eine entsprechende Sparpolitik der Unternehmen ausgelöst wurde, die nach dem Wegfall des Geldschleiers rigoros auf Kostensenkungen und parallele Wiederherstellung der Arbeitsproduktivität in ihren Werken setzten.53 Diese auf Kostenersparnis und leistungssteigernde Effekte setzende Unternehmenspolitik stieß in den Belegschaften zum Teil auf massiven Widerstand, der sich bereits zuvor in harten Auseinandersetzungen um die Arbeitszeitregelungen in den Unternehmen abgezeichnet hatte.54 Die sprunghaft zunehmende Arbeitslosigkeit, die mit der Anpassungskrise verbunden war, nahm dem Arbeiterprotest aber sehr rasch jede Durchschlagskraft. Die sozialen Kämpfe, die für die Nachkriegszeit zeitweilig typisch gewesen waren, flammten nur kurz wieder auf, um danach weitgehend an Bedeutung zu verlieren. Symbolische Proteste gab es weiterhin; Arbeitskämpfe spielten in der Chemie hingegen keine Rolle mehr. Es war aber nicht unbedingt dieser Befund, der den Industriezweig zu einem vehementen Befürworter der Stresemann’schen Außenpolitik werden ließ. Ausschlaggebend war vielmehr das Kunststück, das Stresemann mit dem Dawes-Plan zur vorläufigen Regelung der deutschen Reparationsverpflichtungen gelang sowie seine erfolgreiche Politik, mit den westlichen Alliierten, namentlich mit Frankreich, zu einem Ausgleich zu kommen, der die Chancen einer „Normalisierung“ der weltwirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten für die deutschen Unternehmen deutlich verbesserte. 53 Die Zusammenhänge bei Heike Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, Göttingen 2010. 54 Vgl. Werner Plumpe, Betriebliche Mitbestimmung in der Weimarer Republik. Fallstudien zum Ruhrbergbau und zur Chemischen Industrie, München 1999, 190–195. Siehe auch Dieter Schiffmann, Von der Revolution zum Neunstundentag. Arbeit und Konflikt bei BASF 1918–1924, Frankfurt a. M. 1983.

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Zwar blieb auch die Dawes-Plan-Lösung,55 mit der das Deutsche Reich für seine Bereitschaft, sich regelmäßigen Zahlungsannuitäten zu unterwerfen und dafür wichtige Souveränitätsrechte an eine internationale Reparationsagentur abzutreten, wieder Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten erhielt, im Kern eine ungeliebte Sache, deren moralische Rechtfertigung Duisberg niemals einsah. Aber mit Deutschlands Beitritt zum Völkerbund, der Wiederherstellung seiner handelspolitischen Souveränität und der Transformation der Reparationsbelastung in unter günstigen Bedingungen immerhin bewältigbare jährliche Zahlungen waren wichtige Voraussetzungen für eine Reintegration des Landes in die Weltwirtschaft erfüllt, die sich auch in entsprechend steigenden Importund Exportziffern niederschlugen, die bald das Vorkriegsniveau überstiegen.56 Die chemische Industrie klagte zwar wiederholt über das System der Industrieumlage, mit der ein Teil der Reparationslasten auf die Industrie verschoben wurde; Stresemanns Außenpolitik bis hin zum Young-Plan von 1929, mit dem eine dauerhafte Lösung der Reparationsfrage möglich werden sollte, stieß indes zu keinem Zeitpunkt auf Ablehnung oder Kritik. Die Exporterfolge der chemischen Industrie waren gut, die Lage der Branche verglichen mit den Krisenbranchen Bergbau, Schwerindustrie, Textilwirtschaft oder Landwirtschaft, günstig; ihre internationale Kreditfähigkeit unbezweifelt.57 Die Kritik an der Weimarer Wirtschafts- und Sozialpolitik war gleichwohl nicht gering, doch betraf diese weniger das Reparationsproblem bzw. das Verhältnis zu den ehemaligen Kriegsgegnern, sondern die offenkundigen Funktionsprobleme der Wirtschaft der Weimarer Republik.58 Zumindest für die chemische Industrie war das Reparationsproblem nach der Dawes-Planregelung keine zentrale Herausforderung mehr; als mit dem Young-Plan auch die Industrieumlage entfiel, wurde das begrüßt, aber von entscheidender Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung der Unternehmen, die auf den hart umkämpften Weltmärkten durchaus wettbewerbsfähig waren, war das nicht. Die im Krieg erlittenen Verluste an Vermö55 Albrecht Ritschl, Deutschlands Krise und Konjunktur 1924–1934. Binnenkonjunktur, Auslandsverschuldung und Reparationsproblem zwischen Dawes-Plan und Transfersperre, Berlin 2002. 56 Petzina, Probleme der weltwirtschaftlichen Entwicklung (wie Anm. 1). 57 Das hat ihr in der DDR-Wirtschaftsgeschichtsschreibung und ihrer Monopolgruppentheorie stets eine Art Sonderstellung verschafft, doch würde das im Lichte der neueren Forschung wohl so nicht mehr behauptet werden. Von einer „Monopolgruppe“ zu reden, geht dann doch an der Wirklichkeit vorbei. Zur Lage der I. G. Farbenindustrie AG in der Weimarer Zeit, die freilich nicht einfach auf die gesamte chemische Industrie hochgerechnet werden kann, Gottfried Plumpe, I. G. Farbenindustrie AG (wie Anm. 7), Teil IV. 58 Hierzu Werner Plumpe, Der Reichsverband der Deutschen Industrie und die Krise der Weimarer Wirtschaft, in: Andreas Wirsching (Hg.), Herausforderungen der parlamentarischen Demokratie. Die Weimarer Republik im internationalen Vergleich, München 2007, 129–157.

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genswerten und Rechten schmerzten; und die Unternehmen suchten hier, zumeist mit beschränktem Erfolg, alte Rechte zurückzuerhalten oder sich zumindest bei deren Nutzung mit den neuen Rechteinhabern zu arrangieren. Das war nur von begrenztem Erfolg; ein Anknüpfen an die Erfolgsgeschichte der Vorkriegszeit ohne Bruch nicht mehr möglich. Aber die eigentliche Bedrohung, an den Weltmärkten nicht mehr teilnehmen und die eigenen Produktivitätsvorteile nicht nutzen zu können, war schließlich vom Tisch. Es gehört zu den fatalen Ironien der neueren Wirtschaftsgeschichte, dass gerade jene Industrie, die auf die weltwirtschaftliche Integration setzte wie kaum eine andere und hierfür im Kontext der Reparationsproblematik zu großen Zugeständnissen bereit war, schließlich zum Inbegriff der nationalsozialistischen Autarkiepolitik wurde, die genau jene Integration zur Sicherung autonomer Handlungsfähigkeit beenden wollte.59

6 Fazit Die deutsche chemische Industrie hatte in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg einen beispiellosen Aufstieg erlebt. Das weite Feld der organischen Chemie beherrschte sie mehr oder weniger souverän; auch im Bereich der pharmazeutischen Fertigung dominierte sie die Weltmärkte mit großem Abstand. Und selbst im Bereich der anorganischen Produkte und der Rohstoffe hatte sie sich aus der herkömmlichen Abhängigkeit von ausländischen Lieferungen sukzessive befreit bzw. begann diese Lieferungen durch synthetische Produkte zu substituieren. Der Krieg mit seinen umfangreichen Blockaden zerstörte dieses „Geschäftsmodell“ nicht nur; er setzte über dessen Fortführung nach seinem Ende auch ein großes Fragezeichen, weil die Kriegsgegner keine Fortsetzung der älteren Erfolgsgeschichte wünschten und die Industrie selbst zu umfangreichen Reparationslieferungen verpflichtet wurde, mit denen auch das Verbot ganzer Produktionslinien verbunden war oder zumindest drohte. In den Kreisen der chemischen Industrie, für die beispielhaft die Gruppe der I. G. Farbenindustrie und namentlich deren maßgeblicher Motor Carl Duisberg im Mittelpunkt der Betrachtungen stand, war diese Konstellation seit Kriegsausbruch mehr oder weniger präsent; fraglich war nur, ob Deutschland aus dem Konflikt siegreich hervorgehen würde oder seine Industrie zum Gegenstand der mehr oder weniger einseitigen Festlegungen der Siegermächte würde. Dass es so oder so

59 Trotz einiger mittlerweile revidierter Ergebnisse immer noch lesenswert Dietmar Petzina, Autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan, Stuttgart 1968.

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schwer würde, an die traditionellen Erfolge anzuknüpfen, war unstrittig; die Vorbereitungen auf die Nachkriegszeit begannen insofern de facto mit Kriegsausbruch. Ihre Hauptbestandteile waren einerseits die Bildung von Reserven, um die an den Krieg anschließende Konversionsphase finanzieren zu können, sowie die Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Produktivität und zur Garantierung der Innovationsfähigkeit der Branche, wozu auch die Reorganisation der Unternehmensstrukturen gehörte. Ziel war, eine möglichst rasche Rückkehr auf die Weltmärkte zu ermöglichen, und genau dieses Ziel wurde durch die alliierten Reparationsforderungen und die damit verbundenen Schritte zur Demilitarisierung der deutschen Wirtschaft massiv bedroht. Dabei waren es zumindest aus der Sicht der I. G. weniger die materiellen Forderungen selbst, so empört über sie auch gesprochen wurde. Diese konnten (und wurden es faktisch auch) eine Chance zur Rückkehr auf die eigentlich verschlossenen Märkte der ehemaligen Kriegsgegner werden. Vielmehr galt es umfangreiche Produktionsverbote im zukunftsträchtigen Bereich der Großsynthese ebenso zu vermeiden wie die generelle Blockade des deutschen Weltmarktzugangs zu beenden, die ja bis zum Vertrag von Versailles weiter fortbestand. Die Spitzen der I. G. Farbenindustrie betrieben daher von Anfang an trotz aller anderslautenden Rhetorik eine „Erfüllungspolitik wider Willen“ und waren dabei zu erheblichen Zugeständnissen vor allem an die französische Seite bereit, mit der auch „private“ Verhandlungen aufgenommen wurden, um staatlichen Restriktionen zuvorzukommen bzw. ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Auch wenn das im Einzelnen schwierig und mit Konflikten und Enttäuschungen verbunden war, so war doch auch der französischen Seite bewusst, dass eine Kooperation mit der hochproduktiven deutschen Chemie und ihren technologischen Kapazitäten vorteilhaft sein musste, sodass schließlich ein Arrangement entstand, mit dem zumindest die I. G. Farbenindustrie leben konnte. Als überdies mit dem DawesPlan 1924 die Reparationsproblematik generell entschärft schien, war die Erleichterung groß, auch wenn die sich aus den Reparationen ergebenden Konsequenzen für die deutsche Leistungsbilanz einerseits, das Steuer- und Abgabensystem andererseits weiterhin beklagt wurden. Doch wurde zum Adressaten der Kritik nun mehr und mehr die deutsche Innenpolitik, die sich aus der Sicht der chemischen Industrie nicht imstande zeigte, die notwendigen innenpolitischen Reformen auf den Weg zu bringen, die als Bedingung eines industriellen Wiederaufstiegs zwingend erschienen. Die „Erfüllungspolitik wider Willen“ war hingegen erfolgreich, und zumindest Carl Duisberg wurde ein begeisterter Anhänger Gustav Stresemanns, als sich zeigte, dass der Weg auf die Weltmärkte wieder offen war.

Johannes Bähr

Orientierung in ungewissen Zeiten Bosch und Siemens nach dem Ersten Weltkrieg „Und nun? Wie wird sich die Zukunft gestalten? Niemand weiß es.“ – So kommentierte der Bosch-Zünder, die Werkzeitschrift der Robert Bosch AG, die Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 28. Juni 1919.1 Ähnlich äußerte sich Carl Friedrich von Siemens, der damalige Chef des Siemens-Konzerns, Ende Januar 1921 zu den Beschlüssen der Pariser Konferenz über die Reparationen: „Welchen Einfluss aber das in Paris ausgeheckte Wahngebilde auf unser und der Welt Wirtschaftsleben ausüben wird, kann niemand voraussagen.“2 Versailles führte in den Unternehmensleitungen zu erhöhter Ungewissheit, der Friedensvertrag wurde als eine Hypothek empfunden, von der man nicht wusste, wie hoch sie ausfallen würde. Es war nicht die einzige Unwägbarkeit, der man sich damals gegenübersah. Auch Geldentwertung, Rohstoffmangel, Kapitalnot und Streiks ließen die wirtschaftliche Zukunft unsicher erscheinen. Gleichwohl kam den Folgen des Friedensvertrages ein besonderer Stellenwert zu, weil nicht klar war, wie sie sich auf das vorrangige Ziel der Geschäftspolitik auswirken würden: Die zumindest annäherungsweise Wiederherstellung der früheren Position auf dem Weltmarkt. Siemens und Bosch hatten vor dem Ersten Weltkrieg zu den Global Playern der deutschen Industrie gehört. Durch den Krieg hatten sie die wichtigsten Auslandsmärkte und den größten Teil ihres Auslandsvermögens sowie ihrer Auslandspatente verloren. Geblieben war die Überzeugung, dass die Aussichten für die Zukunft von der Entwicklung des internationalen Geschäfts abhingen. Schon die bis Juni 1919 dauernden Friedensverhandlungen wurden als eine lange Phase der Ungewissheit wahrgenommen.3 Durch den Friedensvertrag wurden die Fragezeichen noch größer, nicht nur wegen einzelner Bestimmungen wie der Verpflichtung, den Siegermächten fünf Jahre lang einseitig die Meistbegünstigung zu gewähren, sondern auch weil entscheidende Punkte ungeklärt blieben: die Höhe der Reparationsleistungen, die erst auf der Londoner Konfe-

1 Jetzt erst recht! Ein Wort zum 28. Juni 1919, in: Der Bosch-Zünder 5 (1919), 73. 2 Carl Friedrich von Siemens, Bericht in der Generalversammlung der Siemens & Halske AG am 31.1.1921, 4, in: Reden und Aufsätze von Dr. Carl Friedrich von Siemens, Bd. 1, Ms., Siemens Historical Institute [künftig: SHI]. 3 Unser drittes Geschäftsjahr, in: Der Bosch-Zünder 3 (1920), 41. https://doi.org/10.1515/9783110765359-010

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renz vom Frühjahr 1921 festgelegt wurde, und die Konditionen des Friedensvertrages mit den USA, der erst im August 1921 zustande kam. Ein Jahr nach Unterzeichnung des Versailler Vertrages führte der damals noch recht unbekannte amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Frank H. Knight die Unterscheidung zwischen Risiko und Unsicherheit in die ökonomische Theorie ein.4 Er hatte dabei mehr die amerikanische Wirtschaft der Vorkriegszeit im Blick, doch traf seine Definition der „true uncertainty“ recht genau auf die Herausforderung zu, vor die sich viele deutsche Unternehmer nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gestellt sahen: eine Situation, in der die zukünftige Entwicklung in keiner Weise vorhergesehen oder berechnet werden kann. Auf das gängige Muster, Erwartungen für die Zukunft an den Bedingungen der Gegenwart auszurichten, konnten sich die Akteure in einer derartigen Zeit der Umbrüche nicht stützen.5 Im Folgenden wird zunächst zu fragen sein, welche Erwartungen die Unternehmensleitungen von Bosch und Siemens damals entwickelten, welche Entscheidungen sie trafen und wie diese entstanden. In einem weiteren Teil wird darauf eingegangen, wie sich der Wandel der Rahmenbedingungen im Laufe der 20er Jahre auswirkte und inwieweit es den Unternehmen gelang, ihre Ziele zu erreichen. An der Spitze der untersuchten Unternehmen standen zwei Industrielle von besonderem Format: Robert Bosch und Carl Friedrich von Siemens. Robert Bosch leitete das von ihm gegründete Unternehmen seit mehr als 30 Jahren. Bei der 1917 erfolgten Umwandlung in eine Aktiengesellschaft übernahm er den Vorsitz des Aufsichtsrats.6 Carl Friedrich von Siemens, der jüngste Sohn von Werner von Siemens, war erst 1919 an die Spitze des Konzerns aufgerückt, als Aufsichtsratsvorsitzender der Siemens & Halske AG und der Siemens-Schuckertwerke GmbH.7 Beide Industrielle gehörten zu der Minderheit prominenter Unternehmer, die sich zur Demokratie der Weimarer Republik bekannten. Beide empörten sich über den Versailler Vertrag als Gewaltdiktat der Sieger, stellten sich aber pragmatisch auf die Gegebenheiten ein.

4 Frank H. Knight, Risk, Uncertainty and Profit, Boston 1921. 5 Zur ökonomischen Erwartungstheorie und dem von Keynes eingeführten Erwartungsbegriff siehe Mark Jakob u. a., Erfahrung und Erwartung – eine vernachlässigte wirtschaftshistorische Perspektive?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2018), 329 ff. 6 Zur Biografie Robert Boschs vgl. Peter Theiner, Robert Bosch. Unternehmer im Zeitalter der Extreme. Eine Biographie, München 2017; Johannes Bähr u. a., Bosch. Geschichte eines Weltunternehmens, München 2013, 19–32. 7 Vgl. Carl Friedrich von Siemens. Architekt des Hauses Siemens, in: Siemens Historical Institute (Hg.), Zukunft gestalten. Die Siemens-Unternehmer 1847–2018, Hamburg 2018, 115–154, sowie die ältere Biografie von Georg Siemens, Carl Friedrich von Siemens. Ein großer Unternehmer, Freiburg i. Br. 21962.

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1 Weltmarktorientierung und Kriegsfolgen Siemens und Bosch gehören gewissermaßen zum Urgestein der deutschen Industrie. Weniger bekannt ist, dass beide ihren Aufstieg Geschäften im Ausland verdankten. Die 1847 in Berlin gegründete Telegrafenbauanstalt Siemens & Halske wuchs mit Aufträgen aus Russland und dem Vereinigten Königreich. In St. Petersburg entstand eine bedeutende Auslandsniederlassung, später auch mit eigener Fertigung, in London das Zweigunternehmen Siemens Brothers & Co. Auch wenn das deutsche Stammhaus durch den Aufstieg der elektrischen Energietechnik (Starkstromtechnik) und die Gründung eines eigenen Unternehmens für diese Fertigungen, die Siemens-Schuckertwerke, eine dominante Stellung erlangte, blieb Siemens bis zum Ersten Weltkrieg ein multinationales Konglomerat.8 Das 1886 von Robert Bosch in Stuttgart gegründete Unternehmen erlebte vor dem Ersten Weltkrieg einen steilen Aufstieg zum Weltmarktführer bei Magnetzündern für Benzinmotoren. Das sprunghafte Wachstum beruhte in erster Linie auf der Nachfrage des Automobilmarkts in den USA, wo eine Tochtergesellschaft mit einem bedeutenden Werk in Springfield/Conn. entstand. 1913 entfielen bei Bosch 88,7 Prozent des Umsatzes auf das Ausland, der Marktanteil der Bosch-Zünder lag in den USA bei 65 Prozent, in Großbritannien bei 90 Prozent und in Frankreich bei 85 Prozent.9 Über der Gemeinsamkeit der Weltmarktorientierung sollte nicht übersehen werden, dass zwischen Siemens und Bosch auch signifikante Unterschiede bestanden. Bosch hing vollständig vom volatilen Kraftfahrzeugmarkt ab, während bei Siemens & Halske das Behördengeschäft eine wichtige Rolle spielte und die Siemens-Schuckertwerke vor allem langfristige Aufträge ausführten. Ganz erhebliche Unterschiede gab es auch bei der Größenordnung. 1913 war Siemens mit rund 82.000 Beschäftigten, davon 63.000 im Inland, einer der größten deutschen Konzerne, Bosch hingegen eher ein Spezialunternehmen mit 4.500 Beschäftigten.10 Durch den Ersten Weltkrieg verlor Siemens seine wichtigsten Auslandsmärkte Russland, Großbritannien und Frankreich. Bosch musste fast sein gesamtes Auslandsgeschäft einstellen. Nur knapp sieben Prozent des Vorkriegs-

8 Vgl. Wilfried Feldenkirchen, Siemens. Von der Werkstatt zum Weltunternehmen, München 1997. 9 Robert Bosch AG, Unsere Zukunft (23.1.1919), in: Unternehmensarchiv der Robert Bosch GmbH [künftig URB], 1-832-067. Zur Geschichte von Bosch siehe Bähr u. a., Bosch (wie Anm. 6). 10 Feldenkirchen, Siemens (wie Anm. 8), 678; Bähr u. a., Bosch (wie Anm. 6), 664.

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umsatzes entfielen auf verbündete oder neutrale Staaten.11 Die Vermögenswerte und Patente in den Ländern der Kriegsgegner wurden erst blockiert, später in den meisten Fällen konfisziert. Siemens erlitt allein durch die Enteignung der Konzernzweige in London und St. Petersburg Kapitalverluste, die höher waren als das Grundkapital von Siemens & Halske.12 Gravierend waren auch die Veränderungen auf den Märkten in Großbritannien, Frankreich und den USA. Die früheren Gesellschaften von Siemens und Bosch in diesen Ländern führten ihre Fertigung unter anderer Flagge fort. Hinzu kamen neue Hersteller, die während des Krieges die Marktlücken besetzt hatten, die durch den Ausfall von Lieferungen aus Deutschland entstanden waren. Allein in Großbritannien bauten nun 14 Unternehmen Bosch-Zünder nach.13 Diese Verschiebungen wären auch bei einem für Deutschland günstigeren Friedensvertrag bestehen geblieben. Gleiches gilt für die technologischen Rückstände. In einigen Bereichen der Elektrotechnik, besonders bei elektrischen Kraftfahrzeugausrüstungen, hatten amerikanische Unternehmen die Technologieführerschaft übernommen.

2 Siemens: Priorität für Sicherheit Bei Siemens gab es keine Planung für die Nachkriegszeit. Zu unwägbar waren viele Faktoren, das galt für die politischen Rahmenbedingungen in Deutschland nicht weniger als für die Absatzmöglichkeiten im Ausland. Nachdem in den ersten Nachkriegsmonaten die Bewältigung der Demobilmachung und die Abwehr revolutionärer Aktionen im Vordergrund gestanden hatten, wurden die Kosten und der Kapitalbedarf zum alles überlagernden Problem. Die Vermögensverluste durch die Enteignungen im Ausland, die Aufwendungen für die Umstellung auf die Friedenswirtschaft, die Verteuerung der Rohstoffe und steigende Personalkosten führten zu einer drückenden Kapitalnot. So heißt es im Finanzbericht der Siemens-Schuckertwerke für Juli 1920: „Wir mussten Unsummen in die Werke stecken, um den Betrieb auch nur für wenige Monate zu sichern.“14 In der

11 Robert Bosch AG, Unsere Zukunft (23.1.1919), in: URB, 1-832-067. 12 Carl Friedrich von Siemens, Die Tätigkeit des Siemens-Konzerns während des Krieges, in: Siemens-Mitteilungen Nr. 2 (März 1919). Der Verlust an Auslandsvermögen belief sich demnach auf 79 Mio. Mark, das Aktienkapital von Siemens & Halske betrug bei Kriegsende 63 Mio. Mark. 13 Robert Bosch AG, Unsere Zukunft (23.1.1919), in: URB, 1-832-067. 14 Zit. nach: Ernst Waller, Studien zur Finanzgeschichte des Hauses Siemens, Teil V, 30, in: SHI, SAA 20.Ld.366.

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Presse kursierten Schätzungen, wonach der Geldbedarf der Siemens-Firmen zwischen 500 bis 700 Mio. Mark lag.15 Die Konzernführung sah sich in einem Dilemma. Einerseits orientierten sich ihre Erwartungen am Vorkriegsstand und an überlieferten Prinzipien. Man setzte auf die „alten anerkannten Grundsätze des Fortschritts“, vor allem auf Kostensenkungen und Produktivitätssteigerungen.16 Andererseits war man sich darüber im Klaren, dass dies unter den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht genügte. Angesichts der Geldentwertung war Carl Friedrich von Siemens spätestens ab dem Sommer 1920 überzeugt, dass eine verlässliche Kalkulation nicht mehr möglich war: „Wir leben alle in einer Zeit der Spekulation“.17 Zur Überwindung des Kapitalmangels war der klassische Weg einer Kapitalerhöhung naheliegend, doch angesichts der Höhe des Kapitalbedarfs drohte dadurch die Familie Siemens an Einfluss zu verlieren. Die Familie hielt bisher noch die Majorität des Aktienkapitals von 63 Mio. Mark. Bei einer Verdoppelung, wie sie Finanzvorstand Max Haller vorschlug, würde sie die Mehrheit verlieren. Die Konzernleitung befürchtete, dass in diesem Fall ausländische Investoren entscheidenden Einfluss gewinnen könnten. Zwei niederländische Banken und die US-Bank Goldman Sachs signalisierten im Frühjahr 1920 bereits Interesse an der Übernahme einer Kapitalbeteiligung.18 Angesichts des Wertverlusts der deutschen Währung schürten die Verhandlungen über eine ausländische Beteiligung die Furcht vor einer Übernahme. Haller hatte bereits in einem internen Memorandum vom Februar 1920 vorgerechnet, dass ein Betrag von 800.000 USDollar ausreichen würde, bei Siemens & Halske die Majorität zu erwerben.19 Um den Einfluss der Familie zu sichern und eine Übernahme zu verhindern, schlug der Finanzvorstand vor, das Aktienkapital auf 126 Mio. Mark zu verdoppeln und für die dem Bindungsvertrag von 1897 unterliegenden Aktien der Familie ein 30faches Stimmrecht eintragen zu lassen. Im Mai 1920 stimmten der Aufsichtsrat und eine außerordentliche Generalversammlung dieser Lösung zu.20 15 Der Elektromontantrust, in: Frankfurter Zeitung (5.11.1920). 16 Carl Friedrich von Siemens, Vorschlag der Gründung einer Interessengemeinschaft. Rede, gehalten in der Generalversammlung der Siemens & Halske AG, am 29.12.1920, in: Reden und Aufsätze, Bd. 1. 17 Carl Friedrich von Siemens, Zur Wirtschaftslage. Rede in einer von der DDP in Leipzig einberufenen Versammlung am 31.8.1920, in: ebd. 18 Aktennotiz Max Haller betr. Verhandlungen und Aktienerwerb durch holländische Bankinstitute, 12.5.1920, in: SHI, SAA 11.Lb 304; Aktennotiz Max Haller betr. Aktienerwerb durch Bankhaus Goldman Sachs, 14.5.1920, in: ebd. 19 Max Haller, Denkschrift betr. Kapitalerhöhung der Siemens & Halske AG, 10.2.1920, in: ebd. 20 Carl Friedrich von Siemens, Bericht in der Generalversammlung von Siemens & Halske am 18.5.1920, in: Reden und Aufsätze, Bd. 1.

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Für die Leitung des Unternehmens stand damit noch nicht fest, dass die Zukunft gesichert war. Ein Angebot des Schwerindustriellen Hugo Stinnes, eine Interessengemeinschaft zu bilden, stieß auf viele Sympathien. Derartige Zusammenschlüsse lagen in der Zeit, sie schienen eine Absicherung gegen die Erschütterungen der Nachkriegswirtschaft zu bieten. Bei Siemens erwartete man sich von einer Interessengemeinschaft mit dem größeren Stinnes-Konzern eine Sicherung der Rohstoffversorgung, aber auch eine finanzielle Rückversicherung und weitere Verbindungen im Ausland.21 Allerdings verstieß die Bildung eines „Elektromontantrusts“ gegen wichtige Prinzipien der Siemens-Stammfirmen: die Wahrung der Unabhängigkeit und die Beschränkung auf das Gebiet der Elektrotechnik. Carl Friedrich von Siemens fiel die Entscheidung nicht leicht, Schließlich stimmte er zu, weil – wie er später schrieb – auch „die künstlich gesteigerte Ängstlichkeit vieler Familienmitglieder“ zu berücksichtigen war.22 Vor der Generalversammlung begründete er die Bildung der Interessengemeinschaft mit der Notwendigkeit einer „Anpassung an die Verhältnisse“ und der „Stärke im Zusammenschluss der Kräfte“.23 Ähnlich wie die verunsicherten Familienaktionäre erwartete die Konzernführung von der Interessengemeinschaft eine größere Sicherheit. Die Interessengemeinschaft Siemens-Rheinelbe-Schuckert-Union bedeutete zwar keine Fusion, band aber die beteiligten Unternehmen durch eine gemeinsame Lenkungsgesellschaft, Kapitalbeteiligungen, Sonderkonditionen und einen Gewinnverteilungsschlüssel aneinander. In der Hyperinflation zeigte sich, dass die Anlehnung an den Stinnes-Konzern für Siemens eine finanzielle Absicherung bedeutete.24 Insgesamt erfüllte die Interessengemeinschaft jedoch nicht die Erwartungen. Die Synergieeffekte waren gering, die vertikale Zusammenarbeit brachte wenig Nutzen ein. Siemens drängte schließlich auf eine Auflösung als der Konzern ab 1924 Gewinne erzielte, während seine schwerindustriellen Partner Verluste erwirtschafteten. Als Schlussbilanz der Siemens-Rheinelbe-Schuckert-Union stellte Carl Friedrich von Siemens fest, dass „so gut wie nichts dabei herausgekommen“ sei.25 Über dem Drang nach größerer Sicherheit hatte man bei Siemens die Probleme dieser Konstruktion unterschätzt. 21 Siemens, Carl Friedrich von Siemens (wie Anm. 7), 153 ff. 22 Carl Friedrich von Siemens an Albert Vögler, 27.12.1925, in: SHI, SAA 4.Lf 635. 23 Carl Friedrich von Siemens, Vorschlag der Gründung einer Interessengemeinschaft. Rede, gehalten in der Generalversammlung der Siemens & Halske AG, am 29.12.1920, in: Reden und Aufsätze, Bd. 1. 24 Stinnes verhinderte damals mit einer Finanzhilfe in Devisen, dass Siemens eine Beteiligung an General Electric abgeben musste. Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870–1924, München 1998, 828. 25 Carl Friedrich von Siemens an Albert Vögler, 25.12.1925 (Entwurf), in: SHI, SAA 4.Lf 635.

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Im Auslandsgeschäft setzte Siemens darauf, traditionelle Geschäftsverbindungen wiederzubeleben. Da die Märkte in Frankreich und Großbritannien durch hohe Zölle und nichttarifäre Handelshemmnisse abgeriegelt waren, wurde die Präsenz in Ost- und Südeuropa, Ostasien und Südamerika ausgebaut. Auf dem nordamerikanischen Markt war der Konzern vor dem Ersten Weltkrieg nur mit Spezialartikeln vertreten gewesen. Dort rechnete man sich auch jetzt keine Chancen aus.26 Dagegen konnte in Japan nahtlos an Geschäftsverbindungen aus der Vorkriegszeit angeknüpft werden.27 Der größte Teil des deutschen Elektroexports entfiel freilich weiterhin auf Länder, die im Krieg neutral gewesen waren. Mit gewissen Abweichungen dürfte dies auch für die Siemens-Firmen gegolten haben. Nach der Statistik der Außenhandelsstelle des Zentralverbands der deutschen elektrotechnischen Industrie (ZVEI) entfielen 1919/20 38 Prozent des deutschen Elektroexports auf die Niederlande (1913: 5 Prozent). Die skandinavischen Länder hatten einen Anteil von 31 Prozent, Frankreich und Großbritannien zusammen nur einen Anteil von knapp ein Prozent. 1913 waren Großbritannien und Russland noch die wichtigsten Exportmärke für die deutsche Elektroindustrie gewesen.28 Schon wenige Wochen nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages hatte es bei Siemens Überlegungen gegeben, die Reparationssachlieferungen für die Rückkehr auf verlorengegangene Exportmärkte zu nutzen. Die Lieferungen sollten so ausgeführt werden, dass sie zu Folgeaufträgen der Reparationsempfänger für Reparaturen und Ersatzteile führen würden.29 Diese vor allem mit Blick auf den französischen Markt konzipierte Strategie konnte wegen des Widerstands der französischen Industrie erst acht Jahre später bei einem Großauftrag umgesetzt werden. Der Anteil der Reparationssachlieferungen am Export der deutschen Elektroindustrie lag auch dann nur zwischen drei und sechs Prozent.30

26 Vgl. Ulrich Kreutzer, Von den Anfängen zum Milliardengeschäft. Die Unternehmensentwicklung von Siemens in den USA zwischen 1845 und 2001, Stuttgart 2013, 89–102. 27 Zur Siemens-Schuckert Denki Kabushiki Kaisha in Japan siehe Dennis Kirchberg, Analyse der internationalen Unternehmenstätigkeit des Hauses Siemens in Ostasien vor dem Zweiten Weltkrieg, Rer.pol. Diss., Erlangen-Nürnberg 2010, 125 ff. 28 Außenhandelsstelle der Elektrotechnik, Verteilung der Ausfuhr elektrotechnischer Erzeugnisse auf die verschiedenen Länder vom Juni 1919 bis Februar 1920, in: SHI, SAA 4.Lb 357. Für 1913: Wirtschaftliche Mitteilungen aus dem Siemens-Konzern 9 (1920), 96. 29 Niederschrift betr. Wiedergutmachung, 30.7.1919, in: SHI, SAA 11.Lg 763. Siehe hierzu Christopher Heise, Materialisierung historischer Verantwortung. Deutsche Reparationssachlieferungen nach Frankreich am Beispiel von Siemens 1918–1932, Masterarbeit Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2020. 30 Peter Czada, Die Berliner Elektroindustrie in der Weimarer Zeit, Berlin 1969, 145 f.

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Im August 1920 konnte man bei Siemens feststellen, dass die als Folge des Kriegsausgangs befürchtete Katastrophe ausblieb und das Exportgeschäft durch die Geldentwertung unerwartet stark zunahm: „Die fallende Valuta brachte uns zusammen mit der steigenden Inflation im Gegenteil eine beängstigende Hausse.“31 Der währungsbedingte Preisvorteil öffnete im Ausland viele Türen, die seit dem Krieg verschlossen waren. Zugleich schottete der Verfall der deutschen Währung den Heimatmarkt gegenüber ausländischen Wettbewerbern ab. Welche Dynamik diese Entwicklung in den folgenden Jahren annahm, zeigt eine interne Statistik der Siemens-Schuckertwerke, die in einer inflationsbereinigten Recheneinheit, der „Grundmark“, geführt wurde. Der Anteil des Auslandsgeschäfts am Umsatz lag bereits im Geschäftsjahr 1920/21 bei 44 Prozent und damit über dem Stand von 1913. In den Geschäftsjahren 1921/22 und 1922/ 23 wurde ein historischer Höchstwert von 66 Prozent erreicht. Durch die Gewinne im rasch wachsenden Auslandsgeschäft konnten die Siemens-Schuckertwerke mehr als ein Viertel der inflationsbedingten Verluste wettmachen.32 Der hohe Anteil des Exports ergab sich allerdings auch aus der Schwäche der Inlandsnachfrage. In absoluten Werten lagen der gesamte Umsatz und der Auslandsumsatz inflationsbereinigt selbst 1922/23 noch unter dem Vorkriegsstand.33 Bei Siemens wurde der damalige Exportboom gerne auch auf die Qualität der Produkte zurückgeführt. Das mag eine Rolle gespielt haben, doch entscheidend war eben der Währungsfaktor und nicht die Strategie der „Stärke im Zusammenschluss der Kräfte“. Die Interessengemeinschaft bewährte sich gerade im Auslandsgeschäft nicht. Wiederholt kam es zu Konflikten, weil Unternehmen des Stinnes-Konzerns versuchten, sich die Auslandsvertretungen von Siemens zu Nutze zu machen.34 In Siemensstadt wusste man natürlich, dass der künstliche Wettbewerbsvorteil durch die Inflation nicht von langer Dauer sein würde. Für eine dauerhafte Stärkung der Position auf dem Weltmarkt bedurfte es auch der Beseitigung von Handelshemmnissen und einer Überwindung der eingetretenen technologischen Rückstände. Siemens war vor allem in der Kraftwerkstechnik zurückgefallen.35 Bedingt war dies nicht durch den Verlust der Auslandspatente und des Auslandsvermögens, sondern durch Probleme bei der Vorfinanzierung, der Rohstoffversorgung 31 Wirtschaftliche Mitteilungen aus dem Siemens-Konzern 9 (1920), 96 f. 32 Carl Köttgen, Erinnerungen, Teil 3, 2. Halbbd., Teil N, 57, in: SHI, SAA 47.Lg 768. Zum Vorkriegsstand: Wilfried Feldenkirchen, Siemens 1918–1945, München 1995, 662, Tab. 21. 33 Ernst Waller, Studien zur Finanzgeschichte des Hauses Siemens, Teil V, 72, in: SHI, SAA 20. Ld 366. 34 Carl Friedrich von Siemens an Albert Vögler, 14.5.1923, in: SHI, Briefe A2039. 35 Feldenkirchen, Siemens 1918–1945 (wie Anm. 32), 240.

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und der Materialbeschaffung. Als ein weiterer Nachteil erwies sich der vor dem Krieg gefasste Beschluss der Unternehmensleitung, auf den Bau von Turbinen zu verzichten.36 In der Forschung konnte Siemens durch den Krieg nicht mit dem Kapazitätsausbau bei amerikanischen und europäischen Wettbewerbern Schritt halten. Während General Electric und Philips ihre Laboratorien stark erweiterten, zog sich die im Frühjahr 1914 beschlossene Errichtung eines großen Forschungslaboratoriums in Siemensstadt bis 1920 hin.37

3 Bosch: Vertrauen auf Erfahrung und Werte Auch bei Bosch hatte die Leitung keinen Plan für die Nachkriegszeit. Doch war absehbar, dass sich das Unternehmen in der Zukunft bei weitem nicht mehr so stark wie vor dem Krieg auf das Auslandsgeschäft stützen konnte. Der Anteil des Auslands am Umsatz lag 1919 gerade noch bei 14,8 Prozent gegenüber 88,7 Prozent im Jahr 1913.38 Vor diesem Hintergrund ging die Unternehmensleitung davon aus, dass Kapazitäten abgebaut werden mussten. Im Januar 1919 kündigte der Vorstand ein Schrumpfungsprogramm an: Wir müssen uns unter allen Umständen auf ein wesentliches Zurückgehen unserer Umsätze einstellen und dauernd mit einem geringeren Umfang unserer Werke und einer unter den alten Friedensstand herabgesetzten Zahl unserer Betriebsangehörigen rechnen, sofern wir nicht neue, für unser Fabrikationsprogramm geeignete Erzeugnisse aufnehmen und die Absatzgebiete für sie finden können.39

Diese Vorgaben konnten zunächst wegen der revolutionären Unruhen und dann wegen der zunehmenden Geldentwertung nicht konsequent umgesetzt werden. Die Beschäftigtenzahl ging zwar 1919 drastisch zurück, vor allem wohl durch die Entlassung der während des Krieges eingestellten Hilfsarbeiterinnen, lag aber immer noch um ein gutes Drittel über dem Vorkriegsstand und nahm im folgenden Jahr um rund ein Viertel zu.40 Durch Überkapazitäten, höhere

36 Ebd., 297. 37 Ferdinand Trendelenburg, Aus der Geschichte der Forschung im Hause Siemens, Düsseldorf 1975, 45 ff.; Paul Erker, Die Verwissenschaftlichung der Industrie. Zur Geschichte der Industrieforschung in den europäischen und amerikanischen Elektrokonzernen 1890–1930, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 2 (1990), 78 f. 38 Bähr u. a., Bosch (wie Anm. 6), 665. 39 Robert Bosch AG, Unsere Zukunft (23.1.1919), in: URB, 1-832-067. 40 Bähr u. a., Bosch (wie Anm. 6), 665.

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Rohstoffpreise und Personalkosten stieg der Kapitalbedarf an. Im März 1920 übertrafen die Bank- und Darlehensschulden bereits das Aktienkapital.41 Je größer die Unwägbarkeiten wurden, desto mehr setzte man bei Bosch auf traditionelle Stärken. Anfang 1919 hatte der Vorstand noch mit Effizienzkriterien argumentiert und betont, dass die Hoffnungen auf zukünftige Erfolge von den „Gestehungskosten“ abhängen würden.42 Dieser Erwartung wurde durch die zunehmende Inflation die Kalkulationsgrundlage entzogen. An ihre Stelle traten Erfahrungswerte, wie sie das Vorstandsmitglied Gottlob Honold, ein Ingenieur, der als Erfinder der Hochspannungs-Magnetzündung in die Technikgeschichte eingegangen ist, in der Geschäftsratssitzung vom 22. März 1921 beschwor: „Wir könnten uns in Zukunft nur behaupten, wenn wir auch fernerhin unverbrüchlich festhielten an dem alten bewährten Grundsatz unsres Hauses, nur das Beste auf unserm Gebiet auf den Markt zu bringen“.43 Die Wahrung der Eigenständigkeit, ein anderes traditionelles Geschäftsprinzip, stand bei Bosch im Unterschied zu Siemens nie in Frage. Das Aktienkapital befand sich vollständig in den Händen Robert Boschs und seiner engsten Mitarbeiter.44 Der Unternehmensgründer musste bei dieser Konstruktion nicht die Erwartungen anderer Aktionäre berücksichtigen. Eine Kapitalerhöhung ließ sich jedoch nur in begrenztem Rahmen realisieren – ein Risiko, das in Kauf genommen wurde, um die Eigenständigkeit zu wahren. Eine Beteiligung fremden Kapitals ließ die Satzung nicht zu und wäre auch mit dem Geschäftsmodell des Unternehmens nicht vereinbar gewesen, da sich ein Zulieferer für die gesamte Kraftfahrzeugindustrie nicht an einen Konzern binden konnte. Als im Frühjahr 1920 eine Kapitalerhöhung unumgänglich wurde, gab Bosch Obligationen in Höhe von 12 Mio. Mark aus. Zur Absicherung beschloss die Generalversammlung eine Erhöhung des Aktienkapitals von 12 auf 20 Mio. Mark, die in mehreren Raten erfolgen sollte und zum größten Teil aus den Gewinnen finanziert werden musste.45 Schon ein Jahr später wurde das Aktienkapital wegen der beschleunigten Inflation auf 50 Mio. Mark erhöht.46 Innerhalb des Unternehmens gab es inzwischen heftige Diskussionen um eine Erweiterung der Produktpalette. Der Betriebsratsvorsitzende Seidel sah in dieser Frage nach den Beschlüssen der Londoner Reparationskonferenz vom März 1921 erhöhten Handlungsbedarf, da ohne neue Erzeugnisse weder der Beschäftigtenstand gehalten noch das Auslandsgeschäft dauerhaft ausgebaut wer41 42 43 44 45 46

Unser drittes Geschäftsjahr, in: Der Bosch-Zünder 3 (1920), 42. Robert Bosch AG, Unsere Zukunft (23.1.1919), in: URB, 1-832-067. Geschäftsratssitzung, in: Der Bosch-Zünder 3 (1921), 73. Siehe hierzu Bähr u. a., Bosch (wie Anm. 6), 89 u. 166 f. Unser drittes Geschäftsjahr, in: Der Bosch-Zünder 3 (1920), 42 f. Unser viertes Geschäftsjahr, in: Der Bosch-Zünder 3 (1921), 87.

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den könnten.47 Doch in der Unternehmensleitung überwogen „Traditionalisten“ wie Honold, der zur Vorsicht mahnte, um nicht durch Qualitätsprobleme bei der Fertigung neuer Produkte „den guten Namen ‚Robert Bosch‘ zu gefährden“.48 So blieben die Neuerungen recht überschaubar und durchweg im angestammten Fertigungsbereich, der Kraftfahrzeugtechnik. Lichtmaschinen und Scheinwerfer, wie sie Bosch jetzt neben den Magnetzündern herstellte, hatte das Unternehmen schon 1913 auf den Markt gebracht, aber während des Krieges nicht mehr fertigen können. Amerikanische Firmen hatten inzwischen ihren schon vor dem Krieg vorhandenen Vorsprung in dieser Technik ausgebaut. Seit 1910 wurden in den USA von Delco elektrische Anlasser gefertigt, die durch Lichtmaschinen mit Strom versorgt wurden. Da die Anlasser in Serie hergestellt wurden, waren diese Batteriezündungen wesentlich preisgünstiger als die Magnetzünder. Bosch hatte gegenüber den führenden amerikanischen Herstellern nicht nur technologisch, sondern auch fertigungstechnisch den Anschluss verloren. Die Kapitalschwäche des Unternehmens und das Prinzip, nur das „Beste vom Besten“ zu fertigen, ließen eine Massenfertigung nicht zu. Dabei hatte sich unmittelbar vor Kriegsbeginn für Bosch noch eine Chance eröffnet, den sich abzeichnenden Rückstand zu verhindern. Durch den Kauf eines amerikanischen Unternehmens, der Rushmore Dynamo Works, war es den Stuttgartern im Sommer 1914 gelungen, in den Besitz eines Anlasserpatents zu gelangen. Die Perspektive, auf diese Weise rechtzeitig in die neue Technik einzusteigen, war durch den Krieg verloren gegangen. Nun musste man bei Bosch damit rechnen, dass die Anlasser von Delco und anderen amerikanischen Herstellern den Magnetzünder bald vom Weltmarkt verdrängen würden.49 Im Ausland stieß Bosch nach eigenen Angaben während des ersten Nachkriegsjahres auf „Abneigung und Misstrauen“.50 Diese Vorbehalte wollte man durch die Qualität der Produkte und zuverlässige Lieferungen überwinden. Ein weiteres Plus stellten die Auslandsvertreter dar, die fast durchweg „alte Geschäftsfreunde“ aus der Vorkriegszeit waren.51 Im Frühjahr 1920 kam in der Unternehmensleitung Zuversicht auf. Robert Bosch schrieb damals an Fritz Egnell, den langjährigen Vertreter in Stockholm: „Wenn wir nun noch Warenkredite in Amerika kriegen, wozu Aussicht vorhanden ist, und wenn vollends der Versailler Vertrag geändert wird, so kann man ja vielleicht daran denken, dass wir wie-

47 Vorlage der Bilanz in gemeinsamer Sitzung des Vorstands und der Betriebsausschüsse der Robert Bosch AG, 22.3.1921, in: ebd., 74. 48 Geschäftsratssitzung, in: ebd., 73. 49 Bähr u. a., Bosch (wie Anm. 6), 76 f. u. 116 f. 50 Unser drittes Geschäftsjahr, in: Der Bosch-Zünder 3 (1920), 43. 51 Unser viertes Geschäftsjahr, in: Der Bosch-Zünder 3 (1921), 70.

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der in die Höhe kommen.“52 Durch den währungsbedingten Preisvorteil nahm das Auslandsgeschäft im weiteren Verlauf dieses Jahres auch ohne Änderung des Friedensvertrages auf 57 Prozent des Umsatzes zu.53 Das war weit mehr als man erwartet hatte. Ende 1920 konnte der Unternehmensgründer und Aufsichtsratsvorsitzende feststellen, dass „der Geschäftsgang der beiden Nachkriegsjahre nicht so schlecht geworden ist wie Kriegsausgang, Umsturz und Friedensvertrag befürchten ließen.“54 In den folgenden Jahren blieb der Anteil des Auslandsgeschäfts auf einem hohen Niveau, doch die Unternehmensleitung wusste natürlich, dass es sich bei dem inflationsbedingten Exportboom um eine vorübergehende Erscheinung handelte und erwartete einen baldigen Rückschlag. Immerhin bestanden nun wieder eine leistungsfähige Vertriebsorganisation und Verkaufshäuser in mehreren europäischen Ländern. Das Ostasien-Geschäft wurde über Handelsunternehmen ausgebaut und in Buenos Aires wurde mit der Errichtung einer Tochtergesellschaft begonnen, nachdem sich Robert Bosch 1921 bei einer Südamerikareise persönlich von den Perspektiven des dortigen Markts überzeugt hatte. Entscheidend war jedoch, inwieweit eine Rückkehr auf die ehemals wichtigsten Exportmärkte in den USA, in Großbritannien und Frankreich gelang. Die Märkte in Großbritannien und Frankreich blieben durch hohe Zölle abgeschottet. Für Bosch-Zünder bestand im Vereinigten Königreich ein Einfuhrzoll in Höhe von 33 Prozent des Werts, in Frankreich sogar in Höhe von 45 Prozent.55 Auf dem amerikanischen Markt war Bosch seit 1921 wieder vertreten. Die neue Tochtergesellschaft Robert Bosch Magneto Company hatte allerdings in der American Bosch Magneto Company, der früheren, bei Kriegsende enteigneten US-Tochter, eine überlegene Wettbewerberin. Auch jahrelange Prozesse änderten daran nichts. Bosch klagte vergeblich gegen den unter skandalösen Umständen erfolgten Verkauf der ehemaligen US-Tochter durch einen korrupten Mitarbeiter des Office of Alien Property Custodian und verlor einen Prozess um die Markenrechte seiner neuen US-Gesellschaft.56

52 Robert Bosch an Fritz Egnell, 19.3.1920, in: URB, 1 014 057, Bl. 18. 53 Bähr u. a., Bosch (wie Anm. 6), 665. 54 Mit neuer Kraft ins neue Jahr!, in: Der Bosch-Zünder, 12 (1920), 261. 55 Vierteljahrsberichte für die Betriebsräte der Robert Bosch AG, in: Der Bosch-Zünder 6 (1920), 126. 56 Bähr u. a., Bosch (wie Anm. 6), 96 f. u. 138 f.

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4 Der Wiederaufstieg auf dem Weltmarkt Als der künstliche Exportvorteil nach der Währungsstabilisierung vom November 1923 wegfiel und in Folge des Dawes-Plans amerikanisches Kapital nach Deutschland strömte, verbanden sich damit bei Siemens und Bosch recht unterschiedliche Erwartungen. Siemens konnte mit Krediten und Kooperationsangeboten aus den Vereinigten Staaten rechnen. Die Führungsspitzen der US-Konzerne General Electric und Westinghouse hatten schon im September 1921 bei einem Besuch in Berlin eine Aufteilung der Märkte vorgeschlagen.57 Da General Electric dann 1923 mit der AEG einen Vertrag über den Austausch von Erfindungen und Erfahrungen geschlossen hatte, bestand bei Westinghouse großes Interesse an einem ähnlichen Abkommen mit Siemens. Der Vorstandsvorsitzende der Siemens-Schuckertwerke, Carl Köttgen, reiste im Herbst 1924 in die USA, um die Zusammenarbeit mit Westinghouse in einem Kooperationsvertrag zu besiegeln. Durch den darin vereinbarten Austausch von Patenten konnte Siemens den Rückstand in der Energietechnik aufholen. Vereinbart wurde auch eine Aufteilung der Märkte. Siemens verzichtete fortan auf Geschäfte in Nordamerika, Westinghouse auf Geschäfte in Deutschland, Österreich, Ungarn und dem Baltikum.58 Als finanzielle Absicherung gewährte die US-Bank Dillon, Read & Co. Siemens Anfang 1925 einen Kredit über 10 Mio. US-Dollar. 1926 folgte eine Anleihe in Höhe von 24 Mio. US-Dollar.59 Der Verzicht auf den USA-Markt fiel dem größten europäischen Elektrokonzern nicht schwer, zumal er im Gegenzug auf dem Heimatmarkt vor amerikanischer Konkurrenz geschützt war. Die Marktaufteilung dürfte auch dazu beigetragen haben, dass der prestigeträchtige Großauftrag zum Bau das Shannon-Wasserkraftwerks für die Elektrifizierung Irlands 1925 nicht in die USA, sondern an die Siemens-Schuckertwerke vergeben wurde. An die Stelle der aus der Notlage von 1919 eingegangenen Interessengemeinschaft war bei Siemens nun eine internationale Kooperation auf Augenhöhe getreten. Bosch hatte hingegen nach der Währungsstabilisierung eine harte Konkurrenz durch amerikanische Unternehmen zu erwarten, die – wie es in einer später verfassten Denkschrift heißt – „wirtschaftlich und in Hinsicht auf ihre Fi57 Aktennotiz über den Besuch maßgebender Herren der G. E. und Westinghouse Co. am 19.9.1921, 20.9.1921, in: SHI, SAA 8902. 58 Gemeinsame Sitzung des Aufsichtsrates der Siemens & Halske AG und der Siemens-Schuckertwerke GmbH vom 18.12.1924, in: SHI, SAA 16.Lh 262; Kreutzer, Milliardengeschäft (wie Anm. 26), 104 f.; Wilfried Feldenkirchen, Die Unternehmenspolitik des Hauses Siemens in der Zwischenkriegszeit, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (1988), 52. 59 Kreutzer, Milliardengeschäft (wie Anm. 26), 111; Feldenkirchen, Unternehmenspolitik (wie Anm. 58), 34.

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nanzkraft weit überlegen“ waren.60 Eine transatlantische Kooperation gab es bei den Kraftfahrzeugausrüstern nicht, da Bosch mit den amerikanischen Herstellern auf deren Heimatmarkt im Wettbewerb stand und dort vor dem Ersten Weltkrieg große Erfolge erzielt hatte. Nun begannen dagegen amerikanische Zulieferer wie Delco und Bendix im Gefolge der Automobilkonzerne Ford und General Motors den deutschen Markt aufzurollen. Sie boten preisgünstige Batteriezündungen an, mit denen die Magnetzünder nicht konkurrieren konnten. Ebenso wie zahlreiche deutsche Automobilhersteller geriet Bosch 1926 in eine existenzbedrohende Krise. Innerhalb eines Jahres gingen der Umsatz um ein Drittel und die Beschäftigtenzahl um rund die Hälfte zurück.61 Robert Bosch setzte im Herbst 1926 einen neuen Vorstand ein, der die Geschäftsstrategie grundlegend änderte. Das Unternehmen musste die einseitige Technikorientierung, der es seit seiner Gründung verpflichtet war, aufgeben und sich kaufmännisch ausrichten. Durch den Übergang zur Fließbandproduktion wurden die Kosten gesenkt und die Voraussetzung für eine Massenfertigung nach amerikanischem Vorbild geschaffen. Mit einer Lizenz der US-Firma Bendix wurde die Fertigung von Batteriezündungen aufgenommen.62 Das Image eines Herstellers innovativer, hochwertiger Kraftfahrzeugausrüstungen konnte Bosch wenige Jahre später mit der Einführung der Dieseleinspritzpumpe wiedererlangen. Als Lehre aus der Krise von 1926 wurde nun aber mit der Beschränkung auf die Kraftfahrzeugtechnik gebrochen und die Fertigung von Elektrowerkzeugen, später auch von Kühlschränken, aufgenommen.63 Zehn Jahre nach Kriegsende schien für die Unternehmensleitungen von Bosch und Siemens die Zukunft wieder vorhersehbar zu sein. War die ursprünglich vorhandene Ungewissheit zunächst durch die Hyperinflation überlagert worden, so bewegte sich das internationale Geschäft nach der Neuregelung der Reparationsfrage durch den Dawes-Plan und dem Auslaufen der einseitigen Meistbegünstigung im Januar 1925 wieder in einem verlässlichen Rahmen. Davon profitierte auch Bosch, nachdem die Krise von 1926 überwunden worden war. Anleihen im Ausland, vor allem in den USA, boten einen finanziellen Rückhalt; neue, auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhende Handelsverträge öffneten bislang noch verschlossene Märkte. Die deutsche Exportindustrie konnte die vorübergehende politische Entspannung in Europa, die von den Verträgen von Locarno (1925) und der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund

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Denkschrift vom 23.11.1929, in: URB, 1 002 080, Bl. 33. Bähr u. a., Bosch (wie Anm. 6), 119 u. 665. Ebd., 119 Ebd., 124 ff., 134 f. u. 145 ff.

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(1926) ausging, zu Kooperationsvereinbarungen, Joint-Ventures und Überkreuzbeteiligungen mit französischen und britischen Firmen nutzen.

Abb.1: Umsätze von Siemens und Bosch 1925–1929 (1924 = 100)64

Siemens gründete bereits fünf Monate vor Abschluss des deutsch-französischen Handelsvertrages vom August 1927 eine Tochtergesellschaft in Paris. Da in Frankreich inzwischen die Besorgnis über die Expansion der US-Konzerne stärker war als die Vorbehalte gegenüber Geschäften mit deutschen Firmen, erhielt Siemens & Halske 1928 einen Großauftrag über die Errichtung einer Fernkabellinie zwischen Paris und Bordeaux, den die französische Regierung als Reparationssachlieferung bestellte.65 Ein Jahr später vereinbarte das Unternehmen mit Siemens Brothers, der ehemaligen Tochtergesellschaft in London, eine gegenseitige Kapitalbeteiligung und einen Informationsaustausch.66 Bosch konnte sich 1928 durch ein Joint Venture mit dem Pariser Unternehmen Lavalette wieder auf dem französischen Markt etablieren. 1929 begannen Verhandlungen über eine Zusammenarbeit mit dem führenden britischen Kraftfahrzeugausrüster Joseph Lucas Ltd., die zwei Jahre später zu einem Joint Venture führten. Nach dem Börsencrash an der Wallstreet im Oktober 1929 gelang es Bosch, seine frühere US-Tochter, die American Bosch Magneto Corporation, zurückzukaufen.67 Der Anteil des Auslandsgeschäfts am Umsatz betrug 1929 bei Bosch 43 64 Feldenkirchen, Siemens 1918–1945 (wie Anm. 32), 663; Bähr u. a., Bosch (wie Anm. 6), 665. 65 Heise, Materialisierung (wie Anm. 29), 75–82; Czada, Berliner Elektroindustrie (wie Anm. 30), 145 f. 66 Feldenkirchen, Unternehmenspolitik (wie Anm. 58), 52 f.; J. D. Scott, Siemens Brothers. An Essay in the History of Industry, London 1958, 92. 67 Bähr u. a., Bosch (wie Anm. 6), 137–140.

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Prozent, bei Siemens & Halske 29 Prozent, bei Siemens-Schuckert 36 Prozent. Das war bei Bosch und Siemens & Halske weniger als 1913, aber immerhin ein Stand, der nach dem Zweiten Weltkrieg lange nicht erreicht wurde.68

Abb.2: Anteil des Auslands am Umsatz von Bosch und Siemens 1914–1965 in Prozent69

Auf der Branchenebene bestand inzwischen eine enge internationale Kooperation, an der die deutschen Unternehmen ungeachtet aller Konflikte um die Reparationen führend beteiligt waren. Vor der in Genf 1927 stattfindenden Weltwirtschaftskonferenz trafen sich Vertreter der Elektroindustrie aus Deutschland, Frankreich und fünf anderen Ländern zu einer Vorbesprechung.70 Auf der zweiten Weltkraftkonferenz (World power conference), die im Juni 1930 mit 4.000 Teilnehmern bezeichnenderweise in Berlin stattfand, wurden bereits Pläne für einen internationalen Verbund in der Energieversorgung diskutiert.71

68 Ebd., 666; Feldenkirchen, Siemens 1918–1945 (wie Anm. 32), 662. 69 Bähr u. a., Bosch (wie Anm. 6), 664 ff.; Köttgen, Erinnerungen, Teil 3/2, N, 57, in: SHI, SAA 47.Lg 768; Feldenkirchen, Siemens 1918–1945 (wie Anm. 32), 662; Siemens & Halske AG/Siemens-Schuckertwerke AG, Geschäftsbericht 1964/65. 70 Hermann Reyss, Aktennotiz über die internationale Vorbesprechung der Elektroindustrie in Ouchy am 3.5.1927, 11.5.1927, in: SHI, SAA 4.Lf 729. 71 Hans-Joachim Braun, Internationale Zusammenarbeit in Energiefragen. Die Berliner Weltkraftkonferenz 1930, in: Kultur und Technik 4 (1980), 40–43; Franz zur Nedden/Carl Theodor Kromer, Gesamtbericht, zweite Weltkraftkonferenz. Transactions, second World power conference. Compte rendu, deuxième Conférence mondiale de l’énergie, Berlin 1930.

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5 Entscheidungsmuster und Einflussfaktoren Anders als in Frank H. Knights Theorie überwanden Bosch und Siemens die nach 1918 bestehende Unsicherheit nicht durch unternehmerische Intuition. Bei Siemens entschied sich die Konzernführung nach längerem Zögern für eine Lösung, die scheinbar die größere Sicherheit bot und brach dafür mit traditionellen Prinzipien der Unternehmenspolitik. Bei Bosch setzte die Leitung mit einem Schrumpfungsprogramm auf Effizienzkriterien, musste dann feststellen, dass die kalkulatorischen Grundlagen wegbrachen, und verlegte sich daraufhin auf bewährte Werte des Unternehmens. In beiden Fällen stand von vornherein das Ziel fest, eine starke Position auf dem Weltmarkt wiederzuerlangen. Bei Bosch wie bei Siemens richteten sich die Erwartungen und Entscheidungen aber auch an den Spielräumen aus, die sich aus der jeweiligen Marktkonstellation, dem Marktumfeld und technologischen Veränderungen ergaben. Bosch konnte als Zulieferer für die gesamte Automobilindustrie keine Verbindung mit einem Konzern eingehen, während Siemens aufgrund seiner Größe, Marktmacht und Innovationskraft ein attraktiver Partner war, erst für den Stinnes-Konzern und später für Westinghouse. Auch konnte Siemens in hohem Maße mit öffentlichen Aufträgen rechnen, während Bosch vom volatilen Automobilmarkt abhängig war und dadurch in eine schwere Krise geriet. In den zentralen Fertigungsbereichen von Siemens fanden nach dem Ersten Weltkrieg vor allem Verbesserungen von Vorkriegsinnovationen statt, während sich die Kraftfahrzeugtechnik damals in einem technologischen Umbruch befand, der Bosch in Verbindung mit der Krise von 1926 zu einer Änderung der Unternehmenspolitik zwang. Die Ungewissheit, die vom Versailler Vertrag ausging, begann bei den untersuchten Unternehmen schon mit dem inflationsbedingten Exportboom nach 1920 zu weichen. Man war sich zwar bewusst, dass darauf ein Rückschlag folgen würde, doch konnte der künstliche Preisvorteil zur Wiederherstellung vieler früherer Geschäftsbeziehungen im Ausland und zur Gewinnung neuer Kunden in Übersee genutzt werden. Schon jetzt begann sich abzuzeichnen, dass die Bestimmungen des Versailler Vertrages einschließlich des darin besiegelten Verlusts von Auslandspatenten einer Rückkehr auf den Weltmarkt nicht entgegenstanden. Um dieses Ziel zu erreichen, bedurfte es allerdings einer Stabilisierung der Währung und eines Wandels in der internationalen Politik. Erst durch die amerikanischen Kredite nach 1924 und die politische Entspannung in Europa konnten Unternehmen wie Bosch und Siemens wieder eine gefestigte Position auf dem Weltmarkt erlangen. Aus dieser Perspektive zeigt sich schließlich auch, wie fragwürdig das Klischee von einer durchgehenden Deglobalisierung in der Zwischenkriegszeit ist. Nach dem Rückschlag durch den Krieg und seine

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unmittelbaren Folgen trat in der weltweiten Verflechtung eine Aufholbewegung ein, die bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise auch Perspektiven für die Zukunft eröffnete.

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Ein transatlantischer Wirtschaftskrieg im globalen Wettstreit Ein neuer Blick auf den Alien Property Custodian der USA im Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson trat Anfang Dezember 1918 mit dem Truppentransporter „George Washington“ eine Reise nach Europa an, wo er, umjubelt und wie ein Messias gefeiert, seine Vorstellungen einer Nachkriegsordnung durchzusetzen trachtete. Der Oceanliner war das schnellste Transportschiff der USA und bewältigte eine Transatlantikreise in neun bis zehn Tagen – geradezu ein Symbol für die technologische Überlegenheit, mit der die USA das Kriegsschicksal zugunsten der alliierten Sache entschieden hatten. Es gab allerdings einen kleinen Schönheitsfehler: Die „George Washington“ war eigentlich ein Passagierschiff des Norddeutschen Lloyd, das 1908 vom Stapel gelaufen war und bei der Schiffstaufe den Namen des ersten amerikanischen Präsidenten erhalten hatte. Der Dampfer, das Flaggschiff der Lloyd-Flotte, war bei Kriegsausbruch 1914 am Pier in Hoboken in New Jersey widerrechtlich an die Kette gelegt worden. Er gehörte zu den 109 beschlagnahmten deutschen Schiffen vornehmlich der Großreedereien Hamburg-Amerika-Linie und Norddeutscher Lloyd, der beiden mit Abstand größten Reedereien der Welt,1 die – bezogen auf die Gesamttonnage – über das Doppelte der amerikanischen Kapazitäten verfügten.2 Mitte März 1917, also noch vor Eintritt der USA in den Weltkrieg, waren die deutschen Schiffe vom United States Shipment Board übernommen worden. Auch die dazugehörigen Docks und Pieranlagen im Wert von rund fünf Mio. US-Dollar wurden beschlagnahmt. Damit hatten sich die 1 Gerhard A. Ritter, Der Kaiser und sein Reeder. Albert Ballin, die HAPAG und das Verhältnis von Wirtschaft und Politik im Kaiserreich und in den ersten Jahren der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 2 (1997), 137–162, hier 142. Zu den in den USA beschlagnahmten Schiffen des Norddeutschen Lloyd, vgl. Friedrich Lührssen, Der Wiederaufbau des Norddeutschen Lloyd, in: Jahrbuch des Norddeutschen Lloyd für Bremen, Bremen 1923, 170–204, hier 189 f. sowie Reinhold Thiel, Die Geschichte des Norddeutschen Lloyd, Bd. 3: 1900–1919, Bremen 2003, 265 f. 2 Mira Wilkins, The History of Foreign Investment in the United States 1914–1945, Cambridge 2004, 120. Vgl. Harald Wixforth, Kriegseinsatz und Kriegsfolgen – der Norddeutsche Lloyd im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegsinflation, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 105 (2018), 365–390, besonders 374 f.; Susanne Wiborg/Klaus Wiborg, 1847–1997. Unser Feld ist die Welt. 150 Jahre HAPAG-Lloyd, Hamburg 1997, besonders 211 f. https://doi.org/10.1515/9783110765359-011

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USA mit einem Schlag ihrer Hauptkonkurrenten in der Handelsschifffahrt entledigt. Friedrich Lührssen vom Norddeutschen Lloyd kommentierte wenige Jahre später lapidar, man sei dadurch „mit einem Schlage zu einem kleinen Schleppschifffahrtsunternehmen herabgesunken.“3 Der unrühmliche Niedergang der deutschen Handelsflotte war aber nur eine Facette des dramatischen Endes der „halben Hegemonie“ (Ludwig Dehio) des Kaiserreichs. Eine zentrale Rolle für die ökonomische Ausschaltung spielte der Alien Property Custodian (APC), ein von Wilson eingesetzter „Treuhänder“, der nach dem amerikanischen Kriegseintritt im Jahr 1917 praktisch das gesamte deutsche Eigentum auf amerikanischem Boden im Wert von geschätzten 600 bis 800 Mio. US-Dollar beschlagnahmte.4 Begründet wurden diese drastischen Maßnahmen, wie noch zu zeigen sein wird, fast immer mit dem Vorwurf des aggressiven Charakters eines autoritärmilitaristischen Deutschlands. Diese Argumente bedienten sich aus dem 1917 bereits in Hülle und Fülle zur Verfügung stehenden Arsenal der KriegsschuldDebatte. Die lange Zeit vertretene Ansicht, beim Kaiserreich habe es sich, wie der Schweizer Historiker Werner Näf es 1946 ausgedrückt hat, um einen „monarchischen Staat mit demokratischem Zusatz“ gehandelt,5 ist bekanntlich kaum haltbar. Zwar gab es im Kaiserreich ein charakteristisches Vertrauen in den „General Dr. von Staat“, wie Thomas Mann es ironisch beschrieben hat,6 aber parallel dazu hatte Deutschland vor dem Hintergrund von Industrialisierung, Urbanisierung und Rationalisierung einen „ganz unverkennbaren Partizipations-, Emanzipations- und Demokratisierungsschub“ durchlaufen.7 Die verfassungsrechtliche Mischform des Kaiserreichs mit ihrem Kompromisscharakter – Anerkennung des Prinzips der Königsherrschaft bei gleichzeitigem parlamentarischen Mitentscheidungsrecht – entsprach dem „Normallfall europäischer Verfassungsstandards im 19. und frühen 20. Jahrhundert“.8 Ein ähnlich demokratisches Männerwahlrecht wie im Kaiserreich gab es beispielsweise zunächst

3 Lührssen, Der Wiederaufbau des Norddeutschen Lloyd (wie Anm. 1), 171. 4 Vgl. die Hinweise bei Rex M. Potterf, Treatment of Alien Enemy Property in War Time and After by the United States, in: Indiana Law Journal 2 (1927), 453–472, hier 465, Anm. 106 und 108. 5 Werner Näf, Die Epochen der neueren Geschichte, Bd. 2, Aarau 1946, 266. 6 Thomas Mann wird zitiert nach Hermann Kurzke, Thomas Mann, Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie, München 1999, 95. 7 Margaret Lavinia Anderson, Ein Demokratiedefizit? Das Deutsche Kaiserreich in vergleichender Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (2018), 367–398, hier 370; bereits dies., Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany, Princeton 2000. 8 Frank-Lothar Kroll, Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2013, 11.

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lediglich in Griechenland und in Frankreich.9 Die Kluft zwischen Demokratisierung und Parlamentarisierung blieb zwar unübersehbar, aber der Klassen- und Obrigkeitsstaat begann sich durch ein reges und seine Mitspracherechte ausübendes Wirtschafts- und Bildungsbürgertum aufzulösen: Es war der Erste Weltkrieg, der dann allerdings bislang unbekannte geistig-politische Verwerfungen mit sich brachte. Dass in Berlin der „Geist von 1914“ gegen vermeintliche britische Krämerseelen in Stellung gebracht wurde, war nur ein Teilaspekt des erbarmungslosen europäischen Wirtschaftskriegs,10 in dem sich nicht zuletzt die ökonomischen Newcomer und Konkurrenten Deutschland und USA gegenüberstanden. Im Kampf um Eigentumsrechte wurde die Fähigkeit, potentielle Wettbewerber durch ökonomische Gewalt niederzuringen, zum entscheidenden Faktor. Dass, wie John Umbeck drastisch formuliert hat, „Force, not fairness, determines the distribution of wealth in a society“,11 soll anhand des deutsch-amerikanischen Wirtschaftskriegs und der Rolle, die der APC spielte, veranschaulicht werden.

1 Die neue Weltmacht und ihr Eintritt in den Ersten Weltkrieg John Quincy Adams hatte 1821 in seiner berühmten Kongressbotschaft eine außenpolitische Maxime formuliert, an der sich die Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert orientiert hatten: Die USA, so betonte er, „goes not abroad in search of monsters to destroy“.12 Von diesem Prinzip der Zurückhaltung war seit der Jahrhundertwende wenig übriggeblieben. Die USA, deren Textil-, Stahlund Kohleindustrie eine geradezu atemberaubende Entwicklung erlebte, wurden spätestens seit dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 ein „Global Player“. In der Außenhandelspolitik wurden geschickt die Schutzzollpolitik mit 9 Ebd., 36. 10 Georges-Henri Soutou, L’Or et le sang. Les buts de guerre économiques de la première Guerre mondiale, Paris 1989. 11 John Umbeck, Might Makes Rights. A Theory of the Formation and Initial Distribution of Property Rights, in: Economic Inquiry 1 (1981), 38–59, hier 57. Vgl. zur Kritik an der Vernachlässigung des Machtfaktors in wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten auch Alfred Kieser, Erklären die Theorie der Verfügungsrechte und der Transaktionswandelansatz historischen Wandel von Institutionen?, in: Dietrich Budäus u. a. (Hrsg.), Betriebswirtschaft und Theorie der Verfügungsrechte, Wiesbaden 1988, 301–323, besonders 319 f. 12 Zit. nach John Lewis Gaddis, Surprise, Security, and the American Experience, Cambridge 2004, 28.

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den Dogmen liberaler Wirtschaftstheorie verbunden und veredelt. Der amerikanische Senator William Fulbright hat diese Strategie, außenpolitische Aktionen als weltverbessernde Verpflichtung zu deklarieren, als „the morality of absolute self-assurance fired by the crusading spirit“ bezeichnet.13 Die USA, die eine „offene Tür“ forderten, ohne diese aber selbst zu gewähren,14 hatten 1913 bereits einen Anteil von 35,8 Prozent an der Weltindustrieproduktion, während derjenige Großbritanniens, der „first industrial nation“ (Peter Mathias), auf nur noch 14 Prozent gesunken war. Deutschlands Anteil betrug inzwischen 15,7 Prozent, während Frankreich abgeschlagen mit 6,4 Prozent auf einen der hinteren Plätze verwiesen worden war.15 Das Verhältnis zu Deutschland war ambivalent. In den USA wurde zwar bewundernd vom „besten Erziehungssystem der Welt“ in Deutschland gesprochen, das mit Blick auf die technologisch-ökonomische Entwicklung dem Aufsteigerland USA in diesem „Struggle for Supremacy“16 als leuchtendes Vorbild diente. Zugleich wurde Deutschland aber als wahrscheinlicher zukünftiger Hauptrivale gefürchtet. Die Vereinigten Staaten waren daher gleich nach dem Kriegsausbruch 1914 bereit, die weitverbreiteten paranoiden und panikartigen französischen und britischen Sorgen vor einer deutschen Wirtschaftshegemonie17 zu instrumentalisieren. Für die deutsche Wirtschaft bedeutete der Erste Weltkrieg eine Katastrophe. Die überwiegende Mehrheit der Unternehmer gehörte nicht zu den Kriegstreibern: Die Ansicht, die deutsche Wirtschaft habe geradezu kriegslüstern, aggressiv und profitorientiert einer kriegerischen Auseinandersetzung zugearbeitet, kann als widerlegt gelten.18 Die deutschen Firmen hatten sich durch friedlichen Wettbewerb einen privilegierten Platz erobert. Das Volumen des Außenhandels hatte 1913 beinahe das von Großbritannien erreicht. Unternehmer konnten 13 Zit. nach Walter A. McDougall, Promised Land, Crusader State. The American Encounter with the World Since 1776, Boston 1997, 206. 14 Detlef Junker, Power and Mission. Was Amerika antreibt, Freiburg i. Br. 2003, 39. 15 P. T. Ellsworth, The International Economy, New York 21958, 180 f. 16 Brendan Simms, Europe. The Struggle for Supremacy, 1493 to the Present, London 2013. Zur spürbaren amerikanischen Furcht vor deutscher Hegemonie ebd., 310. 17 Zu der „chasse aux Maisons allemandes“ vgl. Gundula Bavendamm, Spionage und Verrat. Konspirative Kriegserzählungen und französische Innenpolitik, 1914–1917, Essen 2004, 76–91; Sophie Chauveau, Mobilization and Industrial Policy: Chemical and Pharmaceuticals in the French War Effort, in: Roy Macleod/Jeffrey Allan Johnson (Hrsg.), Frontline and Factory. Comparative Perspectives on the Chemical Industry at War, 1914–1924, Dordrecht 2006, 21–30. 18 Werner Plumpe, Die Logik des modernen Krieges und die Unternehmen – Überlegungen zum Ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2 (2015), 325–357, besonders 326 f.; Dieter Ziegler, Die Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg – Trends der Forschung, in: ebd., 313– 323, besonders 321.

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durch das Risiko eines Krieges mit seinen Unwägbarkeiten mehr verlieren als gewinnen. Autarkie im Kriegsfall galt „nur wenigen als möglich“.19 Nicht zuletzt der deutsch-amerikanische Handel hatte sich erfreulich entwickelt – beispielsweise war beim Chemieunternehmen Bayer das Geschäft mit den USA in den ersten drei Quartalen 1914 das beste überhaupt.20 Allerdings hatten sich die USA mit Großbritannien, ihrem bedeutendsten Handelspartner, in einem „Great Rapprochement“ inzwischen politisch und wirtschaftlich arrangiert.21 Das viele Jahrzehnte lang überwiegend positive Wilson-Bild hat sich in der Wissenschaft und Öffentlichkeit in jüngster Zeit stark gewandelt. Seine Innenpolitik und sein offen zur Schau gestellter Rassismus haben dazu geführt, dass zahlreiche Institutionen, die nach ihm benannt worden waren, inzwischen andere Namen tragen. Außenpolitisch fällt die Bilanz ebenfalls gemischt aus. Die bereits zeitgenössisch umstrittenen Motive für Wilsons eindeutige transatlantische Präferenz22 führt bis heute zu der Frage, ob dessen 1914 ausgesprochener Appell zu Unparteilichkeit und Neutralität ernst gemeint war.23 Der amerikanische Präsident, dessen Deutschlandbild starke germanophobe Einsprengsel hatte, war davon überzeugt, dass nicht nur die Regierung, sondern das ganze deutsche Volk für den Weltkrieg Verantwortung trage. Freilich hatte er, wie er seinem Berater Colonel Edward M. House im November 1914 anvertraute, zunächst keine allzu große Eile, sich am europäischen Krieg zu beteiligen: „No matter how the great war ends, there would be complete exhaustion; and, even if Germany won, she would not be in a condition seriously to menace 19 Lothar Burchardt, Friedenswirtschaft und Kriegsvorsorge. Deutschlands wirtschaftliche Rüstungsbestrebungen vor 1914, Boppard 1968, 28. 20 Plumpe, Die Logik des modernen Krieges (wie Anm. 18), 346. 21 Silvia Daniel, A Brief Time to Discuss America. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Urteil amerikanischer Politiker und Intellektueller, Göttingen 2008, 281. 22 Zu den heftigen Debatten in einem Senats-Untersuchungsausschuss, der zu keinem eindeutigen Ergebnis kam: United States Senate (Hg.), Hearings Before the Special Committee Investigating the Munitions Industry, Washington D. C. 1937. 23 Zur fatalen Wilson-Politik Richard Striner, Woodrow Wilson and World War I: A Burden Too Great to Bear, Lanham 2014; Burton Y. Pines, America’s Greatest Blunder: The Fateful Decision to Enter World War One, New York 2013; Jim Powell, Wilson’s War. How Woodrow Wilson’s Great Blunder Led to Hitler, Lenin, Stalin, and World War II, New York 2005. Zu den Forschungskontroversen Justus D. Doenecke, Neutrality Policy and the Decision for War, in: Ross A. Kennedy (Hg.), A Companion to Woodrow Wilson, Malden 2013, 243–269 und bereits ders., Nothing Less Than War. A New History of America’s Entry into World War I, Lexington 2011. Ein aktueller Literaturüberblick bei Manfred Berg, „Ironie des Schicksals“: Woodrow Wilson und der amerikanische Eintritt in den Ersten Weltkrieg, in: Jürgen Peter Schmied (Hg.), Kriegerische Tauben. Liberale und linksliberale Interventionisten vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Göttingen 2019, 103–120.

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our country for many years to come.“24 Wilson beschritt nun einen Weg, der im Spannungsfeld zwischen Wirtschaftsinteressen und moralischen Prinzipien einen Kriegseintritt auf Seiten der Kriegsgegner Deutschlands zur wahrscheinlichsten Option machte. Für wie brisant er den atemberaubenden wirtschaftlichen Aufstieg des Kaiserreichs eingeschätzt hatte, tat Wilson nach Kriegsende in einer Rede im Januar 1919 rückblickend kund: „If Germany had waited a single generation, she would have had a commercial empire of the world.“25 Die USA banden sich mit „goldenen Ketten“ an Großbritannien, Frankreich und das Zarenreich und wurden zum Bankier und Gläubiger der Alliierten.26 1916 lieferten die Vereinigten Staaten an diese bereits Waren im Wert von über 2,7 Milliarden US-Dollar. Das Wilhelminische Deutschland hingegen, viel weniger rückständig als Wilson glauben zu machen versuchte, wurde Teil des instrumentalisierten amerikanischen Feindbildes und geriet in die „manichäische Falle des amerikanischen Sendungsbewusstseins.“27 Die ungeschickte deutsche Propagandamaschine machte es Wilson leicht; die amerikanische Industrie, die vom Kriegsboom profitierte, hatte wenig Grund, diesen in die Schranken zu weisen.28 Wenn Wilson noch eine Zeitlang gezögert hatte, dann war diese Phase mit seiner Kriegsbotschaft vor dem Kongress am 2. April 1917 beendet. Die USA traten als assoziierte Macht in den Weltkrieg ein. Im Juni 1917 wurde der „Espionage Act“ verabschiedet, dessen Bestimmungen so dehnbar waren, dass bald jeder Regierungskritiker „in den Ruch der Illoyalität geriet.“29 Dies betraf besonders die etwa 5,7 Millionen Amerikaner, die entweder in Deutschland geborene Eltern hatten oder selbst in Deutschland geboren waren. Die Deutsch-Amerikaner hatten sich zwar schnell assimiliert, aber in der Kriegsstimmung wurden ihre Verbindungen in die Heimat suspekt, zumal sie, wie der Großteil der IrischStämmigen und der Einwanderer aus Skandinavien, gegen einen Kriegseintritt der USA gewesen waren.

24 Vgl. Wilsons Bemerkung zu House, in: Charles Seymour (Hg.), The Intimate Papers of Colonel House, Bd. 1, Boston 1926, 298. 25 Zit. nach Alexander Sedlmaier, Deutschlandbilder und Deutschlandpolitik. Studien zur Wilson-Administration (1913–1921), Stuttgart 2003, 115. 26 Junker, Power and Mission (wie Anm. 14), 44. 27 Junker, Power and Mission (wie Anm. 14), 42; ders., Die manichäische Falle. Das Deutsche Reich im Urteil der USA, 1817–1945, in: Klaus Hildebrand (Hg.), Das Deutsche Reich im Urteil der Großen Mächte und europäischen Nachbarn (1871–1945), München 1995, 141–158. 28 Thomas J. Knock, To End All Wars. Woodrow Wilson and the Quest for a New World Order, Princeton 1992, 168 f. 29 Manfred Berg, Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt, München 2017, 132.

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Bei Kriegsbeginn 1917 kamen in den USA Handel, Außenhandel und Investitionen auf den Prüfstand. Die einheimische Industrie war zwar im Aufwind, hinkte aber in zahlreichen Branchen vor allem technologisch noch hinterher. In einer komplexen Mobilisierungsstrategie30 in der durch Kriegshysterie gekennzeichneten Atmosphäre florierten allerlei Verschwörungstheorien. Ängste vor einer ökonomischen Durchdringung des amerikanischen Marktes durch Deutschland führten dazu, dass Firmen mit deutschen Verbindungen sofort ins Fadenkreuz gerieten und in der Presse ihre Beschlagnahmung gefordert wurde. Die Radikalität erklärt sich zum Teil aus der Dynamik des Propagandakriegs, zum Teil aus dem Umstand, dass weder das International Law, das English Common Law noch das erst rudimentär entwickelte Völkerrecht klare Richtlinien hinsichtlich von Konfiszierungen, Liquidierungen und dem Zwangsverkauf von ausländischem Privateigentum boten.31 Großbritannien, Frankreich, das Zarenreich und Italien hatten nach Kriegsausbruch Gesetze verabschiedet, die die Sequestrierung feindlichen Besitzes erlaubten. Auch Deutschland hatte nach einer anfänglichen Phase des Zögerns in einigen ausländischen Firmen „Zwangsverwalter“ eingesetzt.32 Dies betraf nach dem amerikanischen Kriegseintritt auch deutsche und amerikanische Unternehmen: Die Frage, welche Seite, Deutschland oder die USA, bei den Sequestrierungen den Anfang gemacht hatte, resultierte in gegenseitigen Beschuldigungen und einem „maze of contradictory statements,“33 obwohl sogar einige zeitgenössische amerikanische Stimmen der Ansicht waren, das Kaiserreich sei „more lenient“ in der Frage des Umgangs mit Auslandsbesitz.34

30 Jörg Nagler, Nationale Minoritäten im Krieg. „Feindliche Ausländer“ und die amerikanische Heimatfront während des Ersten Weltkrieges, Hamburg 2000, 352 f.; ders., Pandora’s Box. Propaganda and War Hysteria in the United States during World War I, in: Roger Chickering/Stig Förster (Hrsg.), Great War, Total War. Combat and Mobilization on the Western Front, 1914– 1918, Cambridge 2000, 485–500; Katja Wüstenbecker, Deutsch-Amerikaner im Ersten Weltkrieg. US-Politik und nationale Identitäten im Mittleren Westen, Stuttgart 2007. 31 Richard Fuchs, Die Beschlagnahme, Liquidation und Freigabe deutschen Vermögens im Auslande, Berlin 1927, besonders 1–4. 32 Diese Vorgänge sind nach dem Ersten Weltkrieg akribisch aufgearbeitet worden: Friedrich Lenz/Eberhard Schmidt (Hrsg.), Die deutschen Vergeltungsmaßnahmen im Wirtschaftskrieg, Bonn 1924, besonders 78–113. Vgl. auch Alien Property Custodian Report 1918, Washington 1919, 268–278. Das sequestrierte amerikanische Kapital in Deutschland blieb gering: Der Zwangsverwalter gebot über Besitz in Höhe von elf Mio. Mark, weitere über 200 Mio. Mark hingegen blieben unangetastet in amerikanischen Händen. Potterf, Treatment (wie Anm. 4), 458 f. 33 Potterf, Treatment (wie Anm. 4), 458 f. 34 James W. Garner, International Law and the World War, 230.

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2 Die Genese des Alien Property Custodian Nach mehreren Sitzungen im House, im Senat und in verschiedenen Anhörungen in Subcommittees ratifizierte der US-Kongress am 6. Oktober 1917 den „Trading with the Enemy“-Act. Das Gesetz ermächtigte im § 6 den Präsidenten, einen Alien Property Custodian einzusetzen, „who shall be empowered to receive all money and property in the United States due or belonging to an enemy, or ally of enemy, which may be paid, conveyed, transferred, assigned, or delivered to said custodian (…); and to hold, administer, and account for the same under the general direction of the President.“ Der APC sollte zunächst dem Department of Commerce zugeordnet werden, wurde jedoch in einer entscheidenden Kehrtwendung direkt Wilson unterstellt. Aufsichtsbehörde war das Federal Reserve Board. Der APC war berechtigt, Firmen zu beschlagnahmen, sich an ihnen finanziell zu beteiligen, sie im Rahmen öffentlicher Auktionen an den höchsten Bieter zu versteigern sowie Patente und Markenzeichen zu konfiszieren. Die Federal Trade Commission wiederum war für Rechtsfragen des Zugangs zu deutscher Technologie und Patenten zuständig. Die im Kongress zunächst noch vernehmbaren Stimmen, die sich gegen Konfiszierungen aussprachen, verstummten schnell. Drei vom Kongress verabschiedete Amendments des „Trading with the Enemy“-Acts befreiten in den folgenden Monaten den APC von fast allen Beschränkungen, die ihm mit Blick auf den Verkauf des Auslandsbesitzes auferlegt waren. Mit einem Amendment vom 28. März 1918 erhielt der APC die Erlaubnis, mit dem deutschen Besitz wie ein „absoluter Eigentümer“ umzugehen.35 Für die fortwährende Verschärfung der Bestimmungen und die harte Linie gegen deutsch-amerikanische Unternehmen war nicht zuletzt der erste APC wesentlich verantwortlich. A. Mitchell Palmer, ein 39 Jahre alter Jurist und Banker aus Pennsylvania und Parteigänger Wilsons, wurde am 22. Oktober 1917 ein Akteur, der sein Amt in den entscheidenden ersten anderthalb Jahren bis März 1919 prägte. Seine Tätigkeit als APC ist heute weitgehend vergessen, anders als sein späteres Wirken als Attorney General, wo er während des berühmt-berüchtigten „Red Scare“ unerbittlich gegen unliebsame Linke jeglicher Couleur vorging. Die Wahl Palmers zum APC gilt in der Forschung heute als fatale Entscheidung. Der Präsident „could hardly have picked a person more incompatible“ 35 Fuchs, Beschlagnahme (wie Anm. 31), 10. Vgl. Potterf, Treatment (wie Anm. 4), 462. Zeitgenössisch Eugen Böhler/Hans Wehberg, Der Wirtschaftskrieg. Die Maßnahmen und Bestrebungen des feindlichen Auslandes zur Bekämpfung des deutschen Handels und zur Förderung des eigenen Wirtschaftslebens. 5. Abteilung: Vereinigte Staaten von Amerika, Jena 1919, 514 f. Vgl. auch die Literaturhinweise in: Josef L. Kunz, Kriegsrecht und Neutralitätsrecht, Berlin 1935, 51.

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mit dem ursprünglich vergleichsweise gemäßigten Geist des „Trading with the Enemy“-Acts, so lautet das Urteil einer Kennerin der Vorgänge.36 Palmers Biograf hat diesen als ein Enigma bezeichnet, weil er sich von einem Liberalen binnen kürzester Zeit zu einem militanten Kreuzzügler gewandelt habe:37 „Palmer mixed his Quaker beliefs, a political reformer’s impulse, and anti-immigrant fervor into a brew that made the Office of Alien Property into a strong and aggressive agency.“38 Die Arbeit der Behörde begann zunächst in bescheidenen Verhältnissen, wie sich ihr erster Chef später erinnerte: „I was shoved off into a little back room behind a tailor shop with nothing to begin work with except a lead pencil and a colored messenger at the door.“39 Das änderte sich schnell. Im Jahr 1919 waren bereits über 700 Mitarbeiter in Räumlichkeiten an der 16th und P Street untergebracht, hinzu kam eine Zweigstelle in New York. Palmer, der mit seiner jovialen Art bei seinen Untergebenen beliebt war, schuf sich ein Netzwerk treuer Mitarbeiter. Seine Behörde verfügte über fünf Abteilungen: Administration, Investigation, Trusts, Audits und Law. Managing Director wurde J. Lionberger Davis, der angesehene Vizepräsident der Handelskammer von St. Louis. Chef der Trust-Abteilung wurde Ralph Stone, der Präsident der Detroit Trust Company. Zum General Counsel wurde Moritz Rosenthal ernannt, ein New Yorker Bankier. Eine der wichtigsten Besetzungen war die von Francis P. Garvan zum Chef des Bureau of Investigation. Der aus einer wohlhabenden Familie stammende New Yorker Jurist hatte es, anders als manche seiner Mitstreiter, nicht nötig, sich persönlich zu bereichern, sondern verfocht seinen Kurs aus patriotischer Überzeugung und einem isolationistischen Denken:40 „If Palmer was extreme in his denunciations, then Garvan was hysterical“, so ist seine Einstellung beschrieben worden.41Als scharf antideutscher Eleve des APC ging er mit Feuereifer an die Arbeit. „Work with Garvan“, forderte Palmer einen seiner Mitarbeiter auf, „he has a way of breaking down these German fellows and making them confess the truth.“42

36 Kathryn Steen, The American Synthetic Organic Chemicals Industry. War and Politics, 1910– 1930, Chapel Hill 2014, 156. 37 Stanley Coben, A. Mitchell Palmer: Politician, New York 1963, 165, vii und 130 f. 38 Steen, American Synthetic Organic Chemicals Industry (wie Anm. 36), 157. 39 New York Times (29. Juni 1923). 40 Steen, American Synthetic Organic Chemicals Industry (wie Anm. 36), 159. 41 Christopher Wadlow, The great pharmaceutical patent robbery, and the curious case of the Chemical Foundation, in: Intellectual Property Quarterly (2010), 236–252, hier 240. 42 Das Archiv-Dokument wird zitiert nach Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 130.

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Von Anfang an betrachtete Palmer deutsche Unternehmen als Bedrohung, wie er in einem Beitrag für eine juristische Zeitschrift offen bekannte: „I have had this peculiar and I may say disquieting experience. I have sat in Washington and watched many great enemy corporations under my management earn enormous profits growing out of the very war conditions for which their owners and their owner’s friends in Germany are directly responsible, and I face the possibility of piling up these inordinate profits for distribution to the very persons to whom under the circumstances it would be unmoral and unconscionable for them to go.“43 Auch an anderer Stelle insistierte Palmer: „Of course I cannot speak for anybody except myself. The feeling is, I think, that the time has come when the ownership of these great German properties should be permanently separated from German capital, and that the enemy might as well know now that the connection which she has been able to maintain with American industry and commerce is broken, not simply during the war, but broken never to be resumed.“44 Palmer beklagte die angebliche Penetrationsstrategie amerikanischer Filialen deutscher Unternehmen: „Connections more or less close between American and German houses were frequent and obvious.“ Er sah es als seine Aufgabe an, diese Verbindungen zu beenden. Intern und öffentlich erklärte er die Konfiszierung für eine moralisch legitime Waffe, um die „Junker class“ dauerhaft auszuschalten.45 Diese treibe auch in den USA ihr Unwesen und verfolge den Plan „to conquer the world by trade“. Die deutschen Industrieunternehmen in den USA dürften nach Kriegsende nicht zurückerstattet werden, wie manche Senatoren meinten. Die Unternehmen seien ein Element der deutschen „great industrial army on American soil. They were the far-flung lines of advance for her kultur.“46 Palmer verwies, wenn es nötig war, auch ganz ungeniert darauf, dass es eine gute Sache für die amerikanischen Geschäfte sei, „to eliminate German business from our markets.“47 Das ursprüngliche Gesetzwerk des Jahres 1917 sei zudem unzureichend gewesen: „It made the Alien Property Custodian a mere conservator of enemy property; a sort of guardian to take care of, administer and account for the property in the United States owned by persons, 43 A. Mitchell Palmer, The Great Work of the Alien Property Custodian, in: American Law Review 87, 63. 44 A. Mitchell Palmer, zit. nach „Peace by Confiscation“, in: New Republic 23 (11. August 1920), 296; vgl. Alien Property Custodian Report 1918, Washington 1919, 15. 45 A. Mitchell Palmer, Why We Seized German Property, in: Forum 62 (Dezember 1919), 584– 593; ders., Crushing the German Advance in American Industry, in: Scribner’s Magazine 66 (Juli 1919), 17–24. 46 Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 137 f.; Potterf, Treatment (wie Anm. 4), 462, Anm. 80; Steen, The American Synthetic Organic Chemicals Industry (wie Anm. 36), 158. 47 Potterf, Treatment (wie Anm. 4), 461.

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who by reason of their enemy character or residence in enemy territory, were disabled from caring for itself.“48 In einem Zeitschriftenbeitrag charakterisierte Palmer seine Behörde als „the biggest general store in the country.“ Er illustrierte das mit dem Hinweis, wie weitgefächert die Herstellungsgebiete der von ihm sequestrierten Firmen waren. Sie reichten vom „pencil-making in New Jersey“ über „chocolate manufacture in Connecticut“ bis zum „beer-brewing in Chicago.“49 Bislang hatte sich kaum jemand näher mit den deutschen Direktinvestitionen in den USA beschäftigt. Das Bureau of Investigation des APC verschickte daher rund 100.000 Briefe und 50.000 Fragebögen an amerikanische Anwaltskanzleien, Banken und Steuerbehörden, um die Strukturen und Hintergründe des Auslandsbesitzes zu erforschen. Das Datenmaterial kam aus Armee- und Marineämtern, dem Justizministerium, dem Cable Censor’s Office, dem War Trade Board, dem Internal Revenue Service, dem Außenministerium und den Botschaften der befreundeten Mächte.50 In manchen Fällen wurde sogar der Secret Service unter seinem Chef William H. Moran um Amtshilfe gebeten, um Besitzverhältnisse zu klären. Garvans Beamte werteten zudem rund 250.000 Depeschen aus, die seit 1915 zwischen Deutschland bzw. Österreich-Ungarn und den USA gewechselt worden waren. Außerdem wurden umfangreiche Unterlagen von Banken wie der Deutschen Bank und der Disconto-Gesellschaft herangezogen. Noch im November 1918 wurde die Öffentlichkeit aufgefordert, Verdachtsfälle deutschen Eigentums zu melden, „even if the information is only gossip or rumor.“51 Die Nicht-Meldung von Auslandsbesitz war mit Strafen bewehrt: Ein „Circular of Information“ des APC sprach von „imprisonment for not more than ten years or a fine of not more than $ 10.000 or both“, drakonische Sanktionen, die ihre Wirkung offenbar nicht verfehlten.52 Am Ende des Jahres 1917 hatte Garvans Büro bereits 11.170 „Reports“ über Feindbesitz und -vermögen zusammengestellt. Im Dezember 1918 war diese Zahl auf 32.684 gestiegen; insgesamt wurden rund 34.500 Reports verfasst.53

48 A. Mitchell Palmer, Crushing the German Advance in American Industry, in: Scribner’s Magazine 66 (Juli 1919), 22. 49 Ders., The Vast Amount of Enemy Property in the United States, in: Munsey’s Magazine 64, Bd. 2 (Juli 1918), 233–238, hier 238. 50 Wilkins, History of Foreign Investment (wie Anm. 2), 48; Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 132; Alien Property Custodian Report 1918, 156–162. 51 A. Mitchell Palmer, Cooperation Requested by the Alien Property Custodian, in: Journal of Industrial and Engineering Chemistry (November 1918), 947 f., hier 948. 52 „Circular of Information, Alien Property Custodian, Revised to July 1, 1918“, zit. nach Potterf, Treatment (wie Anm. 4), 463, Anm. 95. 53 Wilkins, History of Foreign Investment (wie Anm. 2), 48.

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Anlässe für die Sequestrierung und Konfiszierung von Produktionsstätten und Patenten waren schnell gefunden. Ein bewährtes Verfahren war die Behauptung, eine „conspiracy“ entdeckt zu haben. Einige deutsch-amerikanische Firmen hatten tatsächlich seit 1914 begonnen, Strohmänner einzusetzen, um die Besitzverhältnisse und die Verbindungen nach Deutschland zu verschleiern bzw. um als amerikanisches Unternehmen zu erscheinen. Nachdem amerikanische Staatsbürger im Februar 1917 Anteile der Degussa-Tochtergesellschaft Roessler & Hasslacher Chemical Company erworben hatten, wurde dies vom APC beispielsweise als Scheingeschäft klassifiziert.54 Verschwörungsthesen florierten gerade auf dem pharmazeutisch-medizinischen Gebiet. Im August 1918 wurden mehrere Angestellte der amerikanischen Bayer-Tochter unter dem Vorwurf verhaftet, eine Scheinfirma in Rhode Island gegründet zu haben, um Gewinne nach Deutschland zu lenken.55 Aspirin, das von Bayer hergestellt wurde, so lautete ein weiterer Vorwurf, diene dazu, Grippewellen auszulösen, eine in der Zeit der Spanischen Grippe besonders wirksame Falschmeldung. Ähnliche Kritik wurde gegen das 1909 von Paul Ehrlich entwickelte Salvarsan laut, um das es ohnehin Patentstreitigkeiten gab.56 Das Mittel, so lautete der aus der Luft gegriffene Vorwurf, werde bewusst nicht in die USA geliefert, um die Zahl der an Syphilis Erkrankten zu erhöhen.57 Der APC beschlagnahmte deutsche Tochterfirmen selbst dann, wenn die Geschäftsanteile in Händen amerikanischer oder amerikanisierter Staatsbürger waren: Nicht die Staatsangehörigkeit, sondern der Produktionsstandort war das entscheidende Kriterium für die Einstufung als Feindbesitz58 – eine ausgesprochen fragwürdige Konstruktion, die Palmer fast uneingeschränkte Zugriffsrechte gewährte, bemerkenswerterweise mit

54 Wilkins, History of Foreign Investment (wie Anm. 2), 132. 55 „German Plot für After-War Trade Bared by Palmer“, in: New York Times (22. August 1918). 56 Steen, The American Synthetic Organic Chemicals Industry (wie Anm. 36), 152–156. 57 Statement of Mr. Francis P. Garvan, Alien Property Custodian: as taken from the Official Record of the Hearing on the Longworth Bill before the Subcommittee of the Senate Finance Committee on Saturday, December 13, 1919, 6. Vgl. zum Kontext Jonathan Liebenau, Medical Science and Medical Industry. The Formation of the American Pharmaceutical Industry, Houndsmill 1987, 110–124. 58 „All persons of whatever nationality, including partnerships and corporations, residing or doing business in the territory of enemy nations [...] are enemy persons. The Act also puts allies of enemies in the same class with enemies, so that the Alien Property Custodian was empowered to demand and take over property located or having its situs within this country, which is owned by, held for or owing to persons, partnerships or corporations resident or doing business in Germany, Austria-Hungary, Bulgaria, and Turkey.“ Alien Property Custodian Report 1918, 7.

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tatkräftiger Unterstützung von Wilson, der mit zahlreichen Executive Orders seinem Protegé Palmer immer wieder unter die Arme griff.59 Dutzende Tochtergesellschaften wurden auf diese Weise vom APC beschlagnahmt und als „enemy interests“ nach Auktionen verkauft, in der Regel zu einem Schleuderpreis, ein traumatisches Ereignis, an das in den deutschen Muttergesellschaften bisweilen noch jahrzehntelang erinnert wurde.60 Zu einer der ersten sequestrierten Firmen zählte die Robert Bosch Magneto Company.61 Dieser bedeutendste Zündkerzenhersteller für die amerikanische Auto- und Flugzeugindustrie wurde „zu einem Schleuderpreis“ versteigert.62 Das Unternehmen Koppers & Co. in Pittsburgh stellte hochwertige Koksöfen her, die auch für die Chemieindustrie wichtig waren. Es war zu vier Fünfteln im Besitz amerikanischer Eigner, aber zu einem Fünftel im Besitz des deutschen Bergbauzulieferers Heinrich Koppers AG und wurde ebenfalls „at bargain basement prices“ an die bisherigen und weitere amerikanische Käufer, unter ihnen die Familie Mellon, auktioniert.63 Die Orenstein-Arthur Koppel Co., eine Tochter des Berliner Feldbahn- und Loren-Herstellers Orenstein & Koppel-Arthur Koppel AG im Wert von 2,3 Mio. US-Dollar, ging an den amerikanischen Konkurrenten Pressed Steel Car Co. in Pittsburgh.64 Die Zahl der auktionierten Unternehmen war Legion, und nur die wichtigsten können an dieser Stelle aufgeführt werden: Eiseman Magneto Company, Susquehanna Silk Mills, New Jersey Worsted Spinning Co., Gera Mills, Botany Worsted Mills, Kny-Scheerer Corp., die Passaic Worsted Spinning Co., die Norma Co., die General Ceramics Co. in Metuchen (New Jersey), Rossie Velvet Co. Mills, Transatlantic Trust Co., die F. Ad. Richter Company, Schutte & Koerting, die Dr. Jaeger’s Sanitary Woolen System Co., Stollwerck Bros. Inc., Kaffee Hag Co., Jagenberg Machine Co., American Junkers Co., Linde Air Products, Werner & Pfleiderer Co. sowie J. M. Voith. Liquidiert 59 Potterf, Treatment (wie Anm. 4), 463. 60 Vgl. William Haynes, American Chemical Industry, Bd. III: The World War I Period, 1912– 1922, New York 1945, 483–491; Kathryn Steen, Confiscated commerce: American importers of German synthetic organic chemicals, 1914–1929, in: History and Technology 3 (1995), 268–274; Alien Property Custodian Report 1918, 61; Wilkins, History of Foreign Investment (wie Anm. 2), 383. 61 Eine Aufstellung der „Enemy interests in corporations taken over and Directors appointed“ findet sich in: Alien Property Custodian Report 1918, 290–363. 62 Johannes Bähr/Paul Erker, Bosch. Geschichte eines Weltunternehmens, München 2013, 91. Aus diesem Grund bestanden 1929 nebeneinander die Robert Bosch Magneto Co. und die American Bosch Magneto Corporation mit ihrer Produktion in Springfield. Vgl. Steen, The American Synthetic Organic Chemicals Industry (wie Anm. 36), 159. 63 Wilkins, History of Foreign Investment (wie Anm. 2), 50; Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 133. 64 Alien Property Custodian Report 1918, 219.

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wurden neben zahlreichen Versicherungen unter anderem Siemens & Halske und Germania Worsted Mills. Ein Schwerpunkt der Sequestrierung betraf die Chemie- und Pharmaindustrie, eine forschungsstarke Branche, in der die USA, wenn man einmal von Säuren absah, noch deutlich gegenüber deutschen (und schweizerischen) Firmen im Rückstand waren.65 Die deutschen Firmen waren vor 1914 im Schnitt zehn Mal so groß wie ihre amerikanischen Konkurrenten.66 Bei den Farbstoffen waren rund zwei Drittel der US-Patente im Besitz der Firmen Hoechst, Bayer und BASF.67 Nicht ohne Grund formulierte Robert Hüttenmüller aus dem Vorstand der BASF Ende 1912 selbstbewusst, aber auch nicht ohne Sorge gegenüber dem Auswärtigen Amt: „Nicht ohne harte Arbeit und schwere Kämpfe hat die deutsche chemische Industrie ihre Erfolge auf dem Weltmarkt erzielt. (…) Zu wünschen bleibt, daß keine tiefgreifenden Störungen des Weltfriedens sie an ihrer Weiterentfaltung hindern.“68 Es war wenig verwunderlich, dass die 1903 gegründete Bayer-Tochtergesellschaft Bayer Co. ebenfalls ins Visier des APC geriet. Sie gehörte mit ihrem Werk Hudson River Aniline and Color Works in Rensselaer am Hudson River zu den wichtigsten Lieferanten im Bereich der Farbstoffe – sie lieferte rund 17 Prozent des Bedarfs des amerikanischen Markts, unter anderem das Material für die Tarnfarben der Militäruniformen.69 Das Unternehmen wurde Ende 1917 konfisziert, ihr Präsident Herman Seebohm und einige 65 Umfassend Steen, The American Synthetic Organic Chemicals Industry (wie Anm. 36). Vgl. bereits dies., Wartime Catalyst and Postwar Reaction: The Making of the United States Synthetic Organic Chemicals Industry, 1910–1930, Diss. University of Delaware 1995; daneben dies., German chemicals and American politics, 1919–1922, in: John E. Lesch (Hrsg.), The German Chemical Industry in the Twentieth Century, Dordrecht 2000, 323–346, besonders 326 f.; William Haynes, Chemical Pioneers, Freeport 1970; ders., American Chemical Industry, Bd. 6, New York 1954, 174–177; Peter J. Hugill/Veit Bachmann, The Route to the Techno-Industrial World Economy and the Transfer of German Organic Chemistry to America Before, During and Immediately After World War, in: Comparative Technology Transfer and Society 3 (2005), 158–186. 66 Andrew Godley u. a., Technology Transfer in the Interwar U. S. Pharmaceutical Sector: The Case of E. Merck of Darmstadt and Merck & Co., Rahway, New Jersey, in: Enterprise & Society 3 (2019), 613–651, hier 620, mit weiteren Nachweisen. 67 John A. Cantwell, Historical Trends in International Patterns of Technological Innovation, in: James Foreman-Peck (Hg.), New Perspectives on the Late Victorian Economy, Cambridge 1991, 37–72, hier 53. 68 Zit. nach Jeffrey Allan Johnson, Die Macht der Synthese (1900–1925), in: Werner Abelshauser (Hg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002, 117–220, hier 168. 69 Robert J. Baptista/Anthony S. Travis, I. G. Farben in America: The Technologies of General Aniline & Film, in: History and Technology 2 (2006), 187–224; James E. Donahue III, Rensselaer: Cradle of the American Dyestuff Industry, in: American Dyestuff Reporter 11 (November 1992), 159–63; ein Überblick bei Godley u. a., Technology Transfer (wie Anm. 66), 616 f.; Steen, American Synthetic Organic Chemicals (wie Anm. 36), 159–166.

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seiner Mitarbeiter als „alien enemy suspects“ zeitweise interniert. Der APC berief vier neue Mitglieder in das Board of Directors. Im Dezember 1918 folgte die Versteigerung unter den rund 100 Interessenten. Das Rennen machte die vergleichsweise unbekannte Sterling Products Company aus Wheeling in Virginia, die für 5,3 Mio. US-Dollar den Zuschlag für die Bayer-Fabrik in Rensselaer, rund 1.200 Patente, Namens- und Markenrechte erhielt.70 Auch die Tochterunternehmen von Hoechst, J. D. Riedel, Cassella, H. A. Metz, Röhm & Haas, Troponwerke, Degussa und Kalle kamen unter den Hammer. In der Kriegshysterie lauteten die Vorwürfe beim Unternehmen Heyden Chemical Works Heyden nicht nur Tarnung und Verschleierung der Besitzverhältnisse, sondern gingen ins Persönliche: George Simon, der in Deutschland geborene Präsident, wurde angeklagt und vom Staatsanwalt als antiamerikanisch und kriminell charakterisiert: „I say he is a Prussian because he looks like one; (…) Loyalty is his middle name, loyalty to the Chemische Fabrik von Heyden, loyalty to Germany. Loyalty to the Fatherland; loyalty to the Hohenzollern.“71 Merck & Co., die Tochtergesellschaft des Darmstädter Pharmaunternehmens E. Merck, das dem APC auf dem Feld der Pharmazie als „the most important concern in the world“72 galt, wurde im April 1918 beschlagnahmt. Merck & Co. sei „an enormous and very profitable business.“ Offiziell gehörte es zwar dem seit langem eingebürgerten amerikanischen Staatsbürger George Merck, aber das wurde als nebensächlich beurteilt: „Investigation, however, showed that the profits of this company had always been remitted to the German house in a matter utterly inconsistent with the apparent stock ownership.“73 Den Besitz sicherte sich eine Investorengruppe, hinter der Goldman Sachs und die Lehman Brothers standen. Vom Aktienkapital in Höhe von einer Mio. US-Dollar wurden 80 Prozent als „enemy interest“ versteigert und nach einem Bietergefecht von George Merck erworben, der zuvor vergeblich seine Unabhängigkeit

70 „The Bayer Company Sale“, in: American Dyestuff Reporter 3, Nr. 23 (2. Dezember 1918), 3– 7; Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 147 f. 71 Zit. nach Steen, American Synthetic Organic Chemicals Industry (wie Anm. 36), 168. 72 Zit. nach Burhop u. a. (Hrsg.), Merck 1668–2018. Von der Apotheke zum Weltkonzern, München 2018, 231; Steen, American Synthetic Organic Chemicals Industry (wie Anm. 36), 169–171; Lou Galambos/Jeffrey Sturchio, The German Connection: Merck and the Flow of Knowledge from Germany to the United States, 1880–1930, in: Business and Economic History On-Line 9 (2011), 1–14, besonders 9–11; dies, Transnational Investment: The Merck Experience, 1891–1925, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 81 (1994), 240–243; Leon Gortler, Merck in America: The First 70 Years from Fine Chemicals to Pharmaceutical Giant, in: Bulletin of the History of Chemistry 1 (2000), 1–9. 73 Alien Property Custodian Report 1918, 59.

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von Darmstadt ins Feld geführt hatte.74 Die Überwachung der Auktionen erfolgte theoretisch durch ein Advisory Sales Committee, das mit fünf erfahrenen Bankfachleuten und Juristen besetzt war. Erstaunlicherweise gab es gegen die üppigen Pfründen, die Palmer gleichsam nach Gutsherrenart verteilte, kaum Kritik, was wahrscheinlich auch damit zusammenhing, dass der APC den eigentlich vorgeschriebenen Veröffentlichungspflichten nur unvollkommen nachkam.75 Die sequestrierten Unternehmen wurden durch die Einsetzung von neuen Mitgliedern in das Board of Directors kontrolliert, häufig Männer aus der Entourage Palmers – ein für alle Seiten einträgliches Geschäft, das zudem ein für Palmer später nützliches politisches Beziehungsgeflecht schuf.76 Zur Verwaltung der Firmen wurden insgesamt fast 33.000 Trusts gebildet.77 Die beschlagnahmten Gelder – bereits damals auf eine Summe in Höhe von rund 700 Mio. US-Dollar geschätzt – wurden bei der US Treasury deponiert und in amerikanische Bonds oder Schuldverschreibungen angelegt. Geschäftsverbindungen nach Deutschland wurden verboten und das Management scharf überwacht. In einem typischen Fall hieß es, der Trust diene dazu, „to insure the continuous Americanization“.78 Der ehrgeizige Schwiegersohn Wilsons, Finanzminister William G. McAdoo, interessierte sich vor allem für deutsche Schifffahrtunternehmen sowie ein Dutzend deutscher Versicherer und Rückversicherer, die meist liquidiert wurden und, wie etwa die Münchener Rück, später nicht wieder an die alte Rolle anknüpfen konnten.79 Die „New York Times“ war vom Feuereifer der APC-Beamten beeindruckt: „This organization is at once the biggest trust institution in the world, a director of vast businesses of varied nature, a detective agency, and a court of equity.“80 Palmer berichtete Ende 1918 stolz, dass „practically all known enemy property in the United States has been taken over

74 Vgl. Burhop u. a. (Hrsg.), Merck (wie Anm. 72), 230–233, daneben auch die 25 Seiten umfassende Schrift von George W. Perkins (Merck & Co. Executive Vice President) an C. D. Blauvelt, Foreign Fund Control Division, Federal Reserve Bank vom 21. März 1942, RG 131, Acc. 61A109, Box 681, Foreign Funds Control File (Department of Justice). 75 Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 135. 76 Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 130–135. Hier finden sich weitere Details zur Besetzung der Stabsstellen, die Palmer in der Regel mit Juristen und Bankfachleuten seines Vertrauens besetzte. 77 Potterf, Treatment (wie Anm. 4), 465. 78 Godley u. a., Technology Transfer (wie Anm. 66), 623 f. 79 Johannes Bähr/Christopher Kopper, Die Geschichte der Münchener Rück 1880 – 1980, München 2015, 95–124. 80 New York Times (27. Januar 1918).

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by me.“81 Der Abschluss erfolgte jedoch erst mit der letzten Übernahme, der Firma Bergdoll, im Mai 1921.82 Nur in Ausnahmefällen wies Wilson seinen Custodian bei Sequestrierungen in die Schranken. Palmer hatte es beispielsweise auf eine ganze Reihe amerikanischer Brauereien wie etwa die Pabst Brewing Co. abgesehen, die vielfach stolz auf ihre deutsche Brautradition waren, was aber nach Palmers Ansicht „unpatriotic“ war.83 Als dieser auch die Anheuser-Busch Brewing Co. sequestrieren wollte, obwohl an der Unternehmensspitze amerikanische Staatsbürger standen, wurde dies selbst Wilson zu viel: „My advice, therefore, is that you release it as soon as possible.“84 Ähnlich reagierte Wilson auf die Auktion des beschlagnahmten Bleistift- und Radiergummiherstellers A. W. Faber aus Newark, einer Firma, die 1849 von Eberhard Faber gegründet worden war und von dessen Sohn gleichen Namens sowie Lothar W. Faber geleitet wurde, beides amerikanische Staatsbürger. Nachdem die Firma, deren Wert auf 225.000 US-Dollar geschätzt wurde, im September 1918 für 145.000 US-Dollar unter den Hammer gekommen und an den New Yorker Geschäftsmann Theodore Friedeburg gegangen war, intervenierte Wilson mit einer Executive Order. Der empörte Eberhard Faber hatte inzwischen mit einer Zeitungskampagne die Details dieses zweifelhaften Deals öffentlich gemacht.85 Auch dem Attorney General Thomas Wyatt Gregory schienen Palmers Schauermärchen über die deutsche Fünfte Kolonne hysterisch. Er mahnte – allerdings vergeblich – zur Besonnenheit: „Keep your shirt on and don’t accept as true the utterly baseless statements constantly being made, such as that gas masks are being intentionally made defective; that arms and munitions are being shipped to Germany, that the efforts to investigate and enforce the law are utterly inadequate, and that munition plants are being blown up and destroyed all over the country.“86 Garvan, der sich als Hardliner bewährt hatte, wurde im März 1919 Nachfolger des sich zu Höherem berufen fühlenden APC Palmer. Er informierte im Juni 1919 das Advisory Sales Committee des APC, es sei seine Aufgabe, „the clean, unGermanized manufacture and sale of drugs“ sicherzustellen: „Watchfulness“ sei das Gebot der Stunde.87 Garvan wurde noch im gleichen Jahr Gründungspräsident der „Chemical Foundation“, eine Art Dachverband amerikanischer Che81 Alien Property Custodian Report 1918, 3. 82 Vgl. Alien Property Custodian Report 1922. 83 Amy Mittelman, Brewing Battles. A History of American Beer, New York 2008, besonders 83 f. 84 Das Archivdokument wird zitiert nach Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 150. 85 Alien Property Custodian Report 1918, 541. 86 Archivdokument vom 15. April 1918, zit. nach Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 136. 87 Garvan an Advisory Sales Committee vom 5. Juni 1919, in: NA, RG 131, RAP.

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mieunternehmen. Diese Einrichtung erhielt mit Billigung Wilsons, gleichsam als Morgengabe, rund 4.500 Patente aus dem Chemiebereich zum Spottpreis von 250.000 US-Dollar, also den Löwenanteil der insgesamt rund 5.700 verlorenen deutschen Patente.88 Dieser Vorgang ist von einem Historiker mit guten Argumenten als „great pharmaceutical patent robbery“ bezeichnet worden.89 Die Firma Abbott, die besonders erfolgreich beim Patenterwerb war, erhielt unter anderem die wertvollen Patentrechte für Salicylsäure zur Aspirin-Herstellung. In seiner Doppelfunktion als APC und Präsident der „Chemical Foundation“ beseitigte Garvan mit seinen Behörden mit einem Schlag die amerikanischen Kapital- und Forschungsdefizite im Chemie- und Pharmabereich. Prohibitive Zölle schoben zugleich einem zukünftigen Import deutscher Produkte einen wirksamen Riegel vor und dienten als langfristige Marktbarriere. Die amerikanische Industrie etablierte fortan eigene Forschungslabors und meldete in der Zwischenkriegszeit erheblich mehr Patente an als je zuvor.90 Die Geschichte der unsauberen Geschäfte des APC, die bei den betroffenen deutsch-amerikanischen Unternehmern den Eindruck hinterließen, einer Willkür- und Siegerjustiz ausgeliefert zu sein, ist noch nicht geschrieben. Es besteht an dieser Stelle keine Gelegenheit, die atemberaubenden Machenschaften und die Vetternwirtschaft im Detail zu beschreiben, die Gaunergeschichten alle Ehre machen. Dass häufig nicht alles mit rechten Dingen zuging, mögen einige Beispiele illustrieren. Die APC-Verkaufsdirektoren Joseph A. Bower und Joseph F. Guffey deponierten Verkaufserlöse in Höhe von Millionen US-Dollar in eigenen Bankdepots, anstatt wie vorgesehen, das Geld an die Treasury zu überweisen.91 Das Brüderpaar Francis und Archibald Harrison parkte Gelder aus APC-Verkäufen in einer Bank in Manila auf den Philippinen. Palmer deckte diese Veruntreuung, denn er fürchtete den Reputationsverlust, wenn der Skandal ruchbar werden würde.92 Bei der Robert Bosch Magneto Company machte der als Strohmann amerikanischer Investoren auftretende Bieter Martin E. Kern von der 88 Alien Property Custodian Report 1918, 218–220. Vgl. Mira Wilkins, German chemical firms in the United States from the late 19th century to post-World War II, in: John E. Lesch (Hg.), The German Chemical Industry in the Twentieth Century, 285–322, 301; Steen, American Synthetic Organic Chemicals Industry (wie Anm. 36), 173–190. Die Zahl der verlorengegangenen Patente wird unterschiedlich angegeben. Ein Autor spricht sogar von rund 12.000 Patenten: Michael White, US Alien Property Custodian Patent Documents: A Legacy Prior Art Collection from World War II – Part 1, History, in: World Patent Information 4 (2007), 339–345, hier 341. 89 Wadlow, The great pharmaceutical patent robbery (wie Anm. 41). 90 Jonathan Liebenau, Medical Science (wie Anm. 57), 109–124; Alfred D., Chandler, Shaping the Industrial Century. The Remarkable Story of the Evolution of the Modern Chemical and Pharmaceutical Industries, Cambridge MA 2009, 177–185. 91 Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 140 f. 92 Ebd., 141 f.

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Bethlehem Motors Co., ein Vertrauter und Mandant Palmers, gemeinsame Sache mit dem Auktionator – und späteren APC – Thomas Miller, um die Patentrechte von Bosch zu erhalten: Kern war eine zwielichtige Gestalt, ein Brauereibesitzer, der wegen Juwelenraubs mehrere Jahre im Gefängnis Sing Sing gesessen hatte. Schmiergeldzahlungen, Schiebereien, betrügerische Konkurse und andere Machenschaften prägten die „Auktion“ der Bosch-Tochtergesellschaft, die eher den Charakter einer Farce als eines rechtsstaatlichen Verfahrens hatte.93 Intrigen, Skandale, Korruption und Kumpanei blieben an der Tagesordnung. Das Advisory Sales Committee und andere Kontrollgremien verhinderten nur allzu offensichtliche Fälle von Korruption, zumal einige Mitglieder selber in diese und andere Machenschaften verstrickt waren.94 Thomas W. Miller, seit März 1921 Nachfolger Garvans als APC, nahm Bestechungsgelder in Höhe von 50.000 US-Dollar von einem Vertrauten des Attorney General Harry M. Daugherty an, um den Verkauf von Eigentum und Patenten der ehemaligen Tochtergesellschaft der Metallgesellschaft AG zu beeinflussen – Vorgänge, die bereits in den größeren Komplex der sogenannten „Teapot Dome“-Skandale gehören und literarisch vor allem durch F. Scott Fitzgerald in seinem Sittengemälde „The Great Gatsby“ verarbeitet worden sind.

3 Die Nachkriegszeit und der APC Bei Kriegsende hatten sich die USA als ökonomischer Hegemon auf die Vorderbühne der Welt katapultiert – ganz in dem Sinn, wie es Walther Rathenau prophezeit hatte, dass London einmal eine „Filiale von New York“ werden würde. Der Untergang der Hohenzollernmonarchie, der zugleich die befürchtete deutsche Wirtschaftsdominanz gegenstandslos machte, führte langfristig zu einer milderen Beurteilung. Wilson teilte dem APC im November 1918 mit, dass sich beim Vorgehen gegen deutsch-amerikanische Firmen etwas ändern müsse: „It seems to me that it would not be wise to add just now to the list of alien names, in view of the virtual cessation of hostilities. (…) Misapprehensions (…) would arise if we seemed to be taking advantage of the technical continuation of the war to get hold of this property.“95 Im Viererrat von Versailles plädierte er im April 1919 gegen einen Karthagofrieden: „We have already taken from Germany

93 Ebd., 147. Vgl. Bähr/Erker, Bosch (wie Anm. 62), 91 und 595, Anm. 57. 94 Einzelheiten bei Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 139. 95 Das Archivdokument wird zitiert nach Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 150.

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several of her coal basins; we must avoid placing her industries in a situation which would not permit her to recover and to pay us what is due to us.“96 Die amerikanische Industriepolitik hatte sich als so erfolgreich erwiesen, dass sich die noch vulnerablen amerikanischen Branchen vor ausländischer Konkurrenz keine großen Sorgen mehr machen mussten. Weil sie aber weiterhin starke deutsche Konkurrenz fürchteten,97 spiegeln manche wirtschaftlichen Bestimmungen des Friedens von Versailles, wenig verwunderlich, Auffassungen wider, die ganz ähnlich der APC vertrat.98 In Artikel 252 und in der Anlage zu Artikel 296 des Versailler Vertrags wurde nicht zuletzt auf amerikanischen Druck99 festgelegt, dass die Siegermächte das Verfügungsrecht über die „feindlichen Guthaben und das feindliche Eigentum“ des Fremdbesitzes erhielten. Die scharfe Kritik an Wilsons Inkompetenz, die am bekanntesten John Maynard Keynes in seiner Streitschrift über die „wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ äußerte,100 blieb zunächst ohne politischen Widerhall. In Deutschland reichte die Missbilligung von links bis ganz rechts. Adolf Hitler sprach davon, dass sich Deutschland „wirtschaftlich und kulturell einem Halunken wie Wilson, der mit einem Stab von 117 jüdischen Bankiers und Finanzleuten nach Paris gekommen sei, (…) in die Arme geworfen“ habe.101 Wilson, ein Zauberlehrling, der die Kontrolle über die von ihm eingeleiteten Maßnahmen verloren hatte, mischte sich nur noch gelegentlich in die Angelegenheiten des deutschen Auslandsvermögens ein. Die Amerikaner wählten inzwischen den farblosen Warren Harding zum Präsidenten, weil sie nach acht Jahren Wilson genug von dessen pastorenhaften Missionsgedanken und hochfliegenden Weltverbesserungsplänen hatten. Weil die USA den Versailler Vertrag schließlich nicht ratifizierten, mussten Sonderlösungen gefunden werden. Der Weimarer Republik oblag es, die deutschen Besitzer für ihre Vermögensverluste zu entschädigen, was meist aus dem Reichshaushalt geschah. Am 2. Juli 96 Zit. nach Sedlmaier, Deutschlandbilder (wie Anm. 25), 132. 97 Steen, American Synthetic Organic Chemicals Industry (wie Anm. 36), 171–173, Zitat 171. 98 Das ökonomische Kalkül der USA bleibt auch in den Neuerscheinungen zum Versailler Vertrag unterbelichtet. Vgl. Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018; Robert Gerwarth, Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit, München 2018; Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 2018; Klaus Schwabe, Versailles. Das Wagnis eines demokratischen Friedens 1919–1923, Paderborn 2019; Markus M. Payk, Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2018. 99 Vgl. Veritas, The Alien Property Custodian, in: New Republic 28 (21. September 1921), 98. 100 John Maynard Keynes, The Economic Consequences of the Peace, London 1919. 101 Hitler. Sämtliche Aufzeichnungen 1905–1924, hrsg. v. Eberhard Jäckel zusammen mit Axel Kuhn, Stuttgart 1980, Nr. 275 vom 19. August 1921, 458 f.

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1921 wurde die sog. Knox-Porter Peace Resolution verabschiedet. Sie dekretierte, dass das einmal sequestrierte Eigentum in amerikanischen Besitz blieb.102 Am 25. August 1921 wurde mit dem Berliner Vertrag ein deutsch-amerikanischer Separatfrieden unterzeichnet; er trat am 14. November des gleichen Jahres in Kraft. Die Knox-Porter Peace Resolution und Teile des Versailler Vertrages waren integraler Bestandteil dieser Abmachung. Der Verlust von Produktionsanlagen, von Auslandsvermögen, von Patenten und von Markenrechten wurde in diesem Vertrag nur unbefriedigend geregelt. Reparationsleistungen wurden zwar nicht unilateral festgelegt, aber die USA durften den beschlagnahmten Auslandsbesitz bis zu dem Zeitpunkt behalten, zu dem Deutschland „suitable provision for the satisfaction of all claims“ zusagte. Weil an die Stelle der Kriegspropaganda inzwischen eine besonnenere Stimmung getreten war, wurde nun auch Kritik am Machtmissbrauch des APC laut.103 Thomas W. Miller, bekanntlich Nachfolger Garvans als APC, war kein Wilsonianer und missbilligte wohl auch die Hardliner-Politik seiner Vorgänger. Aber er war wesentlich nur Administrator des Erbes, konnte auch nicht gerade als poster child sachgemäßer Verwaltung gelten104 und wurde schließlich im April 1925 abgelöst. Das Personal der APC-Behörde war inzwischen auf knapp über 200 geschrumpft. Nach einem Intermezzo von wenigen Monaten, in denen Frederick C. Hicks als APC fungierte,105 versuchte seit Dezember 1925 dessen Nachfolger Howard Sutherland, Licht ins Dunkel der Machenschaften zu bringen. Das ganze Ausmaß des Korruptionssumpfes der APC-Behörde wurde aber trotz aller administrativer und juristischer Bemühungen nie wirklich aufgedeckt. Miller wurde 1927 für seine Schiebereien zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt, gegen Daugherty wurde immerhin ein Senatsverfahren eingeleitet.106 Die Gerüchte und Erkenntnisse der grassierenden Bestechlichkeit in der APC-Behörde waren inzwischen von manchen deutschen bzw. deutsch-amerikanischen Unternehmern genutzt worden, um wenigstens einen Teil ihres Besit-

102 Vgl. Peace at Last, in: Nation 112 (13. Juli 1921), 24. Zum Teil abgedruckt in: Alien Property Custodian Report 1922, S. V. 103 Coben, A. Mitchell Palmer (wie Anm. 37), 147. 104 Wilkins, The History of Foreign Investment (wie Anm. 2), 113. 105 Hicks verstarb am 14. Dezember 1925. Vgl. Annual Report of the Alien Property Custodian for the Year 1925, Washington D. C. 1926, 2. 106 Investigation of the Attorney General. Hearings before the Select Committee on Investigation of the Attorney General. United States Senate. Sixty-Eigth Congress, First Session, Washington 1924. Zur Einordnung auch Wilkins, History of Foreign Investment (wie Anm. 2), 113.

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zes wiederzuerlangen.107 Der APC verwaltete 1925 noch ein Vermögen von rund 300 Mio. US-Dollar, die Hälfte davon als Barbestand.108 Das Ringen um Entschädigungen und Kompensationen beschäftigte jahrelang Juristen und Anwaltskanzleien in den Gerichtssälen auf beiden Seiten des Atlantiks. Streitigkeiten sollten durch eine Schadenskommission beigelegt werden, deren Voraussetzung durch ein bilaterales Abkommen vom 10. August 1922 geschaffen wurde. Diese „German American Mixed Claims Commission“ prüfte bzw. regelte in einem Schiedsgerichtsverfahren bis 1932 in arbeitsintensiver und zeitraubender Detailarbeit vermögensrechtliche Ansprüche von Deutsch-Amerikanern aus der „Schädigung oder Beschlagnahme“ ihrer Güter.109 In der Amtszeit der Kommissare Wilhelm Kiesselbach und Chandler P. Anderson wurden mehr als 20.400 Ansprüche mit einer Gesamtsumme über 200 Mio. US-Dollar geregelt. Beide Seiten waren sich nach Abschluss der Kommissionsarbeit jedoch einig, dass sich das aufwendige und bürokratische Verfahren insgesamt „nicht bewährt“ hatte.110 Die meisten deutschen Unternehmen glaubten langfristig an eine Rückkehr an den Weltmarkt. Trotz des fast vollständigen Ausfalls des Auslandsgeschäfts, des Verlusts der Patente und der wachsenden Konkurrenz waren manche pessimistische Zukunftsprognosen, die 1918/19 zu hören gewesen waren, bald schon wieder überholt. Deutschland verfügte nach wie vor über technologisches Know-how und einen unverändert großen Pool gut ausgebildeter Fachkräfte. Bosch lieferte beispielsweise robuste und qualitativ hochwertige Elektrokomponenten inzwischen besonders an die expandierenden Märkte Asiens und Lateinamerikas. Die Exportquote des schwäbischen Herstellers lag 1920 bereits wieder bei über 50 Prozent.111

107 Wilkins, History of Foreign Investment (wie Anm. 2), 132. 108 New York Times (13. und 14. August 1925). 109 Wilhelm Kiesselbach, Der Abschluß der 10-jährigen Tätigkeit der Deutsch-Amerikanischen Schadens-Kommission und die in dieser Arbeit gemachten Erfahrungen, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 3 (1933), 568–574; ders., Probleme und Entscheidungen der deutsch-amerikanischen Schadens-Commission, Mannheim 1927; Burkhard Jähnicke, Washington und Berlin zwischen den Kriegen. Die Mixed Claims Commission in den transatlantischen Beziehungen, Baden-Baden 2003; Manfred Berg, Trade, Debts, and Reparations, in: Hans-Jürgen Schröder (Hg.), Confrontation and Cooperation. Germany and the United States in the Era of Word War I, 1900–1924, Oxford 1993, 409–414; Reinhard Doerris, Die Mixed Claims Commission. Juristisches Forum für die politischen Beziehungen zwischen Washington und Berlin in der Zwischenkriegszeit, in: Karl Albrecht Schachtschneider (Hg.), Transport – Wirtschaft – Recht, Berlin 2001, 455–472. 110 Kiesselbach, Abschluß (wie Anm. 109), 570. 111 Bähr/Erker, Bosch (wie Anm. 62), 96.

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Bereits kurz nach Kriegsende begannen sich die deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen zu normalisieren.112 Industrielle aus beiden Staaten führten seit 1919 wieder Gespräche, anfangs in Paris, Zürich und Amsterdam.113 Amerikanische Reeder wollten 1920 die deutschen Gesellschaften HAPAG und Norddeutscher Lloyd als Partner gewinnen, weil ihnen noch die Erfahrung zur effizienten Organisation großer Handelsflotten fehlte. Die deutschen Direktoren waren zuversichtlich: „Die Möglichkeiten, welche in diesen Beziehungen liegen, sind, wenn sie sorglich gepflegt werden, außerordentlich große.“114 In der chemischen und pharmazeutischen Industrie war es nicht anders. Manche amerikanischen Unternehmen, die deutsche Patente erlangt hatten, taten sich anfangs mangels technischer Kenntnisse schwer, diese angemessen zu verwerten.115 Die deutschen Unternehmen wussten, dass sie sich auf einen harten Wettstreit mit den amerikanischen Firmen einstellen mussten. Sie setzten daher auf Forschungskooperation, weil dies die einzige Möglichkeit war, sich den internationalen Markt zurückzuerobern. Die bereits erwähnte Sterling Products Company wandte sich schon im August 1919 an Bayer, um ein Joint Venture auf den Weg zu bringen. Dies stieß zwar zunächst auf taube Ohren, weil man in Leverkusen den Entzug der Patente nicht anerkennen wollte. Nach einer Schamfrist erreichte Bayer jedoch 1924 eine Verständigung, die sich als durchaus lukrativ erwies. Bayer gründete gemeinsam mit Sterling die Winthrop Group, um wieder einen Fuß auf dem amerikanischen Markt zu bekommen. Die Fabrik in Rensselaer wurde fortan gemeinsam mit der Grasselli Chemical Company betrieben und eine neue Firma, die Grasselli Dyestuff Corporation gegründet, an der Bayer zu 49 Prozent beteiligt war. Inzwischen waren amerikanische Gerichte sogar bereit, die kriegsbedingten Vorgänge der Jahre 1917 bis 1921 zu korrigieren. Einflussreiche amerikanische Völkerrechtler wie John Bassett Moore wiesen in ihren Schriften auf die Fragwürdigkeit mancher im Weltkrieg gefallenen Entscheidungen in Sachen „Alien Property“ hin.116 In zahlreichen Fällen erfolgten Rückzahlungen. Beispielsweise blieb George Merck nach langem juristischen Hin und Her im Besitz seiner Fir-

112 Gerhard Kümmel, Transnationale Wirtschaftskooperation und der Nationalstaat: Deutschamerikanische Unternehmensbeziehungen in den dreißiger Jahren, Stuttgart 1995, 141–202; Wilkins, German chemical firms (wie Anm. 88), 301 und 306. 113 Wilkins, History of Foreign Investment (wie Anm. 2), 112. 114 Zit. nach Ritter, Der Kaiser und sein Reeder (wie Anm. 1), 161; vgl. Wixforth, Kriegseinsatz (wie Anm. 2), 383. 115 Godley u. a., Technology Transfer (wie Anm. 66), 614. 116 John Bassett Moore, International Law and Some Current Illusions and Other Essays, New York 1924, besonders 21–25.

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ma.117 E. Merck und die ehemalige Tochtergesellschaft Merck & Co. verständigten sich freundschaftlich über Namens- und Produktionsrechte, was zu einem Geldsegen führte, der für das Darmstädter Unternehmen in der Weltwirtschaftskrise überlebenswichtig wurde. Unternehmen wie Schering und Boehringer kehrten mit eigenen Tochterunternehmen oder über den Umweg über Mehrheitsbeteiligungen in die USA zurück.118 Erstaunlicherweise bedeuteten die Enteignungen daher nur eine vorübergehende Eintrübung für die deutsche Industrie, zumal gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit die inflationsbedingte künstliche Konjunktur und die billige Mark den Export begünstigten. Erst das Haushaltsdefizit zwang in Verbindung mit der Hyperinflation und dem vollständigen Zusammenbruch des Finanzund Währungssystems die Unternehmen schließlich in die Knie.119 Zwar holten die amerikanischen Unternehmen in zentralen Bereichen wie Forschung und Patentierungen stark auf.120Aber seit 1924 erzielte – um ein besonders eklatantes Beispiel zu geben – die gesamte deutsche Chemie- und Pharmabranche Exportrekorde. Die wichtigen südamerikanischen Märkte wurden trotz massiver US-amerikanischer Konkurrenz zurückerobert. Der deutsche Anteil am Weltmarkt betrug trotz misslungener Rekonstruktion des Weltwährungssystems aufgrund der interalliierten Schulden und Reparationspolitik, wachsendem Natio117 Vom erwähnten Versteigerungserlös über 3.750.000 US-Dollar floss nur ein Teilbetrag nach Darmstadt zurück: Etwa 681.000 US-Dollar behielt die amerikanische Regierung als Steuern ein, weitere 538.128 US-Dollar wurden als Schulden gegengerechnet, hinzu kamen Ausgleichszahlungen in Höhe von einer halben Mio. US-Dollar, die nach zähen Verhandlungen an die Merck-Partner Gehe, Riedel, Knoll und Boehringer Mannheim ausbezahlt werden mussten. Hinzu kamen die erheblichen Anwaltskosten. Report on Investigation of E. Merck, Darmstadt, NA, RG 260, M 1922, Records of the External Assets Investigation Section of the Property Division, 38 f. Vgl. Burhop u. a. (Hrsg.), Merck (wie Anm. 72), 231; Michael Schneider, Das Wissenschaftliche Unternehmen. Zur chemisch-pharmazeutischen Forschung bei E. Merck, Darmstadt, ca. 1900 bis 1930, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 2 (2017), 163–203. 118 Godley u. a., Technology Transfer (wie Anm. 66), 628 f.; Christopher Kobrak, National Cultures and International Competition. The Experience of Schering AG, 1851–1950, New York 2002, besonders 169 f.; Steen, American Synthetic Organic Chemicals Industry (wie Anm. 36), 239–249; Wilkins, History of Foreign Investment (wie Anm. 2), 252 und 416; dies., German chemical firms (wie Anm. 88), 285–322. 119 Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Stuttgart 2008, 166–177; Gerald D. Feldman, The Great Disorder. Politics, Economics and Society in the German Inflation 1914–1924, New York 1993, 218–235 und 385–452; kritisch zur Inflationskonjunktur: Heike Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik. Eine Einführung in Ökonomie und Gesellschaft der ersten deutschen Republik, Göttingen 2010, 60–68; Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München 2000, 70. 120 Vgl. Investigation Report, Office of Alien Property Custodian, in: National Archives, RG 131, Box 400, v. 5251.

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nalismus, protektionistischer Zoll- und Devisenpolitik und dem „Ende der Globalisierung“121 im Jahr 1929 bereits wieder 28,3 Prozent, eine unangefochtene Vorrangstellung vor den USA, deren Anteil bei 18,5 Prozent lag.122 Selbst die Autarkiepolitik des NS-Regimes konnte diesen Trend nicht umkehren. Bis 1938 steigerte Deutschland seinen Anteil am pharmazeutischen Weltmarkt auf rund 40 Prozent, während die Anteile der großen Konkurrenten Großbritannien, USA und Frankreich unverändert blieben oder sogar leicht zurückgingen.123 Wie, so lautet daher die hypothetische Frage, hätte sich dieser Wirtschaftszweig wohl entwickelt, wenn es keinen Ersten Weltkrieg, keinen Wirtschaftskrieg, keine Enteignung des deutschen Auslandsgeschäfts und keinen APC gegeben hätte? Darauf wird sich keine gesicherte Antwort finden lassen. Der atemberaubende Wiederaufstieg der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie, aber auch anderer exportorientierter Branchen in der Zwischenkriegszeit wurde durch die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs beendet. Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour wurde sogar der APC reaktiviert, dessen Behörde zwar nie offiziell aufgelöst worden war, aber, seit 1934 dem Department of Justice zugeordnet, jahrelang eine Dornröschenexistenz geführt hatte.124 Im März 1942 setzte Präsident Franklin D. Roosevelt mit der Executive Order 9095 unter Berufung auf den „Trading with the Enemy Act“ des Jahres 1917 erneut einen APC ein, dessen Tätigkeit ebenso einschneidende Konsequenzen hatte wie in den Jahren des Ersten Weltkrieges – aber das ist eine Geschichte, die an anderer Stelle erzählt werden muss.

121 Harold James, The End of Globalization. Lessons from the Great Depression, Cambridge, MA 2001. 122 Fritz Merk, Die Absatzgestaltung der Erzeugnisse der deutschen chemisch-pharmazeutischen Industrie, Düsseldorf 1939, 93. Vgl. Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, Die deutsche Chemische Industrie. Verhandlungen und Berichte des Untersuchungsausschusses für Gewerbe: Industrie, Handel und Handwerk, Berlin 1930, 84. 123 Merk, Die Absatzgestaltung (wie Anm. 122), 93. 124 White, US Alien Property Custodian Patent Documents (wie Anm. 88), 342.

Nina Kleinöder

Kolonialwirtschaft ohne Kolonien? Deutscher Eisenbahnbau in Afrika im und nach dem Ersten Weltkrieg Mit dem Einmarsch der Ententestaaten endete bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs die deutsche Kolonialherrschaft1 in Afrika: Dabei war das Deutsche Reich „[a]uf den Krieg in den Kolonien […] nicht vorbereitet“2 und auf den endgültigen Gebietsverlust der Kolonien noch weniger.3 Vielmehr prägten im Kriegsverlauf noch Ideen eines neuen „Mittelafrika“4 unter Ausbau des deutschen Einflusses auch die ökonomischen Erwartungen an eine weiter wachsende Kolonialwirtschaft.5 Noch im Jahr 1916 veröffentlichte das Reichskolonialamt einen Bericht zu den „Kolonialbahnen mit besonderer Berücksichtigung Afrikas“, in dem der Autor, Oberbaurat Franz Baltzer, davon ausging, dass „innerhalb der nächsten 10 Jahre in unseren afrikanischen Schutzgebieten noch meh-

1 In Anlehnung an Gründers These vom „Kolonialismus ohne Kolonien“; Horst Gründer, Kolonialismus ohne Kolonien, in: ders./Hermann J. Hiery (Hrsg.), Die Deutschen und ihre Kolonien. Ein Überblick. Berlin 2017, 161–175, hier 161. 2 Winfried Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte, Stuttgart 32014, 155. 3 Vgl. Horst Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn 62012, 258. Zum Ersten Weltkrieg in Afrika vgl. u. a. Stefanie Michels, Totale Mobilmachung in Afrika. Der Erste Weltkrieg in Kamerun und Deutsch-Ostafrika, in: Arnd Bauerkämper/Elise Julien (Hrsg.), Durchhalten! Krieg und Gesellschaft im Vergleich 1914–1918, Göttingen 2010, 238–259; Robert Gerwarth/ Erez Manela, Empires at War. 1911–1923, Oxford 2014; Michael Pesek, Das Ende eines Kolonialreiches. Ostafrika im Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 2010; Helmuth Stoecker, Der erste Weltkrieg, in: ders. (Hg.), Drang nach Afrika. Die deutsche koloniale Expansionspolitik und Herrschaft in Afrika von den Anfängen bis zum Verlust der Kolonien, Berlin 21991, 239–261. 4 Vgl. dazu in der Übersicht Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien (wie Anm. 3), 253– 277; Adolf Rüger, Das Streben nach kolonialer Restitution in den ersten Nachkriegsjahren, in: Stoecker (Hg.), Drang nach Afrika (wie Anm. 3), 262–283, sowie ausführlich Dirk van Laak, Imperiale Infrastruktur. Deutsche Planungen für eine Erschließung Afrikas 1880 bis 1960, Paderborn 2004, 165–183 und Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Kronberg/Ts. 21977, 96–98, 262–265, 299–302, 516–520. 5 Im zeitgenössischen Verständnis handelte es sich hierbei im engeren Sinne sowohl um die Ausbeutung von Rohstoffen (Export) als auch die Schaffung eines Absatzmarktes für deutsche Industrie- und Konsumgüter (Import). Im erweiterten Sinne zählten hierzu jedoch auch Kapitalanlagen, etwa für den hier betrachteten Eisenbahnbau, vgl. Kolonialwirtschaft, in: Heinrich Schnee, Deutsches Kolonial-Lexikon, 1920, Bd. 2, 342 ff. https://doi.org/10.1515/9783110765359-012

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rere 1.000 km Eisenbahnen zu bauen“6 seien. Dieses Zitat belegt, dass sich noch im Jahr 1916 sowohl staatliche als auch unternehmerische Erwartungen auf einen vielversprechenden Markt in den afrikanischen Kolonien richteten. Dagegen besiegelte der Versailler Vertrag schon drei Jahre später nicht nur die europäischen, sondern auch die kolonialen Gebietsverluste des Deutschen Reiches in Artikel 119. Zugleich blieben einerseits mit dem Ende der deutschen kolonialen Herrschaft („Formal Empire“) deutsche ökonomische Interessen und Akteure in den ehemals kolonisierten Gebieten präsent („Informal Empire“).7 Andererseits prägte der „Kolonialrevisionismus“ die politischen Debatten um die Kriegsschuldfrage über die „koloniale Schuldlüge“ (Heinrich Schnee, ehemaliger Gouverneur von „Deutsch-Ostafrika“) als ein „Eckpfeiler des gesamten Revisionismussyndroms“8 der Weimarer Republik. Der Beitrag untersucht daher am Beispiel des deutschen Kolonialbahnbaus, auf welche Weise sich praktische ökonomische Interessen der deutschen Unternehmer an den afrikanischen Absatzmärkten, die politische Revision des Versailler Vertrages im Kontext der deutschen Außenhandelspolitik, sowie die imperiale Grundordnung der Siegermächte im Nachgang von Versailles gegenüberstanden.9 Über das formelle Ende kolonialer Herrschaft hinaus folgt der Beitrag daher der These Gallaghers und Robinsons, „[that f]or purposes of economic anlaysis it would clearly be unreal to define imperial history exclusively as the history of those colonies coloured red on the map“10. Weniger das formale Ende der deutschen Kolonien als vielmehr die informellen Kontinuitätslinien deutscher kolonialer Einflussnahme werden in diesem Sinne über ökonomische Akteure in den Fokus gerückt. Der Beitrag richtet sich auf die bislang kaum untersuchten Folgen der Gebietsverluste für die deutschen Unternehmen und die

6 Franz Baltzer, Die Kolonialbahnen mit besonderer Berücksichtigung Afrikas, Berlin 1916, 34. 7 Vgl. John Gallagher/Ronald Robinson, The Imperialism of Free Trade, in: The Economic History Review 1 (1953), 1–15; Jürgen Osterhammel/Jan C. Jansen, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2012, 24 f.; vgl. auch in der Übersicht Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2012, 116–119. Siehe zur Kontinuität deutscher Wirtschaftsinteressen in der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun jüngst Caroline Authaler, Deutsche Plantagen in Britisch-Kamerun. Internationale Normen und lokale Realitäten 1925 bis 1940, Wien 2018. 8 Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien (wie Anm. 3), 258. Vgl. zum Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik ausführlich Karsten Linne, Deutschland jenseits des Äquators? Die NS-Kolonialplanungen für Afrika, Berlin 2008, 18–25. 9 Siehe zur Verquickung und Abgrenzung von Kolonialismus und Imperialismus in ökonomischer Lesart in der Übersicht María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 32020, 39–41. 10 Gallagher/Robinson, Imperialism (wie Anm. 7), 1.

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Frage, in welcher Weise sie mit den neuen Besitz- und Marktverhältnissen im Einzelnen in den „Jahre[n] der Unsicherheit 1919–1923“11 umgingen.12 Durch den Einmarsch alliierter Truppen in Togo und Kamerun bereits im Sommer 1914 waren die dort tätigen Unternehmen frühzeitig mit der Realität von Kriegshandlungen konfrontiert: In einem ersten Schritt werden daher am Beispiel der Gutehoffnungshütte (Brückenbau) unmittelbare Kriegsfolgen wie Kapital- und Sachverluste, stornierte Aufträge und internierte Belegschaftsangehörige in den deutschen afrikanischen Kolonialgebieten in den Blick genommen. Im zweiten Schritt wird nach den Folgen von Versailles und der endgültigen Neuordnung der Herrschafts- und Marktverhältnisse für die Unternehmen in Afrika gefragt: Welche Folgen hatte der offizielle Gebietsverlust durch den Versailler Vertrag (Artikel 119) und welche Konsequenzen folgten durch weitere Vertragsartikel für die ehemaligen Kolonialgebiete und die dort angesiedelten Unternehmungen? Wie reagierten die Unternehmen darauf? In welcher Form setzten sich Bau und Betrieb im Zusammenwirken und/oder Konkurrenz der internationalen Akteure mit den Regelungen nach 1919 fort? Wie positionierten sie sich auf dem afrikanischen Markt auch über die Gebiete der ehemaligen deutschen Kolonien hinaus? Der Beitrag folgt dabei der These, dass die Produktions- und Handelsnetzwerke der „ersten Globalisierung“13 in der langfristigen Perspektive offenbar stabiler und insbesondere flexibler waren als geglaubt: Wenn der Versailler Vertrag den exklusiven Zugang zu staatlichen Aufträgen für die Bauunternehmen in den deutschen Kolonialstaaten beendete, schienen die alliierten Mandatsträger die deutschen Produzenten nicht grundsätzlich aus den kolonialen Märkten auszuschließen bzw. zu verdrängen. Ihr Geschäftsmodell verschob sich unter der imperialen Neuordnung von Versailles vielmehr auf andere Kolonien und (Welt-)Regionen. Die Forschung steckt auf diesem Gebiet gewiss noch in den Anfängen. Doch spätestens seit der Konjunktur der Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg zwischen 2014 und 2018 rückt nun auch die globalhistorische Dimension dieser

11 Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 21993, 77. 12 Martin Lutz spricht aus dem unternehmenshistorischen Kontext zu Siemens im Sowjetgeschäft von einer „fundamentale[n] Krise“, die vor allem eine „fundamentale Unsicherheit“ über die weitere Entwicklung des Marktes aus Unternehmenssicht darstellte. Martin Lutz, Siemens im Sowjetgeschäft. Eine Institutionengeschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917– 1933, Stuttgart 2011, 92. 13 Cornelius Torp, Erste Globalisierung und deutscher Protektionismus, in: Sven O. Müller/ders. (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2011, 422–440.

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„Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ in das Zentrum des Interesses.14 Nicht zuletzt die jüngste Literatur zum Versailler Vertrag verdeutlicht diese Dimension allein durch die Diskussion der beteiligten Akteure, wenngleich sie kaum auf spezifisch wirtschaftshistorische Fragestellungen eingeht und selten über die Frage der Reparationszahlungen hinausreicht.15 So bleibt auch die Präsenz politischer Vertreter aus den kolonisierten Regionen bislang selbst oftmals unerwähnt oder erscheint nur als eine Randnotiz.16 Die Folgen für deutsche Unternehmen sind bislang ebenfalls kaum betrachtet worden. Hierbei gilt es, jenseits von Kolonialmetropolen und Kolonial- bzw. Mandatsgebieten auch Verflechtungen, Konkurrenz und Gleichzeitigkeit im Zeitalter des Hochimperialismus stärker Rechnung zu tragen. Denn gerade der Eisenbahnmarkt war im internationalen Baugewerbe zu diesem Zeitpunkt, nicht zuletzt vor seinem politisch-strategischen bzw. militärischen Hintergrund, bereits stark umkämpft.17

1 Deutscher Kolonialismus und Unternehmen Nach einer letzten offiziellen Schätzung umfassten die deutschen öffentlichen und privaten Kapitalanlagen in den sogenannten „Schutzgebieten“ bereits 1906 über 900 Mio. Mark und betrugen ca. 2,5 Prozent der deutschen Auslandsanlagen vor dem Ersten Weltkrieg.18 Bei der Frage der wirtschaftlichen Bilanz deutschen Kolonialbesitzes zwischen 1884 und 1914/1919 steht bis heute jedoch der

14 Vgl. dazu die spezifischen kolonialhistorischen Arbeiten etwa mit Blick auf Ost-Afrika und die Debatten um das „Askari“-Denkmal; Stefanie Michels, Der Askari, in: Jürgen Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Bonn 2013, 294–308. 15 Vgl. u. a. Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 2018; Jörn Leonhardt, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018; Susanne Brandt, Das letzte Echo des Krieges. Der Versailler Vertrag, Ditzingen 2018. 16 So waren etwa kamerunische Vertreter der Duala mit einer eigenen Petition und Unabhängigkeitsforderung auf der Friedenskonferenz durchaus präsent. Vgl. Authaler, Deutsche Plantagen (wie Anm. 7), 50. 17 Dies gilt nicht nur für den prominentesten Fall des Bagdadbahn-Baus, vgl. Marc Linder, Projecting Capitalism. A History of the Internationalization of the Construction Industry, Westport 1994, 71–84. 18 Vgl. Francesca Schinzinger/Immo Zapp, Die wirtschaftliche Bedeutung der Kolonien für das Deutsche Reich, in: Harald Winkel u. a. (Hrsg.), Probleme der wirtschaftspolitischen Praxis in historischer und theoretischer Sicht. Festgabe zum 60. Geburtstag von Antonio Montaner, Herne 1979, 79–98, hier 83 f.

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übergeordnete volkswirtschaftliche Verlust im Zentrum des Interesses.19 Dieser über die Imperialismustheorien forcierten These haftet häufig die Anmutung eines deutschen Spezifikums, etwa über die verhältnismäßig kurze formelle koloniale Herrschaftszeit, an. Tatsächlich bleibt jedoch auch mit einem internationalen Blick auf andere Kolonialmächte, wie insbesondere dem British Empire, die Frage nach Kosten und Nutzen kolonialer Herrschaft sowohl für Kolonisierte als auch die Kolonisierer weiterhin ein komplexes und offenes Forschungsfeld.20 Und so sind es gerade die privatwirtschaftlichen Gewinne21 und die Betrachtung unternehmerischen, ökonomischen Handelns, auch über die formelle Kernzeit kolonialstaatlicher Herrschaft hinaus, die in eine solche Bilanz einfließen sollten. Nach dem offiziellen Verlust der Kolonien durch den Versailler Vertrag schlossen sich in der neuen Republik unmittelbar Debatten um einen Kolonialrevisionismus an. Diese fußten auf kolonialen Kriegszielen im Kontext der größeren Kriegszielpolitik des Ersten Weltkrieges.22 Getragen u. a. von den Plänen des Reichskanzlers Bethmann Hollweg und Matthias Erzbergers „für ein ‚großes deutsches Zentralafrika‘ […] von Daressalam über Duala bis nach Senegambien“ bereits im Jahr 1914, kumulierten die deutschen Expansionsinteressen von „Kolonialpolitikern, Kolonialpublizisten und kolonial interessierte[n] Wirtschaftskreise[n]“ in Planungen für ein „deutsches[s] Mittelafrika“ mit dem „primär wirtschaftlich motivierten ‚Mitteleuropa‘-Programm“.23 Mit der Übertragung der ehemaligen deutschen Kolonialgebiete an den Völkerbund verstummten diese Pläne mit Ende des Ersten Weltkrieges jedoch nur kurzzeitig. Erneut getragen durch die koloniale Bewegung, die bereits in den 1880er Jahren den deutschen Imperialismus forciert hatte, erhob sich in den 1920er Jahren auch die Forderung einer Revision dieser „Annexion“ der ehemaligen deutschen Kolonien durch die Alliierten.24 Dieser Kolonialrevisionismus war bis in die Mitte der 20er Jahre geprägt „von einem Konsensus […], der Parteien, Wirtschaftsverbände 19 Vgl. Francesca Schinzinger, Die Kolonien und das Deutsche Reich. Die wirtschaftliche Bedeutung der deutschen Besitzungen in Übersee, Stuttgart 1984. 20 Vgl. Leigh Gardner/Tirthankar Roy, The Economic History of Colonialism, Bristol 2020, 77; Boris Barth, Die Auswirkungen des Kriegsausbruchs auf eine globalisierte Weltwirtschaft, in: Jürgen Angelow/Johannes Großmann (Hrsg.), Wandel, Umbruch, Absturz. Perspektiven auf das Jahr 1914, Stuttgart 2014, 43–56, hier 44. 21 Vgl. u. a. Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte (wie Anm. 7), 60; zuletzt Markus A. Denzel, Die wirtschaftliche Bilanz des deutschen Kolonialreiches, in: Gründer/Hiery (Hrsg.), Die Deutschen und ihre Kolonien (wie Anm. 1), 144–160, hier 156. 22 Vgl. Fischer, Griff nach der Weltmacht (wie Anm. 4), 96–98, 262–265, 299–302, 516–520. 23 Alle Zitate Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien (wie Anm. 3), 253; siehe auch van Laak, Imperiale Infrastruktur (wie Anm. 4), 175–178. 24 Vgl. Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien (wie Anm. 3), 258.

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und Unternehmen und die Regierung umfaßte“, sodass die „Forderung nach der Rückgabe der Kolonien fester Bestandteil deutscher Außenpolitik [war]“25. Neben allgemeinen Forderungen und einem Recht auf Kolonialbesitz knüpften dabei auch die Meinungen bis hin zum Außenminister Gustav Stresemann an Argumente der 1880er Jahre an, „Kolonialbesitz sei wirtschaftlich wertvoll“.26 Wenn auch bislang die spezifische Perspektive der Unternehmen in der deutschen Kolonialgeschichte weitgehend fehlt, waren sie doch Teil eines Netzwerkes, das große deutsche Handelshäuser, Plantagen- und Pflanzungsgesellschaften sowie Akteure der infrastrukturellen Erschließung umfasste. Folgt man der These des informellen Imperialismus (Gallagher und Robinson), fiel die deutsche Kolonialwirtschaft dabei nur temporär mit formeller, staatlicher Kolonialmacht zwischen 1884 und 1919 zusammen, und insbesondere ökonomische Akteure waren zentrale Triebkräfte einer formellen kolonialen Besitznahme. Zugleich endete Kolonialismus nicht mit dem formalen Ende deutscher Kolonialmacht im Versailler Vertrag.27 Setzten sich auch hier informelle Formen des Kolonialismus über wirtschaftliche Beziehungen und Akteure in den 1920er Jahren als „Kolonialwirtschaft ohne Kolonien“28 fort? Den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden jüngere Forschungen der Kolonialgeschichte, die zunehmend auch Fragen an die Unternehmensgeschichte adressieren.29 Neben der allgemeinen Feststellung, dass (Hoch-)Imperialismus mit einem großen Subventionsbedarf und am Ende mit einem volkswirtschaftlichen Verlust einherging, profitierten einige privatwirtschaftliche Akteure durchaus von der kolonialen Expansion.30 Die Forschung hat für die deutsche Kolonialgeschichte insbesondere Pflanzungsgesellschaften und Kolonialbahn25 Hartmut Pogge von Strandmann, Deutscher Imperialismus nach 1918, in: Dirk Stegmann u. a. (Hrsg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Fritz Fischer zum 75. Geburtstag und zum 50. Doktorjubiläum, Bonn 1983, 281–293, hier 286 f. Vgl. zu den Details rund um die Verhandlungen von Locarno Andrew J. Crozier, Die Kolonialfrage während der Locarno-Verhandlungen und danach. Ein Essay über die Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland 1924–1927, in: Wolfgang Michalka (Hg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982, 324–349. 26 Zitiert nach Crozier, Die Kolonialfrage (wie Anm. 25), 330. Siehe auch ausführlich van Laak, Imperiale Infrastruktur (wie Anm. 4), 202–207. 27 Vgl. Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte (wie Anm. 7), 116; Caroline Authaler, Das völkerrechtliche Ende des deutschen Kolonialreichs. Globale Neuordnung und transnationale Debatten in den 1920er Jahren und ihre Nachwirkungen, in: APuZ 40–42 (2019), 4–10. 28 In Anlehnung an Gründers These vom „Kolonialismus ohne Kolonien“; Gründer, Kolonialismus ohne Kolonien (wie Anm. 1), 161. 29 Vgl. Authaler, Das völkerrechtliche Ende (wie Anm. 27), 4. 30 Siehe jüngst in der Zusammenfassung Gardner/Roy, Economic History of Colonialism (wie Anm. 20), 77–92, insbesondere 80.

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bauten als (begrenzt) profitabel identifiziert. Caroline Authaler hat jüngst dargestellt, auf welche Weise es deutschen Unternehmen in der Zwischenkriegszeit gelang, in den kamerunischen Plantagenanbau zurückzukehren. Im Kampf um ihre Existenzgrundlage begannen die Unternehmer bereits früh, die Plantagenproduktion wiederaufzunehmen und die eigene Nationalität zunächst weitgehend über nicht-deutsche Vorstandsmitglieder, dann über Strohmänner, zu verbergen.31 Bereits im Jahr 1924, also zwei Jahre vor dem Beitritt Deutschlands zum Völkerbund, kehrten die ehemaligen deutschen Plantagenunternehmer in einem Zusammenschluss als Fako-Pflanzungen GmbH an den Kamerunberg zurück.32 Nur im „Zusammenspiel“, so ihr zentrales Ergebnis, „von britischen politischen Entscheidungen und der Zusammenarbeit zwischen deutschen Unternehmern, dem britischen Plantagenmanager und der deutschen Regierung“ könne diese frühe Rückkehr „realisiert werden“.33 Ihre Arbeit stellt als erste Studie mit explizitem Blick auf deutsche (Kolonial-)Unternehmen in der Zwischenkriegszeit ein wichtiges Referenzwerk dar. Mit dem vorliegenden Beitrag zum Kolonialbahnbau wird ein weiteres Fallbeispiel hinzugefügt.

2 Deutscher Kolonialbahnbau in Afrika Zwar fällt das historische Urteil zum tatsächlichen ökonomischen Wert der Kolonien deutlich aus: Weder als Absatz- noch als Exportmarkt für Rohstoffe und Nahrungsmittel fiel der Anteil der deutschen Kolonien – gemessen am Außenhandel des Deutschen Reiches – ins Gewicht.34 Blickt man jedoch auf einzelne Elemente dieses Marktes und die Erwartungen, die dieser Markt für zukünftige Unternehmungen bot, zeichnet sich gerade für den Eisenbahnbau in den deutschen afrikanischen Kolonien bereits um die Jahrhundertwende ein anderes Bild ab.35 Wie Dirk van Laak anschaulich verdeutlicht hat, waren Eisenbahnen ein zentrales Element der praktischen kolonialen Besitznahme in den deutschen Kolonialstaaten, wie auch die Etablierung eines Infrastrukturnetzwerkes insge-

31 Vgl. Authaler, Deutsche Plantagen (wie Anm. 7), 76–84. 32 Vgl. Ebd., 81. 33 Ebd., 76. 34 Vgl. Schinzinger/Zapp, Die wirtschaftliche Bedeutung (wie Anm. 18), 1979. 35 Vgl. Nina Kleinöder, A „Place in the Sun“? German Rails and Sleepers in Colonial Railway Building in Africa, 1905 to 1914, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 1 (2020), 9–31; Speitkamp, Deutsche Kolonialgeschichte (wie Anm. 2), 89 f.

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samt.36 Diese „Tools of Empire“37 waren Voraussetzung für jegliche weitere Formen der Kolonialwirtschaft. Der Blick richtet sich daher auf die wirtschaftlichen Akteure von Kolonialwirtschaft, die in einem speziell politisch-nationalistischem Setting zwar unter großer öffentlicher Subventionierung agierten. Zugleich waren sie aber eigenständige Akteure, die eigenen (ökonomischen) Handlungslogiken folgten und somit mehr waren, als reine staatliche Marionetten einer infrastrukturellen Erschließung. Insbesondere der Blick auf die Zeit nach 1918 kann zeigen, wie Expertise aus der nun „zerstörten“ deutschen Kolonialwirtschaft übertragen und Geschäftsmodelle unter anderen Bedingungen ähnlich fortgeführt wurden. Nach den zögerlichen Anfängen kolonialen Eisenbahnbaus in „DeutschOstafrika“ und der damit verbundenen Kapitalprobleme, erfuhr der Kolonialbahnbau im Fahrwasser der Dernburg’schen Infrastrukturreformen von 1907 nach der Jahrhundertwende über die staatliche Subventionierung einen spürbaren Aufwind. Bernhard Dernburg selbst war als ehemaliger Banker eng mit den deutschen Kapitalgebern verflochten.38 Mit einem starken Streckenzuwachs – auf über 4.000 Kilometer allein in den deutschen Kolonien – befand sich der Markt für kolonialen Eisenbahnbau jedoch nicht nur in Afrika im Aufwind. Auch in Asien und Südamerika wuchs die Zahl und die Länge von Eisenbahnen seit der Jahrhundertwende kontinuierlich. Allein zwischen 1900 und 1904 verzeichneten die Länder in Asien und Afrika jeweils einen Zuwachs von rund 30 Prozent an Eisenbahnkilometern.39 Die bauliche Ausführung der deutschen Kolonialbahnen erfolgte durch ein Netzwerk von Bauunternehmen (Lenz & Co., Philipp Holzmann, Arthur Koppel usw.) und Zulieferern (Fried. Krupp, GHH, Dortmunder Union, MAN), das sich bereits in der regionalen und zeitlichen Ausdehnung des informellen Imperialismus (insbesondere in Ägypten und ikonografisch bis heute beim Bau der Bagdadbahn40) um 1880 etabliert hatte und nun auch mit dem Kolonialbahnbau in den „eigenen“ Kolonien beauftragt wurde. Doch auch Handel und Industriein36 Vgl. van Laak, Imperiale Infrastrukturen (wie Anm. 4). 37 Daniel R. Headrick, The Tools of Empire. Technology and European Imperialism in the Nineteenth Century, New York 1981. 38 Vgl. zu Dernburg u. a. Lewis Henry Gann, Economic Development in Germany’s African Emprie, in: Peter Duignan/ders. (Hrsg.), Colonialism in Africa, Vol. 4: The economics of Colonialism, London 1975, 213–255, hier 233–241; Lewis Henry Gann/Peter Duignan, Rulers of German Africa. 1884–1914, Stanford 1977, 51 f. 39 Vgl. Aktenstück Nr. 262 (Die Eisenbahnen Afrikas), in: Verhandlungen des Reichstages, Bd. 241, 1907, S. 1638; Helmut Schröter, Die Eisenbahnen der ehemaligen deutschen Schutzgebiete Afrikas und ihre Fahrzeuge, Frankfurt a. M. 1961, 63. 40 Vgl. Malte Fuhrmann, Die Bagdadbahn in: Zimmerer (Hg.), Kein Platz an der Sonne (wie Anm. 14), 190–207.

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vestitionen in Südafrika blickten bereits auf eine längere Geschäftstradition deutscher Unternehmen, vor allem in Transvaal, zurück, die sich u. a. im „Goldrausch“ der 1890er Jahre manifestierte.41 Hinzu kam nach der Jahrhundertwende ein kontinuierliches Wachstum der Auftragslage im deutschen Kolonialbahnbau, mit einer starken Zunahme der gebauten und insbesondere der neu projektierten Strecken in Togo und Kamerun.42 Die Unternehmen rechneten mit kontinuierlichen Aufträgen, die politisch mit der Erwartung an koloniale Gebietserweiterungen noch weiter geschürt wurden. Bei einem Kriegsausbruch rechnete man nicht mit dem Verlust der Gebiete, „weil man bei einem künftigen Sieg ohnehin die Kolonien der Gegner als Verfügungsmasse ansah“.43 Außerhalb der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ kam es seit 1914 zu wenigen Kriegshandlungen, Togo wurde bereits im August 1914 durch britische und französische Kolonialeinheiten und „Deutsch-Südwestafrika“ bis 1915 durch südafrikanische Truppen besetzt. Die letzten deutschen Truppen in Kamerun kapitulierten 1916 im Hinterland. Allein in Ostafrika dauerten die Kampfhandlungen bis November 1918 an.44 Dabei gilt es im Folgenden zunächst zu prüfen, in welcher Form die Baustellen bzw. die Unternehmen selbst bereits in den besetzten Gebieten mit dem Kriegsgeschehen in Berührung kamen bzw. die eigentlichen Baustellen, das unternehmerische Eigentum und ihre Märkte also schon lange vor dem Versailler Vertrag „verloren gingen“. Denn mit der formellen Überstellung der ehemaligen deutschen Kolonien in Mandatsgebiete (Artikel 22 der Völkerbundakte) kamen die ehemaligen deutschen Kolonien in die treuhänderische Verwaltung für den Völkerbund durch die sogenannten „Advanced nations“, bei denen es sich faktisch jedoch um „jene Alliierte […] [handelte], die diese Gebiete im Krieg erobert hatten“.45 Mit diesen Realitäten waren die unternehmerischen Akteure also bereits lange vorher konfrontiert.

41 Vgl. insbesondere zum (informellen) Finanzimperialismus Boris Barth, Die deutsche Hochfinanz und die Imperialismen. Banken und Aussenpolitik vor 1914, Stuttgart 1995, 170–201. 42 Vgl. Baltzer, Die Kolonialbahnen (wie Anm. 6), 60–78. 43 Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien (wie Anm. 3), 258. Vgl. auch Helmuth Stoecker u. a., Das Streben nach einem größeren Anteil vor 1914, in: ders. (Hg.), Drang nach Afrika (wie Anm. 3), 205–238. 44 Vgl. Stoecker, Der erste Weltkrieg (wie Anm. 3), 239–247; Pesek, Das Ende (wie Anm. 3), 41– 123; Dirk van Laak, Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, 95–101; Peter Sebald, Die Deutsche Kolonie Togo 1884–1914. Auswirkungen einer Fremdherrschaft, Berlin 2013, 173–181; Uwe Schulte-Varendorff, Krieg in Kamerun. Die deutsche Kolonie im Ersten Weltkrieg, Berlin 2011. 45 Authaler, Deutsche Plantagen (wie Anm. 7), 51. Vgl. ausführlich Michael D. Callahan, Mandates and Empire. The League of Nations and Africa, 1914–1931, Brighton 2008, 28–46.

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3 Unmittelbare Kriegsfolgen für die Unternehmen: Die GHH in Kamerun Exemplarisch wird das in den Quellen vergleichsweise dicht überlieferte Geschehen auf einer Baustelle der Gutehoffnungshütte (GHH) herausgegriffen, an dessen Beispiel die unmittelbaren Erfahrungen im kolonialen Kamerun von den ersten Kriegshandlungen bis zum endgültigen Ende der Baustelle abgeleitet werden können. Die GHH wurde als traditionelles Montan- und Maschinenbauunternehmen über den Maschinen- und Dampfschiffbau zu einem „Schrittmacher der Industrialisierung“46 und wandelte sich bis zum 20. Jahrhundert zu einem industriellen Großkonzern. Der Brückenbau nahm innerhalb der GHH eine zentrale Rolle ein und war bereits seit den 1870er Jahren einer der stark auf den Export fokussierten Bereiche. Hierzu zählten erste Lieferungen nach Übersee, wie Brasilien, Kolumbien, Venezuela, Niederländisch-Indien und Japan. Seit den 1890er Jahren kam es dann zu einem wesentlichen Ausbau des Auslandsgeschäftes, insbesondere durch Aufträge in den „deutschen Kolonien, in Ägypten und in der Südafrikanischen Union“.47 Bei diesem Modell ging es bereits zu diesem Zeitpunkt nicht allein um ein Handelsgeschäft, wie etwa den reinen Export fertiger Brückenbauteile, sondern „[d]ie Brückenbau-Anstalt verfügt über geschultes Personal, welches Auslandsmontagen unter schwierigen Verhältnissen bereits mit Erfolg ausgeführt hat. Es werden mehrere Monteure und Vorarbeiter, bei umfangreichen und schwierigen Bauwerken auch ein leitender Ingenieur entsendet.“48 Dieses Erfolgsmodell, welches Planungs-, Vorproduktions- und Konstruktionsarbeiten zwischen den Berliner Vertragsverhandlungen, der Oberhausener Vorproduktion und dem Aufstellen der Brücke in Kamerun umfasste, wird am Beispiel des GHH-Brückenbaus an der „Mittellandbahn“ besonders deut46 Ralf Banken, Die Gutehoffnungshütte: Vom Eisenwerk zum Konzern (1758–1920), in: Johannes Bähr u. a. (Hrsg.), Die MAN. Eine deutsche Industriegeschichte, München 2008, 13–129, hier 38. 47 Philipp Stein, 100 Jahre GHH-Brückenbau, Oberhausen 1951, 118. Vgl. zum Außenhandel der Eisen- und Stahlindustrie im Umfeld des Ersten Weltkrieges Stefanie van de Kerkhof, Von der Friedens- zur Kriegswirtschaft. Unternehmensstrategien der deutschen Eisen- und Stahlindustrie vom Kaiserreich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Essen 2006, 159–168, 324–328. 48 Gutehoffnungshütte Aktienverein für Bergbau und Hüttenbetrieb Oberhausen II Rheinland, Abteilung: Brückenbau, 1902, 25, in: Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv [künftig RWWA], 130-32451510. Ähnliche Verkaufsmodelle finden sich auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, etwa beim Verkauf von fertigen Krankenhäusern nach Brasilien ab 1950. Vgl. Pierre-Yves Donzé, Siemens and the Construction of Hospitals in Latin America, 1949–1964, in: Business History Review 89 (2015), 475–502.

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lich49. Geleitet von der Deutschen Kolonial-Eisenbahnbau und Betriebsgesellschaft (DKEBBG, eine Tochter des Bauunternehmens Lenz & Co.)50 teilten sich die Unternehmen GHH, Krupp und MAN auf der Strecke die Brückenbaukonstruktionen, wobei die GHH bereits ab Edéa faktisch alle Folgebrückenbauten im Streckenverlauf bis Nyong (zeitgenössisch: Njong) zugesprochen bekam.51 Ihre prestigeträchtige Brücke über den Sanaga, zu diesem Zeitpunkt das Brückenbauwerk mit der größten Spannweite Afrikas,52 war bereits 1912 eröffnet worden. Die Besonderheit machte für die GHH in diesem Fall die personelle Konstellation auf der Baustelle in Kamerun selbst aus. Anders als bei reinen Materiallieferungen war die GHH als Subkontraktorin mit eigenem Personal auf der Kameruner Baustelle vertreten: Ein leitender Ingenieur und zwei weitere Montagekräfte befanden sich also als Angestellte der GHH bei Kriegsausbruch in Kamerun und waren bei der Errichtung weiterer Brückenbauten auf der Strecke ins Landesinnere beteiligt. Der Kriegsausbruch stellte die GHH damit gleich vor mehrere Probleme, auf die das Unternehmen unmittelbar reagieren musste. Organisatorisch herrschte erstens in der Brückenbau-Zentrale Unklarheit über die weitere Erfüllung des Vertrages. Mit dem plötzlichen Baustopp in Kamerun wurde das bereits vorproduzierte Material nicht verschifft, sondern verrostete auf dem Werksgelände.53 Aus der ehemals produktiven Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Kolonial-Eisenbahnbau und Betriebsgesellschaft und der GHH entwickelte sich nun ein fortlaufender Disput über die Folgen und insbesondere die Kosten der noch ausstehenden Bauarbeiten und des Materials. Zugleich wollte die Oberhausener Brückenbauabteilung die Geschäftsverbindung zu Lenz nicht grundsätzlich gefährden, ging man doch fest von einer weiteren gemeinsamen Bautätigkeit nach Ende der Kriegshandlungen aus.54 Das Material wurde schließlich teilweise anderweitig verbaut bzw. genutzt, doch die Kostenkalkulation blieb ein Problem.55 Dies lag vor allem an der fortlaufenden Informationslücke, denn die Kommunikation mit der Baustelle war aufgrund der großen räumlichen Distanz bereits vor Kriegsausbruch teilweise lückenhaft

49 Vgl. Baltzer, Die Kolonialbahnen (wie Anm. 6), 74–77. 50 Vgl. Henning Wall, Der Lenz-Konzern – Die GmbH Lenz & Co. und die Aktiengesellschaft für Verkehrswesen. Von Lenz zu Connex und Transdev, Köln 2016. 51 Vgl. Kamerun/Afrika, 1911–1921, in: RWWA, 130-304014/70–73. 52 Vgl. Franz Baltzer, Die Eisenbahnen in den deutschen Schutzgebieten, in: Das deutsche Eisenbahnwesen der Gegenwart, Bd. 2, Berlin 1911, 110–129, hier 116 f. 53 Vgl. Bericht über ein Gespräch zwischen GHH (Bohny) und Lenz & Co (Sembke) in Berlin 29.–30.8.1916, Bericht vom 1.9.1916, in: RWWA, 130-304014/72. 54 Vgl. Schreiben GHH an DKEBBG vom 17.4.1915, Durschlag, in: RWWA, 130-304014/73. 55 Vgl. Schreiben GHH an DKEBBG vom 17.4.1915; Durchschlag und Schreiben DKEBBG an GHH vom 20.4.1915, in: RWWA, 130-304014/73.

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und verzögert. Dennoch war die Oberhausener Brückenbauabteilung über regelmäßige Berichte ihres eigenen Ingenieurs über die tatsächlichen Aktivitäten auf der Baustelle vergleichsweise gut im Bilde.56 Dieser Informationsfluss verebbte abrupt, ohne einen Hinweis auf den tatsächlichen Baufortschritt oder eine Abstimmung der weiteren Schritte. Auch eine endgültige Abrechnung der Baustelle mit Lenz bzw. dem Reichskolonialamt war nicht möglich, da nicht eindeutig geklärt werden konnte, wie weit bzw. bis wann die Bauarbeiten überhaupt vorangeschritten waren.57 Dieses Detail lenkt den Blick auf die zweite große Frage, die Situation auf und die Verbindung zur Baustelle in Kamerun selbst. So berichtete der Montagemeister erstmals 1915 nach Kriegsausbruch wieder nach Oberhausen: „In Kamerun sieht es nicht am besten aus, wenn der Friede nicht bald kommt, wird sich die Kolonie wohl nicht mehr lange halten können. […] Es fehlt hier an Kanonen und zu wenig Soldaten sind hier. Auch fehlt es an allem. Trotzdem hat sich Kamerun gut gehalten, es sind hier doch blos Polizeisoldaten. Jetzt ist aber alles Soldat was Hände und Füsse hat.“58 Einerseits kam es rasch zu Zerstörungen der erst kürzlich fertiggestellten Strecken, andererseits gerieten die Oberhausener Angestellten nun selbst als Zivilisten zwischen die Fronten. Zugleich verdeutlicht die Quelle, dass aufgrund der im Vergleich geringen Präsenz der „Schutztruppe“ Zivilisten, Staatsbedienstete und Unternehmer unmittelbar in den Dienst des Reiches gestellt wurden – dies betraf auch die Angestellten der GHH. Zudem herrschte in Kamerun bei der Bauleitung große Unklarheit über das Bauprojekt und seine Zukunft. Ab Oktober 1914 wurden die Bauarbeiten zwar eingestellt, doch der leitende Ingenieur nahm nach eigener Aussage weiterhin Instandhaltungsarbeiten an Maschinen und Material vor. Während die Vertreter der Brückenbauabteilung in Oberhausen noch mit einer baldigen Fortsetzung der Arbeiten nach Kriegsende auf der Baustelle rechneten, waren die entsendeten Mitarbeiter in Kamerun selbst rasch mit den Realitäten des Krieges konfrontiert: So verstand es der leitende Ingenieur dann auch als Kriegsdienst, zahlreiche Brückenbauwerke an der Mittellandbahn gegenüber den vorrückenden Truppen der Entente zu sprengen und Zeichnungen, Papiere und Verträge zu verbrennen.59 Mit Vorrücken der französischen Truppen trat noch eine dritte Aufgabe hinzu, die die GHH-Mitarbeiter vor neue, praktische Herausforderungen stellte und 56 Vgl. Schreiben GHH an DKEBBG vom 12.2.1915, Durchschlag, in: RWWA, 130-304014/73. 57 Vgl. Schreiben GHH an DKEBBG vom 12.2.1915, Durchschlag und Schreiben der DKEBBG an GHH vom 27.3.1915, in: RWWA, 130-304014/73. 58 Schreiben Bürgers an Brückenbau der GHH vom 4.9.1915, Transkript, in: RWWA, 130304014/73. 59 Vgl. Schreiben Bürgers an Brückenbau der GHH vom 4.9.1915, Transkript, in: RWWA, 130304014/73.

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das Unternehmen mit einer neuen Form politischen Risikos konfrontierte: Insgesamt befanden sich bei Kriegsausbruch nach den Berechnungen von Mahon Murphy etwa 25.000 Deutsche in den deutschen Kolonien, temporäre Aufenthalte, wie die der Bauingenieure, nicht mitgezählt. Mit Ausbruch des Krieges nahm die Dynamik zwischen den europäischen Kolonisatoren damit eine neue Dimension ein: „[I]n the colonies, before the First World War, unrest and warfare were normal but usually the targets of imperial aggression were the indigenous others, not fellow Europeans“60. Für den Ingenieur der GHH stand ab 1915 in Kamerun allein die persönliche Furcht um Leib und Leben im Zentrum, und konkret zunächst einer Kriegsgefangenschaft zu entgehen.61 Er flüchtete mit der gesamten Bauleitung in das südlich gelegene „Spanisch-Guinea“, wo sie dann jedoch interniert und bis zum Kriegsende nach Spanien überführt wurden.62 Vor allem finanziell waren die deutschen Akteure mit dem weitgehenden Abriss des Kontaktes in die Heimat dabei auf sich gestellt: „Früher lebten unsere Leute, als sie abgeschnitten von uns, sich noch in Kamerun befanden, von Vorschüssen, welche ihnen die Bauleiter der Firma Lenz gaben. Wir möchten nun doch die Verantwortung nicht übernehmen, dass unsere Leute in ihrer Not verbleiben und würden empfehlen, […] durch Vermittlung der überseeischen Abteilung der Deutschen Bank, Berlin [ihnen] wenigstens einen Teilbetrag […] zukommen zu lassen.“63 Andere Beschäftigte wechselten im Kriegsverlauf in den Staatsdienst bei einer Munitionsfabrik in Yaoundé (zeitgenössisch: Jaunde) – ein finanzieller Kostenpunkt, über den die Kolonialbehörde, die GHH und Lenz nach Kriegsende noch in Zwist geraten sollten.64 In einem ersten Schritt waren die Unternehmen also vom plötzlichen und unerwarteten Kriegsgeschehen mit diesen neuen und 60 Mahon Murphy, Colonial captivity during the First World War. Internment and the fall of the German empire, 1914–1919, Cambridge 2018, 40. 61 Vgl. zum Forschungsdesiderat von Kriegsgefangenen als unternehmerische Herausforderung Christina Lubinski u. a., Internment as a business challenge. Political risk management and German multinationals in Colonial India (1914–1947), in: Business History 2 (2018), 1–26, hier 1 f. Vgl. zur Internierungspraxis in den deutschen Kolonien allgemein und ausführlich Murphy, Colonial captivity (wie Anm. 60), 43–55; siehe auch allgemein zum Forschungsstand ziviler Internierter im Ersten Weltkrieg zuletzt Matthew Stibbe, Civilian Internment during the First World War. A European and global history, 1914–1920, London 2019. 62 Vgl. Schreiben Bürgers an Brückenbau der GHH vom 4.9.1915, Transkript und Notiz an die Hauptverwaltung vom 13.7.1916, Durchschlag, in: RWWA, 130-304014/73. 63 Notiz an Hauptverwaltung vom 13.7.1916, Durchschlag, in: RWWA, 130-304014/73. 64 Vgl. u. a. Schreiben Reichsminister für Wiederaufbau/Kolonialzentralverwaltung an DKEBBG vom 7.5.1920, Abschrift, in: RWWA, 130-304014/73; siehe dazu auch die Klage der DKEBBG (Vertreten durch Paul Lenz) gegen den Reichsfiskus, 14.6.1921, Abschrift, in: Bundesarchiv [künftig: BArch], R 1001/9496.

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unmittelbaren Erfahrungen ihrer Belegschaftsmitglieder überrascht. Und auch in anderen Kriegsregionen, wie Christina Lubinski u. a. für Britisch Indien zeigen konnten, waren dort die Regelungen und finanziellen Verhältnisse ähnlich: Nach 1916 wurden keine weiteren Zahlungen an ehemalige Belegschaftsmitglieder geduldet, gefolgt von einem Liquiditätsengpass in den Internierungslagern.65 Hinzu kam ein Wandel der lokalen Wahrnehmung deutscher Geschäftsleute und Ingenieure, also der ehemals privilegierten Elite: Wie in Indien traten nun auch in Afrika neben rassistischen Trennlinien nationalistische Distinktionen und Hierarchien zwischen den europäischen Kriegsparteien hervor.66 Darüber hinaus übernahm es die GHH als Arbeitgeberin auch, anders als bislang für Siemens und die IG Farben für den Zweiten Weltkrieg nachgewiesen, bereits im Ersten Weltkrieg den Kontakt zwischen Mitarbeitern und ihren Familien über die Firma Lenz aufrechtzuerhalten und Briefe zu übermitteln.67 Für die Angestellten der GHH bedeutete die Einigung in Versailles 1919 persönlich daher vor allem eins: Die Regelung der Kriegsgefangenschaft und die Rückkehr nach Deutschland.68 Zugleich kann im Anschluss an die Ergebnisse von Lubinski u. a. ergänzt werden, dass die GHH mit der (finanziellen) Unterstützung der Mitarbeiter während dieser Phase auch in das Humankapital des Unternehmens und in ihre eigenen Experten „investiert“ hatte, um diese weiter zu beschäftigen. So konnten diese Mitarbeiter mit entsprechendem Know-how weiterhin an das Unternehmen gebunden und zu neuen Baustellen nach Kriegsende entsendet werden. Den Unternehmen gelang es so, in Friedenszeiten die (neuen) Märkte mithilfe ihres qualifizierten Personals relativ rasch und effektiv erneut zu bedienen.69

65 Vgl. Lubinski u. a., Internment (wie Anm. 61), 4 f. 66 Vgl. ebd., 6 f. 67 Vgl. Schreiben DKEBBG an GHH vom 24.4.1915, in: RWWA, 130-304014/73. Vgl. Lubinski u. a., Internment (wie Anm. 61), 11 f. 68 Vgl. Schreiben Bürgers an Brückenbau-Abteilung der GHH vom 25.9.1919, in: RWWA, 130304014/73. 69 Vgl. für den indischen Fall, bis in den Zweiten Weltkrieg hinein, Lubinski u. a., Internment (wie Anm. 61), 7 ff.

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4 Die formellen Folgen von Versailles für die deutschen Unternehmen: Enteignung, Entschädigung und Übernahme Bereits im Sommer 1919 kam es zu ersten Verhandlungen zwischen Regierung und Interessenvertretern über die wirtschaftliche Zukunft der ehemaligen „Schutzgebiete“. Einerseits ging es um die praktische finanzielle Kompensation, also die Entschädigung deutscher Unternehmen in Folge der Gebietsverluste, sowie andererseits um die grundsätzlichere Frage einer Rückkehr von deutschen Unternehmen auf den afrikanischen Markt.70 Dabei wird im folgenden Abschnitt gezeigt, dass sich in der Praxis die staatliche Subventionierung des deutschen Kolonialbahnbaus auch in der Nachkriegszeit fortsetzte, sodass den beteiligten Unternehmen praktisch keine unmittelbaren sachlichen oder monetären Verluste durch den Gebietsverlust entstanden. Mit dem Versailler Vertrag waren nicht nur mit Artikel 119 der vollständige Verzicht „auf alle seine Rechte und Ansprüche in bezug [sic!] auf seine überseeischen Besitzungen“71 verbunden. Vielmehr wurde über die finanziellen und wirtschaftlichen Bestimmungen (u. a. in den Artikeln 120, 257 und 297), auch die Enteignung des deutschen Besitzes und allen Eigentums durch die Mandatsmächte geregelt und „für diesen Übergang erfolgt keinerlei Zahlung und keinerlei Gutschrift zugunsten der abtretenden Regierungen.“72 Somit war zunächst formal der grundsätzliche Verlust von Sach- und Kapitalwerten für die (staatlichen) deutschen Kolonialeisenbahnbau-Unternehmen und ihre Zulieferer unmissverständlich festgelegt und eine unmittelbare Fortsetzung der geschäftlichen Aktivitäten, etwa die rasche Wiederaufnahme des oben skizzierten Bahnund Brückenbaus in Kamerun, der bis zum Einmarsch alliierter Truppen einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte, ausgeschlossen.73

70 Vgl. Rüger, Streben nach kolonialer Restitution (wie Anm. 4), hier 276. Vgl. dazu auch in Fragen der Plantagenwirtschaft ausführlich Richard A. Goodridge, „In the Most Effective Manner“? Britain and the Disposal of the Cameroons Plantations, 1914–1924, in: The International Journal of African Historical Studies, 2 (1996), 251–277. 71 Gesetz über den Friedensschluß zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten, in: Sebastian Haffner u. a., Der Vertrag von Versailles, München 1978, hier Artikel 119, 199. 72 Gesetz über den Friedensschluß (wie Anm. 71), hier Artikel 257, 269. 73 Die Briten bezifferten diesen Verlust an deutschen Investitionen in den ehemaligen Kolonien und im übrigen Ausland 1920 auf bis zu 1.500.000.000 Pfund. Vgl. Schreiben Auswärtiges Amt an die deutsche Botschaft in London, 2.7.1920, Anlage: Abschrift „Times“, 8.6.1920, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes [künftig P AA], Bestand: London 380. Vgl. über den

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Grundsätzlich definierte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson in seinem Vierzehn-Punkte-Plan auch die „Beilegung aller kolonialen Ansprüche“ (fünfter Punkt)74 unter der Prämisse des „Selbstbestimmungsrecht[s] der Völker“, um die internationale Sicherheit auf „Selbstbestimmung, gerechten Herrschaftsformen und friedlichem Austausch von Waren“ aufzubauen.75 Als Konsequenz des hochimperialistischen Wettlaufs sollten konkurrierende Ansprüche nun eingehegt werden. Dies führte jedoch rasch zu heftigen Debatten, etwa in der Frage der asiatischen Kolonialbesitzungen. Konsens herrschte allerdings in der grundsätzlichen Ausrichtung der Verhandlungsergebnisse: „Eine Rückgabe der Gebiete an Deutschland war ausgeschlossen.“76 Gerungen wurde in der Folge besonders um die Form der neuen Herrschaftspraxis, die sich nun in starker Kontinuität zu europäischen Kolonialdiskursen an einem Mandatssystem orientierte. Eine grundsätzliche Selbstverwaltung stand außer Frage, indem das „Zivilisationsgefälle […] zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten“77 nicht infrage gestellt wurde. Artikel 22 der Völkerbundakte (als Teil der Friedensverträge) legte die Verwaltung der ehemaligen deutschen Kolonialgebiete in die Hände der „Advanced nations“, die nun als „Treuhänder des Völkerbundes“ agierten.78 Die formale Organisation zwischen A-Mandaten (Osmanische Gebiete) mit einer weitgehenden Unabhängigkeit, über B-Mandate (afrikanische Gebiete) mit Verwaltung durch die neuen Mandatsträger bis hin zu C-Mandaten (Südwestafrika) und der weitgehenden Integration in die Dominions (hier die Südafrikanische Union) hatten grundlegende Auswirkungen auf die deutschen unternehmerischen Tätigkeiten in diesen Gebieten.79 De facto vollzog sich hier eine „Internationalisierung von Überseeischen Märkten“80, wobei sich eine Kontinuität zu schon einmal während der Berliner Afrikakonferenz von 1884 gelegten Strukturen zeigt. Die europäi-

„Verlust“ und die ökonomisch-politische Neuverteilung Afrikas etwa zeitgenössisch Erich Obst, Die Vernichtung des deutschen Kolonialreichs in Afrika, Berlin 1921, 8–13. 74 Zit. nach Brandt, Das letzte Echo (wie Anm. 15), 217. 75 Authaler, Deutsche Plantagen (wie Anm. 7), 49. Vgl. ausführlich Erez Manela, The Wilsonian moment. Self-determination and the international origins of anticolonial nationalism, New York 2007. 76 Leonhardt, Der überforderte Frieden (wie Anm. 15), 709. 77 Ebd., 714. 78 Authaler, Deutsche Plantagen (wie Anm. 7), 51. 79 Vgl. ebd., 51 ff.; Leonhardt, Der überforderte Frieden (wie Anm. 15), 714 f. 80 Authaler, Deutsche Plantagen (wie Anm. 7), 53.

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sche Konkurrenz sollte durch freien Handel und gewerbliche Niederlassung aller Mitgliedsstaaten des Völkerbundes entschärft werden.81 In der praktischen Konsequenz bedeutete dies, dass deutsche Unternehmen nach ihrer Enteignung sowohl vom Handel mit, als auch der unmittelbaren Präsenz (Handel, Besitz, Investitionen) in den ehemaligen deutschen Kolonien bis zur Aufnahme des Deutschen Reichs in den Völkerbund 1926 ausgeschlossen waren.82 In der Umsetzung gestaltete sich die Lage jedoch ambivalent: Nach der übergeordneten Enteignung weist die tatsächliche Kontinuität bzw. Rückverflechtung deutscher Unternehmungen in den ehemaligen deutschen Kolonien durchaus eine hohe Varianz auf. Einerseits schloss Artikel 22 der Völkerbundakte Deutschland vom freien Handel mit den Mandatsgebieten aus. Andererseits übertrug Artikel 122 des Versailler Vertrages die Verfahrensweise mit „der Heimschaffung der dort befindlichen deutschen Reichsangehörigen“ an die behördliche Gewalt in den einzelnen Gebieten, um eigenständig Anordnungen zu „Bedingungen [zu] bestimmen, unter denen die deutschen Reichsangehörigen europäischer Herkunft sich dort niederlassen, Eigentum erwerben, Handel treiben oder ein Gewerbe ausüben dürfen oder nicht“.83 Zudem gab es oftmals das pragmatische Problem, dass die administrative und legislative Lücke in den neuen Mandatsgebieten rasch geschlossen werden musste. So verschwammen in der Praxis diese Regelungen offenbar häufig, da u. a. deutsches Kolonialrecht übernommen wurde bzw. eine nahezu vollständige Eingliederung in die Kolonien/ Dominions, insbesondere im britischen Fall wie Nigeria und Südafrika, erfolgte, gerade auch mit dem Argument der Wirtschaftlichkeit der Mandatsgebiete.84 Hinzu kamen jenseits der internationalen Regelungen die Verhandlungen um die praktische Entschädigung der verlorenen Kapital- und Sachmittel in den Kolonien. Bereits Artikel 260 des Versailler Vertrages sah Entschädigungen im Rahmen von Enteignungen im Kontext der „Wiedergutmachungskommission“ für deutsche Staatsangehörige vor.85 In diesem Kontext entfalteten sich also die Debatten um Entschädigungen nicht nur durch Gebietsverluste in Europa, sondern auch im kolonialen Kontext. Für die GHH bedeutete der Versailler Vertrag den Verlust ihrer zurückgelassenen Werks- und Baumaterialien sowie das Ende

81 Vgl. ebd., 53. Hier Artikel 22 der Völkerbundakte mit der Verpflichtung, „den anderen Mitgliedern des Bundes gleiche Möglichkeiten für Handel und Gewerbe zu gewährleisen“. 82 Vgl. zu Deutschlands Eintritt in die Mandatskommission Susan Pedersen, The Guardians. The League of Nations and the Crisis of Empire, New York 2015, 195–203. 83 Gesetz über den Friedensschluß (wie Anm. 71), hier Artikel 122, 200. Vgl. dazu auch Rüger, Streben nach kolonialer Restitution (wie Anm. 4), 273. 84 Vgl. Authaler, Deutsche Plantagen (wie Anm. 7), 63 f. 85 Gesetz über den Friedensschluß (wie Anm. 71), hier Artikel 260, 271.

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ihrer dortigen Geschäftsbeziehungen. Zwar waren Entschädigungsleistungen durch das Reichsministerium für Wiederaufbau (Kolonialzentralverwaltung) grundsätzlich für Verluste von Unternehmen in den nun ehemaligen Kolonien vorgesehen.86 In der Praxis gestaltete sich die Abwicklung dieser Entschädigungen jedoch zunächst problematisch. Es war schwierig, im Kompetenzgerangel des komplexen Akteursgefüges die Zuständigkeiten auseinanderzudividieren. So forderte etwa Lenz die GHH auf, den Fehlbetrag gegenüber der staatlichen Behörde selbst zu vertreten, wohingegen die GHH Lenz als „unseren Auftraggeber“87 in der Pflicht sah. Sie forderten insbesondere entsprechend des Vertrages eine Anzahlung und Kostenerstattung für die „in Kamerun befindlichen Leute und Farbige mit Vorarbeiten für die Montagelieferung“88. Lenz dagegen sagte sich selbst von jeglicher Zahlungsverantwortung los und versuchte die verbliebenen Kosten vielmehr auf staatliche Behörden zu externalisieren, was offenbar auch weitgehend gelang: Sie gaben die Forderungen unter zehnprozentigem Aufschlag weiter, wobei das Kolonialamt erfahrungsgemäß „keine Schwierigkeiten […] macht“89. In der unmittelbaren Nachkriegszeit kam es offenbar in erster Linie auf das Verhandlungsgeschick und die persönlichen Verbindungen an, um ein möglichst günstiges Ergebnis in der Entschädigungsfrage zu erzielen. Erst das „Kolonialschädengesetz“ vom 28. Juli 1921 trat mit einem Gesamtvolumen von 25 Mio. Mark endgültig in diese rechtliche Lücke und externalisierte die privatwirtschaftlichen Verluste. Bei dieser Regelung ging es jedoch nicht um den grundsätzlichen Ersatz von Kapital oder Sachwerten im Kontext der Enteignungen im Versailler Vertrag (§ 20), als vielmehr um die praktischen Verluste von Baumaterial, Werkzeugen usw. in Folge der Kriegseinwirkungen, Flucht, Vertreibung, Internierung usw. (§ 2).90 Auch im Verfahren zwischen GHH, Lenz und dem Kolonialamt (bzw. seiner Nachfolgeinstitution) wurde so der Verlust des Materials bzw. die entstandenen zusätzlichen Personalkosten abgeschlossen.91 1921 schloss auch die GHH den Brückenbau in Kamerun fi-

86 Vgl. Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien (wie Anm. 3), 259 f. 87 Aktennotiz über Besprechung der DKEBBG und GHH am 2., 3. und 4.8.1920, in: RWWA, 130304014/73. 88 Ebd. 89 Ebd. 90 Vgl. Gesetz über den Ersatz von Kriegsschäden in den ehemaligen deutschen Schutzgebieten (Kolonialschädengesetz) vom 28.7.1921, in: Reichsgesetzblatt, Nr. 82, 5. August 1921, 1031–1038. 91 Vgl. Reiseberichte Sommerstad und Kühne über Besuch bei Lenz & Co. am 15.8.1921, Berichte vom 17.8.1921, in: RWWA, 130-304014/73.

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nanztechnisch weitgehend ab – für sie war damit das afrikanische Kapitel in Kamerun vorerst beendet.92 Wendet man bei einem Perspektivwechsel jedoch den Blick auf die transimperialen Beziehungen und auf die neuen Mandatsträger, hatte dieses Geschäft für die britischen und französischen Unternehmen gerade erst wieder begonnen.93 Denn entgegen der Frage des Verlustes von Werkzeugen, Material und zukünftigen Absatzmärkten stellt sich für die Forschung auch die Frage nach den transimperialen Verflechtungen bei der Übernahme ehemals deutscher Infrastrukturen durch die neuen Mandatsmächte. Neben den erwähnten Studien zum Plantagenbau lassen sich für die Kolonialbahnen aus dem Bericht eines britisch-deutschen Ingenieurs der „Tanganyika Railways“, dem Folgeunternehmen der „Ostafrikanischen Eisenbahngesellschaft“, aus den 1940er Jahren einige Rückschlüsse ziehen.94 Zentrales Ergebnis ist hier, dass neben Fragen der technischen Adaption und der Wiederaufbaumaßnahmen der zerstörten Strecken, vor allem die rasche Aufstockung des Personals über das Empire und insbesondere der schnelle formale Übergang vom deutschen in den britischen Besitz im Zentrum des Interesses standen. Es galt, einen möglichst reibungslosen und raschen Wiederaufbau einer funktionierenden Administration und Wirtschaftlichkeit der Mandatsgebiete, unter Voraussetzung eines funktionierenden Infrastruktursystems, umzusetzen: Tatsächlich befanden sich bis Kriegsausbruch nicht alle Kolonialbahnen im Eigentum des Deutschen Reiches. Über die Konstruktion der staatlichen Subventionierung an private Eisenbahngesellschaften stellte sich nun auch in Ostafrika die Frage nach dem rechtlichen Übergang. Die Frage der Nordlinie (ab der Hafenstadt Tanga, „Usambara-Linie“95) war einfach geklärt, da sie als ehemaliges Eigentum der deutschen Re-

92 Vgl. ebd. 93 Vgl. John Darwin, The Empire Project. The rise and fall of the British world-system, 1830– 1970, Cambridge 2009, 359–417; Callahan, Mandates and Empire (wie Anm. 45), 77–121. 94 Vgl. Clement Gillman, A Short History of the Tanganyika Railways, in: Tanganyika Notes and Records 13 (1942), 14–56. Nicht unwesentlich ist das Detail, dass Gillmann bereits selbst als Ingenieur bei Philipp Holzmann für den ostafrikanischen Bahnbau beschäftigt gewesen war. Vgl. zu dieser „transimperialen Biographie“ jüngst Michael Rösser, Transimperiale Infrastruktur? Personal, Unternehmer und Arbeit beim Bau der Zentralbahn in Deutsch-Ostafrika, in: Laurent Deryvère u. a. (Hrsg.), Transimpérialités contemporaines/Moderne Transimperialitäten. Rivalités, contacts, émulation/Rivalitäten, Kontakte, Wetteifer, Berlin 2021, 273–290, hier 277–279. 95 Vgl. Gillman, Tanganyika Railways (wie Anm. 94), 17–21; Baltzer, Die Kolonialbahnen (wie Anm. 6), 35–45.

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gierung automatisch in das Eigentum der Mandatsmacht, also Großbritannien, überging und von dieser auch rasch wieder betrieben wurde.96 Mit der Zentralbahn („Mittellandbahn“ bzw. „Tanganjikabahn“97) gestaltete sich die Frage komplizierter: Zum Zeitpunkt der Besetzung war die Bahn offiziell das Eigentum einer Privatgesellschaft, trotz der Tatsache, dass die Finanzierung über eine Schutzgebietsanleihe lief.98 Nach Artikel 120 des Versailler Vertrages wurden jedoch alle Rechte den neuen Verwaltungen übertragen. Da Deutschland zu diesem Zeitpunkt kein Mitgliedsstaat des Völkerbundes war, hatten auch deutsche Unternehmen formal kein Recht, mit den Mandatsgebieten Handel zu treiben oder sich dort niederzulassen. In der Folge wurde die ehemalige deutsche Betreibergesellschaft, die „Deutsche Ostafrika-Gesellschaft“, ebenfalls enteignet. Zwar kam es zum innerbritischen Rechtsstreit zwischen der Verwaltung des „Tanganyka Territory“99 und der britischen Kronanwaltschaft über die genaue Verfahrensweise, am Ende wurden die Eigentumsverhältnisse jedoch 1:1 an die neue Betriebsgesellschaft übertragen – mehr oder weniger zinsfrei. Dies bedeutete im betriebswirtschaftlichen Ergebnis, dass die neue Betriebsgesellschaft „Tanganyika Railways“ über 1.600 Schienenkilometer als Grundstock ihres Bahnnetzes weitgehend kostenneutral übernahm und damit jährlich massive Zinsen usw. einsparte.100 Dem gegenüber stand jedoch ein großer finanzieller, logistischer, technischer und personeller Aufwand, um allein die Kriegsschäden zu beseitigen – somit stand die Frage der langfristigen Rentabilität dieser Bahn auf einem anderen Blatt.101 Und auch die offenbar grundlegend unterschiedlichen Vorstellungen des Bahnbetriebs zwischen den ehemaligen deutschen Planungen und Bauten der Bahnstrecken, sowie der tatsächlichen Betriebsbedingungen unter britischer Verwaltung verweisen auf grundlegende Adaptionsprobleme in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Insbesondere Personalfragen und die Gestaltung der Betriebsbedingungen machten umfassende Folgeinvestitionen nötig.102 Neben weiteren Details ist es hier wichtig auf das übergeordnete Ergebnis zu verweisen, welche praktischen Folgen der Versailler Vertrag auf Entente-Sei96 Gillman, Tanganyika Railways (wie Anm. 94), 33. 97 Vgl. Gillman, Tanganyika Railways (wie Anm. 94), 21–27; Baltzer, Die Kolonialbahnen (wie Anm. 6), 45–56. 98 Vgl. Gillman, Tanganyika Railways (wie Anm. 94), 33. 99 Vgl. Zur Neukonstruktion des Gebietes nach 1919 Callahan, Mandates and Empire (wie Anm. 45), 47–52. 100 Vgl. Gillman, Tanganyika Railways (wie Anm. 94), 33 f. Vgl. dazu auch Aufzeichnung über die Schutzgebietsanleihen, Bl. 359, in: P AA, London 380. 101 Vgl. Gillman, Tanganyika Railways (wie Anm. 94), 34–45. 102 Vgl. ebd., 37.

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te barg: Es erfolgte keine reibungslose Eingliederung in das British Empire, sondern ähnlich wie in der Frage der Übernahme von Plantagen, lohnt ein regionaler bzw. lokaler Blick auf die tatsächliche Praxis und Problematik. Auch organisatorisch sind diese ersten Ergebnisse weiter zu verifizieren: Grundsätzlich wurde der formale Unterschied dieser im strengen Sinne privaten Unternehmungen anerkannt, was auch klar Wilsons Forderungen im Sinne des Völkerbundes und einer Mandats-, also einer treuhänderischen, Verwaltung entsprach. Zugleich machte dies in der praktischen Auswirkung imperialer Kontinuitäten keinen Unterschied. Praktisch wurden diese neuen Gebiete, nicht zuletzt über das dort einverleibte Kapital, in das Empire integriert und de facto als Kolonialbesitz fortgeführt.103

5 Alte und/oder neue Märkte in den frühen 1920er Jahren Neben der Frage des Verlustes und der Enteignung unmittelbarer Sachwerte stellt sich darüber hinaus die mittel- und langfristige Frage eines Marktverlustes für den deutschen Eisenbahn-/Kolonialbahnbau. Schließlich kehrten, wie Caroline Authaler zeigen konnte, durch die spezifischen Interessen der britischen Politik und der deutschen Unternehmer, erste deutsche Plantagenunternehmer bereits 1924 nach Kamerun zurück, „[f]ür Tanganyika und Togo wurden die Handels- und Niederlassungsbeschränkungen für deutsche Unternehmen und Staatsbürger erst in der Folge der Konferenz von Locarno in den Jahren 1925 und 1927 aufgehoben“.104 Bereits 1925 wurde die Rückkehr von deutschen Unternehmern und Kapital nach „Tanganjika“ sichtbar, mit einem messbar steigenden deutschen Anteil an Ausfuhren (1925 bereits 10,5 Prozent an der Gesamtausfuhr „Tanganjikas“).105 Hier zeigen sich kontinuierliche Muster kolonialer Machtstrukturen: Die informelle Durchdringung durch ökonomische Einflussnahme wurde durch sogenannte „Wiederaufbaudarlehen“ erreicht, indem sie als staatliches Instrument und zur Stütze einzelner Handels- und Plantagenunternehmungen gezielt eingesetzt wurden, um mit einer politischen Ziel-

103 Vgl. zur spezifischen Problematik von Artikel 22 im British Empire Callahan, Mandates and Empire (wie Anm. 45), 143 f. 104 Authaler, Deutsche Plantagen (wie Anm. 7), 75; vgl. zur Rückkehr der deutschen Unternehmer ausführlich 75–86. 105 Vgl. Crozier, Die Kolonialfrage (wie Anm. 25), 330; vgl. zur Frage der Wiederaufbaudarlehn auch Gründer, Geschichte der deutschen Kolonien (wie Anm. 3), 260.

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richtung langfristigen Einfluss in der Kolonialfrage zu sichern.106 Im unmittelbaren Nachgang der Konferenz von Locarno – und nun wieder mit der Möglichkeit für deutsche Staatsangehörige, die ehemaligen Kolonien (hier: das britische „Tanganyika“) nicht nur zu betreten, sondern dort auch wieder Besitz zu erwerben – betonte nach den Ergebnissen Andrew Croziers auch Außenminister Gustav Stresemann „diese einzigartige Gelegenheit, den deutschen Anteil der Wirtschaft Tanganjikas zu steigern, unbedingt ausnützen, denn sonst werde ‚der deutsche Einfluß ein für alle Male verspielt sein‘“.107 Deutschlands Präsenz kehrte nun im Fahrwasser von Locarno zudem in Fragen des Außenhandels insgesamt auf die Weltbühne zurück.108 Tatsächlich hatten laut Adolf Rüger bereits seit 1919 „Unterhandlungen zwischen Regierung und Interessenten über wirtschaftliche und finanzielle Fragen“109 eingesetzt. Einen ersten Zugang eröffneten jedoch weniger formelle Revisionsverhandlungen des Versailler Vertrages als vielmehr die praktische, bilaterale Aushandlung von Handelsabkommen mit Liberia bereits ab 1920. Auch die infrastrukturelle Erschließung verlief auf der praktischen Ebene, als eine Voraussetzung lokaler Präsenz und möglicher Einflussnahme, rascher als auf der staatlich-formellen Verhandlungsebene. Bereits 1921 richteten die Woermann- und die Deutsche Ostafrika-Linie wieder einen ersten regelmäßigen Linienverkehr nach Ost- und Westafrika ein, weitere Handelsbarrieren wurden durch das bilaterale portugiesisch-deutsche Handelsabkommen 1923 beseitigt. Dies hatte durch die deutsche Beteiligung am Mocimboa Sisal Development Syndicate Ltd. langfristige Folgen für das weitere deutsche unternehmerische Engagement in Afrika: Unter finanzieller Stütze des Staates und praktischer Stellung des technischen Personals der Deutschen Ostafrikanischen Gesellschaft wurde hier ein „Modus der geheimen staatlichen Finanzierung und Beaufsichtigung“ eines transimperialen Unternehmens (Deutschland, Portugal, Großbritannien) erprobt und „diente als Vorbild, als sich Mitte der zwanziger Jahre auch in anderen Teilen Afrikas Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Durchdringung öffneten“.110

106 Auch das Auswärtige Amt bzw. die diplomatischen Vertretungen blieben über praktische ökonomische Fragen auf enger Tuchfühlung mit den ehemaligen Kolonialgebieten, etwa auf Nachfrage und im Interesse der Firma Woermann. Vgl. exemplarisch Schreiben Auswärtiges Amt an die deutsche Botschaft in London, 26. August 1920, Bl. 117, in: P AA, London 380. 107 Crozier, Die Kolonialfrage (wie Anm. 25), 331; vgl. auch ausführlich Pogge von Strandmann, Deutscher Imperialismus (wie Anm. 25), S. 287 f. 108 Vgl. Krüger, Die Außenpolitk (wie Anm. 11), 324–335. 109 Rüger, Streben nach kolonialer Restitution (wie Anm. 4), 276. 110 Ebd., 279.

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Kehrten nun also auch die Eisenbahnbau-Unternehmen nach Afrika zurück? Tatsächlich sind für die 20er Jahre für die von mir betrachteten Unternehmen nur vereinzelte Geschäftsaktivitäten in Afrika zu beobachten: Soweit bislang bekannt ist, kehrte keins in die ehemaligen Kolonien zurück. Mit der Enttäuschung über die ursprünglichen Erwartungen an die deutschen kolonialen Märkte fanden sich für die untersuchten Unternehmen nun vielmehr Anknüpfungspunkte in anderen, bereits bekannten Märkten der Vorkriegszeit, insbesondere in Südafrika.

Das Ende der DKEBBG So war beispielsweise für koloniale Bauunternehmen wie die DKEBBG mit dem Verlust der Kolonialgebiete das Ende der Unternehmung besiegelt. Ab 1917 gibt es keine Hinweise mehr auf Geschäftsaktivitäten, es gab nur noch eine Vermögensverwaltung und das Restkapital wurde dann 1927 in eine neue Lenz-Gesellschaft eingebracht. Lenz und die neue Aktiengesellschaft für Verkehrswesen konzentrierten sich wieder stärker auf den deutschen Markt, nahmen aber auch neue ausländische Märkte, etwa in der Türkei, in den Fokus.111 Hier kam es also zu einer durchaus messbaren Verschiebung im Netzwerk der Baufirmen und Zulieferer, von denen Ph. Holzmann deutlich profitierte: Holzmann folgte seit der Jahrhundertwende einer starken Internationalisierung, an die das Unternehmen in den 20er Jahren – auch und gerade in Bezug auf die vor dem Weltkrieg gewonnenen Expertise und in Kontinuität des Personals – bewusst anknüpfte. So wurde etwa der ehemalige Oberingenieur der Ostafrikanischen-Baustellen gezielt als Experte in späteren „Eisenbahnbauten in der Türkei und in Persien in leitender Stellung“112 eingesetzt.

Ausweichen der Zulieferer auf andere Märkte Eine ähnliche Situation zeichnete sich seit Beginn der 20er Jahren bei den Zulieferern ab. Krupp etwa exportierte rasch wieder Friedensmaterial ins europäische Ausland, aber auch der Absatz in „alte“ Kolonialstaaten wie etwa Nieder111 Vgl. Allgemeine Baugesellschaft Lenz & Co. (Kolonial-Gesellschaft), Geschäftsbericht für das I. Geschäftsjahr 1927, in: BArch, R 8127/233. Vgl. allgemein zur Lenz-Geschichte Wall, Der Lenz-Konzern (wie Anm. 50). 112 Ferdinand Grages, Holzmann in Afrika. Bau der Mittellandbahn Daressalam-Kigoma in Ostafrika, in: Hans Meyer-Heinrich (Hg.), Philipp Holzmann Gesellschaft im Wandel von hundert Jahren, 1849–1949, Frankfurt a. M. 1949, 283–299, hier 298.

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ländisch-Indien (Schienenlieferungen) sowie Britisch-Indien (Radreifen an die South Indian Railway Co. Ltd.) setzte sich in Kontinuität bewährter Netzwerke durchaus weiter fort.113 Für den afrikanischen Markt treten Geschäfte mit dem High Commissioner of South Africa Mitte der 20er Jahre hervor, sowohl bezüglich der Lieferungen von Radsätzen, als auch umfangreicher Lieferungen von Oberbau-Material. Die Verkaufsabteilung von Krupp zählte den südafrikanischen Kunden in dieser Zeit explizit zu einem der größten Abnehmer neben der Reichsbahn mit insgesamt rund 45.000t Oberbaumaterial für Südafrika. Und auch hier zeigt sich der Hinweis auf Ruf und Qualität der deutschen Produkte, die sich auf dem Weltmarkt wieder behaupteten bzw. zum Verkaufsargument wurden: Offenbar sprang Krupp für eine ehemals belgische Lieferung ein, deren Qualität als ungenügend deklariert worden war.114 So folgten 1928 weitere Aufträge gemeinsam mit dem Bochumer Verein von insgesamt über 60.000 Tonnen Oberbaumaterial, in einer Zeit, in der die Verkaufsabteilung bei insgesamt geringer Auftragslage jeden neuen Auftrag erfreut vermerkte. Die Geschäfte nahmen also erneut, wie bereits nach der Jahrhundertwende, kompensatorische Funktionen für eine rückläufige (Binnen-)Nachfrage ein.115 Das Geschäft mit dem Empire erwies sich aufgrund der deutlich günstigeren Stahlpreise im Verlauf der 20er Jahre als weiterhin äußerst attraktiv, wie Hinweise zu Stahlbauprojekten in Indien im Jahr 1924 im Umfang von 480 Tonnen belegen.116 Es zeigt sich, dass Krupp seit Beginn der 20er Jahre intensiv daran arbeitete, international wieder Fuß zu fassen und dabei bemüht war, etwa in Fragen internationaler Preisabsprachen mit dem britischen Brückenbau zu kooperieren. Großbritannien selbst, aber auch das British Empire generell, wurden weiterhin als großer Markt gesehen.117 Denn bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Exportanteil von Krupp, mit umfassenden Lieferungen in die europäischen Kolonialgebiete, rund 30 Prozent erreicht. Die vermeintlich „alte“ Industrie überschritt nun auch in der Zwischenkriegszeit, ähnlich wie die Elektroindustrie, bereits 1924/25 diese Marke wieder und arbeitete aktiv an der weiteren internationalen

113 Vgl. Radreifenlieferungen Ausland, ab 1921, in: Historisches Archiv Krupp [künftig HAK], WA 1/1409. 114 Vgl. Berichte der Verkaufsabteilungen über die Geschäftsjahre 1925/26 und 1926/27, in: HAK, WA 70/515 und 516. 115 Vgl. Jahresbericht der Verkaufsabteilung 1927/28, in: HAK, WA 70/517; vgl. ausführlich Kleinöder, A „Place in the Sun“? (wie Anm. 35). 116 Vgl. Schreiben Eisenbauwerkstätte an Klönne, 3.10.1924, betrifft: Lieferung der E. W.-Produkte nach England und den englischen Kolonien, in: HAK, WA 70/1286. 117 Vgl. Schreiben Eisenbauwerkstätte an Klönne, 3.10.1924, Anlage: Zweites Folge-Schreiben, 3.10.1924, in: HAK, WA 70/1286. Vgl. dazu auch die Auflistung internationaler Stahlbauprojekte, Stahlbau, Bauprojekte im Ausland, v. a. Brückenbau, 1927–37, in: HAK, WA 70/1288.

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Expansion.118 Zentral wird an dieser Stelle das Argument einer transnationalen Perspektive. Dabei geht es weniger darum, das Narrativ einer De-Globalisierung grundsätzlich zu durchbrechen. Rückt man jedoch vom engeren Fokus auf Investitionsvolumen und Handelsdaten allein ab, so zeichnen sich durchaus Kontinuitätslinien unternehmerischen Handelns, wie Kommunikation und Personal, Reputation bzw. Expertise usw. ab, die es weiter zu hinterfragen gilt.119

Der Sonderfall der „Otavi-Bahn“ Eine grundsätzliche Ausnahme in dieser Geschichte bildete in diesem Sinne die „Otavi-Minen- und Eisenbahngesellschaft“, die aufgrund der relativ liberalen südafrikanischen Verwaltung als „Foreign Company“ weiterhin in der ehemaligen Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ operieren konnte. Die ehemalige Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ wurde aufgrund ihrer dünnen Besiedelung vom Völkerbund als C-Mandat eingestuft und damit faktisch der britischen Souveränität (eine Kompromissregelung unter dem südafrikanischen Vertreter Jan Smuts)120 unterstellt.121 Zugleich sind hier rasche Entwicklungen zu beobachten, das Mandatsgebiet der Südafrikanischen Union vollständig anzugliedern. Es erfolgte daher keine umfassende Enteignung bzw. Verdrängung des deutschen Kapitals. Vielmehr gab es Tendenzen, Geschäfte zu schützen und Kapital und Sachgüter rasch in Sicherheit zu bringen – zu beobachten insbesondere bei den Diamantengesellschaften:122 Instrumente waren hier der schnelle Verkauf bzw. die Fusion zu transnationalen Konsortien (südafrikanisches Diamantenkartell), die sich bis Anfang 1920 bereits vollzogen. Auch bei der Lüderitzbuchter Elektrizitäts-Gesellschaft erfolgte eine unvermittelte Übertragung von Anlagen und Eigentum an südafrikanische Institutionen. Über Fusionen mit Sitz in Südafrika gelang so den deutschen Besitzern eine Sicherung der Geschäftsbasis über die Abgabe (eines Teils) ehemaliger Privilegien und Konzessionen an Südafrika, sowie über

118 Vgl. Ralf Stremmel, Globalisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Ausgewählte Daten zum Export der Firma Krupp, in: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift (2009), 97–113, hier 101 und 104. 119 Vgl. Martin Lutz, Elektroindustrie, in: Marcel Boldorf (Hg.), Deutsche Wirtschaft im Ersten Weltkrieg, Berlin 2020, 227–249, hier 242, 245 f. 120 Vgl. zur Sonderrolle Smuts ausführlicher Leonhardt, Der überforderte Frieden (wie Anm. 15), 710–715; sowie ausführlich zu den Mandats-Debatten William Roger Louis, Das Ende des deutschen Kolonialreiches. Britischer Imperialismus und die deutschen Kolonien 1914–1919, Düsseldorf 1971, 88–113. 121 Vgl. Leonhardt, Der überforderte Frieden (wie Anm. 15), 710 und 715. 122 Vgl. Rüger, Streben nach kolonialer Restitution (wie Anm. 4), 276–283.

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die Verlegung des Firmensitzes zur Anwendung südafrikanischen Rechts. Insgesamt blieben so „[b]eträchtliche deutsche Kapitalinteressen […] in der Kolonie erhalten“.123 Hierunter fiel auch die „Otavi-Minen- und Eisenbahn-Gesellschaft“, die den Prozess der „Südafrikanisierung“124 erfolgreich überlebte.125 Ihr Geschäft verlagerte sich in der Folge des Verlusts der Eisenbahnrechte vollends auf das Minengeschäft und bleibt daher für die engere Frage der Kolonialbahnen eher ein Randphänomen. In der Zusammenschau zeichnet sich ab, dass sich aus der Rückwirkung der Gebietsverluste auf die deutschen Mutterunternehmen die unmittelbaren Geschäftsfelder sowohl der Bauunternehmen (Holzmann) wie auch der Zulieferer (Krupp, GHH) verschoben. Hinterfragt man also die kolonialen Verflechtungen, so blieben die Expertise und das Know-how aus der spezifisch formellen kolonialen Phase für die Unternehmen ein wichtiger Bestandteil ihrer weiteren Internationalisierung, wenn auch mit Verlust des vormals äußerst attraktiven Marktes der staatlich subventionierten Aufträge im Kolonialbahnbau.126 Vielmehr bewegten sich die Unternehmen nun wieder im Kräftemessen der (neuen) transimperialen Machtverhältnisse der frühen 20er Jahre. Ohne eigene Kolonien galt es nun vielmehr, neutrale Regionen für sich zu besetzen: „Germany pushed into neutral areas such as South America, seeking bilateral links, bartering exports for essential imports, where possible and making striking gaines.“127

Die GHH in Südamerika Diese Strategie ist bei der GHH bereits vor Ende des Ersten Weltkrieges erkennbar: Bereits im Februar 1918 erfolgte bei der GHH eine kritische Einschätzung über den weiteren Verlauf und Ausgang des Krieges – auch mit Blick auf die zukünftigen Absatzmärkte des Unternehmens. Es erfolgte bereits zu diesem 123 Ebd., 282. 124 Ebd., 282. 125 Vgl. ausführlich Otavi Minen AG/Heidi Schnorbus, Die Geschichte der Otavi Minen AG 1900–2000. Ein ereignisreiches Jahrhundert, Eschborn 2000, 81–104. 126 Vgl. für eine stärkere Verortung der deutschen Kolonialgeschichte im globalen Kontext von Imperialismus und Kapitalismus Sebastian Conrad, Rethinking German Colonialism in A Global Age, in: The Journal of Imperial and Commonwealth History 4 (2013), 543–566, hier insbesondere 544 f. 127 P. J. Cain/A. G. Hopkins, British Imperialism, 1993, Bd. 2, 151 f. zit. nach: Jochen Meissner, Bruch oder Kontinuität? Die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die deutschen Auslandsinvestitionen in Lateinamerika, in: Boris Barth/ders. (Hrsg.), Grenzenlose Märkte? Die deutschlateinamerikanischen Wirtschaftsbeziehungen vom Zeitalter des Imperialismus bis zur Weltwirtschaftskrise, Münster 1995, 185–203, hier 202.

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Zeitpunkt eine strategische, äußerst pragmatische Umorientierung zum Schutz jener Absatzmärkte, die nicht ebenfalls in die Hände der Entente fallen sollten, denn das Verbandsbüro der GHH fürchtete, dass „[…] Hass und eine Stimmung gegen alles Deutsche geschaffen ist. […] Die Schwierigkeiten sind wie gesagt sehr gross, sie müssen aber überwunden werden, da Deutschland den südamerikanischen Absatz unter gar keinen Umständen entbehren kann und wieder haben muss, koste es was es wolle.“128 Anstelle eines Anschlusses an die kolonialrevisionistische Agitation lag der unternehmerische Fokus vielmehr auf einer pragmatischen Umorientierung im sich wandelnden Weltmarkt.129 So war Südamerika bereits nach der Jahrhundertwende für den GHH Brückenbau ein zentraler Markt und wurde es nun mit der kolonialen Expertise und Prestigeprojekten wie der Sanaga-Brücke (Kamerun) umso mehr. Das Beispiel zeigt abschließend die Flexibilität des Unternehmens diese Märkte und vor allem die Expertise des spezifischen kolonialen Settings wieder zu verschieben.130 Denn neben dem Konzernaufbau, der bislang in der Forschung zur GHH für die 20er Jahre im Vordergrund steht, gab es auch gezielte Versuche, das Exportgeschäft wiederzubeleben. Gerade der Brückenbau war ein Erfolgsbereich in einer sonst eher problematischen Lage im Konzern.131 Es wird deutlich, dass aus Unternehmensperspektive der afrikanische Kolonialbahnbau eine Episode des sich internationalisierenden Marktes darstellte, auf dessen Expertise und Reputation die GHH nun gezielt aufbauen wollte. Durch die bereits vor 1918 gestellten Weichen war das Südamerika-Geschäft nicht grundsätzlich neu für die GHH. Neben den europäischen Projekten knüpfte man gezielt an diese Tradition an.132 Hier hatten sich die Geschäfte und Baustellen zwar während des Kriegs ebenfalls verkompliziert, waren aber nie ganz zum Erliegen gekommen. So hatte auch der 128 Internes Schreiben Verbandsbüro GHH, 11.2.1918, in: RWWA, 130-300125/3. 129 Vgl. zur Differenzierung unternehmerischer Reaktionen und Annexions-Forderungen, u. a. als „eine kühl durchdachte, rationale Überlegung, die von ökonomischen Motiven geleitet wurde“, Christian Marx, Eisen- und Stahlindustrie, in: Marcel Boldorf (Hg.), Deutsche Wirtschaft im Ersten Weltkrieg, Berlin 2020, 157–191, hier 181. 130 Wichtig bei der Betrachtung von Internationalisierung sind die regionalen Unterschiede der 1920er Jahre. Die angelsächsische Literatur legt oftmals starke Sympathie gegenüber den Entente-Staaten nahe, „Das Bild war insgesamt vielfältiger und die Ablehnung der Deutschen Kriegsmaßnahmen keineswegs einhellig.“ Meissner, Bruch oder Kontinuität? (wie Anm. 127), 202. 131 Vgl. Johannes Bähr, GHH und M. A. N. in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit (1920–1960), in: ders. u. a. (Hrsg.), Die MAN (wie Anm. 46), 229–371, hier 255. 132 Auch Boris Barth verweist auf die vermutlich hohe Kontinuität deutscher Firmen, die generell jedoch kaum erforscht ist. Vgl. Barth, Die Auswirkungen des Kriegsausbruchs (wie Anm. 20), 54.

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Unternehmensvorstand bereits im Februar 1918 auf Nachfrage des Deutsch-Südamerikanischen Instituts in einem vertraulichen Schreiben die Rolle der südamerikanischen Märkte betont, dass es „[…] unzweifelhaft für die deutsche Industrie durchaus wünschenswert und eine Notwendigkeit [sei], sofort nach Beendigung des Krieges die früher so ausserordentlich ausgedehnten Beziehungen zu Südamerika nicht nur wieder aufzunehmen sondern sie nach Möglichkeit mit allen Kräften weiter auszudehnen. Gerade die Südamerikanischen Absatzgebiete gehörten vor dem Kriege zu den bedeutungsvollsten unter den ausländischen überhaupt und die deutsche Industrie wird diese Absatzgebiete nach dem Kriege unter keinen Umständen entbehren können.“133

Dies war im Konzern zugleich eng mit den entsprechenden Erwartungen an den Friedensschluss verwoben: „Bringt uns der kommende Friede die unbedingt notwendige Handels- und Bewegungsfreiheit auf dem Weltmarkt, so wird zweifellos auch der Absatz nach Südamerika nach einer gewissen Zeit sich wieder heben. Kommen dagegen die von englischer Seite geplanten Erschwerungen des deutschen Handels zur Durchführung, so sind die Folgen nicht abzusehen.“134 Doch es blieb nicht bei dieser strategischen Proklamation. Bereits seit Beginn der 20er Jahre erhielt die GHH unter personeller Kontinuität die ersten umfangreicheren Brückenbauaufträge aus Argentinien. Die GHH setzte unter der Leitung von Bohny, der bereits für den Brückenbau in den Kolonien zuständig gewesen war, die Geschäfte nahezu nahtlos fort.135 Auch die Karriere des späteren Direktors Olaf Sommerstad, der 1927/28 eine umfangreiche Reise für die GHH in Südamerika unternahm und in deren Folge es u. a. zu umfangreichen Geschäftstätigkeiten in Kolumbien kam, baute auf seiner Expertise im kolonialen Brückenbau in Afrika auf.136 Er hatte zuvor nicht nur die Verhandlungen für die GHH mit dem ehemaligen RKA und Lenz bis ins Jahr 1921 hinein in Berlin geführt,137 sondern bereits 1910 als erster Ingenieur der GHH in Kamerun den Bau der Brücke über 133 Schreiben Reusch und Kalthoff an das Deutsch-Südamerikanische Institut, 18.2.1918, Durchschlag, in: RWWA, 130-300125/3. 134 Abt. Sterkrade an Hauptverwaltung, Abteilung G, 27.2.1918, in: RWWA, 130-300125/3. 135 Eigentlich mehr als eine Fußnote wert sind dabei die besonderen Bedingungen der Ruhrbesetzung und die pragmatischen Lösungsversuche, das vorproduzierte Material noch einmal zu verschiffen, gerade auch im Vergleich mit den ähnlichen Problemen bei Kriegsausbruch, knapp 10 Jahre zuvor. Vgl. Brücke über den Escada, 1923–1925, in: RWWA, 130-304014/19. 136 Vgl. Mark Jakob, Between Entrepreneurial Risk-Taking and Reason of State: Export Credit Insurance in Germany and Britain during the Interwar Period, in: ders. u. a. (Hrsg.), Security and Insecurity in Business History. Case Studies in the Perception and Negotiation of Threats, Baden-Baden 2021, 71–109, hier 94–102. 137 Siehe Anm. 91.

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den Sanaga geleitet.138 Die GHH profitierte hier offenbar nicht nur von ihrer praktischen, personellen Expertise im Ausland unter verschiedenen topografischen, politischen, klimatischen usw. Bedingungen, sondern auch von den persönlichen Verbindungen und Erfahrungen mit staatlichen Behörden.139 Interessant ist dabei aber auch die Marktlage für die deutschen Unternehmen in Südamerika: So berichtete der Vertreter für die GHH in Buenos Aires bereits bei einer Ausschreibung im Jahr 1921, dass sich die Konkurrenz trotz langer Bewerberliste nach Insider-Informationen allein zwischen den deutschen Bewerbern abspielte (insbesondere GHH, Fried. Krupp, und Augsburg-Nürnberg) – also eine Verschiebung genau jenes Marktes und Konkurrenzfeldes, das sich vor Kriegsausbruch auch in Afrika herausgebildet hatte.140 Mit weiteren ausländischen Brückenbauten wie der Klappbrücke über den Riachuelo (1922/1931) oder eine Brücke über den Rio Dulce (1924/25), gelangen der GHH schließlich ähnliche Prestigeprojekte in Argentinien wie über den Sanaga in Kamerun.141 Dieses Beispiel zeigt, auf welche Weise die Internationalisierung durch den Ersten Weltkrieg zunächst unterbrochen wurde, die GHH aber bewusst und sichtbar an Strategien und Netzwerke der Vorkriegszeit mit wachsenden Exportzahlen anknüpfte. Trotz der Probleme von Ausfuhrbeschränkungen, Ausschluss von Märkten, praktischen Herausforderungen der Ruhrbesetzung usw. zeigt sich eine klare Orientierung und eine deutliche Vorstellung von der Bedeutung der internationalen Märkte seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, hinter deren Ausmaß das Unternehmen auch mit den Konsequenzen des Versailler Vertrages nicht zurückfallen wollte.

6 Erste Ergebnisse: Kolonialwirtschaft ohne Kolonien? Welche Auswirkungen hatten der Ersten Weltkrieg und der Versailler Vertrag auf die deutschen Unternehmen im kolonialen Eisenbahnbau?142 Die Antwort 138 Vgl. Schreiben GHH an DKEBBG, Bauleitung der Kamerun Mittellandbahn, Duala/Kamerun, 8.4.1910, Durchschlag, in: RWWA, 130-304014/27. 139 Vgl. Jakob, Entrepreneurial Risk-Taking (wie Anm. 136). 140 Vgl. Schreiben Goedhart, Buenos Aires an Uth, Düsseldorf, 21.4.1921, in: RWWA, 130304014/74. 141 Vgl. Stein, 100 Jahre GHH-Brückenbau (wie Anm. 47), 172–180. 142 Dabei habe ich jedoch weder die Kolonialwirtschaft im engeren Sinne noch die Kapitalverflechtungen in den Blick genommen. Siehe dazu Barth, Die deutsche Hochfinanz (wie Anm. 41), 304–342.

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fällt für dieses Gebiet eindeutig aus, in dem der politische Kolonialrevisionismus hinter dem wirtschaftlichen Pragmatismus der betrachteten Unternehmen deutlich zurückstand. Sowohl der Versailler Vertrag als auch die zunehmende Abschottung der Märkte schoben dem strategisch-militärisch bedeutsamen Kolonialbahnbau einen Riegel vor. Mit dem Besitz eigener Kolonien hatte sich ein formal gerahmtes Marktfenster geöffnet, das sich mit dem Gebietsverlust rasch wieder schloss. Formeller Kolonialbesitz wurde zugleich für die Unternehmen ein wichtiger Teil ihrer forcierten Internationalisierung und der Erschließung neuer Märkte in der „First Global Economy“. In diesem Sinne gingen tatsächlich einige Geschäftszweige und -regionen mit dem Ersten Weltkrieg verloren, während andere zugleich wiederbelebt bzw. neu geknüpft wurden. Beim Eisenbahnbau handelt es sich um ein stark nationalistisches Projekt mit einer herrschaftssichernden Dimension,143 das über das Argument der wirtschaftlichen Abhängigkeit etwa der Briten von den deutschen Plantagen (Authaler) hinaus reicht. Allein aus diesem Grund war an einen nahtlosen Weiterbau oder eine Rückkehr auf die Baustellen nicht zu denken. Der Blick auf die Mikroebene zeigt zugleich, dass der Bahnbau wie auch der Betrieb der Plantagen eher ein technisch-ökonomisches Projekt für die Unternehmen darstellten, als eine aktive Präsenz in der politischen Debatte – weder in der allgemeinen Kolonialrevision noch im politisch-gesellschaftlichen „Zivilisations“gedanken.144 Stellt man das politische Narrativ des Kolonialrevisionismus der geschäftlichen Unternehmensperspektive gegenüber, erhält man ein geteiltes Bild: Anstatt auf Interessen der formellen Kolonisation zu setzen, wie etwa der Präsenz und Agitation in Kolonialverbänden, folgten die Unternehmen, wie auch schon in der Zeit der formellen Kolonisation,145 offenbar stärker einer eigenen, ökonomisch-rationalen, pragmatischen Linie, etwa über die (Re-)Organisation von Absatzverbänden.146 Weniger die individuelle Rückgewinnung einzelner afrikanischer Märkte über eine koloniale Revision, als vielmehr eine Gesamtstrategie im Wettbewerb der Internationalisierung rückte in den Fokus.147 143 Vgl. zu diesen strategischen Infrastrukturbauten auch die Debatte um die deutschen Seekabel in Versailles. Vgl. Leonhardt, Der überforderte Frieden (wie Anm. 15), 716 ff. 144 Vgl. Caroline Authaler, Negotiating „social progress“: German planters, African workers and mandate administrators in the British Cameroons (1925–1939), in: Magaly Rodríguez García u. a. (Hrsg.), The League of Nations’ Work on Social Issues. Visions, Endeavours and Experiments, New York 2016, 47–56, hier 53. 145 Vgl. ausführlich Kleinöder, A „Place in the Sun“? (wie Anm. 35). 146 Z. B. das Südamerika-Institut oder die Auslands GmbH der Eisen- und Stahlindustrie, Vgl. Deutsch-Südamerikanisches Institut, 1913–1922, in: RWWA, 130-300125/3; Schreiben DeutschArgentinischer-Centralverband an GHH, 26.3.1914, in: RWWA, 130-300125/4. 147 Und auch die Politik löste sich schließlich davon, vgl. Rüger, Streben nach kolonialer Restitution (wie Anm. 4), 279.

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Anders als beim Fallbeispiel der kamerunischen Plantagen, kehrte im engeren Sinne keins der betrachteten (Bau-)Unternehmen auf seine ehemalige Bahnbaustelle zurück. Denn materiell wie politisch manifestierte der Versailler Vertrag den endgültigen Verlust der strategisch bedeutsamen Infrastrukturbauten, die durch eigene britische bzw. französische Unternehmen übernommen wurden. Ein rascher Wiedereinstieg deutscher Unternehmen, nicht nur im Bau, sondern auch im Kolonialbahn-Betrieb, waren allein aus militärischen Erwägungen heraus weitgehend undenkbar.148 Ziel der britischen Plantagenpolitik dagegen war es, die ehemaligen deutschen Plantagen zu privatisieren – es fanden sich jedoch keine interessierten britischen Investoren. Unter den spezifischen Rahmenbedingungen des britischen Interesses einer kostendeckenden Plantagenwirtschaft, gepaart mit dem Interesse deutscher Unternehmer an Rückkäufen, gelang es unter dem Deckmantel von Strohgeschäften, alte Netzwerke in den 20er Jahren neu zu spinnen.149 Bei der Nachfrage nach den strategisch bedeutsamen, ehemaligen deutschen Infrastrukturen mangelte es hingegen nicht an britischem Interesse (e. g. Tanganyka Railways) und die deutschen Verbindungen im Kolonialbahnbau und -betrieb wurden explizit gekappt.150 Eine Ausnahme blieb die „Otavi-Minen- und Eisenbahngesellschaft“, deren Fortbestand unter den Spezifika des C-Mandats Ähnlichkeiten mit den ehemaligen deutschen Plantagen am Kamerunberg aufweist. Hier wurden in ähnlicher Weise rechtliche Schlupflöcher und Taktiken der (Kapital-)Verschleierung genutzt, da auch hier das Interesse einer möglichst geräuschlosen Fortsetzung und ökonomischen Ausbeutung überwog. Auch die Zulieferer versuchten, pragmatisch in andere Regionen auszuweichen. Tatsächlich hing dies vor allem am Verhalten der großen Bauunternehmen. So verzeichnete die DKEBBG, die eigens für die Bauten in den Kolonien gegründet worden war, keine Geschäftsaktivitäten seit dem Ersten Weltkrieg mehr und die Muttergesellschaft Lenz & Co. bzw. Verkehrs AG verlagerte wie Philipp Holzmann den Fokus auf andere Märkte. Zugleich knüpften sie an alte Verbindungen an, etwa mit Teillieferungen in die niederländischen Kolonialgebiete oder ins British Empire. Im Sinne einer Annäherung von kolonial- und unternehmenshistorischen Zugängen erscheint es am Untersuchungsgegenstand der „Kolonialbahnen“ daher sinnvoll, die Episode des formalen Kolonialbesitzes in eine längere Perspek148 Vgl. auch zur strategisch-militärischen Bedeutung der kolonialen Infrastruktur mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges van Laak, Imperiale Infrastruktur (wie Anm. 4), 171. 149 Vgl. Authaler, Deutsche Plantagen (wie Anm. 7), 78 ff. 150 Vgl. z. B. den vorherigen „Wettlauf“ im afrikanischen Eisenbahnbau, zuletzt in der transnationalen Übersicht bei Maria Paula Diogo/Dirk van Laak, Europeans globalizing. Mapping, exploiting, exchanging, London 2016, 139–165.

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tive imperialer Wirtschaftstätigkeit einzuordnen. Sie fasste auch nach dem offiziellem Gebietsverlust zunächst in anderen Regionen, aber auch in Afrika selbst, wieder Fuß und das spezifisch „koloniale“ wirkte für die Unternehmen im Sinne einer „entangled history“ auch in den 20er Jahren weiter nach. Tatsächlich setzte mit Blick auf die Unternehmen das Ende der Kolonialherrschaft bereits zu Beginn des Ersten Weltkrieges eine Zäsur, in dem sie bereits hier einen Neuanfang suchten. Somit wirkten ökonomische Akteure aus der Zeit bis 1914 auch lange darüber hinaus informell (Gallagher/Robinson) am Fortbestand kolonialer Strukturen mit. Es ging allerdings nicht allein um die Ersetzung formeller Strukturen durch informellen Kolonialismus. Vielmehr gelang es, aufgrund der alten, d. h. „kolonialen“ Märkte, Referenzen für neue Märkte vorzuweisen. Das Verhältnis von Pfadabhängigkeiten und die Rolle des privatwirtschaftlichen „Nutzens“ von Kolonien muss daher in dieser Sicht noch stärker in den Fokus gerückt und der (untrennbare) Zusammenhang von Geschäftsmodell und kolonialer Herrschaft betont werden. Wenn die jüngere Kolonialgeschichte also eine Multiperspektivität einfordert, ist es aus unternehmenshistorischer Sicht sinnvoll, auch die Unternehmen nicht nur selbst stärker als bisher in den Blick zu nehmen, sondern sie als transnationale Akteure einzubringen, die in formellen wie informellen Phasen der Kolonialisierung in diesen Gebieten unternehmerisch aktiv waren: so blieb der koloniale Markt nur einer unter verschiedenen Märkten, den sie über ein PublicPrivate-Partnership151 für eine begrenzte Zeit sehr effektiv und ohne große Eintrittshürden bedienen konnten, der jedoch zugleich stark auf diesen funktionierenden Rahmen begrenzt war. In dieser Zeit erwarben sie zugleich Expertise und technologische Reputation, mit deren Rückwirkungen sie während des vorübergehenden Marktausschlusses in den ehemaligen deutschen Kolonien den Fokus auf andere Kontinente und Kolonialstaaten (der Entente!) in der Zwischenkriegszeit richten konnten. Konsequent abgeschnitten waren sie vom Welt-Eisenbahnmarkt damit aber nicht.

151 Siehe dazu auch Stefanie van de Kerkhof, Public-Private Partnership im Ersten Weltkrieg? Kriegsgesellschaften in der schwerindustriellen Kriegswirtschaft des Deutschen Reiches, in: Hartmut Berghoff u. a. (Hrsg.), Wirtschaft im Zeitalter der Extreme. Beiträge zur Unternehmensgeschichte Deutschlands und Österreichs. Im Gedenken an Gerald D. Feldman, München 2010, 106–132.

Franz Hederer

Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld? Die Reparationen im Reichswirtschaftsrat nach dem Londoner Ultimatum 1921

1 Einleitung: Versailler Vertrag und Reichswirtschaftsrat So viel über den Versailler Vertrag anlässlich seiner hundertjährigen Wiederkehr geschrieben wurde, so wenig geriet dabei die Rolle des Weimarer Reichswirtschaftsrates (RWR) in den Blick. Das ist einerseits nicht verwunderlich, lag und liegt doch der Schwerpunkt der historiographischen und öffentlichen Beschäftigung mit den Pariser Vorortverträgen auf der Politik- und Diplomatiegeschichte, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann.1 Daneben stellte aber auch das Thema der Reparationen traditionell einen zweiten, nicht weniger relevanten Problemkreis dar, der bereits zeitgenössisch zu kontroversen Diskussionen um die Bezahlbarkeit der geforderten Summen, ihre volkswirtschaftlichen und politischen Effekte sowie das damit verbundene (alliierte) Kriegsschuldenregime Anlass gegeben hatte; John Maynard Keynes’ vielzitiertes Werk über die „Economic Consequences of the Peace“ von 1920 ist hier nur das Bekannteste.2 Die Kernfrage, was wieviel wann vom wem wie aufzubringen sein würde, bildete denn auch die Basis, an die politisches Handeln in der (frühen) Weimarer Republik rückgebunden blieb; wohlfahrtsstaatliche Leistungen, wie sie die Verfassung versprach,3 bedurften eben der Refinanzierung, und daran sollte sich eine nicht unerhebliche Zahl politischer Kontroversen entzünden.4 1 Jüngst Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018 oder Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles und die Neuordnung der Welt, München 2018. 2 John Maynard Keynes, The Economic Consequences of the Peace, London 1920. Bereits im selben Jahr erschien bei Duncker & Humblot die von Moritz Julius Bonn und Carl Brinkmann besorgte deutsche Übersetzung: ders., Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrags, München 1920. 3 Vgl. hierzu Franz Hederer, Wirtschaftsordnung, in: Rüdiger Voigt (Hg.), Aufbruch zur Demokratie. Die Weimarer Reichsverfassung als Bauplan für eine demokratische Republik, BadenBaden 2020, 787–799. 4 Etwa die sog. Borchardt-Kontroverse, vgl. zusammenfassend Jan-Otmar Hesse u. a., Die Große Depression. Die Weltwirtschaftskrise 1929–1939, Bonn 2015, 194–199. Pointiert auch Werner https://doi.org/10.1515/9783110765359-013

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So verwundert es dann doch, dass der RWR als das für die Thematisierung sämtlicher wirtschafts-, sozial- und finanzpolitischer Vorhaben „von grundsätzlicher Bedeutung“ zuständige Organ5 bisher kaum in den Fokus gerückt wurde. Forschungsgeschichtlich lässt sich das leicht erklären, da dem RWR seit jeher das Stigma der Irrelevanz, der Schwerfälligkeit und der revolutionseuphorischen Hypertrophie anhaftet.6 Das ist bis zu einem gewissen Grade nicht unzutreffend, verkennt aber die Entwicklungsdynamiken, denen der RWR in den 20er Jahren unterlag: Denn aller Widrigkeiten zum Trotz vermochte er sich als relevanter Akteur zu profilieren – wenn auch anders, als in der Verfassung intendiert. Aus der in der Tat augenfälligen Diskrepanz zwischen Verfassungsnorm und politischer Praxis allerdings auf seine vermeintliche Bedeutungslosigkeit zu schließen, greift, so viel scheint sicher, zu kurz.7 Gerade das herausgehobene Beispiel der Reparationen macht in besonderer Prägnanz deutlich, welche Stellung der RWR im Prozess der Politikformulierung tatsächlich einnahm, wie er aber auch angesichts seiner nur limitierten Befugnisse, die ihm die Verordnung vom 4. Mai 1920 gewährt hatte, auf ein möglichst reibungsloses Zusammenspiel mit Regierung und Reichstag angewiesen war. Hieran mangelte es jedoch aus unterschiedlichen Gründen nicht selten. Die konstitutive Ambivalenz des RWR, mittendrin und doch nicht ganz dabei zu sein, wird an diesem Beispiel ebenso greifbar wie das eigene Selbstverständnis, ökonomische Fragen auf Basis rationaler Erwägungen entscheiden zu wollen und auch zu können. Ausgehend von dieser freilich alles andere als voraussetzungslosen Überzeugung eröffnen sich neue Perspektiven auf den RWR und seiPlumpe, Weimar: Über das Anhäufen von Problemen, in: Andreas Wirsching u. a. (Hrsg.), Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie, Bonn 2018, 23–35. 5 So die Formulierung in Art. 165 WRV. Vgl. auch Art. 11 der Verordnung über den vorläufigen Reichswirtschaftsrat vom 4.5.1920 [VO Vorl. RWR 1920], RGBl. 1920, 858–869, hier 868. Einen fundierten zeitgenössischen Überblick bietet der einschlägige Kommentar von Hans Schäffer, Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat. Kommentar der Verordnung vom 4. Mai 1920, München 1920. 6 Vgl. stellvertretend Gerhard A. Ritter, Die Entstehung des Räteartikels 165 der Weimarer Reichsverfassung, in: HZ 1 (1994), 73–112, hier 74 („totgeboren“) oder Ulrich Nocken, Korporatistische Theorien und Strukturen in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Ulrich von Alemann (Hg.), Neokorporatismus, Frankfurt a. M. 1981, 17–39, hier 36 („Schattendasein“). Jüngst auch Alfred Reckendrees, Weimar Germany: The first open access order that failed?, in: Constitutional Political Economy 1 (2015), 38–60, hier 49. Unverzichtbar das Handbuch von Joachim Lilla, Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat 1920–1933/34. Zusammensetzung – Dokumentation – Biographien, Düsseldorf 2012. 7 Die folgenden Ausführungen sollen auch dazu dienen, diese These zu erhärten. Einstweilen sei verwiesen auf Hederer, Wirtschaftsordnung (wie Anm. 3) und Franz Hederer/Kim Christian Priemel, In der Schwebe. Markt, Staat und Wettbewerb in Deutschland 1918–1948, in: HZ 4 (2021), 89–123.

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ne konkrete Rolle in politischem System und Wirtschaftsordnung, die durch eine normative Betrachtung allein verschlossen blieben. Dazu kommt, dass der RWR als Quelle bisher kaum systematisch herangezogen wurde; die WeimarForschung verzichtet damit, von der Analyse einzelner policies abgesehen,8 auf die Auswertung eines äußerst umfangreichen und vielschichtigen Quellencorpus, der einen privilegierten Einblick in die wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Debatten der Zeit bietet, und dabei wie ein Prisma die unterschiedlichen Perspektiven der Akteure bündelt. Der Beitrag zeigt anhand einschlägiger Aktenbestände, wie die Reparationen infolge des Londoner Ultimatums vom Mai 1921 zum Gegenstand intensiver Beratungen im RWR avancierten, welche inhaltlichen und strategischen Schwerpunktsetzungen dort vorgenommen wurden und welche politischen Konfliktkonstellationen daraus resultierten. Erkennbar wird ein durchweg ambivalenter politischer Akteur im Spannungsfeld von Parteien, Verbänden, Regierung und Öffentlichkeit, dessen ökonomische Expertise sich im politischen Raum zu bewähren hatte. Ohne den RWR aber, das war klar, würde es nicht gehen.9

2 Die Reparationsfrage im Reichswirtschaftsrat, oder: Wer soll das bezahlen? Londoner Ultimatum und Reparationsausschuss: Das Setting Entgegen der durch die Revolution genährten Erwartungen an eine grundlegende, auch institutionell greifbare Rekalibrierung des Verhältnisses von Wirtschaft und Staat sah die Weimarer Reichsverfassung (WRV) in Art. 165 zwar eine Kaskade an Rätegremien vor, verzichtete aber gleichzeitig darauf, diesen

8 Exemplarisch etwa Werner Schubert, Der Vorläufige Reichswirtschaftsrat und die Aktienrechtsreform in der Weimarer Zeit, in: ders./Peter Hommelhoff (Hrsg.), Die Aktienrechtsreform am Ende der Weimarer Republik. Die Protokolle der Verhandlungen im Aktienrechtsausschuß des Vorläufigen Reichswirtschaftsrats unter Vorsitz von Max Hachenburg, Berlin/New York 1987, 9–69. 9 Etwa RWiM Robert Schmidt, gem. Sitzung der Hauptausschüsse des RWR, 9.6.1921, in: Bundesarchiv [künftig: BArch] R 401/608, fol. 9.

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eine politisch-dezisive Rolle beizumessen.10 Der „Räteartikel“ unterstellte den Wirtschaftsbeziehungen eine charakteristische „doppelte Grundanschauung“11, die einerseits die Konfliktlinie zwischen Arbeit und Kapitel durch die Etablierung von „Arbeiterräten“ kanalisieren, andererseits aber auch die kohäsiven Produktionsinteressen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmern in sog. „Wirtschaftsräten“ zum Ausdruck bringen wollte; Letzteres sollte auf Reichsebene der „Reichswirtschaftsrat“ verkörpern. Von Beginn sah dieser sich aber mit ebenso weitreichenden und heterogenen Erwartungen konfrontiert, die sich nicht zuletzt aus der verbreiteten Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit des parlamentarischen Systems speisten, und auf die „Entlastung“ des Reichstags, eine „Versachlichung“ der Wirtschaftspolitik und den Ausgleichs der unterschiedlichen sozio-ökonomischen Interessen zielten.12 Der Verfassungsartikel basierte im Wesentlichen auf den arbeitsrechtstheoretischen Überlegungen Hugo Sinzheimers, der sich auf dem Weimarer Parteitag der SPD im Juni 1919 gegen Max Cohen und Julius Kaliski durchgesetzt hatte, die die Etablierung von (berufsständischen) „Kammern der Arbeit“ präferierten.13 Indes zeigte sich in der Praxis bald, dass die Umsetzung des hypertrophen „Räteartikel-s“ angesichts der drängenden Problemlagen, zu deren Lösung der RWR ja eigentlich berufen war, auf kurze Sicht nicht zu realisieren sein würde. Man entschied sich daher im Sommer 191914 aus der Not heraus, zunächst mit einen „vorbereitenden“15 Wirtschaftsrat zu starten, der dann im Verordnungswege als „Vorläufiger Reichswirtschaftsrat“ auch realisiert wurde: Er bestand aus 326, nach Berufsgruppen organisierten Mitgliedern, die sämtliche, als volkswirtschaftlich relevant erachteten Brachen abbilden sollten und von nicht weniger als 89 Verbänden delegiert wurden. Als „Vertreter der wirtschaftlichen Interessen des 10 Vgl. Schäffer, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 5), 278; auch Hederer, Wirtschaftsordnung (wie Anm. 3). 11 Begründung zu Art. 34a des Verfassungsentwurfs, 10.6.1919, in: Stenographische Berichte, Bd. 335 [StenB 335], Drs. Nr. 385, 228. Der Begriff „Räteartikel“ bei Ritter, Entstehung (wie Anm. 6). 12 Vgl. Anlage zum Schreiben des RWiM an den StS der Reichskanzlei, 13.10.1926, in: BArch R 601/760, fol. 29–30, Anlage fol. 50–89, hier fol. 56–57 sowie die o. g. Begründung (wie Anm. 11). Vgl. auch den Entwurf eines Gesetzes über den endgültigen Reichswirtschaftsrat, 12.11.1927, in: StenB 419, Drs. Nr. 3706, 15. 13 Vgl. das Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Weimar vom 10.-15. Juni 1919, Berlin 1919, hier 406–457. 14 RWiM Robert Schmidt, 80. Sitzung der Nationalversammlung, 15.8.1919, in: StenB 329, 2492. Einen Überblick über die Faktengeschichte bietet Lilla, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 6), 20–27. 15 Vgl. etwa die Besprechung über die Bildung eines vorbereitenden Reichswirtschaftsrats, 11.11.1919, in: Akten der Reichskanzlei [AdR], Kabinett Bauer, Nr. 101, 369–380.

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ganzen Volkes“ waren sie dem Delegationsprinzip zum Trotz nicht ihrem jeweiligen Verband, sondern „nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden“.16 Das mag nach schöner Theorie klingen, die für die Praxis der wirtschaftlichen Beziehungen nicht taugt; und dennoch war diese normative Vorgabe, die im Übrigen dem Kalkül geschuldet war, nur so die „führenden Köpfe“ des deutschen Wirtschaftslebens für die Arbeit im RWR gewinnen zu können,17 die zentrale Ressource seines institutionellen Selbstverständnisses, als autonomer Akteur eine Politik der ökonomischen Ratio ohne parteipolitische Sperenzchen verfolgen zu können. Für ein angemessenes Verständnis seiner Rolle in den 20er Jahren ist diese ostentative Abgrenzungsrhetorik zum Reichstag zentral; umso mehr, als dem RWR, anders als in der Verfassung ja ursprünglich vorgesehen, kein vollständiges (und damit wirksames) Initiativrecht zugebilligt worden war. Zwar konnte er politische Initiativen „beantragen“;18 ob diese aber tatsächlich in den Prozess der Politikformulierung eingebracht wurden, oder in der Schublade (wenn nicht im Papierkorb) der Regierung verschwanden, hatte er nicht in der Hand. Die Hoffnung, der RWR würde „vermöge seines tatsächlichen Einflusses dahin zu wirken“, dass sich Reichsrat oder Reichstag die jeweilige Initiative dann schon zu eigen machen würden, war optimistisch, ja kühn.19 Das eigentlich Bemerkenswerte ist, dass sich trotz all der widrigen Umstände eine Praxis etablierte, in der der RWR eine persistente, wenn auch fragile Vetoposition im politischen System der Weimarer Republik erlangte. Das zeigt auch die Auseinandersetzung um das Problem der Reparationen. Nachdem im Londoner Ultimatum vom 5. Mai 1921 die Reparationslast des Deutschen Reiches auf 132 Mrd. Goldmark und ein gestaffeltes Zahlungsregime fixiert worden war,20 stand die (infolgedessen) am 10. Mai neu gebildete Regierung aus SPD, Zentrum und DDP unter Reichskanzler Joseph Wirth vor der ebenso simplen wie entscheidenden Frage, wie und vor allem zu wessen Lasten diese „gigantischste Aufgabe, die die Welt je gesehen hat“21, gemeistert werden könne. Bereits zuvor hatte Wirth vor dem Reichstag die Konturen eines Programms skizziert, das darauf eine Antwort bieten sollte: angesichts der drohen-

16 Art. 5 der VO Vorl. RWR 1920, RGBl. 1920, 366. 17 Entwurf einer VO über den vorbereitenden Reichswirtschaftsrat [Dez. 1919], in: BArch R 43I/1192, fol. 71’. 18 Art. 11 der VO Vorl. RWR 1920, hier zit. nach Schäffer, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 5), 133 und ebd., 133–157. 19 Ebd., 140 f. 20 Überblick bei Hesse u. a., Große Depression (wie Anm. 4), 25–29, insb. 28 f. 21 RK Joseph Wirth, 17. Plenarsitzung des RWR, 8.6.1921, in: BArch R 401/6, fol. 204’. Ähnlich auch ders. in der 6. Sitzung des Reparationsausschusses, 6.7.1921, in: BArch R 401/611, fol. 447.

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den „Gefahr einer feindlichen Invasion“22 sei die „Absicht der Regierung […] eindeutig und klar: sie will die übernommenen Verpflichtungen gewissenhaft und loyal erfüllen.“ Das sei „die einzige für Deutschland mögliche Politik.“23 Vor dem Plenum des RWR unterstrich der Kanzler eine Woche später das „Jawort“24 der Regierung, und bat um tatkräftige Mitarbeit bei der Konkretisierung der noch weitgehend unklaren Mittel und Wege zur „Erfüllung“ der Forderungen. Nun müsse „sich entscheiden, ob der Reichswirtschaftsrat im deutschen Volke große politische Bedeutung bekommt oder nicht.“25 Und in der Tat sollten die Verhandlungen der Folgemonate zeigen, dass die maßgeblichen Ausschussmitglieder selbst sehr genau wussten, dass mit der Arbeit am Reparationsproblem auch die institutionelle Relevanz des RWR verbunden war. Umgekehrt richtete Hans Kraemer, Elberfelder Tiefdruckunternehmer, Vorsitzender des Wirtschaftspolitischen Ausschusses des RWR und Mitglied im Vorstand des RDI,26 aber auch einen dringenden Appell an die Regierung, dem RWR, der sich noch nie seiner Pflicht zur Kooperation entzogen hätte, die Arbeit auch nicht unnötig schwer zu machen.27 Damit ist das Spannungsfeld umrissen, in dem sich die Beratungen vollzogen: Es galt also nicht nur, massive finanzielle, ökonomische und soziale Probleme zu lösen, die ganz handfeste politische Implikationen bargen. Es galt darüber hinaus, den RWR als die für derlei essentielle Fragen prädestinierte Institution zu positionieren. Beides – Inhalt und Form – sollten in den folgenden Monaten zum Tragen kommen. Auf Vorschlag Kraemers28 versammelten sich am 9. Juni 1921 die drei Hauptausschüsse des RWR für Finanzen, Wirtschaft und Soziales zu einer gemeinsamen Sitzung, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Klar war, dass es nicht mehr um das „ob“ der Erfüllung gehen könne, sondern vielmehr die konkrete Frage auf die Tagesordnung gesetzt werden müsse, „wie und in welcher Weise […] das Ultimatum durchgeführt werden“ solle, zumal es „sehr viele“ gebe, „die da meinen, es wäre überhaupt nicht zu erfüllen.“29 So komplex die praktischen Herausforderungen auch seien: ein rücksichtsloses Anwerfen der Notenpresse wäre „der direkte und schnellste Weg zum vollständigen finanziellen Bankerott 22 Regierungserklärung von RK Joseph Wirth im Reichstag, 10.5.1921, in: StenB 349, 3630. 23 RK Joseph Wirth im Reichstag, 1.6.1921, in: StenB 349, 3709 (beide Zitate). 24 RK Joseph Wirth, 17. Plenarsitzung des RWR, 8.6.1921, in: BArch R 401/6, fol. 204. 25 Ebd., fol. 204’ (dort auch das Zitat). 26 Zu Hans Kraemer existiert wenig biographische Literatur, vgl. knapp Lilla, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 6), 419 f. 27 Hans Kraemer, 17. Plenarsitzung des RWR, 8.6.1921, in: BArch R 401/6, fol. 205–205’. 28 Ebd., fol. 205. 29 RWiM Robert Schmidt, gem. Sitzung der Hauptausschüsse des RWR, 9.6.1921, in: BArch R 401/611, fol. 2.

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für das Reich“ und daher „nicht empfehlenswert.“30 Der existentiellen Situation, und man mag hier Zweckoptimismus unterstellen,31 vermochte der Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium, Julius Hirsch, auch eine positive Seite abzugewinnen: Zur „Rationalisierung“ der Wirtschaft sei man nun eben bei Strafe des Untergangs gezwungen; auf lange Sicht aber werde das einen „Produktionsfortschritt“ und damit einen Standortvorteil bedeuten: „Das ist die Hoffnung, die in der ganzen Sache liegt.“32 Während Hirsch in der tags darauf erfolgten Generalaussprache die Rationalisierungsfrage erneut betonte und darauf verwies, dass unrentable Betriebe auch konsequent stillgelegt werden müssten,33 richtete Georg Bernhard, Chefredakteur der „Vossischen Zeitung“, Vorsitzender des Finanzpolitischen Ausschusses und als Vertreter der Presse im RWR, den Blick nach innen: Gerade weil es nach wie unklar sei, wohin die Regierung eigentlich wolle und „welche Aufgabe in diesem Wirrwarr der Reichswirtschaftsrat zu erledigen“ habe, müsse er jetzt „zeigen, ob er dieser Aufgabe gewachsen“ sei.34 Denn gelänge es ihm nicht, Antworten auf die seitens der Regierung bislang nur andeutungsweise aufgeworfenen Fragen zu finden, habe er „keine Daseinsberechtigung.“35 Vor diesem Hintergrund wurde die Bildung eines gesonderten „Reparations-Ausschusses“ aus je neun Mitgliedern des Wirtschafts- und Finanzpolitischen Ausschusses unter Vorsitz von Hans Kraemer, Rudolf Wissell und Georg Bernhard beschlossen, der seine Arbeit am 16. Juni aufnahm.36 Der Schwerpunkt sollte auf der Behandlung der „für die Erfüllung der Reparationsverpflichtungen aufgestellten Steuergesetzentwürfe“37 liegen, ging jedoch schon bald weit darüber hinaus. So bieten die Verhandlungen Einblicke in eine ebenso ökonomisch wie politisch geführte Debatte um den richtigen Umgang mit den Reparationsforderungen der Alliierten, die Konfliktlinien der maßgeblichen Akteure im RWR, und nicht zuletzt das sich sukzessive immer stärker in den Vordergrund drängende Problem des Währungsverfalls, deren Brisanz für die 30 Ebd., fol. 16. Desgleichen auch StS Julius Hirsch, ebd., fol. 51. 31 „Man muss einem Volke Hoffnung lassen […]“: StS Julius Hirsch, ebd., fol. 33. 32 Ebd., fol. 42, 53. 33 Ebd., fol. 119. Man habe diese „zum Teil etwas lange über Wasser gehalten“. 34 Georg Bernhard, gem. Sitzung der Hauptausschüsse des RWR, 10.6.1921, in: BArch R 401/ 611, fol. 90–91, das Zitat fol. 90, 91. Zu Bernhard knapp Lilla, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 6), 321–322. 35 Georg Bernhard, gem. Sitzung der Hauptausschüsse des RWR, 10.6.1921, in: BArch R 401/ 611, fol. 92. 36 Vgl. Pressemitteilung des RWR, 10.6.1921, in: BArch R 401/608, fol. 51. Eine Mitgliederliste findet sich ebd., fol. 58. Vgl. auch Harry Hauschild, Der vorläufige Reichswirtschaftsrat 1920– 1926, Berlin 1926, 597. 37 Hauschild, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 36), 602 ff., Zitat 602.

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Stabilität der politischen Ordnung klar erkannt wurde. Wie in einem Prisma bündeln sich hier die tiefgreifenden Kontroversen der Zeit, mit denen der Reparationsausschuss umgehen musste, wollte er politisch wirksam sein.

Die Suche nach Geldquellen: Steuern, Gold- und Sachwerte Mit dem ebenso plakativen wie charakteristischen Appell, dass „hier im Reichswirtschaftsrat […] Parteiprogramme und Vor-ur-teile“38 nichts zu suchen hätten, eröffnete Hans Kraemer die erste Sitzung des neu formierten Reparationsausschusses. Doch rasch wurde klar, dass die auf der Tagesordnung stehenden wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen samt ihrer sozialen Verteilungswirkungen nicht aseptisch verhandelt werden konnten. Gleiches galt für die gesamte außen- und reparationspolitische Agenda. Und schließlich musste sich nun zeigen, ob mithilfe des auf Ausgleich der ökonomischen Interessen gepolten RWR ein den Herausforderungen angemessener modus procedendi gefunden worden war. Für die Regierung jedenfalls sei, wie Julius Hirsch nicht müde wurde zu betonen, der RWR von besonderer Wichtigkeit, da man so mit kompetent evaluierten und breit akzeptierten Konzepten vor den Reichstag treten könne, der zu solch profunder Arbeit ohnehin nicht in der Lage sei.39 Gleichwohl müsse klar sein, dass der RWR eben (nur) „ein Beratungsorgan der Regierung als Ganzes“ sei, und mithin nichts von ihr zu fordern habe.40 Bei den führenden Akteuren des Ausschusses stießen Haltung und Vorgehen der Regierung indes auf erhebliche Kritik: Nicht nur wurde das Fehlen eines Gesamtkonzepts und die offenkundige Plan- und Ziellosigkeit bemängelt; vor allem der inkonsistente Umgang mit dem RWR selbst stieß übel auf, stand dieser doch in deutlichem Kontrast zum Mantra des Kanzlers, gerade zur „Rettung unseres Volkes“ auf den RWR angewiesen zu sein.41 Reibungsverluste erzeugte auch die KompetenzKonkurrenz zum Reichstag: Wirth setze hier auf den Faktor Zeit, der „eine Klärung bringen“ würde; das Aufrollen verfassungsrechtlicher Grundsatzfragen sollte dagegen dringend vermieden werden.42 Beides, die „vollständig nutzlose

38 Hans Kraemer, 1. Sitzung des Reparationsausschusses, 16.6.1921, in: BArch R 401/611, fol. 123. 39 Ebd., fol. 165. 40 Ebd., fol. 151. 41 RK Joseph Wirth, 6. Sitzung des Reparationsausschusses, 6.7.1921, in: BArch R 401/611, fol. 448. 42 Ebd., fol. 450.

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[…] und politisch gefährliche Doppelarbeit“43 und das „Verschanzen hinter Verfassungsbestimmungen“44, legte indes Kraemer als Vorsitzender des Ausschusses der Regierung zur Last: „erschüttert“ sei er nach dem Auftritt des Reichskanzlers gewesen, der deutlich gemacht habe, „daß seine grosse Pose: die Stunde des Reichswirtschaftsrats hat geschlagen!, weiter nichts als eine schöne Geste in der Oeffentlichkeit des Parlaments war“, die dort bloß „mit vergnügtem Grinsen quittiert“45 worden sei. Freilich: Das Problem, das Kraemer hier adressierte, besaß mehrere Seiten: In der Tat hatte die Regierung ein gesteigertes Interesse daran, die Expertise des RWR politisch zu nutzen; die eigenen Handlungsspielräume wollte man sich von einem allzu unabhängig agierenden, mit erheblichem ökonomischem Know-how und damit (zumindest potentiell) politischem Gewicht ausgestatteten RWR aber nicht limitieren lassen. Der Reichstag wiederum witterte die Gefahr, in entscheidenden Politikfeldern trotz seiner alleinigen legislativen Kompetenz an den Rand gedrängt zu werden. Seine „Eifersüchteleien“46 stellten also während der frühen 20er Jahre eine Konstante dar, die nicht nur die Atmosphäre, sondern auch die Beratungen über inhaltliche Fragen einer fortwährenden Belastungsprobe unterzog. Denn zur Debatte stand, wem in ökonomischen Fragen zu folgen sei. Die Realität freilich erwies, dass die Selbstperzeption des RWR, „die Politik“ außen vor halten und Probleme „rein sachlich“ lösen zu können, einer Illusion gleichkam; die Akteure wussten das. Nur so erklärt sich die Penetranz, mit der die eigene Rolle als Instanz der Ratio kommunikativ untermauert wurde, denn sie bildete die Grundlage seiner institutionellen Relevanz im Spannungsfeld der am policy-making process partizipierenden Spieler. So sehr also dem RWR in der alles andere als randständigen Frage, wie die im 43 Hans Kraemer, ebd., fol. 449. 44 Hans Kraemer, 7. Sitzung des Reparationsausschusses, 7.7.1921, in: BArch R 401/612, fol. 2. 45 Ebd. 46 Friedrich Edler von Braun, 4. Sitzung des Reparationsausschusses, 28.6.1921, in: BArch R 401/611, fol. 315–316. Karl Hermann spricht in der 13. Sitzung des Reparationsausschusses, 10.9.1921, in: BArch R 401/612, fol. 196, gar von seiner „teils böswilligen Art“. Von gleichsam anekdotischer Evidenz ist die Auseinandersetzung um die freie Eisenbahnfahrt für Mitglieder des RWR: Zuspitzend Georg Bernhard, Wirtschaftsparlamente. Von den Revolutionsräten zum Reichswirtschaftsrat, Wien 1923, 81 f. Vgl. auch die Stellungnahme des Ältestenrates des Reichstags vom Juli 1921: Er erkannte im RWR „nur ein[en] Beirat der Regierung“ ohne Vortragsrecht im Reichstag (Reichstagspräsident Paul Löbe an den Vorsitzenden des RWR, 9.7.1921, in: BArch R 401/299, fol. 71), was von Seiten des RWR als „tief bedauerlich“, ja „verfassungswidrig“ eingeschätzt wurde (Hans Kraemer und Otto Hermann, 13. Sitzung des Reparationsausschusses, 10.9.1921, in: BArch R 401/612, fol. 192). Vgl. zu diesem Themenkomplex auch die Denkschrift über das „Zusammenwirken von Reichswirtschaftsrat und Reichstag bei der Vorbereitung der Gesetzgebungsvorlagen“, 16.12.1921 (Anschreiben), in: BArch R 43-I/1194, fol. 139–144.

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Londoner Ultimatum definierte Reparationslast aufgebracht, ökonomisch verkraftet und politisch verkauft werden sollte, eine entscheidende Scharnierfunktion zukam, so wenig konnte er diese aus sich selbst heraus zur Geltung bringen. Er blieb auf Akzeptanz und die Zuschreibung von Legitimität angewiesen – oder hing politisch in der Luft. Konkret konzentrierte sich der Ausschuss zunächst auf die im Ultimatum fixierte Ausfuhrabgabe in Höhe von 26 Prozent, die unisono als problematisch, kontraproduktiv und faktische „Ausfuhrprohibition“47 aufgefasst wurde. Das Kernproblem bestand darin, dass zum einen die Reparationslast durch Produktivitätszuwächse im Inland und die Ausfuhr von Gütern refinanziert werden sollte, eine Zunahme des Außenhandelsvolumens allerdings dann eo ipso zu höheren Abgaben führen würde. Gleichzeitig sollte aber der Außenhandel nicht „künstlich“ gedrosselt werden.48 Dazu kam, dass die (angestrebte) iterative Anpassung der Preise an Weltmarkniveau erhebliche Kaufkraftverluste im Inland zur Folge haben könnte, sofern Löhne und Gehälter nicht mitzögen. Eine zu große Spreizung sollte aus politischen Gründen vermieden werden, war aber teuer.49 Blieben allerdings die Preise relativ auf niedrigem Niveau, musste nicht nur kurz- oder mittelfristig mit einer Übersättigung der Märkte im Ausland (und dortiger Arbeitslosigkeit) gerechnet werden, was von Seiten der Alliierten nicht toleriert werden würde – auch wenn manch Vertreter im RWR in der Förderung ökonomischer Penetration ein wirksames politisches Druckmittel zu erkennen glaubte.50 Zudem gewänne dann die Debatte um die „Verschleuderung“ deutscher Werte ins Ausland weiter an Fahrt.51 In einem für den RWR typischen Verfahren wurde also diese so genannte „Indexfrage“ in einen gesonderten Ausschuss überwiesen,52 dessen kritische Stellungnahme lapidar mit den Worten 47 So etwa Walther Rathenau, 1. Sitzung des Reparationsausschusses, 16.6.1921, in: BArch R 401/611, fol. 125. 48 RWiM Robert Schmidt, gem. Sitzung der Hauptausschüsse des RWR, 9.6.1921, ebd., fol. 7. 49 Etwa ebd., fol. 13; Rudolf Hilferding, 6. Sitzung des Reparationsausschusses, 6.7.1921, ebd., fol. 478; Georg Bernhard, 29. Sitzung des Reparationsausschusses, 2.10.1922, in: BArch R 401/ 612, fol. 164–165; Fritz Tarnow, ebd., fol. 203–204; Abraham Frowein, ebd., fol. 206–207. 50 Vgl. etwa Hans Kraemer, 14. Sitzung des Reparationsausschusses, 15.9.1921, in: BArch R 401/612, fol. 316–322. 51 Vgl. ebd., fol. 264 und Georg Müller, ebd., fol. 300. 52 Vgl. den Beschluss des Reparationsausschusses vom 21.6.1921, in: BArch R 401/611, fol. 312–313 (dort auch das Verzeichnis der Mitglieder). Die Akten des Ausschusses finden sich in BArch R 401/615, dessen kritischer Bericht, der dem Reparationsausschuss am 28.6.1921 erstattet worden war, ebd., fol. 12–12’. Vgl. auch die Pressemitteilung hierzu in BArch R 401/608, fol. 164. Als Berichterstatter firmierte Rudolf Hilferding, weitere Mitglieder waren (alphabetisch) Fritz Baltrusch, Georg Bernhard, Max Cohen, Carl Duisberg, Arthur Feiler, Karl Herrmann, Otto Schweitzer, Rudolf Wissell.

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zur Kenntnis genommen wurde, es sei wohl realistischerweise „nicht möglich“ einen „Index zu finden, der gleichmässig die Interessen unserer Gegner und unsere eigenen Interessen wahrt“.53 Bereits eine Woche zuvor, am 22. Juni 1921, hatte Reichskanzler Wirth in einer nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Rede vor dem Ausschuss auf die zentralen Schwierigkeiten verwiesen, die sich mit der Durchsetzung einer ganzen Reihe an Steuererhöhungen ökonomisch, fiskalisch, vor allem aber politisch verbanden:54 Es sei außerordentlich bedauerlich, dass „ein abschliessendes Programm über die Deckungsfrage“ derzeit noch nicht präsentiert werden könne, denn „die Schwierigkeiten, die sich der Aufstellung entgegenstellen, sind ausserordentlich gross.“55 Wirth bezog sich dabei vor allem auf drei Bereiche, deren politische Sprengkraft auf der Hand lag: Neben der Erhöhung der Umsatzsteuer, die vor allem bei Verbraucher- und Gewerkschaftsvertretern in der Kritik stand, schließlich aber mit plus 2,5 Prozent doch beschlossen wurde,56 traf das vor allem auf die Kohlensteuer und die Umwandlung des „Notopfers“ in eine veritable „Besitzsteuer“ zu. Während eine Erhöhung der Kohlensteuer nicht nur die heimische Industrie belasten, sondern auch reparationspolitische Fragen „von einem gigantischen Ausmass“ aufwerfen würde, deren „Erledigung in wenigen Tagen nicht möglich“57 sei, stieß – wenig überraschend – die „Besitzsteuerfrage“ auf erhebliche Widerstände. Für Wirth stand zwar einerseits fest, dass „ein Vorbeigehen am Besitz […] schon aus politischen Gründen nicht möglich“ sei; dies aber in „gesetzgeberische Akte zu fassen“ sei „mit grössten Schwierigkeiten“ verbunden.58 Man stand im RWR also vor der 53 Hans Kraemer, 4. Sitzung des Reparationsausschusses, 28.6.1921, in: BArch R 401/611, fol. 319. 54 Vgl. die Rede von RK Joseph Wirth, 3. Sitzung des Reparationsausschusses, 22.6.1921, in: BArch R 401/608, fol. 117–125 (hds., zweifach unterstrichener Vermerk ebd., fol. 117: „Nicht zur Veröffentlichung“). Folgerichtig sucht man in der Sammlung der Stenographischen Protokolle eine „3. Sitzung“ vergeblich, vielmehr folgt auf Sitzung 2 unmittelbar Sitzung 4 (BArch R 401/ 611, fol. 313 bzw. 314). Hinsichtlich der geplanten Maßnahmen nennt Wirth folgende: Einführung eines Süßstoffmonopols und „Aenderung“ des Branntweinmonopols, Erhöhung der bzw. Einführung einer Steuer auf Essigsäure, Leuchtmittel, Zündwaren, Tabak, Bier, Mineralwasser, Rennwetten; sodann: Körperschafts-, Kapitalverkehrs-, Versicherungs-, KfZ-, Umsatz- und Kohlesteuer, sowie diverse Zollerhöhungen bzw. Aufhebung bisheriger Zollerleichterungen. Vgl. BArch R 401/608, fol. 120–122 und Hauschild, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 36), 602–614. 55 RK Joseph Wirth, 3. Sitzung des Reparationsausschusses, 22.6.1921, in: BArch R 401/608, fol. 117. 56 Das Plenum des RWR reduzierte die vom Reparationsausschuss empfohlene Erhöhung um 2,5 Prozent auf 2 Prozent. Vgl. hierzu knapp Hauschild, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 36), 613 f. 57 RK Wirth, 3. Sitzung des Reparationsausschusses, 22.6.1921, in: BArch R 401/608, fol. 123. 58 Ebd., fol. 118.

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unangenehmen Aufgabe, Steuervorhaben zu diskutieren, für die in ihren strittigen Punkten weder im Kabinett, noch im Reichstag eine Mehrheit in Sicht schien. Gerade hier traten die unklaren und in der Praxis bisher kaum eingespielten Verfahrensweisen zwischen Regierung, Reichstag, Reichsrat und RWR klar zutage; der von den Mitgliedern des Reparationsausschusses präferierte Ausweg aus diesem institutionellen „Wirrwarr“59 sollte sich retrospektiv als pfadabhängig erweisen: Es war dies der Versuch, durch betont sachliche, die politischen Grundkonflikte negierende und auf Einstimmigkeit zielende Arbeit als ökonomische Autorität institutionelles Gewicht zu erlangen, gerade weil man nicht auf (verfassungs-)rechtlich verankerte Instrumente rekurrieren zu können. Davon hing, wie dies der einflussreiche Vertreter der Christlichen Gewerkschaften, Fritz Baltrusch, auf den Punkt brachte, die politische Existenz des RWR ab. Denn wenn man selbst nicht in der Lage sei, eine gemeinsame Position zu verhandeln, könnte es sich die Regierung ja „sehr viel einfacher“ machen, „indem sie den Reichswirtschaftsrat nach Hause schickt und sich getrennte Voten von den Spitzenverbänden holt“60. In der Tat also eine veritable „Bewährungsprobe“. Wenige Tage später machte Reichskanzler Wirth vor dem Ausschuss nicht nur auf das erhebliche Defizit des Reichsetats aufmerksam, das weder durch Steuererhöhungen noch die Reform der Einkommenssteuer zur Deckung gebracht werden könne,61 sondern betonte auch, dass er „mehr vom Reichswirtschaftsrat“ erwarte, „als nur eine Nachprüfung und Begutachtung“ der Maßnahmenpakete. Vielmehr sollte er aus seiner „Erfahrung und Kenntnis des Wirtschaftslebens“ schöpfen und Alternativen aufzeigen, konkret etwa mit Blick auf „die in der Regierung begonnenen Erwägungen und Studien über eine etwaige Anteilnahme an Betrieben“.62 Dass das vorgeschlagene Steuerbukett nicht ausreichen würde, um die Reparationsverpflichtungen zusätzlich zu den allgemeinen staatlichen Aufgaben zu erfüllen, lag auf der Hand. Ein fortgesetzter oder gar verstärkter Rückgriff auf die Notenpresse wurde aber nicht nur hinsichtlich

59 Georg Bernhard, gem. Sitzung der Hauptausschüsse des RWR, 10.6.1921, in: BArch R 401/ 611, fol. 90. 60 Fritz Baltrusch, 5. Sitzung des Reparationsausschusses, 29.6.1921, in: BArch R 401/611, fol. 418. Zu Fritz Baltrusch knapp Lilla, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 6), 315. 61 So umfasste etwa der „ausserordentliche Haushalt“ ca. 59 Mrd. Mark, davon 10 Mrd. Einnahmen und ein „Fehlbetrag von 49,2 Milliarden, der durch Anleihe zu decken ist.“ Dazu kam ein sog. „Kontributionsetat“ i. H. v. rund 12 Mrd. Mark, der sich dem Ultimatum widmen sollte, sowie der „Reparationsetat“ mit rund 48 Mrd. Mark (vgl. RK Joseph Wirth, 6. Sitzung des Reparationsausschusses, 6.7.1921, in: BArch R 401/611, fol. 432–435). 62 Alle Zitate ebd., fol. 447.

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seiner sozialen Verteilungswirkung,63 sondern auch aufgrund der ihr inhärenten Gefahr einer Staatspleite gerügt und wiederholt als inadäquate Maßnahme verworfen.64 Gleichwohl musste StS Julius Hirsch gut ein Jahr später konstatieren, dass der einzige Betrieb mit signifikanten Produktionszuwächsen im Lande „die Reichsdruckerei mit der Notenpresse“65 sei. Und drittens provozierte das Ansinnen, die Reparationen durch Produktivitätszuwächse der heimischen Industrie zu bestreiten, gleichzeitig aber erhebliche Steuererhöhungen zu projektieren, schwer zu lösende Zielkonflikte. Für die Arbeitnehmervertreter im RWR, aber keineswegs nur sie, war deshalb klar, dass eine Erhöhung der Verbrauchssteuern bei gleichzeitig fortschreitender Inflation den eigenen Leuten nur dann verkauft werden konnte, wenn umgekehrt auf den Besitz der Besitzenden zugegriffen werde. Ein unter anderem von Rudolf Wissell am 12. September 1921 vorgelegter Entschließungsantrag griff diese Überlegung auf und konstatierte, dass bis zur Herstellung einer aktiven Zahlungsbilanz angesichts „der katastrophalen Finanzlage des Reiches eine Heranziehung der Gold- bzw. Sachwerte der deutschen Wirtschaft unvermeidlich“ sei.66 Die Regierung sei aufgefordert, „mit größter Beschleunigung und vor endgültiger Verabschiedung der Steuervorlagen […] einen Entwurf vorzulegen, durch welchen die Substanz der Goldwerte ohne Erschütterung der Fundamente der deutschen Produktion der Erfüllung der Reparationsverpflichtungen dienstbar gemacht werden kann.“67 Der Antrag führte zu einer nachhaltigen Akzentverschiebung der Diskussion im Ausschuss: Die Forderung nach einer wie auch immer gearteten Heranziehung „des Besitzes“ zur Finanzierung der Reparationen, die keineswegs nur „ganz links“ Anhänger fand, war fortan nicht mehr aus der Welt zu schaffen. In Kombination mit der Diskussion um die „Erfüllungspolitik“, die infolge des Wiesbadener Abkommens die Ausschussberatungen mitbestimmen und nicht unwesentlich politisieren sollten, avancierte die Frage der „Gold- und Sachwer63 Vgl. Rudolf Hilferding, 6. Sitzung des Reparationsausschusses, 6.7.1921, in: BArch R 401/ 611, fol. 468 und ders., 13. Sitzung des Reparationsausschusses, 10.9.1921, in: BArch R 401/612, fol. 222. 64 RWiM Robert Schmidt, gem. Sitzung der Hauptausschüsse des RWR, 9.6.1921, in: BArch R 401/611, fol. 16. 65 StS Julius Hirsch, 29. Sitzung des Reparationsausschusses, 2.10.1922, in: BArch R 401/614, fol. 183. 66 Vgl. Entschließung, 12.9.1921, Drs. RWR 192, in: BArch R 401/204, fol. 313 und ergänzend den Änderungsantrag hierzu von Max Cohen, 13.9.1921, Drs. RWR 193, ebd., fol. 314 („Heranziehung der Substanz der deutschen Wirtschaft für Reparationszwecke unvermeidlich.“). Mitunterzeichner der Entschließung (Drs. 192) waren (alphabetisch) Wilhelm Beckmann, Alfred Czieslik, Rudolf Hilferding und Otto Schweitzer. 67 Entschließung, 12.9.1921, Drs. RWR 192, in: BArch R 401/204, fol. 313. Vgl. auch Hauschild, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 36), 616–618.

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te“ zum Dreh- und Angelpunkt der gesamten Reparationsproblematik und ihrer sozialen, politischen und ökonomischen Konsequenzen. Die politische Forderung nach Erfassung der „Substanz“ der deutschen Industrie überraschte freilich ebenso wenig wie die Reaktion der Adressierten: Schon am 7. September hatten Vertreter des RDI bei einer Besprechung im Kanzleramt die „Ahnungslosigkeit“ der Gewerkschaften in Wirtschaftsdingen kritisiert68 und eine Erfassung des Besitzes allein zum Zwecke der „Balancierung des Etats“69 als inakzeptabel zurückgewiesen. Gleichwohl sei man „bereit, bei der Erfassung der Sachwerte in irgend einer Form zum Zwecke der Reparationserfüllung mitzuwirken.“70 Diese noch (bewusst) nebulös ventilierte Offerte basierte auf zwei Prämissen: Zum einen sei die Reichsregierung „dringend“ aufgerufen, der massiven Defizitwirtschaft der öffentlichen Betriebe, insbesondere bei Eisenbahn und Post, Einhalt zu gebieten. Zum anderen sollte der Kredit, den das Reich aufgrund der materielle Substanz der deutschen Wirtschaft und ihres Renommees im Ausland erwirken könne, durch Steuervorteile in der Zukunft refinanziert werden.71 Die Ausgangslage war damit klar: Die Industrie erklärte sich bereit, durch eine groß angelegte „Kreditaktion“ dem Reich Mittel zur Tilgung der Reparationslast zu beschaffen, verband dies aber mit einem zunächst nur leise angedeuteten, zunehmend aber immer deutlicher artikulierten Bündel an Forderungen. In jedem Falle galt es aus Sicht des RDI, einen von Sozialdemokratie und Gewerkschaften lancierten Zwangszugriff auf die „Substanz“ der Wirtschaft oder die „Erfassung“ des Besitzes zu vermeiden. Das Angebot, den Kredit selbst und vor allem „freiwillig“ zu beschaffen, war denn wohl in nicht unerheblichem Maße von der 68 Carl Duisberg, Besprechung mit Vertretern des RDI im Kanzleramt, 7.9.1921, in: BArch 43-I/ 2449, fol. 39. 69 Hans Kraemer, ebd., fol. 38. 70 Ebd. Vgl. auch Hermann Bücher, ebd.: „[…] er könne grundsätzlich erklären, dass die Industrie sich nicht rein negativ verhalten werde.“ 71 Etwa Carl Duisberg, ebd., fol. 39’: „Die Regierung könne nur Werte auf dem Wege des Kredits bekommen, und zwar auf dem Wege über die Industrie. Dafür müssten dieser Vorteile bei den Steuern zuteil werden.“ Ähnlich auch Hans Kraemer und Hans Jordan, ebd., fol. 39, 39’. Der Vorschlag war bereits in einer Besprechung in der Reichskanzlei mit Vertretern der Industrie am 7.9.1921 vorgetragen worden; zwar lehnte man die Haltung der Gewerkschaften ab, wollte jedoch aus taktischen Gründen nicht nur eine negative Botschaft senden: eine Gutschrift auf Steuervorteile sei ein gangbarer Weg, der jedoch rasch Konturen gewinnen müsse, wenn man nicht ein Scheitern in Kauf nehmen wolle. Und: Hermann „Bücher bittet dringend, ihm bis spätestens Sonnabend, den 10.9., mitzuteilen, welche Steuern etwa für die Gegenleistung der Regierung in Frage kommen.“ Er habe „bei der Industrie ausserordentliche Schwierigkeiten zu überwinden“, das Projekt überhaupt am Leben zu halten (Vermerk des StS der Reichskanzlei, 8.9.1921, in: BArch R 43-I/2449, fol. 36–36’). Zum „Vertrauen auf unsere deutsche Industrie und Volkswirtschaft“, die „ungeheuer im Auslande“ sei, vgl. Carl Duisberg, 13. Sitzung des Reparationsausschusses, 10.9.1921, in: BArch R 401/612, fol. 226.

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politisch-taktischen Überlegung getrieben, den Forderungen von links die Spitze zu nehmen; dass es in der Folge keineswegs auf einhellig Zustimmung im RDI stieß, die Initiatoren dort vielmehr „außerordentliche Schwierigkeiten“ gewärtigten,72 wirft ein grelles Licht auf die komplexe Konfliktkonstellation, die in der Folge auf unterschiedlichen Bühnen mit unterschiedlichen Figurationen zur Aufführung gelangen sollten.73

Der Ausweg? Die „Kreditaktion der deutschen Wirtschaft“ Angesichts der aufzubringenden Summen und der Erkenntnis, dass Steuererhöhungen allein nicht im Entferntesten ausreichen würden, schien die von Seiten der Industrie projektierte Kreditaktion einen vielversprechenden Ausweg zu bieten. Zwar bestand Einigkeit im reparationspolitischen Credo, „den Beweis der Unerfüllbarkeit durch die Erfüllung zu erbringen“.74 Umstritten war freilich das Wie – doch gerade darauf kam es an: Während etwa Carl Duisberg im Ausschuss eindringlich davor warnte, mit leichtfertigen Resolutionen in Sachen Vermögensbesteuerung „die Axt an die Wurzeln der Wirtschaft zu legen“75, wurde von anderer Seite argumentiert, dass ohne den Zugriff auf Vermögen und Vermögenszuwächse seit Kriegsende nur die Option „Notenpresse“ bliebe, deren sozioökonomische und fiskalische Effekte wiederum nicht hinnehmbar seien.76

72 Vermerk des StS der Reichskanzlei, 8.9.1921, in: BArch R 43-I/2449, fol. 36. 73 Vgl. etwa auch den Bericht der „Vossischen Zeitung“ vom 15.9.1921 (Abend-Ausgabe), 1. Auf die unklare Haltung des RDI in dieser Frage verweist auch Johannes Bähr, der von einer „Zerreißprobe“ für den Verband spricht (Johannes Bähr/Christopher Kopper, Industrie, Politik, Gesellschaft. Der BDI und seine Vorgänger 1919–1990, Göttingen 2019, hier 55–63, Zitat 57). 74 So Georg Bernhard, 13. Sitzung des Reparationsausschusses, 10.9.1921, in: BArch R 401/612, fol. 214. Ähnlich auch Franz Berthold, ebd., fol. 227 und Carl Duisberg, ebd., fol. 223. Vgl. auch den Vorsitzenden des RDI, Kurt Sorge, in seiner Eröffnungsrede auf der Mitgliederversammlung des RDI vom 27.-29.9.1921 in München: „Die bei uns allen wohl bestehende Überzeugung, daß Deutschland die ihm auferlegten und von ihm übernommenen Lasten nicht wird tragen können, ohne zusammenzubrechen, darf uns nicht daran hindern, bis zu den äußersten Grenzen des Möglichen die sogenannte Reparationspflicht zu erfüllen.“ (Die deutsche Industrie und die Wiedergutmachungsfrage. Bericht über die dritte Mitgliederversammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, München, 27. bis 29. September 1921, Berlin 1921, 6). 75 Carl Duisberg, 13. Sitzung des Reparationsausschusses, 10.9.1921, in: BArch R 401/612, fol. 207. Die Debatte um die Vermögensbesteuerung ebd., ab fol. 198. 76 Etwa Arthur Feiler, ebd., fol. 211: Die „Geldentwertung, die dann einsetzt, wird eine so ungeheure Besteuerung der Besitzer von Papierwerten und eine so unerhörte Bevorzugung der Besitzer von Realwerten“ mit sich bringen, „daß wir in dieser Weise nicht werden leben können.“ Ähnlich Rudolf Hilferding, ebd., fol. 222: „Die fortwährende Geldentwertung bedeutet

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Das war die Ausgangslage im Herbst 1921, als Hans Kraemer das von Seiten der deutschen Industrie ventilierte Angebot, „dem Reiche das letzte, was sie besitzt, zur Verfügung zu stellen“77, im Ausschuss konkretisierte. Das Thema war seit dem Antrag Wissell in der Diskussion78 und vor allem im linken bzw. gewerkschaftsnahen politischen Spektrum populär, auch wenn man peinlich darauf bedacht war, das Ziel nicht durch eine radikale, mit dem Schreckgespenst der „Sozialisierung“ kokettierende Rhetorik schon im Ansatz zu gefährden.79 Doch auch so schon wurde das Vorhaben (zumal in Verbindung mit den geplanten Steuererhöhungen) in Wirtschaftskreisen als Drohung aufgefasst. Vor diesem Hintergrund verfolgte die von der Industrie projektierte und nur wenige Tage nach Kraemers Plädoyer auch auf der Mitgliederversammlung des RDI in München unterstütze „Kreditaktion“ auch den Zweck, dem Plan die („sozialistische“) Spitze zu nehmen und gleichzeitig die diskursive Kontrolle zurückzugewinnen.80 Im Kern sah sie vor, den Kredit der deutschen Industrie zur Platzierung einer Anleihe zu nutzen, um so an Devisen zu gelangen, ohne ausländisches Kapital in hohem Maße an deutschen Unternehmen beteiligen zu müssen.81 Die Offerte, von Kraemer zum „heroische[n] Opfer“82 stilisiert, war für die Regierung damit nicht zum Nulltarif zu haben; im Gegenteil standen von Beginn an zunächst vage, schließlich ganz handfeste Forderungen im Raum, die Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Kreditaktion nährten und dazu angetan waren, deren Preis in die Höhe zu treiben. Denn auch Kraemer, eine auf Ausgleich bedachte und lagerübergreifend anerkannte Führungsfigur des RWR,83 beließ es nicht bei finanzpolitischen Gedankenspielen: vielmehr hielt auch er eine Expropriation der Nichtbesitzenden. Dieser Zustand ist auf die Dauer unhaltbar und muß beseitigt werden.“ 77 Hans Kraemer, 14. Sitzung des Reparationsausschusses, 15.9.1921, in: BArch R 401/612, fol. 262. 78 Vgl. Drs. RWR 192, 12.9.1921, in: BArch R 401/204, fol. 313 (hier auch die Zitate). 79 Vgl. den entsprechenden Bericht des Unterausschusses über die Beratung der von den Mitgliedern Wissell u. a. vorgeschlagenen Entschließung, [19.10.1921], Drs. RWR 206, in: BArch R 401/205, fol. 6–7’, hier fol. 6. 80 Vgl. die Eröffnungsrede von Kurt Sorge (wie Anm. 74). Abraham Frowein verweist in der 14. Sitzung des Reparationsausschusses, 15.9.1921, in: BArch R 401/612, fol. 284–285, explizit darauf, dass Kraemer nicht seine Privatmeinung vortrüge, sondern die Vorschläge „vorgestern in einer Sitzung des Reichsverbands der Deutschen Industrie […] eingehend diskutiert und zum Beschluss erhoben“ worden seien. 81 Vgl. Hans Kraemer, ebd., fol. 262, 264 und den Hinweis von Arthur Feiler, ebd., fol. 289– 290. 82 Hans Kraemer, ebd., fol. 297. 83 Vgl. etwa hier Rudolf Hilferding, ebd., fol. 282, der an der Glaubwürdigkeit Kraemers nicht zweifelt, aber vermutet, dass Kreise der Industrie an einem weiteren Sinkflug der Mark durchaus Interesse hätten.

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es für „notwendig“, dass zur Umsetzung des „Anerbietens“ auch die „regierende Gewalt in Deutschland etwas verbreitert wird.“ Die Begründung ließ denn auch keine Fragen offen: „Denn wenn die deutsche Industrie sich entschliesst, dem Reiche derartige Mittel zur Verfügung zu stellen, […] dann hat sie vielleicht auch ein Interesse daran – ich will nicht sagen: zu überwachen, aber doch nicht so vollkommen von der Führung der Geschäfte ausgeschlossen zu sein.“ Das sei zwar „keineswegs eine Bedingung“, aber eben doch „notwendig“.84 Damit klang bereits das Junktim an, das den weiteren Verlauf der Verhandlungen prägen – und ihre Erfolgsaussichten trüben sollte. Zunächst jedoch wurde ein (für den RWR typischer) Unterausschuss eingerichtet, um „die vorliegende Frage unabhängig von jeder parteipolitischen Stellungnahme zu entscheiden“85. Dieser legte im Oktober 1921 einen von dem angesehenen Mannheimer Handels- und Zivilrechtler Max Hachenburg verantworteten Bericht samt Gesetzentwurf vor, der die Etablierung einer Kreditvereinigung nach dem Vorbild der Berufsgenossenschaften der Unfallversicherung vorsah,86 um „dem Deutschen Reiche die zur Erfüllung der ihm […] obliegenden Zahlungsverpflichtungen erforderlichen Mittel in fremder Währung zur Verfügung zu stellen.“87 Fundiert würde die Anleihe durch „das Betriebsvermögen der Gewerbe, die Grundstücke der Land- und Forstwirtschaft und die zur Vermietung dienenden Gebäude der Mitglieder der Vereinigung“88; ein in der Tat erheblicher Eingriff also, der für die Beteiligten nicht risikofrei sein konnte und überdies einer „möglichst raschen Durchführung“ bedurfte, wollte er „von Nutzen sein“89. „Einstimmig“ war der Ausschuss „der Ansicht, daß die Anleihe nicht ausschließlich als eine freiwillige Hilfsaktion der Großindustrie erscheinen dürfe“, sondern „die Heranziehung weitester Kreise“ geboten sei.90 Dazu sei auch an gesetzliche Maßnahmen zu denken, zumal die Demonstration von Handlungsbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit angesichts der drohenden „Zwangsverwaltung“ schon „bei dem Verdacht, dass wir nicht erfüllen wollen“91, politisch essentiell sei. Der Reparationsausschuss billigte am 19. Oktober 1921 den Bericht des Unterausschusses; auch wenn sich die Diskussion vor84 Hans Kraemer, ebd., fol. 270. 85 Bericht des Unterausschusses, Drs. RWR 206, in: BArch R 401/205, fol. 6. 86 Ebd., fol. 6’. Zu Hachenburg knapp Lilla, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 6), 376. 87 Entwurf eines Gesetzes über die Einrichtung einer Kreditvereinigung des deutschen Gewerbes (Anlage zu Drs. RWR 206), in: BArch R 401/205, fol. 8. 88 Ebd. 89 Bericht des Unterausschusses, Drs. RWR 206, ebd., fol. 6’. 90 Ebd. 91 Hans Kraemer, 14. Sitzung des Reparationsausschusses, 15.9.1921, in: BArch R 401/612, fol. 296.

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nehmlich um allgemeine Fragen des Reparationsregimes und seiner (auch für die Siegermächte spürbaren Fehlkonzeptionen) drehte,92 relativierte etwa Fritz Baltrusch den Anschein der Selbstlosigkeit, den sich die Industrie zu geben versuchte: schon das „eigene Interesse“ verlange, „nach dieser Richtung hin etwas zu tun.“93 In den folgenden Wochen geriet denn auch das jeweilige „Eigeninteresse“ immer stärker in den Fokus: Während etwa die SPD weiterhin die „Erfassung der Sachwerte“ für nötig erachtete,94 schien das Präsidium des RDI auf Zeit spielen zu wollen, ja zu müssen: gegenüber der Reichskanzlei wurde daher dringend davor gewarnt, mit den Vorschlägen an die Öffentlichkeit zu gehen, ehe im eigenen Haus Einigkeit erzielt worden sei.95 Das verweist auf eine komplexe politische Gemengelage, die der Ausschuss noch mit Mühe zu suspendieren vermocht hatte, der im Plenum des RWR aber offen zutage trat:96 Berichterstatter Max Hachenburg betonte zunächst die grundsätzliche Notwendigkeit, angesichts des „Finanzelend[s]“ im Lande zusätzliche Geldquellen anzuzapfen; das Angebot der Industrie, eine Anleihe kollektiv aufzulegen, sei dabei als Alternative zu einem direkten staatlichen Zugriff auf das „produktiv angelegte arbeitende wirtschaftliche Kapital“ zu bevorzugen; das sei der Diskussionstand im Reparationsausschuss.97 Während also im kleineren Kreis des Ausschusses zumindest grundsätzliche Einigkeit hatte erzielt werden können, gerieten im Plenum rasch die politischen Aspekte der Kreditaktion in den Fokus. So äußerte etwa Georg Bernhard „die allerstärksten Zweifel daran, daß wirklich noch in weiten Industriekreisen die ernste Absicht besteht, dieses Angebot heute durchzuführen“. Hans Kraemer oder Carl Duisberg mögen ehrlichen Absichten hegen: „Aber wird es ihnen gelingen, die Widerstände in ihren eigenen Reihen zu besiegen?“98 Bernhard, der von Hans Kraemer für diese Rede harsch kritisiert wurde, da sie destruktiv und dazu geeignet sei, die deutsche Industrie im Ausland 92 So etwa Hans Kraemer, 17. Sitzung des Reparationsausschusses, 19.10.1921, ebd., fol. 416. 93 Fritz Baltrusch, ebd., fol. 441. 94 Besprechung in der Reichskanzlei mit Parteiführern, 3.10.1921, in: BArch R 43-I/2449, fol. 169–173, hier fol. 169’. 95 Vgl. Präsidium des RDI an den RK, 17.10.1921, in: BArch R 43-I/2449, fol. 207–208. 96 Nicht zuletzt deshalb geriet das Plenum aufgrund seines allzu „reichstagsähnlichen“ Charakters mehr und mehr intern in die Kritik. Infolge der drastischen Sparmaßnahmen 1923/24 wurde es zunächst auf Eis gelegt, schließlich nicht mehr einberufen. In den Beratungen des Verfassungsausschusses des RWR sollte das Plenum keine Berücksichtigung mehr finden; man hielt es für ungeeignet und versuchte im Gegenzug, die Ausschüsse zu stärken (Vgl. Entwurf eines Gesetzes über den endgültigen Reichswirtschaftsrat, 12.11.1927, in: StenB 419, Drs. Nr. 3706). 97 Max Hachenburg, 27. Plenarsitzung des RWR, 3.11.1921, in: BArch R 401/6, fol. 326, 326’. 98 Georg Bernhard, 28. Plenarsitzung des RWR, 4.11.1921, ebd., fol. 332.

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in Verruf zu bringen,99 hatte damit den Finger in die Wunde gelegt. Denn in der Tat sahen sich die im RWR wirkenden Vertreter des RDI mit erhebliche Schwierigkeiten konfrontiert, das Projekt den eigenen Leuten, insbesondere „einzelnen Hitzköpfen und Heißspornen“100 zu verkaufen.101 Friedrich Edler von Braun, Reichstagsabgeordneter der DNVP, als Vertreter der Arbeitgeber-Landwirtschaft im RWR und bis zu seinem Tode 1923 auch dessen Präsident,102 ließ die Stoßrichtung bereits erkennen, indem er das Angebot der Industrie nicht nur rhetorisch der vermeintlich unseriösen Ausgabenwirtschaft der öffentlichen Hand, dem „Fortwursteln“ gegenüberstellte. Zwar gebe es von der Kreditaktion „kein Zurück“ mehr; die Drohgebärden der Linken, im Falle ihres Scheiterns zwangsweise eine Besteuerung der Sachwerte durchzusetzen, müssten aber ein Ende haben.103 Damit war die Kluft zwischen Arbeit und Kapital, die der Theorie nach im RWR ja eigentlich suspendiert sein sollte, offen zutage getreten. Ein Antrag Max Cohens wies indes einen dissimulierenden Ausweg, zumal er mit seiner pragmatischen Einschätzung, dass die Kreditaktion für die Industrie allemal die bessere Lösung sie als die „Heranziehung“ ihrer Sachwerte, wohl den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.104 Er sah vor, den Bericht Hachenburgs an den Ausschuss zurückzuverweisen, gleichzeitig aber zu dokumentieren, dass das Plenum „dem Grundgedanken des Antrags“ zustimmte.105 Zwischenzeitlich war allerdings klar geworden, dass die Industrie keineswegs unkonditioniert eine solche Aktion durchführen würde. Vielmehr stand ein veritables Junktim im Raum, das die Unterstützung des ohnehin nur halbherzig verfolgten Projekts an eine weitreichende, als Sanierungsmaßnahme apostrophierte Privatisierung der Eisenbahn knüpfte; dieser Konnex, der in einer Besprechung in der Reichskanzlei am 10. November 1921 offen ausgesprochen worden und insbesondere mit den Namen Hugo Stinnes verbunden war, sorgte nicht nur für erhebliche Missstimmung unter den anwesenden Gewerkschaftsvertretern, sondern gab dem Vorhaben insgesamt eine andere Stoßrichtung.106 Kernproblem war die von Paul Silverberg referierte Forderung, „für die öffentlichen Betriebe, und zwar zunächst für die Eisenbahn, eine privatwirt99 Hans Kraemer, ebd., fol. 340–340'. 100 Arthur Feiler, ebd., fol. 334’. 101 Vgl. hierzu auch Bähr/Kopper, Industrie (wie Anm. 73), 55–63. 102 Knapp Lilla, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 6), 67–68. 103 Edler von Braun, 28. Plenarsitzung des RWR, 4.11.1921, in: BArch R 401/6, fol. 336’. Die letztgenannte Forderung wurde in der Debatte erneut erhoben von Arthur Feiler (ebd., fol. 334’), Fritz Tarnow (ebd., fol. 338’-340) und Wilhelm Beckmann (ebd., fol. 341). 104 Max Cohen, ebd., fol. 342’. 105 Antrag Max Cohen (hds.), ebd., fol. 343, 344 und BArch R 401/2, fol. 343. 106 Vgl. Besprechung in der Reichskanzlei, 10.11.1921, in: BArch R 43-I/2449, fol. 241–245.

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schaftliche Form“ per Ermächtigungsgesetz zu schaffen, die dann zeitgleich mit der Kreditaktion ins Werk gesetzt werden könnte.107 Ohnehin würden derzeit, so Stinnes sekundierend, „etwa 1 Million Menschen in Deutschland ein unproduktives Dasein“ in den öffentlichen Betrieben fristen.108 Dem widersprach nicht nur Fritz Baltrusch;109 Adolf Cohen, Vorsitzender des RWR und stellvertretender Vorsitzender des ADGB machte deutlich, dass er „lieber auf die Kreditaktion der Industrie gänzlich verzichten [würde], als ihr die Bahn auszuliefern.“110 In der Tat reagierten ADGB und Afa-Bund bereits tags darauf mit einer „Entschließung“ gegenüber Reichskanzler Wirth: Die Pläne der (Hardliner aus den Reihen der Schwer-) Industrie seien „eine Provokation“, und die Kreditaktion, „die anfangs als eine nationale Tat angekündigt wurde, und die auch die Zustimmung der Gewerkschaften gefunden hätte, […] als ein neues Machtinstrument des organisierten Unternehmertums entlarvt“. Die Forderungen müssten von der Regierung daher „unbedingt abgelehnt“ werden.111 Dort stieß man insoweit auf offene Ohren, als auch Reichskanzler Wirth diese „für unerfüllbar“112 hielt. Vizekanzler Gustav Bauer sprach gar von einer „Verhöhnung der Regierung“ und plädierte dafür, „den Entwurf des Reichswirtschaftsrats zu verabschieden.“113 Als regelrechte Anmaßung wurde dabei die Haltung der Industrie empfunden, dass die Kreditaktion „einschliesslich der Verhandlungen mit den auswärtigen Kreditgebern […] nur unter Führung der deutschen Industrie […] erfolgen“ könne.114 Dies liefe, so Verkehrsminister Wilhelm Groener, „darauf hinaus, Deutschland wirtschaftlich und damit politisch zu beherrschen.“ Das sei nicht hinnehmbar. Gleichwohl müsse man erwägen, „die Vorteile einer privatwirtschaftlichen Organisation auf die Eisenbahn, unter Wahrung ihres jetzigen Charakters zu übernehmen.“115 Es gelte also, „durch Darlegung eines positiven Programms die innerpolitische Erregung ab[zu]wiegeln und ein scharfes

107 Paul Silverberg, ebd., fol. 242. 108 Hugo Stinnes, ebd., fol. 243’. 109 Ebd., fol. 242’–243. 110 Dies müsse „mit allen Mitteln bekämpft werden.“ Adolf Cohen, ebd., fol. 244’. Zu Cohen knapp Lilla, Reichswirtschaftsrat (wie Anm. 6), 339. 111 Entschließung von ADGB und AfA-Bund mit Anschreiben an RK Joseph Wirth, 11.11.1921, in: BArch R 43-I/2449, fol. 231. 112 RK Joseph Wirth während einer Besprechung in der Reichskanzlei, 11.11.1921, ebd., fol. 246. 113 Gustav Bauer, [Kabinettssitzung], 14.11.1921, in: BArch R 43-I/1371, fol. 210; ebenso Verkehrsminister Wilhelm Groener, ebd., fol. 211’. 114 [Programm der Industrie], (Abschrift), in: BArch R 43-I/2449, fol. 253. 115 Wilhelm Groener, Besprechung in der Reichskanzlei, 11.11.1921, in: BArch R 43-I/2449, fol. 247’ (beide Zitate). Er unterstellte diese Absicht explizit Hugo Stinnes.

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Programm zur Sanierung der Betriebsverwaltung des Reichs vor[zu]legen.“116 Auch an Zwangsmittel gegenüber der Industrie sei zu denken;117 denn offenkundig dienten deren Forderungen nur dazu, „sich den Rückzug“ zu „decken“, da keine Regierung „in der Lage wäre, diese Bedingungen zu erfüllen.“118 Kurz: Mitte November war deutlich geworden, dass die „heroische Tat“ der Industrie zu den vom RWR entwickelten Bedingungen nicht nur nicht zu haben sein werde, sondern daraus auch ein eminent politischer Konflikt entstanden war, der im Kern das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Staat zum Gegenstand hatte. Im Reparationsausschuss selbst bemühte sich derweil Hans Kraemer um Schadensbegrenzung; das Kernproblem – die Rolle der Wirtschaft im Staat – konnte aber auch er nicht umschiffen. Der Appell, „die Politik“ zugunsten einer „auf rein wirtschaftlichem Boden“ ruhenden Arbeit zurückzudrängen, erschien dabei ebenso leer wie ideologisch motiviert; denn was sollte das konkret bedeuten, wenn ausgerechnet „Wirtschaftsfrieden“ zur Vorbedingung gemacht wurde.119 Doch war den Mitglieder des Ausschusses sehr wohl bewusst, dass die politische Relevanz des RWR mit auf dem Spiel stand: Dies schien am Ende die unterschiedlichen Lager zu zwingen,120 Stellung zu beziehen und eine Resolution zu verabschieden, die die bisherigen Beschlüsse bekräftige: Die Kreditaktion, eine „Lebensnotwendigkeit für Deutschland“, sei „unverzüglich“ ins Werk zu setzen. Man befürworte gleichzeitig „entschlossene Maßnahmen gegen die innere Defizitwirtschaft im Reich und besonders bei den Reichsverkehrsbetrieben“; eine „Verquickung dieser und anderer als Bedingung gestellten Forderungen mit der Frage der Kreditaktion“ lehnte der Ausschuss dagegen ab.121 Freilich, die unterschiedlichen Auffassungen waren auch hier noch einmal „scharf aufeinandergeprallt“122: Denn neben der einhellig geteilten Sorge, als Institution zwischen alle

116 RK Joseph Wirth, Sitzung des Ministerrats („Streng vertraulich“), 15.11.1921, in: BArch R 43-I/22, fol. 154. Ähnlich auch RWiM Robert Schmidt, ebd., fol. 256. 117 RK Joseph Wirth, ebd., fol. 154. 118 Reichspräsident Friedrich Ebert, ebd., fol. 155. 119 Hans Kraemer, 21. Sitzung des Reparationsausschusses, 25.11.1921, in: BArch R 401/613, fol. 253–261, hier fol. 259. 120 Vgl. Rudolf Hilferding, ebd., fol. 264 („Todesstoß für den Reichswirtschaftsrat“); Fritz Baltrusch, ebd., fol. 275 („Wir müssen parteipolitische Dinge aus dem Spiel lassen.“); Fritz Tarnow, ebd., fol. 299 („Dolchstoss gegen den Reichswirtschaftsrat“); Hans Kraemer, ebd., fol. 312 („Vernichtungsfeldzug gegenüber dem Reichswirtschaftsrat“); Max Hachenburg, ebd., fol. 334 („Wenn die Frage uns aus den Händen geglitten ist, weil sie politisch ist, ist es unsere Aufgabe, die Sache wieder zu entpolitisieren und wieder in die Hand zu nehmen“). 121 Ebd., fol. 354. Vgl. auch Drs. RWR 236, in: BArch, R 401/205, fol. 45–45’. 122 Otto Schweitzer, 21. Sitzung des Reparationsausschusses, 25.11.1921, in: BArch R 401/613, fol. 345.

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Stühle zu geraten, hegten die Vertreter der Arbeitnehmer die noch grundsätzlichere Befürchtung, dass hier die Rettung der deutschen Wirtschaft auf Kosten eines der Rettung nicht werten Staates erfolgen solle;123 dann würde „bei uns in Deutschland Stinnes“ regieren, und eine solche „Stinnes-Herrschaft“ sei „eine ganz ungeheure Gefahr“.124 Es sei gerade die gemeinsame Aufgabe des RWR, „einen Gegenangriff gegen diesen extremen Zweig der Industrie zu führen“.125 So ging es Mitte Dezember erneut in die Vollversammlung, in der man sich trotz aller Differenzen bemühte, ein möglichst konsensorientiertes Bild abzugeben, da nur so „das Wort des Reichswirtschaftsrat-s gehört werden“ würde.126 Noch schneller als im Ausschuss traten aber auch hier die kaum zu vereinbarenden Auffassungen zutage. Während Fritz Tarnow es als „Entgegenkommen“ der Gewerkschaften pries, nicht direkt mit staatlichem Zwang auf die Substanz der Industrie zuzugreifen,127 sondern ihr die Freiwilligkeit beließ, betonte etwa Carl Friedrich von Siemens, dass es „für einen großen Teil [s]einer Freunde unmöglich [sei], für den Gesetzentwurf in dieser Form einzutreten.“ Er käme einer „Blankovollmacht“ gleich, die zur Folge haben könne, „daß dann eines schönen Tages die ganze deutsche Wirtschaft sich praktisch verkauft“ sehe. Überhaupt sei es nicht angängig, die Wirtschaft aus politischen Opportunitätserwägungen potentiell zu „ruinieren“ – auch dann nicht, wenn sich der Reichskanzler persönlich dafür einsetze.128 In Tat hatte dieser mit Vehemenz für die Verabschiedung des Entwurfs noch „vor Weihnachten“ geworben, zumal er – wie andere auch – „nicht recht verstehen“ konnte, wie dadurch eine derartige

123 Rudolf Hilferding, ebd., fol. 271; ebenso August Müller, ebd., fol. 290: In der Industrie grassiere eine Haltung, die das eigene Wohl über das des Staates stelle: „Diese Auffassung bedeutet die Auflösung des modernen Staats, bedeutet die Auflösung des Deutschen Reichs, und in dieser Linie liegt das Vorgehen der Industrie.“ 124 Fritz Tarnow, ebd., fol. 302. Der Einwurf Kraemers auf die Kritik an Stinnes ist bezeichnend: „Hätten wir ein Dutzend, dann wäre es besser um uns bestellt!“ – darauf Tarnow: „Für Sie vielleicht, nicht für uns!“. 125 Ebd., fol. 302. 126 Berichterstatter Max Hachenburg, 32. Plenarsitzung des RWR, 10.12.1921, in: BArch R 401/ 7, fol. 62. 127 Fritz Tarnow, ebd., fol. 62. Noch schärfer die Kritik von August Müller, der gegen Siemens gewandt betonte, nicht die deutsche Wirtschaft, „das deutsche Volk“ stünde „an erster Stelle“. Die Wirtschaft sei nur ein „Organ der deutschen Volksgemeinschaft“ und habe sich „dem Allgemeininteresse unterzuordnen.“ Es ginge also nicht darum, „die Wirtschaft zu retten“, sondern alle seien aufgerufen Opfer zu bringen, um „die deutsche Volksgemeinschaft zu retten.“ (ebd., fol. 65’). 128 Carl Friedrich von Siemens, ebd., fol. 65 (alle Zitate). Ähnlich auch Kurt Sorge, ebd., fol. 63–64’.

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„Beunruhigung“ in Industriellenkreisen hatte entstehen können.129 Die Sache stand auf der Kippe: Einerseits war klar, dass ein Beschluss des RWR ohne Beteiligung der Industrie nicht nur politisch wertlos war, sondern auch für den RWR selbst den perhorreszierten „Todesstoß“ bedeuten könnte.130 Denn was war ein Gremium wert, dass zum Ausgleich der unterschiedlichen sozio-ökonomischen Interessen beitragen sollte, sich in essentiellen (und deshalb naturgemäß strittigen) Fragen aber dann außer Stande sah, zu einer gemeinsamen Position zu gelangen? Andererseits boykottierten die Industrievertreter durch Verlassen des Saals eine Entscheidung; es weiter zu versuchen, schien nicht nur Max Hachenburg denn auch „ziemlich zwecklos“.131 So wurde eine Entscheidung, sehr zum Ärger der Arbeitnehmervertreter, auf die Folgewoche vertagt – und dort in leicht modifizierter, im Kern aber unveränderter Form dann doch verabschiedet.132 Vorweihnachtlich-versöhnlich konnte der Vorsitzende, Friedrich Edler von Braun, nun die Mitglieder in die Ferien verabschieden: Man habe sehr fruchtbare Arbeit geleistet, die „weit über das Maß dessen hinausgegangen ist, was man sich ursprünglich von der Tätigkeit des RWR im allgemeinen versprochen“ hatte; „arbeiten und nicht verzweifeln“133 sei die Devise für das kommende Jahr. Das war durchaus ernst gemeint, denn die Diskussion um die Kreditaktion hatte wie in einem Brennglas deutlich gemacht, dass die Suspendierung politischer Konflikte im RWR durch die Betonung vermeintlich rein wirtschaftlicher Erwägungen nur zu einem hohen Preis zu haben war: Kompromisse zu produzieren, die in der harten Welt „draußen“ keinen Bestand haben und den RWR damit als Institution ins Abseits manövrieren würden. Doch was waren die Alternativen?

129 RK Joseph Wirth, ebd., fol. 63’, 64’. Auch Max Cohen (ebd., fol. 64) zeigt sich verwundert, da doch die Resolution auch mit den Stimmen von Abt. 1 (Arbeitgeber) beschlossen worden war. 130 Etwa August Müller, ebd., fol. 65; Max Cohen, ebd., fol. 71; Fritz Tarnow, ebd., fol. 71’. 131 Max Hachenburg, ebd., fol. 73’. Auch Otto Schweitzer, ebd., fol. 74. 132 Vgl. den modifizierten Antrag ebd., fol. 72’. Die Beschlussfassung erfolgte in der 33. Plenarsitzung des RWR, 13.12.1921, ebd., fol. 75’. 133 Edler von Braun, ebd., fol. 76.

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3 Reichswirtschaftsrat und politisches System Institutionelles Standing und die Politik der „Erfüllung“ Die ausführliche Rekonstruktion der Debatte um die „Kreditaktion der deutschen Wirtschaft“ konnte eine Vielzahl an Spannungsfeldern deutlich machen, die sich im RWR kristallisierten, auch wenn sie auf unterschiedlichen Bühnen – Regierung, Verbände, Parteien, Reichstag – zur Aufführung gelangten. Dabei ging es für den RWR nie nur darum, eine Sachfrage zu lösen, sondern auch seine institutionelle Stellung im politischen System zu bekräftigen. Dies förderte die Bereitschaft, auch über Lagergrenzen hinweg Kompromisse zu schließen; es barg aber auch das Risiko, durch den faktischen Zwang, mit einer Stimme sprechen zu müssen, wenig belastbare Ergebnisse zu produzieren. Und in der Tat: Hachenburgs Gesetzentwurf, der die Synthese der Beratungen im RWR darstellte, verlief im Sand.134 Das lag aber nicht nur an politischem Unwillen, sondern vor allem auch daran, dass im Kontext der reparationspolitischen Agenda das Thema des Währungsverfalls sukzessive in den Vordergrund trat. Zudem war deutlich geworden, dass die gemäßigten Industrievertreter sich offenkundig nicht gegen die Hardliner in den eigenen Reihen durchzusetzen vermochten. Der Preis, der von dieser Gruppe um Hugo Stinnes gefordert wurde – die weitgehende Privatisierung der Eisenbahn –, war nicht nur zu hoch, sondern hätte auch Grundentscheidungen der Weimarer Wirtschaftsordnung irritiert;135 das war für die Vertreter der politischen Linken und der Gewerkschaften schlechterdings nicht hinnehmbar. Das Bemühen um eine sachlich begründete und trotz der unterschiedlichen Interessen für alle akzeptable Lösung verdeutlicht aber auch, dass der RWR eben nicht als „Ständeparlament“ fungierte, dessen Mitglieder einem imperativen Mandat unterworfen waren – was die Entscheidungsfindung einerseits erheblich erleichtern, ihre Verankerung in den Verbänden dagegen aber durchaus verkomplizieren konnte.136 Der RWR reflektierte also einerseits die unterschiedlichen ökonomischen Interessen und die Vorstellungen davon, wie das spannungsreiche Verhältnis von Ökonomie und Politik institutionell arrangiert sein sollte. Er kanalisierte diese Konflikte andererseits jedoch auch; und je kleiner und persönlicher der Kreis, desto leichter war dies möglich. 134 So bemerkte etwa Alfred Henke (USPD/SPD), 164. Sitzung des Reichstags, 31.1.1922, in: StenB 352, 5688, dass es um die Kreditaktion „ja sehr still geworden“ sei. 135 Vgl. hierzu Hederer, Wirtschaftsordnung (wie Anm. 3). 136 Vgl. zu den aus der Verbändeforschung bekannten Effekten der „logic of influence“ vs. „logic of membership“ unter Bezugnahme auf den RDI bzw. BDI knapp Bähr/Kopper, Industrie (wie Anm. 73), 10–11.

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Hier aber standen Grundsatzfragen auf der Tagesordnung: Konnte man akzeptieren, die Aufbringung eines zwingend erforderlichen Kredits von der Privatisierung der staatlichen Verkehrsbetriebe abhängig zu machen, ganz unabhängig davon, ob diese geboten war, oder nicht? Oder sollte man in der Stunde der Not nicht ungeniert auf die „Substanz“ der Wirtschaft, ihre „Gold- und Sachwerte“ zugreifen (dürfen)? Die vom RWR offerierte Lösung, so dissimulierend sie auch angelegt war, bot einen gangbaren Weg, der allerdings nicht beschritten wurde. Dazu trug sicher auch bei, dass sich die reparationspolitische Lage zwischenzeitlich verschoben und sich die Stimmung im Lande durch den Abschluss des Wiesbadener Abkommens nicht unwesentlich politisiert hatte. Das im Oktober 1921 zwischen Walther Rathenau und Louis Loucheur, dem französischen Ministre des Régions libérées,137 verhandelte Abkommen sollte die Modalitäten der Reparationsleistungen zwischen Frankreich und Deutschland regeln – avancierte aber rasch zu einem heftig umstrittenen Politikum. Für Rathenau verkörperte dabei der RWR ein wichtiges Forum, auf dem er seine Politik der „Erfüllung“ darlegen und für deren Umsetzung werben konnte.138 Denn sein Anknüpfungspunkt war die Überzeugung, „den Aufgabenkreis so unpolitisch zu halten wie nur immer möglich“, um einen glaubhaften „Weg der Verständigung“ mit Frankreich, das es ernst meine, beschreiten zu können.139 So erstattete Rathenau dem Reparationsausschuss am 9. November 1921 Bericht – und wurde deutlich.140 Drei Optionen habe man: Grundsätzliche Ablehnung jegli137 Das Portfolio des Ministers: „la réorganisation de la vie locale et des moyens d’habitation, l’aide à donner aux sinistrés pour le relèvement des immeubles détruits, la réparation des dommages de guerre, la reconstitution du sol, la restauration agricole, commerciale et industrielle.“ https://francearchives.fr/findingaid/146cbf1a83c3ba59a9e5543b7e77f07c1a6af20d [letzter Zugriff 5.11.2021]. 138 Vgl. hierzu auch den Kommentar von Ursula Mader, Das „Wiesbadener Abkommen“. Ein einführender Kommentar zur Rede Walther Rathenaus am 9. November 1921, in: Walther Rathenau, Das Wiesbadener Abkommen. Rede am 9. November 1921. Mit einem einführenden Kommentar von Ursula Mader, Leipzig 2003, 7–20. 139 Walther Rathenau, 110. Sitzung des Reichstags, 2.6.1921, in: StenB 349, S. 3742, 3743. Vgl. auch Fritz Baltrusch, 19. Sitzung des Reparationsausschusses, 9.11.1921, in: BArch R 401/613, fol. 150, der auf die Wechselseitigkeit des Verständigungsanspruchs verwies: die „Atmosphäre des Hasses“ müsse beseitigt werden, da doch bekannt sei, „dass Frankreich andauernd die Völker der ganzen Erde durch diese [vom Krieg besonders verheerten, FH] Gebiete schleift, ihnen die Zerstörungen zeigt und sagt: Seht, was die Boches angerichtet haben.“ 140 Die Ausführungen Rathenaus vor dem RWR fanden, und darauf verweist auch Mader, Wiesbadener Abkommen (wie Anm. 138), 19, aufgrund der durchaus deutlichen Worte nur in einer Version ad usum delphini an die Öffentlichkeit. Diese findet sich etwa in den Mitteilungen des Reichswirtschaftsrats (MittRWR) vom 19.11.1921, 198–208. Die Rede im Wortlaut: 19. Sitzung des Reparationsausschusses, 9.11.1921, in: BArch R 401/613, fol. 52–85.

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cher Reparationen, Ablehnung weiterer Leistungen, oder zu versuchen, sich „gegenüber den Mächten, mit denen wir nun einmal zu tun haben und die gegenwärtig die politische Welt beherrschen, in ein Verhältnis der Erträglichkeit“ zu setzen.141 „Schweres Unrecht“ sei es indes, „wenn man dauernd denjenigen, die an der Arbeit sind, die Schuld derjenigen aufhalst, die schliesslich die Verhältnisse herbeigeführt haben, in denen wir leben.“142 Und die Urheber dieser „Spaltung im Land“143 seien bekannt: Denn „je schärfer die Kritik, desto weiter von rechts kommt sie her“.144 Realistisch betrachtet werde es jedoch keine Alternative zu den Reparationen geben: Man komme nun einmal „nicht ungeschoren aus einem verlorenen Weltkrieg heraus.“145 Rathenau konnte mit diesem emotionalen Appell im RWR auf Zustimmung hoffen – nicht unbedingt einhellig in inhaltlicher Hinsicht, wohl aber hinsichtlich des politischen Stils, der sich von einer populistischen „Politik der Strasse“, die „immer ekelhaftere Formen“146, anzunehmen schien, abzugrenzen suchte. Denn gerade der RWR sah ja seine Aufgabe darin, „eine Politik des wirklichen Wiederaufbaus“ und der „positiven Arbeit“ zu machen, auch wenn man dann damit rechnen müsse, „mit einem Kübel Jauche übergossen“ zu werden.147 Aus gutem Grund nämlich werde „erwartet, dass wir sachliche Dinge sachlich und nicht demagogisch behandeln“, dass nicht „zum Fenster hinaus“ geredet werde.148 Es war dies der Anspruch, doch war es auch die Wirklichkeit? Bereits unmittelbar nach der Rede Rathenaus und dem kurzen Statement Kraemers hatten offenbar die Gegner des Wiesbadener Abkommens aus Protest den Saal verlassen, unter ihnen auch der Präsident des RWR, Friedrich Edler von Braun.149 Die Szene macht unmittelbar deutlich, dass der RWR nur sehr bedingt mit „politischen“ Konflikten umzugehen wusste; die Inszenierung als Ort ökonomischer Vernunft entsprach also dem strategischen Kalkül, auf dieser vermeintlich „unpolitischen“ Diskursebene einen Raum zu konstituieren, in dem offen und kritisch, nicht aber ideologisch und dogmatisch diskutiert wurde. Zudem konnte der RWR als ein Forum fungieren, das im Unterschied zur ZAG nicht nur die – in vielen Punkten durchaus konvergenten – Interessen von Arbeitnehmern und 141 Ebd., fol. 52–53. 142 Ebd., fol. 55. 143 Ebd., fol. 56. Diese Passagen sind in der veröffentlichten Version getilgt. 144 Er fährt fort: „Das, meine Herren, muss einfach an die grosse Glocke, das muss rundweg angesprochen werden, der Katze muss die Schelle umgehängt werden.“ (ebd. fol. 69). 145 Ebd., fol. 84. 146 Hans Kraemer, ebd., fol. 86, 87. 147 Ebd., fol. 87, 88. Ähnlich auch Fritz Baltrusch, ebd., fol. 146. 148 Fritz Baltrusch, ebd., fol. 152. 149 Darauf verweist Georg Bernhard, ebd., fol. 88.

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Arbeitgebern zur Sprache bringen, sondern auch den „sonst beteiligten Volkskreisen“ eine Stimme geben konnte.150 Das kaum lösbare Dilemma aber blieb: Verzichtete man auf „Politik“, lief man Gefahr, im Abseits zu stehen; machte man aber „Politik“, wurde man verzichtbar. Dies war der schmale Grat, auf dem die Mitglieder des RWR balancieren mussten, den sie im Verlauf der 20er Jahre aber zu einem Pfad auszubauen vermochten, der ihm Form und Richtung gab. Und auch die Wirklichkeit half: Denn das Inflationsproblem machte ökonomische Expertise und den Konsens der Normadressaten nötig; die Kreditaktion geriet demgegenüber in den Hintergrund.

Währungsverfall und politische Krise Die noch kurz vor der Weihnachtspause verabschiedete Resolution stand auf tönernen Füßen; augenscheinlich war ein „sehr gewichtiger Teil“ der Industrie nicht bereit, das Vorhaben zu den genannten Bedingungen mitzutragen.151 Ohne Zweifel erweckt der Entschluss den Eindruck eines wenig tragfähigen Kompromisses, der nur deshalb geschlossen wurde, weil er unterm Strich nichts kostete. Allen Beteiligten war klar, dass ohne das Commitment der Industrie weder ökonomisch noch politisch viel auszurichten war. Und so zeigte sich bald, dass im Ausschuss, der seine Arbeit Anfang März 1922 wieder aufgenommen hatte, andere Themen dominierten, allen voran der Wertverlust der Mark, in dessen Sog bald alle übrigen Fragen gerieten. Ende August verabschiedeten der Reparations- und der Wirtschaftspolitische Ausschuss des RWR eine Entschließung, die „die Ursachen und Folgen des Zerfalls der deutschen Währung und die zu seiner Bekämpfung anzuwendenden Mittel“ zum Gegenstand hatte.152 Zunächst verwahrte man sich scharf gegen den im Ausland zirkulierenden „Vorwurf“, Deutschland „habe mit Absicht seine Währung in Verfall geraten lassen, um sich dadurch der Erfüllung seiner Reparati-

150 Die (in der Folge zu allerhand Diskussionen Anlass gebende) Formulierung findet sich bereits in Art. 165 WRV. Zur Debatte darüber vgl. exemplarisch die Verhandlungen des Verfassungsausschusses, 9.7.1921 (Druck), in: BArch R 401/568, fol. 218–239’. Auf den Unterschied zwischen RWR und ZAG verweist etwa Georg Bernhard, 20. Sitzung des Reparationsausschusses, 17.11.1921, in: BArch R 401/613, fol. 243. Vgl. auch Max Cohen, 21. Sitzung des Reparationsausschusses, 25.11.1921, ebd., fol. 284–285. 151 Max Cohen, 32. Plenarsitzung des RWR, 10.12.1921, in: BArch 401/7, fol. 73 (beide Zitate): „[…] man spricht immer von der Minderheit, es scheint mir aber der stärkere Teil zu sein“, der „sich der Kreditaktion in den Weg gestellt hat.“ 152 MittRWR vom 2.9.1922, 113. Vgl. auch die Pressemitteilung zur Sitzung des Wirtschaftspolitischen und Reparationsausschusses, 29.8.1922, in: BArch R 401/368, fol. 201–205.

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onsverpflichtungen zu entziehen.“ Vielmehr sei die „Hauptursache des Zusammenbruchs der Markwährung“ die mangelnde Bereitschaft der Alliierten, eine „der Zahlungsfähigkeit Deutschlands angemessene Regelung der Reparationsfrage“ zu erwirken.153 Man berief sich dabei auf die Konferenz von Genua und die Pariser Bankenkonferenz, die beide eine endgültige und vor allem tragfähige Regelung des Reparationsproblems angemahnt hatten, wollte man den Währungsverfall stoppen.154 „Der tiefe Ernst der gegenwärtigen Lage“ verlange darüber hinaus, „daß sich über allen politischen und wirtschaftlichen Meinungsverschiedenheiten hinweg alle Stämme, Stände und Klassen des deutschen Volkes zu einer Schicksalsgemeinschaft vereinigen“; dies sei eine „unerläßliche Vorbedingung für die erfolgreiche Bekämpfung der schweren Nöte“, denen sich das Reich gegenüber sehe.155 Im Einzelnen plädierte die Entschließung für einen Strauß ernährungswirtschaftlicher, handelspolitischer, finanzpolitischer und produktionstechnischer Maßnahmen, die im Kern auf Sparsamkeit und die Intensivierung der Produktion setzten.156 So charakteristisch der Appell für den RWR und sein Selbstverständnis auch war – er klang wie das Pfeifen im Walde, zumal man selbst in den eigenen Reihen, wie die Debatte um die Kreditaktion deutlich gemacht hatte, durchaus unterschiedliche Vorstellungen darüber besaß, was nun geboten sei. Und auch der Vorwurf an Teile der Industrie, ein veritables Interesse an einem fortgesetzten Währungsverfall zu haben, kam keineswegs nur aus dem Ausland, sondern wurde vehement in gewerkschaftsnahen und sozialdemokratischen Kreisen vertreten, ja als Gewissheit erachtet. Unterm Strich sah man sich aber einer zunehmend brisanter werdenden Situation gegenüber, die nicht mehr allein währungs- und finanzpolitischer Natur war, sondern Konturen einer sozialen und politischen Krise anzunehmen begann. Plädierte man, wie die Reichsbank, für eine Goldwährung, dann müsse sich das auch in der Lohntüte manifestieren: „Tun wir das nicht, dann sind wir nicht mehr in der Lage, die Ruhe in der Arbeiterschaft aufrecht zu erhalten.“157 Gerade hier würde sich – erneut – erweisen, ob der RWR der ihm zugedachten Aufgabe gewachsen sei, „ökonomische ratio“

153 Beide Zitate ebd., fol. 201 (wie auch in dem entsprechenden Band der MittRWR). 154 Ebd., fol. 202. 155 Ebd., fol. 203. 156 Vgl. MittRWR vom 2.9.1922, 114–116. 157 Fritz Tarnow, 29. Sitzung des Reparationsausschusses, 29.10.1922, in: BArch R 401/614, fol. 203. Ähnlich auch Abraham Frowein, ebd., fol. 206. Er kritisierte aber, dass die Löhne „zu hoch“ stabilisiert würden. Deutlicher noch als Tarnow Rudolf Hilferding, der einen Kontrollverlust der Gewerkschaften und einen erheblichen Zulauf zu den Kommunisten prognostiziert.

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walten zu lassen.158 Auch StS Julius Hirsch betonte, dass ihm der RWR gegenüber dem üblichen Lobbying „erheblich lieber“ sei, da es angesichts der prekären Lage nicht angängig sein könne, nur „mit dem Mittel des politischen Drucks sich geltend“ zu machen.159 Es sei, so sekundierte Arthur Feiler, in der Tat „die wichtigste Aufgabe des Reichswirtschaftsrats, dem Fatalismus entgegenzuwirken“.160 Nur wenige Tage später legten der Wirtschafts- und Finanzpolitische Ausschuss eine gemeinsame Entschließung vor,161 die zur Verhinderung der drohenden fiskalischen, ökonomischen und sozialen „Katastrophe“ die „Neuordnung der Reparationen“, die „Sanierung des öffentlichen Haushalts“ und die „Intensivierung und Rationalisierung der Produktion“ forderte.162 Auch tauchte in diesem Zusammenhang wieder eine durch „Industrie, Handel, Gewerbe, Handwerk und Landwirtschaft“ fundierte „kursgesicherte Kreditaktion“ auf, die dem Reich die nötigen (vor allem wertbeständigen) Mittel zur Verfügung stellen sollte.163 Die intensiv und kontrovers geführte Debatte der folgenden Tage sollte allerdings zeigen, dass die politischen Konflikte, die bereits im Jahr zuvor unverhohlen zutage getreten waren, auch durch die Formulierung gut begründeter Maßnahmenpakete164 nicht aus der Welt zu schafft waren. Nicht ohne Grund wurde die gemeinsame Sitzung von Wirtschafts- und Finanzpolitischem Ausschuss am 9. November 1922, in der auch Hugo Stinnes das Wort ergreifen sollte, zur „Geheimsitzung“ erklärt:165 Erneut war der Vorwurf laut geworden, dass diejenigen Teile der Industrie, die in Sachwerte investierten, „an einer fortschreitenden Entwertung der Mark interessiert“ seien, da sie dann die „Schulden umso leichter abtragen“ könnten.166 Stinnes wies die Anwürfe scharf zurück, mahnte aber einen faktischen Zwang zur Produktivitätssteigerung an, die durch „Mehrarbeit“ zu leisten sei. Ein „Pumpgeschäft ohne wirkliche Behebung 158 Rudolf Hilferding, ebd., fol. 162. 159 StS Julius Hirsch, ebd., fol. 180, 181, 183. Fritz Baltrusch beklagt, dass man den Interessentenverbänden kaum etwas entgegensetzen könne, da der Staat „heute so schwach“ sei (ebd., fol. 221). 160 Arthur Feiler, ebd., fol. 198. 161 Entschließung vom 1.11.1922, Drs. RWR 303, in: BArch R 401/205, fol. 207. 162 Ebd. 163 Ebd. Vgl. hierzu auch die MittRWR vom 11.11.1922, 154–157. 164 In der gemeinsamen Sitzung von Wirtschafts- und Finanzpolitischem Ausschuss wurde denn auch die Klage geführt, dass die Regierung die Arbeit des RWR – etwa auch die Resolution vom 1.11.1922 – nicht genügend zur Kenntnis nehme und ihm gar Informationen „verschweige“ (Protokoll vom 9.11.1922, in: BArch R 401/368, fol. 461). 165 Vgl. ebd., fol. 462’. 166 Georg Bernhard in der gem. Sitzung von Wirtschafts- und Finanzpolitischem Ausschuss, zit. nach den MittRWR vom 18.11.1922, 163.

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der Fehler im Innern“ führe nicht nur nicht zu dem erhofften Auslandskredit, sondern sei mit Blick auf die Zukunft kontraproduktiv.167 Was ökonomisch vernünftig klang, wurde auf der anderen Seite als eine unverhohlene Drohung verstanden, die in den vergangenen Jahren mühsam erkämpften sozialpolitischen Errungenschaften unter Verweis auf die Krisensituation wieder über Bord werfen zu wollen. Und so verwundert es nicht, dass der „Vorwärts“ bereits tags darauf unter dem Titel „Hugo Stinnes sagt Kampf an“ aus den Verhandlungen berichtete und dabei kein Blatt (mehr) vor den Mund nahm: So habe Stinnes mit seiner Schwerindustriellen-Clique nicht nur ein erhebliches persönliches Interesse daran, „die Mark weiter in den Abgrund zu treiben“, sondern ziele auch – und das war ein absolutes Reizthema – auf die „Beseitigung des Achtstundentages und die Rückkehr zu einer zehnstündigen Arbeitszeit“.168 „Riesengewinne“ würden so „ungeschmälert erhalten“, die Lasten aber der Allgemeinheit aufgehalst.169 Für die Sozialdemokratie sei klar, so der „Vorwärts“ weiter, dass man mit „Leuten, die die Lebensinteressen der großen Masse der Bevölkerung leichten Herzens opfern, weil sie im Widerspruch stehen mit kapitalistischen Gruppeninteressen“, „keine gemeinsame Arbeit“ mehr leisten könne.170 Ein „Skandal“ war freilich nicht nur der Auftritt Stinnes’ „hinter verschlossenen Türen“171, sondern ebenso die Tatsache, dass die als vertraulich eingestuften Verhandlungen der (politischen) Presse zugespielt worden waren. Für den RWR sollte das ein „außergewöhnliche[s]“172, im Kern aber nicht überraschendes Nachspiel haben, widersprach doch Indiskretion in dieser politisch äußerst heiklen Gemengelage dem Selbstverständnis des RWR, auf Mätzchen dieser Art eigentlich verzichten zu wollen. Denn in der Tat war „[e]in derartiger Bruch der Pflicht zur Geheimhaltung“, so der Vorsitzende des RWR noch am selben Tag, dazu „geeignet, das Ansehen des vorläufigen Reichswirtschaftsrats in der Öffentlichkeit in hohem Maße zu schädigen.“ Die in Frage kommenden Mitglieder des RWR wurden daraufhin verpflichtet, eine schriftliche Erklärung abzugeben, nichts mit der Veröffentlichung im „Vorwärts“ zu tun zu haben.173 167 Ebd., 164. Auch Abraham Frowein und Arthur Salomonsohn wiesen die Anschuldigen Bernhards „auf das allerschärfste“ zurück, die Industrie würde die Dinge treiben lassen und „mangelnde vaterländische Gesinnung“ an den Tag legen (Protokoll vom 9.11.1922, in: BArch R 401/368, fol. 462). 168 „Vorwärts“ vom 10.11.1922 (Morgen-Ausgabe), 1. 169 Ebd., 2. 170 Ebd. 171 Ebd., 1. 172 Schreiben des Vorsitzenden des RWR an einzelne Mitglieder, 10.11.1922, in: BArch R 401/ 368, fol. 488–489. 173 Die unterschriebenen Erklärungen finden sich ebd., fol. 495–554. Sehr interessant ist die handschriftliche Anmerkung von Emma Kromer (Gruppe VII, Verbraucher): „Auch wenn ich

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Diese Episode zeigt, dass die Arbeit des RWR auf Prämissen basierte, die immer wieder aufs Neue performativ bekräftigt werden mussten: Es ging dabei vor allem darum, die Mechanismen „der Politik“ wenn auch nicht auszuhebeln, so doch institutionell und prozedural zu kanalisieren: Man wusste um die Affiliationen des Anderen – und sah gerade auf dieser Grundlage die Möglichkeit, unabhängig davon sachliche Beratungen in ökonomisch fundierte Entscheidung(sgrundlag)en transformieren zu können; der RWR bot den dafür nötigen geschützten Raum. Die Auseinandersetzung um die Umsetzung der Kreditaktion stellte dieses Selbstverständnis auf die Probe – und trug gleichzeitig zu seiner Festigung bei.

4 Der Reichswirtschaftsrat und die Reparationen: Sacharbeit für die Schublade? Der Beitrag verfolgte das Ziel, die Arbeit des RWR im Kontext der Reparationsproblematik der Jahre 1921/22 zu erhellen, und dabei nicht nur seine im engeren Sinne ökonomische Haltung, sondern auch seine prekäre Rolle im institutionellen Gefüge des Reichs und den politischen Entscheidungsprozessen zu erhellen. Dabei können grundsätzlich zwei auf den ersten Blick scheinbar widersprüchliche Ergebnisse festgehalten werden: Erstens wird deutlich, dass der RWR in der zentralen politischen Frage der Reparationen nicht nur „gehört“ wurde, sondern als Ort fungierte, an dem die wichtigen Diskussionen unter Beteiligung der relevanten Akteure geführt wurden. Das galt für den Umgang mit den aus dem Londoner Ultimatum resultierenden monetären Forderungen ebenso wie für das Inflationsproblem, dass seit der Jahreswende 1922 sukzessive alle anderen Themen zu überlagern begann, hier aber nur angedeutet werden konnte. Die Arbeit des Reparationsausschusses offenbart indes die tiefgreifenden Spannungen, zu deren Kanalisierung, ja punktuellen Suspendierung der RWR eigentlich angetreten war – und woran auch bis zuletzt festgehalten wurde. Die „Kreditaktion der deutschen Wirtschaft“, die offenkundig eine Antwort auf den drohenden Zugriff des Staates auf die „Substanz“ der Wirtschaft darstellen und dieser den Wind aus den Segeln nehmen sollte, konnte dies in besonders anschauli-

die obenstehende Erklärung unterzeichne, so halte ich mich gleichzeitig verpflichtet, zu erklären, daß die Geheimerklärung der Sitzung erst in einem Augenblick ausgesprochen wurde, als bereits ein grösserer Teil der Versam(m)lung sich entfernt hatte, so daß schon damals Bedenken über diese Geheimhaltung laut wurden, da ihre Durchführung nicht mehr in der Hand des Herrn Vorsitzenden lag. E. Kromer.“ (ebd., fol. 526).

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cher Weise demonstrieren. So wird zweitens erkennbar, dass der RWR zwar zu weitreichenden Entscheidungen in politisch umkämpften Sachfragen gelangen konnte; ob diese aber implementiert wurden, entzog sich seinem Einfluss. Er drohte damit stets, in der Luft zu hängen. Das Problem bestand aber primär nicht darin, in einer Sachfrage politisch nicht durchzudringen; für die Institution gefährlicher war es, durch eine möglicherweise dauerhafte Randposition im policy-making process an Gewicht zu verlieren, das eben maßgeblich von den Personen abhing, die sich im RWR engagierten. Was halfen ziselierte Beschlüsse, denen niemand der im RWR organisierten Wirtschaftsakteure in der Praxis folgen wollte – und die daher im politischen Entscheidungszentrum keine Aussicht auf eine Mehrheit hatten, sofern sie überhaupt zur Kenntnis genommen wurden? Was Anfang der 20er Jahre noch offen war, sollte sich in deren Verlauf klären: in der Praxis folgte der RWR der Logik, institutionelle Eigenständigkeit durch Sacharbeit der potentiellen Normadressanten zu manifestieren, auch wenn sie angesichts der politischen Kontextfaktoren prekär blieb, bleiben musste. Der RWR des Art. 165 WRV wurde zwar nie realisiert, wohl aber ein RWR, der sich an die veränderten und sich ständig ändernden Rahmenbedingungen anzupassen wusste: Nicht am output in Form von „erfolgreich“ implementierten Gesetzen ist er zu messen, sondern – indirekt – an der Vetomacht, die er im Vorfeld politischer Entscheidungen zu entfalten vermochte. Was bedeutet das für den RWR als politischen Akteur? In der Tat leistete der RWR eine erhebliche Menge Sacharbeit für die Schublade, ja den Papierkorb. Gleichwohl wurde seine Arbeit im politischen Raum als wertvoll erachtet, seine Rolle geschätzt und sein Fortbestand unterstützt.174 Und so bilanzierte man denn auch anlässlich seines zehnjährigen Bestehens 1929, dass man zwar fruchtbare und gute Arbeit geleistet, wohl aber zu wenig darüber gesprochen habe; das Bild in der Öffentlichkeit sei daher schief.175 Ganz so leicht wird man es sich indes auch nicht machen dürfen: Der RWR sollte eine Rolle spielen, für die auf der Bühne zwar ausreichend Platz bestand, wo aber das Stück, das zur Aufführung gelangen sollte, ständig umgeschrieben wurde. Für eine institutionelle Innovation, die ihren Platz in einem ohnehin fragilen politischen System erst noch finden musste, eine komplexe Herausforderung.

174 Vgl. knapp hierzu auch Hederer/Priemel, In der Schwebe (wie Anm. 7), 96–100. 175 Etwa Harry Hauschild, Zehn Jahre Reichswirtschaftsrat, in: „Vossische Zeitung“ vom 3.7.1930 (Morgen-Ausgabe), 3; ders., 10 Jahre Reichswirtschaftsrat, in: MittRWR vom 28.7.1930, 25–27.

Jan-Otmar Hesse

Fortsetzung des Wirtschaftskriegs Die Neuordnung der globalen Wirtschaft nach Versailles und die deutschen Unternehmen Als die Weimarer Republik mit Beginn des Jahres 1925 ihre handelspolitische Souveränität zurückerlangte, die im Versailler Vertrag dekretierte, einseitige Meistbegünstigung aufgehoben wurde und ein erstes Zollgesetz moderate Einfuhrzölle verhängte, war damit die Weltwirtschaftsordnung der Vorkriegszeit noch lange nicht wiederhergestellt. Viele deutsche Unternehmen erreichten ihre große weltwirtschaftliche Bedeutung nicht wieder, andere waren ganz verschwunden oder führten einen erbitterten Kampf um die Rückgewinnung von Marktanteilen im Ausland. Die deutsche Wirtschaft leckte Mitte der 1920er Jahre noch immer die durch den Weltkrieg geschlagenen Wunden. In einem von Franz Eulenburg herausgegeben Sammelband, der die Folgen der neuen Weltwirtschaftsordnung für die deutsche Außenwirtschaftspolitik bilanzierte, zeichnete auch Wilhelm Röpke ein düsteres Bild: „Die politische und ökonomische Kräfteverteilung innerhalb und außerhalb Deutschlands hat in diesen zehn Jahren Wandlungen erfahren, die in manchen Punkten etwas Revolutionäres an sich haben und natürlich auch das handelspolitische Wollen stark beeinflussen. […] Wir sind stärker als vor dem Kriege in die Weltwirtschaft verflochten, das heißt, unser Aus- und Einfuhrbedürfnis ist größer geworden, und wir sind unendlich viel ärmer geworden.“1 Vor allem Röpkes Befund, die Weimarer Wirtschaft sei stärker als vor dem Krieg in die Weltwirtschaft verflochten, dürfte nach der jüngeren Forschungsdebatte um die „De-Globalisierung“ in der Zwischenkriegszeit einige Fachleute irritieren. Im Unterschied zu heutigen Globalisierungsoptimisten sah Röpke dies aber nicht als etwas Positives, sondern stellte in der Tradition des „Weltpolitik“-Ansatzes aus dem Kaiserreich vor allem die hierdurch neu entstandenen Abhängigkeiten in den Vordergrund.2 Letztlich vertrat er die Meinung, Deutschland befinde sich selbst nach Friedensschluss und Währungsstabilisierung in einem fortgesetzten weltwirtschaftlichen Kriegs-

1 Wilhelm Röpke, „Die neue Wirtschaftsstruktur Deutschlands als Grundlage seiner künftigen Handelspolitik“, in: Franz Eulenburg (Hg.), Neue Grundlagen der Handelspolitik. Wissenschaftliche Gutachten, Berlin 1925, 4, 26. 2 Woodruff D. Smith, ‚Weltpolitik‘ und ‚Lebensraum‘, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Das Kaiserreich transnational: Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2006, 29–48. https://doi.org/10.1515/9783110765359-014

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zustand. Und gerade weil der Krieg andauere, müsste die Weimarer Republik eine liberale Handelspolitik einschlagen und sich nicht etwa in Protektionismus und Autarkie flüchten: „Ein Land, das einen Krieg mit den Mächten der Weltwirtschaft zu führen hat und selbst von der Weltwirtschaft abgeschnitten ist, kann diesen Krieg unter keinen Umständen mehr gewinnen.“3 Der Blick in die Steuerungszentralen der deutschen Unternehmen in den Jahren nach dem Versailler Vertrag, der mit dem vorliegenden Sammelband gewagt wurde, lässt die Vorstellung eines fortgesetzten Ausnahme- und Kriegszustands auf den Weltmärkten – jenseits aller zeittypisch martialischen Rhetorik – plausibel erscheinen. Die meisten Unternehmen fühlten sich nach dem Weltkrieg in die Defensive gedrängt und ihre Weltmarktposition hatte sich gegenüber der Vorkriegszeit erheblich verschlechtert, was viele zu offensiven Gegenreaktionen herausforderte. Im Einzelfall ist dabei gar nicht so leicht zu entscheiden, welche Herausforderungen den Unternehmen unmittelbar durch den Versailler Vertrag erwuchsen und welche aus längerfristigen Strukturveränderungen der Weltwirtschaft resultierten, die bereits lange vor dem Ersten Weltkrieg begonnen hatten. Die Vorgeschichte des Kampfes um die Exportmärkte reicht beispielsweise bis ins 19. Jahrhundert zurück, als deutsche Unternehmen durch die britische und amerikanische Expansion in Südamerika, im Pazifik und Ostasien ihre Absatzmärkte zunehmend bedroht sahen.4 Nach dem Ersten Weltkrieg erhielten diese wirtschaftlichen Konflikte um Absatzmärkte aber nun neue Nahrung, zumal der Topos eines fortgesetzten Krieges auch in der Politik angesichts der vielen gewalttätigen Konflikte innerhalb und außerhalb Europas gebräuchlich wurde.5 Die Reaktionen der deutschen Unternehmen auf die Herausforderungen der Nachkriegszeit, die mit diesem Beitrag bilanziert werden soll, waren je nach Branche und Vorgeschichte sehr unterschiedlich. Eine einheitliche Folge des Versailler Vertrages auf die deutsche Wirtschaft ist daher nur schwer auszumachen. Im Gegenteil plädiert der vorliegende Beitrag und letztlich auch der Sammelband für eine Differenzierung der wirtschaftlichen Folgen des Versailler Vertrages, welche von der jeweiligen Branche, den Bedingungen der Vorkriegszeit und schließlich von der konkreten Wettbewerbssituation einzelner Unternehmen abhingen. Deshalb unterscheiden sich auch die Reaktionsweisen der Unternehmen auf die Bestimmungen des Versailler Vertrages und die Herausforderungen der Nachkriegszeit. Erst aus der Kombination der institutionalisierten 3 Röpke, Die neue Wirtschaftsstruktur (wie. Anm. 1), 20. 4 Erik Grimmer-Solem, Learning Empire: Globalization and the German Quest for World Status, 1875–1919, Cambridge 2019, 200 ff. 5 Christoph Cornelißen, Europa im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2020, 135–143.

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formalen Ordnung der Weltwirtschaft und den konkreten Handlungsweisen der Unternehmen resultierte eine Neuordnung der Weltwirtschaft – so soll hier argumentiert werden. „Ordnung“ wird hier also nicht allein auf die vertraglichen Ordnungsversuche bezogen, die in der Zwischenkriegszeit eben häufig unvollständig geblieben oder nicht durchsetzbar gewesen sind,6 sondern auf die tatsächliche Ausprägung der Weltwirtschaft in den 1920er Jahren. Der Beitrag beginnt mit einem Überblick über die weltwirtschaftliche Verflechtung der deutschen Wirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg, der insbesondere die DeGlobalisierungsthese entkräftet. In einem zweiten Schritt wird versucht, die Reaktionsweisen der einzelnen Unternehmen und Branchen, wie sie in den Beiträgen des Sammelbandes geschildert wurden, zu systematisieren. Hierbei wird als wichtiger Akteur der Finanzsektor noch hinzugefügt, der in unserem Sammelband nicht durch einen Einzelbeitrag vertreten ist. Welche ordnungsstiftende Kraft vom Unternehmenshandeln ausgegangen sein könnte oder ob die Nachkriegszeit schlicht die Fortsetzung eines allgemeinen Wirtschaftskrieges gewesen ist, wird abschließend resümiert.

1 Deutschland in der Weltwirtschaft der Nachkriegszeit Die Vorstellung, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ habe zu einem vollkommenen Zusammenbruch der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung geführt und eine Phase der „De-Globalisierung“ ausgelöst, die bis in die 50er Jahre reichte, ist nur auf den ersten Blick plausibel. In jüngerer Zeit ist sie zunehmend differenziert worden, weil sie in vielerlei Hinsicht von den relevanten Daten nicht gedeckt wird.7 Zwar wuchs der Welthandel bis zur Weltwirtschaftskrise etwas langsamer als die globale Produktion; das Handelsvolumen insgesamt hatte sich aber am Ende der 20er Jahre gegenüber 1913 deutlich vergrößert.8 Einige Länder erlebten einen unvergleichlichen Wirtschaftsaufschwung, die USA – be6 Glenda Sluga/Patricia Clavin (Hrsg.), Internationalisms: a twentieth-century history, Cambridge 2017. 7 Die folgende Darstellung orientiert sich an: Jan-Otmar Hesse, Die globale Verflechtung der Weimarer Wirtschaft: De-Globalisierung oder Formwandel?, in: Christoph Cornelißen/Dirk van Laak (Hrsg.), Weimar und die Welt. Globale Verflechtungen der ersten deutschen Republik, Göttingen 2020, 347–377. 8 Vgl. die Darstellung von: Verena Schröter, Die deutsche Industrie auf dem Weltmarkt 1929 bis 1933: aussenwirtschaftliche Strategien unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise, Frankfurt a. M. u. a. 1984, 516.

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kanntermaßen – aber auch Japan, Australien, einige Gebiete in China (z. B. Shanghai) beginnend zum Teil noch während des Krieges. Die Weltwirtschaft war nicht zusammengebrochen, sie hatte sich in erster Linie verlagert, und zwar weg von dem europäischen Zentrum der Vorkriegszeit. Insofern ist die Vorstellung von einer „De-Globalisierung“ nicht zuletzt eine sehr typische Fehlleistung einer eurozentristischen Weltsicht. Gerd Hardach hatte schon in den 70er Jahren wesentlich treffender von einer „Dezentralisierung der Weltwirtschaft“9 gesprochen, in der die dominante Stellung Europas sich auflöste und Wirtschaftsräume in Nordamerika und dem Pazifik hinzukamen. Getroffen war von dieser Entwicklung vor allem das Vereinigte Königreich, die dominante Wirtschaftsnation der Jahrhundertwende, welche insbesondere bei vielen Industrieprodukten die Weltmarktführerschaft an die USA abtreten musste. In der New Yorker Wallstreet war der Londoner City ein ernstzunehmender Konkurrent entstanden.10 In der Textilindustrie war Japan zu einem Konkurrenten herangewachsen.11 Vor allem für die britische Oberschicht dürfte der Einschnitt, den der Weltkrieg darstellte, deutlich spürbar gewesen sein. Nicht umsonst begann John Maynard Keynes sein Traktat über die „wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages“ mit der Schilderung eines englischen Gentlemans, der „seinen Morgentee im Bette trinkend“ mit dem Fernsprecher Güter aus der ganzen Welt ganz einfach bestellen und mit goldkonvertiblen Pfund bezahlen konnte. Allerdings zielte diese Beschwörung der Weltwirtschaft der Vorkriegszeit nicht auf deren Niedergang (der Text stammte von 1919), sondern auf die Ignoranz der englischen Oberschicht, die die effiziente Organisation der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung für den Normalzustand gehalten und nicht begriffen habe, wie empfindlich und politisch voraussetzungsreich sie eigentlich gewesen sei.12 Großbritannien, aber auch Frankreich waren daher in der Zwischenkriegszeit mit dem Erhalt und Ausbau ihres Kolonialreiches beschäftigt – wobei ihnen das Mandatssystem des Völkerbunds deutlich entgegenkam.13 Zusammen mit den Ambitionen der USA und Japans im Pazifik verengten sich durch die politischen Aktivitäten der wichtigsten „Mächte der Weltwirt9 Gerd Hardach, Der Erste Weltkrieg 1914 – 1918, Orig.-Ausg. München 1973, 266. 10 Youssef Cassis, Metropolen des Kapitals: die Geschichte der internationalen Finanzzentren; 1780 – 2005, Hamburg 2007. 11 Takeshi Abe, Organizational Changes in the Japanese Cotton Industry during the Inter-War Period: From Inter-Firm-based Organization to Cross-Sector-based Organization, in: Douglas Farnie/David Jeremy (Hrsg.), The Fibre that changed the World: the Cotton Industry in international Perspective, 1600 – 1990s, Oxford 2004, 461–495. 12 John Maynard Keynes, Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages, München 1920, 6. 13 Glenda Sluga, Remembering 1919: International Organizations and the Future of International Order, in: International Affairs 1 (2019), 30–33.

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schaft“ die wirtschaftlichen Ambitionen deutscher Unternehmen auf den Weltmärkten. Angesichts dieser insbesondere für die Exportwirtschaft überaus schwierigen Rahmenbedingungen ist die rasche Erholung der deutschen Wirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg insgesamt durchaus beachtlich. Trotz der Gebietsabtretungen und allerlei Sanktionen überstieg das inflationsbereinigte deutsche Prokopfeinkommen den Vorkriegswert am Ende der 1920er Jahre.14 Die gesamtwirtschaftliche Exportquote hatte 1928 wieder 15 Prozent erreicht, den gleichen Wert wie 1910.15 In manchen Gütergruppen, zum Beispiel bei industriellen Fertigwaren und Chemieprodukten, erreichten die deutschen Exporte wieder Weltmarktanteile, die denen der Vorkriegsjahre entsprachen. Hierbei half eine günstige Entwicklung der terms of trade während der 20er Jahre.16 Pro Kopf der Bevölkerung des verkleinerten Deutschen Reiches lag schon 1925 der Wert der deutschen Exporte über dem des Jahres 1910.17 Vor allem im Vergleich zu den wichtigsten europäischen Konkurrenten und nicht zuletzt mit Großbritannien zeigte der deutsche Außenhandel bis zur Weltwirtschaftskrise mithin eine geradezu erstaunliche Rekonvaleszenz. Hieraus sollte aber nicht geschlossen werden, dass Weltkrieg und Versailler Vertrag die wirtschaftliche Entwicklung nicht belastet hätten. Das Einkommensniveau der meisten Beschäftigten überstieg erst Ende der 20er Jahre wieder das des Jahres 1914. Insbesondere im internationalen Vergleich fiel der Lebensstandard in der Weimarer Republik weit hinter dem englischer oder amerikanischer Arbeiterfamilien zurück. Die gegenüber der Vorkriegszeit deutlich gerechtere Einkommensverteilung ist eher ein Zeichen des Niedergangs einer wohlhabenden Oberschicht während der Inflationszeit als ein Erfolg der ökonomischen Demokratisierung.18 Der Importbedarf 14 Rainer Metz, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, in: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn 2015, 186–199. 15 Markus Lampe/Nikolaus Wolf, Binnenhandel und Außenhandel, in: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn 2015, 276–291, hier 281. Einige Werte der älteren Literatur weichen allerdings hiervon ab, z. B. Ausfuhr in v. H. des Volkseinkommens nach jeweiligem Gebietsstand 22,1 Prozent (1913) und 16,3 Prozent (1928); Dietmar Petzina/Werner Abelshauser, Zum Problem der relativen Stagnation der deutschen Wirtschaft in den zwanziger Jahren, in: Hans Mommsen u. a. (Hg.), Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, 57–76, hier 71. 16 Schröter, Industrie (wie. Anm. 8), 519; Wolfram Fischer, Die Weimarer Republik unter den weltwirtschaftlichen Bedingungen der Zwischenkriegszeit, in: Hans Mommsen u. a. (Hg.), Industrielles System und Politische Entwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, 26–54. 17 Lampe/Wolf, Binnenhandel, Deutschland in Daten (wie Anm. 15), 282. 18 Charlotte Bartels, Top Incomes in Germany, 1871–2014, in: The Journal of Economic History 3 (2019), 669–707; Andrea Wagner, Die Entwicklung des Lebensstandards in Deutschland zwischen 1920 und 1960, Berlin 2008.

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der deutschen Bevölkerung blieb hoch, zumal Rohstoffvorkommen im Zuge des Versailler Vertrages abgegeben worden waren. Die Handelsbilanz der Weimarer Republik war in den meisten Jahren im Defizit und das konnte durch Leistungsoder Vermögenstransfer auch kaum verringert werden, im Gegensatz zur Situation des Kaiserreichs. Vor dem Krieg konnte das Deutsche Reich seinen Bedarf an Nahrungsmittel- und Rohstoffimporten durch die Gewinne aus ausländischen Kapitalanlagen sowie durch die Einnahmen aus dem Reederei- und Versicherungsgeschäft teilweise ausgleichen.19 Die ausländischen Kapitalanlagen waren nun in großem Stil entweder direkt enteignet worden, hierunter die Unternehmensbeteiligungen und Patentrechte in den USA als der wichtigste Posten.20 Oder sie waren stillschweigend in ausländische Hände übergegangen, von denen einige wohl „Strohmänner“ gewesen sein werden, von den Eigentümern engagierte, als loyal eingeschätzte Geschäftspartner. Die Kapitalgewinne verblieben jedenfalls im Ausland, denn die Repatriierung hätte unter den Bedingungen der Inflation zu unnötigen Vermögensverlusten geführt.21 Die Bedeutung dieser im Ausland geparkten Vermögensbestände, die den deutschen Eigentümern nicht mehr zugeordnet werden konnten, und die Frage, in welchem Umfang oder ob sie überhaupt in der Zwischenkriegszeit repatriiert worden sind, ist bislang noch nicht systematisch erforscht worden – sofern dies überhaupt möglich ist. Auch Einnahmen aus dem Dienstleistungsexport beispielsweise durch Reederei- oder Versicherungsleistungen, waren nach dem Ersten Weltkrieg erheblich zusammengeschmolzen.22 Die Struktur der deutschen Leistungsbilanz war damit während der gesamten Weimarer Zeit prekär, was den Exportdruck ganz unabhängig von den Reparationsforderungen gegenüber der Vorkriegszeit sehr viel größer werden ließ. Die Reichsregierung erkannte dies früh und trug der neuen Situation mit einer vielfältigen Institutionenstruktur zur Exportförderung Rechnung. Die 1917 gegründete Hermes-Kreditversicherung AG ist dabei nur ein prominentes Förderinstrument innerhalb einer konzertierten politischen Kampagne, die von diplomatischen Kanälen, der an die „handelspolitische Abteilung“ des Kaiserreiches anschließende Gründung der „Außenhandelsstelle“ im Auswärtigen Amt 1919 bis hin zur Gründung der Nachrichtenagentur „Eildienst“ reichte, die von 19 Cornelius Torp, Die Herausforderung der Globalisierung: Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914, Göttingen 2005, 72. 20 Siehe den Beitrag von Joachim Scholtyseck in diesem Band. 21 Christina Lubinski/Geoffrey Jones, Managing Political Risk in Global Business: Beiersdorf 1914–1990, in: Enterprise and Society 1 (2012), 85–119. 22 Hartmut Rübner, Konzentration und Krise der deutschen Schiffahrt. Maritime Wirtschaft und Politik im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Bremen 2005; Johannes Bähr, Munich Re: die Geschichte der Münchener Rück; 1880 – 1980, München 2015.

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Ludwig Roselius und Alfred Hugenberg finanziert und von der Reichspost betrieben wurde. Die Nachrichtenagentur hatte unmittelbar die Zielsetzung, die Auslandsberichterstattung über deutsche Exportgüter günstig zu beeinflussen.23 Wie systematisch Industrielle und Politiker gemeinsam nach ausländischen Absatzmärkten für die deutschen Produkte suchten, lässt sich auch in der Geschichte der Leipziger Messe zeigen, dem wichtigsten Knotenpunkt für die Ostund Südosteuropäischen Märkte.24 Angesichts einer trotz Einkommensumverteilung und Lohnerhöhungen vergleichsweise schwachen inländischen Konsumnachfrage waren viele deutsche Unternehmen nachgerade gezwungen, sich auf Absatzmärkten in der gesamten Welt mit der vormals übermächtigen britischen, oder der amerikanischen und französischen Konkurrenz anzulegen. Und sie taten dies teilweise sehr erfolgreich: Der Auslandsanteil des Umsatzes betrug bei einigen Vorzeigeunternehmen wie Bosch, der Gutehoffnungshütte oder Beiersdorf am Ende der 20er Jahre zwischen 36 bis 43 Prozent.25

2 Strategien deutscher Unternehmen nach Versailles Für alle hier untersuchten Unternehmen – und für viele, die in der Literatur bislang beschrieben worden sind – stellten der Krieg, das Kriegsende und nicht zuletzt der Versailler Vertrag einschneidende Ereignisse in der Unternehmensentwicklung dar, auf die sie mit fundamentalen Strategieänderungen reagierten. Nicht immer ist deutlich, ob es sich hierbei um temporäre „Verzweiflungstaten“ handelte, wenn beispielsweise vollkommen neue Märkte oder Produkte angesteuert wurden, von denen die Unternehmen nach der Währungsstabilisierung wieder Abstand nahmen. In diesem Abschnitt soll gleichwohl der Versuch unternommen werden, die Ähnlichkeiten in den Reaktionsweisen der Unternehmen zu bilanzieren. Fünf strategische Reaktionsweisen scheinen für viele Unternehmen gleichermaßen prägend gewesen zu sein. Sie werden im Folgenden be-

23 Heidi Tworek, News from Germany: the competition to control world communications, 1900– 1945, Cambridge 2019, 101; Helmut Bethge, 75 Jahre Hermes Kreditversicherungs-AG: 1917–1992, München 1992. 24 Stephen Gross, Export Empire: German Soft Power in Southeastern Europe, 1890–1945, Cambridge 2015. 25 Jan-Otmar Hesse/Christian Marx, The Overstretched Economy: Industry and Services, in: Nadine Rossol/Benjamin Ziemann (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Weimar Republic, Oxford 2021, 9.

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schrieben, wobei ich mich, sofern keine anderen Referenzen gemacht werden, auf die jeweiligen Beiträge zu diesem Sammelband beziehe.

Engere Kooperation mit dem Staat, insbesondere durch die Frage der Entschädigungen Der Versailler Vertrag enthielt umfangreiche Bestimmungen über Entschädigungsleistungen, die das Deutsche Reich den inländischen Unternehmen für kriegsbedingte Vermögensverluste und Reparationssachleistungen zu zahlen hatte. Die Alliierten hatten auf diese Weise sichergestellt, dass sie von möglichen privatrechtlichen Kompensationsforderung deutscher Unternehmen freigestellt wurden. Das betraf zunächst natürlich die Verluste von ausländischem Privateigentum durch Gebietsverluste, Beschlagnahmen usw., aber auf der anderen Seite auch Erstattung für Sachleitungen, die im Rahmen der Reparationen vom Deutschen Reich an die Alliierten geleistet werden mussten, die aber tatsächlich aus privatwirtschaftlicher Produktion stammten: Die Kohlelieferungen des Ruhrbergbaus und die Schiffe der hanseatischen Handelsflotten und der Rheinflotte beispielsweise. Die Belastung des Reichshaushalts hielt sich zunächst in Grenzen, weil die Entschädigungen über Papiergeldinflation bezahlt wurden und die Unternehmen umgekehrt die Entschädigungszahlungen so schnell wie möglich in Sachkapital umzuwandeln versuchten, wodurch beispielsweise der Schiffsbau eine beispiellose Konjunktur erfuhr. Möglicherweise profitierten einige Reedereien sogar von der umfassenden technischen Innovation ihrer Flotte. Andere Unternehmen – die Chemieindustrie oder auch der Steinkohlebergbau konnte mit den staatlichen Entschädigungszahlungen und den Lieferungen in den sonst versperrten Absatzmärkten in Frankreich, Belgien und England ihren Umsatz stabilisieren oder gar ausbauen. Bei der Gutehoffnungshütte bildeten die Entschädigungen, so Christian Marx in seinem Beitrag, den „Grundstock für die anschließende Expansion“. Tatsächlich ist bis heute überhaupt nicht klar, welche Gesamthöhe die zahlreichen Entschädigungsforderungen hatten,26 zumal die Feststellung des Entschädigungsvolumens durch die politischen Auseinandersetzungen um die Höhe der Reparationsforderungen erschwert wird. Allein die Entschädigungen für den Verlust von ausländischen Vermögenswerten wurden von der deutschen Regierung im August 1924 mit insgesamt 10 Mrd. Goldmark beziffert, von 26 Dirk Hainbuch, Das Reichsministerium für Wiederaufbau 1919 bis 1924: die Abwicklung des Ersten Weltkrieges: Reparationen, Kriegsschäden-Beseitigung, Opferentschädigung und der Wiederaufbau der deutschen Handelsflotte, Frankfurt a. M. 2016.

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der alliierten Reparationskommission dagegen mit 13 Mio. Goldmark.27 Entschädigungszahlungen wurden aber auch nach der Währungsstabilisierung von betroffenen Unternehmen mit der Reichsregierung ausgehandelt und gezahlt (z. B. an Krupp) genauso wie Reparationssachleistungen noch nach 1924 ein Instrument für die Aushandlungen von Lieferungen gewesen sind (z. B. von Siemens an Frankreich). Welche Entschädigungszahlungen insgesamt geleistet worden sind, ist daher weiterhin unklar. Aber nicht nur die Höhe der Entschädigungen ist für die Bewertung der Nachkriegszeit von Bedeutung, sondern auch die Rolle der Entschädigungsverhandlungen zwischen Staat und Unternehmen. Während viele Unternehmen die Weimarer Regierungen kritisch sahen und einige den neuen Staat direkt bekämpften, waren jedenfalls einige wenige Unternehmen in der Entschädigungsfrage auf den Staat angewiesen. In welcher Weise das die Sichtweise der Unternehmen beeinflusst hat und möglicherweise auch zu einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Staat und Wirtschaft geführt hat, sind derzeit noch offene Forschungsfragen. Die Ausweitung der Staatstätigkeit in der Zwischenkriegszeit wurde in der wirtschaftshistorischen Forschung umfassend erforscht. Hierbei ging es aber um die Ausweitung des Wohlfahrtsstaates oder die öffentliche Wirtschaft.28 Mit Entschädigungsverhandlungen und anderen vertragsbezogenen Verbindungen könnten einige Unternehmen selbst zu der Verschiebung des Verhältnisses zwischen Staat und Wirtschaft und damit zu einem wichtigen Aspekt der „Neuordnung“ der Wirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg beigetragen haben.

Rationalisierung und Organisationsreformen Das Kriegsende und der Versailler Vertrag hatten für viele Unternehmen lange praktizierte Geschäftsmodelle gleichsam über Nacht aufgelöst. Das betraf in erster Linie alle Unternehmen der Schwerindustrie, die in enger Verflechtung mit Unternehmensteilen in den Territorien produzierten, die nun an die Siegermächte fielen: im Saarland, im Elsass und in Lothringen sowie in Oberschlesien. Im Saarland fand bis auf die Röchling-Unternehmen faktisch ein vollständiger Eigentümerwechsel statt, der auch die Integration der Saarindustrie in die 27 Carl-Ludwig Holtfrerich, Die deutsche Inflation 1914–1923: Ursachen und Folgen in internationaler Perspektive, Berlin 1980, 145. 28 Gerold Ambrosius, Der Staat als Unternehmer. Öffentliche Wirtschaft und Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert, Göttingen 1984; Gerold Ambrosius, Die öffentliche Wirtschaft in der Weimarer Republik: kommunale Versorgungsunternehmen als Instrumente der Wirtschaftspolitik, Baden-Baden 1984; Werner Abelshauser (Hg.), Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat: zum Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Industriegesellschaft, Stuttgart 1987.

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reichsdeutsche Weiterverarbeitung nachhaltig veränderte.29 Neben der Saarindustrie hatte auch die Ruhrindustrie stark in den Erzbergbau in Lothringen investiert und verlor die dortigen Werke. In Oberschlesien verlief die Grenze zu Polen und der Tschechoslowakei quer durch die etablierten arbeitsteiligen Produktionsbetriebe. Bei den Rumpfbetrieben der durch die Weltkriegsfolgen geteilten Unternehmen ist eine klare Identifikation der „deutschen“ Unternehmen dabei gar nicht so einfach, zumal wenn deutsche Eigentümer durch die Gründung von Holdinggesellschaften in der Schweiz oder in den Niederlanden ihre nationale Identität zu verschleiern wussten. Tatsache ist aber, dass die betroffenen Unternehmen durch den Versailler Vertrag zu einer umfassenden Neuorganisation ihrer Produktionsprozesse gezwungen waren. Das betraf insbesondere die Versorgung der Stahlindustrie mit Eisenerz, da die Gebietsabtretungen 75 Prozent der vormals inländischen Förderung betrafen, die nun an französische, polnische, tschechische Hüttenbetriebe geliefert wurden. Große Unternehmen, wie die GHH, waren also wesentlich stärker als vor dem Krieg auf den Import von Erzen aus Spanien und Schweden angewiesen bzw. auf die Einfuhr von Roheisen und hatten ihre Unternehmensstrukturen entsprechend umzuorganisieren. Zugleich sicherten sich diese Unternehmer Erzfelder beispielsweise in der Region um Salzgitter oder in der Oberpfalz, die bislang aus Kostengesichtspunkten nicht erschlossen worden waren. Auch die Steinkohle – in der deutschen Industrialisierung eigentlich im Überfluss vorhanden – wurde nach Kriegsende für mehrere Jahre knapp, was allerdings nicht an den Gebietsabtretungen lag und auch nicht so sehr an den Reparationslieferungen, die – das beschreibt Dieter Ziegler – kaum mehr als 10 Prozent der jährlichen Förderung beanspruchte. Vielmehr war die deutliche Reduktion der Arbeitsproduktivität der Grund für geringere Förderleistungen, so dass die direkten Folgen des Versailler Vertrages für den Steinkohlebergbau, trotz des Verlustes von 25 Prozent der Vorkommen als weniger gravierend einzuschätzen sind als die Folgen der Nachkriegszeit mit Revolution, Arbeitskämpfen und französischer Besatzungszeit an der Ruhr. Beides, die „Kohlennot“ und die Eisenknappheit, brachte die Unternehmen mit dem Zugriff auf eigene Kohle- oder Erzressourcen in eine relative Machtposition innerhalb der deutschen Industrie. Die GHH nutzte diese Position zu einer beispiellosen Expansion in der Inflationszeit und verfolgte dabei konsequent die Strategie der Vorwärtsintegration in die Weiterverarbeitung, indem insbesondere die südwestdeutsche Maschinenbauindustrie umworben wurde, die 29 Ralf Banken, Von der perfekten Anpassung zum verpassten Strukturwandel. Der Montansektor an der Saar und seine Entwicklung 1914 bis 1960. Ein kurzer Überblick, in: Hans-Christian Herrmann (Hg.), Die Strukturkrise an der Saar und ihr langer Schatten. Bilanz und Perspektiven von Montanregionen im europäischen Vergleich, St. Ingbert 2020, 55–80, hier 65.

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traditionell stärker von der Saarindustrie beliefert worden war, deren Exporte trotz der vertragsgemäß zollfreien Lieferung in das Reichsgebiet zurückgingen. Die Übernahme der Maschinenfabrik Augsburg Nürnberg und der Maschinenfabrik Esslingen stellte einen regelrechten Coup in der deutschen Unternehmensgeschichte dar. Die Kohlennot betraf nicht nur die Eisen- und Stahlerzeugung und die Reichsbahn, sondern auch Teile der modernen Chemieindustrie, die beschleunigt durch die Kriegszeit einige Produktionsbetriebe auf die Synthese von Steinkohle umgestellt hatte. Jetzt hatten diejenigen Unternehmen einen Vorteil, die sich wie Bayer rechtzeitig eine Kohlegrube gesichert hatten. Bei diesen organisatorischen Reaktionen in einigen großen Unternehmen handelte es sich freilich um bereits in der Vorkriegszeit angelegte Strategien, die durch den Krieg und den Versailler Vertrag lediglich verstärkt und beschleunigt wurden. Hinzu kamen breit angelegte Versuche der Kosteneinsparung, die sowohl zur Steigerung der Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten dienen sollte, als auch mit den großen Lohnzuwächsen begründet wurde. Die „Rationalisierungsbewegung“ spielte vor diesem Hintergrund eine Rolle und weckte zugleich den Optimismus der deutschen Ingenieure in der Zwischenkriegszeit, wie Sorgen in Teilen der Arbeiterbewegung.30 Die „vertikale Integration“, also die Integration von Erz- und Kohlezechen bzw. von Handelsunternehmen bis hin zum Aufbau eigener Werften und Reedereien, die dann ihrerseits als interne Absatzmärkte und zu Logistikzwecken genutzt wurden, gehörte zu dieser Strategie der Organisationsreform und kennzeichnete letztlich die gesamte deutsche Schwerindustrie in den 20er Jahren.

Nationale und internationale Kartellierung Die Kartellierung war letztlich die formal-juristische Institutionenstruktur, mit der die Restrukturierung der deutschen Wirtschaft voranschritt. Wie die Rationalisierung und die „vertikale Integration“ handelt es sich nicht um eine substanziell neue Tendenz, die durch den Weltkrieg und den Versailler Vertrag in der deutschen Wirtschaft erst ausgelöst worden wäre. Allerdings kann von einer Beschleunigung dieser Tendenz ausgegangen werden. Das zeigen zunächst unmittelbar die großen Industriekartelle in der Eisen- und Stahlindustrie und der Chemieindustrie, die Vereinigten Stahlwerke und die IG Farbenindustrie. Beide gingen auf ältere Pläne zurück, die noch aus der Vorkriegszeit stammten und sie hatten auch sehr unterschiedliche Ziele: die Reduktion der Produktionska30 Christian Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie: die Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebiets zwischen Jahrhundertwende und Weltwirtschaftskrise, Essen 1993.

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pazität im Fall der Stahlindustrie und die Integration der Forschungsanstrengungen im Fall der Chemieindustrie. Beide gleichsam legendären Kartelle lassen sich aber auch als eine Offensivstrategie der beteiligten deutschen Unternehmen im Kampf um Weltmarktanteile interpretieren. Zusammen vielleicht mit dem 1923 reaktivierten Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikat stellen sie die Spitze eines Eisbergs dar, der zahlreiche kleinere Kartellvereinbarungen in unzähligen Industriebereichen umfasste und damit die ohnehin „kartellfreundliche“ deutsche Wirtschaft noch weiter mit einem Geflecht aus Absprachen und Umgehung von Marktpreisbildung durchzog.31 Gegenüber der Vorkriegszeit wurden nun Absprachen noch wichtiger, die die Weltmarktstellung der deutschen Unternehmen betrafen. Das sogenannte AVI-Abkommen („Arbeitsgemeinschaft der Eisen verarbeitenden Industrie“) von 1925 ist in diesem Zusammenhang diskutiert worden. Da durch die Kartellierung der Stahlindustrie die inländischen Stahlpreise stiegen, was zu höheren Kosten für die weiterverarbeitende Industrie geführt hätte, einigten sich die beiden Bereiche auf eine Entschädigung, so dass die industriellen Fertiggüter der Stahlverarbeitung weiterhin zu Weltmarktpreisen im Ausland angeboten werden konnten.32 In den Branchen, die auf den Weltmärkten aufgrund ihrer technologischen Überlegenheit einflussreicher waren, ließen sich sogar direkte Absprachen mit den ausländischen Konkurrenten durchsetzen. Das Duisberg-Frossard-Abkommen erlaubte seit 1919 der französischen Chemieindustrie den Verkauf deutscher synthetischer Farbstoffe gegen eine Lizenzgebühr bevor es 1924 aufgekündigt wurde. AEG und Siemens vereinbarten eine Marktaufteilung mit ihren jeweiligen amerikanischen Hauptkonkurrenten, General Electric und Westinghouse, durch die sie sich in Mitteleuropa der amerikanischen Konkurrenz entledigen konnten. Die Schifffahrtsrouten sowohl für die Passagierschifffahrt als auch den Gütertransport waren insbesondere über den Atlantik ohnehin vollständig durch Absprachen determiniert, an denen die deutschen Reedereien seit Mitte der 20er Jahre auch wieder beteiligt waren. Auch in der Vorkriegszeit hatte es solche Absprachen gegeben, die häufig nur für wenige Jahre stabile Verhältnisse herbeiführten. Es ist allerdings die Meinung vertreten worden – und insbesondere die Beispiele aus der exportorientierten deutschen Industrie unterstützen dies – dass diese Art von Marktabsprachen in der Zwischenkriegszeit an Zahl und Bedeutung zugenommen hatten.33 31 Eva-Maria Roelevink, Organisierte Intransparenz: das Kohlensyndikat und der niederländische Markt, 1915–1932, München 2015. 32 Alfred Reckendrees, Das „Stahltrust“-Projekt: die Gründung der Vereinigte Stahlwerke AG und ihre Unternehmensentwicklung 1926–1933/34, München 2000, 130–135. 33 Harm G. Schröter, Kartellierung und Dekartellierung 1890–1990, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 4 (1994), 457–493; Peter E. Fäßler: Internationale Kartelle

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Verstärkung des Auslandsgeschäfts Was auf jeden Fall als eine universelle Strategie der deutschen Unternehmen in der Folge von Versailles identifiziert werden konnte ist der Ausbau des Exportgeschäftes, der faktisch in allen Branchen und Unternehmen angestrebt wurde. Der Währungsverfall bis 1923, der zugleich wie ein Importschutz für den Inlandsmarkt fungierte, wirkte dabei ebenso verstärkend wie die krisenbedingt zusammenbrechende Inlandsnachfrage. Auf dem Höhepunkt des Exportbooms der Inflationsjahre kamen die Siemens-Schuckert-Werke auf einen Exportanteil von 66 Prozent des inflationsbereinigten Umsatzes – so berichtet Johannes Bähr – freilich bei insgesamt gegenüber der Vorkriegszeit geschrumpften Umsätzen. Auch Bosch konnte den Auslandsabsatz unter widrigen Umständen allmählich steigern, die 88 Prozent Auslandsanteil am Umsatz der Vorkriegszeit natürlich aber nicht mehr erreichen. Wie der Elektroindustrie gelang auch der Chemieindustrie größtenteils eine rasche und erfolgreiche Rückkehr auf viele Auslandsmärkte, wobei es freilich zu einigen geographischen Akzentverschiebungen des Absatzes gekommen war.34 Bei der Jagd auf Auslandsmärkte, die nicht von der französischen, britischen oder amerikanischen Konkurrenz mit der kolonialpolitischen Rückendeckung der jeweiligen Regierungen beinahe uneinnehmbar besetzt waren, konzentrierten sich die deutschen Exportunternehmen auf Südamerika und Osteuropa inklusive der Sowjetunion. Neben dem Güterexport versuchten die deutschen Unternehmen auch ihre Kapitalanlagen im Ausland wieder zu verstärkten, durch Beteiligung an ausländischen Unternehmen oder Neugründungen. In den USA waren viele deutsche Unternehmen hierzu regelrecht gezwungen, weil die vor dem Krieg gegründeten amerikanischen Tochterunternehmen beispielsweise von Bayer, Beiersdorf, Bosch und Merck dort enteignet worden waren.35 Häufig war die Zollpolitik in der Zwischenzeit so gestaltet worden, während der Deglobalisierung 1918–1939, in: Rolf Walter (Hg.), Globalisierung in der Geschichte. Erträge der 23. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 18. bis 21. März 2009 in Kiel, Stuttgart 2011, 233–251. 34 Patrick Kleedehn, Die Rückkehr auf den Weltmarkt. Die Internationalisierung der Bayer AG Leverkusen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahre 1961, Stuttgart 2007; Frank J. Nellißen, Das Mannesmann-Engagement in Brasilien von 1892–1995: Evolutionspfade internationaler Unternehmenstätigkeit aus wirtschaftshistorischer Sicht, München 1998; Robert Jasper, Die regionalen Strukturwandlungen des deutschen Außenhandels von 1880 bis 1938, Berlin 1996; Bernd Höpfner, Der deutsche Aussenhandel: 1900–1945; Änderungen in der Waren- und Regionalstruktur, Frankfurt a. M. 1993. 35 Joachim Scholtyseck u. a., Merck: von der Apotheke zum Weltkonzern, München 2018; Alfred Reckendrees, Beiersdorf: the company behind the brands Nivea, tesa, Hansaplast & Co, München 2018.

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dass eine ausländische Produktionsstätte dem Export vorzuziehen war. Nina Kleinöder beschreibt zudem die zahlreichen Beispiele, in denen deutsche Unternehmen wie Hochtief und wiederum die Gutehoffnungshütte noch aus der Vorkriegszeit Verbindungen mit Eisenbahnbauprojekten in afrikanischen Kolonialgebieten hatten und diese Geschäftsbeziehungen in veränderter juristischer Organisationweise auch nach Versailles fortgesetzt wurden. Zahlreiche Unternehmen waren an Handelsgesellschaften in den Niederlanden beteiligt, die als neutrale und daher „unverdächtige“ Zwischenhändler für deutsche Produkte im Ausland auftraten. Die Gutehoffnungshütte wickelte ihr Auslandsgeschäft zum Teil über die Ferrostaal in den Niederlanden ab; die Nedinsco war eine 1921 zur Fortsetzung der Rüstungsgeschäfte von Carl Zeiss in den Niederlanden gegründete Handelsgesellschaft.36 Weil die Exportorientierung für die deutschen Unternehmen einerseits noch viel dringender geworden war als vor dem Krieg, aber andererseits unter der verschärften Weltmarktkonkurrenz und größeren handelspolitischen Hürden zugleich viel schwieriger, fanden viele dieser Aktivitäten auf verschlungenen Pfaden statt, die letztlich nur durch archivbasierte unternehmenshistorische Forschung überhaupt entdeckt werden kann. Teilweise ist hierzu regelrecht kriminologisches Gespür notwendig. Eine Bilanz dieser vielfältigen Aktivitäten steht indes noch aus.

Neugestaltung der Finanzmarktbeziehungen Gegenüber der relativ gut eingespielten Beziehung von Industrie und Bankensystem des Kaiserreiches erzwang der Versailler Vertrag ebenfalls zahlreiche Veränderungen, die in diesem Sammelband nicht systematisch dargestellt worden sind. Zwar gab es keine „Bankenentflechtung“ wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber auch die deutschen Finanzinstitute waren von der Neuordnung der Weltwirtschaft nach Versailles betroffen. Unmittelbar betroffen waren die Versicherungsunternehmen, die ihre Prämienansprüche im Auslandsgeschäft durch die Kriegsgesetzgebung verloren hatten – einige dieser Ansprüche wurden später entschädigt, beispielsweise die amerikanischen Ansprüche der Münchener Rückversicherung.37 Die meisten Banken waren dagegen durch ihre Industrieverflechtung von den Regelungen des Versailler Vertrages betroffen, als Finan-

36 Christian Marx, Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte. Leitung eines deutschen Großunternehmens, Göttingen 2013, 172; Johannes Bähr, Selbstbehauptung, Anpassung und Wandel. Die Carl-Zeiss-Stiftung und die Stiftungsbetriebe im „Dritten Reich“, in: Werner Plumpe (Hg.), Eine Vision, zwei Unternehmen. 125 Jahre Carl-Zeiss-Stiftung, München 2014, 147–193, hier 168. 37 Bähr, Munich Re (wie Anm. 22).

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ziers des Auslandsgeschäfts. Die Deutsche Bank beispielsweise war in den 1870er Jahren genau zu diesem Zweck gegründet worden. Jetzt verlor sie nicht nur ihre ausländischen Filialen, sofern diese nicht im neutralen Ausland lagen, sondern viele wichtige Auslandsbeteiligungen, darunter die Bagdad-Bahn in der Türkei und dem Irak, die Deutsch-Überseeische Electricitätsgesellschaft (DEUG) in Südamerika und die Deutsche Petroleum AG in Rumänien. Die Beteiligungen an diesen Unternehmen wurden verkauft und nicht immer so lukrativ an einen Schweizer Investor wie im Fall des Erdölgeschäfts.38 Danat-Bank und Dresdner Bank hatten gemeinsam die Deutsch-Südamerikanische Bank in Berlin gegründet, die mit sieben Filialen in Südamerika insbesondere Rohstoffexporte von dort nach Deutschland finanzierte.39 Viele dieser Investitionen waren durch Bestimmungen des Versailler Vertrages verloren. Die Stellung der Auslandsbanken selbst war teilweise ungeklärt, Vermögen bei Kriegsende eingefroren. Zugleich entstand den deutschen Banken durch die verstärkte Auslandsaktivität der deutschen Unternehmen aber ein Geschäftsfeld, das beispielsweise von der Commerzbank vor dem Krieg gar nicht bedient wurde. Viele Unternehmen versuchten Kapitalvermögen zum Schutz vor der inländischen Geldentwertung ins neutrale Ausland zu bringen und von dort aus zugleich ausländische Expansionspläne zu finanzieren. Das „Fluchtkapital“ floss vor allem nach Zürich und nach Amsterdam.40 Zwischen 1919 und 1926 wurden hier gut 50 Banken von deutschen Privat- und Großbanken neu gegründet, vereinzelt auch von Industriellen beispielsweise von Fritz Thyssen. Während einige Unternehmen in der Inflationszeit bei den zahlreichen notwendigen Kapitalerhöhungen die Einflussnahme von amerikanischen Großbanken abwehren mussten – selbst der Siemens-Konzern wurde dabei zum Objekt der Begierde eines J. P. Morgan – sammelte sich im Ausland deutsches „Fluchtkapital“. Dieses Geschäft florierte bis 1924. Danach hatten sich die Auslandsinstitute der deutschen Banken aber so fest etabliert, dass sie sehr lukrativ weiter betrieben wurden. Am Bankhaus Hugo Kaufmann & Co. war die Berliner Commerzbank vermutlich seit 1921 mehrheitlich beteiligt. Über die Amsterdamer Tochter wickelte das deutsche Bankhaus Devisengeschäfte und Aktienspekulationsgeschäfte ab. Außerdem wurden auf diesem Wege Auslandsanleihen von deutschen Unternehmen platziert, bei-

38 Alexander Nützenadel, Zwischen Staat und Markt. 1914–1989, in: Werner Plumpe u. a., Deutsche Bank: Die globale Hausbank 1870–2020, München 2020, 234-527, hier 236–250. 39 Johannes Bähr, Zwischen zwei Kontinenten. Hundert Jahre Dresdner Bank Lateinamerika, vormals Deutsch-Südamerikanische Bank, Frankfurt a. M. 2007, 33. 40 Cassis, Metropolen (wie Anm. 10), 258–265.

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spielsweise die Beteiligung an einer Dollaranleihe für die Deutsche Reichsbahn und den Ruhrverband 1929.41 „Nichts ist doch internationaler als das Kapital. Es kennt keine Grenzen und ist beständig im Fluss“ so konstatierte ein leitender Mitarbeiter des Berliner Hauptsitzes der Commerzbank eine verstärkte Internationalisierung seines Unternehmens. „Eine Grossbank aber darf m. E. nicht warten, bis die Wellen, die solche Strömungen hervorrufen, das Schiff erreichen, und dann das Steuer umstellen. Eine Grossbank muss allen solchen wichtigen Strömungen, ganz gleich, wo sie einsetzen, nachgehen bis zum Entstehungspunkt; ja mehr als das: Sie muss so eingestellt sein, dass sie aus sich selbst heraus sofort Kenntnis davon bekommt, dass sie quasi fühlt, wenn irgendwo – und wäre es auch noch so weit draussen – eine solche wichtige Strömung im Entstehen begriffen ist.“42 Welche „wichtigen Strömungen“ er genau im Blick hatte, lässt sich nur vermuten. Die Zwischenkriegszeit ist jedenfalls auch die Geburtsstunde der offshore-economy mit dem Schweizer Bankgeheimnis und dem Gesetz über die Holdinggesellschaft 1929 in Luxemburg, die die internationalen Finanzmärkte noch vor der Weltwirtschaftskrise erheblich veränderte.43 Das alles waren keine unmittelbaren Folgen des Versailler Vertrages. Es soll auch nicht unterschlagen werden, dass gerade in Bezug auf die Finanzmärkte unmittelbar mit dem Kriegsende weitreichend Aktivitäten von internationalen Experten, Regierungen, Politikern und Bankiers einsetzten, um die auf dem Goldstandard beruhende Weltwährungsordnung der Vorkriegszeit wieder aufzubauen, was schließlich in der instabilen Form des auf der Konferenz von Genua gefundenen „Gold-Devisenstandards“ gelang, der die Voraussetzung für die vermeintliche Stabilität der „Goldenen Zwanziger Jahre“ darstellte. All diese Aktivitäten gingen mit einer erheblichen Bedeutungszunahme der internationalen und transnationalen Koordination zwischen Zentralbanken und privatwirtschaftlichen Banken einher.44 Wie sehr aber gerade diese „Ordnung“ durch das Handeln von großen 41 Christoph Kreuzmüller, Händler und Handlungsgehilfen. Der Finanzplatz Amsterdam und die deutschen Großbanken (1918–1945), Wiesbaden 2005, 78. 42 Lehn, Anhang zu einem Schreiben an Direktor Konrad Klinge, 24.11.1923, in: Historisches Archiv der Commerzbank Frankfurt, HAC-1/489. Ich danke Dr. Detlef Krause, dem Leiter des Archivs, für den Hinweis auf diese Quelle. 43 Ronen Palan, The offshore world: sovereign markets, virtual places, and nomad millionaires, Ithaca, NY 2003; Vanessa Ogle, Archipelago Capitalism: Tax Havens, Offshore Money, and the State, 1950s–1970s, in: The American Historical Review 5 (2017), 1431–1458. 44 Siehe die klassische Studie von: Barry J. Eichengreen, Golden fetters the gold standard and the great depression, 1919–1939 New York 1992; aber auch jüngst: Barry Eichengreen, Versailles: The Economic Legacy, in: International Affairs 1 (2019), 7–24; Liaquat Ahamed, Die Herren des Geldes: wie vier Bankiers die Weltwirtschaftskrise auslösten und die Welt in den Bankrott trieben, München 2010.

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multinationalen Unternehmen und Banken geprägt worden ist und welche Bedeutung in diesem Prozess die deutschen Unternehmen und Banken spielten, ist weiterhin eine offene Frage. Die vom Einzelfall ausgehende unternehmenshistorische Forschung zu den Strategien im Zeitraum zwischen Versailles und Dawes-Plan könnte hierzu einen verdienstvollen Beitrag liefern.

3 Deutsche Unternehmen und die Neuordnung der Weltwirtschaft Es gehört zur Tragik des Endes des Ersten Weltkrieges, dass die Völkergemeinschaft sich nach dessen Ende nicht auf eine einheitliche politische und wirtschaftliche Ordnung einigen konnte, die die Nachkriegszeit politisch und wirtschaftlich stabilisiert hätte. Die Gründe hierfür sind seit langem hitzig diskutiert worden, eine Debatte, die hier nicht wiederholt werden muss. Der sich dabei zuletzt abzeichnende Konsens, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten von unvorsichtigen Experten wie John M. Keynes hysterisch übertrieben und von verantwortungslosen Politikern bewusst radikalisiert worden seien,45 können sich die meisten Wirtschaftshistorikerinnen und Wirtschaftshistoriker wohl nicht anschließen: Der Versailler Vertrag stellte eine deutliche Belastung der weltwirtschaftlichen Erholungsprozesse nach dem Ersten Weltkrieg dar und führte zu strategischen Reaktionen nicht nur in der Wirtschaftspolitik der beteiligten Länder, sondern insbesondere auch in den Unternehmenszentralen, die neues ökonomisches Konfliktpotential hervorbringen mussten. Dies war auch dort der Fall, wo Revanche oder gar Rache nicht der wesentliche Antrieb gewesen sein dürfte – auch wenn es solche Haltungen zweifellos gegeben hat. Erst unter Berücksichtigung dieser strategischen Reaktionen von Unternehmen – der deutschen, die in diesem Sammelband vornehmlich behandelt wurden, aber auch der hier weniger berücksichtigten ausländischen,46 die im Fall der luxemburgischen Unternehmen, wie Charles Bartels gezeigt hat, eng auf einer Mikroebene mit der deutschen Wirtschaft verflochten waren – können wir zu einer Beschreibung der „Neuordnung der Weltwirtschaft“ kommen, die nicht als eine Art internationaler Wirtschaftsverfassung anzusehen ist, sondern als 45 Am prominentesten vertritt diese Meinung wohl: J. Adam Tooze, Sintflut: Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015, 365. Siehe hierzu auch die Einleitung von Dieter Ziegler in diesem Band, sowie: Ralf Bollmann, Deutschland litt nicht am meisten unter Versailles, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (15. Januar 2019). 46 Hierzu siehe auch: Andrew Smith u. a. (Hrsg.), The impact of the First World War on international business, New York 2017.

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eine Einheit aus Regulierung und unternehmerischer Praxis. Natürlich hing das Unternehmenshandeln auch von den weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen ab – dem englischen Kolonialimperialismus, dem französischen Währungsdumping, der amerikanischen Expansion im Pazifik und dem Ausbleiben der Ratifikation des Versailler Vertrages, dem Aufstieg Japans als Wirtschaftsmacht – zumal die Verflechtung in die Wirtschaft ja größer und bedeutungsvoller geworden war. Aber gerade in der turbulenten Phase vor 1924 waren diese Rahmenbedingungen eben nicht zuletzt durch das konkrete Unternehmenshandeln hervorgebracht und geprägt worden, hierunter auch viele deutsche Unternehmen. Wie sah diese Praxis in deutschen Unternehmen aus? Jedenfalls nicht per se aggressiv-imperialistisch, so wird man schlussfolgern können. Die deutschen Unternehmen strebten vehement nach einer Rückgewinnung ihrer Weltmarktanteile, aber nicht mit deutschtümelnden Absichten oder gar zur Niederringung der Konkurrenz, sondern zwangsläufig defensiv und motiviert durch den Eindruck, ohne den Auslandsabsatz würden ihre Unternehmen nicht überlebensfähig sein. Unternehmensexpansion zielte zunächst vor allem auf die inländischen Konkurrenten, wie beispielsweise im Fall der GHH aber auch im StinnesKonzern. Die Rückkehr auf die ausländischen Absatzmärkte war dagegen zumeist kooperativ und im Geist internationaler Kartell- und Marktabsprachen, in den USA und selbst in Frankreich. Allerdings gibt es auch Anzeichen dafür, dass unter der Oberfläche der Kooperation und des fairen Wettbewerbs unlautere Methoden und die Versuche der Marktbeherrschung an Feindseligkeit zunahmen. Ein Hinweis hierauf bilden die Klagen über Industriespionage, die die chemische Industrie sogar veranlasste, einen Gesetzentwurf gegen den „wirtschaftlichen Landesverrat“ auszuarbeiten und in den Reichstag einzubringen. Gegenüber der Vorkriegszeit zeigten diese Diskussionen eine deutliche Zunahme nationalistischer Denkweise und martialischer Rhetorik, so Mario Daniels.47 Möglicherweise spielte hierbei aber auch die Bedeutungszunahme des Marketings und des nation branding eine Rolle, der systematische Aufbau von Absatzorganisationen und Pressebüros innerhalb der Unternehmen wie im Auswärtigen Amt.48 Auf der anderen Seite wurden in der Nachkriegszeit zahlreiche internationale Organisationen neben dem Völkerbund geschaffen, die gerade der transna-

47 Mario Daniels, ‚Wirtschaftlicher Landesverrat‘ im ‚Wirtschaftskampf gegen Deutschland‘. Die deutsche Chemieindustrie und die Bekämpfung ausländischer Industriespionage in den 1920er Jahren, in: Historische Zeitschrift 2 (2014), 352–383. 48 David M. Higgins, Brands, Geographical Origin, and the Global Economy: A History from the Nineteenth Century to the Present, Cambridge 2018.

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tionalen, also nicht zwischenstaatlichen Kooperation dienen sollten, das International Labour Office und die International Chamber of Commerce fallen hierunter, in der der italienische Industrielle Alberto Pirelli eine große Rolle spielte. Privatwirtschaftliche Schiedsgerichte, Bankiersvereinigungen, juristische und Standardisierungsagenturen erhielten in der neuen Weltwirtschaftsordnung eine wichtige Rolle. In allen Institutionen waren deutsche Unternehmer und Unternehmen repräsentiert und teilweise in einflussreicher Position.49 Dass der Versailler Vertrag die deutsche Wirtschaft nur in geringem Maße belastet habe, war – so könnte man bilanzieren – nur durch die beeindruckenden Anpassungsleistungen der deutschen Unternehmen überhaupt möglich. Durch die Umsteuerung der Produktion und insbesondere der Rohstoffversorgung, durch Kosteneinsparungen und Organisationsveränderung und die Internationalisierung des Finanzmarktes konnten die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages innerhalb weniger Jahre kompensiert werden. Die Weltmarktkonkurrenz wurde hierdurch verschärft und internationale Organisationen waren offenbar in der Zwischenkriegszeit nicht in der Lage, diese Verschärfung zu moderieren. Deshalb befand sich für Wilhelm Röpke wie für viele zeitgenössische Beobachter die Weltwirtschaft 1925 noch immer im Kriegszustand.

49 Christof Dejung/Niels P. Petersson (Hrsg.), The Foundations of Worldwide Economic Integration: Power, Institutions, and Global Markets, 1850–1930, Cambridge 2012.

Die Autorinnen und Autoren Johannes Bähr lehrt seit 2012 als apl. Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, u. a. „Bosch. Geschichte eines Weltunternehmens“ (2013), „Munich Re. Die Geschichte der Münchener Rückversicherung 1880–1980“ (2015, gemeinsam mit Christopher Kopper) und „Werner von Siemens 1816–1892. Eine Biografie“ (2016). Charles Barthel ist seit 2015 wissenschaftlicher Berater im Nationalarchiv in Luxemburg. Neben zahlreichen Veröffentlichungen, insbesondere zu wirtschaftshistorischen Themen und zum Fragenkomplex der europäischen Integration, leitet er zusammen mit Josée Kirps die Publikationsreihe „Terres rouges. Histoire de la sidérurgie luxembourgeoise“, die der Aufarbeitung historischer Archivquellen zur Entwicklung der Luxemburger Stahlindustrie seit dem 19. Jh. gewidmet ist. Christian Böse ist seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Historischen Archiv Krupp, Essen. Nach dem Studium der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Bochum und Göttingen war er von 2009 bis 2011 zunächst wissenschaftlicher Volontär und 2011 bis 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bergbau-Museum in Bochum. 2016 promovierte er an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Arbeit zur Verkaufsorganisation im Ruhrkohlenbergbau in der Kaiserzeit. Franz Hederer ist seit 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Rechtsgeschichte der Goethe-Universität Frankfurt. Er studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Slavistik an der Universität Regensburg und promovierte dort 2013 mit einer Arbeit über die Geschichte des ökonomischen Denkens. Jan-Otmar Hesse ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Bayreuth. Nach dem Studium der Geschichtswissenschaften, VWL und Politologie wurde er 2001 an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Arbeit zur Unternehmensgeschichte der Reichspost im Deutschen Kaiserreich promoviert. Seine Habilitation zur Volkswirtschaftslehre in der Bundesrepublik erfolgte 2007 in Frankfurt a. M. Er ist u. a. Autor einer Einführung in die Wirtschaftsgeschichte (2019).

https://doi.org/10.1515/9783110765359-015

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Nina Kleinöder ist Juniorprofessorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte mit dem Schwerpunkt Arbeit und Bildung an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Ihre Dissertation im Jahr 2015 und ihre Arbeiten als Postdoc an den Universitäten Düsseldorf und Marburg konzentrieren sich auf die Geschichte der Arbeit (Arbeitsschutz und Sicherheit) und den Wandel der Arbeitswelt ("Humanisierung der Arbeit") seit 1945. In Ihrem aktuellen Forschungsprojekt untersucht sie den Eisenbahnbau in den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika. Christopher Kopper ist apl. Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Bielefeld. Er promovierte zur Bankengeschichte, habilitierte sich über Verkehrsgeschichte und veröffentlichte zahlreiche Monographien und Aufsätze zu diesen und anderen Themenfeldern der Wirtschaftsgeschichte. Christian Marx ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München, beschäftigt in einem Forschungsprojekt über die Reichs- und Bundesbank. Er wurde 2011 mit einer Arbeit über Paul Reusch und die Gutehoffnungshütte an der Universität Trier promoviert. In seiner 2020 abgeschlossenen Habilitationsschrift untersuchte er die Ausbreitung westeuropäischer Chemiekonzerne im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Werner Plumpe ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt. Bis 2012 war er Vorsitzender des deutschen Historikerverbands. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, u. a. „Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart“ (2010), „Carl Duisberg 1861–1935. Anatomie eines Industriellen“ (2016) und „Das kalte Herz. Kapitalismus: Geschichte einer andauernden Revolution“ (2019). Christian Risse studierte von 2012 bis 2018 Geschichte und Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2018 promoviert er als Stipendiat der Stiftung zur Industriegeschichte Thyssen über die Geschichte der deutschen Kokereibauindustrie. Joachim Scholtyseck hat seit 2001 einen Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bonn inne. Er studierte Geschichte, Politische Wissenschaft, Soziologie und Kunstgeschichte an der Universität Bonn und wurde dort mit einer Arbeit über die deutsch-italienischen Beziehungen in der Bismarckzeit promoviert. 1998 habilitierte er sich an der Universität Karlsruhe zum Thema „Robert Bosch und der liberale Widerstand gegen den Nationalsozialis-

Die Autorinnen und Autoren



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mus“. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte, u. a. Quandt (2011), Freudenberg (2016) und Merck (2018). Harald Wixforth ist derzeit Research Fellow und Senior Expert am Deutschen Schifffahrtsmuseum Bremerhaven sowie Geschäftsführer der Gesellschaft für mitteleuropäische Banken- und Sparkassengeschichte. Nach seiner Promotion 1991 war er Geschäftsführer des Sonderforschungsbereichs „Neuzeitliches Bürgertum“. Ab 1995 war er Mitarbeiter in diversen großen Forschungsprojekten und veröffentlichte zahlreiche Publikationen zur Banken- und Finanzgeschichte, zur deutschen und internationalen Unternehmensgeschichte sowie zur regionalen Wirtschaftsgeschichte. Dieter Ziegler ist Professor für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum sowie geschäftsführender Herausgeber des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte. Er wurde 1988 mit einer Arbeit zur Geschichte der Bank of England im 19. Jahrhundert am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert und 1995 mit einer Arbeit zur deutschen Eisenbahngeschichte in Bielefeld habilitiert. Er ist u. a. der Herausgeber des 4. Bandes (20. Jh.) der Geschichte des deutschen Bergbaus.

Sachverzeichnis 14-Punkte-Programm 2, 5, 252, 326 A.W. Faber, Newark 301 Abbott Alkaloidal Company, Chicago 302 Abrüstung 182, 184, 186f. Achtstundentag 60f., 110, 121, 196f., 199 Aciéries d’Angleur 89 Aciéries de France 89 Aciéries de Longwy 89 Aciéries de Micheville 89 Aciéries Réunies de Burbach-Eich-Dudelange (ARBED) 10, 69 Adolf-Emil-Hütte, Esch-Belval 75, 92, 140 AEG 155, 279, 386 Aktiengesellschaft für Verkehrswesen 333 Aktionäre 84, 88, 110, 149, 159, 216, 248, 276 Albert Ballin, Werft, Hamburg 155, 211, 218, 239 Algarrobo-Vorkommen, Chile 147 Alien Property Custodian 27f., 278, 285f., 292–294, 307 Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund (ADGB) 362 Altenhundemer Walz- und Hammerwerk GmbH 154f. American Bosch Magneto Company 278, 281 Anheuser-Busch Brewing Co. 301 Annexion 16, 83, 141, 315 Arbeitsgemeinschaft der Eisen verarbeitenden Industrie (AVI) 386 Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmer (AFA) 362 Arbeitslosigkeit 54, 228, 262, 352 Arbeitsmarkt 54 Arbeitsproduktivität 59, 61f., 197, 262, 384 Arbeitszeitverkürzung siehe Achtstundentag Arthur Koppel & Co. 297, 318 Aspirin 296, 302 August Thyssen Hütte 115 Außenhandel 157, 291, 317, 352, 379 Auswärtiges Amt 60 Autarkie 289, 376 Bagdad-Bahn 318, 389 Bankhaus Bleichröder 22

https://doi.org/10.1515/9783110765359-016

Bankhaus Lazard-Speyer-Elissen, Frankfurt a.M. 205 Banque de Bruxelles 87f. BASF 20, 174, 187, 245, 247, 253, 255f., 298 Bayer AG 245, 248, 253, 289, 296, 298f., 307, 385, 387 Beiersdorf 381, 387 Belgien 10, 16, 22, 25, 27, 29, 31, 37, 49, 54f., 71, 74, 79, 87, 141, 145, 194 Belgische Staatsbahn (= Société nationale des chemins de fer belges) 194 Bergbau 48, 60, 62, 110, 116, 122, 126, 162, 263 Bergdoll 301 Bergwerk Hostenbach 39f. Berliner Handelsgesellschaft 125 Berufsgenossenschaften der Unfallversicherung 359 Besatzungszone 8, 26, 38, 42f. Beschlagnahme 27f., 29f., 70f., 156, 161, 172, 185, 187, 221, 291, 306 Besetzung 4, 9, 25, 33, 35, 38, 42, 51f., 62– 64, 94, 101, 105, 118–120, 122, 130, 161–163, 198, 202, 238, 252, 258, 261, 293, 330, 339 Bethlehem Motors Co. 303 Betriebsrätegesetz 165 Blohm & Voss, Hamburg 211, 216, 220, 228 Bochumer Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation 126, 334 Borsig 45 Brennstoffmangel 36 Brown, Boveri & Cie., Mannheim 123f. Brückenbau 143, 153, 313, 320–322, 325, 328, 334, 337–339 Cassella 253, 299 Cement- und Kalkwerke Rombach AG, Haiger 116 Chemische Fabriken AG 45 Chemische Werke Rombach GmbH, Oberhausen 107 Comité des Forges de France 82, 98 Commerzbank 389f. Commission des Charbons 49

400  Sachverzeichnis

Compagnie des Aciéries de la Marine et d’Homécourt 89 Compagnie Nationale des Matières Coilorantes 255 Concordia Bergwerks AG 105, 111, 127–129, 132 Concordia-Linde-Bronn Verfahren 106 Dampfer Seydlitz 237 Danat-Bank 389 Dawes-Plan 7, 33, 134, 206, 262f., 265, 279, 391 DDP 198, 203, 347 Deggendorfer Werft und Eisenbau Gesellschaft 160 Deglobalisierung 241, 283, 335, 375, 377f. Degussa 296, 299 Delco (Dayton Engineering Laboratories Co.) Electronics Corporation 277, 280 Demobilisierungskrise 51 Demokratisierung 199, 287, 379 Demontage 20, 181f., 184f., 187f., 193 Department of Commerce 292 Detroit Trust Company 293 Deutsche Bank 125, 389 Deutsche Dampfschifffahrts-Gesellschaft „Hansa“, Bremen 236 Deutsche Kohlekommission 49f., 56, 66 Deutsche Kolonial-Eisenbahnbau und Betriebsgesellschaft (DKEBBG) 321, 333, 341 Deutsche Ostafrika-Gesellschaft 330 Deutsche Ozean Rhederei GmbH (DOR) 213 Deutsche Petroleum AG 389 Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft (DRG) 204–206 Deutsche Werft AG, Hamburg 155f., 164 Deutsche Werke AG 182 Deutsche Zentrumspartei 58, 197f., 203, 219, 257, 347 Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten-AG (Deutsch-Lux) 42, 70–72, 76, 78f., 82–84, 87–90, 94, 96–100 Deutsch-Südamerikanische Bank 389 Deutsch-Südamerikanisches Institut 338 Deutsch-Überseeische Electricitätsgesellschaft (DEUG) 389

Devisen 23, 35, 51, 66, 92, 100, 242f., 258, 358 Differdinger Schmelze 87 Dillinger Eisenwerk 89 Dillinger Hütte 171 Dillon, Read & Co. 279 DNVP 361 Donnersmarckhütte 45f. Dorman Long & Co. Ltd., Middlesbrough 83 Dortmunder Union 318 Drahtwerk Boecker & Comp., Gelsenkirchen 154f. Dresdner Bank 389 Duisberg-Frossard-Abkommen 256, 386 Düsseldorfer Industrieclub 97f., 144 Eildienst (Nachrichtenagentur) 380 Eisenbahn 9f., 29f., 46, 53, 64, 108, 112, 136, 140, 169f., 178, 191–199, 201, 203–206, 252, 311f., 314, 317f., 321, 325, 329, 331, 333, 335f., 339–342, 356, 361f., 355, 388 Eisenwerk Nürnberg 150, 157–160 Energiekrise 9, 15, 25, 36f., 67 Enteignung 11, 36, 39, 42, 46, 48, 60, 72, 109, 112, 122, 135, 249, 270, 308f., 325, 327f., 331, 335 Entschädigung 11f., 18, 26, 29, 32, 42, 59, 93, 109, 113, 115, 141, 148f., 163, 167, 185, 187f., 226f., 229, 231–233, 235, 306, 325, 327f., 382f., 386 Entwaffnung 18, 20, 123, 181f. Erfüllungspolitik 33, 37, 241, 257–260, 265, 355 Erz 12, 62, 77, 96, 98, 100, 108, 116, 118, 135–137, 142, 145, 147, 169f., 174f., 184, 285 Eschweiler Bergwerkverein (EBV) 10, 80 Eschweiler Drahtfabrik 82 Essener Gussstahlfabrik 171, 175–177, 183 Export 13, 18, 26, 36, 66, 98, 122, 153, 241f., 254, 263, 273, 308, 320, 379, 385, 388f. Exportverbot 26 Fako-Pflanzungen GmbH 317 Farbstoff (= Farbstoffindustrie) 25, 242–245, 250, 253, 255–257, 298, 386 Felten & Guilleaume, Steinfort 72 Ferrostaal GmbH, Berlin 152f., 388

Sachverzeichnis 

Fives Lille 89 Flotte siehe Marine, Handelsflotte Flottenpolitik 209 Fränkische Eisenhandelsgesellschaft 150 Frankreich 4, 11, 14–17, 22f., 25, 27, 29, 31f., 37, 39f., 42, 44, 49, 51, 56, 64, 66, 70f., 87, 103f., 135, 141f., 144, 161, 184, 187, 194, 242, 262, 287f., 290f., 367, 378, 383 Franz Haniel & Cie. GmbH (FHC) 150 Friedrich-Alfred-Hütte, Rheinhausen 179 Fritz Neumeyer AG, Nürnberg 160 Frodingham Iron and Steel Co. Ltd., Scunthorpe 83 Galmei 10 Gebietsverluste 25, 37, 52, 121, 136, 142, 145f., 150, 163f., 181, 184, 242, 311–313, 325, 327, 336, 340, 342, 379, 382, 384 Gelsenberg-Affäre 129 Gelsenkirchener Bergwerks AG (GBAG) 69, 72, 74–76, 79, 81–83, 86f., 90–94, 99f., 138f. General Electric Company (GE) 272, 275, 279, 386 Genfer Abkommen 38, 47f., 62, 66 Germania Worsted Mills 298 Germaniawerft, Kiel 155, 170, 187f. Gewerkschaften 39, 46, 58f., 65, 72, 76, 122, 145f., 165, 353f., 356, 361f., 364, 366 Globalisierung 309 Globalisierung, erste 313 Gold-Devisenstandard 390 Goldman Sachs 271, 299 Goldstandard 7, 390 Grasselli Chemical Company 307 Großbritannien 4, 14, 16f., 23, 26f., 31, 51, 141, 156, 211, 223, 249, 269, 278, 288– 291, 309, 330, 332, 334, 378f. Grube Barbery 138f. Grube Frankenholz 39f. Gutehoffnungshütte (GHH) 11, 117f., 127, 133–165, 313, 318, 320–324, 327f., 336–340, 381f., 384, 388 Güterverkehr, Frachtverkehr 178, 192, 196, 205, 207 H.A. Metz 299

401

Häfen 24, 30–32, 51, 111, 118, 131, 139, 148, 174, 201, 211–213, 221, 224f., 229, 231 Hamburg-Amerika-Linie 210, 287 Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-ActienGesellschaft (HAPAG) 155, 210f., 232, 236, 307 Handelsbilanz 18, 38, 55f., 380 Handelsflotte, Handelsmarine 24, 28, 112, 155f., 163f., 194, 214, 218, 220–226, 230–233, 235, 238f., 257, 286, 307, 382 Handelsrestriktionen 242 Haniel & Lueg, Düsseldorf 157 Harpener Bergbau AG 122 Hauts-Fourneaux de Saulnes 89 Hauts-Fourneaux et Aciéries de DifferdangeSt.Inbert-Rumelange (HADIR) 84, 99 Hauts-fourneaux et fonderies de Pont-àMousson 89 Heeresverwaltung 176, 186 Heimatfront 191 Heinrich Koppers AG 297 Hermes-Kreditversicherung AG 380 Hindenburg-Programm 173, 185, 191 Hoechst 255, 298f. Hohenlohe Werke AG 48 Holstein AG (Eisenhütte) 115, 119, 125–127 Hoover-Moratorium 7, 134 Howaldtswerke, Kiel 123–126, 132 Hugo Kaufmann & Co. 389 Hütten 41f., 46, 65, 69, 81f., 86, 91, 98f., 103, 111, 113, 134 – Hüttenwerk 10–12, 41, 45, 51, 64, 69–71, 76, 81, 103–119, 121–132, 139–141, 144, 156f., 170 – Hüttenzeche 42, 104f., 107, 110, 128–130 Hyperinflation 66, 105, 119, 164, 200, 272, 280, 308 I.G. Farbenindustrie AG 244, 249–252, 255– 257, 260, 263–265, 324, 385 Imperialismus 1f., 314–316, 318, 392 Import 14, 24, 38, 46, 50, 57f., 66f., 113, 137, 119f., 244f., 250, 302, 336, 379f., 384, 387 Importverbot 26 Im- und Export 26, 263 Indigo-Synthese 245

402  Sachverzeichnis

Industrie 5, 7, 9f., 12–15, 20, 25, 28f., 33, 35f., 41f., 45f., 55, 65f., 73, 80, 86, 90, 97–100, 103–106, 113, 116f., 120, 123f., 126, 131–133, 135, 143–145, 148, 151– 155, 159, 167, 175, 177, 179, 181f., 200, 204, 210, 220, 223f., 226, 236, 238f., 241–265, 267, 269, 273, 276, 280, 282, 287f., 290f., 294, 297f., 302, 304, 307– 309, 318, 334, 338, 353, 355–366, 369– 371, 378, 382–388, 392 – Autoindustrie 276, 283 – Chemische Industrie 7, 9, 25, 153, 241, 243f., 246–249, 251f., 254, 258, 260f., 263f., 297f., 382, 385–387, 392 – Eisenindustrie 45f., 103 – Elektroindustrie 273, 282, 334, 387 – Farbstoffindustrie 255f. – Maschinenbauindustrie 384 – Montanindustrie 14, 104f., 117, 132, 153 – Pharmaindustrie 243f., 298, 309 – Rüstungsindustrie 175, 177, 182 – Stahlindustrie 12, 14, 41, 103, 105f., 116, 123f., 135, 145, 148, 152, 159, 384–386 – Textilindustrie 14f., 244, 378 Inflation 24, 33, 59, 105, 114–116, 118, 124f., 131, 148f., 161, 164, 180, 185, 198, 201f., 206, 230, 232, 235–237, 239, 258, 261f., 274, 276, 349, 355, 366, 369f., 373, 379f., 382, 384, 387, 389 Interalliierte Luftfahrt Überwachungs-Kommission (ILÜK) 181 Interalliierte Militär-Kontroll-Kommission (IMKK) 181–183, 186 Interalliierter Wirtschaftsausschuss 83 Interessengemeinschaft Siemens-RheinelbeSchuckert-Union 272, 274, 279 International Chamber of Commerce 392 International Labour Office 392 Internationale Rheinland-Kommission 160 Internationaler Schiedsgerichtshof, Den Haag 48 Investitionen 59, 62, 65, 82, 101, 103, 105, 107, 109, 114, 116, 119, 124, 135–137, 173, 175, 180, 191f., 196, 206, 214, 217, 236, 240, 247f., 291, 295, 327, 330, 335, 389 Italien 2, 4, 22f., 25, 31, 44, 49, 55, 145, 291

J.D. Riedel 299 J.P. Morgan 389 J. Tafel & Co. siehe Eisenwerk Nürnberg AG Japan 151, 378, 392 Joseph Lucas Ltd. 281 Kabinett Wirth 19, 258, 347, Kaiserliche Werft, Danzig 215 Kalle 299 Kapitalbeteiligung 253, 271f., 281 Kapp-Putsch 55, 259 Kartellbestimmungen 155, 164 Kartellierung 150, 385f. Klöckner (Firma) 138 Knox-Porter Peace Resolution 305 Kohle 7, 9f., 12, 14, 16, 22, 25, 29f., 35–39, 41–60, 62–69, 97f., 103–108, 111–131, 141f., 144f., 147f., 157f., 161, 163, 169, 173f., 184, 226, 242, 254f. 257, 287, 353, 382, 384–386 – Kohlechemie 106, 111, 128, 130f. – Kohleförderung 22, 43, 65, 67, 121, 242 – Kohlennot 35, 37, 46, 51–53, 56, 58f., 66f., 121, 384f. – Kohlensteuer 353 – Reichskohlenkommissar 44, 56, 66 – Reichskohlenverband 55 – Zwangsausfuhr 254f. Kohleförderung – Aachener Revier 9f., 37, 42f., 53, 106 – Karwiner Revier 46 – Lausitzer Revier 38 – Mitteldeutsches Revier 38 – Oberschlesisches Revier 36, 43, 45–47, 52, 55, 62, 66, 103f. – Rhein-Revier 9, 38, 42, 50, 98 – Ruhr-Revier 38, 98, 108, 115, 118, 121f., 141f., 163, 382 – Saar-Revier 9, 16, 37–41, 43, 46, 51f., 53, 55, 58, 66, 103, 106, 147 – Sächsisches Revier 37 Kohlrübenwinter 192 Koks 10, 12, 14, 25, 37, 41, 45f., 49, 54, 56, 64f., 96–98, 100f., 103–108, 118, 122, 128–130, 132, 297 Kolonialbahn 311f., 316–319, 325, 329–331, 336f., 340f. Kolonialreich 378

Sachverzeichnis 

Kolonialrevisionismus 17, 312, 315, 337, 340 Kolonialschädengesetz 328 Kolonialwirtschaft 311, 316, 318, 339 Kolonien 14, 17f., 142, 151, 311–313, 315– 320, 323, 327f., 332f., 336, 338–342 – Deutsch-Mittelafrika 311, 315 – Deutsch-Ostafrika 312, 319, 330, 332f. – Deutsch-Südwestafrika 319, 326, 335 Konferenz von Genua 370, 390 Konferenz von Lausanne 134 Konferenz von Locarno 101, 316, 331f. Konferenz von Spa 51, 224 Königlich Preußische Eisenbahnverwaltung (KPEV) 198 Koninklijke Philips N.V. 275 Kontrollkommissionen 181–183 Koppers & Co., Pittsburgh 297 Kraftfahrzeug 179, 269f., 276f., 280f., 283 Kreditaktion der deutschen Wirtschaft 356– 358, 360–363, 365f., 369–371, 373 Kredite 7, 124f., 127, 134, 149, 186, 226, 234, 237, 239, 249, 258, 277, 279, 283, 356, 358 Kriegsgefangene 21, 23, 54, 94, 173, 177, 323f. Kriegsmarine siehe auch Marine 210, 225, 227, 238 Kriegsproduktion 142 Kriegsschuldfrage 1, 21f., 27, 63, 181, 242, 254, 286, 312, 343 Kriegswirtschaft 1, 50, 135, 143. 167f., 171, 173, 188, 191f., 210, 212, 214, 250 Krupp 20, 127, 138, 142f., 155, 167–189, 215, 248, 318, 321, 334, 336, 339, 383 Kuhlmann (Chemieunternehmen), La Madeleine, Frankreich 250 KWI Chemie, Berlin-Dahlem 251 L.A. Riedinger Maschinen- und BronzewarenFabrik AG, Augsburg 160 Länderbahn 191–193, 195–201, 205f. Lansing-Note 22 Lebensmittelversorgung 191, 223 Lebensstandard 379 Lehman Brothers 299 Leipziger Messe 381 Lenz & Co. GmbH 318, 321, 341 Les petit-fils de F. de Wendel KG 42

403

Liberia 332 Liquidation 11f., 26, 41, 47, 95, 108, 110, 291 Logistik 50, 195, 209f., 229, 330, 385 Lokomotiv- und Waggonbaufabrik Krupp (kurz: LOWA) 178f. Londoner Konferenz 267, 276 Londoner Ultimatum 5, 9, 19, 33, 242, 257f., 343, 345, 347, 352, 372 Lüderitzbuchter Elektrizitäts-Gesellschaft 335 Luxemburg 8–10, 22, 25, 37, 49, 54, 69, 71, 78f., 87, 106 Magdeburger Grusonwerk 170 Magnetzünder 269, 277, 280 Mandatsgebiet 14, 17, 314, 319, 327, 329f., 335 Marine 18f., 94, 123, 130, 155, 171–173, 181, 184f., 209–211, 214f., 218, 220, 224f., 238, 295 Marineverwaltung 172f., 185 Maschinenfabrik Esslingen 158, 385 Maschinenfabrik-Augsburg-Nürnberg (M.A.N.) 157–160 Merck 299, 307f., 387 Metallgesellschaft AG 152, 303 MICUM-Abkommen 120f. Minenkonzessionsaffäre 72 Mines Domaniales Française du Bassin de la Sarre 40 Minette 10, 12, 69f., 74, 76, 78, 82, 93f., 96– 98, 100f., 108, 113, 135–142, 144, 146, 163, 174 Ministre des Régions libérées 367 Mission interalliée de Contrôle des Usines et des Mines (MICUM) 63–65 Mocimboa Sisal Development Syndicate Ltd. 332 Montecatini, Mailand 250 N.V. Algemeene Ijzer- en Staal-Maatschappij Ferrostaal, Den Haag 152 N.V. Goederentransport Maatschappij Rollo, Dordrecht 152, 161 N.V. J.C. Goudriaan’s Industrie en Export Maatschappij, Delft 152 N.V. Industrie en Handel Maatschappij Concordia, Rotterdam 113f., 122, 126 Nationalitätenkonflikt 6, 61f.

404  Sachverzeichnis

Nationalversammlung 48, 58, 226 Naval Interallied Commission of Control (NIACC) 181 Nedinsco 388 Nietenfabrik Ludwig Möhling, Schwerte 157 Norddeutscher Lloyd 210f., 213f., 218, 221f., 225, 231f., 234, 236f., 285f., 307 Norddeutsche Werft, Bremerhaven 228 Nord-Ostsee-Kanal 30, 115, 118 Nordseewerke, Emden 82 Novemberrevolution 198, 260 NSDAP 134 Oberschicht 378f. Oberschlesische Eisenbahnbedarfs-AG 46 Oberschlesische Eisenindustrie AG 45f. Oberschlesische Kokswerke und chemische Fabriken (Oberkoks), Berlin 45, 128– 130, 132 Oberschlesische Stickstoffwerke 48 Oberste Heeresleitung (OHL) 167, 172f., 191f., 219 Oehringen Bergbau AG 48 Office des Séquestres 93 Office of Alien Property Custodian (OAPC) 27f., 278, 293 Öl 13 Orconera-Eisenerzgruben, Bilbao 169, 184 Orenstein-Arthur Koppel Co. 297, 318 Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk AG (OKD) 154f. Ostafrikanische Eisenbahngesellschaft 329 Österreich, Anschluss 16 Otavi-Minen- und Eisenbahngesellschaft 335f., 341 Ougrée-Marihaye, Lüttich 74 Pabst Brewing Co. 301 Pariser Vorortsverträge 2, 241, 343 Partington Iron and Steel Co., Manchester 83 Percival-de Marinis-Linie 44 Personalabbau 167, 177, 189, 203 Philipp Holzmann AG 318, 333, 336, 341 Philips (= Koninklijke Philips N.V.) 275 Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb, Hörde 117, 138, 144 Polonisierung 6, 48 Pressed Steel Car Co., Pittsburgh 297 Privatisierung 48, 156, 204, 341, 361, 366f.

Projet sidérurgique (Montanprojekt) 85, 99 Raab Karcher & Cie. 130 Rawack & Grünfeld, Charlottenburg 71 Reedereien 7, 24, 30, 32, 106, 111–113, 122, 130, 169, 174, 187f., 209–215, 217f., 221f., 225–227, 230–240, 285, 380, 382, 385f. Reederei H. Paul Disch, Duisburg 106, 111– 113, 122, 126, 130 Reederzechen 57 Reichsbahn 56f., 64, 77, 108, 118, 191, 197– 206, 259, 334, 385, 390 Reichshaushalt 50, 200, 203, 206, 219, 304, 382 Reichskolonialamt 311, 322 Reichsmarineamt 215, 225 Reichspost 381 Reichsstickstoffwerk Königshütte 48 Reichstag 32f., 197, 233, 344, 346f., 350f., 354, 361, 366, 392 Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) 133, 258, 260, 348, 356–358, 360f. Reichswirtschaftsrat (RWR) 343–355, 358– 374 Renten 40, 66 Reparationen 4f., 7, 9, 11, 14, 21, 24f., 27, 29f., 33, 35f., 38, 41, 49–57, 63–67, 82, 98, 103, 106, 108f., 112, 117f., 120f., 131, 133f., 141, 145f., 160f., 163, 181, 185, 187, 191, 193f., 196–207, 212f., 241– 243, 246, 254f., 257–265, 267, 273, 276, 280–282, 305, 308, 314, 343–345, 347–350, 352–360, 363, 366–371, 373, 380, 382–384, – Reparationsabwehr 259 – Reparationsausschuss 345, 350, 354, 359f., 363, 367, 373 – Reparationsforderungen 98, 133, 145, 194, 202, 254, 257, 265, 349, 380, 382 – Reparationsfrage 5, 9, 49, 118, 134, 241, 243, 260, 263, 280, 345, 370 – Reparationskohle 14, 29f., 36, 41, 49–53, 56f., 63–67, 98, 103, 106, 112, 117, 120f., 131 – Reparationskommission 49, 56, 63–65, 120, 161, 198, 203–206, 383

Sachverzeichnis 

– Reparationsleistungen 5, 7, 9, 14, 21, 27, 29f., 33, 49, 51f., 55f., 65, 146, 181, 187, 206, 213, 242, 268, 305, 367 – Reparationslieferungen 118, 161, 257, 264, 384 – Reparationsregelungen 49, 241, 243, 246 – Reparationsverpflichtungen 25, 38, 41, 134, 205, 242, 258f., 262, 349, 354f. Revier siehe Kohleförderung Rheinbraun AG (=Rheinische AG für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation, kurz RAG) 260 Rheinhafen 32, 148 Rhein-Elbe-Union 126 Rheinische Stahlwerke AG 174 Rheinisch-Westfälisches Kohlen-Syndikat (RWKS, auch Ruhrkohlensyndikat) 50, 52, 55–57, 59, 63, 104–107, 113, 115, 119–123, 127, 129–131, 173f. Rheinmetall (Rheinische Metallwaren und Maschinenfabrik) 171 Rickmers-Werft, Bremerhaven 228 Robert Bosch AG 267 Robert Bosch Magneto Company 278, 297, 302 Röchling 21, 41f., 135f., 138, 142, 383 Röhm & Haas 299 Rohstoffe 7, 12, 18, 21, 93, 118, 158, 169, 174, 229, 264, 270, 317, 389 – Rohstoffmangel 154, 268 – Rohstoffversorgung 11, 76, 150, 245, 272, 274, 393 – Rohstoffvorkommen 137, 380 Roland-Linie 236f. Rombacher Hüttenwerke AG 11f., 103–119, 121–128, 130–132 Ruhrbergbau 54, 56, 58–60, 63, 254, 382 Ruhrbesetzung 33, 35, 63f., 94, 101, 105, 118–120, 122, 130, 162, 202, 339 Ruhrindustrie 12, 14, 42, 65, 97, 113, 120, 144, 155, 216, 384 Rümelinger Hochofengesellschaft 84, 87f., 95–97 Rushmore Dynamo Works 277 Russland 37, 269, 273 Rüstung 18–20, 69, 80, 83, 123, 130, 142f., 147f., 162, 164, 167–172, 175–184,

405

188f., 192, 209, 215, 220, 248f., 252, 254, 388 – Marinerüstung 123, 130, 209, 220 – Rüstungsgüter 18f., 167, 169–171, 178, 189, 192 – Rüstungsindustrie siehe Industrie – Wiederaufrüstung 18, 185 SA des Hauts-Fourneaux et Aciéries de Rumelange-St.Ingbert 84, 99 Saar- und Mosel-Bergwerks-Gesellschaft, Karlingen 97 Sanaga-Brücke 321, 337–339 Sanierung 125, 191, 202f., 209, 361, 363, 371 Sanktionen 222, 238, 258, 295, 379 Schalker Gruben- und Hüttenverein 82 Schiffbau 155, 163, 170, 209–211, 214–216, 220, 224, 227, 229, 234–236, 240, 320 Schiffbau-Treuhandbank 234–236 Schifffahrt 24, 29–31, 57, 111, 130, 187, 209– 211, 213f., 218, 221f., 224–227, 229– 240, 286, 300, 386 – Binnenschifffahrt 29f., 32, 57, 130 – Flussschifffahrt 24, 57, 229 – Handelsschifffahrt 24, 156, 187f., 210f., 213f., 218, 221, 225, 233, 238f., 286 – Rheinschifffahrt 31, 111, 130 Schneider et Cie, Le Creusot 69, 74 Schnellzugverkehr 195f. Schutzgebiete 311, 314, 325, 330 Schutzzoll 116, 287 Schwäbische Hüttenwerke (SHW) 156f. Seeblockade 174, 211, 223, 229 Selbstbestimmungsrecht der Völker 5, 15– 17, 326 Sequestrierung 72, 74, 218, 291, 296, 298, 301 Service industriel d’Alsace-Lorraine 81, 95 Siemens 28, 115, 127, 267–276, 279–283, 298, 324, 364, 383, 386f., 389 Société Anonyme des Mines et Fonderies de Zinc de la Vieille-Montagne 10 Société Civile des Mines de SaintPierremont 76 Société d’Extraction de Minerais 139 Société des Mines de fer de Barbery 139

406  Sachverzeichnis

Société fermière des mines fiscales de l’Etat polonais en Haute-Silésie A. (Skarboferm) 47, 67 Société Générale de Belgique (SGB) 80, 204 Société Lorraine des Aciéries de Rombas 109, 122, 129 Société Lorraine Industrielle 89 Société Métallurgique d’AubrivesVillerupt 77 Société Métallurgique des Terres Rouges 92 Société Minière de Moutiers 76 Société Minière des Terres Rouges 92 Société Nancéenne de Crédit Industriel 89 Société nationale des chemins de fer belges (SNCB) 193 South Indian Railway Co. Ltd. 334 Sowjetunion siehe Russland Sozialdemokratie 198, 262, 356, 372 Sozialisierung des Bergbaus 58–61, 73, 116 Spanische Grippe 197, 296 SPD 258, 262, 346f., 360 Stahlpreis 334, 386 Stahltrust 12, 124–127 Stahlwerk Annen 184 Stahlwerk Rothe Erde, Aachen 76, 94, 99 Steffens & Nölle 150 Steinkohle siehe Kohle Steinkohlenkartell 43 Sterling Products Company 299, 307 Stickstoffsynthese 20, 245, 254, 257 Stinnes Konzern 106, 149, 159, 164, 272, 274, 283, 392 Subventionierung 13, 119, 235, 316, 318, 325, 329, 336 Syndikatshandelsgesellschaft 113, 120, 122 Tanganyika Railways 329f. Tarifpolitik 59, 201, 204, 206 Technik 106, 225, 234, 252, 269f., 272, 274, 276f., 279f., 283 – Energietechnik 269, 279 – Kraftfahrzeugtechnik 277, 280, 283 – Kraftwerktechnik 274 Thyssen 72, 76, 80, 106, 115, 117, 120, 122f., 138, 140–143, 155, 216, 228, 389 Trading with the Enemy Act 292f., 309 Troponwerke 299 U-Boot-Flotte 220, 224

Union des industries métallurgiques et minières 101 United States Shipment Board 285 USA 4f., 13f., 16, 22f., 27f., 49, 63, 145, 150, 156, 213, 250, 254, 268, 285–291, 295, 298, 303–305, 309, 377f. Usambara-Linie 329 Usines Métallurgiques de la Basse Loire 87 Vereinigte Oberschlesische Hüttenwerke AG 45 Vereinigte Stahlwerke AG 12, 100, 126f., 129f., 133, 385 Vereinigtes Königreich siehe Großbritannien Vereinigte Staaten von Amerika siehe USA Versailler Vertrag 1–5, 7–13, 15–19, 21f., 24, 27–33, 35–43, 47–49, 51f., 55, 57f., 60f., 63, 66–68, 70, 98, 101, 103–106, 108, 110–113, 115, 123, 130, 133–136, 141, 146, 150, 156, 162–164, 167f., 180f., 184–188, 201, 209f., 219, 223–225, 229f., 238–240, 242, 252, 254–256, 259, 265, 267f., 283, 303–305, 312, 314–316, 319, 324f., 327f., 330, 332, 339–341, 343, 375f., 379–385, 387–393 Vertrag von – Locarno 280, 332 – Neuilly 6 – Sèvres 6 – St. Germain 6, 16f. – Trianon 6 Vickers & Armstrong 83 Völkerbund 2, 8, 16f., 39f., 47f., 263, 280, 315, 317, 319, 326f., 330f., 335, 378, 392 Völkerrecht 21, 42, 291, 307 Völklinger Hütte 42 Volksabstimmung 5, 10, 15–17, 40, 43 Vossische Zeitung 349 Vulkan AG 155, 211, 215f., 227, 229, 234 Waffenstillstand 6, 10, 12f., 15, 21f., 24, 27, 30, 39, 42–44, 57, 70, 78, 82, 144, 151, 167f., 175f., 178, 180, 185, 188, 192– 194, 196, 198f., 210, 212, 218–220, 224, 238, 252f., 255 Waffenstillstand von Compiègne 22, 69f., 81, 219

Sachverzeichnis 

Waffenstillstandskommission 193, 195f., 212, 222 Währungsverfall siehe Inflation Wall Street 83, 281, 378 Walzwerk Krämer, Sankt Ingbert bei DeutschLux 82, 84 Wasserstoff 106 Weltkraftkonferenz (World Power Conference) 282 Weltpolitik 375 Weltwirtschaft 145, 162f., 241f., 245f., 252, 254, 259, 262–264, 284, 375–378, 388, 391, 393 Weltwirtschaftskonferenz 282 Weltwirtschaftskrise 3, 132, 241, 284, 308, 377, 379, 390 Werften 24, 123, 155f., 160, 164, 170, 187f., 209, 211, 214–217, 220, 227–229, 233f., 237–239, 385 Weser AG (Werft) 211, 215f., 228, 234 Westfälische Stahlwerke, Bochum 115, 118, 125f. Westinghouse Electric Corporation 279, 283, 386 Wiederaufbau 16, 24, 49, 51, 85, 90, 98, 109, 112, 187f., 213f., 219, 222, 226f., 230– 236, 239, 258, 328f., 331, 368 Wiedergutmachung 7, 21–24, 27, 29f., 35, 39, 47, 144, 156, 201, 327 Wiedergutmachungsausschuss 23, 25, 49, 146 Wiesbadener Abkommen 355, 367f. Wilhelm-Luxemburg-Bahn 77 Winthrop Group 307 Wirtschaftsaufschwung 377

407

Wirtschaftskrieg 14f., 66, 241, 285, 287, 309, 375, 377 Wm. H. Müller & Co. (Handelsfirma) 138f., 151–153 Woermann-Linie 237, 332 Young-Plan 133f., 206, 263 Zahnräderfabrik Augsburg AG 160 Zeche 42, 45, 46, 50f., 57, 59, 64f., 67, 80, 82, 88, 97, 103–107, 110f., 113–115, 117f., 120–123, 126–132, 150, 162, 169, 184, 226, 255, 385 – Concordia, Oberhausen 104, 106f., 109– 111, 114f., 118–122, 125–128, 130–132 – Friedrich Heinrich 174, 184, 187 – Neumühl 150 – Rheinpreußen 150 – Walsum 255 – Winterslag 81 – Zollverein 150 Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (ZAG) 146, 368 Zentralverband der deutschen elektrotechnischen Industrie (ZVEI) 273 Zivilarbeiter 54, 143, 173 Zoll 5f., 9, 15f., 26, 31, 72, 83, 90, 101, 144, 160, 273, 278, 287, 302, 309, 375, 385, 387 – Schutzzoll 116, 287 – Zollraum 9, 15f., 26, 41 – Zollunion 10, 74, 79 – Zollverein 9f., 69, 71, 79, 142, 150 Zwangsverwalter 291 Zwangsverwaltung 26, 70, 141, 146, 359 Zwangswirtschaft 110, 114

Ortsverzeichnis Aachener Revier 10, 37, 42f., 106 Afrika 17f., 25, 151, 245, 311–313, 317–319, 321, 324–326, 329, 332–340, 342, 388 Amsterdam 93, 124, 307, 389 Argentinien 338f. Belgien 54, 78, 80, 131, 194, 382 Bendorf am Rhein 111, 115, 118, 127 Berlin 22, 52, 63, 72f., 92, 124f., 128, 152, 197, 212, 215, 217, 226f., 229, 233, 235, 239, 251, 255, 269, 279, 282, 287, 323, 338, 389f. Betzdorf 169 Bilbao 169, 184 Bochum 69f., 88, 90f., 96f., 115, 117f., 126f., 334 Böhmen 37f., 157, 163 Bonn 53, 202 Bremen 210, 212f., 221, 228, 236 Breslau 53 Brest-Litowsk 192 Briey 76, 98 Brüssel 71, 74f., 80, 88, 90f., 94, 224 Buenos Aires 278, 339 Caen 140 Celle 13 Chicago 295 Chile 147 China 2, 25, 378 Compiègne 22, 69f., 81, 219 Dänemark 10, 84 Danzig 215 Darmstadt 299f., 308 Den Haag 48, 152 Département Meurthe-et-Moselle 76 Département Nord 144 Département Pas-de-Calais 50, 144 Département Saône-et-Loire 74 Deutsch-Ostafrika 318f., 329 Deutsch-Oth (Audun-le-Tiche) 75, 91–93 Deutsch-Südwestafrika 335 Diedenhofen (Thionville) 140, Differdingen 71, 83f., 87, 89–91, 94–97 Dillingen 89, 171 Dortmund 53, 318

https://doi.org/10.1515/9783110765359-017

Droitaumont 81 Duisburg 9, 51, 106, 111, 160 Düsseldorf 51, 71, 97, 144, 157, 160, 171 Edéa 321 Elsass 12–15, 383 Elsass-Lothringen 6, 11–13, 15f., 31, 70, 75, 108, 141f., 144, 252 Esch, Luxemburg 75–77, 86, 91, 94, 140 Essen 49, 63, 97, 119, 150, 153, 173, 177, 179, 183 Eupen 10, 16 Europa 5, 8, 10f., 13, 31, 36f., 67f., 85, 87, 98, 100, 103, 134, 157, 164, 193, 211, 219, 223, 243, 275, 278–280, 283, 285– 287, 289, 312, 323f., 326f., 333f., 337, 376, 378f. Frankfurt a.M. 73, 152, 205 Frankreich 13, 28, 29, 42, 49f., 55f., 90, 106, 131, 135, 139, 147, 244, 250, 269f., 273, 278, 281f., 309, 382, 392 Gelsenkirchen 69f., 86, 91, 93f., 122, 129, 139, 154 Genf 38, 47f., 62, 66, 282 Großbritannien 14, 28, 38, 51, 231, 244f., 250, 269f., 273, 382 Hagendingen (Hagondange) 76, 140f. Hamburg 31, 63, 119f., 155, 161, 163, 210– 212, 215, 228f., 234, 285 Hannover 119 Hayange 42 Hermsdorf 46 Indien 324, 334 Italien 250 Japan 273, 320 Kamerun 313, 317, 319–323, 325, 328f., 331, 337–339, 341 Kamerunberg 317, 341 Karlingen 97 Kattowitz 45 Kehl 32 Kelmis 10 Kiel 123, 155, 170, 187, 215, 218 Koblenz 111, 117 Köln 72, 86, 90f., 252

410  Ortsverzeichnis

Königshütte 45, 48 Le Creusot 69, 87 Leipzig 381 Leuna 247 Leverkusen 244, 249, 252, 255, 307 Limburg 67, 117 London 5, 9, 19, 33, 51f. 124, 151, 169, 184, 242, 257f., 267, 269f., 276, 281, 303, 343, 345, 347, 352, 373, 378 Longwy 77, 89 Lothringen 11f., 14f., 39, 42f., 51, 55, 64, 69, 75f., 81–85, 88–90., 92f., 95, 97–101, 103–106, 108f., 112–116, 122, 129–131, 135–138, 140–142, 144–146, 148f., 156, 158, 163–165, 170, 174, 184, 383f. Ludwigshafen 247 Lüttich 10, 74, 89 Luxemburg 10, 70–73, 78, 86, 90, 98, 103, 135–138, 144f., 164 Malmedy 10, 16 Manila 302 Mannheim 31, 123, 150, 359 Meppen 183 Metz 81, 87, 140, Monhofen (Manom) 140, 144 Mülhausen (Mulhouse) 12 München 300, 358, 388 Neukirchen-Vluyn 97 Newcastle 67 New Jersey 285, 295, 297 New York 124, 237, 293, 300f., 303, 378 Niederlande 10, 36f., 43, 67, 113, 122, 151f., 161, 228, 237, 271, 273, 341, 384, 388 Niederländisch-Indien 320 Normandie 11, 135f., 138–141, 144, 146, 148f., 156, 163–165 Nyong 321 Oberhausen 104, 107, 110, 117f., 134, 137, 153, 156, 161–164, 320–322 Osmanisches Reich 6, 326 Österreich 16f., 36, 279, 295 Orkney-Inseln 225 Öttingen (Ottange) 76, 84, 95 Paris 2, 4, 6, 22, 30, 36, 45, 52, 63, 71, 74, 76, 81, 85f., 90, 92, 98f., 100, 134, 165, 241, 267, 281, 304, 307, 343, 370 Pazifik 17, 376, 378, 392

Pechelbronn 12f. Peine 147 Polen 5f., 15f., 37f., 43–48, 54–56, 60–62, 66–68, 142, 259, 384 Posen 142 Preußen 10, 15, 39f., 46, 48, 61, 125f., 142, 150, 178, 191, 197f., 205f., 251 Rhein 9, 29, 31f., 38, 74, 119, 121, 226 Rhein-Herne-Kanal 106, 121 Rheinhausen 170, 179 Rheinland 8, 52, 71, 103, 160, 252 Rhode Island 296 Rombach, Lothringen (Rombas) 11f., 89–91, 94–97, 103–119, 121–128, 130–132 Rotterdam 113, 120 Ruhrgebiet 9, 25, 37f., 52f., 61, 63, 103f., 118, 130, 144, 147, 158, 161f., 163, 169, 178, 261 Ruhrort 32, 51, 67, 118, 160 Ruhrregion 135 Russland 245, 269 Saargebiet 8, 12, 16, 39–41, 142, 147 Saarland 81, 85, 89, 383 Saar-Revier 25, 37–39, 53, 106 Saint-Pierremont 76–78 Salzgitter 116f., 147, 384 Sankt Petersburg 269f. Schlesien 15, 37, 46, 53 Schlesien, Ober- 5f., 15f., 25, 36–38, 43–48, 52–63, 66f., 128, 164, 258f., 383f. Schleswig-Holstein 117 Schleswig, Nord 10 Schweden 98, 100, 137, 147, 175, 384 Schweiz 36, 42, 84, 243, 286, 298, 384, 389f. Siemensstadt, Berlin 274f. Spanien 137, 147, 169, 174, 184, 197, 287, 296, 323, 384 Spanisch-Guinea 323 Springfield, Connecticut 269 St. Louis 293 Stettin 31, 215, 220, 228 Straßburg 13, 31f., 95 Stuttgart 269, 277 Südamerika 151, 247, 273, 278, 308, 318, 336–339, 376, 387, 389 Togo 313, 319, 331,

Ortsverzeichnis

Toulouse 256f. Transvaal 319 Trier 219f., 222–224, 238f. USA 13, 27f., 231, 244f., 250, 269f., 277– 280, 285, 288, 291, 294–296, 308, 380, 387, 392 Versailles 13, 17, 36, 41, 110, 180, 223, 242, 256, 324



Villerupt 777 Waldenburg, Niederschlesien 46, 53 Weilburg 169 Weimar 226, 346 Yaounde (Jaunde) 323 Zürich 124, 307, 389

411

Personenverzeichnis Acworth, William 205 Adams, John Quincy 287 Anderson, Chandler P. 306 Baden, Prinz Max von 219 Ballin, Albert 155, 211–214, 218, 239 Baltrusch, Fritz 354, 360, 362 Baltzer, Franz 311 Barbanson, Gaston 69, 80f., 92, 100 Bauer, Gustav 362 Bergmann, Carl 205 Bernard, Jules 87f. Bernhard, Georg 349, 360 Beukenberg, Wilhelm 135f., 142 Bismarck, Otto von 70 Bonn, Moritz Julius 202 Bosch, Carl 253, 255f. Bosch, Robert 268f., 276–278, 280 Boveri, Walter 123f. Bower, Joseph A. 302 Braun, Friedrich Edler von 361, 365, 368 Breitenbach, Paul 191, 197 Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf 223 Bücher, Karl 258f. Cavallier, Camille 94 Clemenceau, Georges 74 Clémentel, Étienne 90, 99 Cohen, Adolf 362 Cohen, Max 346, 361 Cordier, Gabriel 101 Crozier, Andrew 332 Cuno, Wilhelm 232, 261 Curzon, George 13 Daugherty, Harry M. 303, 305 Dechamps, Gustav 105, 107, 113, 117, 119, 121f., 125f., 128f., 131f. Dehio, Ludwig 286 Dernburg, Bernhard 318 Duisberg, Carl 249, 251, 253, 255f., 258–261, 263–265, 357, 360, 386 Egnell, Fritz 277 Ehrlich, Paul 296 Erzberger, Matthias 193, 198, 219, 222, 315 Eulenburg, Franz 375 Faber, Eberhard 301

https://doi.org/10.1515/9783110765359-018

Faber, Lothar W. 301 Feldes, Emil 87f. Fitzgerald, F. Scott 303 Flick, Friedrich 129 Foch, Ferdinand 71, 89, 194, 222 Franqui, Émile 204 Friedeburg, Theodore 301 Frossard, Joseph 255f., 386 Gallagher, John 312, 316, 342 Garvan, Francis P. 293, 295, 301–303, 305 Geddes, Eric 23 George, David Llyod 22f. Gregory, Thomas Wyatt 301 Groener, Wilhelm 191, 362 Guffey, Joseph F. 302 Haber, Fritz 251 Hachenburg, Max 359–361, 365f. Haller, Max 271 Hamm, Eduard 202 Haniel, Franz 148 Harding, Warren 304 Harrison, Archibald 302 Harrison, Francis 302 Heineken, Philipp 211–213, 218, 222, 232 Hicks, Frederick C. 305 Hirsch, Julius 349f., 355, 371 Hitler, Adolf 304 Bethmann Hollweg, Theobald von 315 Holzmann, Philipp 318, 333 House, Edward M. 289 Hugenberg, Alfred 381 Hüttenmüller, Robert 298 Jadot, Jean 80, 90, 94 Kaiser Wilhelm II. 175, 218 Kastl, Ludwig 133 Kauert, Herbert 129 Kempner, Franz 202 Kern, Martin E. 302f. Keynes, John Maynard 3–7, 36f., 67, 242, 254, 304, 343, 378, 391 Kiesselbach, Wilhelm 306 Kirdorf, Adolf 69, 75, 77, 94 Kirdorf, Emil 69, 75, 77, 94 Knight, Frank H. 268, 283

414  Personenverzeichnis

Köttgen, Carl 279 Kraemer, Hans 348–351, 358, 360, 363, 368 Lansing, Robert 22 Laurent, Théodore 89f., 94–98 Laveleye, Georges de 87f., 97 Leverve, Gaston 205f. Lionberger Davis, John 293 Loucheur, Louis 85, 90, 95, 98f., 367 Ludendorff, Erich 191 Lührssen, Friedrich 286 Mann, Thomas 286 Mantoux, Etienne 4–7 Marx, Wilhelm 203 Mathias, Peter 288 Maugas, Gabriel 89 Mayrisch, Émile 74, 78–80, 83, 86f., 100 McAdoo, William 300 Merck, George 299, 307 Mercier, Ernest 308 Miller, Thomas W. 303, 305 Millerand, Alexandre 95 Moore, John Bassett 307 Moran, William H. 295 Murphy, Mahon 323 Näf, Werner 286 Neumeyer, Fritz 160 Neyens, Alphonse 73, 75 Nicou, Paul 94 Oeser, Rudolf 203f. Oswald, Wilhelm von 107 Palmer, A. Mitchell 28, 292–297, 300–303 Pichon, Stephen 74, 90 Pirelli, Alberto 393 Preuß, Hugo 198 Prum, Pierre 72–74 Rathenau, Walther 258, 303, 367f. Reusch, Paul 133–138, 140–144, 146–156, 158–161, 163–165 Reuter, Émile 70, 72–75, 95 Reuter, Ludwig von 225 Rieppel, Anton von 159 Ries, Pierre 89 Robinson, Ronald 312, 316, 342 Röchling, Hermann 21, 41

Röchling, Louis 135f., 142 Röchling, Robert 21 Roosevelt, Franklin D. 309 Röpke, Wilhelm 375, 393 Roselius, Ludwig 381 Rosenthal, Moritz 293 Schnee, Heinrich 312 Schneider, Eugène 69, 80 Siemens, Carl Friedrich von 267f., 272, 364 Silverberg, Paul 260, 361 Simon, George 299 Sinzheimer, Hugo 346 Smuts, Jan 335 Sommerstad, Olaf 338 Spaeter, Carl 111 Spannagel, Hans 151, 153 Stimming, Carl-Joachim 232, 236 Stinnes, Hugo 12, 42, 69, 71, 75, 79, 83f., 87–91, 94–97, 126, 216, 222, 259f., 272, 361f., 364, 366, 371f. Stone, Ralph 293 Stresemann, Gustav 262f., 265, 316, 332 Sutherland, Howard 305 Tarnow, Fritz 364 Thomas, Hermann 88 Thyssen, August 72, 76, 80, 140f., 143, 216 Thyssen, Fritz 120, 122, 141, 389 Tirard, Paul 86 Trasenster, Gustave 74, 78, 80 Umbeck, John 287 Vehling, Heinrich 79, 83, 86, 89, 99 Vögler, Albert 78f., 87–89, 91, 97, 133 Vogt, Johannes 205 Weinberg, Carl von 253, 255 Wiedfeldt, Otto 180 Wilson, Woodrow 2, 4f., 39, 135, 252, 285f., 289f., 292, 297, 300–305, 326, 331 Wirth Joseph 19, 257f., 347, 350, 353f., 362 Wissell, Rudolf 349, 355, 358 Wurth, Paul 87f., 97 Young, Owen D. 134 Zeiss, Carl 388 Zimmer, Nicolas 71f., 87