Dom und Domschatz zu Halberstadt
 9783205100874, 3205005139, 9783205005131

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

JOHANNA F L E M M I N G EDGAR L E H M A N N ERNST SCHUBERT

AUFNAHMEN VON KLAUS G.BEYER

DOM

I UND DOMSCHATZ ZU HALBERSTADT

VERLAG HERMANN BÖHLAUS NACHF. W I E N - K Ö L N

V O RWO RT

Als ein lebendiges Zeugnis der Vergangenheit von hohem künstlerischem Rang darf der Halberstädter Dom europäische Geltung beanspruchen. Sein Schatz gehört zu den reichsten Sammlungen kirchlicher Kunst. Der Wunsch des Verlags, das monumentale Bauwerk und seine erlesenen Ausstattungsstücke in einem repräsentativen Bande einem größeren Publikum bekannt zu machen, stellte die Autoren vor eine schwierige Aufgabe. Sie können nur hoffen, daß es ihnen gelungen ist, umfassende Information in der angemessenen Form darzubieten. Wie in den voraufgegangenen Publikationen beschränkten sich die Verfasser nicht auf ein Resümee der umfangreichen kunsthistorischen Fachliteratur, sondern waren bemüht, auf Grund eigener Forschungen und Überlegungen den neuesten Stand der Erkenntnis vorzulegen. Neben dem interessierten Laien, fiir den diese Monographien in erster Linie bestimmt sind, wird also auch dieses Mal der Fachmann angesprochen. Die Darstellung trägt beiden Rechnung: Sie zielt auf exakte und zugleich allgemein verständliche Unterrichtung. Der Abbildungsteil über den Dom ist nach dem Prinzip des Rundgangs um und durch den Bau angeordnet, berücksichtigt dabei aber weitgehend die Entstehungsgeschichte der Kathedrale. Die Folge der Abbildungen aus dem Domschatz wird im wesentlichen durch die Entstehungszeit der Stücke bestimmt. Für die Ausführungen über den Domschatz zeichnet hauptsächlich Johanna Flemming verantwortlich. Edgar Lehmann übernahm die Abschnitte über die Ausstattung des Doms und behandelte daneben auch Plastik undMalerei des Schatzes. Die Baugeschichte hat Ernst Schubert neu bearbeitet und dargestellt. Die Autoren hoffen, daß dieses Buch zustimmende Aufnahme findet. Dazu werden nicht zuletzt die ausgezeichneten Aufnahmen von Klaus G. Beyer beitragen. Johanna Flemming

Jena, Berlin und Halle, im Januar 1972

Edgar Lehmann

Ernst Schubert

DIE BAUGESCHICHTE Die Zahlen am Rand des Textes verweisen auf die Abbildungen im Tafelteil

des 9. Jahrhunderts, im Jahre 827, wurde Halberstadt Bischofssitz. Schon unmittelbar nach der Übersiedlung aus Seeligenstadt entstanden auf dem Domhügel kirchliche Steinbauten. Die damals er-

Die Stadt und die ersten Dombauten

wählte Stelle am Ostende einer im Grundriß nahezu ovalen, natürlichen Geländeerhebung

Unter den an mittelalterlicher Bausubstanz rei-

blieb seitdem der Platz der Hauptkirche, und

chen Städten des Harzes gehörte das am Nord-

dort steht auch der erhaltene Dom, ein Bau des

rande des Waldgebirges gelegene Halberstadt zu

13. bis 16. Jahrhunderts.

den schönsten. Ein grauenhafter Bombenangriff

Über seineVorgänger geben nur noch archäo-

im April 1945 hat den Kern des Orts schwer ge-

logisch nachgewiesene Überreste, vor allem Fun-

troffen. Inmitten von Neubauten wahrt jedoch

damentzüge, und spärliche zeitgenössische oder

der ovale, flache Burgberg mit dem Dom am

doch wenigstens mittelalterliche Nachrichten

einen, der Liebfrauenkirche am anderen Ende,

Auskunft.

verbunden durch die Häuserzeilen der Kurien,

Schon der im Jahre 859 geweihte erste, der

ein eigenes Gesicht. Dieser Platz ist die Keim-

karolingische Dom war ein erweiternder, statt-

zelle der Stadt. Jahrhundertelang haben hier

licher Umbau älterer Anlagen. E r ist schließ-

Menschen gelebt und gebaut. Die weiten Dimen-

lich im Jahre 965 eingestürzt. Die Teilung des

sionen sind auch für den modernen Betrachter

karolingischen Imperiums, die Entstehung des

überraschend. Er darf aber nicht vergessen, daß

deutschen Reichs im Verlaufe des späten 9. und

die überkommene Gestaltung den Absichten des

frühen 10. Jahrhunderts,

die Herrschaft der

19. Jahrhunderts Rechnung trägt: Die Archi-

sächsischen Ottonen und die Bedeutung des

tekturdenkmäler sollten nun unbeeinträchtigt

Harzgebiets für das neue Herrschergeschlecht

wirken können. Ehedem war der große Raum

ließen bis kurze Zeit vor der Einsturzkata-

zwischen den beiden Kirchen selbstverständlich

strophe von 965 für das Halberstädter Bistum

nicht leer, sondern bebaut. Häuser und Häus-

eine große Zukunft voraussehen. Mit der Festi-

chen gaben den erwünschten Maßstab für die

gung der Herrschaft des sächsischen Hauses be-

monumentale Sakralarchitektur. Geblieben ist

gann jedoch eine weitere Ausdehnung des Rei-

eine ruhige, grüne Insel, deren Begrenzung

ches nach Osten. Wiederum folgte der Erobe-

durch Häuserfluchten man zwar sofort begreift,

rung die Christianisierung, und der politische

die aber doch immer ein wenig künstlich anmu-

Schwerpunkt verschob sich zugleich nach Osten.

tet.

Die Halberstädter Hoffnungen wurden endgülHalberstadt ist eine karolingische Gründung.

tig zunichte, als Kaiser Otto I. in Magdeburg

Wahrscheinlich in den ersten Jahren des 9. Jahr-

eine neue Metropole einrichtete. Im Jahre 968

hunderts wurde hierher ein 781 in Seeligen-

erhob er nach langjährigen Verhandlungen sei-

stadt (Osterwieck) gegründetes Missionszentrum

nen Lieblingssitz zum Erzbistum und machte

verlegt. Die Anfänge werden in den historischen

die gleichzeitig gestifteten Bistümer Merseburg,

Quellen nicht ganz deutlich. Man darf aber an-

Meißen und Zeitz zu Suffraganen der neuen

nehmen, daß dieser Platz schon bald nicht nur

Gründung. Der Halberstädter Bischof hat sich

als Stützpunkt der christlichen Mission im eben

lange gegen diese kaiserlichen Absichten zur

endgültig unterworfenen und dem Reiche an-

Wehr setzen, die Etablierung des geistlichen

gegliederten Sachsenlande, sondern zugleich als

Rivalen aber letztlich nicht verhindern können.

des karolingi-

In Magdeburg wurde bereits seit dem Siege

schen Imperiums in dessen östlichen Provinzen

eines der Verwaltungszentren

Ottos über die Ungarn auf dem Lechfelde, seit

ausersehen war. Spätestens im dritten Jahrzehnt

dem Jahre 955, die Kirche des Moritzklosters

9

zur Kathedrale umgebaut. Auf dem Höhepunkt seiner Macht bot Otto alle Mittel auf, um seiner Lieblingsgründung auch äußeren Glanz zu verleihen. Der in Ansehen und Besitz durch Magdeburg empfindlich geschmälerte Halberstädter Bischof und sein Klerus haben sich in dieser Situation wohl nicht mit einer über hundert Jahre alten Domkirche zufriedengeben wollen, sondern ebenfalls Neubaupläne erwogen. Die erwähnte Meldung aus dem Jahre 965, der Dom zu Halberstadt sei eingestürzt, ist deshalb möglicherweise stark übertrieben; denn ganz offensichtlich hatte man in Halberstadt zu jener Zeit gute Gründe für eine durchgreifende Modernisierung der Kathedrale: Es mußte wenigstens der Versuch unternommen werden, mit Magdeburg auf gleicher Höhe zu bleiben. Der zweite, der ottonische Halberstädter Dom konnte schon 992 feierlich geweiht werden. Die relativ kurze Bauzeit von siebenundzwanzig Jahren macht vollends klar, daß das Bistum alle Kraft einsetzte, um möglichst bald eine würdigere Kathedrale zu besitzen. Auch die Fundamente dieses Baus sind archäologisch nachgewiesen worden. Er war fast so groß wie der bestehende. Der ottonische Dom wurde im Jahre 1179 infolge kriegerischer Auseinandersetzungen beschädigt und hat vielfache Veränderungen erfahren, sogar noch kurz vor dem Beginn des gotischen Neubaus. Im Jahre 1220 wurde die letzte Weihe gefeiert. Sie galt wahrscheinlich der Einwölbung der bis dahin flach gedeckten Kirche.

Der Beginn des Neubaus im iß. Jahrhundert Wie aber konnte es geschehen, daß man schon vor 1239 den in langwierigen Arbeiten fertiggestellten Umbau wieder verwarf und sich anschickte, eine völlig neue Kathedrale zu errichten - was den Abbruch des gesamten stehenden Baus zur Folge haben mußte? Natürlich heißt es auch diesmal, der Dom sei reparaturbedürftig gewesen, er habe von den 10

Fundamenten an erneuert werden müssen. Der eigentliche Grund war jedoch vermutlich der gleiche wie im Jahre 965. Seit 1209 wurde nämlich in Magdeburg ein neuer Dom gebaut, und offensichtlich hat die Halberstädter Geistlichkeit auch damals nicht untätig zusehen können, als man im benachbarten Erzbistum mit dem Bau einer Domkirche begann, die alles bisher Gesehene und somit auch den Halberstädter Dom weit überragen würde: Die Wölbung der Halberstädter Anlage wurde allem Anschein nach genau zu dem Zeitpunkt in die Wege geleitet, als man in Magdeburg einen angeblich verheerenden Brand - und das war eindeutig eine Zweckübertreibung - zum Anlaß nahm, um einen großzügigen Neubau ins Werk zu m a n aber wohl in setzen. Schon vor 1239 Halberstadt ein, daß größere Anstrengungen nötig sein würden, um neben Magdeburg bestehen zu können, wo damals schon der Chorumgang und ein guter Teil des Chors fertiggestellt worden waren. Es ergäbe sich ein verzerrtes Bild, würde verschwiegen, daß die «Baulust» der hohen Geistlichkeit in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ganz allgemein zu großen Taten beflügelte, eine Feststellung, die nicht nur für die deutsche Kirche gilt: In dieser Zeit entstanden in Frankreich die großen gotischen Kathedralen. Zudem darf nicht übersehen werden, daß Mitteleuropa in jenen Jahrzehnten einen ungewöhnlichen wirtschaftlichen Aufstieg erlebte und daß das Bewußtsein des einzelnen erwachte, daß der Mensch begann, sich als Individuum zusehen; eine Entwicklung, die - ganz abgesehen von mannigfachen politischen Veränderungen - natürlich auch die geistige Triebkraft jener Zeit, die christliche Kirche, veränderte und zugleich zu sichtbarem Ausdruck in der Kunst drängte.

Der Westbau In wie hohem Maße der Magdeburger Dombau 2-7, den Halberstädter anregte, zeigt gerade die 25> *7 erste der drei Bauphasen, die Errichtung der

muten, der gesamte monumentale

Unterbau

umschließe einen einzigen, breiten, durchgehenden R a u m . Die der Kirchenachse zugewandten Turmmauern treten außen nämlich nicht in Erscheinung. Die tatsächlich vorhandene Gliederung in drei hohe Baukörper, einen breiteren vor dem Mittelschiff und zwei schmalere vor den Seitenschiffen, ist durch die Westwand verdeckt. Sie faßt die drei Kompartimente

zu

einem mächtigen, horizontal gelagerten Querriegel zusammen. Dieser Eindruck wurde ursprünglich noch verstärkt durch eine planeinheitlich errichtete dreischiffige Vorhalle,

die

zwar längst beseitigt worden ist, aus den erhals

tenen Resten aber ohne Schwierigkeit rekon-

.10 m

struiert werden kann. Im Verhältnis zur West-

Grundriß des Westbaus mit Rekonstruktion der Vorhalle (nach H.Giesau)

fassade dürfte sie wie ein vorgelegter breiter

Westfassade mit Zweiturmfront und groß ange-

Bei der stilgeschichtlichen Einordnung die-

legtem Hauptportal und der ursprüngliche Plan

ser Teile ist der Kunsthistoriker in einer termi-

für das neue Langhaus, der freilich nicht aus-

nologischen Verlegenheit. Aus seiner Kenntnis

Sockel gewirkt haben.

der Architektur des zweiten Drittels des 13. Jahr-

geführt wurde. Es fallt auf, daß der Neubau im Westen be-

hunderts, in dem sie entstanden, resultiert eine

gonnen wurde und nicht, wie üblich, im litur-

präzise Vorstellung von jenem grundlegenden

gisch wichtigsten Bereich, im Osten. Die ein-

Stilwandel des Mittelalters, der sich in unserem

fachste Erklärung dafür bietet wohl die Ver-

Gebiete in diesen Jahrzehnten besonders rasch

mutung, man habe die bis 1220 mühsam umge-

vollzog: Die romanische Kunst, die Kunst der

baute ottonische Anlage solange wie möglich

deutschen Kaiserzeit, wird nun überlagert von

schonen wollen. Indem man nämlich den West-

der unter ganz anderen politischen und gesell-

riegel zuerst und westlich vor dem bestehenden

schaftlichen

Bau errichtete, konnte die alte Kirche vorläufig

Frankreich entstandenen gotischen Kunst. M a n

intakt und benutzbar bleiben. Vielleicht ver-

spricht deshalb von der Epoche des «Über-

mied man so auch am ehesten den Verdacht

gangsstils» - vom Romanischen zum Gotischen.

ungenügender Planung bei den voraufgegan-

Wozu gehört der Westbau des Halberstädter

Bedingungen

in

Burgund

und

Doms? Sein Gesamtkonzept ist zwar schon von

genen Arbeiten. Der Grundriß des neuen Westbaus ist ein

Anfang an frühgotisch. M a n braucht sich nur

Querrechteck aus zwei quadratischen Türmen,

zu vergegenwärtigen, daß ein solches Riesen-

die einen etwas breiteren Mittelteil

flankieren.

portal bis dahin in dieser Landschaft undenkbar

Nur der R a u m zwischen den T ü r m e n öffnet

war und an den romanischen Kirchen nicht vor-

sich in voller Höhe gegen das Mittelschiff. Die

kommt, um das Neue sogleich zu erkennen.

T ü r m e hingegen sind von unten an in sich ge-

A u c h der Architekturdekor ist wenigstens teil-

schlossene Baukörper, der nördliche mit einer

weise aus französisch-gotischem Geiste zu er-

breit angelegten Wendeltreppe, der südliche mit

klären. A b e r im Grunde spürt man noch die

einer steilen gewölbten Kapelle im Erdgeschoß.

große romanische Vergangenheit, die burgen-

Darauf nimmt jedoch die Gestaltung der West-

hafte Festigkeit der Kirchenbauten, ihre wehr-

fassade keine Rücksicht. Vielmehr läßt sie ver-

hafte Abschließung, den Verzicht auf hochstre11

bende Eleganz. Die großen Wandflächen im unteren Teile des Halberstädter Westbaus sind aufwendig akzentuiert, und zwar so, daß ihre wohlgefügten und kräftigen Mauern nicht kaschiert, sondern deutlich gezeigt werden. Sockel, Seitenbegrenzungen und Abschlußgesims betonen einen schweren Block. Eben das ist eigentlich noch spätromanisch. Schließlich muß in diesem Zusammenhang daraufhingewiesen werden, daß neben der französisch-gotischen Komponente, hier vor allem verkörpert durch Portal, Rose und Teile des Baudekors, die europäisch-zisterziensische vernehmlich zur Sprache kommt, deren nüchterne Strenge dafür verantwortlich ist, daß an der Halberstädter im Gegensatz zu den klassischen gotischen Kathedralenfassaden Frankreichs der figürliche Schmuck fast gänzlich fehlt. Die zisterziensische Bauhütte, die man auch in Magdeburg nachweisen zu können glaubt, dürfte den Übergang von der romanischen Schwere der Mauer zur gotischen, technisch durchdachten Auflockerung erleichtert haben, die dann in der Konstruktion des Glockenhauses und der Turmaufbauten unangefochten vorherrscht. Schlanke Eckdienste, dreimal mit Schaftringen an den Bau gebunden, neben gekehlten Lisenen, die in einen abschließenden Rundbogenfries unter kräftig modelliertem Gesims überleiten, rahmen den Unterbau. Seine Mittelachse wird betont durch das höher aufragende Portal, durch die zweifache Auftreppung des Hauptgesimses über dem Mittelteil und durch die große Fensterrose. Portal und Rose sind reich dekoriert, so daß sie den Blick ins Zentrum lenken. Die Seitenteile dagegen wurden nicht axial gegliedert. Oberhalb der gleichsam ans Hauptportal herangerückten, heute wie Blindtore wirkenden Schildbögen der seitlichen Joche der Vorhalle, die durch je vier kleeblattbogige Blendarkaden auf frei stehenden Säulen aufgelockert werden, sind je zwei Fenster schräg übereinander angeordnet, und zwar im oberen Geschoß weiter nach außen gerückt, so daß das obere Fenster jeweils in der Turmachse liegt. 12

Während der Baudekor des unteren Teils der Westfassade im wesentlichen original ist, hat man es bei den gotischen Aufbauten fast ausschließlich mit Nachahmungen des vergangenen Jahrhunderts zu tun. Nach mehrfachen Reparaturen, besonders 1574, 1763, 1853 und 1858-1861, wurden die Türme zu Ende des 19. Jahrhunderts abgetragen und neu aufgemauert. Dabei hat man - angeblich aus Gründen der statischen Sicherung - Veränderungen des äußeren Erscheinungsbildes vorgenommen. Die beiden Helme sind im ganzen Erfindungen jener Restaurierung, und auch das obere Turmgeschoß sah ursprünglich anders aus; nur die unteren Geschosse entsprechen noch einigermaßen dem alten Zustand. Man wird diese Wiederherstellung der Türme in erster Linie verantwortlich machen wollen für den empfindlichen Mangel an Verbindung zwischen ihnen und dem Unterbau, für den Verlust einer historisch gewachsenen, trotz allem letztlich lebendig-einheitlichen Fassade, und gewiß war der Gegensatz zwischen Sockel und Türmen nie so groß wie seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts; er war aber wohl immer spürbar. Die horizontale Lagerung des Unterbaus wurde, wie schon angedeutet, ursprünglich noch betont durch die nur in den Ansätzen erhaltene, weiträumige Vorhalle. Es ist so gut wie sicher, daß sie um die Mitte des 13. Jahrhunderts tatsächlich bestanden hat; einen schlüssigen Beweis dafür könnten jedoch nicht einmal mehr archäologische Untersuchungen erbringen; denn wer dürfte behaupten, daß die vielleicht noch nachweisbaren Fundamente jemals aufgehendes Mauerwerk getragen haben! Immerhin sprechen sowohl die historische Überlieferung als auch die an der Fassade sichtbaren Baureste eindeutig für die ehemalige Existenz der Vorhalle. In einer Baurechnung des Jahres 1367 wird «das Paradies», also die Vorhalle des Doms, erwähnt. Damals mußten die Außenmauer repariert und teilweise ganz erneuert sowie das Portal ersetzt werden. Hatte hier von Anfang an eine statische Fehlberechnung vorgelegen? Auch nach der Reparatur von 1367 hielt

die Vorhalle nicht stand; denn ein im 18. Jahr-

Köpfe in den oberen Ausläufen der Kehlen zwi-

hundert für die gleiche Stelle bezeugtes Para-

schen den Gewändesäulen angedeutet; aus den

dies aus Fachwerk war bestimmt nicht mehr der

Kehlen der Archivolten darüber blicken Köpfe

Ursprungsbau des 13. Jahrhunderts.

von geretteten Seelen hervor. Alle diese Köpfe

Die mittelalterliche Anlage ist leicht rekon-

sind, soweit nicht erneuert, relativ gut erhalten

struierbar: Der Hauptraum vor dem Portal

und zeigen erstaunlich lebendige Gesichter, in-

war quadratisch; er wurde flankiert von längs-

dividuelle Züge, charakteristisch für die Zeit der

rechteckigen, niedrigeren Seitenschiffen aus je

frühen Gotik. Über der das innere Doppelportal

zwei quadratischen Jochen von etwa halber

teilenden Säule schreitet ein Löwe einher. Er

Mittelschiffs-Jochgröße. Auf mächtigen Mauer-

trägt den Rest seiner Beute im Maul. Im Zu-

sockeln standen kräftige Säulenbündel, die hohe

sammenhang mit dem Jüngsten Gericht wird

Rippengewölbe trugen. Wo das Gewölbe an die

damit vielleicht auf Jesus Sirach 27,11 hinge-

Westwand des Doms gelehnt war, zeigt diese

wiesen: Der Löwe lauert immer auf Raub, wie

eine weniger glatte Außenflucht. Es ist mehrfach

die Sünden auf die, die Unrecht tun.

darauf hingewiesen worden, daß dort zuwenig

Die Kapitelle haben

keinen figürlichen

Platz für den Anschlag des mittleren Gewölbes

Schmuck. Auch sie sind typisch für die Über-

berechnet war. Vermutlich wurde die rahmende

gangszeit:

Einfassung der großen Rose vom Dach der Vor-

schon lebendig-saftiger Palmettenverzierung, in

halle überschnitten.

der Mehrzahl aber Knospenkapitelle. Der auf

Kelchblockkapitelle

mit

teilweise

Die Anlage und Disposition dieser Vorhalle

den ersten Blick reiche Dekor der Fassade be-

bot der Forschung einen sicheren Hinweis auf

steht dennoch aus nur wenigen Einzelformen.

die Herkunft der Architekturformen des Halber-

Es werden gekerbte Diamantfriese verwendet,

städter Westbaus. Sie sind sehr wahrscheinlich

Leisten mit scharf geschnittenen Nagelkopf-Ro-

von zisterziensischen Bauleuten aus Burgund

setten sowie profilierte Rundbogenfriese und

über Maulbronn nach Walkenried am Harz und

Kleeblattbögen. Charakteristisch ist die tiefe,

von dort zu den Dombauten in Magdeburg und

schattende Mehrschichtigkeit im Wechsel mit

Halberstadt vermittelt worden. Der Einfluß der

der glatten Wand. Die kleeblattbogigen Blend-

Zisterzienser wird dadurch ebenso deutlich wie

arkaden in den seitlichen «Blindportalen» zieren

die andauernde Rivalität der beiden sächsischen

auch die Seitenwände des Durchgangsraums

Hochstifte.

zum Schiff und die Westwände der Seiten-

Zisterziensisch ist auch die sorgfaltige groß-

schiffe. Vermutlich sollten sie im ganzen Bau

quadrige Mauertechnik und der auffallige Ver-

umlaufen. Dazu ist es jedoch nicht mehr ge-

zicht auf Monumentalplastik. Nur bei genaue4-7 rem Hinsehen wird man gewahr, daß das Hal-

kommen; denn nur der untere Teil des Westriegels wurde planeinheitlich ausgeführt.

berstädter Hauptportal wie so viele andere an

In der Eingangshalle liegen die Zugänge zu

das Jüngste Gericht gemahnt, obgleich hier we-

den Türmen, zwei Portale mit zweifachem

der Gewändefiguren aufgestellt wurden noch

Rücksprung und eingestellten Säulen. Hier sind

das Tympanon oder gar die Archivolten reich

die Tympana skulptiert: in dem des Südturms

mit Bildwerken besetzt sind: Unter dem Bogen-

ist eine kleine Kreuzigungsgruppe dargestellt,

scheitel, zwischen den beiden oberen Kleeblatt-

25 in dem des Nordturms ein Lebensbaum, in des-

bögen der Arkatur des Tympanons, befindet

sen Triebe zwei gegeneinandergekehrte geflü-

sich das Brustbild des Weltenherrschers; es fol-

gelte Drachen beißen, Sinnbilder des Bösen.

gen an entsprechender Stelle weiter unten zwei

Dm Relief ist fast vollplastisch ausgearbeitet, die

Engel, der eine betend, der andere mit Weih-

Komposition symmetrisch. Doch sind die beiden

rauch, und die vier Evangelistensymbole. Die

Hälften durchaus nicht deckungsgleich. Das

zu richtende Menschheit wird durch kleine

zeichenhaft bedeutungsvolle Ornament der ro-

13

manischen Zeit wurde hier schon frühgotisch verändert: Der stilisierte Baum hat den Hauch des Lebens eingesogen; frisches, üppiges Wachstum beseelt das ehedem leblos starre Symbol. Es ist nur noch ein kleiner Schritt bis zur realistischen Wiedergabe natürlicher Pflanzen. Auch die Lebendigkeit der kleinen Atlantenfigur, die das Kreuzigungstympanon gegenüber abstützt, wäre wenige Jahre zuvor nicht denkbar gewesen. Die Bauornamentik und die Architekturformen lassen keinen Zweifel über die Entstehungszeit jener ersten Teile des Domneubaus, die vom Übergangsstil geprägt sind. Sie können nur in den späteren dreißiger bis fünfziger Jahren des 13. Jahrhunderts geschaffen worden sein. Um die Mitte des Jahrhunderts hatte sich allgemein in diesen Gegenden der neue Stil schon durchgesetzt, war in Magdeburg die spätromanische Wurzel abgestorben und kam in Naumburg, Schulpforta und Meißen, um nur einige Großbauten zu nennen, ausschließlich die entwickelte frühe Gotik zu Worte. Die spärlichen literarischen Quellen bestätigen diese Datierung. Die Weihenachricht von 1220 läßt den Schluß zu, daß unmittelbar danach wohl kaum schon an einen vollständigen Neubau des Doms gedacht werden konnte. Erst Jahre später wird man mit neuen Plänen umgegangen sein. 1236 starb Bischof Friedrich II. Er hatte seit 1208 den Umbau der ottonischen Kirche geleitet, und man wird ihm wohl kaum auch noch die Initiative für den groß angelegten Neubau des Doms zutrauen dürfen; denn dieser Entschluß bedeutete ja zwangsläufig die Aufgabe alles dessen, was der Kirchenfürst zur Ehre des Halberstädter Gotteshauses in seiner Regierung vollbracht hatte. Vielmehr wird man annehmen müssen, daß ein solches Vorhaben erst nach seinem Tode ins Werk gesetzt werden konnte. Eine im Jahre 1239 von neun in Mainz zur Weihe versammelten Bischöfen für den Halberstädter Dombau ausgestellte Urkunde beweist nun, daß die Arbeiten damals schon einige Zeit im Gange waren. Der älteste Teil des bestehenden Halberstädter Doms dürfte demnach zwischen 1236 und 1239 begonnen worden sein. 14

Aus der ersten, um die Mitte des 13. Jahrhunderts abgeschlossenen Bauphase stammen auch das schöne, sechsteilige Bandrippenge- 27 wölbe der Turmhalle und vielleicht der - freilich im ganzen stilistisch schon jüngere - Ostgiebel der Glockenstube zwischen den Türmen, der nur noch vom Dachboden des Mittelschiffs aus sichtbar ist. Natürlich hatte er ursprünglich frei stehen sollen. Als aber das Mittelschiff höher als anfanglich geplant aufgeführt wurde, verschwand er im Dachraum. Infolgedessen sind die prächtigen Detailformen unverwittert erhalten geblieben.

Kreuzgang und Klausur Noch im ersten Bauabschnitt wurden vermut- 1, lieh auch große Teile der Klausur und der ge- 22~24 samte Kreuzgang erneuert. Vom Vorgängerbau ist lediglich der sogenannte alte Kapitelsaal übernommen worden. Er liegt am Ostflügel des an die Südseite des Doms anschließenden Kreuzgangs. Ohne tiefer in die bisher noch ungeklärte Baugeschichte einzudringen, soll hier nur darauf hingewiesen werden, daß man es eigentlich mit drei zweischiffigen, kreuzgratgewölbten Räumen zu tun hat, einem mittleren aus sechs sowie einem südlichen und einem nördlichen aus je vier Jochen. Die beiden äußeren Joche des Nordraums sind nur noch teilweise erhalten. Die drei Räume waren durch massive Mauern getrennt; die nördliche Wand ist unversehrt bestehengeblieben, die südliche wurde vermutlich schon in gotischer Zeit beseitigt und durch zwei Bögen über einem starken Kreuzpfeiler ersetzt. Die Raumgrenze wird hier noch heute durch eine Stufe markiert, die von dem tieferen mittleren Teil zu dem wenig höheren südlichen führt. Im mittleren, dem Hauptraum, haben die zwei schweren, ebenfalls kreuzförmigen Pfeiler attische Sockel sowie einen attischen Kämpfer und einen mit schachbrettverzierter Schräge. Sie tragen schwere Gurte und wenig gebuste Gewölbe. Die vier Gewölbe des Südteils dagegen stützt ein kürzerer

Quadratpfeiler mit einem Kämpfer aus Platte und flach gekehlter Schräge. In der Ostwand sind kleine romanische Fenster erhalten. Alle diese Einzelformen könnten am ehesten in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden sein. Der gewöhnlich als alter Kapitelsaal bezeichnete mittlere und südliche Teil ist gegen den wesentlich höher gelegenen östlichen Kreuzgangtrakt durch mächtige Spitzbögen geöffnet, deren Breite ungefähr mit der Jochweite übereinstimmt. Vor der Errichtung des neuen Kreuzgangs - und vielleicht sogar noch bis in das 15. Jahrhundert - hat man sich an dieser Stelle die geschlossene Westwand jener drei hochromanischen Räume vorzustellen. Zuerst nahm man an, es sei dies die Krypta eines Vorgängerbaus. Das ist jedoch, wie man inzwischen weiß, nicht möglich. Aber auch die jetzt übliche Deutung «Kapitelsaal» des vorletzten Doms dürfte wohl nicht richtig sein, denn dann hätte der Kapitelsaal des ottonischen Doms viel zu weit östlich von dessen Querhaus gestanden. Vielleicht lag das Gebäude außerhalb der Klausur und diente als Infirmitur, als Krankenhaus. Der weiträumige Kreuzgang des 13. Jahrhunderts umschließt ein Rechteck von etwa 44 mal 30 Meter. Er ist kreuzgratgewölbt und öffnet sich in großen spitzbogigen Arkaden zum Hof. Die in die Spitzbögen eingefügten je drei kleeblattbogig geschlossenen Arkaden, deren mittlere die beiden seitlichen jeweils erheblich übersteigt, sind alle erst im vergangenen Jahrhundert hergestellt worden, geben aber vermutlich den ursprünglichen Zustand richtig wieder. Der Nordflügel des Kreuzgangs, der in romanischer Zeit zweischiffig war, erfuhr noch mehrere spätgotische Veränderungen: Auf der Hofseite wurden ihm die Strebepfeiler für den Südarm des Querhauses und für den über dem Kreuzgang errichteten neuen Kapitelsaal vorgesetzt. Für die Anlage der Fundamente der in den Hof einspringenden Südfassade des Querhauses mußten zwei Kreuzgangjoche beseitigt werden. Als man sie - als Unterbau der Querhausempore - wiederherstellte, erhielten sie spätgotische Netzgewölbe. Sehr wahrscheinlich

waren von Anfang an nicht nur die drei äußeren Kreuzgangtrakte, sondern auch der am Südseitenschiff zweigeschossig. Die Baugeschichte ist jedoch noch immer nicht genügend geklärt, um exakte Angaben machen zu können. Gewiß wurde aber der zweischiffige Nordtrakt des romanischen Kreuzgangs als letzter abgerissen und durch den neuen, einschiffigen Kreuzgangflügel und die Sakristeiräume ersetzt. Fast vollständig fehlen jetzt die den Kreuzgang umschließenden Klausurgebäude. Außer dem sogenannten alten Kapitelsaal ist nur noch der Remter erhalten. Er grenzt an den Westflügel des Kreuzgangs und an das südliche Seitenschiff des Doms. Über einem mächtigen gewölbten Keller ist der zweischiffige Hauptraum angelegt. Vier Pfeiler tragen ein zehnjochiges Kreuzgratgewölbe. Im flach gedeckten Obergeschoß ist jetzt ein großer Teil der Domsammlung untergebracht. Es wurde verkürzt, als Bischof Ernst (1479-1513) den neuen Kapitelsaal erbauen ließ, der über dem Kreuzgang von der Westwand des südlichen Querhausarms bis zur Westwand des Remters durchläuft. Während der ersten Bauphase ist der Neubau also relativ schnell vorangekommen, da außer dem Westriegel mit der Vorhalle der Kreuzgang und wohl auch ein großer Teil der Klausur fertiggestellt werden konnten.

Die drei gotischen Langhausjoche In den sechziger Jahren des 13. Jahrhunderts war dann der Zeitpunkt gekommen, die Westteile der ottonischen Anlage einschließlich des wesdichen Querhauses abzubrechen, um den Bau nach Osten vorantreiben zu können. Die aufgerissene Lücke zwischen dem neuen Westriegel und dem ottonischen Langhaus ermöglichte die Errichtung dreier Joche des gotischen Langhauses. Für den Gottesdienst standen währenddessen nach wie vor Chor, Quer- und Langhaus des alten Doms zur Verfügung. Wie lange Zeit die Abbrucharbeiten in Anspruch nahmen, ist nicht mehr auszumachen. *5

Fest steht, daß zu dieser Zeit der Entschluß gefaßt wurde, den bisher verfolgten Plan für den Neubau der Kathedrale aufzugeben und ein wesentlich höheres Langhaus zu schaffen. Der Grundriß zeigt, daß zwar die ursprünglich vorgesehene Breite beibehalten worden ist, sie war j a ohnehin durch den neuen Westriegel vorgegeben, daß aber die Pfeilerabstände erheblich enger gewählt wurden. Vergleicht man schließlich den Aufriß des ersten und des zweiten Plans, etwa mit einem Blick vom Innenraum 2g her auf die Westwand des Nordseitenschiffs oder außen auf die verschiedenen Höhen des ur- 8 sprünglichen und des neuen Hauptgesimsansatzes des Langhauses auf der Nordseite, dann kann man bequem ablesen, um wieviel höher nunmehr Mittel- und Seitenschiff aufgeführt wurden. Vielleicht steht diese entscheidende Planänderung wiederum im ursächlichen Zusammenhang mit dem Neubau des Magdeburger Doms. Dort waren inzwischen der Chor und die Unterbauten der Osttürme fertig geworden. Mit dem um 1240 begonnenen Querhaus setzte sich in Magdeburg endgültig die Gotik durch. Man verzichtete nun auf die geplante Fortführung der Empore. Zugleich wurden die Raummaße erweitert. Das gilt erst recht für das neue System des Magdeburger Langhauses, das wohl bald nach der Mitte des Jahrhunderts entworfen worden ist. Der damals gefaßte Plan läßt das Bestreben erkennen, die Räume des Mittelschiffs und der Seitenschiffe zu verschmelzen, die Arkadenreihen nicht mehr als raumteilende Wände erscheinen zu lassen, sondern als verbindende Öffnungen zu hohen Seitenschiffen. Der Raumcharakter wird dadurch dem einer Halle ähnlich. Hier glaubt man die Entwicklung zu einem in allen Schiffen gleich hohen, einheitlichen Raum zu spüren, die noch in demselben Jahrhundert etwa in Marburg oder, um im sächsisch-thüringischen Gebiet zu bleiben, in Meißen dazu führte, daß das traditionelle basilikale System zugunsten von Hallenkirchen aufgegeben wurde. Der Halberstädter Dom wurde für Bauherren geschaffen, die das Geschehen in Magde-

16

burg mit der Aufmerksamkeit von Rivalen verfolgten; jede Planänderung in Magdeburg hatte Rückwirkungen auf ihren Bau. Die Mittelschiffsgewölbe waren in Halberstadt ursprünglich in gleicher Höhe vorgesehen wie das noch aus der ersten Bauperiode erhaltene Gewölbe des Eingangsraums zwischen den Türmen; ein Rest der projektierten Seitenschiffsgewölbe ist der Schildbogen in der Westwand des Nordseitenschiffs. Es ergibt sich daraus, wie bereits angedeutet, eine im ganzen viel niedrigere Anlage als die dann ausgeführte. Besonders auffällig war der vorgesehene Höhenunterschied von Mittel- und Seitenschiffen. Während das Mittelschiff etwa 19,5 m hoch werden sollte, hätten die Seitenschiffe nur etwa 7,5 m erreicht. Das sind ungewöhnliche Proportionen, und die Forschung glaubt sich deshalb zu dem

drei westlichen Joche (nach C. Elis)

Schlussc berechtigt, man habe über den Seiten-

überholend, ganz gotisch durchgebildet. E r wird

schiffen Emporen anordnen wollen. Für diese

17, '9 gehalten von schlanken, fialenbekrönten Strebe-

Hypothese gibt der Bau keinen weiteren A n -

pfeilern mit Strebebögen - die es übrigens in

haltspunkt. Solche Emporen gehören aber zum

Magdeburg nicht gibt. Sie sind durch große

der für den Halberstädter

Fünfpässe genau an der Stelle aufgelockert, wo

Westbau maßgeblichen Vorbilder, und auch in

ihre Wandhaftigkeit am deutlichsten in Erschei-

Architekturkanon

Magdeburg hatte man j a kurz zuvor den Chor-

nung

umgang mit einer Empore versehen, die ins

Strebepfeiler, wo wiederum eine leere Fläche

Querschiff fortgesetzt werden und vermutlich

sichtbar geworden wäre, beleben Wasserspeier-

ebenso im Langhaus umlaufen sollte.

tiere den Pfeilerkern, vor dem dann unten in

s6, loy

Das Mittelschiff des Halberstädter

tritt.

Unter

der oberen

Schräge

der

Höhe der Seitenschiffsfenster offene Figuren-

Doms

wurde nach dem neuen Plan um rund 7 m auf

tabernakel mit hohen Pyramidendächem ange-

30 26,50 m erhöht. Die Seitenschiffe erhielten so-

ordnet sind. Im übrigen wird die Außenansicht

gar

fast die doppelte

Höhe:

13,80 m

des Schiffs beherrscht von den vier- oder drei-

statt

7,50 m; denn sie wurden um die entfallende

teiligen Fenstern. Ihre schlanken Stäbe und

Emporenhöhe und noch einige Meter mehr auf-

kreisförmigen Maßwerke mit Vier- oder Sechs-

gestockt. Dadurch ist das Raumbild entschei-

pässen sind klassisch schlicht. Die Öffnungen

dend verändert worden, und zwar letztlich im

nehmen nicht nur fast den ganzen Raum zwi-

Sinne einer Steigerung - womit man vermutlich

schen den Streben ein, sondern sie reichen auch

wiederum den Magdeburger Neubau hat über-

jeweils bis dicht unter das Dachgesims. Die

treffen wollen. Die niedrigen Seitenschiffe mit

Horizontalen sind auf das Notwendigste be-

Emporen hätten das Mittelschiff zu einem ab-

schränkt: verkröpfter Sockel, verkröpftes K a f f -

gesonderten Raumkörper gemacht, der gleich-

gesims, ein Dachgesims, das durch einen locke-

sam durch die Arkaden in die nebenräumlichen

ren Blattfnes erleichtert wird, und eine Brüstung

Seitenschiffe ausklingt. Der zweite Plan öffnete

aus Vierpaßmaßwerk für den Umgang auf der

nun die Seitenschiffe vollständig zum Mittel-

Mauerkrone des Mittelschiffs.

schiff. Auch der Halberstädter Dom bekam auf

So gelang im ganzen ein

ausgewogenes

diese Weise ein zwar basilikales, aber hallen-

Architekturbild von strenger Reinheit und ho-

artig wirkendes Langhaus; und daß der Halber-

her Monumentalität. Beflügelt durch den zu-

städter dem Magdeburger Bau nicht nur folgte,

nächst immer um eine Etappe voraneilenden

sondern ihn noch zu überbieten suchte, wird

Baueifer der Magdeburger und durchdrungen

deutlich, wenn man im Innern und am Außen-

von den grundlegenden neuen technischen und

bau die Stützensysteme vergleicht. Das Halber-

künstlerischen Möglichkeiten und Erfahrungen

städter ist französischer und damit moderner.

der französischen Gotik, die für das eigene Vor-

Hier ist alles auf die Vertikale abgestellt. Die

haben adaptiert, nicht etwa kopierend über-

schnelle Folge von hochstrebenden Stützen, die

nommen wurden, entwarf man in Halberstadt

Negierung der Wandfläche durch große Fen-

einen Plan für das neue Langhaus, der über

ster und durch die Betonung schlanker Kon-

Jahrhunderte beibehalten werden konnte und

struktionselemente, die Aufhebung alles Lastenden und die federnde Leichtigkeit der

Ge-

bis zum späten Abschluß maßgeblich blieb. 8

Zuerst entstand das nördliche Seitenschiff.

wölbe, deren jede einzelne Rippe von einem bis

Die schlanken, aber durchaus tragfähig erschei-

zum Boden durchgeführten Dienst spielend ge-

30 nenden Rundpfeiler zeigen bei den Nordarka-

stützt wird, alles ist aus einem Guß französisch-

den eine Besonderheit, die sie von allen andern

gotisch. V o r allem die Reimser Kathedrale hat

unterscheidet. Nur sie haben frei vor den Pfeiler

1 wohl im Blickfeld gestanden. Auch der Außen-

gestellte Dienste; und sie erweisen sich schon

bau wurde, wiederum Magdeburg gleichsam

dadurch als die ältesten des Langhauses. Dem

entspricht die Laubverzierung der Kapitell- 98

die literarischen Quellen, noch spricht der Bau-

kränze und Schlußsteine. Blätter, Blüten und

befund dafür.

Früchte sind fast noch realistisch-natürliche

Im Anschluß an die Errichtung der west-

Abbilder der heimischen Flora. Es ist die Stil-

lichen Joche des südlichen Seitenschiffs dürften

stufe der beginnenden hohen Gotik. Hier wird

die Hochwände fertiggestellt worden sein. Dann

man an die entwickeltsten Stücke des - abge-

wurden die ersten Mittelschiffsgewölbe einge-

sehen von den Westjochen und der Westfas-

bracht, und zwar sehr wahrscheinlich nur die

sade -

1268 vollendeten Umbaus der Zister-

beiden westlichen. Das dritte stammt, wie die

zienser-Klosterkirche Schulpforta erinnert. Eine

Jahreszahl an seinem Schlußstein erweist, erst

weitere Parallele zur Stilstufe des Baudekors der

aus dem Jahre i486. Die Möglichkeit, daß auch

drei Westjoche des Halberstädter Nordseiten-

dieses Joch schon in hochgotischer Zeit einmal

schiffs bieten entsprechende Werke am Lettner

überwölbt worden war und i486 erneuert wer-

und im Untergeschoß des sogenannten Acht-

den mußte, ist freilich nicht auszuschließen.

eckbaus,

Aber es entspräche der mittelalterlichen Bau-

der

Eingangskapelle

des

Meißner

Doms. Sie wurden um 1270/80 geschaffen. In dieselbe Zeit gehören die drei arg verwitterten

gewohnheit, wenn man dieses Joch vorerst nicht 8-10

mit einem Gewölbe versehen hätte. Grund da-

Standbilder in den Tabernakeln der Strebe-

für ist die statische Vorsicht. Das Joch mußte

pfeiler der Nordseite, ein König und eine Köni-

nämlich auf lange Zeit ohne Widerlager nach

gin sowie ein Engel (?). Das ikonographische

Osten bleiben. Der Schub in dieser Richtimg

und auch noch das stilistische Vorbild war hier

hätte nur durch Stützkonstruktionen auf das

wohl wiederum Reims. Alle Überlegungen zu-

viel niedrigere - damals j a noch erhaltene -

sammengenommen machen es sehr wahrschein-

ottonische Langhaus abgeleitet werden können,

lich, daß die drei Westjoche des Halberstädter

mit dessen künftigem Abbruch man rechnete.

Nordseitenschiffs im dritten Viertel des 13. J a h r -

W a r aber der Zeitpunkt gekommen, an dem

hunderts erbaut wurden.

man die Baufreiheit für den Weiterbau des Lang-

Bald danach, also in den achtziger Jahren,

hauses nach Osten schaffen mußte, dann wurde

müssen die drei Westjoche des Südseitenschiffs

die weitere Stützung dieses Gewölbes höchst

errichtet worden sein. Die Außenansicht ist hier 77

problematisch, wenn nicht sogar unmöglich. Es

durch den vorgelagerten Kreuzgang mit dem

lag also nahe, nur die beiden westlichen Ge-

darüber errichteten neuen Kapitelsaal verstellt,

wölbe auszuführen und ihren Schub nach Osten

dessen Einfügung im frühen 16. Jahrhundert

durch eine Hilfskonstruktion auf den Oberga-

übrigens sehr wahrscheinlich den nachbilden-

denmauern des dritten Jochs abzufangen. Das

den Ersatz des oberen Teils der Seitenschiffs-

dritte Joch des Mittelschiffs dürfte deshalb bis

wand

notwendig

gegen Ende des 15. Jahrhunderts zwar schon

machte. Die unteren Wandflächen, die Pfeiler,

überdacht, aber ohne Gewölbe belassen worden

deren Dienste nunmehr fest mit dem Pfeiler-

sein. Kragsteine für eine flache Notdecke, wie in

und

der Fenstermaßwerke

kern verbunden sind, und weitgehend auch die

den folgenden Jochen des Mittelschiffs, sind hier

Ornamentik stammen jedoch noch aus dem

nicht erhalten.

letzten Viertel des 1 3 . Jahrhunderts. Der Blatt-

Der zweite Bauabschnitt, die Beseitigung

dekor ist hier noch lockerer als auf der Nord-

der Westteile des ottonischen Doms und die Er-

seite und zeigt die für jene Stilstufe charakte-

richtung der drei westlichen Joche des Lang-

ristischen stilisierenden Verbeulungen. Es wurde

hauses, folgte dem ersten, der Erbauung der

immer wieder behauptet, eine Einsturzkata-

Westfassade, vermutlich unmittelbar, und der

strophe habe im frühen 14. Jahrhundert einen

Beginn dieser Bauphase kann mit Hilfe der Stil-

Neubau dieser drei Joche des südlichen Seiten-

analyse relativ genau frühestens auf die sechzi-

schiffs veranlaßt. Davon berichten aber weder

ger Jahre des 13. Jahrhunderts fixiert werden,

18

zumal da sich in dieser Zeit in Mitteldeutschland ganz allgemein jener Stilwandel vom Frühgotischen zum Hochgotischen vollzog, der die Halberstädter Bauherren vcranlaßte, den schon begonnenen frühgotischen Langhausplan zu verwerfen und durch einen hochgotischen zu ersetzen. Die literarischen Quellen unterstützen zwar diesen Zeitansatz nicht unmittelbar, sprechen aber ebensowenig gegen ihn. Im folgenden werden alle diesbezüglichen Urkunden chronologisch angeführt. Am 8. Februar 1252 wurde nach langer Paüse wieder eine Indulgenz für den Halberstädter Dombau ausgestellt. In der Urkunde heißt es zur Begründung, der Dom sei seines hohen Alters wegen verbraucht, und man habe deshalb begonnen, ihn zu reparieren. Im Jahre 1258 erließen der Metzer Bischof und sein Kapitel zwei Ablässe zugunsten des Halberstädter Dombaus, wonach man in Halberstadt, von höchster Not gedrängt und weil die Kirche durch einen unerwarteten und elenden Unglücksfall von einem Brande zerstört wurde, dringend der Unterstützung bedürfe. Mag diese Begründung nun eine Zweckübertreibung sein oder nicht, beide Urkunden bezeugen eindeutig den Fortgang der Arbeiten und die Notwendigkeit auswärtiger Hilfe. Die Urkunden der Jahre 1252 und 1258 können aus stilgeschichtlichen Gründen eigentlich nicht auf die Errichtung der drei Westjoche des Langhauses bezogen werden. Aber sie passen zeitlich auch nicht mehr zu den Bauteilen der ersten Bauphase. Wahrscheinlich hat man in jenen Jahren an der Klausur und besonders an den Türmen weitergearbeitet. Weitere Indulgenzen für den Kirchbau sind aus den Jahren 1263, 1265 und 1266 überliefert. Diese Urkunden erwähnen unter anderem Arbeiten an Klausurgebäuden (officine), könnten aber auch schon zur Beschaffung von Mitteln für das neue Langhaus bestimmt gewesen sein. Hier mußten zunächst Abbrucharbeiten finanziert werden; denn nun erst wurden ja Westbau und Westquerhaus der ottonischen Anlage beseitigt. Am 4. April 1276 wurde dann vom Naumburger Bischof ein Ablaß für die Dombe-

sucher am Kirch weih tag des Halberstädter Doms und am Tag des heiligen Stephan ausgestellt. Diese Urkunde ist bisher fälschlich auf die Weihe der damals angeblich fertiggestellten drei westlichen Joche des nördlichen Seitenschiffs bezogen worden. Es war dies aber zweifellos eine Fehlinterpretation ihres Textes. Man kann ihm nichts weiter entnehmen, als daß auch in Halberstadt der jährliche Kirchweihtag zur Füllung des Stiftssäckels mit Spenden der von weither herbeiströmenden Gläubigen genutzt wurde. Immerhin fallt diese Urkunde bestimmt in die Zeit, in der die neuen Langhausjoche emporwuchsen, und wahrscheinlich waren die drei Westjoche des Nordseitenschiffs damals gerade fertig geworden. Schon am 5. Mai desselben Jahres (1276) urkundete der Bischof von Schwerin wieder einen Ablaß für den Bau des Halberstädter Doms und seiner Wirtschaftsgebäude. Der Wortlaut dieser Urkunde entspricht weitgehend dem der Indulgenzen von 1263, 1265 und 1266. Es hatte sich also in der Zwischenzeit wohl kaum etwas geändert, wie man nach einer Weihe hätte erwarten dürfen, die die Arbeiten, wie die Forschung glaubte, zu einem vorläufigen Abschluß brachte. Im Jahre 1285 wurde wiederum eine Indulgenz für die, Domfabrik ausgestellt, und 1292 erließ der Bischof von Hildesheim, der sich damals in Halberstadt aufhielt, einen Ablaßbrief für die «Erneuerung des Halberstädter Doms». Schließlich könnte für den Fortgang der Arbeiten noch eine Urkunde in Anspruch genommen werden, die vor dem 15.Juli 1303 zu datieren ist. In ihr wird eine befristete Stiftung für den Bau der Kirche (structure ecclesie) verbrieft. Weitere Indulgenzen des späten 13. oder frühen 14.Jahrhunderts für den Dombau sind nicht nachweisbar. Erst vom Jahre 1317 ist wieder ein Ablaßbrief erhalten. Er wurde von fünf Erzbischöfen und Bischöfen in Anagni ausgefertigt, und sein Inhalt läßt kaum einen Zweifel, daß damals der Abschluß eines Bauabschnitts erreicht war. Es ist dies bereits eine Indulgenz der späteren Phase. Sie gilt für die Kirchenbesucher an ungewöhnlich vielen Festtagen, und sie zählt eine Fülle von *9

Bedingungen auf, die zur

Sündenvergebung

führen, erwähnt dabei aber nicht den Dombau.

Ausstattung gefolgt sein, wie die erwähnten Urkunden seit 1317 deutlich zeigen.

Wäre er wirklich im Gange gewesen, man hätte

Die drei westlichen Joche des Halberstädter

gewiß nicht versäumt, auch auf die tätige oder

Langhauses, die der stilgeschichtlichen Ver-

materielle Hilfe für ihn als Ablaßgrund hinzu-

wandtschaft wegen «Reimser» Joche genannt

weisen. Statt dessen werden Spenden für Kerzen,

wurden,

sind

in

ihrer

selbstverständlichen

Gewänder und andere für die Kirche notwen-

Schlichtheit von klassischer Vollendung. Ohne

dige Utensilien erbeten. Weiter sprechen für die

den im Mutterlande der Gotik üblichen über-

Vollendung eines größeren Bauabschnitts vier

reichen Figurenschmuck und ohne brillierendes

Vikarien-Stiftungen, je eine in den Jahren 1329

Architekturdetail - beides wurde gleichsam dem

und 1337 und zwei im Jahre 1334, sowie die

Bauwerk untergeordnet - mit noch natürlichem,

testamentarische Verfügung einer Altarstiftung

freilich schon locker werdendem und zuneh-

aus dem Jahre 1339.

mend stilisiertem pflanzlichem Dekor an Kapi-

Mehr bieten die Quellen nicht. Die zweite

tellen und Schlußsteinen, mit edlen, aus ein-

Bauphase endete demzufolge bestimmt nach

fachen Kreisfiguren, Drei- und Vierpässen, zu-

1292. Sie dauerte sehr wahrscheinlich noch im

sammengesetzten Maßwerken in den Fenstern

frühen 14. Jahrhundert an und war mit großer

und mit kräftigen, zugleich aber schlanken

Sicherheit vor 1317 abgeschlossen. Ist das rich-

Rundstützen und zumeist gerundeten Architek-

tig, dann entstanden die drei westlichen Joche

turprofilen sind sie ein großartiges Beispiel für

des Langhauses im Verlaufe von rund einem

den ruhigen Schritt der frühen Hochgotik.

halben Jahrhundert, in weitesten Grenzen gerechnet zwischen 1263 und 1317. Der Hauptgrund für diese relativ lange Bau-

Die steilen Wandfelder und Raumkompartimente der einzelnen Joche fügen sich zu einer

einheidichen

Wandfassade

von

be-

zeit war vermutlich die notorische Verschul-

zwingender Schönheit und zu einem durch-

dung des Bistums. Einige hundert Urkunden be-

gestalteten Raum, dessen Hoheit

legen sie drastisch. Es würde hier zu weit führen,

lich bleibt. Nicht nur der von der Sache her

den tieferen Ursachen der ständigen Geldnot

gegebene Zwang, dem von Anfang an mit

der Halberstädter Bischöfe und ihres Kapitels

großem Atem vorgetragenen Programm nach

nachzuspüren. Tatsache ist, daß nicht in erster

Kräften bis zur Vollendung zu folgen, sondern

Linie der nun schon lange währende Dombau

auch

die

überzeugende

unvergeß-

Sicherheit,

eine

die Mittel unerträglich zusammenschrumpfen

heute wie in Zukunft gültige, große Konzep-

ließ, sondern daß vor allem Auseinandersetzun-

tion weiterzuführen, dürfte die Halberstädter

gen mit den weltlichen Potentaten der näheren

hohe Geistlichkeit veranlaßt haben, über Jahr-

und weiteren Nachbarschaft Summen verschlan-

hunderte unbeirrt an dem einmal gefaßten Plan

gen, die eine gesunde Finanzpolitik jahrzehnte-

festzuhalten.

lang unmöglich machten.

Die Finanzen des Bistums freilich waren zu-

Vermutlich kam der Bau anfänglich, als das

nächst zerrüttet. Größere neue Vorhaben in

nördliche Seitenschiff hochgezogen wurde, noch

Angriff zu nehmen, wird man in den ersten

einigermaßen zügig voran. Im letzten Viertel des

Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts wenig geneigt

13. Jahrhunderts verlangsamte sich das Tempo

gewesen sein, zumal seit Ende 1324 innere Wir-

dann wohl fast bis zum Stillstand.

ren im Gefolge einer zwiespältigen Bischofs-

Nachdem im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahr-

wahl das Hochstift lähmten. Vielleicht hat man

hunderts der Westteil des neuen Langhauses

lediglich langsam an den Türmen weitergebaut,

endlich vollendet war, wurde er mit dem noch

zumal noch im Jahre 1366 der Helm des Süd-

bestehenden ottonischen Schiff vereinigt. Dann

turms nicht vollendet war, wie aus einer Ur-

dürften Jahre des Ausbaus und vor allem der

kunde hervorgeht.

20

Währenddessen stand man vor der Entscheidung, entweder das Langhaus weiter nach Osten zu verlängern, was den Abbruch des ottonischen Schiffs zur Voraussetzung gehabt hätte, oder die neuen Ostteile ins Werk zu setzen, wo man vorerst ohne die Beseitigung der im wesentlichen noch immer erhaltenen alten Anlage vorankommen konnte. Sehr wahrscheinlich richtete man sich auf lange Zeiträume ein, denn für einen zügigen Fortgang der Arbeiten fehlte das Geld. Eben deshalb dürfte man es auch vorgezogen haben, die weiterhin für den Gottesdienst genutzte alte Kathedrale vorerst nicht abzubrechen, sondern abzuwarten, bis der sie ersetzende neue Raum in größeren Teilen vorhanden sein würde. Die Bauabfolge ergab sich nach solchen Überlegungen von selbst. Man begann mit den am weitesten östlich gelegenen Teilen, die ihren Platz in beträchtlichem Abstand von dem Chor und der Außenkrypta des ottonischen Doms finden sollten. Der Neubau wuchs auf dieseWeise langsam von Ost nachWest auf den alten zu und schließlich um ihn herum.

Die Marienkapelle 14-16, Zuerst entstand die Scheitelkapelle des Chors, 43 die Marienkapelle. Ihr Grundriß ist klassisch schlicht: ein regelmäßiges 5/8-Polygon mit querrechteckigem Vorjoch, dessen Schmalseiten genau der Länge einer Polygonseite entsprechen. Die gesamte Anlage ist der Wölbung entsprechend mit Strebepfeilern umstellt. Freilich sind die beiden westlichen nicht zu sehen, denn an diesen Stellen wurde der Chorumgang angeschlossen. Seine beiden mächtigen östlichen Strebepfeiler verdecken nicht nur die Westecken der Kapelle, sondern auch die unteren Teile der Außenwände von deren Westjoch. Es wurde deshalb vermutet, daß die westlichen Strebepfeiler der Kapelle zunächst gesondert ausgeführt waren. Sie müßten dann im Inneren der Chorumgangsstreben erhalten sein, und man hätte zu folgern, daß die Verbindung von Marienkapelle und Chorumgang, letztlich also der ge-

samte Hochchor, ursprünglich anders geplant gewesen wäre. Aber dagegen sprechen gewichtige Gründe: Die Kontaktstellen zwischen den Chorstrebepfeilern und der Marienkapelle erlauben nicht den Schluß uneinheitlicher Planung und verschiedenzeitlicher Entstehung. Auch die spärlichen zeitgenössischen Nachrichten sprechen für die Annahme, man habe gleichzeitig an den östlichen Teilen des Chors und an der Kapelle gearbeitet. Schließlich muß in diesem Zusammenhang auf eine Eigentümlichkeit hingewiesen werden, die beiden Bauteilen, der Marienkapelle und dem Chorumgang, gemein ist und ihre Planeinheitlichkeit bestätigen könnte: auf die tiefen spitzbogigen Nischen in den Innenwänden, die von vielgliedrigen Profilen umzogen sind. Sie weiten das westliche Joch der Marienkapelle und gliedern im Chorumgang das Polygon sowie die gesamte Nordhälfte; in der Südhälfte sind lediglich zwei unverändert erhalten. Diese Nischen konnte man im Chorumgang ohne Schwierigkeiten in gehöriger Tiefe einbauen, da hier die Höhe der Außenmauern unten ohnehin ein starkes Mauerwerk erforderte. In der Marienkapelle dagegen war das der viel schwächeren Wände wegen nicht möglich. Hier mußte die Mauer entsprechend verstärkt werden. Sie springt deshalb im Westjoch der Kapelle um Nischentiefe nach Norden und Süden aus, was am Dachgesims leicht ablesbar ist. Der Außenbau der Kapelle entbehrt, abgesehen von dem Dachreiter, fast allen Bauschmucks. Der Sockel wird abgeschlossen von einem flachen Profil aus Wulst und Kehle. Wie er ist auch das sehr tief angeordnete Kaffgesims um die Strebepfeiler verkröpft. Darüber ist die bis dahin glatte Wand zwischen den Strebepfeilern vollkommen aufgelöst durch hohe, dreiteilige Fenster. Zwei Steinschichten über ihnen beginnt bereits das stark profilierte Dachgesims. Das Äußere der Kapelle wird beherrscht von den Vertikalen der Fenster und der Strebepfeiler, die durch Pultdächer abgedeckt und von je einem Wasserschlag noch einmal unterteilt sind. Die Maßwerke der Fenster, wieder aus großen Vier- und kleineren Dreipässen zusam21

mengesetzt, ordnen sich dem Gesamteindruck edler Schlichtheit ein. Das steile Dach betont noch einmal den gotischen Charakter des Bauwerks, und eine letzte Steigerung bildet der Dachreiter, der als einziger Bauteil aufwendiges 15 Schmuckdetail zur Schau trägt und dadurch fast ein wenig fremd anmutet. Seine über dem Achteck konstruierte steile Laterne ist bekrönt von einer reich mit Krabben besetzten, doppelt so hohen, schlanken Fiale. Rundum ragen zwischen den Wimpergen der Laterne zierliche Wasserspeier-Figürchen weit vor. In vollendeter Schönheit kündigt sich hier bereits die virtuose Spätgotik an. So fremd sich der Dachreiter im Vergleich mit der Architektur der Kapelle ausnimmt, so verwandt ist er den ältesten Teilen des Chorumgangs. Das Innere der Kapelle ist erfüllt von dem gedämpften Licht der weitgehend erhaltenen originalen Färb- 42l43 fenster. Hier kann man die Bedeutung angemessener Lichtführung in einem mittelalterlichen Raum unmittelbar erfahren. Wie selten ist das noch möglich! Die Scheiben des Scheitelfensters müssen in die Zeit um 1330/40 datiert werden, alle übrigen in die Mitte des 14. Jahrhunderts und danach. Die modernen Ergänzungen fügen sich dem alten Bestände ein. Der Wandsockel steigt unter den Fenstern des Polygons glatt auf. Erst in Höhe der Sohlbänke setzen über Konsolen die Gewölbedienste an. Sie enden bereits wieder kurz oberhalb der Sohlbankschrägen, und zwar in reichen Kapitellen, auf denen unterlebensgroße Skulpturen stehen. Oberhalb von deren Baldachinen werden die Dienste fortgeführt und leiten ohne Kapitelle in die Gewölberippen über. Den Kämpferpunkt markieren flach skulptierte Rosetten seitlich neben ihnen. Die großen Schlußsteine sind mit Laubwerk geziert. Über den Wandnischen des Westjochs ist die Mauer ohne alle Gliederung belassen. Die in den Fensterund Nischengewänden sowie an den Rippen verwendeten Profile sind tief und kleinteilig, aber nicht scharf: Kehlen, Wülste, Birnstäbe. Im ganzen entspricht der Raumeindruck dem Äußern der Kapelle - ein reines Architektur22

gefüge ohne großen Aufwand. Hier kommen nur die inmitten der Dienste angebrachten Standbilder hinzu. Neben den drei Ostfenstern sind die Madonna und die Heiligen Drei 47-50 Könige dargestellt, außerdem bei den Nischen unter viel höheren und fialenbekrönten Baldachinen zwei Apostel. Die beiden Gruppen unterscheiden sich hinsichtlich ihres Stils und der Qualität beträchtlich. Die Apostel wie auch ihre Baldachine sind jünger als die Skulpturen der Anbetung; während diese zu den besten Plastiken der Zeit nicht lange nach der Mitte des 14. Jahrhunderts gerechnet werden dürfen, wird man in jenen später, wohl kurz vor 1400 gehauenen die letzte Meisterschaft vermissen. Alle diese Bildwerke müssen nicht gleichzeitig mit der Kapelle entstanden sein. Man könnte sie durchaus nachträglich beschafft haben, was übrigens bei der Knappheit der Mittel des Hochstifts in jener Zeit nicht einmal verwundern würde. Die vier Baldachine des Polygons hingegen stammen, wie auch alle Kapitelle, auf denen die Figuren stehen, aus der Bauzeit. Sie dürfen also zur Zeitbestimmung der Kapelle herangezogen werden. Diese Baldachine könnten schon im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts geschaffen worden sein; die über den Aposteln im Voijoch wurden später angebracht; denn nur so finden die unorganischen Endigungen der Dienste hinter ihnen eine plausible Erklärung. Sie «vermitteln» wie der Dachreiter stilistisch zu den angrenzenden Teilen des Chorumgangs. Wann ist die Marienkapelle gebaut worden? Folgt man den Angaben in der Literatur, dann stehen hier die Daten fest: Der Baubeginn wäre um die Mitte des 14. Jahrhunderts festzusetzen, und zwar im Zusammenhang mit einer Urkunde von 1354 für den Chorbau, der Bauabschluß würde durch eine zum Jahre 1362 überlieferte Weihe der Kapelle eindeutig fixiert. Beide Urkundeninterpretationen sind jedoch nicht richtig. Die Urkunde von 1354 nimmt auf die Marienkapelle überhaupt nicht Bezug. In ihr geht es um den neuen Chor. Da die Marienkapelle als erster Bau der neuen Ostteile des Doms geschaffen wurde, dürfte man an ihr schon einige

Zeit vorher gearbeitet haben, wie noch genauer zu begründen sein wird. Direkte Nachrichten für den Baubeginn sind nicht überliefert. Aber schon im Jahre 1343 wurde eine Stiftung «ad opus procurrendum», also zur Fortführung der Bauarbeiten, beurkundet, und damit kann eigentlich nur der Neubau der Marienkapelle und des Chors gemeint sein. War das Werk damals erst geplant oder bereits in Angriff genommen? Der Dombau wurde nun jedenfalls beschleunigt vorangebracht, wie eine weitere Urkunde erweist. Im Jahre 1344 ist nämlich ein neues Statut über die Gnadenjahre der Kapitulare erlassen worden, mit dem Ziel, sowohl die Lasten, die auf die Stiftsfabrik zukommen, als auch diejenigen, durch die sie schon allzusehr bedrückt ist, schneller abzutragen. Eine Schuldverschreibung des Kapitels von 1346 gehört wohl in den gleichen Zusammenhang. Aus alledem ist zu schließen, daß der Bau in den vierziger Jahren des 14. Jahrhunderts einen neuen Aufschwung nahm. Abgesehen von dem Ausbau der Türme, kann es sich hier nur um die neuen Ostteile handeln, und da natürlich in erster Linie um die Marienkapelle, mit der j a der neue Bauabschnitt eingeleitet wurde. Im Jahre 1362 war sie bestimmt vollendet. Zwar spricht die diesbezügliche Urkunde nicht von der Weihe der Kapelle, wie immer wieder behauptet wird, wohl aber wurde damals die Liturgie an ihrem Marienaltar erweitert. Nunmehr durfte dort auch derVikar des Marienaltars in der Krypta des ottonischen Doms Dienst tun, da sein Altar des neuen Chorbaus wegen abgebrochen worden war. Wenn die Geistlichen der Marienkapelle damals schon einige Zeit ihren liturgischen Verpflichtungen hatten nachkommen können, so daß die Meßzeiten für den hinzugekommenen Geistlichen des ehemaligen Kryptenaltars mit der bereits praktizierten Liturgie in Einklang gebracht werden mußten, wie die Urkunde beweist, dann lag die Weihe der Kapelle gewiß schon einige Zeit zurück. Die Urkunde von 1362 bietet demnach lediglich einen sicheren Terminus ante quem für ihre Vollendung - nicht mehr.

Vermutlich entstand die Marienkapelle schon im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts. Für diesen Zeitansatz spricht nicht nur die Analyse ihrer Einzelformen, sondern auch die Datierung des nach ihr errichteten Chors, dessen Anfange mindestens bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts zurückreichen. Man hat demnach damit zu rechnen, daß der Neubau des Halberstädter Doms nicht, wie immer wieder angenommen wurde, über mehrere Jahrzehnte vollständig geruht hat. Nach der Fertigstellung der drei Westjoche des Langhauses, spätestens im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts, wird man sich um die Vollendung der Türme bemüht haben. Als diese Arbeiten vorangekommen waren, begann man wohl am Anfang der vierziger Jahre den Neubau der Ostteile. Übrigens trat, auch nachdem der Chor geweiht war, keine längere Baupause ein. Die Arbeiten gingen damals sofort mit der Errichtung des Querhauses weiter. A m Halberstädter Dom wurde fast zweieinhalb Jahrhunderte ohne Unterbrechung gebaut. Das Tempo diktierte die Baukasse. Es war langsamer als anderswo.

Chorumgang und Chor Schon ein Blick auf den Grundriß läßt erkennen, daß für die Errichtung des Chors das System der drei gotischen Westjoche des Langhauses 72 maßgeblich blieb: Schmale Seitenschiffe begleiten ein verhältnismäßig breites Chor-Mittelschiff, dessen enge Pfeilerabstände die Disposition im Westteil des Langhauses zu wiederholen scheinen. Der Chorschluß wird aus dem 5/8Polygon gebildet. Die Chor-Seitenschiffe sind um das Polygon herumgeführt. Sie haben die Funktion eines Chorumgangs. Die Unterschiede beider Bauteile werden im Innenraum am wenigsten spürbar. Er scheint insgesamt weitge1, ¡6 hend einheitlich zu sein. Die Außenansicht macht dagegen sofort deutlich, daß der Chor aus späterer Zeit stammt als die Westpartie des Langhauses. Die viel stärkeren Strebepfeiler sind aufwendiger dekoriert. Statt der im ganzen doch

23

schlichten Figurentabernakel sind hier übereck

Der Chorumgang wird im übrigen geprägt von

gestellte, vom Kaffgesims aus aufsteigende Fia-

den in der Mitte jedes Joches in die Außenwand

lentürmchen vorgeblendet, reich mit Stabwerk,

eingetieften Altarnischen. Diese Neuerung ge-

Dreipässen, K r a b b e n und

ge-

genüber dem Langhaus ist jedoch gewiß nicht

schmückt. A n j e d e m dieser Pfeiler sollten zwei

aus formalen Gründen vorgenommen worden.

Standbilder Platz finden, wie die tiefen Nischen,

Hier war die Liturgie die Bauherrin. Als näm-

Kreuzblumen

Sockel und Baldachine beweisen. A u c h das Stre-

lich die ottonische K r y p t a dem Neubau des

bewerk selbst ist verändert. Die Strebebögen leh-

Chors weichen mußte, wurde es notwendig, für

nen sich nicht mehr gegen die glatte Mauer, son-

die urkundlich bezeugten, zahlreichen Krypten-

dern gegen kräftige, gleichsam vor die W a n d

altäre neue Plätze zu schaffen, damit der tradi-

gestellte Stützen, wodurch der Obergaden eine

tienelle Altardienst weitergeführt werden konnte.

Steigerung im Sinne des gotischen Skelettbaus

Aus

erfuhr. W e r genauer vergleicht, entdeckt, daß

schen angelegt.

z w a r der G r u n d b a u einschließlich der Fenster-

diesem

Grunde

wurden

die

Mauerni-

D e r Innenraum von Chor und Chorumgang 72.yo,

maßwerke nach der in den westlichen Lang-

des Halberstädter Doms beeindruckt durch un- 54

hausjochen

geschaffen

gewöhnliche Länge und Höhe. Die monumen-

worden ist, d a ß aber sowohl statisch als auch

talen Proportionen werden nachdrücklich gestei-

ästhetisch neue Absichten z u m Ausdruck gekom-

gert durch die ausgewogene

men sind. Es wäre gewiß nicht zutreffend, würde

der eng gestellten Pfeilerbündel, deren Abstand

befolgten

Konzeption

m a n das prächtigere G e w a n d des Chors mit dessen größerer liturgischer Bedeutung erklären. Vielmehr kündigt sich hier schon die Spätgotik an, und alle diese Unterschiede bezeugen in erster Linie den W a n d e l des Stilempfindens im Verlaufe von rund achtzig Jahren. Eindringlicher Betrachtung wird nicht entgehen, daß auch im Innenraum die gesamte Bauornamentik - Kapitelle, Schlußsteine, Profile stilistisch jünger ist, was besonders deutlich wird, wenn man mit dem ältesten T e i l der hochgotischen Bauphase, mit dem nördlichen Seitenschiff vergleicht. Das L a u b der Kapitelle und Schlußsteine ist weit weniger natürlichem Pflanzenwuchs angenähert; es ist schärfer. Die Blätter sind häufig wild verbeult. Die Profile wurden nun schlanker, differenzierter, mehr stabartig geformt. Einen grundlegenden Unterschied zeigt auch die Wandgestaltung des Chorumgangs. Die Rippen seines Gewölbes werden nicht mehr von einem Bündel aus f ü n f Diensten mit fünf K a p i tellen, also für jede Gewölberippe einen Dienst und ein Kapitell, aufgefangen, sondern beginnen über jeweils nur einem Dreiviertelrundstab in der W a n d . Die Einengung des Umgangs durch die hohen, reich skulptierten Chorschranken wurde auf diese Weise weniger empfindbar.

24

Rhythmisierung

im Polygon verkürzt ist, und durch den Verzicht

die Querhaus-Chor-Ecke errichten. Demnach

auf weitere Wandgliederung. Auf diese Weise

dürfte im Jahre 1 3 5 4 die gesamte Nordwand des

wird die Vertikaltendenz betont und zugleich

Chorumgangs bis in Höhe des Kaffgesimses be-

die Festigkeit des Architekturgefüges demon-

reits bestanden haben, ausgenommen der letzte

striert. Die auffallige Länge des Chors dürfte

Strebepfeiler und das letzte J o c h des Chorum-

wesentlich bestimmt worden sein von der gro-

gangs, an das künftig das neue Querhaus an-

ßen Anzahl der Geistlichen, die an seinen Wän-

schließen sollte.

den ihren Platz, ihren «stallus in choro», erhalten mußten.

Man hat schließlich aber an dieser Stelle trotz der Abbruchsgenehmigung nicht sofort wei-

Der Bauvorgang läßt sich anhand der weni-

tergebaut. Zunächst wurden die unteren Mauer-

gen erhaltenen Schriftzeugnisse viel genauer

teile der Südwand des Chorumgangs hochgezo-

nachzeichnen, als bisher angenommen wurde.

gen. Vermutlich hütete man sich, das ottonische

Man hatte den Bau mit der Chorscheitelkapelle,

Querhaus früher als unbedingt notwendig anzu-

der Marienkapelle, begonnen, die weit östlich

tasten. Als dann die unteren Teile der Außen-

vor den Ostteilen des ottonischen Doms liegt.

wand des Chorumgangs bis zur Ostflucht des

Zugleich mit ihr dürften die unteren Teile der

ottonischen Querhauses fertiggestellt waren,wur-

beiden Schrägwände des Chorumgangs entstan-

den die ersten Freipfeiler des Chors, und zwar

den sein, die j a mit ihren östlichen Strebepfei-

die des Polygons, gesetzt. Auch dafür bietet die

lern die Kapelle gleichsam umklammern. Es

zeitgenössische Überlieferung die Möglichkeit

folgte der Bau der nördlichen Umfassungsmauer

einer annähernden Datierung. In der 1362 für

des Chorumgangs, und zwar ebenfalls nur bis

die Marienkapelle ausgestellten Urkunde wird

zur Höhe des KafFgesimses. Die entsprechenden

nämlich unter anderem gesagt, die Krypta des

Teile des südlichen Umgangs sind erst danach

alten Doms sei abgebrochen worden wegen der

entstanden, wie ein Vergleich der in den Altar-

«structura» des neuen Chors. Tatsächlich tan-

nischen verwendeten Profile beweist: die der

gieren die vier östlichen Pfeiler des gotischen

Nordseite und der südlichen Schrägwand des

Chors den kreuzförmigen Teil der ottonischen

Polygons stimmen mit denen der beiden Nischen

Außenkrypta, und die zwei folgenden Pfeiler-

in der Marienkapelle überein, die unverändert

paare stehen teilweise oder ganz an der Stelle

erhaltenen der Südseite hingegen haben eine an-

des Ringstollensystems der Krypta selbst. 1362

dere Abfolge von schmalen Wülsten und tiefen

war demnach für die Aufrichtung jener Pfeiler

Kehlen, sie sind jünger. Im Zusammenhang mit

die Baufreiheit bereits geschaffen worden. I m

diesen Arbeiten steht eine Urkunde des Jahres

Jahre 1367 wurden laut Rechnung schon zwei

1354. Da heißt es, der Bischof habe den Abbruch

Fenster des nördlichen Chorseitenschiffs herge-

seiner Ludger-Kapelle an der Nordseite des

stellt. Man darf also annehmen, daß damals das

Doms genehmigt, um den Bau des neuen Chors

Fenster der nördlichen Schrägseite des Chorum-

zu unterstützen; die Steine der Kapelle sollten

gangs und vielleicht auch das entsprechende der

dem Chor zugute kommen. Obgleich der Inhalt

Südseite schon vollendet waren. In demselben

der Urkunde nicht mehr in allen Einzelheiten

Jahre bereitete man den Abbruch des ottoni-

klar erfaßt werden kann, gibt sie doch für die

schen Chors und Querhauses vor. Es wurde eine

Geschichte des Bauprozesses sichere Anhalts-

Trennwand zwischen dem alten Querhaus und

punkte. Die Ludger-Kapelle war an die nörd-

dem Schiff gezogen, so daß das Langhaus des

liche Stirnwand des ottonischen Querhauses an-

ottonischen Doms weiterbenutzt werden konnte,

gefügt. Ihr Abbruch, wie übrigens auch der der

während man seine Ostteile beseitigte und den

Nordostecke des ottonischen Querhauses, wurde

Neubau heranführte. Erst nach dem Ausbruch

unumgänglich, wollte man den letzten, den

der ottonischen Ostteile konnte der Chor ein-

westlichen Chorstrebepfeiler der Nordseite und

schließlich der östlichen Querhausecken bis zur

25

Vollendung gebracht werden. Im Jahre 1401 fand seine Schlußweihe statt. Setzt man den Baubeginn mit den ersten Arbeiten an der planeinheitlich mit der gesamten Choranlage errichteten Marienkapelle kurz nach 1340 an, dann vergingen bis zur Vollendung fast genau sechzig Jahre. Im Verlaufe der Arbeiten machten sich Korrekturen der Bauachse erforderlich, weil die für die Marienkapelle festgelegte Richtung nicht der des vorher begonnenen Langhauses entsprach. Liegt dem ein Meßfehler zugrunde? Man wird diese Möglichkeit nicht ausschließen dürfen; denn hier waren die Messungen besonders erschwert, weil der direkten Fluchtung die damals noch erhaltenen Ostteile des ottonischen Doms im Wege standen. Ein erster Ausgleich der Achsenverschiebung erfolgte schon in den Schrägseiten des Chor- und Umgang-Polygons. Die endgültige Vermittlung zur Langhausachse wurde aber erst im Querhaus vollzogen, also nachdem die ottonischen Ostteile gefallen waren. Die Achsenverschiebung ist gut wahrnehmbar, wenn man vom Chorumgang ins nördliche Seiten- 54 schiff oder umgekehrt vom Seitenschiff in den 30 Chorumgang blickt. Wer behauptet, man habe der Marienkapelle und dann auch dem Chor absichtlich eine vom Langhaus abweichende Achslage geben wollen, müßte die späteren Bemühungen plausibel erklären können, die darauf abzielten, die Divergenz der Achsen zu verschleifen. Hinzu kommt, daß der gotische Halberstädter Dom, obwohl in zweieinhalb Jahrhunderte währender Bauzeit entstanden, abgesehen von der Westfassade, ein Bau nach einheitlichem Plane ist. In einem solchen Gefüge kann eine Achsenverschiebung eigentlich nicht beabsichtigt sein. Eine Folge ungenauer Messung sind übrigens auch die Differenzen in den Jochgrößen. Aber alle diese Unregelmäßigkeiten haben, so viele komplizierte Überlegungen sie den Planenden und den Ausführenden abverlangten und so wichtig sie für die baugeschichtliche Forschung sein mögen, kaum noch Bedeutung für den, der das fertige Werk bewundernd erlebt.

26

Der Chor bietet sich ihm dar als ein höchst imponierendes Werk aus einem Guß, eine ungewöhnlich lange und zugleich hohe Kapelle, die von einem zwar viel niedrigeren, aber doch sehr monumentalen Umgangsbezirk eingefaßt ist. Wer im Chor steht, spürt gleichsam den erhabenen, von den Hochwänden und Chorschranken fest eingegrenzten Raum des Allerheiligsten.Umgang und Querhaus sind, vom Chor aus gesehen, nur mehr prächtige schützende Hülle für den kostbaren, schreinartigen Kern, und das riesige Langhaus hat, wie es scheinen will, vor allem als weihevolle Wegstrecke dorthin zu dienen. Das Innere des Chors wird bezeichnend akzentuiert durch die lebensgroßen Standbilder der Patrone und Apostel an den Pfeilern, durch das freilich nicht mehr ursprüngliche Retabel auf dem Hochaltar und durch die nur teilweise noch farbigen, des Umgangs wegen sehr hoch angeordneten Glasfenster. Nur von dort oben scheint wirklich Licht einzustrahlen, die Farbverglasung der weiter zurückliegenden Fenster des Umgangs und der Marienkapelle haben mehr die Funktion einer preziösen, entfernten Bildfolie für den Chor. Hinzuzudenken hat man sich zahlreiche die Kostbarkeit steigernde, prächtige Ausstattungsstücke - unter anderem die in der Domsammlung aufbewahrten, hochmittelalterlichen Bildteppiche. Bei der Betrachtung des Äußern wiederholt sich der Eindruck, daß der Chor Krone und Zielpunkt des Gesamtbaus ist. Spätgotische Zierglieder und Stützen rahmen ihn gleichsam mit aufwendiger Fassung. Der vorgesehene Schmuck mit Standbildern an den Strebepfeilern ist wohl nie zur Ausführung gekommen. Sie hätten noch einmal das französische Vorbild beschworen, und die leeren Nischen beweisen erneut, daß die konsequente Befolgung des Monumentalentwurfs aus dem späteren 13. Jahrhundert im 14. über die Kräfte der traditionsbewußten Bauherren ging. Jetzt konnte es nur noch darauf ankommen, das Bauwerk selbst zu vollenden - und darüber verstrichen fast einhundert Jahre.

Kapellenbauten am Kreuzgang

SOISI

Bevor der weitere Verlauf des Dombaus dargestellt wird, muß von zwei Kapellenstiftungen berichtet werden: In der Urkunde von x 354 hatte sich das Domkapitel verpflichtet, die zugunsten des Chorbaus abgebrochene Ludger-Kapelle zu ersetzen, sobald der Chor vollendet ist. Die neue Ludger-Kapelle solle, so wurde dort vereinbart, auf Kosten des Kapitels errichtet werden, und zwar entweder auf dem «Gras im Hof der Klausur oder an einer andern Stelle, wie der Bischof es wünsche». Soweit zu sehen, sind die Bestimmungen der Urkunde jedoch nicht eingehalten worden. Nach der Chorweihe wurde zwar vermutlich sofort an der Kirche weitergearbeitet, und es wurde zugleich die Stephans-Kapelle am sogenannten alten Kapitelsaal erbaut, von einer neuen Ludger-Kapelle aber verlautet nichts. Die erwähnten andern Vorhaben waren wohl vorrangig. Erst rund einhundert Jahre später ließ der damalige Propst des Kapitels, Balthasar von Neuenstadt, aufseine Kosten eine Kapelle errichten, die vielleicht als Nachfolgebau der altehrwürdigen Ludger-Kapelle angesprochen werden darf. Die laut Inschrift an einem GewölbeSchlußstein 1503 vollendete sogenannte Neustädter Kapelle steht «auf dem Gras des Klausurhofs», in der Mitte vor dem Westflügel des Kreuzgangs. Ihr Grundriß entspricht dem seit dem 13. Jahrhundert kanonischen Schema: ein fast quadratisches Vorjoch mit anschließendem, gestrecktem 5/8-Polygon, ein kreuzförmiges und ein sechsteiliges Rippengewölbe. In der Südwestecke ist ein Treppentürmchen angebaut, ursprünglich vom Kreuzgang, jetzt jedoch vom Hofe aus zugänglich. Den Westgiebel krönt ein schlanker Dachreiter. Das Ganze sieht so schlicht aus, daß man seine Entstehung in der Spätphase der Gotik kaum glauben möchte, wären nicht die Fenstermaßwerke und die Rippenprofile typisch für die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. Eine reizvolle Besonderheit der Kapelle ist die jetzt über das Obergeschoß des Kreuzganges erreichbare schmale Westempore. Sollte die Identifizierung als Nachfolgebau der Ludger-

Kapelle richtig sein, dann hatte dort vielleicht der Bischof als Lehnsherr der Kapelle seinen Platz. Aber das sind nur Vermutungen. Die Stephans-Kapelle am Ostflügel der Klausur hat mit dem bischöflichen Ludgerpatrozinium bestimmt nichts zu tun. Der kleine Bau wurde 1417 vollendet und der Stephansbruderschaft zur Nutzung übergeben. Der Grundriß der Kapelle ist unregelmäßig. Sie besteht aus einem mit Kreuzrippen gewölbtem Vorjoch und einem 5/8-Polygon, das jedoch auf der Nordseite nicht ausgeführt ist; denn dort wurde die Anlage gegen eine ältere Wand gelehnt, gegen die Südwand der sogenannten Ständestube. Da die nördliche Schrägwand des Polygons entfiel, mußte die Ostwand erheblich nach Norden verlängert werden. Das Rippengewölbe des zur Hälfte polygonalen Ostschlusses folgt genau dem Grundriß, ist also fünfteilig und verzogen. Für den Bau der Kapelle mußten zwei Fenster des alten Kapitelsaals und ein Teil seiner Ostwand geopfert werden. Der Eingang ist verschoben; er nimmt genau die Breite eines Jochs des alten Kapitelsaals ein und ist mit einem schönen barocken Gitter verschlossen. Fenster konnten nur auf der Süd- und Ostseite eingebracht werden. Insgesamt eigentlich ein Zweckbau ohne bemerkenswerten Aufwand, so stellt man ein wenig überrascht fest, zumal wenn man weiß, daß die Pfründner dieser Kapelle ungewöhnlich hohe Einkünfte hatten: Die Stephansbruderschaft besorgte vornehmlich einen organisierten Totendienst und Sammlungen für den Dombau.

Der letzte große Bauabschnitt im 15. Jahrkundert Nach der Weihe des neuen Chors bestand der Dom aus drei zwar einigermaßen in sich geschlossenen, aber im Erscheinungsbild unverbundenen Baukörpern. Zwischen der Westfassade mit den drei westlichen Jochen des Langhauses und dem Chor, die bei gleicher Dachhöhe und aufeinander abgestimmten Außenansichten und Innenraumverhältnissen als natürliche Einheit den Blick auf sich zogen, war noch immer 27

das vier Jahrhunderte ältere, wesentlich niedri-

großartiges handwerkliches Können am Werke

gere und im ganzen nun fremdartig wirkende

ist, wo aber nur noch die «Oberfläche» neu ge-

ottonische Langhaus erhalten, das, seit dem

staltet wird.

frühen 14. Jahrhundert mit den drei Westjochen

Das lassen auch die beiden Querhausfassa-

des gotischen Schiffs vereinigt, ununterbrochen

den erkennen. Es sind prachtvoll durchgeformte

zur gottesdienstlichen Nutzung zur Verfügung

Schauwände, entstanden im späten fünften bis

gestanden hatte. Wann dieser letzte Teil des ot-

frühen siebenten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts.

tonischen Doms beseitigt wurde, ist nicht über-

Der Entwurf vor allem der Maßwerkfenster hat

liefert. Indessen dürften die Bauarbeiten schon

große Ähnlichkeit mit einem Regensburger Riß.

unmittelbar nach der Weihe des neuen Chors

Beide Fassaden werden eingerahmt von den

fortgeführt worden sein, und dann mußte auch

mächtigen, diagonal gestellten Strebepfeilern.

jener beträchtliche Rest der alten Kathedrale

Die nördliche ist dreifach zurückgestuft. In der 11-13

fallen.

unteren Zone ist ein reiches Portal angeordnet.

Die letzte Phase des Neubaus zog sich, wie

Das zweizonige Relief im Tympanon zeigt den

gesagt, noch rund hundert Jahre hin. Erst 1491

Tod der Maria und die Aufnahme ihrer Seele

konnte die feierliche Schlußweihe vollzogen wer-

durch Christus. Die zwei tiefen Kehlen der Ar-

den; Ausstattungs- und Ergänzungsarbeiten wa-

chivolten sind mit vollplastischen Darstellungen

ren sogar noch im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahr-

von Aposteln und Propheten gefüllt. Das Portal

hunderts im Gange.

selbst wird begrenzt von zwei vorspringenden, fialenbekrönten

Streben, die neben dem Portal-

bogen fast völlig aufgezehrt sind durch FigurenDas spätgotiche Quer- und Langhaus

nischen unter je zwei Baldachinen. Waren hier wirklich Standbilder vorgesehen, oder handelt

Zunächst galt es, das Querhaus und die östlichen

es sich nur noch um dekorative Reminiszenzen ?

fünf Joche des Langhauses zu errichten. Der

Die Frage drängt sich auf, weil für Figuren eigent-

Plan dafür stand längst fest, und er wurde beibe-

lich der zur Verfügung stehende Platz nicht aus-

halten. Wie schon bei dem Bau des Chors trug

reicht. Unmittelbar neben den Portalstrebepfei-

man dem veränderten Zeitgeschmack nur in De-

lern sind rundbogige Reliefs in die Wand einge-

tails Rechnung, vor allem im Dekor und nun

lassen. Sie gelten den beiden Hauptpatronen des

auch in der Figuration der Gewölbe.

Doms, dem heiligen Stephan und dem heiligen

Die Außenwände der spätgotischen Lang- x

Sixtus. Über der Kreuzblume des Portals ist ein

hausjoche ähneln im Gesamtaufbau sehr weit-

mächtiges Kreuz der Wand vorgeblendet, des-

gehend denen des Chors. Die Fenstermaßwerke

sen Balken mit Blättern und dessen Enden mit

wurden unverändert beibehalten. Das Strebe-

den vier Evangelistensymbolen verziert sind.

werk unterscheidet sich kaum. Erst bei genaue-

Konsolen neben dem Kreuzfuß und Baldachine

rer Betrachtung wird man gewahr, daß die jün-

über den Kreuzarmen deuten an, daß eigentlich

gere Langhausfassade um zarte, spitze Fialen

auch dort Standbilder - Maria und Johannes -

bereichert wurde. Sie haben keinen statischen

aufgestellt werden sollten. Aber es fehlt sogar der

Zweck zu erfüllen, sondern dienen ausschließlich

Corpus Christi. Die Zone über dem Portal ist

als Schmuck. Wer auf der Nordseite die hoch- 8

erheblich zurückgesetzt. Sie wird

gotischen Teile des Langhauses aus dem 13. Jahr-

gegliedert durch drei hohe, rechteckige Blind-

hundert

anschließen-

fenster mit Stabwerk, das in kleine Dreipässe

den spätgotischen des 15. vergleicht, erlebt bei-

mündet. Hinter dieser mittleren Fassadenzone

spielhaft die klassische, vergleichsweise schlichte

befand sich die Orgel. Ihretwegen mußte das Fen-

Phase der frühen Hochgotik und die mit dem

ster selbst auf das obere, wiederum zurückge-

Dekor glänzende, reiche Spätzeit des Stils, in der

stufte Drittel der Fassade beschränkt werden. Es

28

mit

den

unmittelbar

insgesamt

entfaltet in seinem Maßwerk und dem üppigen Dekor des Bogengewändes den vollen Reichtum spätgotischer Dekoration. Die Schrägen des erneut zurückgesetzten Dachgiebels sind mit großen Kriechblumen belegt und enden in einer mächtigen Kreuzblume. Durch das Portal des nördlichen Querhausarms, das einzige der Kirche mit aufwendiger figürlicher Plastik, betrat der Bischofden Dom. 17I18 An der Südseite der Kathedrale lag seit alters die Klausur. Wollte man hier eine geschlossene Querhausfassade erbauen, dann mußte der Querhausflügel über den Kreuzgang hinweg verlängert werden, was auch geschah. Der Aufbau ist wesentlich schlichter als auf der gegenüberliegenden Schauseite der Kirche. Wo aber an der südlichen Querhausstirn Schmuck angebracht wurde, da entspricht er dem Stil der nördlichen. Die Strebepfeiler wurden dreizonig gegliedert, mit Stabwerk ähnlich dem über dem Nordportal; das Maßwerk des hier voll ausgebildeten riesigen Fensters ist das gleiche wie an der Nordseite. Die Giebelschrägen wurden mit ganz ähnlichen Krabben besetzt. Die abschließende Kreuzblume fiel dem Bombenangriff von 1945 zum Opfer. Das Giebelfeld ist mit einem dreistrahligen Maßwerk gefüllt. Während die unteren Teile dieser ohne Rücksprünge aufsteigenden Fassade nur vom Kreuzganghof aus sichtbar sind und sich dem über 200 Jahre älteren Klausurbezirk und Kreuzgang einzuordnen hatten, lenken der aufwendiger dekorierte Giebel und die oberen Teile des Fensters schon aus der Ferne den Blick auf sich. An dieser Stelle mag von weitem sichtbarer Schmuck besonders zweckmäßig erschienen sein. Im Innern wurde der Bau einheitlich weitergeführt. Nur die Kapitelle, Schlußsteine und Profile sind wieder im Sinne der Spätgotik umgeformt. Die Nachbildung natürlichen Laubs ist zum reinen Ornament erstarrt, das aussieht wie aus Blech gestanzt und dann aufgetrieben. Die Profile der Kämpfer vermeiden die Betonung weicher Rundung; sie sind nun aus vielgliedrig übereinandergelegten Stäben zusammengesetzt. Am augenfälligsten ist der Unterschied in der

Die Nordfassade des Querhauses (nach C. Elis)

Gewölbebildung. Nur im Mittelschiff des Langhauses wurde das Kreuzrippengewölbe der westlichen Joche durchgängig beibehalten, wenngleich auch hier natürlich Rippenprofile der Spätgotik Verwendung fanden. In den Seitenschiffen benutzte man lediglich für das jeweils vierte Joch von Westen noch Kreuzrippen, vermutlich weil die westlichen Rippenanfänger bereits aus hochgotischer Zeit vorhanden waren. 29

Für die folgenden je vier Joche hatte man dann

schen 1401, der Weihe des Chors, und 1 4 9 1 , der

freie Hand. A u f der Nordseite wurden Netzge-

Weihe des gesamten Baus, geschaffen worden

wölbe eingebracht, auf der Südseite zwei eben-

sein müssen und daß Bischof Burchard I I I .

solche im Wechsel mit Sterngewölben.

von Warberg ( 1 4 3 7 - 1 4 5 8 ) sich besonders ener-

Das

Querhaus ist mit drei prächtigen vierstrahligen 97

gisch für das Werk einsetzte.

Sterngewölben überspannt worden, die Verlän-

Bei der Rekonstruktion des Bauverlaufs hat

gerung des südlichen Querhausarms über den

man davon auszugehen, daß dem Halberstädter

Kreuzgangflügel hinweg

eigenen

Klerus natürlich daran liegen mußte, den Zeit-

Netzgewölbe. Während die spätgotischen Ge-

raum zwischen dem Abbruch des ottonischen

mit einem

wölbe in den Seitenschiffen den Gesamtein-

Langhauses und der Fertigstellung eines neuen,

druck auch für den im Seitenschiff Stehenden

für die gottesdienstliche Nutzung brauchbaren

kaum bestimmend beeinflussen, bildet der präch-

Schiffs nach Kräften zu verkürzen; denn da

tige Stern des Vierungsgewölbes, der den un-

der Chor ausschließlich der Geistlichkeit vorbe-

endlich erscheinenden Fluß der Mittelschiffs-

halten war, standen für die Laien während die-

und Chorgewölbefelder akzentuierend unter-

ser Zeit nur die drei westlichen Joche des Lang-

bricht, den bestimmenden Höhepunkt. Wie die

hauses zur Verfügung. Sie dürften nun mit

dekorative Hervorhebung des Querhauses in

einer Trennwand gegen das abzureißende alte

der Außenansicht gleichsam die Begegnung von

Langhaus geschlossen worden sein. Im übrigen

Chor und Langhaus markiert und beide Bau-

war es schon längst keine Frage mehr, daß das

teile verklammert, so erhöht und sammelt das

im 13. Jahrhundert begonnene System des Lang-

Vierungsgewölbe die Kräfte des aus Schiff und

hauses möglichst gleichmäßig weitergeführt und

Chor zusammengesetzten Langraums in sich.

zwischen Chor und Schiff ein Querhaus ge-

Unter ihm steht der Kreuzaltar, der Mittel-

schoben werden sollte. Problematisch war die

punkt des Gemeindegottesdienstes.

unvermeidliche Überlegung, wie und wo man

Der weite Innenraum des Querhauses wird

die gegen das alte und schon in drei Jochen fer-

Emporen

tige neue Schiff erheblich divergierende Achse

vor den Stirnwänden und durch den Lettner.

des Chors korrigieren könnte. Es mußte versucht

Die

Querhausarm

werden, den Knick der Bauachse an einer Stelle

stammt im wesentlichen aus der Bauzeit, also

auszugleichen, wo das möglichst wenig auffiel.

gegliedert durch die zwei großen Empore

im

nördlichen

von 1440/50. Ursprünglich gelangte man dort

Man wählte dafür das Querhaus und hatte in-

hinauf über eine Wendeltreppe an der Ecke

folgedessen, wenn man zuerst das Schiff baute,

zwischen Seitenschiff und Querhaus. Der heutige

zum einen freie Hand für die exakte Weiter-

Zugang vor und in der Ostwand des Querhauses

führung der in den westlichen Jochen vorgege-

ist ein gelungenes Werk der Restaurierung des

benen Langhausachse, zum anderen aber die

19. Jahrhunderts. Die Südempore wurde um

Möglichkeit, die schwierige Achsverschleifung

1470 geschaffen. Die Brüstungen beider Empo-

im praktischen Bauen zu bewältigen, ohne sich

ren sind wenige Jahre j ünger. Der Lettner wurde 31

auf komplizierte Berechnungen bis ins Detail ver-

erst um die Wende vom ersten zum zweiten

lassen zu müssen. Damit war die Baurichtung

Jahrzehnt des 16.Jahrhunderts errichtet.

gegeben. Man begann im Westen, schloß also

Der Bauprozeß im Verlaufe des 15. J a h r hunderts kann einigermaßen genau am Bau selbst abgelesen werden. Die

zeitgenössische

Überlieferung dagegen, soweit sie bekannt ist, bietet keine exakten Angaben. Ihr kann man allenfalls entnehmen, daß das Querhaus und die fünf östlichen Joche des Langhauses zwi3°

zunächst an die drei fertigen Schiffsjoche an. Im ersten Bauabschnitt wurden die nördliche Außenwand des Schiffs vollständig und die West- und Nordwand sowie die restliche Hälfte der Ostwand des Querhauses in den unteren Teilen errichtet. Es folgten die entsprechenden Teile der Südseite, wo man die bestehende Klau-

sur zu berücksichtigen hatte. Dann wurden die

letzt ist das Ostjoch des schon seit dem 14. J a h r -

Pfeiler der Nordarkaden

gestellt, zuerst der

hundert bestehenden wesüichen Langhausteils

westliche Vierungspfeiler sowie der folgende

überwölbt worden. Das geschah i486, also fünf

erste Pfeiler des Schiffs, und zwar nach Angabe

J a h r e vor der Schlußweihe.

der Pfeilerinschriften im Jahre 1442. Im näch-

Faßt man diese Daten zusammen, dann

sten Jahre wurde nicht etwa der zweite Schiffs-

dürfte das südliche Seitenschiff im Anschluß an

pfeiler von Osten gesetzt, sondern man mauerte

das nördliche in den fünfziger Jahren vollendet

die beiden wesüichen auf, also den vierten und

worden sein, das Querhaus in den späten sech-

fünften Pfeiler von Westen, da dort j a schon die

ziger bis frühen siebziger Jahren, das Mittel-

drei hochgotischen Schiffsjoche bestanden. 1444

schiffin den späten siebziger bis achtziger Jahren.

wurde der noch fehlende zweite Schiffspfeiler

Daß

das

Mittelschiff

zuletzt

aufgeführt

von Osten, von Westen gerechnet der sechste,

wurde, ist auch am Bau selbst ablesbar. Große

geschaffen.

schmucklose Konsolen an den Innenwänden in

Das nördliche Seitenschiff des Doms dürfte

Höhe des Dachanschlags der Seitenschiffe be-

spätestens um die Mitte des 15. Jahrhunderts

weisen, daß an dieser Stelle eine provisorische

fertig geworden sein. Es erhielt, wie gesagt, in

Abdeckung erfolgt ist, während oder bevor die

den neuen vier Ostjochen durchgängig Netz-

Hochwände

gewölbe. Unmittelbar danach erfolgte der Aus-

A u f diese Weise war es möglich, den gesamten

bau des südlichen, wobei man

Langhausraum

abwechselnd

endgültig

aufgemauert

wurden.

schon unmittelbar nach

der

Netz- und Sterngewölbe verwendete. Damals

Fertigstellung der Seitenschiffe wieder in Be-

waren die Arbeiten an den unteren Teilen des

nutzung zu nehmen und ohne Störung des

Querhauses schon fortgeschritten;

Laiengottesdienstes das Querhaus zu vollenden.

denn

das

Portal seiner Nordfassade dürfte dem stilge-

Waren die Arbeiten an ihm abgeschlossen, dann

schichtlichen Befund zufolge etwa gleichzeitig

stand wieder ein R a u m zur Verfügung, und es

mit oder kurz vor dem nördlichen Seitenschiff

konnten

vollendet worden sein.

hauses vollendet, der Dachstuhl des Mittel-

Sehr aufschlußreich ist die weitere Verfol-

die

Hochschiffsmauern

des

Lang-

schiffs aufgesetzt, die Wölbung eingebracht und

gung des Bauablaufs, nachdem die Arbeiten an

die provisorische Zwischendecke entfernt wer-

den Seitenschiffen beendet waren. M a n hätte

den. Auffallig ist, daß jene großen Konsolen

nun den A u f b a u des Mittelschiffs vornehmen

nicht abgeschlagen wurden, nachdem sie ihren

können, tat das aber nicht, sondern vollendete

Zweck erfüllt hatten. Sie sollten wohl in Zu-

zuerst das Querhaus. Erwiesen wird diese A b -

kunft als Auflager des Gerüstes für die Ober-

folge durch Wappen und Inschriften an den Ge-

wände und Gewölbe Verwendung finden; denn

wölbeschlußsteinen. Danach ergibt sich, daß

die Konsolen machten es überflüssig, gegebenen-

das vierte J o c h des Südseitenschiffs von Osten

falls den gesamten R a u m vom Fußboden des

vor dem Jahre 1459 vollendet wurde, das erste

Schiffs aus einzurüsten. Sie wurden also für

J o c h vor 1463. Der Nordarm des Querhauses

eventuelle Reparaturen beibehalten.

ist vor 1 4 7 4 gewölbt worden; ein Wappen in

Sieht

man

einmal

von

der

großartigen

halber Höhe der südlichen Stirnwand des Quer-

Durchbildung und Gliederung der beiden Quer-

hauses bezeugt, daß sie vor dem Jahre 1466 min-

hausfassaden und von der Bereicherung der

destens bis dort hinauf, sehr wahrscheinlich aber

spätgotischen Langhausjoche um schmückende

schon ganz aufgeführt war. Im Jahre 1463 hatte

Details ab, dann wird man konstatieren, daß

man bereits im Südarm des Querhauses eine Be-

diese letzte Bauetappe des Halberstädter Doms

stattung eingebracht. Das zweite Mittelschiffs-

wiederum unbeirrt der Tradition verpflichtet

joch von Osten wurde nach 1466, aber vor 1481

blieb. Unter dem Prachtkleide des spätgoti-

gewölbt, das übernächste J o c h nach 1476. Zu-

schen Baus steckt gleichsam der vollständige

31

hochgotische Körper. Das gilt erst recht für den Innenausbau, wo die Reihe der Pfeilerfiguren des Hochchors fortgesetzt werden sollte, aber, auf Stiftungen angewiesen, bei weitem nicht bis zur beabsichtigten Vollständigkeit gedieh, und wo lediglich die Gewölbefigurationen der Seitenschiffe und des Querhauses spätgotische Bereicherungen erfuhren. Nur konservative Beharrlichkeit konnte es wohl durchsetzen, daß die Kathedrale ein so einheiüicher Bau wurde. Der Halberstädter Dom gewann auf diese Weise sein ihm eigenes Pathos, jene schlichte Hoheit in monumentalen Raumverhältnissen, jene Konsequenz in der Aneinanderreihung hoher, schnell aufeinanderfolgenderRaumkompartimente,jene vollendete Ebenmäßigkeit und Größe.

Der neue Kapitelsaal Die letzten mittelalterlichen Baumaßnahmen galten der schon beschriebenen sogenannten Neustädter Kapelle und dem neuen Kapitelsaal, dessen großartiges spätgotisches Gewölbe dem Bombenangriff im Jahre 1945 zum Opfer fiel. Der 1514 fertiggestellte Saalraum hat bei einer Breite von 8,50 Metern die beträchtliche Länge von 40 Metern. Er liegt über dem kirchenseitigen Kreuzgangflügel und dem nördlichen Drittel des Remter-Erdgeschosses, reicht also vom südlichen Querhausarm bis zur Remterfassade. Die südliche Außenwand des Doms mit ihren schweren Strebepfeilern dient ihm als Nordwand. Der entwerfende Meister hatte mit einer Vielzahl von baulichen Gegebenheiten zu rechnen: die Achsen des Kreuzgangs aus dem 13.Jahrhundert waren maßgeblich für die Anordnung der Strebepfeiler und der Fenster des neuen «Obergeschosses», sie stimmten aber nicht überein mit den Achsen der Dom-Strebepfeiler des 13. und 15. Jahrhunderts, die die gesamte Nordwand des Raums in tiefe Nischen auflösen; die Überbauung des Remter-Erdgeschosses, das höher hinaufreicht als der Kreuzgang, bedingte eine Anhebung des Fußboden-

32

niveaus in diesem Bereiche, so daß eine durchgehende Stufenanlage unvermeidlich wurde; und schließlich konnte der Kapitelsaal nur in der halben Länge seiner Südwand und in der Westwand Fenster erhalten, was eine normale Belichtung unmöglich machte. Trotz aller dieser Einengungen der Bewegungsfreiheit des Planenden wurde hier ein Raum von erlesener Schönheit und vornehmer Monumentalität geschaffen. Die historisch bedingte, vielfältige Differenziertheit seines Gefüges war zu einer selbstverständlichen Harmonieverschmolzen vor allem durch das asymmetrische Schlingrippengewölbe, eine den besten böhmischen und obersächsischen Gewölben dieser Art ebenbürtige Leistung. Das große rechteckige Westfenster mit seiner feinen und vielteiligen Maßwerkfüllung und der «hängende» Strebepfeiler an der Südwestecke veranschaulichen zugleich die Schmuckfreudejener Zeit und das nahende Ende der Gotik. Der neue Kapitelsaal ist schon bald nach seiner Errichtung profaniert worden. Er diente nacheinander als Rittersaal, Bibliothek und Archiv; seit 1837 wird er als Ausstellungshalle für den Domschatz benutzt. Wohl nur selten läßt sich der mittelalterliche Bauprozeß so genau rekonstruieren wie bei der Errichtung des gotischen Halberstädter Doms. In rund zweihundertfünfzigjähriger ununterbrochener Bauzeit ist er - ausgenommen die wenig ältere Westfassade mit den beiden Türmen - nach dem einmal beschlossenen Bauplan aufgerichtet worden. A m 8. April 1945 wurde Halberstadt von einem schweren Bombenangriff heimgesucht. Zwölf Bomben trafen den Dom und seine Nebengebäude. Die Zerstörungen waren grauenhaft. In langjähriger entsagungsvoller Arbeit, die schon unmittelbar nach Kriegsende aufgenommen wurde, konnten die Schäden nach und nach wieder behoben werden. Dank dafür gilt allen Beteiligten und nicht zuletzt den staatlichen Stellen, die die Instandsetzung unter schwierigsten Verhältnissen leiteten und finanzierten.

DIE AUSSTATTUNG Von der mittelalterlichen Ausstattung des Doms ist ungewöhnlich viel erhalten, darunter Arbeiten von höchstem Rang. Die nachmittelalterliche Zeit hat diesem Bestand fast nur noch Grabmäler und Epitaphien hinzugefügt. Eine Betrachtung der mittelalterlichen Stücke im Dom vermag - ähnlich wie die Geschichte des Dombaus - wesentliche Einblicke in die künstlerischen und kulturellen Wandlungen während dieser Jahrhunderte zu gewähren. Zwei bedeutende Werke sind aus dem älteren Dombau in den heutigen übernommen worden: das im Westen des Mittelschiffs stehende Marmor-Taufbecken und die Triumphkreuzgruppe über dem Lettner.

Der Taufstein 26,28

Der ungewöhnlich große und prächtige Taufstein in Gestalt eines gedrungenen Kelches, den vier Löwen tragen, ist aus einheimischem, aus Rübeländer Marmor gefertigt. Auch die Auffassung der Löwen scheint im niedersächsischen Kunstkreis beheimatet zu sein. Man vergleiche nur die nahe Verwandtschaft des Braunschweiger Löwen mit denen am Becken. Die Verwendung von Marmor als Werkstoff und besonders die von Löwen als Tragefiguren mag zugleich auf Anregungen aus Italien zurückgehen. Das Werk ist, wie eine Chronik berichtet, von Bischof Gardolf (1193-1201) gestiftet worden. Anlaß für seine Herstellung war wohl die Zerstörung des Doms durch Heinrich den Löwen im Jahre 1179, die eine umfangreiche Instandsetzung des Baus und eine Erneuerung seiner Ausstattung notwendig machte.

Die Triumphkreuzgruppe 31-40 Wie das Taufbecken, so hat auch die große Triumphkreuzgruppe ihre wesentlichen Wurzeln

im niedersächsischen Kunstkreis. Sie ist eines der künstlerisch hervorragendsten Werke im Dom. Wir wissen, daß schon seit dem 1 o.Jahrhundert figürliche Großkreuze die Grenze zwischen dem Bereich der Laien und dem des Klerus bezeichnet haben. Das Gerokreuz im Kölner Dom ist das älteste Zeugnis dafür. Auch Kreuzigungsgruppen mit den trauernden Gestalten von Maria und Johannes zu Seiten des Gekreuzigten sind uns seit dem 12. Jahrhundert erhalten. Aber wir kennen vor dem Halberstädter Triumphkreuz kein Beispiel, das fünf Monumentalfiguren und zudem ein vielfältig erweitertes Programm aufwiese. Der Triumphbalken schon ist in einzigartiger Weise plastisch geschmückt. Zum Lang39 haus hin zeigte er die Büsten der zwölf Apostel unter überkuppelten Baldachinen, auf der Chorseite entsprechend die zwölf Propheten. Heute sind beiderseits nur noch je zehn Büsten erhalten. Der Triumphbalken mußte nämlich bei der Wiederanbringung im 15. Jahrhundert gekürzt werden, weil die gotischen Vierungspfeiler bei gleichem Achsabstand kräftiger gebildet wurden als die ottonischen. Auf eine spätgotische Veränderung dürfte auch zurückgehen, daß die Baldachine nicht mehr auf Stützen ruhen. Die Mitte des Balkens unter dem Kreuz ist jeweils durch ein größeres Relief ausgezeichnet. Das östliche zeigt die Szene am Ostermorgen, als der Engel den zum Grabe gekommenen Frauen, auf dem Sarkophag sitzend, das «Resurrexit» entgegenruft - die byzantinische Form der Auf36 erstehungsdarstellung. Auf der Westseite stützen zwei Engel das mächtige, in vier Dreipässen endigende Kreuz. 33 Das große Kreuz mit den Dreipässen ist jedoch nur der bergende Rahmen für ein kleineres, an dem Christus den Martertod erleidet. Es wird ebenfalls von zwei Engeln getragen, die in den seitlichen Dreipässen heranfliegend erscheinen. Im unteren Dreipaß sehen wir Adam, der sich erwachend aufrichtet und dabei das Kreuz Christi gleichsam ein wenig hochzuschieben sucht, während im oberen ein Engel den Kreuztitulus trägt.

33

Die am meisten in die Augen fallende Pro-

das geneigte Haupt mit den schmerzlich nach

grammerweiterung aber stellen die großen En- 37

unten gezogenen Mundwinkeln lassen die To-

gelsgestalten dar, die wie Wächter zu Seiten der

desqual ahnen. A n dem wohlgeformten Körper

Mittelgruppe

sechsflüglige

deuten allein die aufgemalten Wundmale die

Seraphim - eins der Flügelpaare ist nur auf der

erlittene Marter an. Auch ohne die himmlischen

Rückseite zu sehen - , wie sie in einer Vision des

Nebenfiguren würde die Göttlichkeit des Ge-

stehen.

Es

sind

Propheten Jesaja geschildert werden. Auch die

kreuzigten spürbar sein; denn Christus ist nicht

glühenden

Seraphim

nur als leidender Dulder, sondern zugleich im

halten, gehören zu dieser

Sinne der älteren Tradition als siegreicher Über-

Kohlestücke, die beide

in ihren Händen

Vision. Dagegen entsprechen die seltsam starr

winder dargestellt. Seine Füße stehen auf einem

weggestreckten Hände der Engel und die Räder

geflügelten, schlangenartigen Drachen,

unter ihren Füßen den vierflügligen Cherubim

bild der überwundenen Sünde und alles Bösen.

am Thron Gottes, wie sie der Prophet Ezechiel

Die Hoheit seines Leidens übersteigt mensch-

in einem großartigen Gesicht beschreibt. Die

liche Vorstellungskraft.

Sinn-

Halberstädter Engel tragen also Züge zweier

Die religiöse Aussage der Triumphkreuz-

verschiedener Engelsgruppen. Doch wurde diese

gruppe ist außerordentlich komplex. Sie be-

Mischform hier nicht erfunden; sie hat ältere

rührt alle wesentlichen Elemente der christ-

Vorbilder. Sie tritt uns hier aber besonders ein-

lichen Heilslehre. A d a m repräsentiert die ge-

drucksvoll gegenüber. Steil aufgerichtet, streng

samte sündige Menschheit, die durch den T o d

frontal, von den gekreuzten Flügeln geheimnis-

Christi zu neuem Leben erweckt wird. Einer

voll umrahmt, stehen die Seraphim auf den Rä-

alten Sage zufolge wurde das Kreuz auf Gol-

dern mit ungeregtem Gesicht, ganz in den An-

gatha über dem Grabe Adams errichtet, und

blick des Göttlichen versunken. Ihre Anwesen-

das herabtropfende Blut Christi ließ den Ur-

heit macht die überzeitliche Bedeutung der

vater erwachen. A u c h in dem so nebensäch-

Kreuzigung eindringlich klar.

lich wirkenden Detail der Kohlestücke in den außerordentlich

Händen der Seraphim wird auf das Thema der

schlank und ein wenig größer als die Engel,

Reinigung von Schuld angespielt. Die glühende

wenden sich in ihrer Ergriffenheit in leichter

Kohle, die der Engel vom Altar der Gottheit

Drehung dem Gekreuzigten zu. Maria hat auch

nahm, reinigte den Mund des Propheten und

das Gesicht fast unmerklich auf Christus ge-

tilgte seine Schuld, wie Christus mit dem Kreu-

richtet. Nicht so Johannes. G a n z leicht ist übri-

zestod die Schuld der Menschheit auf sich

gens auch der K o p f des Seraphs neben Maria zu

nimmt. Der Sieg Christi über die Sünde wird in

Christus hingedreht. In den Gesten wie in den

Wiederholung einer uralten Bildformel darge-

Gesichtern von Maria und Johannes drückt sich

stellt. Er tritt auf den Feind. Ebenso steht

ihr Schmerz aus. Maria ringt die Hände, Johan-

Maria, die zweite Eva, auf der von ihr über-

Maria

und

Johannes,

nes führt in einem alten Trauergestus die Rechte

wundenen Schlange, die Eva einst zur Sünde

an die Wange, die Linke greift sinnverloren in

verleitete, und Johannes auf einem König, Re-

einen Mantelbausch. Aber Gesten und Mienen

präsentant

des

überwundenen

Heidentums.

bleiben verhalten, gefaßt. In symbolischer Über-

Hier fügen sich auch die Darstellungen am

höhung stehen zudem beide auf besiegten We-

Triumphbalken ein: Die Propheten haben das

sen, Maria auf einer drachenähnlichen Schlange,

K o m m e n des Erlösers vorausgesagt, die Apostel

Johannes auf einem König.

haben das Wissen von der Erlösungstat Gottes

Christus ist als Sterbender mit nahezu ge-

unter der Menschheit verbreitet. Die Auferste-

schlossenen Augen dargestellt. Doch nur das

hung ist das Unterpfand der göttlichen Natur

leichte Ausweichen seiner K n i e nach links, das

des Gekreuzigten. Das Kreuz, an das Christus

Zusammensinken des Körpers andeutend, und

geheftet ist, war grün gefaßt. Es ist also das

34

«lebende Holz», der Baum des Paradieses, und somit ebenfalls Sinnbild der Erlösung. Dazu bezeugen die Engel, die den Kruzifixus umgeben, die himmlisch-göttliche Teilnahme an dem Geschehen. Auf diese Weise wird hier die Kreuzigung Christi als entscheidender Wendepunkt zwischen Urzeit und Endzeit begreiflich gemacht. Hoheit und Monumentalität zeichnen die Triumphkreuzgruppe als Ganzes aus. Sie vermag einen großen, einen monumentalen Raum zu beherrschen. Im ottonischen Dom, wo sie nicht wie heute von den vielfältigen Linien der Pfeilerdienste und Lettnerfialen bedrängt wurde, muß das noch eindringlicher deutlich geworden sein. Die zurückhaltende Darstellung menschlichen Leidens, begleitet von der gottentrückten Zeugenschaft der Engel, bedingt schon vom Gegenstand her eine erhabene Wirkung. Formale Mittel der Überhöhung kommen hinzu, vor allem die großartige Steigerung zur Mitte hin: Die Figuren gewinnen stufenweise an plastischer Durchbildung wie an Klarheit ihres statischen Aufbaus. Maria und Johannes, und erst recht natürlich die Seraphim, werden hierdurch wirklich zu bloßen «Assistenzfiguren» gegenüber dem Gekreuzigten. Auch die erst sanft, dann steil ansteigende Linie, die durch die Köpfe der Hauptfiguren gebildet wird, drückt diese Steigerung aus. Die Gruppe hat erhebliche Reste ihrer originalen Fassung bewahrt. Ihre ursprüngliche farbige Erscheinung konnte daher rekonstruiert werden. In auffalliger Weise war Gold vorherrschend und damit das Hoheitsvolle, das Numinose betont. Daneben dominierte Blau, dessen Wirkung von kleineren roten Partien gesteigert wurde. Auch Blau, die Farbe des Himmels, deutet auf Entrücktheit und Zeitlosigkeit. Bei der grünen Fassung des Kreuzes Christi war der symbolische Sinn unmittelbar bestimmend. Unter den erhaltenen Triumphkreuzgruppen gibt es nur eine, die ein so kompliziertes und reiches Programm bietet wie die Halberstädter, die Gruppe zu Wechselburg in Obersachsen. Sie ist überhaupt in vieler Hinsicht ähnlich. Zu vergleichen sind das doppelte Kreuz und die

Dreipaßendigungen des äußeren «Triumphkreuzes», verwandt sind die fliegenden Engel, die das «lebende Holz» tragen, der erwachende Adam, die Gesten von Maria und Johannes sowie deren Stehen auf besiegten Gestalten. Es brauchen hier nicht auch die Unterschiede im einzelnen aufgezählt zu werden. Am auffälligsten ist das Fehlen der Seraphim und des Triumphbalkens. Die Ähnlichkeiten sind trotzdem so spezifisch, daß auch bei Annahme zahlreicher Verluste an möglichen Vergleichswerken ein Zusammenhang zwischen Halberstadt und Wechselburg angenommen werden muß. Es liegt nahe, im Halberstädter Werk das ältere, vorbildgebende zu erblicken. Denn nur in Halberstadt gab es die vorauszusetzende breite Tradition für eine solche künstlerische Schöpfung. Auch die Tatsache, daß in Halberstadt der altertümlichere Viernageltypus beim Kruzifixus verwendet wurde, in Wechselburg dagegen der «gotischere» Dreinageltypus, spricht für dieses zeitliche Verhältnis, ebenso und nicht zuletzt die stilistische Veränderung, die die Wechselburger Gruppe gegenüber dem Halberstädter Vorbild erfahren hat. Die Wechselburger Gruppe ist im ganzen menschlich näher, innerlich gelöster. Das sprach sich unter anderem in der farbigen Fassung aus, in der weniger Gold verwendet war. Gewiß hatte die Gruppe auch einen weniger monumentalen Raum zu beherrschen. Doch kann das für die Veränderungen nicht allein ausschlaggebend gewesen sein. Die neue Menschlichkeit, die in Wechselburg spürbar wird, dürfte der Kunst der französischen Kathedralen viel zu verdanken haben. Wir kennen den weichfließenden Stil der Wechselburger Figuren mit vielen feinen Parallelfalten und schlanken ösenbildungen in den Gewändern über wohlproportionierten und gut ponderierten Körpern vor allem von den Portalstatuen in Reims und Chartres. Er wurde, sieht man einmal von der Monumentalplastik ab, schon in der Maaskunst im späten 12.Jahrhundert ausgebildet, wo er in den Werken des Nikolaus von Verdun bereits einen Höhepunkt erlebte. Das hohe 35

Vorbild klassisch-antiker Schönheitlichkeit bestimmt weitgehend diesen Stil, in Frankreich wie in Wechselburg. Demgegenüber steht die Halberstädter Gruppe in der niedersächsischen Tradition, die gerade damals, in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, erneut entscheidende Anregungen aus der byzantinischen Kunst aufnahm. Auf sie geht der Charakter der Gesten und Faltenmotive an den Halberstädter Figuren zurück, wie seit langem von der Forschung betont und in allen Einzelheiten nachgewiesen wurde. Deutsch ist an den Figuren vor allem die Erfüllung dieses überkommenen Rahmens mit seelischer Tiefe und Innerlichkeit. Es ist bezeichnend, daß etwa das Motiv der gerungenen Hände bei der Maria in den byzantinischen Vorbildern nicht vorkommt. Die byzantinische Formengrundlage verbindet sich in Niedersachsen im 13. Jahrhundert meist mit dem sogenannten «Zackenstil». Er äußert sich an der Halberstädter Gruppe vor allem in der Gewandbehandlung bei Maria und Johannes. Als ein frühes, einigermaßen fest datiertes Beispiel der im Halberstädter Triumphkreuz erkennbaren Tradition ist der Quedlinburger Knüpfteppich zu nennen. Byzantinische Motive - die Dachfalten auf den Schultern, die wie Gürtel quer über den Leib gelegten Mäntel, die Schlaufen- und Muldenbildungen sowie die gleichsam wurmartig aufgelegten Falten - finden sich schon auf den ältesten, sicher vor 1203 entstandenen Stücken des Teppichs. In den jüngsten treten auch schon richtige Zackenbildungen auf. Die Weiterentwicklung dieses Stils ist vor allem in der Buchmalerei zu verfolgen, und zwar zunächst in der Handschriftengruppe, die unter dem Namen «thüringisch-sächsische Malerschule» zusammengefaßt wurde. Ihre ältesten und qualitätvollsten Erzeugnisse wurden für den Thüringer Landgrafen Hermann I. ( 1 1 9 0 - 1 2 1 7 ) hergestellt. Noch näher als den Miniaturen dieser «Schule» steht die Halberstädter Kreuzigungsgruppe aber etwas jüngeren Werken der Monumentalmalerei, der Ausmalung des Braunschweiger Doms und der bemalten Decke in

36

St. Michael zu Hildesheim. Die schon beim Quedlinburger Teppich beobachteten byzantinischen Motive begegnen uns in ihnen wieder, nun aber in Formulierungen, die denen in Halberstadt wesentlich näher kommen. Wie zum Beispiel die Gewandschlaufe aus der linken Hand des Johannes heraus«läuft», findet sich in Braunschweig mehrfach «wörtlich» wieder. Das gilt auch für manche andere Einzelheit der Gewand- und Faltenbildung. Bemerkenswert ist vielleicht noch, daß auch die ungewöhnliche Schlankheit der Halberstädter Assistenzfiguren in Braunschweig ihre Parallele findet: so ähnelt die Maria der «Darbringung» im Braunschweiger Vierungsgewölbe der Halberstädter nicht nur in Haltung und Gewandbildung, sondern auch in ihren steilen Proportionen. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß in Halberstadt auch Anklänge an den maasländisch-frühgotischen «weichfließenden» Stil auftreten, vor allem in den Dreipaßfiguren, und daß die eigenartig unnatürliche Haltung der Engel unter dem Kreuz auf ein französisches Vorbild zurückgehen könnte. In die byzantinisch-niedersächsische Tradition, die im wesentlichen die Formen der Triumphkreuzgruppe prägt, mischen sich offenbar auch Anregungen aus anderen künstlerischen Bereichen. Es mag auffallen, daß wir für den Stilvergleich ausschließlich nichtplastische Werke heranziehen mußten. Eine entsprechende Einordnung durch Vergleiche mit Werken der Skulptur ist nicht möglich. Darf man daraus schließen, daß der Meister der Halberstädter Gruppe in erster Linie nach graphischen Vorlagen gearbeitet hat? Es ist häufig bemerkt worden, daß Maria und Johannes wie auch die Seraphim ohne eigentliche plastische Rundung geschnitzt sind. Vorder- und Rückansicht der Figuren sind kaum miteinander verbunden. Die Falten greifen nicht um die Figuren herum, das rückwärtige Flügelpaar der Seraphim ist von vorn überhaupt nicht zu sehen. Auch die Baldachinkuppeln erinnern an gemalte Vorbilder. Die unplastische Darstellungsweise ist nur beim Corpus Christi verlassen worden. Der künstlerischen Absicht,

die göttliche Gestalt hervorzuheben, kam die jahrhundertelange Tradition der Darstellung des Kruzifixus offenbar entgegen. Wann ist die Halberstädter Triumphkreuzgruppe entstanden? Die Forschung setzt sie einhellig in die Zeit um 1220, wobei eine Domweihe in diesem Jahr als Anhaltspunkt dient. Nun könnte die Gruppe natürlich sowohl kurz vor als auch erst nach jener Weihe gearbeitet worden sein. Der Versuch einer genaueren stilgeschichtlichen Einordnung bleibt daher im Grunde unerläßlich. Die Stilkritik ist freilich für eine so exakte Zeitbestimmung eigentlich überfordert. Läßt man aber gelten, daß die engsten stilistischen Beziehungen zur Ausmalung des Braunschweiger Doms und zur Decke von St. Michael in Hildesheim bestehen, dann müßten die Daten dieser Werke den Ausschlag geben. Leider gibt es für beide nicht nur keine festen Daten, sie sind zudem in ihrer stilgeschichtlichen Einordnung umstritten. Doch neigt die Mehrzahl der Forscher heute zu einer Ansetzung in das Jahrzehnt zwischen 1240 und 1250, womit sich die Datierung des Kreuzes auf etwa 1220 schlecht vertrüge. Entscheidend für den Unterschied zwischen den älteren Zeugnissen der niedersächsisch-byzantinischen Tradition vor 1220 und den jüngeren nach 1230 ist wohl, daß in den jüngeren nochmalige direkte byzantinische Einflüsse wirksam geworden sind. Das wird deutlich bei einem Vergleich der Malereien in Braunschweig und Hildesheim mit den Zeichnungen im sogenannten Wolfenbütteler Musterbuch, im «Notizbuch» eines Künstlers, der offenbar in Italien nach byzantinischen Vorlagen bestimmte Falten- und Bewegungsmotive festhielt, um sie für seine Kompositionen zur Verfügung zu haben. Die Skizzen im Musterbuch zeigen deutlich gewisse Verwandtschaften mit den Wandmalereien. Auch zur Kreuzigungsgruppe lassen sich Verbindungen erkennen. Das Musterbuch soll um 1230 entstanden sein. Man muß daher wenigstens die Möglichkeit erwägen, daß auch die Halberstädter Triumphkreuzgruppe erst in dieser Zeit ge-

schaffen worden ist. Setzt man das Halberstädter Kreuz tatsächlich erst um 1230 an, so würde es zeitlich sehr dicht an das Wechselburger heranrücken, dessen Entstehung allgemein um 1235 angenommen wird. Die unterschiedliche künstlerische Tradition hätte dann die Verschiedenheit der stilistischen Erscheinung stärker beeinflußt als die Zeitlage.

¿¿sterziensischer Bauschmuck Mit dem Beginn des Domneubaus kurz vor 1239 tritt in den künstlerischen Beziehungen des Halberstädter Domstifts eine deutlich erkennbare Wandlung ein. War die Halberstädter Plastik bisher in den niedersächsischen Kunstkreis mit den Zentren Braunschweig, Hildesheim, Goslar einbezogen, so wurden für den Neubau offenbar Zisterzienser verpflichtet, die aus den Traditionen dieses Ordens schufen. Im Gegensatz zu den Anfangen des Dombaus in Magdeburg wird hier auf monumentale figürliche Skulptur bewußt verzichtet. Dabei sind die Zisterzienser hervorragende Steinmetzen, 4 wie der prächtige Steinverband am gesamten Westbau und die reiche, exakt ausgeführte Ornamentik daran beweisen. Es überrascht, in dieser Welt rein architektonisch-ornamentaler Sprache an der Westfassade außen dennoch in kleinen Relieffigürchen die verkürzte Darstellung des Jüngsten Gerichts zu finden. In den Zwickeln der Kleeblattbögen im Tympanon sieht man oben den wiederkehrenden Christus, begleitet von den vier Evangelistensymbolen und zwei Engeln, die Christus verehren, der eine mit Weihrauch, der andere mit 7 Gebet, indem er beide Hände in der Geste des antik-frühchristlichen Oranten erhebt. Zum Weltgericht gehört auch das Figürchen einer klugen Jungfrau, die rechts am Fuße der zweiten Archivolte ihre Lampe aufrecht trägt. Im 6 Zwickel zwischen den Zackenbögen des Portals ist ein Löwe mit seiner Beute im Maul dargestellt, ein Symbol des Teufels, des Bösen, das alle Menschen bedroht. Die schmalen Kehlen

37

zwischen den Säulen im Portal enden oben in

die dritte Figur alle kennzeichnenden Attribute

kleinen Köpfen. In ihnen ist ein Hinweis auf

verloren hat.

die Auferstehenden gegeben, die zum Gericht

lächelndes Gesicht dürften sie aber wohl als

Ihr langes Gewand

und ihr

gehen. In auffallender Weise wird nämlich Alter,

Engel ausweisen. Der König hebt mit seiner

Geschlecht und Stand bei ihnen variiert. Die

vom Mantel verhüllten Linken eine Kugel,

geretteten Seelen sind dann fraglos in den freu-

Zeichen seiner Herrschaft, empor, während die

dig blickenden Köpfchen dargestellt, die aus den

abgebrochene Rechte vermutlich ein Zepter

Kehlen der Archivolten herauslugen. Deutlich

trug. Die Königin, der langes, lockiges Haar

sind bedrohter

irdischer und reiner himm-

auf die Schultern fällt, greift mit der linken

lischer Bereich als unten und oben unterschie-

Hand in höfischer Gebärde zum Band, das

den. Man könnte sogar die beiden Rosetten 3

ihren Mantel vor der Brust zusammenhält, ihre

seitlich unter der großen Rose und diese selbst

Rechte ist wie beim König abgebrochen. Ein

als Heilszeichen und Symbole des Paradieses in

Gürtel umschließt ihr Untergewand in der

den Gesamtzusammenhang eingeordnet sehen.

Taille, so daß ihr schlanker Wuchs vor dem

Im Inneren des Westbaus finden wir plasti-

Mantel, der ihre Gestalt wie eine Schale um-

schen Schmuck an den beiden Türbogenfeldern. Das nördliche ist ein Rankentympanon, wie es 25

gibt, vorteilhaft in Erscheinung tritt. Ein inhaltliches Verständnis der Figuren

im niedersächsischen Gebiet damals nicht sel-

will nicht recht gelingen. Mit dem König könnte

ten vorkommt. Es meint den Lebensbaum, den

Karl der Große gemeint sein, der als Bistums-

hier zwei Drachen vergeblich bedrohen. Mit

gründer in Halberstadt hohe Verehrung genoß.

seiner fast exakten Symmetrie und der flachen

Doch ist über die Mitwirkung einer seiner Ge-

Bildung der Ranken gehört es trotz seiner schö-

mahlinnen

nen dekorativen Wirkung nicht zu den besten

nichts bekannt, und auch der Engel bliebe un-

Stücken dieser Gattung. Doch ist die Leistung

erklärt. Vielleicht verstünden wir das Programm

des Steinmetzen, der auf der Südseite die Kreu-

besser, wenn damals noch weitere Joche mit Fi-

zigung mit Maria und Johannes darstellte, noch

guren entstanden wären. Der Hinweis auf die

bescheidener. Links daneben am Auslauf der

Kathedrale von Reims, wo sich in ähnlichen

bei der Gründung

Haiberstadts

Archivoltenkehlen sieht man einen echten Stein-

Strebepfeiler-Tabernakeln zum Teil auch ähn-

metzenscherz: Aus dem sich einrollenden Blatt

liche Figuren finden, hilft inhaltlich kaum wei-

schaut, lebensnah beobachtet, ein kleiner Hund

ter, da dort nur Könige und Engel unter den

heraus.

Baldachinen stehen, während eine Königin erst am Westportal vorkommt. Dagegen hat man wohl mit Recht angenom-

Frühgotische Monumentalfiguren

men, daß sich der Halberstädter Meister formal von der Reimser Kunst hat inspirieren lassen.

Die nächste Bauperiode, in der die drei West- 8-10

Die Bewegungs- und Gewandmotive seiner Fi-

joche des Langhauses entstanden, führt auch

guren sind - von dem Hochhalten des «Reichs-

im Plastischen wiederum eine gänzlich andere

apfels» abgesehen - alle in Reims vorgebildet.

Welt nach Halberstadt: sie bringt die früh-

V o r allem findet sich dort bereits der betonte

gotische Monumentalfigur. In den Tabernakeln

Kontrast zwischen den seitlichen Konturen der

vor den westlichen Strebepfeilern der Nord-

Figur: die schweren, steilen Röhrenfalten auf

seite stehen drei Statuen. D a sie dort seit rund

der einen und die Schüsselfalten auf der ande-

siebenhundert Jahren dem Wetter ausgesetzt

ren Seite. Übernehmen konnte er auch das Mo-

sind, haben ihre Formen viel von der ursprüng-

tiv des schlanken, in der Taille gegürteten Ober-

lichen Klarheit und Schärfe verloren. Erkenn-

körpers vor der schweren Mantelschale, wie wir

bar sind ein König und eine Königin, während

es bei der Königin sehen, und das seitliche Aus-

38

schwingen des Gewandes als großes, bestimmen-

Domfabrik befand sich zu jener Zeit in größten

des Hauptmotiv beim Engel.

Finanzschwierigkeiten.

Dennoch bleiben diese Übernahmen eher äußerlich. Der Stil insgesamt ist stark verändert. Er ist härter, schwerer und steifer geworden. Die Schwere

könnte von

den Schöpfungen

Die Heilig-Grab-Figuren des 14. Jahrkunderts

der

Naumburger Werkstatt mit beeinflußt sein. Die

54S9

Erst nach der Mitte des 14. Jahrhunderts, als

Starre und eine gewisse überpersönliche Glätte

man mit der Errichtung der Marienkapelle

dagegen entsprechen dem Stilempfinden nach

einen weiteren großen Anlauf zum Domneubau

1260. Die Halberstädter Statuen unterscheiden

genommen hatte, wurden der Großplastik wie-

sich gerade in dieser Hinsicht sehr deutlich von

derum Aufgaben gestellt. Die ältesten Zeugnisse

den Schöpfungen aus der Blütezeit der deut-

dieser Periode sind die drei Frauenfiguren, die

schen Skulptur im 13. Jahrhundert. Es fehlt

heute in einer Nische im nördlichen Chorum-

ihnen die Eindringlichkeit menschlicher Indivi-

gang stehen. Sie gehören zum Köstlichsten, was

dualität und die Wärme menschlichen Lebens.

der Dom besitzt, und zugleich zum Besten der

Noch bewahren sie das freie, aufrechte Stehen.

deutschen Bildhauerkunst des 14. Jahrhunderts

Aber Gesichter, Gesten, Gewänder scheinen

überhaupt.

gleichsam einzufrieren. Der klassische Augen-

Die Figur links ist an den Eisenhaken im

blick des 13. Jahrhunderts ist überschritten.

Rücken, auf die Flügel aufgesteckt waren, als

Nur wenige Jahrzehnte konnte jene die Bezirke

Engel zu erkennen. Mit frohem Lächeln er-

des Mittelalterlichen fast sprengende natürliche

hebt er die Rechte im Redegestus, die gesenkte

Menschlichkeit ihre Geltung behaupten. Unter

Linke hielt einen eingedübelten, heute verlore-

dem erneuten Andringen starker geistlich-kirch-

nen Gegenstand, der sich nicht eindeutig er-

licher Strömungen verliert die der Welt zuge-

gänzen läßt. Die mittlere Frauengestalt faltet

wandte Kultur der Fürstenhöfe ihre Kraft. Die

gesenkten Blicks die Hände. Das rechte Stand-

Halberstädter Strebepfeiler-Figuren werden ge-

bild trägt ein Salbgefäß und ein Weihrauchfaß

gen 1270 entstanden sein, eine Datierung, die

und ist damit als Maria Magdalena charakte-

sich auch aus der Baugeschichte ergibt.

risiert, die am Ostermorgen das Grab Christi

Eine weitere Figur aus der Werkstatt der

besuchen will. Die drei Figuren sind in falten-

Strebepfeiler-Statuen ist die etwa lebensgroße

reiche Gewänder gehüllt, deren schönlinig sich

Madonna, die heute in der südlichen Nische

schlängelnde Säume ihre Konturen umspielen.

der Marienkapelle steht. Etwa ein Menschen-

Der Aufbau der Kleidung ähnelt sich in den

168 alter später - also gegen 1300 - dürfte dann die

wesentlichen Motiven bei allen. Über dem lan-

Madonna geschaffen worden sein, die man, be-

gen Untergewand, das nach einer Seite schlep-

schädigt, nahe der Tür zum Obergeschoß des

pend ausschwingt, tragen sie einen Mantel. In-

53

dem sein Ende über den einen Unterarm hoch-

Remters aufgestellt hat. Mit diesen fünf Standbildern sind bereits

genommen wird, legt er sich wie eine Schürze

alle in Halberstadt erhaltenen Zeugnisse der

quer über den Leib. Die Arme der Figuren wir-

gotischen Kathedralskulptur genannt. Aus der

ken daher wie «eingewickelt» und liegen dicht

ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts besitzen wir

am Körper an. Die Mäntel bilden fast gratig be-

im Dom keine größeren plastischen Werke. Es

grenzte «Schüsseln» vor der Leibesmitte. Be-

fehlt daher jene schönlinige, unkörperliche, ganz

stimmend für den Aufbau der Figuren aber sind

auf den Ausdruck des Jenseitigen und Seelisch-

die in leichter Schwingung lang sich hinziehen-

Geistigen

gerichtete Stufe der darstellenden

den Faltenstege, die auch durch das Sich-Über-

Kunst, die man vielfach als «schönen» oder

einanderlegen von Mantel und Untergewand

«süßen»

oder mehrerer Mantelpartien nicht gestört wer-

Stil

bezeichnet.

Die

Halberstädter

39

kende Gehen, ihre Ergebung in das Schicksal zum Ausdruck gebracht. Das Unbetonte ihrer körperlichen Existenz klingt mit ihrem in sich gekehrten Gesichtsausdruck zusammen. Das Schwebende dieses Ausdrucks ist unvergeßlich. Es ist durch eine schlechthin meisterhafte Zartheit und Treffsicherheit in der Behandlung der Augenlider und der Mundwinkel wie in der plastischen Belebung der Flächen von Wangen und Stirn erreicht worden. Die starke Wirkung der Figur wird noch dadurch unterstrichen, daß sie in großen Partien ihre farbige Fassung bewahrt hat, während bei den beiden anderen das undifferenzierte Rot des Sandsteins flächig vergröbernd wirkt. Eine genauere Untersuchung ließe sicher die originale Farbigkeit der Magdalena für die Vorstellung wiedergewinnen. Mit bloßem Auge ist noch deutlich der reiche Rosettenschmuck in Blau und Gold an Mantel und Untergewand erkennbar.

den, weil die oberen Mantelpartien wie angepreßt auf den unteren liegen und nur zarte Grate die Stofflagen trennen. Die Kleidung ist im wesentlichen zeitlos. Das einzige modische Detail sind die Kopftücher der Frauen mit ihren fein gekräuselten Rändern. Die Magdalena trägt zum Kopftuch noch ein besonderes, den Hals verhüllendes Tuch, die «Rise». Den Engel zeichnet ein medaillonbesetzter Stirnreif aus. Seinen Mantel mit Schulterkragen hält eine rhombische Schließe am Hals in der Mitte zusammen. Vom Körper der Frauen und von der Art ihres Stehens wird unter den Gewändern nur wenig erkennbar. Wesentlicher ist dem Künstler die wohllautende Schwingung der Figuren im ganzen. Freilich ist es nicht mehr der reine Soder C-Schwung des «süßen» Stils, wie er in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts herrschte. Bei dem Engel und der betenden Frau handelt es sich eher um einen C-Schwung, der etwa in der Mitte durch eine Gegenkurve gestört, sozusagen «eingedellt» wird. Dadurch wie durch die etwas weniger schlanken Proportionen und eine geringere Stoffülle der Gewänder wird doch ein wenig Körperlichkeit und Ponderation an den Figuren spürbar. Bei der Magdalena ist der C-Schwung noch stärker gestört, da sich bei ihr der Kopf nicht, der Gesamtkurve folgend, seitlich neigt. Vielmehr greift diese Figur etwas mehr in die Tiefe aus: Der Leib schiebt sich leicht vor, und der Kopf ist ein wenig nach vorn gesenkt.

Künstlerisch der Magdalena fast ebenbürtig ist die Frauenfigur in der Mitte, deren aufmerkendes, ergebenes, gleichsam lauschendes Blikken mit den feinfühlig gefalteten Händen in wunderbarer Weise abgestimmt ist. Demgegenüber wirkt das archaische Lächeln des Engels derber. Gemeint ist hier die überlegene Fröhlichkeit der Himmlischen, die vom guten Ausgang wissen. In seiner Gewandgestaltung ist der Engel fast eine spiegelverkehrte Wiederholung der Orantin.

Doch bestimmender als solche neuartigen Elemente bleibt für den Gesamteindruck der Figuren ihre lyrische Grundhaltung. Die leise Schwingung des Konturs, das harmonische Spiel der Gewandfalten, in dem sich Zartheit und Energie verbinden, die Delikatesse der Detailbehandlung, wie sie besonders an den Kopftüchern spürbar wird, und natürlich vor allem die empfindsame, feinnervige Bildung und Haltung der Hände und die zarte Beseelung der Gesichter, das alles trägt zu diesem Eindruck bei. Künstlerischer Höhepunkt ist die Figur der Magdalena. Sie ist bis ins kleinste besonders fein durchgebildet und wohl auch stilistisch am fortgeschrittensten. Überzeugend ist in ihr das stok-

40

5815g

Umstritten ist die Deutung der Figuren. Die einen sehen in dem Engel zusammen mit der betenden Figur eine Verkündigungsgruppe und in der Magdalena die Einzelfigur einer HeiligGrab-Anlage. Die anderen meinen, alle drei Figuren gehörten zu einem «Heiligen Grab», wie wir es uns am besten aus den in Freiburg im Breisgau erhaltenen Resten rekonstruieren können. In einer mit Maßwerk vergitterten Nische liegt dort auf einem Sarkophag die Figur des toten, des «geopferten» Christus. An der vorderen Sarkophagwand sind im Relief die schlafenden Wächter dargestellt. Auf dem Sarkophag hinter der Figur des Toten standen ursprünglich, ganz unrealistisch die Ereignisse zusammenraffend, die drei Marien mit ihren Salbbüchsen, rechts

und links von ihnen zu Füßen und zu Häupten

sames Schicksal der drei Figuren zu vermuten.

Christi hielt je ein Engel ein Weihrauchfaß. Die

Das würde dafür sprechen, daß sie von A n -

gegen 1340 entstandene Freiburger Gruppe

fang an tatsächlich zusammengehören. Dann

-

ihre Hauptfiguren sind erhalten, wenn auch aus

aber können sie alle drei nur von einem Hei-

dem Zusammenhang gelöst - gehört zu den

ligen Grab in der Art der Freiburger Gruppe

künstlerisch hervorragendsten Werken ihrer Zeit

stammen. Diese These wird zudem von der Hal-

in Deutschland.

berstädter Liturgie-Überlieferung gestützt.

Der Redegestus und das frohe Lachen des

Der Stil der Figuren zeigt, daß ihr Meister

Halberstädter Engels ist ebenso für ein Heiliges

an einer Zeitenwende stand. Ihre sanfte Biegung

Grab wie für eine Verkündigung denkbar; sollte

und die musikalisch schwingenden Faltensäume

er ein Spruchband gehalten haben, könnten

sind Eigenheiten, die ganz allgemein noch als

darauf ebensogut die Worte «Ave Maria» wie

Auswirkung des «süßen» Stils der Zeit um 1330/

«Resurrexit» zu lesen gewesen sein. Auch der

40 angesehen werden dürfen. Dieser Stil, der am

gesenkte Blick und die gefalteten Hände der mitt-

reinsten in den Kölner Chorpfeiler-Figuren aus-

leren Figur erlauben nicht ohne weiteres eine

geprägt ist, hat als Tendenz für das zweite Vier-

Entscheidung. Gewiß ist auffallig, daß diese Ge-

tel des 14. Jahrhunderts allgemeine Gültigkeit.

sten bei den drei Marien in Freiburg nicht vor-

Gleichzeitig wird bei einem Vergleich der Hal-

kommen; aber solche Feststellungen bieten noch

berstädter Figuren mit dem Freiburger Werk

keinen Beweis für die Annahme, mit den beiden

deutlich, daß der Künstler stilistisch auch von

Halberstädter Figuren könne nur eine Verkün-

diesem Werk ausging. M a n sieht das besonders

digung gemeint sein, zumal es andererseits auch

an den lang sich hinziehenden Faltenstegen und

keine Verkündigungsmaria des 13. oder 14. J a h r -

an der feinen und zugleich scharfen Abgrenzung

hunderts gibt, die mit gefalteten Händen darge-

der Stoffbahnen voneinander; auch die Bildung

stellt wäre. Sie hält allgemein entweder ein Buch

der spitzovalen Augen mit der scharfen Abset-

oder hat eine Hand sprechend erhoben - oder

zung der Lider ist in Freiburg und Halberstadt

beides. Dagegen zeigt eine Heilig-Grab-Figur

fast identisch. Während aber die Gesichter in

aus Neuenburg am Rhein vom Ende des 14. J a h r -

Freiburg einem relativ gleichförmigen Idealty-

hunderts die Geste der Halberstädterin, und so-

pus entsprechen, sind sie in Halberstadt wesent-

gar in Freiburg kommt unter den kleinen Figu-

lich stärker individualisiert. Das ist für ihren

ren zwischen den Giebeln der Gitterwand eine

Meister bezeichnend. E r hat die beiden Rich-

betende Frauengestalt neben einer Salbbüchsen-

tungen, den «süßen» Stil und jene südwestdeut-

trägerin vor.

sche «verspannte» Sonderform, die man am aus-

Eine weitere Überlegung scheint die ikono-

geprägtesten an den Figuren der Straßburger

graphisch ohnehin besser beglaubigte Heilig-

Katharinenkapelle kennenlernen kann, nichtnur

Grab-Theorie noch zu unterstützen. Wir wissen

miteinander verschmolzen, sondern zugleich im

nichts über den ursprünglichen Aufstellungsort

Sinne der Zeitenwende um 1 3 5 0 mit großer Selb-

der Figuren. Bis zum zweiten Weltkrieg standen

ständigkeit «modern» weitergebildet. Die Kör-

sie auf dem Altar in der Marienkapelle. Vermut-

per der Figuren und ihre Bewegungsmotive wer-

lich hatte man sie aber erst im Zuge der 1868 ab-

den trotz der beherrschenden Wirkung der Ge-

geschlossenen Restaurierung dort deponiert, da

wänder leicht spürbar. Die «gestörte» Schwin-

ältere Inventare sie überhaupt nicht erwähnen.

gung, die weniger gestreckten Proportionen und

Sie waren also wohl eine Zeitlang beiseite ge-

das sich andeutende Ausgreifen in die Tiefe lassen

räumt, und ihr hoher Wert wurde erst von den

die kommende Entwicklung zu einem neuen Rea-

Verantwortlichen jener Restaurierung wieder-

lismus vorausahnen. Das deutet sich besonders

erkannt und deshalb ihre Aufstellung auf dem

auch in realistischen Einzelzügen an, etwa in den

Marienaltar veranlaßt. Es ist also ein gemein-

modischen Kopftüchern der Frauen oder in dem

41

leicht an seiner Kette pendelnden Weihrauch-

den Gesichtern der Frauen im Chorumgang

gefäß der Magdalena.

schwesterlich ähnlich. Dennoch ist manches an

Man wird annehmen dürfen, daß der Künst-

der Figur im Sinne der Entwicklung nach 1350

ler, aus Südwestdeutschland kommend, die Hal-

fortgeschrittener. Der Leib tritt stärker hervor,

berstädter Figuren bald nach 1350 gearbeitet

die Falten sind ein wenig voller geworden, und

hat - gewiß weniger als ein Jahrzehnt nach der

insgesamt bemerkt man die Tendenz, die Plasti-

Jahrhundertmitte.

zität des Körperlichen sichtbar zu machen. Bezeichnend dafür ist die durch keine Krone gestörte, geschlossene Rundform des Kopfes der

Die Anbetung der Könige

Madonna, ihr volles Gesicht und der rundliche

In unmittelbarem stilistischem Zusammenhang 47-50

perlichkeit läßt zugleich die Absicht realistischer

mit den Heilig-Grab-Figuren im Chorumgang

Darstellung erkennen. Da das Christkind zum

steht die Gruppe der Anbetung der Könige in

Teil unbekleidet wiedergegeben ist und statt des

der Marienkapelle. Die Szene ist hier in vier Ein-

vorher üblichen Segensgestus im kindlichen Spiel

zelfiguren aufgelöst, die zwischen den Fenstern

nach der Mutter greift, gewinnt die Gruppe eine

Oberkörper des Kindes. Der neue Sinn für Kör-

in den Polygonecken des Raumes verteilt stehen.

Intimität und Wirklichkeitsnähe, die aus der

Mit ihren Sockeln und Baldachinen unterbre-

göttlichen Epiphanie gleichsam eine Szene des

chen sie die Gewölbedienste. Die Figuren sind

Alltags macht. Deshalb fehlt wohl auch die Krone

auf diese Weise fest in die Architektur eingebun-

auf dem Haupt der Madonna, die sie sonst im

den und betonen sinnvoll deren Gelenkstellen.

14. Jahrhundert als Himmelskönigin zu bezeich-

Die beiden Apostel an der Grenze zwischen

nen pflegte. Die Dargestellte könnte auch eine

Polygon und schmalem Chorjoch dagegen sind

junge Bürgersfrau sein. Nur der Zusammenhang

wenig geschickte, aber wohl noch dem späten

weist sie als Gottesmutter aus.

14. Jahrhundert angehörende Zutaten. Mit der

Der neue Wille zur Vergegenwärtigung wird

Anbetung der Könige wird nicht nur die Gött-

auch bei dem jüngsten König deutlich, vor allem

lichkeit des Jesuskindes, sondern zugleich auch

in seiner modischen Kleidung. Nebenher sei

Maria als Gottesmutter gefeiert - ein passendes

bemerkt, daß das Gesicht dieser liebenswürdig

Programm für eine Marienkapelle.

erfundenen Figur dasjenige des Engels im Chor-

Die Auflösung der Anbetung in Einzelfigu-

umgang in einer zierlicheren Variante wieder-

ren wie auch die Charakterisierung der Könige

holt, wobei auch die Haare in ganz ähnlicher

geht auf ältere Vorbilder zurück. Der kniende

Weise behandelt sind. Der König trägt einen

alte König, der seine Krone vor dem Christkind

knielangen Rock, der ihm in seinem oberen, bis

abgenommen hat und ihm seine Gabe darreicht,

über die Hüften hinabreichenden Teil so eng

der zweite, der auf den Stern weist, und der

anliegt, daß er die Körperformen in der Art der

dritte, der junge, der zum Stern hinblickt, sie be-

später üblichen «Schecke» deutlich herausmo-

gegnen in ähnlicher Darstellungsweise immer

delliert. Oder ist dieses Oberteil als eigenes Klei-

wieder.

dungsstück gemeint? Es ist vorn in der Mitte mit

Die Verwandtschaft mit den Figuren im

einer Reihe eng gestellter Knöpfe geschlossen -

Chorumgang zeigt sich besonders deutlich bei der

eine charakteristische Modeform jener Zeit. Die

Madonna. Ihre Gewandmotive entsprechen weit-

Grenze zwischen dem Oberteil und dem in fei-

gehend der händefaltenden Frauenfigur. Nur die

nen Falten frei fallenden Rock bezeichnet ein

Haltung der Arme ist verändert, doch sie bleiben

tief sitzender, medaillongeschmückter Gürtel, an

auch bei ihr eng an den Körper angelegt. Das

dem ein Kurzschwert hängt. Der Gürtel erinnert

Gesicht der Maria wandelt das der Magdalena

schon an den «Dupsing», den tief sitzenden Plat-

ins Rundliche ab. In seinen Einzelheiten ist es

tengürtel des späten 14. Jahrhunderts. Außer-

42

dem trägt der König eine «Heuke», einen langen

Dieses in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhun-

Mantel, der rechts vollständig aufgeschlitzt und

derts beginnende Neue verbindet die Forschung

nur über der Schulter mit einer kurzen Knopf-

vor allem mit dem Namen der Parier. Der un-

reihe geschlossen ist. Er ist hier vorn aufgeschla-

erhört rasche Aufstieg dieser Baumeister- und

gen und das Ende über den linken A r m hochge-

Steinmetzenfamilie zur führenden Rolle in Mit-

nommen. Auffallig ist das Standmotiv der Figur.

teleuropa ist eines der überraschendsten und be-

Der Künstler hat alles getan, um in ihrem Auf-

deutsamsten kunstsoziologischen Phänomene des

bau den durchgehenden Schwung zu vermeiden

Jahrhunderts. V o r 1 3 5 0 urkundlich kaum faß-

und statt dessen eine überzeugende Ponderation

bar, beherrschen Mitglieder der Familie um

zu erreichen.

1360 die Bauhütten in Schwäbisch Gmünd, Frei-

Die beiden anderen Könige bleiben mehr im

burg, Basel, Prag und teilweise in Augsburg und

Rahmen dessen, was schon in der ersten J a h r -

Nürnberg, später auch in Ulm und Straßburg.

hunderthälfte üblich war. Beim mittleren fallt

In Köln arbeiten ebenfalls Parier mit. Der Ein-

die Zaghaftigkeit der weisenden Geste des rech-

fluß ihrer Kunst breitet sich rasch aus, nicht zu-

ten Arms auf. Das bekannte Motiv der «einge-

letzt nach Sachsen und Thüringen. Auch die

wickelten» Arme wird hier noch durch das Be-

Halberstädter Werkstatt muß davon berührt

streben verstärkt, die steile Architekturform, in

worden sein. Vielleicht liefen die Fäden über

die sich die Figur einzufügen hat, möglichst we-

Nürnberg; denn hier tritt vor 1 3 5 8 - anschei-

nig zu stören. Bezeichnend ist auch, daß der

nend erstmals - die modische Kleidung des jun-

Künsder den nicht bodenlangen Rock gewählt

gen Königs an dem Relief des Bogenfelds in der

hat - eine Verdeutlichung des Körperlichen. A m

Vorhalle der Frauenkirche auf. Schon um 1360

ausgeprägtesten folgt der kniende König älteren

wurde das Motiv - übrigens zusammen mit der

Vorbildern. Aber im Vergleich mit diesen spürt

gleichen Form des Geschenks, einem Kästchen

man doch den Gewinn an Plastizität und Fülle.

mit «Walmdach» - von einem Bildhauer ande-

Besonders augenfällig wird das an seinem rech-

rer Schulung an einer Freifigur in der Nürnber-

ten Bein. Daß er sein Gefäß dem Christkind ge-

ger Lorenzkirche wiederholt. Der Halberstädter

öfinet vorweist, kennzeichnet den Wunsch nach

Meister hat die parlerischen Anregungen, die

eindringlicher Erzählweise. Im übrigen wurde

sich j a nicht auf dieses eine, wenn auch beson-

bei der Haarwiedergabe und der Gesichtsbil-

ders bezeichnende, Motiv beschränken, viel selb-

dung dieser beiden Könige die gleiche Delika-

ständiger verarbeitet. E r hat sie so vollständig in

tesse in den Details erstrebt wie bei den Figuren

seine eigenen Formvorstellungen

einbezogen,

im Chorumgang. Auch die Rosettenmuster auf

daß die anregende Quelle nur bei genauem Zu-

den Kleidern kehren hier wieder.

sehen erkennbar wird.

Es ist bemerkenswert, daß der kniende und

Kaum später als die genannten Nürnberger

der weisende König hinsichtlich ihrer Haltung

Darstellungen der Anbetung - um 1360 - wird

und ihrer Attribute schon am Westportal des

auch die Halberstädter Gruppe entstanden sein.

Freiburger Münsters ganz ähnlich dargestellt

D a die Weihe der Marienkapelle in Halberstadt

sind. Danach ist für die Heilig-Grab-Gruppe und

einige Jahre vor 1 3 6 2 anzusetzen ist, könnten die

diese Könige der gleiche Ort als Ausgangspunkt

Figuren bald nach der Weihe gearbeitet worden

für die Erfindung anzunehmen. Dagegen zeigen

sein, gewiß in der gleichen Werkstatt wie die

die Madonna und der junge König, die am stärk-

Heilig-Grab-Figuren.

sten von den neuen Stilelementen geprägten Fi-

Die Kunst dieser Werkstatt hat im mittel-

guren also, keinerlei Verwandtschaft mit den

deutschen Gebiet im dritten Viertel des 14. J a h r -

entsprechenden Freiburger Standbildern.

Sie

hunderts eine große Ausstrahlungskraft besessen.

sind offenbar selbständige, von den neuen Stil-

Der Bildhauer des Severi-Sarkophags in Erfurt

strömungen der Zeit getragene Bildungen.

ist ebenso von ihr ausgegangen wie der Meister

43

des Elisabeth-Retabels und der Grabplatte Erzbischof Ottos von Hessen im Magdeburger Dom. Zahlreiche Werke wären hier anzuschließen. Erst die Verstärkung des parteiischen Einflusses läßt diese Richtung sich allmählich verlieren.

Die Glasmalerei in der Marienkapelle Bevor wir uns weiteren plastischen Bildwerken zuwenden, müssen wir noch auf einen besonderen Schmuck der Marienkapelle eingehen, auf ihre Glasmalereien. Vier von den fünf Fenstern 42 der Kapelle haben ihre mittelalterlichen Scheiben in großen Teilen bewahrt. Dadurch läßt der Innenraum der Kapelle etwas von dem ahnen, was die gotischen Glasmalereien einst für den Kirchenraum bedeuteten. Trotz der großen Lichtöffhungen erscheint der Raum völlig von der Außenwelt abgeschlossen, gleichsam von selbstleuchtenden farbigen Teppichen geheimnisvoll erhellt. In jeder Stunde des Tages wirken sie anders. Bald funkeln und strahlen sie, bald lassen sie nur gedämpftes, zart dämmerndes Licht ein, bald verbreiten sie ein stilles, glühendes Leuchten. Die ältesten Malereien enthält das Achsfenster. Seine Scheiben zeigen in der Mittelbahn Szenen aus der Lebensgeschichte Christi, von der 45I46 Verkündigung bis zur Himmelfahrt. Sie werden jeweils von sich überkreuzenden Weinranken umrahmt, ebenso die Medaillons in den Seitenbahnen, in denen abwechselnd Propheten und thronende Könige dargestellt sind. Damit wird aus dem Christusfenster zugleich eine Darstellung der Wurzel Jesse. In den Seitenbahnen ist ein Unterschied in der Behandlung der Medaillons zu beachten. Die Vierpässe mit den Königen sind als Teil des Stammes, ihn unterbrechend, vorgestellt. Die Propheten dagegen stehen in Spitzovalen, die durch eine Teilung des Stammes in zwei Ranken gebildet werden; damit sind sie als nicht dem Stamm selbst zugehörig bezeichnet. Indem die drei Bahnen als getrennte Rankenstämme aufwachsen, die nur gedanklich als ein Ganzes aufgefaßt sein wollen, wird die

44

Vertikale des Fensters nachdrücklich betont. Der farbige Eindruck des Fensters ist teppichhaft bunt, obwohl die Gründe, wie es in den französischen Kathedralen schon im 12.Jahrhundert üblich wurde, rot und blau gehalten sind. Die Medaillons stehen hier vor rotem Grund, zeigen aber innen als Hintergrund blau. Durch eine reiche Farbskala im Gegenständlichen wird dieser sonore Klang jedoch weitgehend zurückgedrängt. Die Darstellung der Könige auf ihren schlichten Kastenthronen ist kaum variiert. Etwas größere Unterschiede gibt es bei den Propheten, die auch bewegter, zum Teil vom gotischen S-Schwung erfaßt, dargestellt wurden. Kompositionen sehr schön sind die Szenen des Christuszyklus. Sie umfassen jeweils nur wenige Figuren, die, verhältnismäßig groß, das Feld dicht füllen. Gerade dadurch wird die Schilderung des Vorgangs sehr eindringlich. Es sei nur auf die gedrängte und dennoch harmonisch geordnete Gruppe der Anbetung der Könige oder auf die beinahe monumentale Verkündigung hingewiesen. Die Bewegung der Gestalten ist zurückhaltend, gleichsam von statuarischer Würde. Gelegentlich fügen sich die Figuren in starker Längung im C-Schwung willig dem MedaillonUmriß ein. Die Schwarzlotzeichnung, soweit sie nicht ganz verloren ist, verleiht ihnen Plastizität. Die stilistische Herkunft und die Datierung des Fensters sind noch nie gründlich untersucht worden. Im ganzen macht das Achsfenster einen so altertümlichen Eindruck, daß man es auf die Zeit um 1300 hat datieren wollen. Da aber die Marienkapelle kaum vor 1335 begonnen worden sein kann, dürfte eine frühere Entstehung des Fensters nicht anzunehmen sein. Das vierteJahrzehnt des 14. Jahrhunderts ist im Hinblick auf den Stil des Fensters eine späte, aber wohl doch mögliche Datierung. Fast scheint es, als wäre schon damals, wie etwa zwanzig Jahre später bei der Heilig-Grab-Gruppe, der Blick nach dem deutschen Südwesten gerichtet gewesen. In Münchenbuchsee in der Schweiz und in Eßlingen am Neckar sind uns Zyklen aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts erhalten geblieben, die inman-

eher Hinsicht einen Vergleich erlauben. Doch

kurz. Hieran wie an der entwickelteren Form der

engt hier die Zufälligkeit des Erhaltenen den

Inschriften ist die gegenüber dem Achsfenster

Blick stark ein.

spätere Zeitlage am klarsten zu erkennen. Selt-

Das Achsfenster ist, wie üblich, zuerst herge-

sam sind die Faltentüten, die sich gleichmäßig

stellt worden. Wohl gegen die Jahrhundertmitte

oberhalb der Hände der Engel vor ihrer Brust

folgte das Fenster im Nordosten mit einem unge-

bilden. In Andeutung gab es etwas Ahnliches

52 wohnlichen Bildprogramm. Die neun Engel-

schon im Achsfenster. Es wird hier vielfach und

chöre in der Mittelbahn werden seitlich von neun

schematisch wiederholt. Die geringere Qualität,

41 Tugendallegorien und von Aposteln begleitet.

die sich darin ausdrückt, ist auch in den Halbfiguren der Tugenden und Apostel spürbar.

Die Zuordnung der Tugenden zu den Engelchören könnte sich aus der Bemerkung Mecht-

Zeitlich an dritter Stelle steht auffallender-

hilds von Magdeburg in ihrem Werk « V o m flie-

weise nicht das Fenster rechts neben dem Achs-

ßenden Licht der Gottheit» erklären, die Engel

fenster, sondern das zweibahnige Südfenster. Es

vermöchten jeweils die Tugenden zu erkennen,

zeigt sitzende weibliche Heilige und - ihnen in-

die sie selbst in sich trügen. Beide zusammen

haltlich und bildlich zugeordnet - sitzende T u -

aber, Engel und Tugenden, dürften als Lobpreis

genden. Oben schließt es mit der Verkündigung

der Ecclesia-Maria zu verstehen sein, die in der

an Maria ab. Dieses Fest wurde in der Marien-

obersten Zeile von Christus gekrönt wird - vor-

kapelle

ausgesetzt, daß dieser neuzeitlichen Darstellung

nimmt also unmittelbar Bezug auf die Liturgie

besonders

gefeiert.

Die

Darstellung

der Marienkrönung ein mittelalterliches V o r -

im Raum. In der Rahmung sind die Scheiben

bild entsprach. Die Apostel, Begleiter Jesu, aber

jetzt auf der Höhe ihrer Zeit, insofern sie Archi-

nach dessen Tode auch mehrfach Begleiter der

tekturmotive verwenden: Dreipaßarkaden, die

Gottesmutter, könnten ebenfalls als zum Marien-

seitlich von einer Krabbenkante begleitet wer-

programm gehörig verstanden werden, so daß

den, umgreifen die Gestalten, die auf schweren

dem Christusfenster der Ostseite, wie häufig, ein

Kastenthronen sitzen. Die Figuren haben eine

Marienfenster links daneben zugeordnet wäre.

neue Fülle und Nachdrücklichkeit bekommen.

Die Apostel und Tugenden sind als Halbfigu-

Auch die Farben sind weniger kleinteilig und

ren in Medaillons eingeschlossen. Ist das schon

wirken durch starke Kontraste, was noch durch

altertümlich, so erst recht die Verwendung von

weiße Kanten zur Trennung der Farben bei grö-

verbindenden Teppichstreifen. Die Farbigkeit

ßerer Fernsicht unterstützt wird. Mit dieser

ist gleichmäßiger als beim Achsfenster: In den

Eigenheit ist die Entstehung des Fensters nach

Teppichstreifen dominiert das Rot, die Gewän-

der Jahrhundertmitte sicher. Die neue Gewich-

der der Engel sind bräunlichgelb bis weiß; die

tigkeit der Figuren wird auch in der Verkün-

Farbigkeit ist im ganzen gedämpfter als im Achs-

digung spürbar. Weit sind die Schwingen des

fenster. In den Hintergründen hat sicher ur-

Engels ausgebreitet, und der Kontur der Marien-

sprünglich Rot und Blau gewechselt, doch ist die

gestalt, zu der sich bereits die Taube des Heili-

Anordnung der Medaillons offenbar verändert.

gen Geistes her absenkt, lädt an Füßen und Schul-

Tugenden und Engelchöre sind durch Inschrif-

tern aus. Im Hintergrund der Marienscheibe

ten kenntlich gemacht. Nur so wird die Deutung

wird zum erstenmal das Motiv der eingestreu-

überhaupt möglich, zumal bei den Chören, wo

ten Sterne oder Rosetten verwendet, das im jüng-

je zwei Engelsfiguren in kaum veränderter steter

sten Fenster dann immer wieder vorkommt.

Wiederholung je einen Chor repräsentieren. Die

Dieses, im Südosten, hat relativ wenige alte

an sich nicht überlängten Proportionen der En-

Scheiben bewahrt. Original sind nur die meisten

gel wirken durch eine mehrzonige waagerechte

5/

Klugen und Törichten Jungfrauen mit Ecclesia

Teilung - Gewandborten, Hände vor der Leibes-

und Synagoge sowie teilweise die stehende Got-

mitte, Schulterkragen - geradezu «ungotisch»

tesmutter mit dem Kind, die zwei Scheiben füllt.

45

Auch das Thema des Jüngsten Gerichts, das ja in den Klugen und Törichten anklingt, wird also mit dem Hinweis auf die Gottesmutter verbunden. Die Rahmung wirkt noch entwickelter als im Südfenster. Die Baldachine sind ausgesprochene Architekturgebilde geworden. Die Stützen weisen wie Strebepfeiler Wasserschläge und krönende Fialen auf. Die kielbogigen Arkaden, hinter denen Dächer aufsteigen, sind mit Krabben oder Blättern besetzt. Der blaue oder grünliche Grund hinter den Figuren ist mit Rosetten aufgelockert. Die Farbigkeit erscheint im ganzen sonorer als im Südfenster. Die Figuren zeigen die Schlankheit, aber zugleich die Sicherheit und Standfestigkeit des späteren 14.Jahrhunderts. Die Konturen der Gewänder schwingen noch deutlicher aus. Sehr feierlich wirkt die hohe Gestalt der Maria, die leider in ihrem oberen Teil erneuert ist. Als Himmelskönigin wird sie bezeichnet durch die drei Rosetten oder Sterne, auf denen sie steht, und durch die Lampe im Baldachin zu ihren Häupten, die sich weiß von dem roten Hintergrund abhebt. Erst um 1370, wenn nicht noch später, wird dieses Fenster gearbeitet worden sein. Sehen wir davon ab, daß wir nicht wissen, wann das heute modern verglaste Nordfenster seine ersten farbigen Scheiben erhielt, waren damit die Fenster der Kapelle alle mit gemalten Scheiben geschlossen.

Ausstattungsstücke der Jahrzehnte um 1400 Wenig später als das letzte Fenster der Marienkapelle, gegen 1380, muß die Muttergottes entstanden sein, die jetzt an einem Langhauspfeiler der Nordseite steht. Man kann hier beispielhaft den Unterschied in den Traditionen studieren: Der südwestdeutsch beeinflußten Werkstatt, die die Figuren des Heiligen Grabes und der Anbetung geschaffen hatte, tritt hier eine Werkstatt gegenüber, die von der Kunst der Parier herkommt. Schwer und breit fallen die Gewänder, deutlich wölbt sich der Leib nach vorn, klar sind die plastischen Akzente gesetzt. Ein46

zelheiten, wie das naive Zupacken des Kindes, das einen Vogel an den Flügeln ergreift, sind wirklichkeitsnah beobachtet. Die Vergrößerung des Volumens und die Vermehrung realistischer Einzelzüge gegenüber der Anbetungsmadonna in der Marienkapelle ist deuüich, ebenso freilich der Verzicht auf Feinheit und Gewähltheit. Der Wille zur Vergegenwärtigung äußert sich eben zunächst vor allem als eine Art Profanierung; man darf hier sogar von Verbürgerlichung der Darstellung sprechen. Der Verzicht auf überhöhende Schönheitlichkeit wird besonders an dem Gesicht der Madonna spürbar. Ihrem Stil nach steht die Figur im Dombereich allein. Die Jahrhundertwende bringt einen neuen Stil. Das in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zurückgewonnene positivere Verhältnis zur Realität und zur Körperlichkeit wird nicht mehr protesthaft in Einzelheiten oder in bestimmten, ans Häßliche grenzenden Eigentümlichkeiten der Figur zur Schau gestellt, sondern eingebunden in eine melodisch fließende, breit und schwer, aber ausgewogen aufgebaute Darstellung. Das neue Schönheitsideal dieses Stils, der allgemein als «Weicher Stil» bezeichnet wird, verbindet sich mit einem erhöhten religiösen Anspruch. Die von der deutschen dominikanischen Mystik im 14. Jahrhundert hinzugewonnenen Themen der Plastik, die der persönlichen religiösen Versenkung dienen sollten das Vesperbild, die «Schöne Madonna» und andere - , sie erleben in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts eine neue Blüte. In Halberstadt fallt die Vollendung des wohl 1401 geweihten Chores in die Anfänge dieser Entwicklung. Schon an dem plastischen Schmuck über den seitlichen Choreingängen kann man die neue elegante Schönlinigkeit, die sich gern mit schwingender Bewegung verbindet, kennenlernen. Einer späteren, schwerflüssig gewordenen Entwicklungsstufe dieses Stils gehört das Gedächtnisgrabmal für den angeblichen Initiator und ersten Baumeister des Domneubaus an, für den Dompropst Johann Semeca, eine Tumba mit der liegenden Gestalt des To-

66-68

ten und mit Klagefiguren in kielbogigen Blendnischen an den Seiten wänden. Vielleicht hat man das Grabmal um 1445 errichtet, als man des 200. Todestages Semecas gedachte. Zur ursprünglichen Chorausstattung gehören auch die Glasmalereien in den Hochchorfenstern. Besonders gut ist die großartige Kreuzigungsgruppe im Achsfenster erhalten. Breit und schwer sind die Figuren entwickelt. Sie zeigen trotz der zeittypischen Weichheit jene Ansätze zu eindringlich realistischer, fast derber Gestaltung, wie sie gelegentlich in dem sonst so andersgearteten Stilbild des frühen 15. Jahrhunderts auftreten. Im näheren Umkreis wären für diese Eigentümlichkeit, die mit hoher Qualität verbunden zu sein pflegt, das Tiefengruben-Fenster im Erfurter Domchor oder die Skulpturen des Konrad von Einbeck in Halle zu nennen. Das Fenster nördlich neben dem Achsfenster bringt die Martyrien der Patrone des Doms; das südliche ist nur noch in Teilen original verglast.

Die Standbilder im Chor 72-82 Von entscheidender künstlerischer Bedeutung für die Chorausstattung war die Aufstellung der vierzehn Pfeilerfiguren. Es sind außer den zwei Patronen des Doms die zwölf Apostel, die «Träger der Kirche». Wurden in romanischer Zeit die Säulen des Chorumgangs vielfach durch Inschriften oder Reliquieneinschlüsse als Apostel bezeichnet und dadurch symbolisch zu Aposteln gemacht, die die Kirche tragen, so wurde hier dieser Sinn durch Standbilder ausgesprochen, die man vor die Pfeiler stellte. Die Figurenfolge im Kölner Domchor ist das bekannteste deutsche Vorbild für dieses Vorgehen. Die Figuren sind in Halberstadt paarweise über den Chorraum hinweg einander zugeordnet. An den östlichen Polygonpfeilern stehen Sixtus und Stephanus, an den westlichen die «Apostelfürsten» Petrus und Paulus; es folgen die beiden Jakobus, zwei Erstberufene, zwei Evangelisten und so weiter. Die Domfabrik scheint sich bei diesen Stand-

bildern ganz auf Stiftungen verlassen zu haben, denn ihre Herstellung hat sich von etwa 1425 bis gegen 1470 hingezogen. Wappen an der Mehrzahl der Sockel sowie - zweimal - ein beigegebenes Stifterfigürchen bestätigen diese Vermutung. Die Statuen bilden ein wahres Kompendium der Stilgeschichte im zweiten und dritten Viertel des 15. Jahrhunderts. Viele sind von hoher Qualität. 75

Der Apostel Andreas allein ist datiert: «1427» ist auf seinem Kreuz zu lesen. Ihm könnten jedoch die beiden Statuen links von

74 ihm, Bartholomäus und Johannes Evangelista, um ein weniges vorausgegangen sein. Mit ihren rein und schönlinig schwingenden Falten und den nicht überschweren Faltenpendeln vertreten sie den Weichen Stil noch ohne jede Manieriertheit. Auch das Typisierte ihrer Gesichter paßt hierzu. Der Andreas ist breiter und untersetzter angelegt. Die Schüsselfalten vor seinem Leib haben schon Härten und Spitzen und verschieben sich eigenwillig gegeneinander. Die Faltenpendel sind schwerer geworden. Die Bartlocken bilden ein richtiges Spiralmuster. Der leicht seitlich geneigte Kopf lebt freilich auch noch wie die beiden anderen aus dem überlieferten Typenschatz. Alle drei Figuren zeigen am Sockel das gleiche, nicht bestimmbare Wappen, das übrigens auch an der jetzt im Remter aufgestellten Katharinenfigur auftritt, bei der die Untersetztheit noch stärker ins Auge fällt als beim Andreas, während sich die geradezu üppige Faltenbildung ihres Gewandes noch ganz weich und gerundet darbietet. Diese vier Standbilder könnten also von der gleichen Person gestiftet und kurz nacheinander um 1425 entstanden sein. Zu dieser Gruppe gehören vielleicht auch die beiden Figuren an den Vierungspfeilern, die Apostel Simon und Judas Thaddäus. Sie sind jedoch als vergleichsweise geringwertige Stücke schwer einzuordnen. Ganz neue Bewegungs- und Darstellungsmotive - Bewegungsmotive, die wirklich vom Körper auszugehen scheinen - wendet der be75/77 deutende Künstler an, der die Bistumsheiligen an den Stirnpfeilern des Chores schuf. Sie unter-

47

scheiden sich sehr von den sonst im Weichen

Mächtig ist der Mantel vor der Leibesmitte aus-

Stil üblichen Aufbau-Schemata. Dennoch müs-

gebreitet, indem die Rechte den - zum größten

sen sie nicht wesentlich jünger sein als der A n -

Teil verlorenen - Stab faßt, die verhüllte Linke

dreas.

die Bibel mahnend aufgeschlagen vorstreckt.

Eine prächtige Papstkrone auf dem Haupt,

Der leicht geöffnete Mund in dem sehr indi-

mit der Rechten auf den Hirtenstab gestützt,

viduell geformten Gesicht scheint einer lauschen-

scheint Sixtus in einem Buch, das er auf der

den Menge den Glauben zu künden. Eine spitze

linken Hand aufgeschlagen hält, nachdenklich

Tiara und ein mächtiges Brustkreuz betonen das

zu lesen. Z w a r ist die Gestalt noch in einen

Majestätische der Erscheinung. Die Gewand-

C-Schwung einbeschrieben. Aber durch die Mar-

behandlung zeigt noch die Eigenheiten des

kierung des linken Knies unter dem zartfaltig

Weichen Stils. Nur die delligen Formen am

fallenden Gewand und die vollständige Beherr-

oberen Mantelstück und die unklaren, splittri-

schung des Kontraposts wird der Eindruck er-

gen Bildungen oberhalb des Sockels zeugen da-

reicht, der Papst habe eben um der Lektüre

von, daß sich bereits Auflösungserscheinungen

willen im Gehen innegehalten. Das barüose Ge-

des reinen Stilbilds einstellen.

sicht mit dem kleinen Mund und den ange-

U m 1 4 3 5 fehlte also nur noch eine Figur auf

strengt hochgezogenen Augenbrauen, wodurch

der Nordseite, während gegenüber noch vier

sich die Stirn in Falten legt, hat nichts von den

Pfeiler auf ihren Statuenschmuck warteten. Ein

gängigen Ateliertypen an sich. Der um seine

bis zwei Jahrzehnte scheint es gedauert zu ha-

Herde besorgte, in heilige Lektüre versunkene

ben, bis man die Lücke auf der Nordseite mit

Oberhirte wird uns eindringlich vorgestellt. Die

der Figur des Jakobus major schließen konnte. 80

weich sich schlängelnden Faltensäume, das ge-

Der Apostel ist von so eigenwilliger Erfindung,

teilte Faltenpendel über dem linken A r m und

daß es schwerfallt, ihn zeitlich genau einzuord-

die runden Faltenschlingen

Sockel

nen. Er zeigt ebenso Erinnerungen an den Wei-

dürften jedoch beweisen, daß wir uns zeitlich

chen Stil wie Vorausgriffe auf das späte 15. J a h r -

noch im Bereich des Weichen Stils befinden.

hundert. Reiseflasche und -beutel, Wanderstab

auf dem

Die Figur des Stephanus zeigt manche Ähn-

und muschelbesetzter Hut kennzeichnen den

lichkeit mit der des Sixtus: die großzügige

Pilger. Durch das großzügige einseitige Falten-

Schwingung im ganzen, die zarten Falten seines

motiv des Mantels und das In-sich-Gekehrte,

Chorhemds, die weichen Faltenschlingen der

Gesammelte seines Asketengesichts scheint J a -

Alba

über dem Sockel und vor allem das

kobus wirklich wie ein «Traumwandler» unbe-

jugendliche, freilich hier etwas vollere Gesicht

irrbar vorwärts zu schreiten. Es ist eine der Ge-

mit den hochgeschwungenen Brauen. In milder

stalten, die man nicht vergißt, wenn man sie

Nachdenklichkeit versunken, hält er rechts die

einmal bewußt gesehen hat.

Märtyrerpalme und links die Steine seines M a r -

Die fehlenden Figuren auf der Südseite sind

tyriums. Über den linken A r m ist die Stola ge-

erst nach nochmaliger Pause im siebenten J a h r -

legt, deren Stickerei sorgfältig in Stein nachge-

zehnt des

bildet ist.

älteste unter ihnen ist möglicherweise der Tho-

15. Jahrhunderts

entstanden.

Die

Weniger selbständig als dieses Paar ist das

mas. Die massige Leiblichkeit der Figur und

folgende, das gleichsam den Altar rahmt, die

ihre mächtigen Gewandfalten sind deutliche

Standbilder des Petrus und des Paulus. Beson-

Zeichen der späteren Entstehungszeit, obwohl

ders die des Paulus hat Ähnlichkeit mit dem

motivisch die Muster des Weichen Stils an ihr

Andreas. Nur die gesteigerte Mächtigkeit des

wiederholt werden. Eine vorzügliche schöpfe-

doppelten Faltenpendels läßt eine etwas jüngere

rische Leistung ist dagegen der Matthäus mit 82

Entstehungszeit vermuten. Mit dem Petrus ist 79

dem Kelch. Die tiefe Aushöhlung des Blockes

dagegen ein großer Wurf versucht

rechts, die den Mantel wie eine Schale vom

48

worden.

Körper abstehen läßt, das Großformige und teilweise Komplizierte der Gewandmotive wie auch der betonte Realismus in den Gesichtszügen bezeichnen die gänzlich veränderte stilistische Haltung dieses Künstlers. Von der Schönheitlichkeit des Weichen Stils ist nichts geblieben. Auch die Jahre des protesthaften Suchens nach wirklichkeitsnäheren Darstellungsmitteln liegen schon zurück. Der Künstler bedient sich dieser neuen Mittel mit völliger Sicherheit. Nur die mächtige Schwere und das absichtliche Meiden alles gewählt Schöncn erinnert noch an die Generation der Witz und Multscher, so daß der Matthäus bald nach 1460 entstanden sein wird. Schwächer als diese Figur ist die des neben ihm stehenden Philippus. Sie wurde von Ludwig Stammer gestiftet, der Dompropst in Halberstadt und seit 1466 Bischof in Naumburg war. Da über dem Wappen am Sockel eine Mitra als Rangabzeichen angebracht ist, muß die Figur nach 1466 entstanden sein. Sie ist breit und flächig aufgebaut. Nur die hart gegeneinander zuckenden, wie aufgelegt erscheinenden Falten lassen die späte Entstehungszeit erkennen. Das gilt ähnlich für den Jakobus minor, bei dem mit den seitlichen Faltenpendeln sogar Motive der Zeit um 1430 nochmals aufgenommen wurden. Wie der Matthäus trägt er das Wappen derer von Hoym. Vielleicht ist der damalige Bischof, Gebhard von Hoym (1458-1479), der Stifter dieser beiden Figuren.

Die Glasmalereien im Chorumgang Die Betrachtung der Standbilder im Chor hat uns zeitlich weit voraus ins 15. Jahrhundert geführt und damit auch hinweg über die Jahre um 1440, die für den Bau des Halberstädter Doms einen gewissen Einschnitt bedeuteten. Denn damals wurde unter Bischof Burchard III. von Warberg (1437-1458) die Errichtung von Querschiff und Langhaus energisch weitergetrieben und somit ein wichtiger Schritt zur Vollendung des Dombaus getan. Doch ehe wir uns dieser Phase zuwenden, muß noch eine bedeu-

tende Leistung der ersten Jahrhunderthälfte gewürdigt werden, die Farbverglasung der Fenster im Chorumgang. Leider ist dieses umfangreiche Werk - es handelt sich um zwölf große Fenster - nur fragmentarisch auf uns gekommen. Am besten blieben noch die Fenster neben der Marienka65,70 pelle erhalten. Das südliche ist von der Familie von Hoym gestiftet, und da es in seltener Ausführlichkeit die Legende des Evangelisten Johannes darstellt, nimmt man an, daß Bischof Johannes von Hoym (1420-143 7) einer der Stifter war. Sein Farbklang wird ungewöhnlicherweise von einem kräftigen Grün beherrscht, dessen Wirkung durch rote und gelbe bis braune Töne gesteigert erscheint. Anders als in den Fenstern der Marienkapelle werden die Szenen von architektonischen, perspektivisch gebildeten Versatzstücken umrahmt, besonders von vorkragenden Baldachinen. Solche Motive wie auch der Figurenstil finden sich teilweise ähnlich wieder in der wohl etwas jüngeren Verglasung des Stendaler Doms. Der natürliche Zusammenhang Haiberstadts mit den Gebieten nördlich des Harzes - in Halberstadt sprach man im Mittelalter ja auch niederdeutsch den wir schon bei den romanischen Werken zu betonen hatten, ist also nach dem Intermezzo der süd- und südwestdeutschen Einflüsse wiederhergestellt. In den meisten anderen Fenstern des Chorumgangs sind weniger alte Scheiben erhalten geblieben. Oft von großer Schönheit, gehören sie alle den ersten drei Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts an.

Die Plastik um 1440 Im sogenannten Karlsfenster, dem letzten auf der Südseite des Chorumgangs, sind unter anderem zwei heilige Jungfrauen dargestellt. In ihrer Auffassung erinnern sie unmittelbar an die gs Figuren auf einem kleinen Reliefbruchstück, das - heute unter der Südempore im Querschiff angebracht - ursprünglich zu einer Brüstung oder zu einem Altarretabel gehört haben

49

könnte. Bei aller Kleinheit ist es ein bedeutendes Werk. Es zeigt den ungläubigen Thomas, der seine Finger in die Seitenwunde Christi legt. Die beiden großköpfigen, untersetzten Gestalten sind von reich schwingenden Gewändern umhüllt. Thomas erscheint gleichsam hinfallig und hilflos vor Erstaunen, während Christus unnahbare Ruhe und entrückte Stille ausstrahlt. Diese Situation wird in den drastisch ausdrucksvollen und zugleich übertrieben gelängten Gesichtern ergreifend gespiegelt. Das Zentrum der Komposition - ein Händekreuz mit großen gestreckten Fingern - wird gebildet aus der Hand des Thomas, die Christi Seitenwunde berührt, und der Hand Christi, die das Handgelenk des Thomas führend umfaßt. Die weiche, füllige Formung der Gewänder steht in einem deutlichen, bewegenden Gegensatz zu der etwas derb anmutenden Stilisierung der Figuren. Diese Art der Stilisierung läßt den Beginn einer neuerlichen Hinwendung zu realistischer Gesinnung erkennen. Ihren Höhepunkt erlebten jene neuen Tendenzen in der deutschen darstellenden Kunst um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Es war dies eine Zeit des Protestes gegen die verfeinerte, «schönfärberische» Kunst des Weichen Stils, eine Zeit der Bemühungen um wirklichkeitsnahe Darstellung bis zu gesuchter Häßlichkeit. Am Halberstädter Dom ist diese Stilphase kaum vertreten. Ihren Ausklang lernten wir in der Figur des Matthäus im Chor kennen. In Andeutung findet sie sich auch an der Plastik des Portals am nördlichen Querhaus, das um 1440 entstanden sein wird. Die figürlichen Darstellungen in seinem Tympanon und in den - auffallenderweise rundbogig geschlossenen - Feldern seitlich davon sind der großartigen Komposition der steilen Querschiffassade künstlerisch vollständig untergeordnet. Vielleicht meinte man deshalb auch ihre Ausführung nicht ersten Kräften anvertrauen zu müssen. Denn das Untersetzte und Großköpfige der Figuren, das schon im Thomasrelief sich ankündigte, erscheint hier durch eine unbeholfene Hand noch gesteigert. Im Tympanon ist der Tod Mariens, in den Seitenfeldern 50

sind die Martyrien der beiden Patrone des Bistums dargestellt.

Die Standbilder im Querschiff und im Langhaus In den Jahrzehnten von etwa 1440 bis 1480 galten die Anstrengungen zur Erneuerung der Kathedrale in erster Linie der Weiterführung des Baus selbst. Plastische Werke sind in dieser Zeit kaum für den Dom entstanden. Nur die fehlenden Pfeilerfiguren im Chor konnte man um 1460/70 arbeiten lassen. Dagegen folgte in den nächsten vierzig Jahren, also etwa von 1480 bis 1520, eine Zeit, in der man den nun fertig hergestellten Dom in reichem Maße mit Werken der bildenden Künste schmückte. Die Spätzeit der Gotik können wir daher in Halberstadt an vielen guten Denkmälern vorzüglich kennenlernen.

11-13

Zu den bedeutendsten Schöpfungen dieser abschließenden Ausstattungsperiode gehören die lebensgroßen Pfeilerfiguren in Querschiff und Langhaus. Da auch hier, wie man annehmen darf, die Standbilder durch Stiftungen beschafft wurden, ist die Reihe bis ins 19. Jahrhundert unvollständig geblieben. Damals hatte man den Mut gefunden, die Lücken mit Figuren aus Gips zu füllen; doch sind diese nach 1945 zu Recht wieder entfernt worden. Einen bescheidenen Auftakt zu dem spätgotischen Zyklus bilden die Figuren der Querschiffemporen. Das Standbild des Bistumsgründers, Karl des Großen, an der Südempore zeigt gewisse Beziehungen zu einer der jüngsten Chorfiguren, zum Jakobus minor. Doch ist das wegen der andersartigen Gewandung nur mit Vorbehalt auszusagen. Die Rüstung des knieenden Stifterfigürchens zu Karls Füßen, nach dem Wappen Stiftshauptmann Siegfried von Hoym, kann nur bestätigen, daß eine Datierung um 1470 möglich ist, ohne die Entstehungszeit näher einzugrenzen. Die Gruppe des Sündcnfalls an der Nordempore war ursprünglich dort nicht vorgesehen, wie der vom Baum der Er-

kenntnis verdeckte ältere Baldachin erkennen läßt. Vermutlich hat man sie um 1480, gleich-

Es war wie eine letzte Rückbesinnung auf die

zeitig mit der Einziehung der Emporengewölbe,

hohen Werte des Mittelalters. Danach wurden

dort aufgestellt. In der Mitte über dem Stifter-

sie mehr und mehr von den umwälzenden Neue-

wappen sieht man die Schlange im Baum des

rungen überflutet, die mit dem Wort «Renais-

Paradieses, rechts und links das schuldig ge-

sance» nur sehr unvollkommen umschrieben

wordene erste Menschenpaar, oben im Taber-

sind. Bezeichnend zwiespältig ist das Stand-

nakel vor der Brüstungsmitte den strafenden

motiv der Figur. Seitlich gesehen scheint der

Gottvater. Die Figuren der Stammeltern über-

Ritter vom Rücken des Drachen herabzugleiten.

raschen durch ihre geradezu kindliche Naivität.

Das ist ebenso mittelalterlich wie die nur ange-

Obwohl diese ohne Frage nur auf die Unbe-

deutete Schilderung des Kampfes. Von vorn

holfenheit des Steinmetzen zurückgeht, sind sie

zeigt er ein festes Stehen, das - wie die wirklich-

für den heutigen Betrachter nicht ohne Reiz.

keitsgetreue Wiedergabe der Einzelheiten der

Die Reihe der eigentlichen Pfeilerfiguren in gr

Quer- und Langhaus beginnt wohl mit der Sta-

zeitgenössischen Rüstung - in die heraufkommende Zeit gehört.

tue des heiligen Hieronymus am südwestlichen

Mitten hinein in den Beginn der neuen Zeit

Vierungspfeiler. Freilich ist gerade sie infolge

führt uns schon die nächste, in die Jahre um und

ihrer Einmaligkeit und Eigenwilligkeit schwer

nach 1 5 1 0 anzusetzende Figurengruppe. 1509

zu datieren. Es ist die Arbeit eines bedeutenden

99 ist der heilige Erasmus am südwestlichen Vie-

Künstlers. Die Gestalt des hageren Asketen mit

rungspfeiler datiert. Sein detailliert durchge-

dem riesigen runden Kardinalshut und dem

arbeitetes Gesicht läßt eine melancholisch re-

scharfkantigen Gesicht, das von einer spitzigen

flektierende Seelenstimmung erkennen, wie sie

Nase und großen, wie erstaunt geöffneten A u -

uns aus gleichzeitigen Werken Tilman Riemen-

gen beherrscht wird, prägt sich jedem Dom-

schneiders geläufig ist. Man glaubt die Nöte der

besucher unvergeßlich ein. Der Löwe, dem er

Zeit, die den großen religiösen und sozialen

nach der Legende einen Dorn aus der Tatze ge-

Kämpfen entgegenging, in einem solchen Ge-

zogen hatte, springt ihn wie ein

dankbarer

sicht gespiegelt zu sehen. Ein wenig von dieser

Hund an und stützt dabei das Buch, in dem der

fast schmerzlichen Stimmung ist auch in dem

Heilige wohl gerade lesen wollte. Die starke

Gesicht des nur ein J a h r später entstandenen

Durchschluchtung des Steins sowie die dekora-

94 heiligen Sebastian am Pfeiler gegenüber zu spü-

tive Behandlung mancher Details, etwa

93

15. Jahrhunderts nochmals lebendig wurden.

von

ren, der durch die Schönheitlichkeit seines nack-

Mähne, Pranke und Schwanz des Löwen, ma-

ten Körpers, die Sorgfalt des Aktstudiums und

chen die Entstehung der Figur um 1480 wahr-

die Beherrschung des Kontraposts ausgezeich-

scheinlich.

net ist. Dabei sind Einzelheiten wie die heraus-

1487, ein J a h r nach der Schließung des

tretenden Adern eher dekorativ erfunden als ge-

letzten Mittelschiffsgewölbes, ist das Standbild

nau beobachtet. Ursprünglich war die Figur

des heiligen Georg datiert, das, dem Hierony-

sicher von vielen Pfeilen durchbohrt, so daß der

mus gegenüber, am nordwesüichen Vierungs-

Heilige nach den Worten der Legende «stund

pfeiler angebracht ist. Ein schöner Jüngling in

wie ein Igel». Durch die Entfernung der Pfeile

modischer Rüstung scheint ohne besondere A n -

wirkt das Lyrische der Figur noch stärker. Auch

strengung seine Lanze in den Rachen des U n -

diese lyrische Komponente gemahnt an die

tiers zu stoßen, auf dem er steht. Die spitzigen

Kunst Riemenschneiders.

Formen, etwa seines Harnischs oder seiner

Ein Werk von gleicher künstlerischer Höhe

Schuhe oder auch an den Ohren und am Pan-

10 J ist der heilige Mauritius am ersten Pfeiler der

zer des Drachen, zeigen deutlich die gotisieren-

Nordseite. Die Figur wurde 1 5 1 3 gestiftet. Von

den Tendenzen, die in den achtziger Jahren des

den beiden eben besprochenen unterscheidet sie

51

sich durch die Zurückhaltung in der psychi-

des Gewandes die beschriebenen Eigenheiten

schen Bewegung. Das realistisch erfaßte Gesicht

sehr deutlich. Die Handschrift dieses Künstlers

des Mohren bleibt unergründlich. Schwere und

ist so individuell, daß man sie in dem ebenfalls

Festigkeit der Gestalt und das Gerundete der

1509 datierten Relief der Kreuzigung im Nord-

Formen - bezeichnend der fast kuglige Kopf -

flügel des Domkreuzgangs wiedererkennen kann.

haben zugenommen. Der Vergleich der Rü-

Das Relief ist von Friedrich von Hoym und sei-

stung des Mauritius mit der des 26 Jahre früher

ner Gattin gestiftet worden, die seitlich kniend

entstandenen Georg kann die Entwicklung über-

dargestellt sind. Ein ganz ähnliches Stück von

zeugend charakterisieren: dort überall Spitzen

demselben

und scharfe Grate, hier Rundungen, die die

Liebfrauenkirche. Ein Relief der Beweinung

pralle Körperlichkeit betonen, breite statt spitze

Christi im Westflügel des Domkreuzgangs ist

Schuhe.

diesen beiden stilistisch verwandt, obwohl im

Stifter hängt im Kreuzgang

der

Schwächer als diese drei Figuren sind die

ganzen etwas derber. Eine großzügige Kompo-

beiden an den östlichen Vierungspfeilern, die

sition, Naturnähe in den Einzelheiten und die

heilige Maria Magdalena und der heilige Lau-

beschriebene Schwere und Wucht zeichnen alle

rentius. Sie erscheinen breit und üppig, mit

drei Werke aus.

gleichsam rauschenden Falten. Der mächtige

Weitere Freifiguren, die sicher der gleichen

Haarkranz des Laurentius und das kronenartig

Hand zugeschrieben werden dürfen, stehen an

aufgebaute Kopftuch der Magdalena kennzeich-

der Westwand von Liebfrauen. Sie sind 1 5 1 1 da-

nen die neue Freude an schwellender Plastizität.

tiert, also wenig jünger als die Katharina. Noch-

Weniger prunkvoll sind die Skulpturen eines

mals etwa zwei Jahre später entstand dann die

Meisters, der für den Dom und die Liebfrauen-

Figur des heiligen Stephanus, die, ursprünglich ¡05

kirche in den Jahren um 1 5 1 0 gearbeitet hat.

vor dem Mittelpfeiler des Westportals aufge-

Eher ließen sich bei ihm ähnliche Tendenzen

stellt, heute an der Westwand des nördlichen

wie beim Meister des Mauritius erkennen: die

Seitenschiffs steht. Ihr Gesicht hat einen hell-

betonte Schwere, die gerundete Massigkeit und

wachen, aufmerksamen Ausdruck. Das Gewand

die gleichsam indifferente Stimmung in den Ge-

ist tiefer durchfurcht und noch stärker bewegt

sichtern. Seine Schöpfungen verkörpern damit

als an den etwas älteren Figuren. Man kann dar-

in gewisser Weise «Renaissancegeist» noch deut-

aus entnehmen, wohin die Entwicklung ging.

licher als die gleichzeitige «Riemenschneider-

Doch ist der «spätgotische Barock», eine Rich-

gruppe». Bezeichnend ist zudem die Zusammen-

tung, die zeidich mit dem Höhepunkt der Aus-

fassung der schweren Stoffmassen der Gewän-

einandersetzungen in Glaubensfragen und den

der zu einzelnen, großzügigen Faltenmotiven,

aufwühlenden Ereignissen des großen Bauern-

in denen sich volle aufgelegte Wülste und tiefe

krieges von 1 5 2 5 zusammenfiel, in Halberstadt

Höhlungen begegnen. Doch behält die sich vor-

nicht vollgültig vertreten. Nur in Andeutung

wölbende Form noch Vorrang. Klarheit und in

läßt sich diese höchste Steigerung der Erregtheit

sich ruhende, feste Sicherheit geben den Figuren

in der betont vielgliedrigen Faltenkomposition

einen so «diesseitigen» Charakter, daß die mit-

der Marienfigur an einem Pfeiler der Südseite

telalterliche Transzendenz in ihnen fast ver-

erkennen. Sie nimmt in der ein wenig ge-

gessen erscheint.

schraubten Haltung und in dem zu kleinen

Z u m Werk dieses Meisters gehört die Figur

Kopf schon geradezu «manieristische» Züge an

der Katharina im Nordseitenschiff, die 1509 da- ¡06

und wird daher wohl erst gegen 1520 gearbeitet

tiert ist. Sie zeigt in ihrem vollen Gesicht, das

worden sein. Möglicherweise ist auch der selt-

seelischen Regungen verschlossen scheint, in

sam

den schweren, über ihre Schultern herabfallen-

Nordpfeiler mit dieser Richtung zu verbinden.

den Flechten und in den kräftigen Faltenzügen

Dagegen wird der Schmerzensmann daneben

52

wilde Johannes

der Täufer an

einem

und werden die fünf Figuren im Querschiff der

anderes wird noch im Domschatz oder in Neben-

Liebfrauenkirche am ehesten der Werkstatt des

räumen aufbewahrt. Zu nennen wäre die Fülle

«Katharinenmeisters» zuzuweisen sein.

der geschnitzten oder gemalten Altarretabel, der Votivgemälde und der Grabdenkmäler. Einen besonderen Hinweis verdienen auch die Werke

Weitere Ausstattungsstücke der %eit um 1500

der Metallkunst, die Stand- und die Kronleuch-

Gleichzeitig mit den Werken der «Riemen-

lerdings erneuert ist. Viel hat in jener Zeit der

ter oder das Adlerpult im Chor, dessen Fuß alschneidergruppe»

und

des

«Katharinenmei-

88 Propst Balthasar von Neuenstadt getan, um die

31 sters» wurde der Lettner geschaffen. Er ist durch

Ausstattung des Doms zu bereichern und zu er-

die Zahl 1 5 1 0 an den Figuren der griechischen

gänzen. Wir können einen Eindruck von seiner

Ärzte Cosmas und Damian auf der Südseite da-

Person gewinnen, wenn wir seine bronzene

tiert. Das überzierliche Gebilde, das mit dem

Grabplatte betrachten, die heute auf der Süd-

Magdeburger Vorbild konkurrieren will und

empore im Querschiff aufgestellt ist. Der Propst

kann, ist reich mit Figuren besetzt. Sie errei-

starb 1 5 1 6 . Die Platte ist ein schönes Werk aus

chen aber alle nicht die Qualität der großen

der Vischerschen Werkstatt in Nürnberg. Sie

Pfeilerfiguren. Im ganzen ist der Lettner ein be-

zeigt den Geistlichen frontal, füllig breit und

zeichnendes Werk spätgotischer Steinmetzen-

fest dastehend, ungemein selbstbewußt,

virtuosität.

Familienwappen zu seinen Füßen, die üblichen

das

Virtuos in seinen Details ist auch das Relief

Evangelistensymbole in den Ecken. In den

der Geburt Christi in der Marienkapelle. Es ist

Zwickeln des rundbogig gerahmten Bildfeldes

1 5 1 7 datiert und als Stiftung der Patrizier-

tummeln sich schon Putten, Boten einer neuen

familie Mahrenholz ausgewiesen. Das Werk hat

Zeit - wohl das erste Beispiel für die Übernahme

in den Hauptfiguren gemeinsame Züge mit den

von Einzelheiten italienischer Renaissancekunst

Reliefs vom

in Halberstadt.

«Katharinenmeister»

im

Dom-

kreuzgang. Aber hier sind die Figuren der dar-

Aus dem zweiten Viertel des 16. Jahrhun-

über in miniaturhafter Feinheit und Einläßlich-

derts finden sich im Halberstädter Dom keine

keit geschilderten Landschaft gewissermaßen

Zeugnisse der bildenden Kunst. Der Kampf um

untergeordnet. Sie dient als Schauplatz für die

das Fortbestehen oder den Untergang der mit-

Verkündigung an die Hirten, die herannahen-

telalterlichen Ordnung, der in dieser Zeit aus-

den Züge der Heiligen Drei Könige und den

getragen wurde, hat wohl auch hier das Ent-

bethlehemitischen Kindermord. Die vorausge-

stehen größerer Werke verhindert.

gangene Verkündigung ist unten auf einem Sockel dargestellt. Auf ihm knien Maria und Joseph, das Kind anbetend. Ihre porträthaften

Die Werke der nachmittelalterlichen £eit

Züge könnten übrigens die der Stifter sein, also echte, verborgene Porträts darstellen, wie sie später vielfach

üblich wurden.

Das

Erst 1591 wurde im Halberstädter Dom der

ist

104 evangelische Gottesdienst eingeführt. 1592 schon

kennzeichnend für die Zeit des Übergangs.

107 entstand die Kanzel. Die Orgel ist 1 7 1 8 ersetzt

Das seiner selbst bewußt gewordene

Indi-

worden. Ihr prächtiger barocker Prospekt be-

viduum setzt sich in einer heiligen Szene ein

herrscht seitdem den Blick im Langhaus nach

Denkmal.

Westen. Was bis zum Dom

Nur summarisch kann hier auf den sonstigen Reichtum

der Ausstattung

werden, die in den Jahrzehnten um 1500 be-

19. Jahrhundert dem

künstlerischem

Besitz

hinzugefügt

wurde, sind ausschließlich Grabdenkmäler.

hingewiesen

schafft wurde. Vieles ist zudem verschwunden,

an

85-87

Das älteste der nachmittelalterlichen Grabmäler ist zugleich das künstlerisch bedeutendste.

53

Es steht im Chor auf der Südseite und erinnert

Canstein und seiner Frau aus der zweiten

an den ErzbischofFriedrich III. von Magdeburg,

Hälfte des 17. Jahrhunderts hat man auf die

der 1552 mit 22 Jahren starb. Sein Vater, Kur-

nördliche Querschiffempore versetzt. Die Um-

fürst Joachim von Brandenburg, ließ es durch

schmelzung von Formen des Manierismus in

den aus Sachsen stammenden, damals in Berlin

zeitgemäße barocke macht dieses Werk stilge-

lebenden Bildhauer Hans Schenk, gen. Scheuß-

schichtlich interessant. A m Westende des süd-

lich,

Gesamtform

lichen Seitenschiffs steht die Grabkapelle der

ist die eines großen Altarretabels. Doch steht

bis

1558 anfertigen.

Die

Familie von dem Busche-Streithorst aus dem

hier im Hauptfeld der Verstorbene in der Hal-

Jahre 1696. Obwohl aus Holz, lehnt sie sich in

tung eines Predigers; darüber folgt eine Zone

ihrer Grundform an die zeitgenössische Stein-

mit Wappenhalterinnen, dann, ganz groß, das

architektur an. Virtuos wird das Motiv der frei-

Wappen des Erzbischofs selbst und schließlich

plastisch geschnitzten Akanthusranken gehand-

der thronende Gottvater. In diesen A u f b a u ist

habt. Doch bleibt trotz überquellender Fülle

eine Fülle allegorischer, teilweise überaus drasti-

die straffe architektonische Gesamtform beherr-

scher Darstellungen eingebettet, die in der ag-

schend.

gressiven Sprache des Manierismus die Schrek-

Schon die Betrachtung der noch im Dom

ken von Tod und Hölle und die Hoffnung auf

verbliebenen mittelalterlichen Ausstattung, die

die Erlösung durch Christus erläutern. Dem

hier in Kürze gegeben wurde, gibt einen Be-

geduldigen

er-

griff von der Pracht und dem künstlerischen

schließt sich bald die hohe künstlerische Bedeu-

Reichtum, mit denen man sich im Mittelalter

tung des Grabmals.

zur Ausübung der gottesdienstlichen Handlun-

Betrachter

der

Einzelheiten

Der Dom besitzt noch eine Reihe weiterer

gen umgab. Doch wären hier, will man sich den

steinerner Epitaphe in Retabelform aus der

vollen Glanz der mittelalterlichen Liturgie rich-

Zeit vor dem Dreißigjährigen Kriege. Sie wur-

tig vorstellen, nicht nur die Vielzahl der Altäre

den von Künstlern aus Braunschweig und Mag-

mit ihren farbig gefaßten Retabeln im Geiste

deburg gearbeitet. Die Schönheit dieser Denk-

zu ergänzen, sondern auch alle die Werke und

mäler liegt überall im Detail. Dagegen ist die

Geräte hinzuzunehmen, die nicht mehr im Dom

T ü r im südlichen Chorumgang, die einst zum 6g

aufbewahrt werden, im Mittelalter aber die

Rittersaal führte und die der Dechant Matthias

Kirche schmückten und den Gottesdienst be-

von Oppen 1615 stiftete, ein sehr formklares

reicherten: die prachtvollen Paramente, die ge-

und für die Zeit fortschrittliches Werk. Die Be-

webten oder gestickten Wandbehänge, die kost-

wegtheit der krönenden weiblichen Figur be-

baren Reliquiare, die illuminierten liturgischen

wahrt Traditionen des Manierismus und weist

Bücher und vieles andere. Ein glückliches Ge-

zugleich auf die Kunst des Hochbarocks vor-

schick macht es uns in Halberstadt leicht, unse-

aus.

rer Phantasie zu Hilfe zu kommen. Der Dom-

Zwei Grabdenkmäler aus der Zeit nach dem

schatz bewahrt in einzigartiger Vielfalt und

Dreißigjährigen Kriege beschließen die Reihe

Kostbarkeit eine Fülle dieser Gegenstände, die

der hier zu betrachtenden Ausstattungsstücke im

sonst vielfach gänzlich oder doch zum größten

Dom. Das mächtige Epitaph des Raban von

Teil verlorengingen.

54

ABBILDUNGEN

I i

Blick von der Martinskirche auf den Dom

ïïSâPÇ

2

Der Dom von Westen

3

Die Rose über dem

Westportal

4

Die Westfassade

5

Das linke Gewände des Westportals

6/7

(folgende Seiten) Einzelheiten vom Westportal

*

ìsjiti-

;

¡c

8 9/10 11

~13

Die hochgotischen Joche von König

und Königin,

(folgende

Seilen)

Nordosten

Tabernakelfiguren

Das Nordportal:

der Nordseite,

Bogenfeld,

um

¡2jo

um 1440, drei Apostel aus der Szene des .Marientodes und Gesamtansicht

14

Die Marienkapelle;

daneben das Gleimhaus

15

Das Türmchen auf dem Westgiebel der Alarienkapelle

r* ^ T V O M M t i ;

16 17 18/19

Domchor mit Marienkapelle

und südlicher

Die Südseite des Doms vom Kreuzgang (folgende südlicher

Seiten) Giebel des südlichen Langhausobergaden

Querhausarm

von Osten

aus Querhausflügels

und



lá J F r .A»« f i IWi oí iP f 1 M rjitt 7 § \ ' M tí?-s L 4

s f v1 ? * :

& * «»KS

-



«

T ¿¿I

41' ia••»-vlfj \ St JI !



i r- s

iaiÊÈÈMÊrÊil

# .r sv' fi^ll ipp, tglpíí tîî®!*! À'êu r» .. - • «i s I ç vnafl i * i ,» m s 1 Kl- ; itJj ï W

r

i IT «»« '¡V "

r^ i * •V,SL * -Tí h s i ñ

MX'

Û !* M :.

»V1

feM

i i v IS¿ Pkí! îNÉË®» HÎsIS »

It * ft IrnTT WSBsm mmm F

1u vy33«* , Îm .Îîfà, J % 1 Í JI

U? p! W- V ^ ^ : -œ il M\ pMm ii iL Píp p^' tfft f» * ; ^ m im . í #• ' á Í •?í¡ H m aw/,... tí K'te -risiH 1 í • üi gt m m ^i fà I * s 4*J-J i- ! |I -1 f^v g r t»sa*. j r a . le?p Xi* •> H H * M IfeRfáJ g * ^ fetta @ *

¡¡ y i' i *

Ii Ä fe] ^ m mê

mmm

Küi

43

Die Marienkapelle nach Osten

44

Leuchterengel am Eingang zur Kapelle, um 1380

45/46

(folgende Seiten) Verkündigung an Maria und Geburt Christi aus dem Achsfenster, um 1333

47-50

(übernächste Seiten) Die Figuren der Anbetung der Heiligen Drei Könige, um 1360

51/52

Glasmalereien in der Marienkapelle: Ecclesia aus dem Siidostfensler, um

ij/o;

ein Engelchur aus dem Nordostfensler, gegen

1350

t

53

Madonm nfigur in der Marienkapelle, um

54

Nördlich t Chorumgang und jXordseitenschiff nach 11 esten

55—57

(folgern e Seiten) Engel und Marienfigur von eint m Heiligen Grab, vor 1360

i2jo

L

62/63

Das südliche Chorportal mit Darstellung der Marienkrönung, gegen 1400

64

(folgende Seite) Deckel vom Sarkophag des Bischofs Bernhard (f 968),

65

Johannes Evangelista verweigert die Anbetung der Diana zu Ephesus, Glasmalerei im Südostfenster des Chorumgangs, gegen

1420

Ausschnitt

()(>

Ehemalige

70

Anhänger des Johannes Glasmalerei

71/72

(folgende

Tür zum Rittersaal,

1615

Evangelisla

gestiftet verkaufen Gold und Edelsteine.

im Südostfenster des Chorumgangs, Seiten)

Spätgotischer

Bronzeleuchter

vom Heiligen ans Kieselsteinen

gegen / 420 vor dem Lettner und Blick in den Chor

vencandeh.

73

Die nördliche Pfeilerreihe im Chor

74/75

Apostelfiguren im Chor: St. Johannes Evangelista und St. Andreas, datiert 1427

76/77

Die Standbilder

der Bistumspatrone

im Chor:

St..Sixtus

und St. Stephanus,

um

1430

78

Konsole für eine der Chorfiguren, gegen 1400

79/80 81

Apostelfiguren im Chor: St. Petrus, um 1435, und St. Jakobus major, gegen 1450 Konsole für eine der Chorfiguren, Detail

85-87

Grabmal für Erzbischof Friedrich (f von Hans Schenk, vollendet 1558,

1352J

und Einzelheiten:

Der Todeskarren mit den Sünden; Tod und Teufel gefesselt

MÉtia'

r

91

St. Hieronymus, Standbild am südöstlichen Vierungspfeiler, gegen

92

Christus und der ungläubige Thomas, Relief unter der südlichen Querschiffempore, gegen

93/94 95

(nächste Seite) Standbilder am nordöstlichen Vierungspfeiler: (übernächste Seite) Pfeilerkapitelle

im Langhaus

1480

St. Georg, 1487,

1440

und St. Sebastian,

1510

99 ioo/ioi

Kopf des heiligen Erasmus, Standbild am südöstlichen Vierungspfeiler,

150g

Standbilder an Pfeilern des Langhauses: Maria mit Kind, gegen 1380, und St. Mauritius,

1513

102

Reliquienschrank

im Chor,

Detail 103

Altarretabel in der

104

Sakristei

Die Kanzel.

/Jf/i1

105

St. Stephan, Standbild im nördlichen Seitenschiff, gegen 151j

106

St. Katharina, Standbild im nördlichen Seitenschiff, 1509

,

£

S H '--r. v •• v

107

(nächste Seite) Das Mittelschiff nach Westen

ERLÄUTERUNGEN ZU DETAILPROBLEMEN Die Zahlen am Rand des Textes verweisen auf die Abbildungen im Tafelteil

Die Vor gängerbauten Aus der historischen Überlieferung geht hervor, daß der Halberstädter Dom mehrere Vorgänger hatte. Sie standen alle an der gleichen Stelle wie der erhaltene Bau. Die in den Jahren 1952 bis 1955 vom Institut für Denkmalpflege in Halle durchgeführten Grabungen konnten die verwickelte Entstehungsgeschichte dieser Anlagen weitgehend klären. Bisher stehen jedoch nur knappe, in den Einzelheiten unzureichende Hinweise über ihre Ergebnisse zur Verfugung. Eine Gesamtveröffentlichung wird zur Zeit vorbereitet. Sie hat sich zugleich mit der reizvollen Aufgabe auseinanderzusetzen, wie die archäologisch nachgewiesenen Grundrisse mit den historischen Nachrichten über den Dom in Einklang zu bringen sind. Der erste im Domgelände ergrabene Bau war bereits eine differenzierte Anlage fast in der Breite des gotischen Langhauses. Er gehörte vielleicht noch dem S.Jahrhundert an. Ein erweiternder Neubau wohl des frühen 9. Jahrhunderts bestand aus basilikalem Langhaus und östlich anschließendem, dreiteiligem Sanktuarium. Dicht westlich davor lag ein Zentralbau, der unter anderem als Grabkapelle diente. Mit dem Jahre 859 setzen dann direkte historische Nachrichten ein. Damals «vollendete Bischof Hildegrim II. das Halberstädter Münster, das er von seinen Vorgängern begonnen vorfand, und weihte es im Beisein vieler Bischöfe, die ihm dabei zur Hand gingen». Nach Ausweis der Grabungen konnte Bischof Hildegrim II. eine bedeutende Kirche weihen. Vor dem dreischiffigen Langhaus erstreckte sich ein breites, durchlaufendes Ostquerhaus. Um den apsidial geschlossenen Chor legte sich eine Ringkrypta, die in eine kreuzförmige Außenkrypta mündete. Diese war möglicherweise zweigeschossig. Eine Parallele bot die Krypta der Klosterkirche zu Corvey. An der Westseite der Kirche erhob sich anstelle der Grabkirche des Vorgängerbaus eine Art Westwerk - ein geräumiger, mehrgeschossiger Turm, an den drei freien Seiten von schmalen, rechteckigen Anräumen umgeben. Wie man erwarten konnte, zeigte der 859 geweihte Bau also typisch karolingische Architekturformen: Außenkrypta, durchlaufendes Querhaus, westwerkartiger Westbau. Er steht damit, weit im Osten des Karolingerreiches, in der verpflichtenden imperialen Tradition der Kernlande. Im Jahre 965 stürzte dieser Dom ein, wie es heißt, «des Alters wegen und weil er schlecht gebaut war». Siebenundzwanzig Jahre später, am 15. Oktober 992, konnte die Weihe des Nachfolgebaus zelebriert werden. König Otto III. selbst und seine Großmutter Adelheid waren zugegen, dazu Erzbischöfe, Bischöfe und Fürsten. Zwei ausfuhrliche Berichte lassen erkennen, daß der von Grund auf neu erbaute Dom BischofHildewards ebenfalls einen kreuzförmigen Grundriß besaß, daß seine Außenkrypta wiederum kreuzförmig, nun aber bestimmt auch zweigeschossig war und daß der Westbau aus einer Art Westchor mit

Obergeschoß bestand. Zwischen Langhaus und Westbau hätte man, so wurde schon vor den archäologischen Untersuchungen geschlossen, ein Westquerhaus zu erwarten, wie es zu großen ottonischen Kirchenanlagen gehörte. Der Umbau nach dem Einsturz wäre dann insgesamt im Sinne einer für die ottonische Baukunst bezeichnenden Verlängerung und Bereicherung geschehen. Die Ausgrabungen konnten die Überlegungen auf Grund der historischen Überlieferung weitgehend bestätigen: Der ottonische Dom war tatsächlich dreischifüg, länger als sein Vorgänger, aber fast genauso breit, also nur wenig schmaler als der gotische Nachfolgebau. Er besaß je ein Querhaus im Osten und Westen, einen apsidial geschlossenen Chor mit Ringkrypta sowie eine kreuzförmige, zweigeschossige Außenkrypta. Die Arkaden des Langhauses zeigten den sächsischen Stützenwechsel. Lediglich die Ausbildung der Westteile bleibt weiterhin offen. Wahrscheinlich flankierten hier kleine quadratische Türme einen Westchor mit Obergeschoß. Südlich vom Dome lag die Klausur, am Nordflügel des Ostquerhauses eine kreuzförmige Kapelle mit Ost- und Westapsis, die östliche flankiert von zwei kleinen Nebenapsiden. Nördlich von diesem - gar nicht einmal so kleinen - Zentralbau befand sich das bischöfliche Palais. Der in den Ostteilen sehr konservative, im Langhaus und vermutlich ebenso im Westbau fortschrittliche ottonische Dom blieb bis zum 13.Jahrhundert bestehen. Im Jahre 1179 erlitt er im Verlaufe von kriegerischen Auseinandersetzungen mit Herzog Heinrich dem Löwen schwere Beschädigungen. Die notwendige Wiederherstellung nahm man zum Anlaß für eine durchgreifende Modernisierung: Der bis dahin flach gedeckte Bau wurde nun eingewölbt, wie die Quellen berichten und die archäologischen Forschungen bestätigten. Im Jahre 1220 konnte die letzte große Weihe des ottonischen Doms vollzogen werden. Nicht ganz zwei Jahrzehnte später beschloß man schon den Neubau. Die altehrwürdige Anlage stand seitdem auf Abbruch. Im dritten Viertel des 13. Jahrhunderts fielen der Westbau und das Westquerhaus. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurde der Chor abgetragen, um für den Neubau Platz zu schaffen. Dann legte man das Ostquerhaus und schließlich das Langhaus nieder. Es hatte bis zum dritten Viertel des 15. Jahrhunderts noch dem Gottesdienst genügen müssen. Die Außenkrypta des ottonischen Doms reichte bis fast an die Ostgrenze des gotischen Chorraums, sein Westbau bis unmittelbar vor den neuen Turmriegel, der wohl im 13. Jahrhundert zuerst gebaut wurde, weil er außerhalb der alten Kirche aufgerichtet werden konnte. Bei fast gleicher Breite war die ottonische Anlage also, verglichen mit dem gotischen Dom, von beträchtlicher Größe.

Der Wiederaufbau nach ig4$ Die Wiederherstellung des durch zwölf Bomben schwer beschädigten Doms stellte an Ausführende und Denkmalpfleger höchste Anforderungen. Ihre Bewältigung fand Anerkennung weit über die Grenzen der DDR hinaus. Auch die Stadt war zu etwa achtzig Prozent zerstört worden. Wo man hinblickte, schien «erste Hilfe» dringend notwendig. Trotzdem wurden sofort Maßnahmen zur Rettung des Doms eingeleitet. r47

Eine besonders gefahrliche Situation brachte der Bombentreffer im Südwest-Vierungspfeiler, der nur noch zu geringen Teilen stehengeblieben war. D a von ihm der Schub dreier Gewölbe abgefangen wird, mußte ständig mit Ginsturz gerechnet werden. Bauleute und Verantwortliche hatten hier nicht nur ihr K ö n n e n , sondern auch ihren M u t zu beweisen. Fast der gesamte Dachstuhl w a r ausgebrannt. Er wurde erneuert; und nur wer weiß, wieviel Holz für das hohe D a c h eines so großen Bauwerks benötigt wird, kann sich vorstellen, wie schwer es in jener Zeit fiel und welcher O p f e r es bedurfte, die notwendigen Materialien bereitzustellen. A u c h die Querhausgiebel und die Brüstung des U m g a n g s in Höhe des Dachansatzes, des sogenannten Bleigangs, erforderten umfangreiche Reparaturen. Die zertrümmerten G e w ö l b e im C h o r und im südlichen Seitenschiff wurden repariert oder neu eingezogen. N u r die schönen Schlingrippen-Gewölbe des neuen K a p i telsaals, die bis auf Reste zerstört waren, konnten damals nicht in der alten F o r m wiederhergestellt werden. Hier mußte eine Flachdecke genügen. D e r östliche Strebebogen a n der Südseite des Langhauses w a r zerstört und ist wieder aufgemauert worden. D a s gegenüberliegende Obergeschoß des Südflügeb der K l a u s u r erstand in den wesentlichen Teilen neu. U m fangreiche Arbeiten betrafen den Remter, der damals a b Winterkirche eingerichtet wurde. Dort mußten aus Gründen statischer Sicherung neue Pfeiler eingestellt werden. Schließlich ist auch das Remter-Obergeschoß in drei R ä u m e unterteilt worden, u m eine zweckmäßigere Aufstellung des Domschatzes, bereichert u m einige Stücke aus dem Dominnern, zu ermöglichen. Die Westjoche des Dom-Langhauses waren ebenfalls statisch gefährdet. A b gesehen von einer durchgreifenden Reparatur der Strebepfeiler wurden hier A n k e r im Hochschiff eingezogen. Großen A u f w a n d erforderte die Wiederherstellung der Fensterverglasung. Die mittelalterlichen Farbfenster wurden restauriert und wieder eingesetzt, ein Fenster nach dem Entwurf von Professor C a r l Crodel geschaffen, die andern mit Antikglas geschlossen. D e r gesamte D o m erhielt einen neuen Steinplatten-Fußboden und leichtes, bewegliches Gestühl, das die Übersichtlichkeit des Raums nicht beeinträchtigt. Viele Ausstattungsstücke waren zu restaurieren, die Wandflächen des Innenraums einzutönen. I m Jahre 1956 konnte der Bau wieder dem Gottesdienst übergeben werden. Er zeigte sich nicht allein «in neuem Gewände», sondern w a r zugleich von störenden Zutaten des 19. Jahrhunderts befreit worden: Die d a m a b hinzugefugten Standbilder an den Pfeilern des Langhauses beispiebweise wurden a b g e n o m m e n ; auf einigen der n u n leeren Konsolen fanden vorhandene gotische Skulpturen eine neue, sinnvolle Aufstellung. A u c h durften die mittelalterlichen Standbilder v o n A d a m und Eva an der nördlichen Empore des Querhauses, deren Naivität wohl die Restauratoren des ig. Jahrhunderts gestört hatte, wieder ihren angestammten Platz einnehmen. Schließlich b e k a m die große Barockorgel ein neues Werk. Jetzt sind noch Sicherungsarbeiten a m Außenbau im Gange. Der verwendete Sandstein b t anfallig gegen Verwitterung, und sie hat besonders durch die Luftverschmutzung zu bedenklichen Zermürbungserscheinungen der Steinoberfläche gefuhrt.

148

M i t dem Dank an die Maurer, Zimmerleute, Steinmetzen und Restauratoren verbindet sich der an den Geldgeber: Die Regierung der D D R hat die hohen Geldsummen zur Verfügung gestellt, die benötigt wurden. Nicht zuletzt verdient aber der unermüdliche Einsatz der Denkmalpfleger Anerkennung und Dank. Den Halberstädter D o m hat, wie viele andere bedeutende kriegszerstörte Bauwerke in den Bezirken Halle, M a g d e b u r g und Erfurt, das Hallesche A m t für Denkmalpflege, damals «Landeskonservator von Sachsen/Anhalb), wiederhergestellt. Die dabei von dem Leiter des Amts, Professor Dr. h. c. W o l f Schubert, und von seinen Mitarbeitern befolgten Prinzipien und der Erfolg der Arbeiten setzten ein weithin beachtetes Beispiel. Oberster Grundsatz war stets, die Wiederherstellung so auszufuhren, daß die historisch gewachsene Substanz des Denkmab, soweit irgend möglich, unangetastet blieb. Unumgängliche Ergänzungen hatten jede nachahmende V e r f a b c h u n g zu vermeiden. Das gilt besonders auch für die «Farbfassung». D a bei den Bauten eine vollständige Rekonstruktion des ursprünglichen farbigen Zustands nicht mehr möglich war, beschränkte m a n sich auf eine zurückhaltende, flächige Eintönung der Innenräume, die die Struktur des Bauwerks fühlbar «ins rechte Licht setzt». M a n wandte sich damit bewußt von Leitgedanken der Denkmalpflege vor allem des 19. Jahrhunderts ab, deren Absicht die Wiederherstellung im Stile und im Sinne der ersten Bauzeit, die K o p i e des ursprünglichen Zustands war. Das Hallesche A m t für Denkmalpflege verwarf den Grundsatz: W o der Bau selbst keine Anhaltspunkte mehr bietet, wird nach bekannten oder nachempfundenen Vorbildern ergänzt. Denn so selbstverständlich dieses Bemühen für die Vorstellungswelt der Romantik und des Historismus sein mußte, es hat allzuoft auf Kosten der Kunstwerke zu gut gemeinten - «Imitationen» gefuhrt, die schon bald als störend oder sogar gewaltsam empfunden werden mußten. Nur wo solchen Zutaten ein künstlerischer Eigenwert zukommt, werden sie alternd selbst wieder der Denkmalpflege würdige Objekte. Die hallesche Denkmalpflege der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte w a r bewußt bescheiden und stets behutsam. Ihre deutliche Zurückhaltung und ihre Achtung vor dem aus der Vergangenheit überkommenen Kunstwerk fand die verdiente Zustimmung wohl auch, weil sie sich bemühte, dem Denkmal und sich selbst gegenüber immer ehrlich zu bleiben.

Einzelne Werke der Ausstattung DER

BERNHARD-SARKOPHAG

I m nördlichen Chorumgang steht der Kalkstein-Sarko- 64 p h a g des 968 verstorbenen Bischofs Bernhard, ein mächtiger Monolith von wahrhaft großartiger Monumentalität und Schlichtheit. Er wurde bei den Grabungen 1952 aufgefunden und geborgen. A u f seinem gerundeten Deckel ist in römbcher Kapitaiis eine fünfzeilige lateinische Inschrift eingegraben, die übersetzt lautet: «Am 3.Februar starb Bischof Bernhard, der hier ruht.» Die Worte, die in lapidarer K ü r z e alles mitteilen, was die Überlebenden für die Feier der Totenmessen wbsen mußten, laufen zum Teil über ein großes Vortragekreuz hinweg, das a b Flach-

relief den Deckel schmückt. Ein gleicher Sarkophag ist aus Quedlinburg bekannt. Er birgt die Gebeine der Königin Mathilde, Gemahlin Heinrichs I., die im gleichen Jahr 968 verschieden war. Bischof Bernhard ist in der Geschichte vor allem dadurch bekannt, daß er sich bis zu seinem Tode gegen den Lieblingswunsch Kaiser Ottos I. gewehrt hatte, in Magdeburg ein Erzbistum zu errichten. Als dieses nach seinem Hinscheiden noch im Jahre 968 dann doch gegründet wurde, nahm die Rivalität zwischen Halberstadt und Magdeburg ihren Anfang, die auch die Baugeschichte des Doms wesentlich mitbestimmt hat. D I E M A D O N N A D E S 13. J A H R H U N D E R T S IN D E R M A R I E N K A P E L L E 53 In der südlichen Nische der Marienkapelle steht eine etwa lebensgroße Madonna aus Stein. Dieser Aufstellungsort kann nicht der ursprüngliche sein, da die Marienfigur älter ist als die Kapelle. Die Madonna, mit Krone und Kopischleier königlich geschmückt, trägt ihr Kind ungewöhnlicherweise auf dem rechten Arm, wobei sie den Mantel mit in die Höhe hebt, so daß eine Faltenkaskade auf dieser Seite entsteht. Auf der anderen bildet der Mantel eine Folge von Schüsselfalten. Christus ist trotz seiner Kindhaftigkeit über einem Untergewand mit einem Pallium bekleidet und im Redegestus mit einer Kugel in der Rechten dargestellt, was bedeutet, daß er als Lehrer und Herrscher aufgefaßt ist. Die linke Hand der Maria stützt seine Füße, zugleich achtungsvoll und mütterlich. Auffällig ist an der Figur die starke Verhärtung der Formen, die in Einzelheiten bis zur Starrheit geht. Doch besitzt die Madonna trotz aller Härten dank ihres freundlich lächelnden Gesichts eine gewisse naive Holdseligkeit und dank ihrer straffen, aufrechten Haltung eine hoheitsvolle Würde. Gerade diese letztgenannte Eigenschaft dürfte auf das große Vorbild der Madonna am Westportal der Reimser Kathedrale zurückgehen, das an ihr trotz der zeitbedingten Abwandlungen deutlich erkennbar geblieben ist. Wie bei den Strebepfeilerfiguren der Nordseite ist also auch bei der Madonna Reims der Ausgangspunkt der Erfindung. Daß sie stilistisch den Strebepfeilerfiguren nahesteht, ist im übrigen schon seit langem gesehen worden. Das Schema des Gewandauf baus beim König wird an der Madonna spiegelbildlich wiederholt. Nur die Verhärtung scheint bei ihr stärker geworden zu sein, was im Sinne der stilistischen Entwicklung nach ia6o liegt. Die Marienfigur wird abo in der gleichen Werkstatt wie die Tabernakelstandbilder gearbeitet worden sein, vermutlich als jüngstes Werk nach 1270. Es wäre denkbar, daß sie wie jene für die Aufstellung in einem Tabernakel bestimmt war, aber nicht mehr zur Aufstellung gelangen konnte, weil die Fortführung des Langhausneubaus erst in wesentlich späterer Zeit erfolgte, wobei Tabernakel dieser Art nicht mehr vorgesehen waren.

DER

SCHMERZENSMANN

60 Ein Schulwerk in der Art der Anbetung der Heiligen Drei Könige in der Marienkapelle hat sich auch in Hal-

berstadt erhalten: die Figur eines «Schmerzensmannes», der heute im südlichen Chorumgang steht. Die Falten seines Lendentuches zeigen deutlich die Eigenheiten jener Gruppe, und das Gesicht ähnelt außerordentlich dem des mittleren Königs. Auch das etwas unsichere Stehen, das von dem bis über die Knie herabreichenden Lendentuch unterstrichen wird, erinnert an jene Figur. Der gleichsam frierend dargestellte Christus mit seinem schmerzerfullten Gesicht und den halb erloschenen Augen ist durch sorgfaltige Körperdarstellung ausgezeichnet. In seiner unkonventionellen Herbheit ist er ein bedeutendes Werk. Er wird wie das Heilige Grab vor allem für die private Andacht bestimmt gewesen und gegen 1370 gearbeitet worden sein.

DIE LEUCHTERENGEL 44 Der große Eingangsbogen zur Marienkapelle wird von zwei leuchtertragenden Engeln gerahmt, die auf großen, reich und geistvoll mit Laubwerk geschmückten Konsolen knien. Während die Konsolen mit der Architektur zusammen vor 1360 entstanden sein werden, dürften die Engel erst ein paar Jahrzehnte später hinzugekommen sein. Die größere Freiheit ihrer Haltung und der fulligere Fall ihrer Gewänder gehen über den Stil der Werkstatt hinaus, die in der Marienkapelle die Figuren der Anbetung der Könige geschaffen hatte. Es ist ein poetischer Gedanke, daß die stille Ehrerbietung der Engel, die der Himmelskönigin als Herrin jener Kapelle gilt, jeden begleitet, der in diesen Raum eintritt, der wie ein kostbares Schmuckstück dem Dom am Scheitel des Chors angefugt ist. DIE SKULPTUREN AN DEN S E I T L I C H E N

CHORPORTALEN

62¡63 Mit den Pfeilern des Hochchors zusammen entstanden im späten 14. Jahrhundert die Schrankenmauern, die den hohen Chor umhegen, mit ihrem reichen, noch kaum von spätgotischen Tendenzen berührten Maßwerk. Seitlich sind die Schranken von zwei Portalen mit bekrönendem Skulpturenschmuck durchbrochen. Im Süden ist auf einer Konsole über der Tür die Krönung Mariens dargestellt, im Norden wird eine stehende Muttergottes mit dem Kind von einem steilen Wimperg gerahmt. Die Skulpturen können als Beispiele guter Bauplastik gelten, insofern sie sich den Portalaufbauten gleichsam selbstverständlich eingliedern, aber dennoch als plastische Gebilde ihren Eigenwert behaupten. Beide Gruppen fallen durch schlanke Proportionierung, elegante Schönlinigkeit und schwingende Bewegung auf. Diese Eigenschaften sind kennzeichnend für das Heranreifen des Weichen Stils in den letzten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts.

DAS N O R D Ö S T L I C H E CHORUMGANGSFENSTER 61 Das nach Nordosten gerichtete Fenster neben der Marienkapelle im Chorumgang gehört zu den besterhaltenen im Dom. Es stellt in 24 Szenen das Leben Christi bis zur Himmelfahrt dar. Sein Farbakkord ist schwer: dunkles

149

Rot und Blau, hier und da von silbrigem Weiß getrennt und von braunen oder auch grünen Tönen gehöht, herrschen vor. Abgebildet wird hier die Szene des «Noli me tangere». Maria Magdalena mit der Salbbüchse in der Linken ist vor Schrecken in die Knie gesunken, da sie in dem vermeintlichen Gärtner den wiederauferstandenen Christus erkannt hat, der sie im Sprechgestus auffordert, ihn nicht zu berühren. Die Darstellung ist von einer gewissen rustikalen Naivität, wie beispielsweise der Tritt Christi mit dem nackten Fuß auf das Grabscheit oder die mächtige Büchse Magdalenas bezeugen. Die unbekümmert großzügige Komposition und die etwas holzschnitthafte Linienführung, besonders in den Gesichtern, tragen ebenfalb zu diesem Eindruck bei. Doch steckt in dieser Naivität zugleich eine große künstlerische Kraft. Der Stil der Figuren zeigt noch nicht die voll ausgebildeten Motive des Weichen Stils. Das Fenster wird etwa zur Zeit der Chorweihe, also zu Beginn des 15. Jahrhunderts, eingesetzt worden sein.

DAS

SÜDÖSTLICHE

CHORUMGANGSFENSTER Das Fenster südlich neben der Marienkapelle hat einen 65, 70 großen Teil seines alten Bestandes bewahrt. I n seinem Maßwerk befand sich früher eine Scheibe mit dem Wappen der Familie von Hoym, das von einem Ritter und einem Geistlichen gehalten wurde. D a im Fenster ausfuhrlich die Legende des heiligen Johannes Evangelista erzählt wird, dürfte Bischof Johannes von Hoym (1420 bis 1434) an der Stiftung beteiligt gewesen sein. Seiner künstlerischen Erscheinung nach könnte das Fenster noch in die Zeit vor dem Regierungsantritt des Bischofs gehören, der j a damals bereits Mitglied des Domkapitels war. Seine stilistische Nähe zur Glasmalerei im Stendaler Dom würde dann als Vorstufe für die dortige Entwicklung zu verstehen sein. Das Fenster zeichnet sich durch eine besondere, vor allem von leuchtendem Grün und von Brauntönen bestimmte Farbigkeit aus. Auffallend ist auch der Reichtum an Architekturstaffage, für den jeweiligen Schauplatz der Szenen. Die eine der hier abgebildeten Scheiben zeigt, wie 70 zwei Jünglinge, Anhänger des Johannes, Meereskiesel, die der Heilige vorher in Gold und Edelsteine verwandelt hatte, an Goldschmiede verkaufen. Deutlich ist die Gier der Händler nach dem ungewöhnlich klaren Gold und den guten Steinen charakterisiert. Die beiden Jünglinge, mit der «Schecke» - dem eng anliegenden Wams - bekleidet, rahmen die Darstellung. Der Mauerring, in dem die Szene spielt, deutet die Stadt an, die in der Legende erwähnt wird. Sinn der Erzählung ist, daß die zwei J ü n g linge, die zuvor ihr Gut den Armen gegeben hatten, durch das Wunder des Heiligen zwar ihren weltlichen Reichtum wiedergewinnen konnten, die himmlische Seligkeit aber verloren. Als sie das erkannt hatten, erreichten ihre inständigen Bitten, daß Johannes durch sein Gebet die Verwandlung der Steine rückgängig machte. Die zweite abgebildete Scheibe bezieht sich auf die 63 Stelle in der Legenda aurea, in der es heißt: «Da aber Johannes predigte durch das ganze Land Asia, machten die Götzendiener einen Aufstand unter dem Volk, und 15O

zogen Sanct Johannes in den Tempel der Diana, daß er dem Abgott sein Opfer gebe.» In eindrucksvoller Weise wird mit halbverdeckten Figuren und Köpfen der Eindruck einer Menschenmenge erzeugt, die den Apostel festhält. Johannes steht beherrschend als schlanke Hauptfigur mit Heiligenschein im rechten Teil des Bildes. Er wird im Tempel mit dem Standbild der Diana konfrontiert, das, auf einem Altar aufgestellt, durch eine Art Säulenpostament denkmalhaft erhöht und durch einen prächtigen Baldachin bekrönt ist. Dessen kreisrunde, vorschwingende Bedachung nimmt nahezu barocke Ideen voraus; seine vordere Balustersäule rahmt die Szene auf der linken Bildseite. Diana, seltsam stark im C-Schwung gekrümmt, hält einen Schild mit dem Bilde der Sonne in ihrer Rechten. Ein Teufel schwebt vor ihr, wobei unklar bleibt, ob er Johannes bedroht oder ob Johannes ihn aus der Diana ausgetrieben hat wie aus einem besessenen Menschen. Die zweite Deutung würde freilich dem Fortgang der Erzählung nicht recht entsprechen. Denn nach der Legende macht Johannes den Vorschlag, daß beide Parteien ihren Gott bitten sollten, das Haus des anderen Gottes zu zerstören; und natürlich erreicht das Gebet des Apostels, daß der Tempel der Diana zusammenstürzt und das Götzenbild zertrümmert wird. M i t der Klarheit und überzeugenden Deutlichkeit seiner Komposition, mit dem Reichtum architektonischer Vorstellungen und mit der Eindringlichkeit der Charakteristik der Personen gehört die Scheibe zu den eindrucksvollsten des Zyklus.

DIE KONSOLEN UNTER

DEN

CHORFIGUREN Im späten 14. Jahrhundert muß ein eindrucksvoller 78, 81 plastischer Zyklus im Domchor entstanden sein, der bisher wohl nie gewürdigt worden ist: die Konsolen für die Pfeilerfiguren im Chor. Diese zugleich mit den Pfeilern gearbeiteten reich mit L a u b geschmückten Konsolen scheinen an ihrer Unterseite stumpf zu endigen. Tatsächlich wurden an dieser runden unteren Fläche Gesichter herausgemeißelt. Geistliche und Laien beiderlei Geschlechts, Narren und Könige sind hier in feiner, kunstvoll straffer Modellierung prächtig charakterisiert. Die Freude der Parier an Maskenbildungen und ihre Fähigkeit zur Beobachtung realistischer Details findet hier eine Weiterfuhrung. Auffällig, daß die Konsolen an den beiden westlichen Chorpfeilern, vermutlich also die jüngsten, künstlerisch geringer erscheinen und Engel statt der Gesichter zeigen.

DAS

CHORGESTÜHL

Das Gestühl im Halberstädter Domchor ist in seiner Ge- 83)84 samtheit erhalten und erinnert nachdrücklich daran, daß dieser R a u m vor allem der Meßfeier und dem Stundengebet der Chorherren diente. Mit 34 Sitzen auf der Nordseite und 32 auf der südlichen war für eine große Gemeinschaft von Geistlichen gesorgt. Das Gestühl ist bei der Chorweihe im J a h r e 1401 sicher fertig gewesen. Sein plastischer Schmuck blieb auffallend zurückhaltend, zumal auf figürliche Schnitzereien ganz verzichtet wurde. Die

Rückwand ist nur mit einer Reihe maßwerkgeschmückter Wimperge zwischen Fialen baldachinartig bekrönt. Den beherrschenden Schmuck zeigen die Seitenwangen, die in phantastischen Blattrosetten endigen, teils kreisrund, teils quadratisch geformt. Sie wachsen gleichsam aus Stengeln mit Blattpaaren auf, wobei die Blätter wie Krabben gebildet sind. Die Rosetten variieren das Thema großer, in Kreuzform oder um einen inneren Ring als Wirbel geordneter Blätter, die zumeist aus dem damals beliebten Buckellaub bestehen, aber auch als prächtig gefiederte Fächer erscheinen.

DAS

GEDÄCHTNISGRABMAL

FÜR JOHANNES

SEMECA

66-68 Wenn der Besucher den Dom durch die Tür im südlichen Chorumgang betritt, muß er, um das Langhaus zu erreichen, an einer Grabtumba vorbeigehen, die an der Südwestecke des Chors zum Gedächtnis des angeblichen Initiators und ersten Bauleiters des gotischen Dombaus, Johannes Semeca, errichtet wurde. Es ist nicht bekannt, ob die Tumba tatsächlich die Gebeine des 1245 verstorbenen Dompropstes enthält, die man dann aus einem älteren Bodengrab entnommen haben müßte, oder ob es sich um ein reines Gedächtnismal handelt. Daß man für einen Propst die Form eines Tumbengrabs wählte, die sonst gemeinhin höhergestellten Persönlichkeiten vorbehalten blieb, beweist, in wie hohen Ehren das Gedächtnis dieses gelehrten Mannes im Domstift gehalten wurde. Uns Heutigen ist er vor allem ab Stifter eines reichgeschmückten Missale bekannt, das im Domschatz verwahrt wird und in dem vermerkt steht, daß er es für das Domstift angekauft habe. Auf der Vorderseite der Tumba sind zwischen Strebepfeilern in vier kielbogigen Nischen Klagefiguren in kräftigem Relief dargestellt, die wohl als die vier Fakultäten zu deuten sind. Zwei winzige Figuren in der Mitte stellen die Patrone des Bistums dar. Auf den Schmalseiten sind Reliefs angebracht, am Kopfende ein Wappen mit einem einfach gespaltenen Schild, am Fußende ein sitzender Bär. Auf der Tumba ruht die Figur des Toten mit der Mozetta bekleidet, den Kopf auf ein Kissen gebettet, die Hände über der Brust gekreuzt. Seltsam starr ist diese Gestalt des Propstes, auch fehlt ihr eine künstlerische Verbindung mit der Deckplatte. Ungewöhnlich ist zudem der fialenartige Sockel, der die Tumba am Fußende überragt und die wenig künstlerische Ansicht der Liegefigur vom Fußende her verdeckt. Auf dem Sockel, den vorn ein Adlerwappen schmückt, steht eine kleine Engelsfigur, die ursprünglich ein Weihrauchfaß hielt. Der architektonische und figürliche Schmuck der Tumba ist jedoch nicht nur reich, sondern zugleich von guter Qualität. Die feinteiligen Architekturmotive würde man im vierten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts erwarten. Dazu stimmt auch die etwas schwerflüssige Darstellung der Klagefiguren, in deren Gewändern die sanft geschwungenen Linien des Weichen Stils noch vorherrschen. Doch liegt die Annahme nahe, der zweihundertjährige Todestag des Propstes habe den Anlaß zur Errichtung des Denkmals gegeben. Sein für die demnach zu erschließende Entstehungszeit - um 1445 - etwas altertümlicher Stil könnte sogar bewußt gewählt worden sein, um dadurch den Charakter des Gedächtnismals zu unterstreichen.

DAS A L T A R R E T A B E L IN DER 103

SAKRISTEI

In einem ehemaligen Kapellenraum zwischen Domlanghaus und Kreuzgang steht, fast unbeschädigt, ein spätgotischer, rechteckiger Altaraufsatz aus Stein. Da der Raum heute als Sakristei genutzt wird, bleibt das Relief den Blicken der meisten Besucher verborgen. Es stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, als Schnitzaltar und gemalte Tafel meist schon das steinerne Retabel verdrängt hatten. Altertümlich ist auch die Darstellung: eine Kreuzigungsgruppe zwischen Heiligen. Rechts neben Johannes, der trauernd die rechte Hand zur Wange führt, steht der heilige Laurentius als Diakon gekleidet. Er hält ein Buch und in der Rechten sein Attribut, den Rost, auf dem er gemartert wurde. Links neben der händeringenden Maria stehen zwei Frauen mit Kopftüchern. Die erste trägt ein Gefäß mit einem Fisch. Sie ist wohl als heilige Elisabeth zu deuten, auch wenn der Fisch als ihr Attribut nur selten außerhalb der Küstenstädte vorkommt. Die zweite Frau wäre dann möglicherweise als dienende Begleiterin der Fürstin zu verstehen. Freilich war auch sie mit einem Heiligenschein versehen. Aber die beiden Frauen sind deutlich als zusammengehörige Gruppe behandelt. Dadurch ist zugleich die Schwierigkeit gelöst, die Anordnung von nur zwei Personen auf der rechten Seite gegenüber dreien auf der linken korßpositionell auszuwägen. Das Retabel könnte für einen Laurentius- und Elisabeth-Altar bestimmt gewesen sein. Künstlerisch wohl keine Höchstleistung, ist die Darstellung doch für ihre Entstehungszeit, die Mitte des 15. Jahrhunderts, außerordentlich charakteristisch und von schöner innerer Geschlossenheit. Die sanft geschwungenen «ununterbrechlichen» Linien des Weichen Stils klingen noch nach - man vergleiche nur die Faltensäume bei den Frauen und beim Johannes —, aber sie bestimmen nicht mehr den Duktus der Gewandfalten insgesamt. Die spitzigen, harten Faltenschüsseln, das knappe, scharfgratige Lendentuch Christi, die starre Kleidung des Diakons mit den abknickenden Falten seiner Alba unten zeugen schon von dem veränderten SchönheitsbegrifF, der in den gedrungenen, schweren Proportionen der Figuren, in ihrem etwas stumpfen, alles rein «Schöne» vermeidenden Gesichtsausdruck besonders deutlich wird. Der Gekreuzigte hat weder die menschliche Größe von Darstellungen des 13. noch die grausige Drastik von solchen des 14. Jahrhunderts. Sein Körper ist untersetzt und kräftig, aber ohne «Adel». Die Leiden der Todesmarter sind nur andeutend in Einzelheiten geschildert, vor allem in dem gebrochenen Blick. Das klare, innerlich schlichte Werk entstand in einer Zeit, da im Gegensatz zu den idealisierten, schönen Gestalten des Weichen Stils auch die Härte und Häßlichkeit des irdischen Lebens darstellungswürdig wurde - eine Möglichkeit, die wenig später von neuen «Regotisierungs»-Tendenzen bereits wieder eingeschränkt war. Freilich können die Eigenheiten der Kunst der Jahrhundertmitte an dem Relief nur dem einsichtig werden, der im Geiste die Schöpfungen des Weichen Stils vergleicht; denn das Werk zeigt das Neue nur andeutend, gleichsam zögernd. Doch gerade dieses «Schweben» zwischen den Stilrichtungen gibt ihm seinen besonderen Reiz.

I I

5

DER S P Ä T G O T I S C H E S C H R A N K IM CHOR Im Hochchor auf der Nordseite steht ein prächtiger spät- 102 gotischer Schrank. Nach der reichen Schnitzerei zu urteilen, mit der man ihn schmückte, muß sein Inhalt hochgeschätzt worden sein. Es wird sich wohl um einen Sakristeischrank handeln. Schmale fialengekrönte Strebepfeiler teilen seine Vorderwand gleichsam in Joche, zwischen denen sich die charakteristischen, krabbenbesetzten und kreuzblumengeschmückten Kielbögen entwickeln. Unter ihnen wird eine Fülle geistreich variierten Maßwerks entfaltet, das im Gegensatz zu den in der ganzen Zeit der Spätgotik beliebten Kielbögen eine genauere Zeitbestimmung erlaubt. Denn die rotierende Bewegung der «Fischblasen», wie sie in der Zeit des Weichen Stils so beliebt war, ist hier schon kristallinisch-harten Bewegungen gewichen, obwohl die Fischblase noch immer häufig vorkommt. Wir finden sie auch vielfach angewendet in dem großen, hier abgebildeten Muster, das spitzige Figuren in einer strahlenförmigen, wechselnd nach außen und innen gerichteten Anordnung zeigt. Von verwandten «brüchigen», rund ein Jahrhundert älteren Maßwerkmotiven unterscheiden sich die des Schranks wiederum durch ihre betonte Vieldeutigkeit und Schärfe. Sie zeigen die Umbildung des Weichen Stils ins Harte und Splittrige offensichtlich in ähnlicher Weise wie manche Gewandfaltenmotive an den Standbildern der Zeit um die Mitte des 15. Jahrhunderts — ein interessantes Beispiel für die innere Einheit des ästhetischen Empfindens einer Zeit.

DIE LEUCHTER In der Vierung steht heute ein großer, siebenflammiger 7/ Bronzeleuchter. Mit seiner Gestalt soll er das Vorbild des goldenen, siebenarmigen Leuchters im salomonischen Tempel zu Jerusalem wiederholen. Schon seit frühmittelalterlicher Zeit war jener Leuchter so nachgebildet worden. Als Beispiel sei an das kostbare Stück aus der Zeit um 1000 im Münster zu Essen erinnert. Da man in diesen Leuchtern den Lebensbaum, j a auch Christus als das «Licht der Welt» symbolisiert sah, erscheint der Standort in der Vierung - obwohl gewiß nicht mittelalterlich durchaus angemessen. Das Halberstädter Werk ist sehr viel schlichter ab das erwähnte ottonische. Aber mit seinen wohlausgewogenen Proportionen und den rundlichen Knäufen an kräftigen Gliedern ist er doch ein charaktervolles Zeugnis spätgotischen, im Stil imbewußt schon der Renaissance zuneigenden Kunsthandwerks. Der Leuchter ist wohl kurz vor oder nach der Domweihe im Jahre 1491 entstanden. Der ähnliche dreiarmige Standleuchter in der Liebfrauenkirche wurde nach Aussage seiner Inschrift 1475 gestiftet. Möglicherwebe sind sie in Halberstadt selbst gegossen worden, da im Dom und in anderen Kirchen der Stadt eine Reihe ähnlicher Stücke aus dieser Zeit erhalten ist. Die drei Kronleuchter im Dombezirk - im Chor, im Mittelschiff und in der Neuenstädter Kapelle - sind dagegen aus Schmiedeeisen gefertigt, zwei davon Stiftungen des Dompropstes Balthasar von Neuenstadt. Der mäch- 26, 107 tige, reich mit Reliefdekor geschmückte Reifen im Osten des Langhauses nimmt die Tradition romanischer Rad-

'52

leuchter auch insofern auf, als er mit zwölf Toren, in denen die zwölf Apostel stehen, das himmlische Jerusalem versinnbildlicht. Von anderer Art ist der Radleuchter in 21 der nach seinem Stifter so genannten Neuenstädter Kapelle. Der Reifen ist hier in durchbrochener Arbeit in zierliche Muster aufgelöst. Die Lichterkrone im Chor vertritt einen anderen 90 Typus. Sie besteht aus vier verhältnismäßig schmalen, durch schlichte, durchbrochene Gittermuster leicht erscheinenden Reifen, die, nach oben kleiner werdend, pyramidal übereinander angeordnet sind und von einem Tabernakel bekrönt werden. Auch hier ist natürlich das Sinnbild der Gottesstadt gemeint. Die gewiß nicht vorgesehene Untersicht offenbart die außerordentliche Leichtigkeit des Aufbaus. Über die Datierung besteht keine einhellige Meinung. Die größte Wahrscheinlichkeit dürfte der Annahme zukommen, daß die Krone schon zur Chorweihe oder wenig später, also im frühen 15. Jahrhundert entstanden ist, nicht erst ein Jahrhundert später. DAS A D L E R P U L T Im Chor steht ein spätgotisches Buchpult aus Bronze, 8g dessen Fuß freilich in neuerer Zeit - etwas schwer - ergänzt wurde. Die Buchauflage wird von den ausgebreiteten Flügeln eines Adlers gebildet. Prächtig ist das Herrische des Tieres charakterisiert. Aber gemeint ist natürlich nicht in erster Linie der König der Vögel, sondern das Symboltier des Evangelisten Johannes. An das lebendige «Wort», an den «Logos», der im Beginn des Johannesevangeliums angesprochen wird, ist gedacht. Darum geht es ja in dem Buche, das der Adler tragen soll. DAS G R A B M A L E R Z B I S C H O F F R I E D R I C H S III. VON M A G D E B U R G Seit 1479 waren die Erzbischöfe von Magdeburg zugleich 85-87 Administratoren des Bistums Halberstadt. Deshalb konnte sich der Magdeburger Erzbischof Friedrich III. (1547 bis 1552) in Halberstadt bestatten lassen. Sein Grabmal, das die Südseite des Hochchors beherrscht, ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend für seine Zeit. Es stammt von einem protestantischen obersächsischen Künstler und wurde für einen erst zweiundzwanzigjährigen katholischen Erzbischof in den Jahren von 1552 bis 1558 gearbeitet. Auftraggeber war der damals bereits protestantische Kurfürst von Brandenburg, Joachim II. (1535-1571)1 e i n Bruder des Verstorbenen. Mit der Inschrift «Hoc opus exculpsit Joannes Pincerna 1558» stellt sich der Bildhauer vor. Es ist Hans Scheußlich aus Schneeberg, der um 1540 als Hofkünstler nach Berlin berufen worden war. Schon vor 1525 hatte er - oder seine Familie - sich den Namen Schenk, latinisiert «Pincerna», zugelegt. Das Grabmal bezeugt höchst eindrucksvoll die Geisteshaltung des Manierismus. Trotz der großen, die Mitte beherrschenden Porträtfigur des Verstorbenen und der ruhmreichen Inschrift zu seinen Ehren ist die Selbstsicherheit des Menschen der Renaissance und seine Freude am Dasein und an der Schönheit dieser Welt gebrochen. Das umfassende Programm der Darstellung

wird geprägt von der als fast unerträglich empfundenen Spannung zwischen den Schrecknissen der ewigen Verdammnis und der Erlösung durch das Opfer Christi. Während sich aber die Darstellungen des irdischen Ruhmes und der himmlischen Verheißung im ganzen in den Bahnen des Herkömmlichen bewegen, sind die auf den Tod und die Nichtigkeit des Irdischen bezogenen Szenen und Figuren von großartig-dämonischer Erfindungskraft. Zwei seltsame, nach unten sich veijüngende säulenartige Gebilde rahmen den großen mittleren Aufbau. Sie enden unten ab menschliche Füße, gleichsam ein unheimliches Zeugnis für die Wandelbarkeit des Irdischen. Rechts sind Adam und Eva, die Arme ineinander verschränkt und von den Windungen der Schlange eingeengt, an diese Säule wie an einen Schandpfahl gebunden, links fesseln Ketten mit Schlössern Tod und Teufel daran. Ein Kranz von Narrenschellen über dem Knöchel des unwirklichen Fußes zwischen diesen beiden verstärkt den Hinweis auf die Nichtigkeit des Irdischen. Ist mit der schändlichen Fesselung des ersten Menschenpaares die Strafe für die Sünde grell beleuchtet und durch den triumphierenden Tod in der Nische neben ihnen überdeutlich erläutert, so sind Tod und Teufel mit Ketten an die Hand des auferstehenden Christus gebunden und damit entmachtet. Aber daß nur ein schmaler Pfad dahin fuhrt, über das «Miserum» des Todes - so bezeichnet es die Inschrift unten - zum wahren Leben zu gelangen, wird in der Reliefzeile unterhalb des Sockels grausig deutlich gemacht. Unser Bild zeigt den Beginn des Frieses auf der rechten Seite. Ein ausgemergelter Alter schiebt den mit den Sünden in Gestalt von Totenköpfen beladenen Karren. Dessen Rungen sind mit Tiara und Kardinalshut höhnisch bekrönt. Ein Mann, bäuchlings darunter angebunden, wird erbarmungslos mitgeschleift und zusätzlich von einem Hund verfolgt. Auf der anderen Seite schiebt der Tod einen Karren mit Gebeinen; der zweifelhafte Schmuck des Gefährts sind Bischofsmütze und Fürsten-

hut. Eine angebundene Frau mit auf dem Rücken gefesselten Händen kommt hier als abschreckendes Begleitthema hinzu. Zwischen beiden Karren spannt sich ein Seil durch die Augenhöhlen von Totenschädeln und durch andere Skelettreste. Die Schädel sind von Krone oder Doktorhut geschmückt. Dazwischen schlummern oder spielen Putten, unberührt vom sie umgebenden Todesgrauen. Was diese von krassen Gegensätzen geschüttelte Zeit quälte und wonach sie sich auf der anderen Seite sehnte, beides ist in diesem Denkmal in großartiger Weise ausgedrückt. Man darf es zu den bedeutenden Werken des deutschen Manierismus rechnen.

DIE

KANZEL

104 Spät, erst 1591, wurde der evangelische Gottesdienst im Dom eingeführt. Aber gleich danach wurde die Kanzel von den Domherren gestiftet, die sich zum neuen Glauben bekannt hatten. Ihre Namen und Wappen sind am Schalldeckel verzeichnet. Die 1592 datierte Kanzel stand ursprünglich ein Joch weiter westlich. Es ist ein relativ bescheidenes Werk aus Holz mit zurückhaltendem manieristischem Dekor. Die Brüstung von Treppe und Korb ist in Felder aufgeteilt, die von Blatt- und Fruchtstäben und dem zeittypischen Beschlagwerk gerahmt sind. Die Reliefs in den Feldern, die drei christlichen Tugenden am Aufgang, die vier Evangelisten am Korb, sind von bescheidenem künstlerischem Rang. Die Evangelisten nahmen ursprünglich den Salvator in ihre Mitte. Da das Salvatorrelief offenbar verlorenging, fugte man ein Alabasterrelief mit der Auferstehung Christi dafür ein, das die Szene mit den erschreckten Wächtern lebhaft und in fein detaillierter Arbeit schildert. Die Diakonenfigur vor der Kanzelsäule, eigentlich ein Engel, gehört dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts an. Über dem Wappenkranz am Schalldeckel trägt vielfaltiges Rollwerk den kindhaft gebildeten Salvator.

'53

ENTSTEHUNG UND BEDEUTUNG Thesaurus super aurum et topazion nobis dilectus Viele mittelalterliche Schatzverzeichnisse zeugen vom Reichtum der Kirchen an Kleinodien und von ihrer hohen Bewertung durch die Zeitgenossen. «Thesaurum super aurum et topazion nobis dilectum», einen Schatz, der uns lieber ist als Gold und Topas, nennt der Halberstädter Bischof Konrad in einer Schenkungsurkunde aus dem Jahre 1208 die Reliquien, Textilien und Geräte, die er der Domkirche übergab. Alle diese Gegenstände erfüllten bestimmte Funktionen im Ritual der Messe. Neue und alte, einheimische und fremde Schöpfungen waren nebeneinander im Gebrauch. An hohen Feiertagen wurden die kostbarsten Stücke herausgegeben. Der überwältigende Eindruck dieses glanzvollen, farbenprächtigen Bildes wird wohl mit der Wirkung der musikalischen Ausgestaltung der Messe verglichen werden dürfen. Für die Betreuung des Schatzes war in Halberstadt einer der Domherren als custos oder thesaurarius verantwortlich. Zwei Vikare, die die Ämter des sacrista und des subcustos versahen, und einige Laien für die niederen Dienste standen ihm zur Seite. Als der Halberstädter Dom im Jahre 1591 evangelisch wurde, verloren viele Gegenstände der Schatzsammlung ihre praktische Bestimmung. Sie wurden nicht verbraucht und ersetzt. Ein historisch gewachsener mittelalterlicher Domschatz blieb als seltenes Dokument bis in unsere Zeit erhalten. Im Laufe der mehr als tausendjährigen Geschichte des Schatzes sind dennoch große Werte verlorengegangen. Die Bischofschronik berichtet von Ausstattungsstücken aller Art und besonders gewissenhaft von Reliquien, die stets in Reliquiaren geborgen waren. Bischof Bernhard (923-968) brachte von einer Romreise Reliquien vieler Heiligen mit. Die Translation einer Blutreliquie des Stephanus aus der Stephanskirche

in Metz im Jahre 980 feierte das ganze Bistum als Volksfest. Bei der Domweihe im Jahre 992 legte Kaiser Otto III. sein goldenes Zepter als Geschenk auf den Altar, andere Festgäste brachten ebenfalls reiche Gaben. Von Bischof Arnulf (996-1023) wird berichtet: «Auch den Kirchenornat an Behängen, an Meßgewändern für alle Ordines vermehrte er ohne Z a h l . . . Ein goldenes Rauchfaß und eine Büchse aus Gold und einen großen goldenen Kelch mit Patene und verschiedene Arten von Ornat, die wir nicht näher bestimmen können, spendete er dem seligen Stephanus.» Von diesen und anderen Kostbarkeiten fehlt heute fast jede Spur. Durch Brände, Kriege und Notzeiten hat der Schatz Verluste erlitten, eine große Lücke riß auch Kardinal Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Mainz und Magdeburg und Bischof von Halberstadt, der beträchtliche Teile nach Halle und Mainz überführte. In neuerer Zeit erweiterte man den Schatz um einige Denkmäler aus der Liebfrauenkirche und aus dem Dom und um einen Teil der Bibliothek des Domgymnasiums, deren älteste Bände im Mittelalter einmal Bestandteil des Schatzes gewesen waren. So veränderte sich der Charakter der Sammlung. Im Jahre 1936 wurde sie neu geordnet als Dommuseum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Während des zweiten Weltkrieges waren alle wichtigeren Stücke ausgelagert. Nach der Durchführung der notwendigen Restaurierungsarbeiten wurde die Sammlung auf größerem Raum im Remter, im Neuen Kapitelsaal und in der Schatzkammer neu aufgestellt und 1959 als Domschatz wieder eröffnet. Die Gerätschaften und Textilien in den Kirchenschätzen entsprechen im Grunde denen, die auch bei den Kulthandlungen anderer Religionen, im staatlichen Zeremoniell und im profanen Leben üblich waren. Sie wurden jedoch für die Meßfeier in besonderer Weise ausgebildet. Zum Schmuck und zum Schutz vor Kälte und Feuchtigkeit dienten Teppiche an den Wänden, an den Gestühlen und auf dem Boden. Manche bezogen sich auf bestimmte Feste des Kirchen-

'57

jahres und wurden jeweils ausgewechselt, andere waren auf die Funktion eines Bauteiles abgestimmt und blieben an ihrem Ort. Die Altäre wurden mit Decken belegt, an der Vorderseite mit Antependien behängt und in der Passionszeit durch Hungertücher dem Blick entzogen. Fahnen, die man in Prozessionen mitführte, schmückten zuweilen auch den Altar. Die Gewänder der Kleriker, von denen der Halberstädter Dom ungefähr neunzig besitzt, unterschieden sich nach dem Rang der Träger und nach den Gelegenheiten, zu denen sie getragen wurden. Das Gewand des Bischofs oder des Priesters bei der Messe war die Kasel (aus dem lateinischen «casula» = Hüttchen). Sie hatte sich aus der paenula, einem antiken Mantel, entwikkelt. Im 13.Jahrhundert wurde sie halbkreisförmig zugeschnitten und an den geraden Seiten zusammengenäht, sie umgab den Körper wie eine Glocke. Später ging man immer sparsamer mit dem Stoff um, bis in der Barockzeit nur noch ein baßgeigenförmiger Überwurf übrigblieb. Zum Chorgebet, bei Prozessionen, Weihungen und einigen anderen Handlungen trug der Bischof oder der Priester das Pluviale, das wie die Kasel halbkreisförmig zugeschnitten, aber vorn durch Schließen gehalten wurde. Die Kapuze an einem sehr alten Halberstädter Pluviale aus byzantinischem Seidenstoff erinnert noch daran, daß das Gewand von einer Art Regenmantel abgeleitet wurde. Als die Kapuze ihre praktische Bestimmung verloren hatte, wurde sie durch einen oft reich dekorierten Rückenschild ersetzt. Die weitärmelige, hemdartige Dalmatika, ebenfalls ein antikes profanes Kleidungsstück, bildete die Amtstracht des Diakons. Die Mitra war die Kopfbedeckung des Bischofs, das Recht, sie zu tragen, wurde jedoch auch an andere Kleriker verliehen. Papst Alexander II. zeichnete im Jahre 1063 einen erweiterten Kreis von Halberstädter Kanonikern mit diesem Recht aus. Die päpstliche Bulle erklärt das Vorhandensein der ungewöhnlich großen Anzahl von Mitren im Halberstädter Domschatz. Für die verschiedenen Festzeiten des Kirchenjahrs standen Gewandstücke wie Altarparamente in allen liturgischen Farben

158

zur Verfügung, in Weiß, Rot, Grün, Violett und Schwarz. Die blaue Adlerkasel in Halberstadt stammt aus der Zeit, als der liturgische Farbenkanon noch nicht in dem späteren Sinne ausgebildet war, als auch Blau und Gelb noch als liturgische Farben galten. Die Altargeräte und Reliquiare sind mit den profanenTischgerätenvergleichbar.NebenKelch und Patene als Trinkgefäß und Brotteller für das eucharistische Mahl gab es Leuchter und Handwaschgeräte, wie sie auch an der höfischen Tafel üblich waren. Büchsen dienten zur Aufbewahrung der Hostien und des Weihrauchs. Reliquien legte man anfangs ebenfalls gern in Büchsen oder auch in Kästen und Flaschen. Später entstanden die «redenden Reliquiare», deren Form der Art der Reliquie entspricht. In Halberstadt sind zum Beispiel einige Armreliquiare erhalten. Reliquiare wurden auf die Altäre gesetzt, als Heiltum der Kirche zu Festen gezeigt und auch in Prozessionen mitgeführt. Die liturgischen Diptychen, die die Namen der Ortsheiligen, der Bischöfe oder Verstorbener trugen, entsprechen den profanen Schreibtafeln. Das Altarkreuz konnte oft auf einer Stange befestigt und als Tragkreuz mitgeführt werden. Man brauchte auch Bücher für die Messe. Im frühen Mittelalter waren Gebete, Schriftlesungen und Gesänge gesondert in Sakramentaren, Lektionarien und Chorbüchern aufgeschrieben. Nach einer längeren Entwicklung setzte sich im 13. Jahrhundert das Missale durch, in dem alle diese Texte vereint wurden. Andere Schriften dienten dem Studium der Kleriker.

Byzantinische Kunst in Halberstadt Kein anderer deutscher Kirchenschatz enthält so viele byzantinische Werke wie die Halberstädter Sammlung, obwohl nur ein Bruchteil des einstigen Reichtums, von dem die Quellen berichten, übriggeblieben ist. Man zählt heute rund ein Dutzend Stücke, die fast alle in unserem Band vorgestellt werden: das vermutlich ravennatische Konsular-Diptychon desjahres4i7,das

niellierte Silberplättchen mit der frühbyzantinischen Kreuzigungsdarstellung, den Glasnapf des 8 —10. Jahrhunderts, das Konstantinopeler Diptychon des 10. Jahrhunderts, die drei Demetriosreliquiare des io. bis 11.Jahrhunderts, denRitzseidenstoif der Jahrtausendwende, die vergoldete Silberschüssel des 11 .Jahrhunderts, die beiden gestickten eucharistischen Tücher der Zeit um 1200, zwei gestickte Rundbilder mit Heiligenbüsten und das Schädelreliquiar des Jakobus. Dazu kommt wahrscheinlich noch ein Löwenkopf, der allerdings von einigen Gelehrten für islamisch gehalten wird. Als Leihgabe aus Merseburg ist der sogenannte Ottomantel mit seinem byzantinischen BesatzstofF ausgestellt. «Ornat aus Griechenland» schenkte Bischof Konrad der Domkirche nach seiner Rückkehr vom vierten Kreuzzug. Es war eines der glänzendsten Ereignisse in der Geschichte der Sammlung, dessen Jahrestag jahrhundertelang gefeiert wurde. Am 16. August 1205 zog Konrad in Halberstadt ein, vom 16. August 1208 datiert die Schenkungsurkunde, die heute in der Göttinger Universitätsbibliothek liegt. Die Urkunde enthält eine umfangreiche, genaue Liste der übergebenen Stücke: eine Kreuzreliquie in einer silbernen Tafel, viele Heiligenreliquien in goldenen, silbernen und edelsteinbesetzten Gehäusen, kostbare Behänge, teilweise mit Gold- und Silberfäden, Edelsteinen und Purpur, zwei Corporalia mit ihren Behältnissen, vier Fahnen, liturgische Gewänder und einige Gefäße verschiedener Zweckbestimmung. Nur wenige Stücke des Domschatzes können mit den Geschenken identifiziert werden, die in der Urkunde aufgezählt sind, mit ziemlicher Sicherheit das niellierte Silberplättchen mit der Kreuzigung und das Schädelreliquiar, mit großer Wahrscheinlichkeit die eucharistischen Tücherdie «corporalia» der Urkunde - und die vergoldete Silberschüssel - das «cyborium ubi sacrificium preparatur». In der Bischofschronik ist mehr Ornat aus Griechenland aufgezählt als in der Schenkungsurkunde. Man hat deshalb an der Zuverlässigkeit der Quellen gezweifelt. Aber es handelt sich um zwei verschiedene Listen, die

der mitgebrachten Gegenstände und die der übergebenen Geschenke. Einiges hatte Konrad in seinem persönlichen Besitz behalten.Durch Schiedsspruch eines päpstlichen Legaten wurden dem Dom im Jahre 1225 aus Konrads Nachlaß einige Reliquien zugewiesen, die in der Bischofschronik genannt sind, in der Schenkungsurkunde jedoch fehlen. Weitere Stücke mögen in andere Hände gelangt sein. Ungewiß ist, ob die Demetriosreliquie, die zwar in der Bischofschronik, nicht aber in der Schenkungsurkunde erwähnt ist, auf unbekanntem Wege noch in den Domschatz gelangte und mit einem der drei dort befindlichen Demetriosreliquiare gleichgesetzt werden darf. Über die Herkunft seiner Gaben teilt Konrad in der Schenkungsurkunde mit, daß er mit den Kreuzfahrern durch ein günstiges Geschick nach Griechenland kam, dort beim griechischen Kaiser verweilte und durch die «Freundschaft und Gunst» des Kaisers und anderer Herren, der Bischöfe und Äbte einen Schatz empfing, der ihm lieber sei als Gold und Topas. In der kunstwissenschaftlichen Literatur gilt die Schenkung von 1208 hingegen als Beutegut. Aber muß man Konrads Aussage in Zweifel ziehen? Der Halberstädter Bischof hat beide Eroberungen der Kaiserstadt Konstantinopel durch die Kreuzfahrer miterlebt. Am 17. Juli 1203 nahmen sie die Stadt, setzten den vertriebenen Kaiser Isaak Angelos und seinen Sohn Alexios wieder in ihre angestammten Rechte ein und wurden dafür mit reichen Geschenken geehrt. Erst die zweite Eroberung, am 13. April 1204, führte zu der schmachvollen dreitägigen Plünderung des größten Kulturzentrums der damaligen Welt und zur Errichtung des lateinischen Kaiserreichs in Konstantinopel. Da mehrere byzantinische Denkmäler in Halberstadt nicht mit Bischof Konrad in Verbindung gebracht werden können, liegt die Annahme nahe, daß Halberstadt mindestens noch ein zweites Mal byzantinische Geschenke empfangen hat. Da die Gegenstände, die in den auf Konrad bezüglichen Quellen vermißt werden, fast sämtlich dem ersten Jahrtausend angehören, gewinnt die jüngst aufgestellte Hypothese, viele äll

59

tere byzantinische Stücke in deutschen Kirchenschätzen könnten aus dem Brautschatz der Theophano stammen, der byzantinischen Gemahlin Ottos II., für Halberstadt höchstes Interesse. Die Vermutung, daß der Halberstädter Dom Gegenstände aus dem byzantinischen Brautschatz empfangen haben könnte, stützt sich auf den Bericht der Halberstädter Bischofschronik über die Domweihe im Jahre 992. Kaiser Otto III. war mit drei weiblichen Mitgliedern seiner Familie zugegen, die den Altar unter frommen Gebeten «mit einem königlichen Geschenk schmückten».

Schöpfungen und Techniken handwerklicher Kunst Der hohe Entwicklungsstand der vielfältigen kunsthandwerklichen Techniken des Mittelalters kann in den Kirchenschätzen und besonders im Halberstädter Domschatz ausgezeichnet studiert werden. Ihr Wert für die Forschung ist um so höher, als aus höfischen und bürgerlichen Haushaltungen nur wenige Schöpfungen des mittelalterlichen Kunsthandwerks erhalten geblieben sind. Die Wirkteppiche in Halberstadt haben Weltruhm erlangt. Schriftquellen zeugen von einer umfangreichen Produktion, aber einzig in Halberstadt sind drei figürliche Wollwirkereien des 12. und 13. Jahrhunderts in gutem Zustand noch heute vorhanden. Neben ihnen gibt es in Europa nur noch einige Fragmente eines etwas älteren KölnerWirkteppichs. Erst vom 14. Jahrhundert an setzt dann die breite Überlieferung ein. Die ältesten bekannten Zeugnisse der uralten Technik sind Fragmente des 4. bis 3. vorchristlichen Jahrhunderts, die man im Altaigebiet entdeckte. Die Arbeit wurde am Hochwebstuhl ausgeführt. In die senkrecht gespannten Kettfaden wurden die Schußfäden in der Breite des gewünschten Motivs eingeflochten. Vom Weben unterscheidet sich die Technik nur dadurch, daß der Schußfaden nicht in der ganzen Breite der Kette eingezogen wird, sondern an der Farbgrenze umkehrt. Wegen der dabei entstehenden Schlitze

160

spricht man auch von Schlitzweberei. Das Verfahren darf nicht mit der maschinellen Wirktechnik verwechselt werden, die aus dem Strikken entwickelt worden ist. Die Vorzeichnung für die Teppichwirkerei wurde, wie noch heute, entweder auf die Kettfäden selbst oder auf einen hinter den Kettfäden befestigten Karton skizziert. Vorzeichnungen auf den Kettfäden hat man am Quedlinburger Knüpfteppich gefunden. Da der Quedlinburger Teppich nach Schriftquellen um 1200 unter der Leitung der Quedlinburger Äbtissin Agnes gearbeitet worden ist, liegt die Annahme nahe, daß auch die Halberstädter Teppiche das Werk von Klosterfrauen sind. Aus der Fülle der Webereien im Halberstädter Schatz können nur ein byzantinischer Seidenköper und einige italienische Goldbrokate ausgewählt werden. Zu den wichtigsten Seidenstädten Italiens im Mittelalter gehörten Lucca und Venedig. In Lucca entwickelten eingewanderte Weber aus Sizilien die Seidenindustrie in größerem Umfang bereits im 12. Jahrhundert. In Venedig wurde die Seidenweberei im 1 1 . Jahrhundert als Hausindustrie betrieben, aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammt das erste Statut einer Seidenweberzunft. Da im 14. Jahrhundert Luccheser Weber, Spinner und Färber nach Venedig flüchteten, lassen sich Seiden aus Lucca und Venedig nicht immer sicher unterscheiden. Im 15. Jahrhundert spalteten sich die Samtweber als eigene Zunft ab. Diese Technik war so kompliziert, daß in Venedig fünf verschiedene Meisterprüfungen für Samtweberei abgelegt werden konnten. Die eingewebten Goldfäden bestanden aus einem dünnen Leinen-, Baumwoll- oder Seidenfaden, der Fadenseele, um die spiralig ein getrocknetes tierisches Darmhäutchen mit einer feinen Blattgoldauflage gewickelt wurde. Diese Fäden kamen aus Zypern als «or de cypra» durch den Levantehandel nach Europa. Eine zweite Werkstatt gab es in Byzanz. Mittelalterliche Stickereien gibt es in Europa noch heute in großer Zahl. In Halberstadt kann man neben niedersächsischen Arbeiten auch die ältesten byzantinischen Stickereien und die englische Stickkunst studieren. Spätmittelalterliche

Schriftquellen informieren über die langjährige Ausbildung und die hohe gesellschaftliche Stellung der Sticker. Auch die älteren Klosterwerkstätten boten zweifellos eine gründliche Ausbildung in der Stickkunst. Neben den heute noch geläufigen Stichen wie Flachstich und Stielstich wurden häufig Spaltstich und Anlegetechnik angewandt. Der Spaltstich entsteht, wenn man beim Zurückstechen den Faden des letzten Stiches spaltet. Gold- und Silberfaden wurden nicht durch das Gewebe gezogen, sondern «angelegt» und mit einem zweiten Faden auf dem Stoff befestigt. Wird das angelegte Material mit Hilfe des zweiten Fadens fest in den Stoff eingezogen, dann entsteht der Sprengstich, der in Byzanz ebenso wie in England häufig angewendet wurde, das «opus anglicanum» der Inventare. Ein Spezialgebiet der Stickerei ist die Perlstickerei. Von den fünfundsiebzig mittelalterlichen Perlstickereien, die vor wenigenjahren innerhalb der Grenzen der beiden deutschen Staaten katalogisiert werden konnten, befinden sich achtzehn in Halberstadt. Die ökonomische Voraussetzung der blühenden niedersächsischen Perlstickerei war die Perlmuschel, die in einigen Flüssen der Lüneburger Heide lebte und erst im 18. Jahrhundert durch Raubbau ausgerottet wurde. Große maritime Perlen finden sich nur noch an einer deutschen Perlstickerei, doch muß man damit rechnen, daß sie abgetrennt, neu verwendet und schließlich verbraucht wurden. Oft vereinen sich Flußperlen, Korallen und bunte Glasperlen an einer Arbeit. Eine Perlenschnur wurde mit einem zweiten Faden mit oder ohne Zwischenlage aufgenäht. Die Halberstädter Perlstickereien schmücken vor allem Ausstattungsstücke des Altars, Mitren und Gewänder. Im 14. bis 16. Jahrhundert kämpfte das erstarkende Bürgertum erfolgreich um das Privileg, perlgestickte Gewänder zu tragen. Die größten Meister befaßten sich mit Perlstickerei. Ghiberti arbeitete eine Mitra mit Perlen für Papst Eugen, Michael Pacher zeichnete Entwürfe für eine perlgestickte Mitra, die in Erlangen liegen. Sehr groß ist die Anzahl der Metallarbeiten in Halberstadt. Die vorgelegte Auswahl bietet

Goldzellenschmelz aus Saloniki, Kupfergrubenschmelz aus Niedersachsen und Limoges, Filigran aus Niedersachsen und Treibarbeit, Gravierung, Niello, Metallschnitt und Stanzrelief aus verschiedenen Ländern und Zeiten. Die Elfenbeinarbeiten in Halberstadt vertreten mehrere bedeutende Epochen dieser Kunst. Im Jahre 417 wurde das Konsular-Diptychon ausgegeben, in einer Hofwerkstatt des 10. Jahrhunderts entstand das byzantinische Diptychon, vermutlich in einem sächsischen Kloster das Johannesrelief, und ein zunftmäßig organisierter Pariser Meister des 14. Jahrhunderts hat das Marientabernakel geschaffen. Neben den Schnitzereien bewundert man bemalte Elfenbeindosen und -kästen aus den Händen islamischer Meister des 12. Jahrhunderts. Zu besonderem Ruhm gereichen der Sammlung geschnittene und geschliffene Halbedelsteine und Gläser, die zum Teil an jüngeren Goldschmiedewerken wiederverwendet oder neu gefaßt worden sind: die antike Gemme am Armreliquiar des Stephanus, der frühbyzantinische Glasnapf am Karlsreliquiar, der karolingische Siegelstein des Theodulf und ein Löwenkopf am goldenen Tafelreliquiar, die berühmte fatimidische Bergkristallflasche, ein Hedwigsglas, ein Schachstein aus Bergkristall, Bergkristallkugeln an romanischen Leuchtern und die beiden gotischen Kreuze aus geschnittenem, geschliffenem und bemaltem Bergkristall. Buchmalerei gab es, im Gegensatz zu manchen dieser Künste, die an spezielle Materialvorkommen oder künstlerische Traditionen gebunden waren, immer und überall im mittelalterlichen Europa. Die Halberstädter Sammlung enthält Handschriften aus Niedersachsen und aus anderen Gebieten. DenniedersächsischenGrundstockderSammlung an Wirkteppichen, Stickereien und Perlstickereien, an Goldschmiedearbeiten und Buchmalerei bereichern Werke aus anderen deutsehen Landschaften und aus fremden Städten und Ländern, unter anderem aus Ravenna, Konstantinopel, Saloniki, Sizilien, Ägypten, Venedig, Lucca, Florenz, Paris und England. Manche 161

Gegenstände waren zunächst für profanen Ge-

Die Literatur zu diesen verschiedenartigen

brauch bestimmt. Auch islamisches Kunsthand-

Denkmälern ist weit verstreut, abgesehen von

werk erhielt einen Platz in dem christlichen

den relativ knapp gehaltenen zusammenfassen-

Domschatz. Die ältesten Stücke der Sammlung

den Arbeiten von Elis, Hermes, Doering, Meyer

sind heute die antike Gemme mit den Symbolen

und Hinz. Nur mit dem Mut zur Vorläufigkeit

des Dionysos am Armreliquiar des Stephanus

kann ein einzelner Bearbeiter versuchen, eine

und das spätantike Konsular-Diptychon,

das

Vorstellung von dieser Vielfalt zu vermitteln,

jüngste in diesem Buch vorgestellte Werk ist ein

auf der nicht zuletzt die überwältigende Wir-

Teppich des 16. Jahrhunderts.

kung des Halberstädter Domschatzes beruht.

162

ABBILDUNGEN

108/109

Konsular-Diptychon, Elfenbeinrelief,

Ravenna?, 417, in den Mittelfeldern der Konsul Konstantius mit Begleitern, in den oberen Feldern

die Kaiser West- und Ostroms mit den Personifikationen Roma und Konstantinopolis, in den unteren Feldern unterworfene Barbaren

ÄfGV o f c r u i a s c k L i s a t r l i

i f f i : c u m

umiFuiwiiig ¡.Mtinif ucfbjj 110

Sakramenten, Darstellung

111

nordfranzösisch-belgisch,

vor

. |Mt; I f n

des heiligen Gregor

Lateinische Grammatik

f J o v

des Priscianus,

Anfang des iO.Jahrhunderts,

Teil einer Schmuckseite mit

.Sirmiinoilrrijl

Initiale

L M K R (

Evangeliar, franko-sächsisch,

C-DI

g.

Beginn des Matthäusevangeliums

^

Jahrhundert, mit Initiale

V

C

St. Gallen?,

T( ermina ) 112

doanm

\

\

\ tiiM

P

'

frsi^i | c i n p

Stvraiipci!

L(iber) ttmpttl

filme»

üipu? • 4 i m d * I i ¡4

- j K t f l t i v ^ M ittc • • HlOfTK'M ' oX tit* Avc^»aL ;

teJ ÇtTnrtb ; O b c d Ajjrem -

^ c n u r r t e f f r ^ c f f ï r Jiuccm ^ r n u i r - 4 - • V - ^ J PK Ä I r i • ^r Ta- ^ M \ *** -

E •*

«J

r/fr- mm

y'M.' ' VA

«îr&Êà

A*

». - f i r • * * " '* - * .*' •

— -

-w »Jt " #

" fe^JHH , OL » V * , « i, H P ^ % jgftL • .

'

•'

,

¿tin* m

J