Diskursivität und Aphoristik: Untersuchungen zum Formen- und Wertewandel in der höfischen Moralistik 9783110926804, 9783484550063


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Inhalt
Einleitung
Teil I
Teil II
Teil III
Teil IV
Teil V
Nachwort
Literaturverzeichnis
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Diskursivität und Aphoristik: Untersuchungen zum Formen- und Wertewandel in der höfischen Moralistik
 9783110926804, 9783484550063

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mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit

Herausgegeben von Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt und Friedrich Wolfzettel

Band 6

Frank Wanning

Diskursivität und Aphoristik Untersuchungen zum Formen- und Wertewandel in der höfischen Moralistik

Max Niemeyer Verlag Tübingen

1989

Druckvorlage erstellt mit Unterstützung von Herrn David Long, Hannover System: WORDCRAFT-Textverarbeitung; ausgegeben auf Canon-Laserprinter

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Wanning, Frank: Diskursivität und Aphoristik : Untersuchungen zum Formen- und Wertewandel in der höfischen Moralistik / Frank Wanning. - Tübingen : Niemeyer, 1989. (Mimesis ; Bd. 6) ISBN 3-484-55006-6

ISSN 0178-7489

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlags ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany Druck: Weihert-Druck, Darmstadt

Inhalt

Einleitung

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TEIL I 1. Zur Rekonstruktion des Moralistikbegriffs 1.1 Probleme der Korpusbildung

4 28

TEIL II 1.

Frühmoralistische Wertungsprobleme: Nicolas Faret und die ambition 1.1 Akzidentelle Qualität als Organon des art de plaire 1.2 Der Gegensatz von subjektiver und pragmatischer Rationalität . . 1.3 Legitime soziale Ungleichheit und relative Norm 2. Zum Verhaltenscode vertu/morale 3. Gesellschaftliche Sinnkrise und literarischer Diskurs

33 36 43 52 59 69

TEIL III 1. 2. 2.1 2.2 3.

Die Negation von règle und précepte. Der Chevalier de Méré . . . 76 Galant homme versus honnête homme 80 Zur Anthropologie des honnête homme 91 Naturel und je ne sais quoi Das Prinzip der dynamischen Norm 98 Conversation und Aphoristik als wirkungsästhetische Medien . . 106

TEIL IV 1.

Aphoristische Hermeneutik und moralische Desillusionierung: La Rochefoucauld 2. Zur Kritik akzidenteller Qualität 2.1 Moralische Ambivalenz und Dissoziierung des Subjekts 2.2 Bedingungen und Grenzen des moralischen Urteils 3. Intuition und aphoristische Form

115 121 134 142 153

TEIL V 1. Sozialer Determinismus und Individualität: La Bruyère 2. Amitié und sociabilité. Die Struktur eines Wertekonflikts 2.1 Mechanismen gesellschaftlicher Determination und soziale Diskursformen 3. Rudimentäre Anthropologie: Das Portrait des homme de bien . .

l60 163 173 185

Nachwort

196

Literaturverzeichnis

201

Register

208

Einleitung

Eine Untersuchung, die bereits im Titel sozialethische Verhaltensmodelle, Gattungsbezeichnungen und literarische Epochenbegriffe bzw. Stilrichtungen kombiniert, dient nicht nur der Bestimmung des Forschungsgegenstands, sondern enthält darüber hinaus ein methodisches Postulat. Sie vereint literatursoziologische Fragestellungen mit gattungstheoretischen Reflexionen und greift damit auf zwei Forschungsparadigmen zurück, die von unterschiedlichen Erkenntnisinteressen getragen sind und methodisch voneinander abweichende Verfahren der Interpretation entwickelt haben. Während die Literatursoziologie - stark vereinfacht gesagt - versucht, die inhaltlich-ideologische Vermittlung von Literatur und Gesellschaft historisch zu dokumentieren, indem sie den literarischen Gehalt auf (im weitesten Sinne) politische Anschauungen und Grundüberzeugungen zurückführt, befaßt sich die Gattungstheorie traditionell mit den formalen Gesetzen der künstlerischen Gestaltung, die systematisch aufgeschlüsselt und den Künstlern in normativer oder deskriptiver Form erneut zur Verfügung gestellt werden. Der Versuch, historisch-soziologische und systematisch-formale Verfahren der Interpretation miteinander zu verbinden, geht von der Voraussetzung aus, daß die Aussageebene literarischer Werke nicht von der des Ausdrucks zu trennen ist. Beide sind erst dadurch voll zu erschließen, daß sie wechselseitig aufeinander bezogen werden. Diese Hypothese impliziert einen zweifachen Nexus von Gattungsbegriff und Gesellschaft: einmal folgt die Verwendung von literarischen Kunstmitteln und Techniken, die zumeist gattungsspezifisch geregelt ist, notwendig einer vorab gesetzten Funktionsbestimmung, welche den Gesellschaftsbezug der Werke definiert. Zum anderen legt die Gattung selbst die Möglichkeiten zur Formulierung von literarischen Gehalten fest und beeinflußt über die formale Gestaltung latent die inhaltliche Interpretationsbreite des Einzelwerks. Erst durch die Zusammenschau von Gattungsnorm und Funktionsbestimmung kann der hermeneutische Bogen geschlagen werden, der für ein differenziertes Verständnis unerläßlich ist. Die traditionelle Forschung zur französischen Moralistik des 17. Jahrhunderts ist ein gutes Beispiel für die in der Literaturwissenschaft häufig zu beobachtende Trennung beider Forschungsbereiche und zeigt deutlich das Dilemma einer einseitig historisch-soziologischen 1

bzw. systematisch-formalen Interpretation auf. Während erstere die sozialnormative Funktion moralistischer Werke hervorhebt und deren Verhaltensregeln und Verbote mit dem Zweck rekonstruiert, ein besseres Verständnis der höfischen Gesellschaft zu erlangen, nimmt letztere die aphoristische Form, in der zahlreiche moralistische Werke verfaßt sind, zum Anlaß, um die spezifischen Ausdrucksqualitäten der unter ihr subsumierten Subgenera zu untersuchen. 1 Auf diese Weise geht die literatursoziologisch orientierte Forschung zwar von einem Zusammenhang von moralistischer Funktionsbestimmung und Aphorismus aus, kann diesen aber aufgrund von unzureichend entwickelten Verfahren zur Beschreibung der ästhetischen Form nicht näher explizieren, während der gattungstheoretische Zugriff auf Moralistik ein bestimmtes Repertoire von Kunstmitteln und literarischen Techniken erarbeitet, die allerdings ohne den Begriff der literarischen Funktionsbestimmung nicht in ein historisches Konzept von Wirkungsästhetik integriert werden können. Beide Forschungsparadigmen definieren den Begriff 'Moralistik' in unterschiedlicher Weise und sind - jedes für sich - mit den oben genannten Erkenntnisdefiziten belastet. In einer historischen Rekonstruktion muß deshalb zunächst die Forschungstradition zur Moralistik systematisch dargestellt werden, um die gegenwärtigen Probleme und Aporien einer Definition bzw. der Korpusbildung ursächlich zu verstehen. Anschließend wird in der Interpretation einzelner Repräsentanten der Zusammenhang von Sozialstruktur, Wirkungsabsicht und Gattungsbegriff im historischen Wandel aufgezeigt werden. Methodisch geschieht dies, indem die offen vorliegenden Kunstmittel und literarischen Techniken auf ihre Funktion im gesellschaftlichen Kontext hin eingeschätzt werden. Die wirkungsästhetischen Möglichkeiten der unterschiedlichen Gattungen werden mit dem historischen

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Die Bezeichnung 'Aphorismus' verwende ich im folgenden als Oberbegriff für eine ganze Reihe von aphoristischen Subgenera, wie Portrait, Maxime, Sentenz, Réflexion, etc. Das gemeinsame Merkmal dieser Formen liegt in ihrer Sprachkürze, Offenheit und einem 'immanenten Zweierrhythmus', den ich an konkreten Beispielen noch verdeutlichen werde. Die Aufzählung deckt sich mit den Bestimmungen, die Jürgen von Stackelberg in einer umfassenden gattungtheoretischen Arbeit benennt (Cf. Stackelberg, Zur Bedeutungsgeschichte des Wortes 'Aphorismus'. In: Gerhard Neumann (ed.), Der Aphorismus - Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, p. 209-225). - Der Begriff 'Maxime' wird an einzelnen Stellen nicht als Subgattung, sondern im philosophisch-ethischen Sinne als moralisches Handlungspostulat verwendet. Auf diese Ausnahmen wird im jedem Fall besonders hingewiesen.

Wandel literarischer Funktionsbestimmungen korreliert, der wiederum durch die Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Legitimationsprobleme des 17. Jahrhunderts determiniert ist. Der im folgenden erprobte Ansatz will literatursoziologische mit gattungstheoretischen Fragestellungen verbinden und einen Beitrag zur notwendigen historischen Präzisierung des Begriffe 'Moralistik' leisten.

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Teil I 1. Zur Rekonstruktion des Moralistikbegriffc

Die Komplexität literaturwissenschaftlicher Terminologien entsteht zum einen durch unterschiedliche historische Begriffsbestimmungen, deren Differenz in Form von Bedeutungsverschiebungen begrifisgeschichtlich rekonstruiert werden kann; zum anderen durch ihre Applikation in verschiedenen Theoriezusammenhängen, die den Stellenwert und die Bedeutung des einzelnen Begriffs entsprechend den methodischen Erfordernissen des jeweiligen Systems festlegen und in spezifischer Weise nuancieren. Erschwerend kommt hinzu, daß die historisch-diachronischen und methodisch-synchronischen Ebenen begrifflicher Evolution zumeist nur in verschränkter und vielfaltig vermittelter Form vorliegen. Hiervon sind literaturgeschichtliche Epochenbegriffe ebenso betroffen wie die Bestimmung literarischer Gattungen oder Stilrichtungen, deren Bedeutung in literaturwissenschaftlichen Arbeiten nicht einfach vorausgesetzt werden kann, sondern selbst thematisiert und für den jeweiligen Arbeitszusammenhang verfügbar gemacht werden muß. Geschieht dies nicht, so können die durch die Begriffsdefinitionen vollzogenen Ausgrenzungen nicht erkannt werden, was für die wissenschaftliche Objektkonstitution evidentermaßen fatale Folgen hat. Gerade der Begriff Moralistik hat im Laufe seiner annähernd 300jährigen Geschichte eine Vielzahl von Definitionen und Interpretationen erfahren, die teilweise erheblich voneinander abweichen und das jeweils unter ihm subsumierte Autoren- und Werkspektrum nachhaltig verändern. Unter hermeneutischen Gesichtspunkten setzt eine Verständigung über den Moralistikbegriff seine historische Rekonstruktion also notwendig voraus. Dies gilt sowohl für die Kategorien, aus denen er abgeleitet wird, als auch für das unter ihm zusammengefaßte Textkorpus. Angesichts dieses Problemfelds genügt es also nicht, den Begriff entsprechend den eigenen Erkenntnisinteressen neu zu definieren und als literaturwissenschaftliche Kategorie innerhalb eines methodischen Systemzusammenhangs verfügbar werden zu lassen. Auf diese Weise würde der Begriff seiner Geschichtlichkeit beraubt werden. Er kann, da er seine eigene Entwicklung negiert, die historischen und methodischen Prämissen seiner Definition nicht reflektieren. Die spezifisch hermeneutischen Probleme einer solchen creatio ex nihilo literaturgeschichtlicher Begriffe zeigt sich innerhalb der neueren Moralistikforschung etwa bei Dieter Steland, welchem zufolge «ein 4

moralistischer Gedanke oder eine moralistische Beobachtung nur dann vorliegt, wenn durch sie das Verhältnis zwischen Selbstverfügung und Fremdbestimmung ausdrücklich oder unausdrücklich zum Thema gemacht und dabei Anlaß gegeben wird, die Möglichkeit von Selbstverfügung skeptisch zu beurteilen.»1 Steland bezieht sich in seiner Definition explizit auf Hugo Friedrich, der die «Erscheinungsweisen des Menschen in seelischer, sittlicher, sittengeschichtlicher, gesellschaftlicher, politischer Hinsicht»2 zum Gegenstand genuin moralistischer Literatur bestimmt, und erläutert sein Vorgehen damit, daß er den Friedrichschen Begriff lediglich präzisiert. Auf diese Weise entgehen seiner Definition eine Reihe impliziter Prämissen, nach deren historischer Herkunft innerhalb der systematischen Theoriebildung nicht gefragt wird und die den zu analysierenden Kanon moralistischer Literatur in spezifischer Weise präformieren. In seiner Begriffebestimmung rekurriert Steland zunächst auf das Begriffepaar «Gedanke und Beobachtung», das der Moralistik implizit ein deskriptives Erkenntnisinteresse zuordnet und normative Wirkungsabsichten prinzipiell ausschließt. Die Bedeutung dieses funktionalen Kriteriums für die Zurechnung einzelner Werke zum moralistischen Textkorpus ist evident. Wie zu zeigen sein wird, ist das Postulat einer deskriptiven Grundhaltung jedoch erst von der Literaturkritik des 19 Jahrhunderts entwickelt worden, so daß es den vorausgegangenen Begriffsbestimmungen vollkommen unbekannt gewesen war. Darüber hinaus legen die Kategorien «Selbstverfügung und Fremdbestimmung» die Moralistik thematisch auf den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft fest und formulieren damit ein inhaltliches Kriterium, das gleichfalls jüngeren Datums ist und sich selbst bestimmten historischen Umständen verdankt. - Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß hier nicht die Richtigkeit der Thesen Stelands oder anderer, ähnlich verfahrender Literaturwissenschaftler in Zweifel gezogen werden soll, sondern daß es darum geht, literaturwissenschaftliche Definitionen historisch zu relativieren und die begrifflich geregelte Strukturierung des historischen Materials zu reflektieren. Der Begriff Moralistik selbst ist ein historisches Produkt und kann in allen seinen Aspekten allein durch eine historischhermeneutische Rekonstruktion entfaltet werden. Versteht man unter Entwicklung die nachträgliche Rekonstruktion der Veränderungen eines gegebenen Objekts oder Begriffe, so hat 1 2

Dieter Steland, Moralistik und Erzählkunst - Von La Rochefoucauld und Mme de La Fayette bis Marivaux, München: Fink 1984, p. 10. Hugo Friedrich, Montaigne, Bern und München: Francke 1967, p. 168.

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sich die Auseinandersetzung mit der Entwicklungsgeschichte von 'Moralistik' eines terminologischen Instrumentariums zu versichern, das neben historischen auch systematische Begriffe enthält, ohne welche die Veränderungen nicht im Zusammenhang rekonstruiert werden können. Gefordert ist an dieser Stelle eine Kategorie, die die unterschiedlichen Begriffebestimmungen in ihrer historischen Bedingtheit zugleich zusammenfaßt und unterscheidbar werden läßt, mithin die Identität im historischen Wandel markiert. - In seinem Aufsatz 'Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft' greift HansRobert Jauß auf den erkenntnistheoretischen Begriff des Paradigmas zurück, den Thomas S. Kuhn als epochal dominantes Erkenntnisprinzip definiert, welches «für gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten Modelle und Lösungen liefert.»3 Jauß macht ihn im Rahmen einer knappen wissenschaftsgeschichtlichen Abhandlung für die Literaturwissenschaft fruchtbar. Dabei hebt er insbesondere hervor, daß das Paradigma den Frage- und Erkenntnishorizont generell entsprechend den wissenschaftlichen Möglichkeiten einer Epoche festlegt, so daß die Lösung der Rätsel «durch das Paradigma schon zugesichert ist.»"* Indem das wissenschaftliche Paradigma den historischen Rahmen von Erkenntnisproduktion absteckt, determiniert es, so darf weiter geschlossen werden, notwendig auch die einzelnen Begriffe der betreffenden Fachdisziplinen. In unserem Zusammenhang folgt daraus, daß die literaturwissenschaftlichen Paradigmen, insofern sie selbst historischer Determination unterliegen, die moralistische Literatur nach Kriterien definieren, die voneinander abweichen und den Autoren- bzw. Werkekanon immer wieder neu festlegen. Während der Paradigmenwechsel von Hans-Robert Jauß allgemein auf die Literaturwissenschaft appliziert wird, soll er hier zur Rekonstruktion der Geschichte eines einzelnen Begriffe herangezogen werden und als systematische Kategorie helfen, die entwicklungsgeschichtlichen Veränderungen der historischen Konzeptionen von 'Moralistik' aufzuzeigen. Es soll untersucht werden, inwieweit das paradigmatische Literaturverständnis einer Epoche zur Definition des Begriffe beiträgt, indem es einzelne Aspekte neu bewertet bzw. neu entdeckt. Vorausgreifend sei festgehalten, daß die Begriffsgeschichte von 'Moralistik' sich zunächst vornehmlich am funktionalen Paradigma orientiert, um später durch das Subjektivitätsparadigma ersetzt zu werden, bis schließlich in der Gegenwart das formale Paradigma die 3 4

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Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zit. n. H.-R. Jauß, Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft. In: Linguistische Berichte, Heft 3 (1969), p. 46. Cf. H.-R. Jauß, Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft, op. cit., p. 46

beiden anderen weitgehend verdrängt. Anschließend ist die Frage nach der Objektkonstitution des gegenwärtig gültigen formalen Paradigmas zu stellen und das daraus abgeleitete Textkorpus im Hinblick auf seinen Erkenntniswert zu kritisieren. Die unterschiedlichen Definitionen und Interpretationen der französischen Moralistik, hier insbesondere der des 17. Jahrhunderts, greifen zumeist auf die naheliegende und historisch nachweisbare Begriflskonnotation von Moral zurück und versuchen, die beiden Begriffe wechselseitig zu erhellen. Dabei darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Namensgebung, durch die die Moralistik als Literaturform überhaupt entsteht, erst in einem späteren Jahrhundert erfolgte und den unter ihr subsumierten Autoren selbst unbekannt war. Obwohl die heute unter dem Etikett 'Moralisten' zusammengefaßten Autoren sich selbst als Individuen verstanden und kein 'Gruppenbewußtsein' entwickelten, gilt es doch festzuhalten, daß sie sich häufig auch als philosophe bezeichneten. Aus dieser Selbsteinordnung wird ersichtlich, daß die Moralistik im 17. Jahrhundert sich noch nicht als Literatur verstand und daß sich die Autoren im Rekurs auf die etablierte Philosophie legitimierten.5 Die historisch nachweisbaren Begriffsbestimmungen entstanden demnach lange nach den so bezeichneten Werken und gliedern das literarische Spektrum des 17. Jahrhunderts nach Kategorien, die den Zeitgenossen selbst unbekannt waren. Der Hinweis auf die zeitliche Differenz von Begriff und bezeichnetem Gegenstand relativiert die durch die einheitliche Benennung postulierte Homogenität der Moralisten als einer klar umrissenen Schriftstellergruppe. Darüber hinaus stellt diese Ungleichzeitigkeit die Bedeutung und den Stellenwert der Konnotation 'Moral' in Frage, die der angesprochenen Literatur erst später beigelegt wurde. Der Kritik des 17. Jahrhunderts blieb in Ermangelung eines umfassenden Begriffs lediglich die Möglichkeit, die Existenz einzelner Autoren mit literarisch innovativen Themen und Formen zu konstatieren, die deutlich von der traditionellen Literaturproduktion abwichen. An den zeitgenössischen Rezeptionsdokumenten kann abgelesen werden, daß die Freude an der formalen Gestaltung und am Wahrheitsgehalt moralistischer Werke mit einer spezifischen Verunsicherung einhergeht, die als eine Reaktion auf literarische Innovationen gedeutet werden kann. Stellvertretend für viele andere seien hier nur 5

Zahlreiche Autoren des 17. Jahrhunderts, und noch die Literaturkritik der Romantik bezeichneten die Moralisten als philosophes (Cf. van Delft, Le moraliste classique - Essai de définition et des typologie, Genève: Droz SA. 1982 (Histoire des idées et critique littéraire, t. 202), p. 35).

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die Stellungnahmen Mme de Schömbergs und Mme de Sévignés angeführt, die beispielsweise die Maximen La Rochefoucaulds in brieflicher Form höchst ambivalent beurteilen. Mme de Schömberg schreibt: «Il y a en cet ouvrage beaucoup d'esprit, peu de bonté, et forces vérités que j'aurais ignorées toute ma vie si l'on ne m'en avait fait apercevoir.» Ihre Euphorie weicht jedoch einer gewissen Skepsis, wenn sie wenig später feststellt: «Après la lecture de cet écrit, l'on demeure persuadé qu'il n'y a ni vice ni vertu à rien», so daß sie abschließend sogar zu dem Urteil kommt: «Vous jugez de là combien ces maximes sont dangereuses.»^ Eine vergleichbare Unsicherheit äußert Mme de Sévigné, wenn sie von den gleichen Maximen behauptet: «Il y en a de divines; et à ma honte, il y en a que je n'entends point.» 7 Das Unverständnis Mme de Sévignés deutet - wie auch die ablehnende Haltung Mme de Schömbergs - auf eine innovative Form, die den Rahmen des zeitgenössischen Rezeptionshorizonts sprengt. Die Ambivalenz des zeitgenössischen Urteils über 'moralistische' Werke ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden: Zur Rezeption der 'Essais' von Michel de Montaigne stellt Gerhard Hess fest, daß das Publikum auf die darin praktizierte Form der Selbstbetrachtung nicht vorbereitet war. 8 In anderem Zusammenhang spricht Dieter Steland von einem « Überraschungseffekt»,9 den die Maximen La Rochefoucaulds bei ihrem Erscheinen auslösten. Der Tenor dieser Untersuchungen postuliert für die nachträglich als 'moralistisch' bezeichnete Literatur, daß diese die literaturfahigen Themenkomplexe und das Repertoire an Darstellungsmitteln in einer Weise erweiterten, die dem zeitgenössischen Publikum unverständlich blieb. Generell kann gesagt werden, daß der Gedanke einer einheitlichen moralistischen Literaturkonzeption im 17. Jahrhundert weder auf seiten der

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Mme de Schömberg, Brief, zit. n. Dieter Steland, Moralistik und Erzählkunst - Von La Rochefoucauld und Mme de La Fayette bis Marivaux, op. cit., p. 16. Mme de Sévigné drückt mit diesen Worten ihr Unverständnis über einige Maximen La Rochefoucaulds aus, die ihr in der dritten erweiterten Auflage vorliegen (Cf. Brief an Mme de Grignan vom 20. Januar 1672. In: Id., Lettres de Mme de Sévigné de sa famille et de ses amis, Bd. 2, ed. A.D. Regnier, (Les grands écrivains de la France), Paris 1925, p. 472. Cf. Gerhard Hess, Gucciardini und die Anfänge der moralistischen Literatur. In: Id., Gesellschaft - Literatur - Wissenschaft. Gesammelte Schriften 1938-1966, ed. H.-R. Jauß et al., München: Fink 1967, p. 16. Dieter Steland, Moralistik und Erzählkunst - Von La Rochefoucauld und Mme de La Fayette bis Marivaux, op. cit., p. 13; Cf. auch Jean Starobinski, der im gleichen Zusammenhang von einem «effet de choc» spricht (Starobinski, Complexité de La Rochefoucauld. In: Preuves 135 (1962), p. 34.

Autoren noch als literarische Erwartungshaltung entwickelt worden ist. Der früheste Nachweis des Begriffs moraliste entstammt dem 'Dictionnaire universel' von Antoine Furetière aus dem Jahre 1690. Sowohl die etymologische Forschung im allgemeinen 1 0 als auch die Moralistikforschung im b e s o n d e r e n 1 1 geht, soweit ich sehe, von diesem Sachverhalt aus. Bemerkenswert ist zugleich, daß Furetières Definition am Ausgang des 17. Jahrhunderts weitgehend isoliert steht und der Begriff in anderen zeitgleichen Wörterbüchern, wie dem 'Dictionnaire de Richelet' (1680) u n d dem 'Dictionnaire d e l'Académie' (1694) unerwähnt bleibt, woraus man auf seine geringe Verbreitung u n d unzureichende Bestimmtheit schließen darf. Dennoch enthält die äußerst knappe Definition Furetières bereits zentrale Elemente, an die die späteren Begriffsbestimmungen anknüpfen konnten. Sie lautet in voller Länge: Moraliste - Auteur qui écrit, qui traite de la Morale. On a donné le nom de Moralistes, ou de Rigoristes, à ceux qu'on appelle Jansenistes, parce qu'ils enseignent une Morale très-austère, & très-rigide. (12) Die Definition verdeutlicht die angesprochene Begriffskonnotation von Moral und unterstellt den Moralisten insgesamt eine normative Wirkungsabsicht. Ganz im Gegensatz zu Stelands Postulaten sieht die Literaturkritik des 17. Jahrhunderts diese literarische Form durch das enseignement geprägt. Einschränkend muß allerdings hinzugefugt werden, daß morale gemäß der Definition bei Furetière den normativen Anspruch immer schon mit sich führt u n d dieser somit nicht in das Belieben der Autoren fallt. Im gleichnamigen Artikel des 'Dictionnaire universel' heißt es: «Morale - La doctrine des mœurs; art de bien vivre; science qui enseigne à conduire sa vie, ses actions.» 1 ^ Auch der 'Dictionnaire des précieuses' von Somaize (1666) definiert Moral als science des mœurs. Darüber hinaus verdeutlicht der Artikel, daß die Kritik des 17. Jahrhunderts sich der Vielfalt moralischer Systeme u n d Rechtfertigungshorizonte wohl bewußt ist: Morale - Chez les précieuses comme ailleurs, la morale est, à bien 10 11 12 13

Cf. Walther von Wartburg, Französisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 6.2, Tübingen: Mohr 1948, p. 122sq. Cf. Louis van Delft, Qu'est-ce qu'un moraliste? In: Cahiers de l'Association internationale des Etudes françaises 30 (1978), p. 105. Antoine Furetière, Dictionnaire universel contenant généralement tous les mots françois, (Nachdruck der Ausgabe Den Haag 1727), Bd. III, Hildesheim/New York: Ohlms 1972 (Ausgabe ist nicht paginiert). Antoine Furetière, Dictionnaire universel contenant généralement tous les mots françois, Bd. III, op. cit.

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parier, la science des mœurs; et quoique ce soit une chose qui ait des règles générales et infaillibles, il est pourtant certain que chacun en se les appropriant les change et s'en fait de particulières. Ces règles s'appellent du nom de maximes, et ces maximes sont en tout temps et en tous lieux presque différentes les unes des autres. (14)

Der Artikel von Somaize belegt sowohl das Bewußtsein von der Problematik einer Konkurrenz unterschiedlicher Normensysteme als auch den Gegensatz von allgemein formulierter moralischer Norm und deren subjektiver Aneignung. Damit wird in Grundzügen ein gesellschaftliches Problemfeld abgesteckt, das die Moralistik inhaltlich bearbeitet. Die Preziösen stehen bei Somaize dabei nur für eine mögliche Auslegung der moralischen Regeln. Bei Furetière begegnet uns bereits eine zweite, für das 17. Jahrhundert nicht weniger bedeutende Auslegungsmöglichkeit. Wenn der Artikel von Furetière den Zusammenhang von moralistischer Literatur und jansenistischer Weltauffassung besonders hervorhebt, bezieht er sich konkret auf einen religiös motivierten Moralismus im Umfeld von Port-Royal, dessen lebenspraktischer Bezug aus der jansenistischen Prädestinationslehre abgeleitet ist. Letztere postuliert angesichts der menschlichen Existenz, die durch Erbsünde verdorben ist, eine Lebensführung in strengster Religiosität und Bußfertigkeit. Preziösentum und Jansenismus markieren die Bandbreite moralischer Normativität im 17. Jahrhundert und verdeutlichen zugleich die Vielzahl möglicher Anknüpfungspunkte moralistischer Theoriebildung. Im Vergleich zu späteren Begriffsbestimmungen ist Furetières Definition sehr eng gefaßt; sie beleuchtet aber doch schlaglichtartig einige Aspekte, die von nachfolgenden und ausführlicheren Erläuterungen wiederaufgenommen werden: hierzu gehört neben dem Postulat eines normativen Wirkungsinteresses vor allem die Forderung, daß sich der Moralist mit seiner Lebens- und Erfahrungswelt auseinanderzusetzen habe. Die Möglichkeit fiktiver Darstellungen wird a priori negiert. Über die Aufzählung der verschiedenen Bestimmungen darf jedoch nicht vergessen werden, daß Furetières Definition im 17. Jahrhundert nahezu völlig isoliert steht und der Begriff moraliste sich erst im literaturkritischen Diskurs der Aufklärung allmählich etabliert. Die begriffegeschichtliche Bedeutung des Artikels im 'Dictionnaire universel' läßt sich schon daran ablesen, daß sowohl der

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Antoine Baudeau Somaize, Le dictionnaire des précieuses (1661), ed. Ch.-L. Livet, P. Janet, Paris 1856, 2 vol.

'Dictionnaire de Trévoux' (1704) 1 5 als auch der 'Dictionnaire de Richelet' (1728) dessen Definition einlach übernimmt, wobei letzterer ihr noch eine geographische Eingrenzung hinzufügt: «On appelle en Flandre les jansénistes, les moralistes». ^ Richelet präzisiert Furetières Definition also lediglich im Hinblick auf ihre jansenistische Affinität, ohne inhaltlich über sie hinauszugehen. In der Ausgabe von 1759 verzichtet der 'Dictionnaire de Richelet' erneut auf den Begriff 'moraliste'. Die offensichtlichen Schwierigkeiten der Begriflsbildung bedürfen der Erläuterung. Insofern man das literaturtheoretische Paradigma der französischen Klassik durch die Rolle der «Antike als Vorbild und Normensystem»17 beschreiben kann - wie Hans-Robert Jauß es tut - ist die Kritik des 17. Jahrhunderts nicht in der Lage, die strukturellen Äquivalenzen einer Literaturform zu erkennen und auf den Begriff zu bringen, die sich mit der zeitgenössischen Lebenspraxis auseinandersetzt, wie Furetière ansatzweise darstellt. Da die gesamte gesellschaftlich sanktionierte Literaturproduktion thematisch und formal auf das Modell der Antike fixiert war, können innovative literarische Inhalte und Verfahren nur negativ definiert und begrifflich nicht zusammengefaßt werden. Auch die plakativ vorgetragene Anlehnung an antike Vorlagen, wie wir sie bei La Bruyère finden, der sich in seinen 'Caractères ou les moeurs de ce siècle' ausdrücklich auf Theophrast beruft, können die innovativen Qualitäten des Werks nicht eskamotieren. Aufgrund dieser auf die Antike fixierten Einstellungen kommt die Literaturkritik des 17. Jahrhunderts über eine abwertende oder höchstens ambivalente Beurteilung der Einzelwerke nur selten hinaus. Statt dessen ist sie bestrebt, die innovative Literaturform in bestehende Institutionen einzubinden: sei es, daß sich die Autoren selbst als philosophes bezeichnen, sei es, daß der Moralist auf die jansenistische Theologie festgelegt wird. Einen einheitlichen und klaren Begriff der Theorie- oder Literaturform 'Moralistik' entwickelt die Kritik des 17. Jahrhunderts nicht. Die 'Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers', deren Bedeutung und Tragweite für die Bestimmung des

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Cf. hierzu auch Louis van Délit, Le moraliste classique, Essai de définition et de typologie, (Histoire des idées et critique littéraire), Genève: Droz SA. 1982, p. 20. Dictionnaire de Richelet, zit.n. Louis van Delft, Le moraliste classique, Essai de définition et de typologie, op. cit., p. 20. Hans-Robert Jauß, Paradigmawechsel in der Literaturwissenschaft, op. cit., p. 47.

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Begriffe Moralistik im 18. Jahrhundert nicht unterschätzt werden darf, definiert den Moralisten schlicht als «auteur sur la morale» und führt unter den modernes lediglich Grotius, Pufendorf, Barbeyrac, Tillolton, Wolafton, Cumberland, Nicole und La Placette als nachahmungswürdige Vorbilder a n . 1 8 Die Aufzählung von Namen überrascht, denn die aufgeführten Personen sind nicht nur Literaten, sondern vornehmlich Historiker und Staatsrechtler. Daraus wird ersichtlich, daß der Begriff des Moralisten im 18. Jahrhundert noch nicht auf den literarischen Bereich festgelegt ist und in seinem Bedeutungsumfang den gegenwärtigen bei weitem übersteigt. Die Problematisierung moralischer Fragen bleibt dem philosophischen oder politisch-rechtlichen Diskurs vorbehalten u n d wird der Literatur mit einer aufschlußreichen historischen Begründung verwehrt: La plûpart des autres moralistes ressemblent à un maître d'écriture, qui donnerait de beaux modeles, sans enseigner à tenir & à conduire la plume pour tracer des lettres. D'autres moralistes ont puisé leurs idées de morale, tantôt dans le délire de l'imagination, tantôt dans des maximes contraires à l'état de la nature humaine. Plusieurs enfin ne se sont attachés qu'à faire des portraits finement touchés, laissant à l'écart la méthode & les principes qui constituent la partie capitale de la morale. C'est que les écrivains de ce caractère veulent être gens d'esprit, & songent moins à éclairer qu'à éblouir. Vain amour d'une futile gloire! qui fait perdre à un auteur l'unique but qu'il devrait se proposer, celui d'être utile. Mais il vaut mieux bien exercer le métier de manœuvre, que de mal jouer le rôle d'architecte. (19) Insbesondere die letzten beiden Sätze verdeutlichen den Tenor der Kritik an einer literarisch orientierten Moralistik: Die metaphorische Verwendung der Worte «manœuvre» und «architecte» markiert den Gegensatz von Ausführung und Planung, der sich im Hinblick auf Moral in die Begriffe der Normenvermittlung und der Normenreflexion zurückübersetzen läßt. Im Gegensatz zum Anspruch der Normenvermittlung, die sich notwendig affirmativ auf Moral beziehen muß und überwiegend didaktische Ziele verfolgt, kommt der Normenreflexion die Möglichkeit zu, einzelne moralische Ansprüche zu kritisieren bzw. sie zu negieren. Im Spannungsfeld dieser beiden Begriffe soll die Literatur allein dem Vermittlungspostulat verpflichtet sein u n d sich kritischer Reflexion enthalten. Vor dem Hintergrund dieses

18 19 12

Cf. Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences des arts et des métiers, ed. Denis Diderot/Jean d'Alembert, tome X, (Nachdruck Stuttgart/Bad Cannstadt: Frommann/HoLzboog 1966), p. 702. Ib.

Gegensatzes formuliert der Artikel der 'Encyclopédie' implizit eine literarische Funktionsbestimmung, die die Werke im allgemeinen und die Moralistik im besonderen auf einen didaktisch-affirmativen Umgang mit vorab festgelegten Normen (éclairer, être utile) fixiert und die Möglichkeit von Kritik prinzipiell ausschließt. Der Artikel führt die ästhetische Normenreflexion auf die Selbstsucht der betreffenden Autoren zurück («vain amour d'une futile gloire»), die er als illegitim verwirft. Die Kritik geht von drei Prämissen aus: erstens sei die innerliterarische Diskussion moralischer Probleme prinzipiell irrational und damit der Sache inadäquat («délire de l'imagination»); zweitens biete sie nur solche moralische Orientierungen, die den Grundsätzen der menschlichen Natur zuwiderlaufen, und drittens sei sie nicht in der Lage, eine methodische Stringenz aufzubringen, die zur Ableitung moralischer Normen unverzichtbar sein soll. Die Kritik an der literarischen Moralistik wird deutlicher, wenn man die enzyklopädistische Definition von Moral hinzuzieht, die von der Existenz moralischer Wahrheiten ausgeht, welche nur im systematisch-rationalen Zugriff erschlossen werden können: «Car il est vraissemblable que si les hommes vouloient s'appliquer à la recherche de ces vérités, selon la même méthode & avec la même indifférence qu'ils cherchent les vérités mathématiques, ils les trouveraient avec la même facilité.»20 Ebenso wie die mathematischen Gesetze beanspruchen die moralischen Regeln universale Gültigkeit. Sie können ihren gesellschaftlichen Aufgaben nur in Form von «idées générales de certains devoirs» gerecht werden «sans lesquels la société ne saurait se maintenir.»21 Die der Normenreflexion wesenhaft zukommende Abstraktion sowie die daraus folgende Allgemeinheit der Aussagen werden dem literarischen Diskurs abgesprochen und bleiben der Philosophie vorbehalten. Moralisch-logische Deduktion und literarische Form gelten der 'Encyclopédie' nicht nur als unvereinbar, sondern im Hinblick auf ihre versuchte Versöhnung in der literarischen Moralistik sogar als gefahrlich. An dieser Stelle erscheint es sinnvoll und notwendig, die dem negativen Urteil zugrundeliegenden literaturtheoretischen Prämissen näher zu betrachten. Entsprechend dem eingangs herausgearbeiteten Dualismus von philosophisch-rechtlichem und literarischem Diskurs 20

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Ib., p. 700. Hierzu stellt Louis van Délit fest, daß die Enzyklopädisten den Moralisten nicht als einen Schriftsteller, sondern als einen positivistischen Denker präsentieren (Cf. van Delft, Le moraliste classique Essai de définition et de typologie, op. cit., p. 20sq). Encyclopédie, o u Dictionnaire raisonné des sciences des arts et des métiers, ed. Denis Diderot/Jean d'Alembert, tome X, (Nachdruck Stuttgart/Bad Cannstadt: Frommann/Holzboog 1966), p. 700

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ist die soziale Funktion des Schriftstellers nach dem Verständnis der Enzyklopädisten arbeitsteilig auf Normenvermittlung beschränkt. Wie Alfred Opitz in einer Untersuchung zur Literaturtheorie der französischen Enzyklopädisten zeigt, sind die Autoren ausschließlich dazu verpflichtet, die Ergebnisse philosophischer und rechtlicher Reflexion «für das Allgemeinwohl fruchtbar zu machen» und die «umfassende Verbreitung von Wissen und Aufklärung» sicherzustellen. 22 Dabei geht das Räsonnement einer kritisch-rationalen Öffentlichkeit der literarischen Vermittlung moralischer Normen immer schon voraus. Mit dieser eindeutigen Funktionsbestimmung legitimieren sich Kunst und Literatur im Hinblick auf die Gesellschaft in einer Form, die dem 17. Jahrhundert unbekannt war. Der Begriff einer «Normenvermittlungsinstitution»,mit dem Jochen Schulte-Sasse den sozialen Status der Literatur im 18. Jahrhundert beschreibt, wird durch die Metaphorik des obigen Zitats eindrucksvoll bestätigt. Dem Literaturverstandnis der 'Encyclopédie' liegt also ein funktionales Paradigma zugrunde, das sich in der Definition des Begriffs Moralist nachweisen läßt, die Holbach in seinem 'Système de la nature' von 1770 entfaltet. Diesem zufolge ist der Gegenstand der Moralisten die nature humaine, die sie in spezifischer Weise auslegen:

Ils la disent corrompue, ils blâment l'homme de s'aimer lui-même et de chercher son bonheur; ils prétendent qu'il lui faut des 'secours surnaturels' pour faire le bien. [...] On nous répète incessamment de résister à ces passions; on nous dit de les étouffer et de les anéantir dans notre cœur. (24)

Deutlich sind die Nachwirkungen der bei Furetière postulierten Nähe von Moralistik und Jansenismus noch bis hin zu Holbach festzustellen. Unabhängig von dieser traditionellen Einordnung soll im folgenden die normative Wirkungsabsicht untersucht werden, die nach dieser Definition den Moralisten kennzeichnen soll. Insofern als die literarische Funktion ihrer Werke an dieser Stelle mit den Verben

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Alfred Opitz, Schriftsteller und Gesellschaft in der Literaturtheorie der französischen Enzyklopädisten. Bern/Frankfurt/M. 1975, p. 114. Jochen Schulte-Sasse, Das Konzept bürgerlich-literarischer Öffentlichkeit und die historischen Gründe seines Zerfalls. In: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit, ed. Christa Bürger et al., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, p. 84. Paul Henry Th. d'Holbach, Système de la nature ou des lois du monde physique et du monde moral (1770), (Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Paris 1821), Bd. 1, ed. Y. Belavat, Hildesheim: G. Olms 1966, p. 256.

blâmer, prétendre und répéter beschrieben wird, deckt sich der zugrundegelegte Literaturbegriff mit dem der Enzyklopädisten: dem Autor kommt die Aufgabe zu, moralische Normen zu vermitteln, jedoch nicht über diese zu reflektieren. Im Gegensatz zur 'Encyclopédie' verbindet Holbach mit dem Rekurs auf das funktionale Paradigma keine explizite Kritik an der literarischen Moralistik. Im 18. Jahrhundert erscheint der Begriff nicht nur in Wörterbüchern und theoretischen Traktaten, sondern er wird auch in literarischen Werken selbst erwähnt. Im Vorwort zur 'Mariage du Figaro' (1785) hebt Beaumarchais positive Aspekte des Moralisten hervor, dessen Wahrnehmungsvermögen dem der 'gemeinen' Menschen deutlich überlegen sein soll. Er fordert den Leser sogar dazu auf, sich mit ihm in einen Moralisten zu verwandeln. 2 5 Angesichts des funktionalen Paradigmas der Aufklärung bleiben solche positiven Beurteilungen moralistischer Literatur allerdings die Ausnahme. Die Konsequenzen des funktionalen Paradigmas, unter dem der Begriff der Moralistik im 18. Jahrhundert abgeleitet ist, sind evident: einerseits bietet das an der literarischen Funktionsbestimmung orientierte Literaturverständnis erstmals die Möglichkeit, einen Begriff literarischer Moralistik zu entwickeln, weil die gesellschaftlichen Bezüge dieser Literaturform offensichtlich sind, andererseits zieht das damit verbundene Vermittlungspostulat gerade eine Abwertung der betreffenden Werke aufgrund ihres reflexiven Charakters nach sich. Dabei richtet sich die Kritik generell auf spezifisch literarische Techniken, die nicht zur Diskussion moralischer Probleme geeignet sind. Die Gefahr, die nach Ansicht der Enzyklopädisten von der literarischen Moralistik ausgeht, liegt also in den unabsehbaren Auswirkungen einer moralisch inadäquaten Theoriebildung. Das gesellschaftlich relevante Wertesystem darf demgegenüber nur in einem rationalen und philosophisch fundierten Zugriff auf einzelne Normen deduziert und modifiziert werden. - Die Entstehung und Etablierung des Moralistikbegriffs verdankt sich somit einer literarischen Funktionsbestimmung, die von den unter ihm subsumierten Autoren nicht geleistet werden konnte. Auch wenn die Moralistik im angegebenen Artikel der 'Encyclopédie' weder im Hinblick auf literarische Werke noch auf bestimmte Autoren präzisiert wird, gewinnt sie doch durch das funktionale Paradigma an Gestalt; allerdings, wie gezeigt, um den Preis ästhetischer Ausgrenzung.

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Cf. Beaumarchais, Mariage de Figaro, Préface. In: Id., Théâtre, ed. M. Rat, Paris: Garnier 1964, p. I62sq.

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Bereits in der Hochaufklärung beginnt die Begriffsbestimmung von Moralistik sich zu verändern und sich einem neuen Paradigma zuzuwenden. Im Gegensatz zum Postulat eines wertevermittelnden Wirkungsinteresses, das den Enzyklopädisten zur Abwertung moralistischer Literatur diente, wird diese von Jean-Jacques Rousseau in eine ganz andere thematische Tradition gestellt, die er im sogenannten Zweiten Diskurs bis in die Antike zurückverfolgt: La plus utile et la moins avancée de toutes les connoissances humaines me paraît être celle de l'homme, et j'ose dire que la seule inscription du Temple de Delphes contenoit un Precepte plus important et plus difficile que tous les gros Livres des Moralistes. (26)

Die Inschrift des delphischen Orakels 'Erkenne Dich selbst!' wird für Rousseau zum Bezugspunkt einer innovativen Kulturgeschichte, in der er der Moralistik einen eigenen Platz zuweist. Gegenstand der moralistischen Werke sind in dieser Bestimmung nicht moralische Normen, als dem Menschen äußerliche Postulate, sondern es ist das Subjekt selbst, das in seiner ganzen Tiefe ergründet werden s o l l . i n dieser Erkenntnisperspektive, die das Subjekt zum zentralen Gegenstand der literarischen Auseinandersetzung erhebt, stellt Rousseau die Weichen für eine umfassende Neudefinition des Begriffs Moralistik, die erst im 19- Jahrhundert in Gestalt eines neuen Paradigmas Bedeutung erlangen wird. Eine Definition des Moralisten, die diesen von der Diskussion und Vermittlung moralischer Normen zunächst suspendiert, gibt der 'Grand Dictionnaire universel du XIX e siècle', in dem es heißt: Le moraliste se propose de nous montrer, comme dans un miroir, nos penchants, nos habitudes, nos imperfections et nos misères. [...] Un grand nombre d'écrivains, sans faire des études morales l'objet de leurs travaux, ont été moralistes par occasion. (28)

An die Stelle der Vermittlung oder Reflexion moralischer Normen, die traditionell im Zentrum der Begriffsbestimmung stand, tritt hier eine 26 27

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Jean-Jacques Rousseau, Préface du discours sur l'origine de l'inégalité parmi les hommes. In: Œuvres complètes, ed. B. Gagnebin et M. Raymond, Paris: Gallimard 1964, t. III, p. 122. Hans Sanders faßt Rousseaus Anthropologie mit dem Begriff der «tiefe[n] Person» zusammen, die er als «Träger einer Sittlichkeit höherer Legitimität als [...] die Normen der Überhöhung ( = des paraître) jemals besitzen könnten» charakterisiert (Sanders, Das Subjekt der Moderne. Mentalitätswandel und literarische Evolution zwischen Klassik und Aufklärung, Tübingen: Niemeyer 1987, p. 194sq). Grand Dictionnaire du XIX e siècle, tome XI, Paris: Larousse 1874, p. 545.

Definition, derzufolge die Moralisten versuchen, sich mit dem Wesen des Menschen auseinanderzusetzen und Einsicht in die conditio hutnana zu gewinnen. Ihr Thema ist weniger die ideale Verhaltensnorm als vielmehr die reale Befindlichkeit des Subjekts; in anderer Terminologie: die Struktur von Identität. Die Ableitung des Begriffs Moralistik folgt damit einem neuen Paradigma, das von nun an Identitätsparadigma genannt wird. Im Rahmen dieses innovativen Erkenntnisinteresses heißt es wenig später: «Un moraliste est un homme qui a curieusement étudié le cœur humain, qui en connaît toutes les grandeurs et aussi toutes les turpitudes; c'est un confesseur indiscret qui sonde votre conscience à votre insu et malgré vous.»2^ Die Introspektion ist dem Moralisten ein Mittel, mit Hilfe dessen er zu verallgemeinerbaren Aussagen über das Wesen des Menschen gelangt. Bereits einige Jahre zuvor betont Mme de Staël in ihrem Werk 'De la littérature' (1800) den Zusammenhang von Moralistik und Identität. Über den Nexus der beiden Begriffe konstruiert sie einen moralistischen Werkekanon, der eine scharfe Grenzlinie zur Antike zieht und mit den 'Essais' von Michel de Montaigne beginnt: O n ne trouve dans l'histoire ancienne, ni l'analyse philosophique des impressions morales, ni l'observation pénétrante des caractères, ni les symptômes inaperçus des affections de l'âme. La vie intellectuelle de Montaigne va bien plus loin que celle d'aucun écrivain de l'antiquité. [...] Les moralistes découvrent des faiblesses, qui sont les ressemblances cachées de tous les hommes entr'eux: l'histoire doit prononcer fortement leurs différences. (30)

Im Gegensatz zu Rousseau, der die Moralistik auf der Grundlage des Identitätsparadigmas in eine antike Tradition stellt, hebt Mme de Staël gerade die innovative Kraft der moralistischen Werke hervor, die sie durch die Neufassung des Subjektbegriffs seit Montaigne begründet. Im Rahmen dieser ersten Versuche einer moralistischen Kanonbildung zeigt sich zugleich die Bedeutung des jeweiligen literaturgeschichtlichen Paradigmas für die Zurechnung einzelner Autoren bzw. Werke. Durch die Abkehr vom funktionalen Paradigma wird zwar eine Kanonbildung moralistischer Schriften möglich; strittig bleibt aber die Frage, inwiefern die anciens unter das neuformulierte Identitätsparadigma fallen. Die Verlagerung der Erwartungshaltung gegenüber der moralistischen Literatur, die nicht mehr die theoretisch-abstrakte Normendiskussion, sondern die Problematisierung von Identität verlangt, 29 30

Ib. Mme de Staël, D e la littérature, Paris: Maradan 1800, tome 1, p. 114.

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bedeutet indes nicht, daß die traditionelle Begriffskonnotation von Moral aufgehoben wäre: sie setzt lediglich andere Akzente. Thomas Luckmann erläutert den Zusammenhang von persönlicher Identität und gesellschaftlichen Normen dahingehend, «daß der Mensch als Gattungswesen gesellschaftliche Kategorien entwickelt, die diese Strukturen (allgemeine Bewußtseinsleistungen, F.W.) stabilisieren und an Menschen als Einzelwesen vermitteln.>3* Subjekt und Norm sind in dieser Konstellation direkt miteinander verknüpft, denn personale Identität kann ohne äußere moralische Ansprüche überhaupt nicht ausgebildet werden. Da Moral also zwischen dem Subjekt auf der einen und der Gesellschaft auf der anderen Seite vermittelt, kann im Hinblick auf die uns interessierende Definition des Begriffe Moralistik festgehalten werden, daß die Institution Moral im Verständnis des 19Jahrhunderts insbesondere durch ihre identitätsbildende Qualität definiert ist. Entsprechend wird der Begriff 'morale' im gleichnamigen Artikel des 'Grand Dictionnaire' nicht länger als objektiv-universalistische Normenlehre, sondern auf der Ebene subjektiven Bewußtseins eingeführt: «Nous avons donc placé dans la conscience le principe de la morale, et c'est là qu'on s'accorde à le placer en effet.>32 Noch deutlicher kommt diese Bedeutungsverschiebung in 'La Grande Encyclopédie - inventaire raisonné des sciences, des lettres et des arts' zum Ausdruck, die in den Jahren 1895 bis 1902 ediert wurde. Hier heißt es unter dem Stichwort 'morale': Parmi ces éléments (de la morale, F.W.) les uns consistent en tendances et en sentiments et appartiennent au côté affectif ou émotionnel de notre nature; les autres consistent en croyances et en idées et sont du domaine de l'intelligence. Les uns et les autres composent ce qu'on a appelé le sens moral ou la conscience morale, sorte de morale infuse et confuse qui suffit à la plupart des hommes, en dehors de toute science et de toute culture, et qui joue dans leur vie morale a peu près le même rôle que le sens commun dans leur vie intellectuelle. (33)

Wie die Begriffe «sens morale» und «conscience morale» anzeigen, tritt der normative Anspruch, den die Moral an die Gesellschaft stellt, allgemein hinter ihre identitätsbildende Funktion zurück. Der angespro-

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Thomas Luckmann, Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz. In: Identität, ed. Odo Marquard et K.-H. Sierle (Poetik und Hermeneutik VIII), München: Fink 1979, p. 297. Grand Dictionnaire du XIX e siècle, tome XI, op. cit., p. 539La grande Encyclopédie - Inventaire raisonné des sciences, des lettres et des arts par une société de savants et des gens de lettres, ed. A. Berthelot, Bd. XXIV, p. 293-

chene Paradigmenwechsel in der Bestimmung von 'Moralistik' vollzieht sich also parallel zu einer spezifischen Bedeutungsverschiebung von 'morale', die nicht länger im Rahmen sozial-normativer Theoriebildung, sondern auf der Ebene allgemeiner Subjektkonstitution definiert ist. Auf dieser freilich lassen sich keine normativen Ansprüche formulieren, denn der Beschreibung personaler Identität fehlt die hierzu notwendige Allgemeinheit: in diesem Rezeptionshorizont gehen die moralistischen Intentionen vollständig in der Deskription auf. Dies zeigt sich u.a. darin, daß der 'Grand Dictionnaire' nur eine durch Lustgewinn motivierte Rezeption als den moralistischen Texten adäquat beschreibt: «Ils (les trop rares amateurs de prose élégante, F.W.) écouteront avec plaisir cette spirituelle musique qui plaît aux oreilles délicates.»34 £>je Möglichkeit einer normativen Interpretation moralistischer Werke wird nicht mehr reflektiert. Für den Status und die Definition der Moralistik im ästhetischliterarischen Gesamtzusammenhang hat der aufgezeigte Paradigmenwechsel entscheidende Konsequenzen: zum einen gewinnt diese Literaturform an ästhetischer Legitimität - ist doch die literarische Bearbeitung von Subjektivität oder Innerlichkeit spätestens seit der Romantik ästhetisch rehabilitiert^ . zum anderen öffnet sich der Begriff einem historisch breitgefächerten Autorenspektrum, das von Hesiod über Plutarch und Cicero bis zu Vauvenargues und JeanJacques Rousseau reicht, auch wenn sich letzterer - wie seine oben zitierte Stellungnahme belegt - strikt gegen eine solche Zuordnung verwahrt hätte. Für das 17. Jahrhundert werden im 'Grand Dictionnaire' als Beispiele Pascal und La Rochefoucauld g e n a n n t . D i e inhaltliche Fixierung der moralistischen Schriften auf das Subjekt hindert den 'Grand Dictionnaire' indes nicht daran, verschiedentlich auch auf ihre sozialnormativen Qualitäten hinzuweisen, so beispielsweise im Hinblick auf die 'Essais' von Montaigne, die als «anziehende moralische Handbücher» vorgestellt w e r d e n . D e r Argumentation 34 35

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Grand Dictionnaire du XIX e siècle, tome XI, op. cit., p. 545. In diesem Zusammenhang sei nur kurz auf die 'Sozialgeschichte der Kunst und Literatur' von Arnold Hauser hingewiesen, der die «Verweisung des Individuums auf sich selbst» (Cf. Id., Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München: Beck 1953, p. 698) als eine zentrale Innovation romantischer Literatur beschreibt. - Ähnlich argumentiert auch Wolfram Krömer, der in seiner im übrigen etwas diffusen Kurzdarstellung über 'Die französische Romantik' neben Individualismus und Ich-Bezogenheit die offen subjektive Aussage als kennzeichnende Elemente der Romantik anführt (Cf. Id., Die französische Romantik, (Erträge der Forschung, Bd. 38), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1975, p. 49, p. 74). Cf. Grand Dictionnaire du XIX e siècle, tome XI, op. cit., p. 545. Cf. ib.

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liegt der bereits angesprochene Zusammenhang von personaler Identität und gesellschaftlicher Praxis zugrunde, deren wechselseitige Vermittlung eine isolierte Betrachtung von Subjektivität als nicht sinnvoll erscheinen läßt, jedoch wird dieser nicht reflektiert. Der Doppelcharakter moralistischer Literatur, einerseits soziale Normen zu diskutieren, andererseits Identität zu entschlüsseln, ändert aber nichts daran, daß sich der Erwartungshorizont und das Erkenntnisinteresse der Kritik des 19. Jahrhunderts im wesentlichen auf das Subjekt verschoben haben. Für die historische Begriffebestimmung von Moralistik zieht diese Wendung auf das Subjekt einen grundsätzlich veränderten Interpretationshorizont moralistischer Texte nach sich, die nunmehr als Schilderungen subjektiver Befindlichkeit gelesen werden und Lehrhaftes nur noch beiläufig mit sich führen. Der normative Aspekt ist für den Rezeptionsprozeß nicht mehr konstitutiv. Notwendig erweitert sich damit die Zahl der unter dem Begriff subsumierten Autoren, andere, allein auf moralische Didaktik bezogene Werke fallen hingegen heraus. Hinter der angedeuteten Verschiebung des Erkenntnisinteresses verbirgt sich ein sehr viel umfassenderes Problembewußtsein, das auf einen Paradigmenwechsel in der literarischen Deutung lediglich hinweist - und hier nur beiläufig angesprochen werden kann. Während die Enzyklopädisten die moralische Diskussion unter dem Vorzeichen gesellschaftlicher Veränderungen im Sinne eines umfassenden Wertewandels führen und der Literatur aufgrund ihrer diskursiven Defizite lediglich vermittelnde, nicht jedoch kritische Funktionen übertragen, problematisieren der 'Grand Dictionnaire' und andere Kritiker des 19- Jahrhunderts die Stellung des Subjekts im gesamtgesellschaftlichen Kontext und weisen der Literatur im allgemeinen und der Moralistik im besonderen diesbezügliche Erkenntnisfunktionen zu. Während die Moral im 18. Jahrhundert vornehmlich als gesellschaftliches Ordnungsprinzip diskutiert wird, das den intersubjektiven Verkehr regelt, insistiert das 19- Jahrhundert auf der wechselseitigen Vermittlung von moralischen Normen und Subjektivität, die, ausgehend von letzterer, erschlossen werden soll. Mit anderen Worten: Bezieht sich die Diskussion der Aufklärung auf die objektive Seite der Moral, d.i. die Verhaltensnorm, so argumentiert die postromantische Definition vom Subjekt, d.h. vom individuellen Bewußtsein, her. Unter dem literarischen Paradigma der Identität, die seit der Romantik als problematisch empfunden wird und zum primären Gegenstand literarischer Auseinandersetzung avanciert, wird die Moralistik einerseits ästhetisch rehabilitiert, andererseits jedoch begrifflich 20

unscharf, da sie einen Werkekanon formuliert, der antike Literatur ebenso umfaßt wie zeitgenössische Autoren und - abgesehen von einem inhaltlichen Kriterium ( conditio bumanä) - nicht näher differenziert wird. Die Forschungssituation zur französischen Moralistik im 20. Jahrhundert ist durch das Nebeneinander von verschiedenen Erkenntnisinteressen bestimmt, die die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion moralistischer Texte ebenso aufnehmen wie die nach der Struktur personaler Identität. Hinzu kommt, daß die Frage- und Problemstellungen beider Ansätze sich weiterentwickelt und präzisiert haben und die normen- und identitätsbezogenen Interpretationen sich oftmals überschneiden, wie es z.B. im Aufsatz 'Qu'est-ce qu'un moraliste?' von Louis van Delft anschaulich wird. Nachdem van Delft zunächst das psychologische Erkenntnisstreben der Moralisten mit den Worten würdigt, «presque tous les moralistes classiques ont estimé que la nature humaine était, tout entière, susceptible d'être appréhendée par l'analyse»^8 postuliert er wenige Zeilen später ein normatives Wirkungsinteresse, das an die aufklärerische These der Normenreflexion erinnert: «Cette tradition a rendu plus de services à l'éducation morale, à laquelle elle a fourni des normes, qu'à la création littéraire, qu'elle a contrainte à chercher son renouvellement dans la seule forme.»39 Andere Autoren, wie Harald WentzlaffEggebert, sehen in der Moralistik sogar eine Vorform der modernen Humanwissenschaften Anthropologie, Psychologie, Soziologie und Politologie,"*0 während Christoph Strosetzki um den Beweis bemüht ist, daß die moralistischen Werke eine «implizite Ethik»"*1 enthalten, womit er die funktional orientierte Forschungstradition fortschreibt und zu einem vorläufigen Ende führt. - J e nach zugrundegelegtem Erkenntnisinteresse tendiert die psychologisch ausgerichtete Forschung mehr dazu, den Moralisten eine deskriptive Grundhaltung zuzuschreiben, während die gesellschaftstheoretisch orientierte Lesart dazu neigt, ein normatives Wirkungsinteresse zu postulieren. Zwar wirken die traditionellen Paradigmen in der Auseinandersetzung mit Moralistik auch im 20. Jahrhundert fort und gehen in

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Louis van Delft, Qu'est-ce qu'un moraliste?, op. cit., p. 107. Ib., p. 108. Cf. Harald Wentzlaff-Eggebert, Gesellschaftsbezogene Reflexion und verweigerte Gattungsbildung. Versuch einer Funktionsbestimmung moralistischer Texte. In: Bildung und Ausbildung in der Romania, Bd. 1: Literaturgeschichte und Texttheorie, ed. R. Kloepfer, München: Fink 1979, p. 137sq. Christoph Strosetzki, Moralistik und Gesellschaftliche Norm. In: Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Bd. 1: Von Rabelais bis Diderot, ed. Peter Brockmeier et H.H. Wetzel, Stuttgart: Metzler 1981, p. 215. 21

psychologische bzw. soziologisch-wirkungsästhetische Fragestellungen ein, doch gewinnt für die Begriffebestimmung von 'Moralistik' und für den daraus abgeleiteten Werkekanon ein neuer Aspekt an Bedeutung: die Form. Die moralistische Präferenz offener literarischer Formen wie Essay, Maxime und Portrait fuhrt in der Forschung dieses Jahrhunderts nicht selten zu einer weitgehenden Identifizierung von Moralistik und aphoristischen Genera. Im Bereich der deutschen Literaturwissenschaft steht für diese Entwicklung in erster Linie der Name Fritz Schalk, dessen gattungstheoretische Arbeiten den Aphorismus genetisch als «Form, die in Frankreich entsprungen i s t » " * definieren und darauf hinweisen, daß zwar die Werke von Pascal, La Rochefoucauld, La Bruyère, Vauvenargues, Montesquieu, Chamfort, Rivarol, Jouflroy, Joubert und P. Valéry schon oft zum Gegenstand kunstkritischer Betrachtungen gemacht worden seien, daß jedoch «ihr Inhalt als aphoristischer bisher verborgen geblieben» s e i . D e r Anspruch und das Pathos einer innovativen Darstellung und Interpretation moralistischer Werke, der sich in Schalks Ausführungen dokumentiert, deutet auf einen neuerlichen Paradigmenwechsel hin, in dessen Folge die aphoristischen Gattungen in den Vordergrund treten und die Texte von ihrer Form her entschlüsselt werden sollen. Der Paradigmenwechsel, der sich bei Fritz Schalk bereits ankündigte, wird von namhaften Romanisten nachvollzogen, wie z.B. von Gerhard Hess, der in einem Aufsatz über 'Guicciardini und die Anfänge der moralistischen Literatur' die Auffassung vertritt, daß die Inhalte und die Ordnung moralistischer Werke weniger wichtig seien, und weiter ausfuhrt: «Worauf es ankommt, läßt sich am ehesten an der Struktur (oder Form) der Aphorismen e r k e n n e n . » 4 4 Für Hugo Friedrich gewinnt der formale Aspekt ebenfalls an Bedeutung, wenn er in einem Nachwort zu Graçians 'El Criticon' unterstreicht, daß die Moralistik im 16. und 17. Jahrhundert «sich auf den Essay und den Aphorismus konzentriert.»"*5 Durch die hier skizzierte Entwicklung werden die Begriffe Aphorismus und Moralistik in der Forschung des 20. Jahrhunderts beinahe austauschbar. Auf Seiten des Werkekanons führt dies einerseits zur apriorischen Ausgrenzung solcher Autoren, die auf diskursiv-geschlossene Formen zurückgreifen, 2

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Fritz Schalk, Das Wesen des französischen Aphorismus. In: Der Aphorismus - Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung, (Wege der Forschung, Bd. 356), ed. Gerhard Neumann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, p. 76. Ib. Gerhard Hess, Guicciardini und die Anfänge der moralistischen Literatur, op. cit., p. 18. Hugo Friedrich, zit. n. Jürgen von Stackelberg, Französische Moralistik im europäischen Kontext, op. cit., p. 15sq.

andererseits hat die formale Definition eine extensive historische Auslegung des MoralistikbegrifFs zur Folge. Fritz Schalk ist es sogar möglich, Pascal und La Rochefoucauld ebenso unter den Begriff zu fassen wie Paul Valéry. Auf der Grundlage des formalen Paradigmas ist der Moralistikbegriff somit epochenübergreifend konstruiert und kann bis in die Gegenwartsliteratur hinein verlängert werden. Auf die Frage nach den historischen Gründen für die offensichtliche Beliebtheit aphoristischer Darstellungstechniken im 17. Jahrhundert sind von den oben genannten Romanisten unterschiedliche Antworten gegeben worden, die sich auf wirkungsästhetische, erkenntnistheoretische und methodische Aspekte beziehen. - Schalk bestimmt die Relation von Text und Rezipient zum Ausgangspunkt seiner Argumentation und thematisiert die Verwendung von Aphorismen im Zusammenhang wirkungsästhetischer Vermittlungsprobleme. Hier sieht Schalk vor allem die besondere Qualität des Aphorismus, den Leser zu bannen und festzuhalten, «weil der Autor die Kraft seiner Überlegung in einem Satz so gesammelt hat, daß wir gleichsam zwischen die Zeilen, zwischen die Sätze sehen, um die übersprungene Begründung zu finden.»46 Die offene Form des Aphorismus wird als textstrategisches Kunstmittel aufgefaßt, das wesentlich dazu bestimmt ist, die Reflexion des Lesers anzuregen. Ahnlich argumentierte bereits La Rochefoucauld, der in den 'Réflexions diverses' hinsichtlich des Konversationsverhaltens die Empfehlung aussprach «à n'épuiser pas les sujets qu'on traite, et à laisser toujours aux autres quelque chose à penser et à dire.»"*7 Auch in den 'Réflexions diverses' wird die offene Form der Rede aus wirkungsästhetischen Gründen favorisiert. Die These einer literarischen Instrumentalisierung aphoristischer Formen im Sinne textstrategischer Verfahren gewinnt damit zumindest in bezug auf La Rochefoucauld an Plausibilität. Ganz anders begründet Gerhard Hess das vermehrte Auftreten aphoristischer Formen im 17. Jahrhundert: Er stellt den Verlust gesellschaftlicher Totalitätserfahrung in den Vordergrund und qualifiziert die aphoristische Analyse als die «dem Gegenstand paradoxer Lebensvielfalt angemessene Aussage.»^8 Angesichts einer als unüberschaubar und in sich widersprüchlich erfahrenen Lebenspraxis versichert sich der Moralist einer Darstellungstechnik, die diese der Form nach in sich aufnehmen kann. Auf der Ebene der Subjektbeschreibung eröffnet das

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Fritz Schalk, Das Wesen des französischen Aphorismus, op. cit., p. 88. La Rochefoucauld, Réflexions diverses. In: Id., Œuvres complètes, ed. L. Martin-Chauffier, Paris: Pléiade 1964, p. 510. Gerhard Hess, Zur Entstehung der 'Maximen' La Rochefoucaulds. In: Id., Gesellschaft - Literatur - Wissenschaft, op. cit., p. 98.

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Genus durch seinen Widerspruchscharakter und seine Tendenz zur Antithetik die Möglichkeit einer adäquaten Darstellung des vielschichtigen und komplexen Individuums, dem das besondere Interesse moralistischer Autoren gilt. In beiden Fällen erscheint der Aphorismus als formales Äquivalent zum Erkenntnisgegenstand und wird in bezug auf diesen gerechtfertigt. Die von Hugo Friedrich vorgetragene Hypothese zur Verwendung aphoristischer Formen ordnet den Moralisten einen bestimmten Erkenntnismodus zu, der sich jeder Systembildung verweigert. Er beschreibt die programmatische Konzentration auf das Partikulare und Singulare als folgerichtige Konsequenz einer Grundhaltung, die jeder induktiven Abstraktion skeptisch gegenübersteht und den Gedanken einer Erkenntnis von Totalität a priori verwirft. Friedrich fuhrt damit die aphoristische Form auf eine idiographische Erfahrungsmethode zurück, die er als eine immer wieder auf das andersartige Einzelne gerichtete Beobachtung des Moralisten definiert, welche in diskursiver Form nicht darstellbar ist, der jedoch die aphoristischen Darstellungs- und Ausdrucksformen der Struktur nach entgegenkommen."^ In Form einer lockeren Aphorismensammlung kann der Moralist unverbundene Erfahrungen aneinanderreihen, ohne logische Schlußfolgerungen ziehen oder Widersprüche auflösen zu müssen. Wie schon bei Hess, wird auch hier die literarische Form aus dem dargestellten Gegenstand abgeleitet, jedoch soll der Autor nicht über die Struktur des Objekts selbst, sondern über den Erkenntnisweg an die Form des Aphorismus verwiesen sein. Unabhängig von der jeweiligen Begründung kann die Errichtung eines formalen Paradigmas als Konsequenz objektiver literaturgeschichtlicher Entwicklungstendenzen beschrieben werden, die im Zusammenhang mit dem Autonomiestatus von Kunst und Literatur in der Moderne stehen. Insofern als vorausgesetzt werden darf, daß sich der Kunst- und Literaturbegriff seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend von der gesellschaftlichen Praxis distanziert und als eine Institution, die von unmittelbar gesellschaftsbezogenen Funktionen abgelöst ist, in steigendem Maße Autonomie in Anspruch nimmt, verlieren die ästhetischen Inhalte allmählich an Bedeutung. Weil die autonomieästhetisch orientierten Interpreten und Literaturkritiker des 19-Jahrhunderts davon ausgehen, daß Kunst und Gesellschaft wesentlich über ästhetische Inhalte vermittelt sind, versuchen sie dem Anspruch einer Trennung von Kunst und Lebenspraxis dadurch gerecht 49

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Cf. Hugo Friedrich, Überblick über den Gang der italienischen Literatur. In: Id., Romanische Literaturen. Aufsätze, Bd. II (Italien u. Spanien), Frankfurt/M.: Klostermann 1972, p. 25sq.

zu werden, daß sie die Kategorie Inhalt nach Möglichkeit eskamotieren und durch den Aspekt formaler Konstruktion ersetzen. «Die Kunst», schreibt Joachim Verspol in einer Untersuchung zur Autonomie der Kunst in der Moderne, «kann folglich auf inhaltliche Momente verzichten; der Verzicht fuhrt zum Formalismus.»50 Auch für Roland Barthes ist die Moderne durch einen «fétiche de la forme travaillée»51 gekennzeichnet, den er an Baudelaire und Gautier historisch entfaltet und als epochentypisch beschreibt. Der Umstand, daß gerade auch formale ästhetische Konstruktionen stets gesellschaftlich vermittelt sind, ist in unserem Zusammenhang der weniger wichtige Aspekt und soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Aufschlußreich ist hingegen, daß sowohl die Autoren als auch die Literaturkritik auf diese Entwicklung dadurch reagieren, daß sie den Interpretationsschwerpunkt vom konkreten Inhalt auf die Form verschieben und insbesondere Gattungsfragen diskutieren.52 Dies gilt sowohl für die künstlerische Produktion, die ihr Hauptaugenmerk verstärkt auf den Umgang mit literarischen Techniken und Verfahren verlagert, als auch für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Literatur, die sich etwa mit der Entwicklung des Russischen Formalismus oder auch des New Criticism ankündigt. Natürlich kann die Entstehung des Formprimats moderner Kunst an dieser Stelle nur unzureichend skizziert werden und ist nicht das eigentliche Thema dieser Arbeit, doch lassen sich bereits von hier aus Rückschlüsse auf die Genese des für unsere Frage relevanten formalen Paradigmas ziehen, dem auch die moderne Begriffebestimmung von 'Moralistik' folgt. Für die Ableitung des gegenwärtigen Begriffe von Moralistik bedeutet diese übergreifende literaturgeschichtliche Tendenz, daß seine Definition zunehmend über die formale Qualität aphoristischer Darstellungstechniken geleistet wird. Infolge seiner autonomieästhetischen Abkunft liefert das formale Paradigma jedoch nicht nur Kriterien zur Begriffebestimmung - es stellt zugleich auch die Kategorien einer möglichen Kritik bereit, die insbesondere die höfische Moralistik betreffen. Zur Verdeutlichung dieses Sachverhalts möchte ich nochmals auf die bereits zitierte Stellungnahme von van Delft zurückkommen, der die Bedeutung literarischer Moralistik jener Epoche wie 50

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Hans Joachim Verspohl, Autonomie und Parteilichkeit: 'Ästhetische Praxis' in der Phase des Imperialismus. In: Autonomie der Kunst. Zur Genese und Kritik einer bürgerlichen Kategorie, ed. Michael Müller et al., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, p. 211. Roland Barthes, Le degré zéro de l'écriture suivi de Nouveaux essais critiques, Paris: Editions du Seuil 1953, p. 48. Cf. hierzu Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, p. 25.

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folgt einschätzt: «Cette tradition a rendu plus de services à l'éducation morale, à laquelle elle a fourni des normes, qu'à la création littéraire, quelle a contrainte à chercher son renouvellement dans la seule f o r m e . » 5 3 Ahnlich der aufklärerischen Argumentation, die die Normenreflexion zum Anlaß nahm, moralistische Werke insgesamt ästhetisch auszugrenzen, zeigt sich auch bei van Delft die Tendenz, ästhetische Qualität und sozialnormative Reflexion negativ aufeinander zu beziehen in dem Sinne, daß sich nur solche Werke ästhetischer Wertschätzung erfreuen dürfen, die sich bewußt von allen gesellschaftlichen Bezügen lossagen. Wenn er also die vermeintlichen literarischen Defizite unmittelbar aus der didaktischen Intention ableitet, behauptet er nicht nur ein punktuelles Mißlingen, sondern die prinzipielle Unvereinbarkeit von ästhetischen und moralischen Zwecken. Vor dem Hintergrund, daß sich Kunst und Literatur in der Moderne als gesellschaftlich autonomer Teilbereich herausgebildet haben, ist die Ausgrenzung einer Literaturform, die sich explizit auf Gesellschaft bezieht, ebenso folgerichtig wie historisch determiniert. Determiniert insofern, als van Delft und andere ihre autonomieästhetischen Voreinstellungen unreflektiert in die literarische Wertung einfließen lassen und apriorische Urteile fällen, die im einzelnen nicht begründet werden. Darüber hinaus steht van Delfts Urteil exemplarisch für eine zweite grundsätzliche Kritik an den Moralisten, die ihnen die Fähigkeit zur composition abspricht. So setzt seine Kritik, derzufolge die Moralisten ihre literarische Zuflucht in nur einer Form gesucht hätten, die als Aphorismus zu identifizieren ist, die Definition des formalen Paradigmas unmittelbar voraus und leugnet alle diskursiven oder narrativen Formen moralistischer Literatur. Auf diese Weise schafft sich das formale Paradigma einen innovativen Werkekanon, der die traditionellen Zurechnungen früherer Paradigmen teilweise susptendiert. Gerade die vielfach zu beobachtende Neigung der Moralisten zu kleinen literarischen Formen erweckt häufig die Kritik eines überwiegend an organischen Kunstwerken geschulten Publikums, das die knappen, oft zusammenhanglosen Sentenzen, Maximen oder Reflexionen nur als Ausdruck eines ästhetischen Unvermögens der Autoren deuten kann. In diesem Sinne urteilen beispielsweise A. Lagarde und L. Michard über die 'Caractères' von La Bruyère: Très d o u é pour l'observation minutieuse et le travail du style, La Bruyère manque d'esprit d e synthèse. Son livre nous offre une série

53

26

Cf. Anmerkung 39-

d'aspects de L'homme et de la société, non pas une thèse d'ensemble. De même, si les chapitres se groupent en général selon certaines affinités discernables, leur ordre ne correspond pas à un plan d'ensemble. (54)

In der Stellungnahme wird deutlich, daß Lagarde und Michard den Maßstab des organischen, in sich stimmigen und vor allem geschlossenen Kunstwerks an die 'Caractères' anlegen, der als normative ästhetische Prämisse notwendig zur Disqualifizierung dieses Werks führen muß. Damit wird die differenzierte Analyse der Ausdrucksmöglichkeiten, die der Gattung des Portraits zur Verfügung stehen, dem normativen Anspruch klassischer Ganzheit geopfert. Im Gegensatz zum Autonomiepostulat, das in dieser Form erst im 20. Jahrhundert an die Moralistik herangetragen wird, ist der Vorwurf mangelnder Strukturiertheit ein nahezu durchgängiger Topos der Kritik an moralistischen Werken geworden.55 Er gewinnt gerade unter dem formalen Paradigma an Bedeutung, weil er infolge der formalen Definition des Begriffe nicht nur auf einzelne Werke, sondern auch auf die Moralistik als Ganzes appliziert werden kann. Wie wir gesehen haben, figuriert der Begriff Moralistik in der Literaturgeschichte unter verschiedenen Paradigmen, die ihn jeweils unterschiedlich konstituieren und bewerten. Dabei konnten die historischen Begriffsbestimmungen auf verschiedene Paradigmen zurückgeführt werden, die neben der Funktion literarischer Werke auf die Konstitution von Identität sowie auf die (gattungsmäßige) Form rekurrieren. In der Rekonstruktion der einzelnen Paradigmen treten die mit ihnen gesetzten Forschungsschwerpunkte im Bereich der Moralistik deutlich hervor: Für das 17. Jahrhundert lassen sich die Schwierigkeiten der Begriffebildung einerseits auf die definitorische Einbindung der Moralistik in einen religiös-jansenistischen Kontext zurückführen (Cf. Furetière), der die literarisch orientierte Diskussion von vornherein unterbinden muß, andererseits steht das normative

54 55

André Lagarde/L. Michard, XVIIe siècle, Paris: Bordas 1970, p. 396. Bereits der anonyme Verfasser des Vorworts zur ersten Auflage der Maximen La Rochefoucaulds aus dem Jahre 1665 (vermutlich La Chapelle-Bessé) kommt auf den Vorwurf mangelnder Strukturiertheit zu sprechen und entschuldigt den Autor mit der Begründung, daß dieser nur deshalb die Regeln des klassischen discours continu mißachtete, weil er die Maximen zur eigenen Erbauung und nicht für die Öffentlichkeit niedergeschrieben habe. Zur Ehrenrettung La Rochefoucaulds stellt er zusätzlich fest: «Ce désordre néanmoins a ses grâces, et des grâces que l'art ne peut imiter» (Cf. La Chappelle-Bessé, Discours sur les réflexions ou sentences et maximes de morale. In: La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., p. 388).

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Antikebild einer begrifflichen Fixierung innovativer Werke im Wege. So ist erst die Kritik des 18. Jahrhunderts in der Lage, einen Begriff von Moralistik zu entwickeln, der unmittelbar von deren offensichtlicher Beziehung auf die Gesellschaft ausgeht. Allerdings schreibt der unter dem funktionalen Paradigma abgeleitete Begriff der Moralistik einen normenreflexiven Grundzug zu, welcher aufgrund der vorausgehenden Funktionsbestimmung (Normenvermittlung) notwendig zur ästhetischen Ausgrenzung führt. - Die ästhetische Rehabilitierung der Moralistik gelingt erst im 19- Jahrhundert, das die identitätsstiftende Qualität von Moral entdeckt und moralistische Werke unter dem Aspekt der Schilderung subjektiver Befindlichkeit neu rezipiert. Als Aussage über das Wesen des Menschen oder als Selbstbeobachtung erfahrt der Begriff unter dem Identitätsparadigma romantischer Literaturkritik eine extensive historische Auslegung, die antike Autoren ebenso einschließt wie romantische, denen allesamt rein deskriptive Interessen unterstellt werden. - Über literaturpsychologische und formalästhetische Fragestellungen hinweg, welche die aufgezeigten Traditionen bis in die Gegenwart hinein fortschreiben, folgt die heutige Begriffsbestimmung dem mit dem Autonomiestatus in der literarischen Moderne hervorgetretenen formalen Paradigma, das die aphoristischen Darstellungstechniken zum zentralen Differenzierungskriterium von Moralistik bestimmt. Infolge des autonomieästhetischen Hintergrunds einer Kritik, die dem formalen Paradigma verpflichtet ist, führen die Vorbehalte gegenüber einer Literaturform, die auf die Gesellschaft bezogen ist, erneut vielfach zu einer ästhetischen Degradierung von Moralistik, deren problematischer literarischer Status nur unter dem Identitätsparadigma teilweise aufgehoben werden konnte.

1.1 Probleme der Korpusbildung Die Ableitung des Moralistikbegriffs unter dem formalen Aspekt aphoristischer Gattungen stellt die Kritik vor spezifische Probleme der literaturgeschichtlichen Periodisierung und der Korpusbildung. Wenn als moralistisch im engeren Sinne nur diejenigen Werke bezeichnet werden können, die in literarisch offenen Formen, wie Maxime oder Portrait, verfaßt sind, so reduziert sich das zu bearbeitende Textkorpus vornehmlich auf Autoren der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Wie Oskar Roth feststellt, sind die Genera des Portraits und der Maxime erst um die Jahrhundertmitte im Umkreis mondäner Salons entwickelt worden und somit vor 1650 in der literarischen Praxis nicht nachweisbar. 56 Diese Beobachtung wird durch Harald WentzlaffEggebert bestätigt, der, ausgehend von der Bibliographie Raymond 28

Toinets zur französischen Moralistik,57 «bezeichnenderweise erst ab 1663» mehrere Werke nachweisen kann, «die den Begriff 'maxime' im Titel fuhren.»58 Mit der Verengung des Moralistikbegriffe auf aphoristische Formen verkürzt sich also zugleich der Untersuchungszeitraum auf die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Insbesondere der neueren Forschung bereitet diese Zurechnung Probleme, weil die auf solche Weise bestimmte Moralistik - abgesehen von einzelnen antiken Vorläufern - weitgehend traditionslos erscheint und über das formale Paradigma zwar bis in die Literatur des 20. Jahrhunderts, etwa bis Paul Valéry, weiterverfolgt werden kann, selbst jedoch ohne Vorläufer zu sein scheint. Die angesprochenen Schwierigkeiten der Korpusbildung werden gerade in der neueren Moralistikforschung virulent. Während die traditionelle Forschung sich auf einen festen Bestand kanonisierter Autoren beschränkt, vornehmlich auf solche aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die sie vergleichend interpretiert, sieht sich Christoph Strosetzki gezwungen, seine allgemeine Einfuhrung in die Moralistik, und das heißt in aphoristische Werke und Autoren, um die Darstellung von sogenannten "Erziehungsbüchern"59 zu erweitern, die diesen nicht allein historischen Kontext geben, sondern durch inhaltliche Parallelen in einem bestimmten Traditionszusammenhang mit ihnen stehen. Mit der Begründung, «Veränderungen seit der ersten Jahrhunderthälfte»^0 verdeutlichen zu wollen, rechtfertigt Strosetzki, daß er die Werke eines Autors wie Nicolas Faret im Kontext einer allgemeinen Einführung in die Moralistik interpretiert. Indem er den Begriff "Erziehungsbücher" einfuhrt, versucht er, den formal abgeleiteten Moralistikbegriff zu erhalten und ihm zugleich einen erweiterten Traditionsrahmen zu geben. Die spezifischen Probleme dieses Unterfangens sind evident: Der normative Anspruch der Werke, die unter dem Begriff "Erziehungsbücher" subsumiert sind, ist dem formalen Paradigma der modernen Begriffsbestimmung von Moralistik ebenso inkommensurabel, wie es deren zumeist geschlossen-diskursive Form ist. 56 57 58 59 60

Oskar Roth, Die Gesellschaft der honnêtes gens. Zur sozialethischen Grundlegung des honnêteté-ldeals bei La Rochefoucauld, Heidelberg: Winter 1981, p. 9Raymond Toinet, Les écrivains moralistes au XVIIe siècle. In: Revue d'histoire littéraire de la France 23 (1916), p. 570-610; 24 (1917), p. 296306 et 656-675; 25 (1918), p. 310-320 et 655-671; 33 (1926), p. 395-407. Harald WentzlafF-Eggebert, Réflexion als Schlüsselwort in La Rochefoucaulds Réflexions ou sentences et maximes morales. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 82/3 (1972), p. 227. Christoph Strosetzki, Moralistik und gesellschaftliche Norm, op. cit., p. 180. Ib., p. 180sq.

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Von vergleichbaren Schwierigkeiten mit dem traditionellen Textkorpus zeugt auch ein unlängst erschienener Aufsatz von Rolf Reichardt über die Wandlungen des honnêteté-\âea\s. Im Einklang mit Hugo Friedrich und Jürgen von Stackelberg stellt er fest, daß «die Moralistik mehr deskriptiv» sei; er muß jedoch im gleichen Satz eingestehen, daß «die Literatur zum honnête homme mehr normativ akzentuiert ist.» 61 Reichardt folgt damit dem aus der Autonomieästhetik abgeleiteten Postulat, wonach der Moralist keine normativen Vermittlungsabsichten haben darf. Der Gegensatz von 'Moralistik' und 'Literatur zum honnête homme', der notwendig aus dieser Theorie entspringt, erweist sich für die Forschung insofern als problematisch, als diejenigen Werke, die unter dem formalen Paradigma als moralistische gelten, thematisch zumeist um die Definition des honnête homme gruppiert sind. Der begriffliche Gegensatz von moralistischen Autoren und den Verfassern von Erziehungsbüchern, wie ihn Strosetzki formuliert, hat die gleiche Struktur wie die aporetische Differenzierung von 'Moralistik' und 'Literatur zum honnête homme' bei Reichardt: beide indizieren, daß der formal abgeleitete Begriff von Moralistik aufgrund von zahlreichen inhaltlichen Überschneidungen einer geschlossen-diskursiven Literaturform normativen Anspruchs mit dem aphoristisch-deskriptiven Textkorpus zu eng gefaßt ist. Die Probleme der Korpusbildung resultieren aus der dualistischen Forschungstradition von inhaltlich-literatursoziologischen Fragestellungen einerseits (hier vertreten durch das funktionale- und das Identitätsparadigma), und dem gattungstheoretischen Problemhorizont andererseits (hier repräsentiert durch das formale Paradigma) 6 2 Einen Ausweg aus dem Dilemma von literarischer Traditionslosigkeit und von inhaltlichen Parallelen zu den Werken, die in etwa zeitgleich erschienen sind, weist Louis van Delft in seiner grundlegenden Arbeit zur Bestimmung des moraliste classique. In einem Überblick der Werke von den Anfangen des Humanismus bis zum Ende des 17. Jahrhunderts stellt er fest: «A partir des années 1640-1650, le traité, tel qu'on le trouve chez Lipse, Du Vair, Charron, Grenoille ou Cureau de la Chambre, cède de plus en plus la place à une composition 'ouverte': le portrait, la sentence, le 'caractère' [...] Cette évolu61

62

30

Rolf Reichard, Wandlungen des Honnèteté-Ideals vom Absolutismus zur Französischen Revolution: Zwischenbilanz der Forschung aus sozialhistorischer Sicht. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1987), p. 184. Auch Harald Wentzlaff-Eggebert betont die Notwendigkeit, Kriterien zu finden, nach denen ein Text als moralistisch qualifiziert werden kann (Cf. Wentzlaff-Eggebert, Lesen als Dialog. Französische Moralistik in Texttypologischer Sicht, Heidelberg: Winter 1986, p. 361).

tion, bien entendu, n'est pas l i n é a i r e . V a n Delft betrachtet die aphoristische Form nicht langer als eine Kategorie der Begriffsbestimmung, sondern er bewertet sie als ein Produkt literarischer Evolution. Mit der Feststellung eines moralistischen Formenwandels überwindet der Autor das formale Paradigma und eröffnet zugleich die Möglichkeit, umfassende Traditionszusammenhänge zu rekonstruieren. Angesichts dieser objektiven Schwierigkeiten mit der offenbar zu eng gefaßten Ableitung des moralistischen Werkekanons unter gattungspoetischen Gesichtspunkten versucht diese Arbeit, das zu bearbeitende Textkorpus als Summe der Bestimmungen zu konstruieren, die unter den verschiedenen Paradigmen gewonnen wurden. In der Zusammenschau der unter funktionalen, identitätsbildenden und formalen Kriterien als moralistisch bezeichneten Schriften entsteht eine umfassende Textsammlung, die ohne eine kategoriale Ausgrenzung bestimmter Einzelwerke oder Autoren die Rekonstruktion von innermoralistischen Entwicklungstendenzen erlaubt. Über die Suche nach dem Zusammenhang von aphoristischen und diskursiven Texten vergleichbarer Fragestellungen hinaus können die Erkenntnismöglichkeiten und -grenzen des formalen Paradigmas bestimmt werden. Unter dieser methodischen Prämisse ist die Frage nach der literarischen Gattung keine kategoriale Vorentscheidung zur Bildung eines Textkorpus, sondern - im Rahmen der Feststellung eines historischen Formenwandels - selbst Thema der Untersuchung. Eine umfassende Textsammlung, welche die unterschiedlichen Postulate der historischen Paradigmen gleichmäßig berücksichtigt und sich nicht ausschließlich auf die aphoristische Form beruft, steht uns mit Raymond Toinets Bibliographie zur Verfügung, die dieser von 1916 bis 1926 erstellte. 64 Obwohl die Werke nach subjektiven Vorlieben und methodisch wenig stringenten Kriterien ausgewählt sind, hat seine Aufzahlung den Vorzug, über das formale Paradigma hinauszugehen und einen übergreifenden Textkorpus im Sinne unserer methodischen Vorüberlegungen bereitzustellen. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht der literarische Formenwandel von diskursiven zu aphoristischen Gattungen in der Mitte des 17. Jahrhunderts, der innerhalb der Forschung des formalen Paradigmas bislang nicht thematisiert wurde. Auf der Basis eines erweiterten Textkorpus soll versucht werden, den Formenwandel aus inhaltlichen Veränderungen in der moralistischen Theoriebildung zu rekonstruieren und die Erkenntnisgrenzen des formalen Paradigmas aufzuzeigen 63 64

Louis van Delft, Le moraliste classique. Essai de définition et de typologie, op. cit., p. 237. Raymond Toinet, Les écrivains moralistes au XVII e siècle, op. cit.

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Methodisch sollen die zentralen Texte einzelner Autoren in der Reihenfolge ihres Erscheinens untersucht werden, an denen die immanenten Fortschritte moralistischer Denksysteme aufgezeigt werden können. Ziel der Arbeit soll es sein, den innermoralistischen Formenwandel aus den Fortschritten der Theoriebildung selbst zu rekonstruieren und damit den Begriff literarischer Moralistik historisch zu präzisieren.

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TeU II

1. Frühmoralistische Wertungsprobleme: Nicolas Faret und die ambition Im Jahre 1 6 3 0 veröffentlicht ein bis dahin unbekannter königlicher Rat und späteres Gründungsmitglied der Académie Française, Nicolas Faret, den Traktat 'L'honneste homme ou l'art de plaire à la court'. Angeregt von den in Italien und Spanien lebhaft geführten Debatten um die sittlichen Ideale und die inneren Werte der höfischen Gesellschaft, 1 steht Farets Schrift am Anfing einer französischen Literaturtradition, die die bestehenden sozialen Regeln unter dem Stichwort der honnêteté kritisch analysiert und die höfische Lebenspraxis normativ beschreibt. Binnen kurzer Zeit entwickelt sich der Traktat zu einem Standardwerk über höfische Lebensart und wird in unveränderten Auflagen bis in die 60er Jahre hinein immer wieder ediert. 2 Diesen anhaltenden Erfolg verdankt das Werk seiner für das 17. Jahrhundert zukunftsweisenden Konzeption, die eine strukturelle Analyse der allmählich entstehenden absolutistischen Herrschaftszentren mit der 1

2

Nach Auffassung von Hugo Friedrich läßt sich der Ursprung der italienischen Moralistik bis in das 14. Jahrhundert zurückverfolgen. Als untereinander durch die humanistische Tradition verbunden, benennt er Petrarca, Cellini, Cardano, Boccaccio und Bandello als Repräsentanten einer Literaturform, an welche die spanischen und französischen Moralisten unmittelbar anknüpfen konnten (Cf. Hugo Friedrich, Überblick über den Gang der italienischen Literatur. In: Id., Romanische Literaturen. Aufsätze, Bd. II: Italien und Spanien, Frankfurt/M.: Klostermann 1972, p. 25sq). - Auch Fritz Schalk sieht die französische Moralistik trotz ihres spezifischen Gepräges nachhaltig durch «verwandte Formen in Italien und Spanien» beeinflußt (Fritz Schalk (ed.), Die französischen Moralisten. Galiani. Fürst von Ligne. Joubert. Mit einer Einleitung des Herausgebers, Leipzig: Dieterichs 1940, p. V). Sowohl Maurice Magendie als auch Roger Lathuillère heben den großen Erfolg hervor, den der Traktat bei den zeitgenössischen Lesern fand (Cf. Magendie, La politesse mondaine et les théories de l'honnêteté en France au XVII e siècle de 1600 à 1660, Paris 1925, (Réimpression Genève: Slatkine 1970, p. 355 und Lathuillère, La préciosité. Etude historique et linguistique, Bd. I: Position du problème - Les origines, Genève: Droz 1966, p. 551). Tatsache ist, daß der Text in den Jahren 1631, 1634, 1636, 1640, 1656, 1658 und 1660 immer wieder neu aufgelegt und sogar ins Spanische übersetzt wurde. Eben diese Stellung als Standardwerk höfischer Verhaltenscodierung über einen langen Zeitraum hinweg läßt ihn für die Frage nach dem Funktions- und Formenwandel in der französischen Moralistik aufschlußreich werden. Zitiert wird nach der Ausgabe: Nicolas Faret, L'honneste homme ou l'art de plaire à la court (I636), ed. Maurice Magendie, Genève: Slatkine Reprints 1970.

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Absicht verbindet, den Lesern ein auf diese Sozialform zugeschnittenes Verhaltensideal zu vermitteln. Im Sinne dieser zweifachen Funktionsbestimmung stellt Faret das erste Kapitel unter die Überschrift 'Tableau de la cour'. In Form einer synoptischen Übersicht definiert er die konstitutiven Elemente der höfischen Lebenswelt. Dabei gilt seine besondere Aufmerksamkeit der ambition, deren Beschreibung eine Reihe auffälliger Paradoxien und widersprüchlicher Aussagen enthält: Si ce n'est l'Ambition qui compose entièrement les Cours des Princes, on peut dire du moins que c'est elle qui les enfle jusqu'à cette démesurée grandeur, qui fiait bien souvent haïr aux Souverains leur propre gloire, et leur rend quelquefois insupportable la pompe, dont ils sont environnez. Le désir naturel qu'ont tous les hommes d'acquérir des honneurs et des richesses, les engage insensiblement dans cette belle confusion, et s'en treuve peu qui soient assez sages, pour s'empescher d'estre surpris de cette agreable maladie, parmy tant d'objects qui la communiquent. (L'honneste homme, p. 7)

Faret stellt die ambition als einen Grundpfeiler der höfischen Gesellschaft vor, ohne den die zeitgenössische Sozialordnung unweigerlich zusammenbrechen würde. Zugleich macht er sie für die «démesurée grandeur» verantwortlich, die den Herrschern das Dasein häufig unerträglich werden läßt. Die Ambivalenz seines Urteils kommt in den paradoxen Begriffspaaren «belle confusion» und «agreable maladie» zum Ausdruck, mit denen der Autor die ambition einerseits als konstitutives Element der höfischen Gesellschaft rechtfertigt, sie andererseits als ein Handlungsprinzip beschreibt, das die soziale Ordnung latent bedroht. Obwohl sie als Leitbegriff eines gesellschaftlich adäquaten Verhaltens («désir naturel d'acquérir des honneurs et des richesses») maßgeblich zur Legitimation des Normensystems beiträgt, das der Gesellschaft zugrunde liegt, ist sie in bestimmter Hinsicht mit diesem unvereinbar und wird der höfischen Ordnung als Ganzer gefährlich. Die Gefährdung drückt Faret dadurch aus, daß er ein Leben im Zeichen der ambition auf die Dauer für unbefriedigend hält. Von größerer Bedeutung für das ambivalente Urteil ist allerdings das destruktive Moment der ambition, das der Traktat besonders hervorhebt: neben der envie und der avarice zählt Faret die ambition zu denjenigen Eigenschaften «qui troublent tout l'ordre de la société, et violent les plus saintes loix qui s'observent dans le monde» (L'honneste homme, p. 8). Doch damit nicht genug: entsprechend der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem richtet sich die ambition, ebenso wie die envie und die avarice, nicht nur gegen die soziale Ordnung als Ganze, sondern auch gegen das Subjekt, das von dieser beherrscht wird: «Ce sont elles qui inspirent tant de desseins ruineux» (L'honneste homme, 34

p. 8). - Mit seiner ambivalenten Einschätzung der ambition steht Faret nicht allein. Sie ist vielmehr ein durchgängiger Topos der frühmoralistischen Theoriebildung und kennzeichnet den Begriff als eine Kategorie, die der sozialen Ordnung ebenso unverzichtbar wie unvereinbar ist. Bereits 1616 hebt de Refuge in seinem 'Traicte de la court ou instruction des courtisans'3 die durch die ambition garantierte Ergebenheit gegenüber dem Herrscher positiv hervor, gleichzeitig warnt er den Leser jedoch eindringlich vor den Höflingen «qui sont poussez ou d'ambition, ou de desir de faire leurs affaires.»4 Das Urteil de Refuges stimmt mit dem von Faret insofern überein, als beide die zeitgenössische Gesellschaft anhand von Verhaltensweisen beschreiben, die den Keim des Vergehens dieser Sozialform bereits in sich tragen. Der Vielzahl paradoxer Stellungnahmen in den Schriften früher Moralisten liegt eine gedankliche Konstruktion zugrunde, die weit über die Bewertung einzelner konstitutiver Elemente höfischer Lebenspraxis hinausweist und die grundsätzliche Frage nach ihrer Legitimation stellt. Diese ist nur solange gegeben, wie die sozialen Normen ein Verhaltensmodell postulieren, das dem Wertesystem entspricht, welches an die Gesellschaft herangetragen wird. Treten Normen und Wertesystem auseinander, so entsteht notwendig eine Legitimationskrise, welche die Revision und Neuformulierung der einzelnen Postulate erforderlich werden läßt. Diese Überlegungen führen im vorliegenden Fall zu der Paradoxie, daß die Kluft zwischen Normen und Wertesystem sowohl besteht als auch nicht besteht. Da dieser Gedanke den Regeln der Logik widerspricht und daher den frühen Moralisten suspekt erscheinen muß, weil ihnen ein dialektischer Zugriff auf diese Paradoxie noch nicht möglich ist, müssen Faret und de Refuge versuchen, zwei unterschiedliche Wertesysteme widerspruchsfrei miteinander zu verbinden. Die Frage nach den Ursachen, die zur ambivalenten Beurteilung von ambition führen, ist nur dadurch zu beantworten, daß das Nebeneinander heterogener Wertsysteme postuliert wird. Diese Hypothese kann als bewiesen gelten, wenn es gelingt, die unterschiedlichen Wertesysteme zu rekonstruieren und zu zeigen, daß die Synthesis notwendig in einer Aporie enden muß.

3 4

Zitiert wird nach der Ausgabe: Id., Traicté de la court ou instruction des courtisans, Leiden: Chez les Elseviers 1649. De Refuge, Traicté de la court ou instruction des courtisans, op. cit., p. 1.

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1.1 Akzidentelle Qualität als Organon des art de plaire Im folgenden geht es darum, die Funktion der ambition im Gesamtsystem der Theorie Farets zu klären. Wie bereits das Eingangszitat verdeutlicht, wird der Ehrgeiz als «désir naturel des honneurs et des richesses» nicht negativ bewertet, sondern im Gegenteil als Streben nach innerweltlichen Gütern und gesellschaftlicher Anerkennung gerechtfertigt. Damit beschreibt der Begriff eine Konkurrenz um Status- und Prestigechancen, die ein gewisses Maß an sozialer Mobilität und an Durchlässigkeit der Standesgrenzen voraussetzt. In diesem Sinne sagt Faret, daß «ceux qui sont nays Gentilshommes, et avec toutes les qualitez qui doivent accompagner la noblesse, recherchent principalement les choses d'honneur» (L'honneste homme, p. 87). Im Hinblick auf die weniger privilegierten Subjekte merkt er an, daß auch die Beispiele derer zahlreich sind, welche «d'une basse naissance se sont eslevez à des actions heroïques, et à des grandeurs illustres» (L'honneste homme, p. 10). An der Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, auf die sich die ambition beruft, wird kein Zweifel gelassen. In seiner Aufzählung der unterschiedlichen chemins à parvenir greift Faret auf das klassische Motiv des Prestigegewinns durch Heldentaten zurück, dessen Wurzeln bis in das Mittelalter zurückreichen und dessen Wahrheit er als traditionell verbürgt voraussetzen kann. Allerdings stellt er diesem ein Modell ambitionierten Verhaltens an die Seite, das speziell für die höfische Lebenswelt konzipiert ist und durch den Traktat vermittelt werden soll: Certes c'est bien mon dessein de représenter icy comme dans un petit tableau les qualitez tes plus nécessaires, soit de l'esprit, soit du corps, que doit posséder celuy qui se veut rendre agreable dans la Cour. (L'honneste homme, p. 9)

Damit ist eine ganz anders geartete Sozialtechnik angesprochen, die das aufstiegsorientierte Subjekt von den Schauplätzen des Krieges an jene des Hofes verweist. In der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen unterscheidet Faret zwischen einem Prinzip der aktiven Bewährung und dem art de plaire, die als action und parole im Verhalten des Subjekts differenziert werden und den Traktat in zwei große Abschnitte gliedern. Diese dualistische Konzeption sozialer Karrieremöglichkeiten ist als Topos in der moralistischen Literatur der 30er Jahre weit verbreitet. Auch de Refuge spricht in seinem 'Traicté de la court' von zwei Wegen zum gesellschaftlichen Ruhm:

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L'un (des deux chemins pour avancer, F.W.) est de rechercher les charges, offices, dignités, & passer de degré en degré iusques à celles qui approchent plus près du Souuerain. - L'autre est de suyure la Cour, & rechercher d'estre employé aux Commissions extraordinaires, & affaires particulières du Prince. (5) Der Autor stellt ein heroisches und ein auf plaire gerichtetes Verhaltensmodell nebeneinander. Beide stimmen darin überein, daß sie mit einem Wertesystem korrespondieren, das auf honneur gegründet ist. Im direkten Vergleich erweist sich der art de plaire als die für das parvenir effektivere Sozialtechnik, welche wegen ihrer hohen Komplexität jedoch literarisch bearbeitet und vermittelt werden muß. Bereits die Titel der Traktate von Faret und de Refuge lassen erkennen, daß das traditionelle Prinzip der aktiven Bewährung durch Heldentaten zunehmend zugunsten des art de plaire irrelevant wird. Diese Entwicklung verläuft parallel zu dem historisch nachweisbaren Aufstieg der Höfe zu absolutistischen Machtzentren. 6 Die Bestimmung der ambition in der gesellschaftlichen Praxis muß diese beiden Entwicklungslinien aufeinander beziehen. Vor dem Hintergrund dieser Konstruktion ist die Funktion der ambition s o zu bestimmen: Als subjektive Disposition ist sie die Grundlage der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen u n d nimmt innerhalb der Grenzen sozialer Mobilität durch unterschiedliche Sozialtechniken Gestalt an. Letztere können als Prinzip aktiver Bewährung u n d als art de plaire bezeichnet werden. In beiden Verhaltensmodellen ist die ambition ein integraler Bestandteil des höfischen Verhaltenscodes, der strikt auf die real vorhandenen sozialen Institutionen bezogen ist. Der art de plaire wird als Organon einer durch Ehrgeiz geprägten Bewußtseinshaltung definiert, deren höchstes Ziel der gesellschaftliche Aufstieg ist. - In Farets Ausfuhrungen werden die sozialen Institutionen stets durch hierarchisch hochstehende Personen symbolisiert, die über den Erfolg und das Fortkommen des handelnden Subjekts entscheiden. Dieses Verfahren ist, wie Norbert Elias feststellt, eine im 17. Jahrhundert verbreitete Me-

5 6

De Refuge, Traicté de la court, op. cit., p. 200. In seinen Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der Aristokratie stellt Norbert Elias fest, daß «in fast allen europäischen Ländern [...] von der Renaissance ab der Hof in steigendem Maße an Bedeutung [gewann]» (Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, p. 61). Cf. hierzu auch: Id., Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, p. 3-

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thode, abstrakte Sozialstrukturen zu vergegenwärtigen.? Es begegnet uns bei Faret in seiner Beschreibung der Funktion des Königs: Les Princes et Ies Grands sont autour du Roy comme de beaux Astres, qui reçoivent de luy toute leur splendeur, mais qui confondent tout leur éclat dans cette grande lumiere; Et combien que leur clarté ne paroisse qu'à mesure qu'ils en sont éloignez, si est-ce qu'elle n'est jamais ny vive ny pleine de lustre, qu'entant que cette première source de gloire se répand sur eux, et leur distribue comme de certains rayons de sa magnificence. (L'honneste homme, p. 7sq)

Vordergründig behandelt Faret an dieser Stelle lediglich die persönlichen Beziehungen zwischen Individuen. Unter Berücksichtigung der Anmerkungen Elias' muß die zitierte Textpassage allerdings so interpretiert werden, daß der Autor eine markante Sozialstruktur seiner Zeit offenlegt: die Abhängigkeit des Adels und insbesondere der Hocharistokratie von der Institution des absolutistischen Königtums. Mittels dieses Verfahrens der 'Verpersönlichung' wird der art de plaire stets im Zusammenhang individueller Beziehungen diskutiert, die vom heutigen Leser so verstanden werden müssen, daß die Personen Institutionen repräsentieren. So heißt es im Abschnitt 'De l'Estime et comme elle se doit acquérir' über die erste und nützlichste Übung des art de plaire. «C'est de gaigner d'abord l'opinion des grands et des honnestes gens» (L'honneste homme, p. 40). An anderer Stelle wird eine ganze Reihe von 'Preceptes importants en l'entretien des Princes' gegeben (Cf. L'honneste homme, p. 52sq), denen das Subjekt im Umgang mit den Institutionen der höfischen Gesellschaft folgen soll, die für seinen Aufstieg wichtig sind. Es zeigt sich, daß die Handlungen des Subjekts streng an den lebensweltlichen Institutionen und Standen des höfischen Sozialraums (hier: der Hocharistokratie und der Fürsten) ausgerichtet sind. Lediglich die «honnestes gens» sind als Gruppe keinem bestimmten Stand zuzuordnen. Das individuelle Sozialverhalten orientiert sich im Rahmen dieser Konstruktion an den realen Gegebenheiten einer ständisch gegliederten Hofgesellschaft und ist notwendig hierarchisch differenziert. Wenn sich die Handelnden nicht als Individuen sui generis, sondern als Repräsentanten ständischer Dignität gegenüberstehen, reduzieren sich die Möglichkeiten sozialer Interaktion auf drei Kombinationen: erstens auf den Verkehr mit sozial höherstehenden Personen. Ihm widmet sich der Autor in den Abschnitten 'De l'entretien du Prince' (Cf. L'honneste homme, p. 48sq) und 'De la conversation des grands' (Cf. L'honneste homme, 7

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Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, op. cit., p. 153-

p. 64sq). Zweitens auf den Umgang mit sozial Gleichrangigen, der im Kapitel 'De la conversation des esgaux' (Cf. L'honneste homme, p. 56sq) abgehandelt wird, und drittens schließlich auf den Kontakt zu den inférieurs. Letzterer kommt im Traktat selbst nicht zur Sprache, 8 weil er in der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen irrelevant ist. Vereinzelt warnt Faret sogar vor dem möglichen Schaden, der dem Handelnden aus dem Kontakt mit minder privilegierten Personen erwachsen kann: Celuy néantmoins qui joüit de ces honneurs, doit observer de ne rendre pas sa conversation et son amitié commune à toutes sortes de personnes, de peur qu'à la fin elle ne devinst de mauvaise odeur à ceux qui croyent beaucoup ravaler la leur, que de la laisser descendre jusques à luy. (L'honneste homme, p. 67)

Damit die eigene honneur nicht gefährdet wird und man nicht selbst in Verruf gerät, soll der Kontakt mit unterprivilegierten Personen nach Möglichkeit vermieden werden. Er wird im Traktat nicht weiter thematisiert. Die Normen des art de plaire werden ausschließlich aus der Interaktion mit hohen Standespersonen deduziert. Diese Ableitung geht von der Voraussetzung aus, daß die normenadäquate Interaktion in den sozialen Oberschichten bereits umfassend realisiert und daß die Ständeordnung ein Abbild des zugrunde liegenden Wertesystems ist. Im Hinblick auf den hier angestrebten Nachweis, daß der Traktat zwei unterschiedliche Wertesysteme enthält, ist mit der Sozialtechnik des art de plaire ein normatives Verhaltensmodell gefunden worden, das unmittelbar auf die höfische Ordnung zugeschnitten ist und diese legitimiert. Die Gesellschaft wird in ihrer strukturellen Beschaffenheit und Komplexität zum Fluchtpunkt eines Verhaltenscodes, der sich seines innerinstitutionellen Charakters selbst nicht bewußt ist, weil für ihn kein jenseitiges Betätigungsfeld existiert. Mit anderen Worten: Die Erfahrungswirklichkeit des handelnden Subjekts geht vollständig in den sozialen Institutionen auf. Gesellschaftliche Realität ist für Faret somit nur insofern theorierelevant, als sie sich in bezug auf Herrschaft definiert und in Verbindung mit der höfischen Sozialordnung steht. Alles, was sich dem Herrschaftsanspruch der großen Institutionen entzieht, wie z.B. hierarchische Inferiorität, ist seinem normativen Verhaltensmodell a priori inkommensurabel. Sehr deutlich kommt diese geschlossene Wirklichkeitskonstruktion in seiner Beschreibung des 8

Dieses strukturierende Dreierschema durchzieht leitmotivisch den gesamten Text und wird als Ableitung aus den Schriften Epiktets gerechtfertigt (Cf. Nicolas Faret, L'honneste homme ou l'art de plaire ä la court, op. cit. p. 88).

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Verhältnisses von Königtum und handelndem Subjekt zum Ausdruck: Comme en effect la vraye et legitime puissance des Souverains n'est qu'un nœud d'authorité et de justice pour la conservation du bien public. En suitte de cela, tous ceux qui se sont soumis à cette puissance, souhaittent de s'en approcher, et taschent de la maintenir au péril de leurs vies et de leurs fortunes. C'est pourquoy le bien du Prince ne se sépare point de celuy de l'Estat, dont il est l'ame et le cœur, aussi bien que la teste. (L'honneste homme, p. 36)

Die Körpermetaphorik, die hier das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen oder besser des handelnden Subjekts zu den gesellschaftlichen Institutionen beschreibt, ist Ausdruck dieser sinnhaft-geschlossenen Erfahrungswelt, in der die soziale Orientierung und, damit verbunden, die Ausbildung von Identität weitgehend unproblematisch sind. Doch noch in anderer Hinsicht ist die zitierte Textstelle von Bedeutung, denn in ihr drückt sich die enge Verbindung von Verhaltensnorm und Standeszugehörigkeit aus. Indem Faret den art de plaire im Spannungsfeld von «soumission» und rapprochement» ansiedelt, parallelisiert er dessen normatives Potential mit der sozialen Ordnung: Der art de plaire und soziale Privilegien sind auf das engste miteinander verbunden. In diesem Sinne spricht Faret vom «progrez des choses que nous entreprenons» (L'honneste homme, p. 9) und evoziert eine Handlungsmotivation, deren zentrales Anliegen der soziale Aufstieg ist. De Refuge wird noch deutlicher, wenn er von einem gemeinsamen Ziel aller Höflinge spricht: «Le but commun auquel tous les Courtisans visent, est de gagner la faueur du Prince. En ce point gist toute leur science, & s'employe tout leur trauail.»^ Entsprechend dem bereits bekannten Verfahren der 'Verpersönlichung' richtet sich der art de plaire, dem de Refuge sogar den Status einer science zuweist, auf die Institution des Fürstentums und intendiert die Akkumulation persönlicher Privilegien. Farets Begriff des «approchement» kehrt bei de Refuge an anderer Stelle also als «auancement» 1 0 wieder. Auch in dem Traktat 'Aristippe, ou de la Cour' von Guez de Balzac aus dem Jahre 1658 spielt «la peine à passer d'vn estât à l'autre» 11 eine wesentliche Rolle für ein normenadäquates Subjektverhalten. In allen drei Texten wird der soziale Aufstieg zum Indikator einer normengerechten Interaktion bestimmt, womit zugleich die Identität von gesellschaftlicher Ordnung und Verhaltensnorm postu9 10 11

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De Refuge, Traicté de la court ou instruction des courtisans, op. cit., p. 198. Cf. ib., p. 260. Guez de Balzac, Aristippe, ou de la cour, Leiden: J. Elsevier 1658, p. 156.

liert wird. Genauer: ständische Hierarchie und art de plaire sind über honneur/estime vermittelt, deren Erwerb über Status und Prestige der Höflinge entscheidet. Wenn das Subjekt durch die konsequente Anwendung höfischer Sozialtechniken Einfluß auf seine eigene Stellung nehmen kann, rücken die Hierarchie und die gesellschaftliche Ordnung notwendig in seine Verfügungsgewalt. Die soziale Hierarchie ist in dieser Konstruktion das Produkt innerweltlicher Prozesse, an denen das Subjekt aktiv beteiligt ist. Zum Zweck des Aufstiegs bedient es sich der honneur/estime, der die ständische Dignität verkörpert. Im Abschnitt 'De l'estime et comme elle se doit acquérir' konkretisiert Faret den Begriff innerhalb der zeitgenössischen Öffentlichkeit: Or la première et la plus utile leçon que l'on doit pratiquer, c'est de gaigner d'abord l'opinion des grands et des honnestes gens, [...] on auroit souvent le loisir de devenir vieux devant que de faire cognoistre ce que l'on vaut, si l'on n'estoit secouru de l'estime de ceux qui nous ayment, et qui sont eux-mesmes estimez. [...] ce sont les autres qui nous donnent l'estime, et que nous n'avons qu'à la conserver. (L'honneste homme, p. 40) Faret geht auf die Bedeutung und die Funktion der estime im intersubjektiven Verkehr ein. Dabei operiert er mit zwei divergierenden Wertbegriffen, die die Qualität eines Subjekts in unterschiedlicher Weise bestimmen. Der erste wird sehr vage mit der Formulierung «ce que l'on vaut» umschrieben und bezeichnet eine Qualität, die dem Subjekt substantiell zukommt. Demgegenüber liegt der Ursprung des zweiten Wertbegriffs, der estime, nicht im Subjekt selbst, sondern er geht von der höfischen Öffentlichkeit aus, die ihn als äußerliches Attribut vergibt. Beide Begriffe, die im folgenden als substantielle bzw. akzidentelle Qualität bezeichnet werden sollen, berufen sich auf je eine andere Wahrheit: Während die substantielle Qualität auf das Wesen des Subjekts und dessen unveräußerliche Merkmale Bezug nimmt, qualifiziert die estime dessen Erscheinung und öffentliches Ansehen («ce sont les autres qui nous donnent l'estime»). Der art de plaire argumentiert auf der Grundlage akzidenteller Qualität. In dieser Sozialtechnik ist der estime sowohl ein Wert an sich als auch ein Instrument, mit dessen Hilfe weiteres Prestige erworben werden kann. Hingegen bleibt die substantielle Qualität in dieser theoretischen Konzeption Farets zunächst funktionslos. Die Einführung eines dualistischen Wertesystems ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil es einen Widerspruch zwischen diesen beiden Qualitäten ermöglicht. Dieser würde auf der Differenz von öffentlichem Urteil über eine Person und deren Qualität (im Sinne der Verhaltensnormen) beruhen, wodurch sich die sozialen Regeln und Postulate 41

gegen die gesellschaftliche Ordnung ausspielen ließen, was die Legitimation der höfischen Sozialform entscheidend gefährden würde. Um dieser Gefahr zu entgehen, stellt Faret das «ce que l'on vaut» und die Reputation des Subjekts in ein genetisches Verhältnis: der estime erscheint stets als nachträgliche Bestätigung der persönlichen Qualität, wodurch die Möglichkeit eines Widerspruchs zwischen diesen beiden a priori ausgeschlossen ist. Hieraus folgt, daß substantielle und akzidentelle Qualität einander stets die Waage halten und die Legitimation der Gesellschaft aufgrund der Übereinstimmung von individuellem Wert und sozialer Stellung des Subjekts gegeben ist. Der Ausgleich zwischen den beiden Qualitäten ermöglicht den frühen Moralisten, den theorieimmanenten Grundwiderspruch der Wertesysteme zu überbrücken und - unbewußt - aufzulösen. Die postulierte Identität beider Wertesysteme gestattet es Faret, die Wesensmerkmale einer Person unter dem Begriff akzidenteller Qualität zu subsumieren und für den weiteren Diskurs verfügbar zu machen. - Festzuhalten ist vorab, daß sich bereits an dieser Stelle eine dualistische Konstruktion divergierender Wertesysteme nachweisen läßt, die der scheinbar aufgelöste Widerspruch entgegen der Intention Farets nicht verdecken kann und in der die zentralen Aporien der Schrift bereits angelegt sind. Nur weil die postulierte Identität von substantieller und akzidenteller Qualität die Form einer prästabilierten Harmonie hat, sind die normative Sozialtechnik und die gesellschaftliche Ordnung widerspruchsfrei verknüpft.12 Das ständisch gegliederte System ist nicht nur die Bedingung der Möglichkeit des art de plaire, sondern zugleich umfassender Ausdruck seiner Realisierung: Bedingung, weil die gesellschaftliche Praxis auf der Prämisse legitimer sozialer Ungleichheit aufbaut, von der aus die komplexen Mechanismen der Privilegierung überhaupt erst formuliert werden können; Ausdruck, weil die Dignität einer Person immer auch Aufschluß über die Konformität ihres Sozialverhaltens mit den Normen geben soll. Im Sinne Farets fallen gesellschaftliche Organisationsform und normativer Anspruch zusammen, so daß einem Subjekt, dessen Verhalten den sozialen Institutionen angemessen ist, notwendig substantielle Qualität zukommen muß. Indem sich das idealtypische Subjekt des moralistischen Traktats über die Affirmation der

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Im Sinne dieser Ausführungen stellt Octave Nadal fest, daß die äußerliche gloire im 17. Jahrhundert allgemein als Indiz für die vertu und perfection ihres Trägers gewertet wurde (Cf. Nadal, l'éthique de la gloire au XVIIe siècle. In: Mercure de France CCCVIII (1950), p. 26). Er bestätigt so die These einer prästabilierten Harmonie von substantieller und akzidenteller Qualität.

sozialen Verhältnisse definiert, wird zugleich die ideologisch-determinierende Dimension des Textes deutlich, die über den einfachen Anspruch, Handlungsanweisung für das Subjekt zu sein, weit hinausgeht. Dieser Aspekt ist zunächst nur insoweit von Bedeutung, als das von Faret entwickelte Verhaltensmodell den objektiven gesellschaftlichen Institutionen konform und der art de plaire analog zum Wertesystem der höfischen Gesellschaft formuliert ist. Diese Überlegungen stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der ambivalenten Beurteilung von ambition, denn sie beschreiben ein Wertesystem, in dem diese subjektive Handlungsmotivation zur Rechtfertigung der höfischen Ständeordnung beiträgt. Wie wir gesehen haben, realisiert sich ambition als subjektive Disposition maßgeblich im art de plaire, der als Sozialtechnik im Zentrum zahlreicher firühmoralistischer Diskurse steht. Als Strategie in der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen setzt diese eine geschlossene und sinnhafte Erfahrungswirklichkeit voraus, die sich normativ im Hinblick auf reale Herrschaftsstrukturen konkretisiert und in den Institutionen der Hofgesellschaft vollständig aufgeht. Über die Zielvorstellung, in der Hierarchie aufzusteigen und Privilegien zu erringen, die über die Akkumulation von honneur/estime realisiert werden soll, ist eine weitgehende Entsprechung von Verhaltensnorm und sozialer Ordnung in dem Sinne garantiert, daß das Subjekt sich im Handlungshorizont des art de plaire am bestehenden System orientiert und sein Verhalten den Erfordernissen anpassen muß. Eine Leistung des Traktats besteht darin, den art de plaire als affirmativen Normenkanon zu explizieren, der sich in der herrschenden Ständehierarchie abbildet. - Insofern als die ambition mittels des art de plaire die bestehenden Verhältnisse verfestigt, wäre im Traktat des konservativen Faret ihre eindeutig positive Beurteilung zu erwarten. Aber die frühen Moralisten stehen ihr zwiespältig gegenüber: Wie ist es möglich, daß eine gesellschaftlich affirmative Grundhaltung blühende Monarchien gefährden und die soziale Ordnung stören kann, wie Faret behauptet (Cf. L'honneste homme, p. 8)? Damit spitzt sich das Ausgangsproblem auf die Frage nach demjenigen Wertesystem zu, welches die ambition negiert. Ihr soll in der Untersuchung des höfischen Rationalitätsprimats weiter nachgegangen werden.

1.2 Der Gegensatz von subjektiver und pragmatischer Rationalität Der art de plaire normiert soziale Beziehungen innerhalb einer ständisch differenzierten Gesellschaft. Seine Realisierung setzt eine ge-

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wisse soziale Mobilität und die geschlossen-sinnhafte Interpretation innerweltlicher Erfahrungswirklichkeit voraus. Darüber hinaus verlangt die normative Sozialtechnik eine Form von Öffentlichkeit, vor der das handelnde Subjekt sich exponieren kann und welche die Vergabe sozialer Privilegien über die Zuweisung akzidenteller Qualität regelt. Im Rahmen dieser Konstruktion argumentiert Faret auf der Grundlage eines Rationalitätsbegriffe, der die umfassende Realisierung des Normenkanons vom Subjekt aus garantieren soll. Zunächst tritt die raison ganz traditionell in Opposition zu den passions. Mit Hilfe dieses begrifflichen Gegensatzes beschreibt der Autor ein Modell von Verhaltensregulierung, das sich wesentlich über die Ausgrenzung unkontrollierter Affekte vollzieht und sich gegen die menschliche Triebnatur wendet. Diese Funktionsbestimmung wird nicht zufällig im Abschnitt 'Maximes générales de la conversation' abgehandelt, denn die höfische Konversation ist im 17. Jahrhundert ein zentrales Element aristokratischer Lebenspraxis und damit diejenige Form der Interaktion, auf welche die Normen des art de plaire bezogen sind: L'une des plus importantes et des plus universelles maximes que l'on doive suivre en ce commerce, est de moderer ses passions, et celles sur tout qui s'eschauffent le plus ordinairement dans la conversation, comme la colere, l'émulation, l'intemperance au discours, la vanité à tascher de paroistre par dessus les autres: Et en suite de celles-cy, l'indiscrétion, l'opinastreté, l'aigreur, le despit, l'impatience, la précipitation, et mille autres défauts, qui comme de sales ruisseaux coulent de ces vilaines sources. [...] Soyons donc maistres de nous-mesmes, et sçachons commander à nos propres affections [...] (L'honneste homme, p. 68sq)

Faret zählt die Affekte, die in der Konversation zu vermeiden sind, der Reihe nach auf. Danach lassen sich zwei Gruppen von Affekten unterscheiden: neben solche einer emotional eruptiven Grundstruktur (colère, impatience und précipitation), die ein berechenbares und kontinuierliches Verhalten unterlaufen, tritt eine Gruppe von Leiden13

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Wie Christoph Strosetzki in seiner sehr ausführlichen Untersuchung zum höfischen Konversationsverhalten feststellt, stand ihre zentrale Bedeutung für das gesellschaftliche Leben schon im 17. Jahrhundert außer Frage (Cf. Strosetzki, Konversation, Ein Kapitel gesellschaftlicher und literarischer Pragmatik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, (Studia romanica et linguistica 7), Frankfurt/M., Bern, Las Vegas: Peter Lang 1978, p. 12). Erst im Medium der Konversation konnte sich der art de plaire in allen seinen Schattierungen entfalten (Cf. ib., p. 61 und 80). Auch Margot Kruse unterstreicht die Bedeutung der Konversation innerhalb der höfischen Lebenspraxis (Cf. Kruse, Die französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts. In: Klaus von See (ed.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaften, Bd. 10, Wiesbaden 1972, p. 293).

schatten, die die Grenzen des ständisch gebotenen Sozialverhaltens potentiell überschreiten (p.e. émulation, intempérence und opiniâtreté) und elementare Strukturmerkmale der höfischen Gesellschaft in Frage stellen. Die Rationalisierung der Leidenschaften auf der Ebene des Subjekts verfolgt ein doppeltes Ziel: zum einen soll ein gleichförmiges und kalkulierbares Verhalten die Voraussetzung einer regelorientierten gesellschaftlichen Praxis schaffen,1"* zum anderen wird dem handelnden Subjekt eine Zurückhaltung auferlegt, die es in die Schranken standesgemäßen Verhaltens weist. Insofern die menschliche Triebnatur und die ihr entsprechenden passions die Standesunterschiede in der gesellschaftlichen Praxis verschwinden lassen, definiert der Begriff eine egalitäre Grundstruktur aller Subjekte, die mit Farets Argumentation unvereinbar ist. Das Postulat legitimer sozialer Ungleichheit setzt folglich die Rationalisierung der Leidenschaften im hier beschriebenen Sinne voraus: Die dem Verhaltensmodell und der sozialen Ordnung inkommensurablen Affekte werden in Form rationaler Kontrolle eliminiert. In beiden Zielsetzungen (Kontinuität und Standesgemäßheit des Verhaltens) ist der Rationalitätsprimat funktional auf das Subjekt selbst hingeordnet und steht im Zeichen einer sozial relevanten Domestikation von Triebnatur. Das Rationalitätspostulat intendiert somit eine bestimmte psychische Disposition, die sich im Hinblick auf das normative Wirkungsinteresse als besonders effektiv erweist. Im Rahmen dieser Funktionsbestimmung soll im folgenden von einer subjektiven Rationalität gesprochen werden. Farets idealtypische Konstruktion gesellschaftlicher Praxis beruht auf der universalen Geltung des Rationalitätsprimats, dessen normativer Anspruch nicht auf die subjektive Rationalität beschränkt bleibt. Im Abschnitt 'De la cour', in dem der Autor die höfische Gesellschaft strukturell analysiert, entwickelt er eine weitere Funktionsbestimmung, welche die Rationalität mit einer neuen Begründung direkt d.h. ohne Vermittlung über die psychische Disposition des Handelnden - für die gesellschaftliche Praxis instrumentalisiert: 14

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In dieser Funktionsbestimmung wird der Begriff des Rationalitätspostulats etwa bei Strosetzki verwendet, demzufolge er ein «stets konstantes Handeln» ermöglichen soll (Cf. Strosetzki, Moralistik und gesellschaftliche Norm, op. cit., p. 204). In diesem Sinne merkt etwa Arnold Hausers 'Sozialgeschichte der Kunst und Literatur' an, daß der vornehme und seelisch starke Mensch des 17. Jahrhunderts «seine Gefühle und Leidenschaften nicht zur Schau [trägt]; er paßt sich der Norm seines Standes an, will nicht rühren und überreden, sondern repräsentieren und imponieren» (Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München: Beck 1953, p. 473sq).

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La voye de la nature et de la justice est facile, seule, et innocente, et tout project qui s'esloigne des reigles de la raison a l'erreur qui le guide, et la punition qui le suit. Quiconque cherche du bien contre son devoir, mérité de rencontrer un mal certain, ou un bien dangereux: Mais la faute n'en est qu'à celuy qui en supporte la peine, et ce n'est pas tant la condition ny la nature de la Cour, qui attire après soy ces malheurs, comme c'est un juste chastiment de faire mal la Cour. (L'honneste homme, p. 37)

Bislang war die Vernunft in Farets Traktat dazu bestimmt, die Triebe des Subjekts zu unterdrücken und die Voraussetzungen einer geordneten gesellschaftlichen Praxis zu schaffen. Jetzt liegt ihre Funktion darin, daß das Subjekt Handlungsstrategien entwirft, mit denen es versuchen soll, seine persönlichen Interessen durchzusetzen. Dabei ist der Gang der Argumentation durch die syntaktische Parallelisierung zweier Aussagen gekennzeichnet: eine Mißachtung der «reigles de la raison» zieht die «punition» ebenso zwangsläufig nach sich, wie eine Verfehlung gegen den «devoir» einem «mal certain» begegnen muß. Im Zuge dieser Parallelisierung werden raison und devoir synonym verwendet. Die raison wird gesellschaftlichen Sanktionsmechanismen untergeordnet und bekommt den Status einer Verhaltensnorm. In dieser zweiten Auslegung des Rationalitätsprimats kündigt sich eine Funktionsbestimmung an, die in der gesellschaftlichen Praxis aufgeht und fortan als pragmatische Rationalität bezeichnet werden wird. Im Gegensatz zur subjektiven Rationalität, die - vermittelt über die Subjektstruktur - die Geltung des Normenkanons insgesamt sicherstellen soll, erscheint raison in diesem Kontext als Strategie sozialen Handelns: [...] il arrive assez souvent que des personnes d'une naissance ingratte, ont sceu si bien vaincre leurs deffauts avecque des soins extraordinaires, qu'ifs font toutes choses par un effort de raison, aussi agréablement que les autres parla seule bonté de leur naturel. (L'honneste homme, p. 19)

Ein Verhalten, das den gesellschaftlichen Anforderungen nicht entspricht, weil es über das ständisch Zulässige hinausgeht, kann mittels der raison aufgefangen und in den Normenkanon zurückgeführt werden. Der Umstand, daß raison hier im Rahmen einer sozial differenzierten Argumentation funktional als Kompensation der «bonté du naturel» konzipiert ist, wird an anderer Stelle berücksichtigt werden. Bedeutsam ist zunächst, daß raison hier nicht im Umfeld der passions thematisiert wird, sondern mit solchen défauts verbunden ist, die aus der Interaktion hervorgehen. Mittels einer Vernunftanstrengung sollen diese défauts auf ein Verhalten zurückgeführt werden, dessen Außenwirkung mit dem Adverb «agreablement» umschrieben ist. Nach 46

dem Muster der Funktionsbestimmung des art de plaire beabsichtigt das Subjekt, das am raison-Postulat orientiert ist, eine positive Wirkung auf Dritte auszuüben. Der Zusammenhang von art de plaire und pragmatischer Rationalität muß genauer analysiert werden. In Farets Traktat nimmt die Aufzählung der Faktoren, die das Subjekt berücksichtigen muß, wenn es einem grand oder dem König gefallen möchte, einen breiten Raum ein. Aus der Vielzahl unterschiedlicher Normen greifen wir als Beispiele diejenigen heraus, die mit der pragmatischen Rationalität verknüpft sind. Eine Kommunikationsregel des honnête homme lautet: «[...] jamais il n'entreprenne d'entretenir personne pour luy plaire, qu'il n'ait premièrement bien considéré son humeur, ses inclinations, et de quelle trempe il a l'esprit» (L'honneste homme, p. 88). Da Geschenke für den art de plaire eine überaus wichtige Rolle spielen, rät Faret dem Schenkenden: «Il faut remarquer les choses qui peuvent plaire à celuy que nous desirons obliger» (L'honneste homme, p. 45). Besonders ausführlich geht der Autor auf die Kommunikation mit dem König ein. Von dessen Vertrauten berichtet er, daß sie «estudieront premièrement l'humeur de celuy qu'ils servent, et tascheront de se conformer à la meilleure et plus forte de ses inclinations» (L'honneste homme, p. 50). An diese Ausführungen schließt er eine Herrschertypologie an, die den «Prince guerrier», den «Prince pacifique» und den «Prince amy des lettres et des exercices» umfaßt (Cf. L'honneste homme, p. 51). Das Subjekt muß sein Verhalten den unterschiedlichen Charakteren anpassen. Darüber hinaus unterscheidet de Refuge noch den «Prince colère», den «Prince sanguin», den «Prince melancholique» und den «Prince flegmatique»1^ und rechtfertigt seine Typologie mit dem Hinweis. «Quiconque veut estre bien venu près d'eux (les Princes, F W ), il doit seconder leurs inclinations & leurs passions.»1'' Der art de plaire kann nicht unmittelbar in gesellschaftliche Praxis umgesetzt, sondern muß vernünftig an die jeweils gegebenen Umstände der Interaktion angepaßt werden. Offensichtlich stimmen die Rationalitätsbegriffe, die Farets und de Refuges Ausführungen zugrundeliegen, weitgehend überein. Ihre Funktion ist aus den Verben «considérer», «remarquer», «estudier» und «seconder» zu erschließen. Sie umschreiben ein Verhaltensmodell, demzufolge das handelnde Subjekt die Bedürfnisse und Vorlieben seiner Interaktionspartner rational kalkuliert und zum eigenen Vorteil auf sie eingeht. Diese pragmatische Rationalität vermittelt die Interes16 17

Cf. D e Refuge, Traicté de la cour ou instruction des courtisans, op. cit., p. 233. Ib., p. 208.

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sen des handelnden Subjekts mit den realen Strukturen gesellschaftlicher Herrschaft, ohne daß diese Vermittlung für die Beteiligten erkennbar ist. Das Verhalten der Subjekte scheint vordergründig am Prinzip des plaire orientiert, während es von der dahinterliegenden pragmatischen Rationalität für den sozialen Aufstieg instrumentalisiert wird. Wenn das Subjekt nicht unter dem Rationalitätspostulat stünde, so würden sich seine wahren Absichten in unkontrollierten Affektschüben notwendig offenbaren. 18 Im Gegensatz zur Konversation mit sozial ebenbürtigen oder inferioren Personen erzeugt der Verkehr innerhalb sozialer Abhängigkeitsverhältnisse - wie den hier beschriebenen - das Bedürfnis nach psychologischer Erkenntnis. Insofern als die Gunst des Königs die individuellen Handlungsspielräume aller am Hof lebenden Personen immer wieder neu festlegt, wird seine Berechenbarkeit für den Höfling zur Bedingung, persönliche Interessen durchsetzen zu können. Im Rahmen einer hierarchisch organisierten Sozialordnung fallt der pragmatischen Rationalität die Aufgabe zu, dem Subjekt die Verfolgung eigener Interessen durch längerfristige Strategien zu ermöglichen, welche nach Maßgabe der konkreten Sozialverhältnisse (vorgestellt über personale Beziehungen) entwickelt werden. Eine in diesem Zusammenhang wichtige Charakterisierung der pragmatischen Rationalität gibt Norbert Elias, der zwischen einem bürgerlichen und einem aristokratischen Rationalitätstypus unterscheidet: Beide stimmen zunächst darin überein, daß sie «ein Übergewicht langfristiger realitätszugewandter Überlegungen über momentane Affekte»1^ beinhalten. Während jedoch die bürgerliche Vernunft die «Kalkulation von Gewinn und Verlust finanzieller Machtchancen» 20 in den Vordergrund stellt, steht die aristokratische Rationalität im Zeichen der «Kalkulation von Gewinn und Verlust an Prestige- und Status-Chancen der Macht.»21 Beide Typen sind strukturell insofern identisch, als sie auf gesellschaftliche Macht orientiert sind. Ihre Differenz ist allein auf die historisch abweichenden sozialen Bezugssysteme zurückzuführen, welche die Vergabe gesellschaftlicher Machtchancen unterschiedlich regeln. Die bei Elias beschriebenen Rationalitätstypen fallen funktional mit der bei Faret ermittelten pragmatischen Rationa18 19 20 21

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Cf. Oskar Roth, Die Gesellschaft der honnêtes gens. Zur sozialethischen Grundlegung des honnêteté-Ideals bei La Rochefoucauld, Heidelberg: "Winter 1981, p. 93. Elias, Die höfische Gesellschaft, Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, op. cit., p. 141. Ib. Ib.

lität zusammen. Im Gegensatz zu Elias' dualistischer Begriffskonstruktion, die die Rationalitätstypen verschiedenen sozialen Gruppen zurechnet, geht der in dieser Arbeit entwickelte Begriff einer pragmatischen Rationalität von der gesellschaftlichen Funktionsbestimmung aus und hat in dieser Definition den Vorzug, die strukturelle Identität historisch abweichender Konzeptionen rationaler Verhaltenskontrolle zu unterstreichen. - In den firühmoralistischen Traktaten steht das Konzept einer pragmatischen Rationalität für ein bestimmtes Verhaltensmodell, das auf der Grundlage einer ständisch differenzierten Sozialstruktur den Gewinn und Verlust von Status- und Prestigechancen kalkuliert. Sie beschreibt eine soziale Interaktion, in der der Anspruch einer vernunftorientierten Verhaltenskontrolle nur in bezug auf dasjenige Subjekt aufrechterhalten werden kann, das durch sein Handeln gesellschaftlich aufsteigen möchte. Während dieses die Kommunikationssituation und die -partner rational analysiert («considerer», «remarques, «estudier»), um sein Verhalten entsprechend kalkulieren zu können («seconder»), wird der hierarchisch überlegene Adressat sowohl von Faret als auch von de Refuge in gegenteiliger Weise bestimmt. Um den Sachverhalt zu verdeutlichen, ist es notwendig, noch einmal zu den zitierten Passagen zurückzukehren. Für die Konversation mit dem König legt Faret dem zeitgenössischen Leser nahe, «de se conformer ä. la meilleure et plus forte de ses inclinations» (L'honneste homme, p. 50), und auch de Refuge sagt über das Verhalten des Höflings zum Prinzen: «II doit seconder leurs inclinations & leurs passions.»22 i m Gegensatz zum pragmatisch-rational agierenden Subjekt des Traktats wird der Adressat nur unter dem Aspekt seiner Triebnatur (inclinationsIpassions) gesehen. Daraus wird ersichtlich, daß der art de plaire als rational gesteuerte Sozialtechnik affektive Wirkungen intendiert und daß die subjektive Langsicht in der Verfolgung individueller Interessen gerade auf ephemeres Gefallen abzielt. Die Paradoxie der pragmatischen Rationalität liegt darin begründet, daß diese einerseits die Subjekte auf eine vernunftorientierte Kalkulation des eigenen Verhaltens im sozialen Verkehr verpflichten möchte, andererseits aber die menschliche Triebnatur immer schon als gegeben voraussetzen muß: Affekte und Emotionen der Adressaten sind selbst unverzichtbarer Bestandteil der Theorie pragmatischer Rationalität. - Zugleich widerspricht die paradoxe Struktur dieses Rationalitätsbegriffe der normativen Domestikation von Triebnatur. Offensichtlich gehen die passions, die durch die Normen der subjektiven Ver22

De Refuge, Traicté de la cour ou instruction des courtisans, op. cit., p. 208.

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nunft gerade ausgegrenzt werden sollen, durch die Postulate der pragmatischen Rationalität erneut in die Theorie ein, auch wenn sie nur auf eine Spitzengruppe beschränkt bleiben. 2 ^ Zwar wird die menschliche Triebnatur durch diese soziale Zuweisung weitgehend neutralisiert, doch kommt die moralistische Konstruktion nicht ohne den Begriff passions aus. Farets Traktat enthält, wie die Schriften anderer frühmoralistischer Autoren, das Projekt einer doppelten Rationalisierung. Neben der Beherrschung der Leidenschaften im Sinne einer Domestikation von Triebnatur, die als subjektive Rationalität bezeichnet wurde, weil sie eine bestimmte psychische Disposition intendiert, erscheint das Vernunftpostulat auch als Verhaltensnorm. In der Form der pragmatischen Rationalität kalkuliert die raison das eigene Verhalten unter dem Aspekt von Gewinn und Verlust gesellschaftlicher Status- und Prestigechancen. Diese Thesen sind im einzelnen nicht neu: sowohl Strosetzki als auch Häuser beschreiben ausführlich die subjektive Rationalität;2"* Elias und Roth setzen sich mit der pragmatischen Vernunft auseinander. 2 5 Sie alle argumentieren jedoch auf der Grundlage von nur einem moralistischen Vernunftbegriff und verkennen dessen dualistische Struktur. Unter solcher Voraussetzung können sie die widersprüchliche Vermittlung von psychischer Disposition und Verhaltenskalkül

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Ein ähnliches Problem stellt sich im Bereich der Rhetorik: Wie Paul Griscelli hervorhebt, besteht deren Aufgabe darin, Leidenschaften hervorzurufen, womit sie sich latent im Widerspruch zum zeitgenössischen Rationalitätsprimat befindet (Cf. Griscelli, Un aspect de la crise de la rhétorique à la fin du XVII e siècle: le problème des passions. In: XVII e siècle 143 (1984), p. 141-145). - Zum Problem normativer Geltungen im 17. Jahrhundert stellt Niklas Luhmann ganz allgemein fest, daß es «mit zu den Merkmalen der Souveränität einer Oberschicht [gehört], daß sie die Regeln, mit denen sie sich konstituiert, gelegentlich auch außer Acht lassen kann.» (Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie in der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, p. 74sq). Diese «Sonderkommunikationsbedingungen in Teilsystemen» wertet Luhmann sowohl als Ursache der Komplexität als auch der Stabilität stratifikatorisch organisierter Gesellschaften (Cf. ib.). Cf. Christoph Strosetzki, Moralistik und gesellschaftliche Norm. In: Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Bd. 1: Von Rabelais bis Diderot, ed. Peter Brockmeier et H.H. Wetzel, Stuttgart: Metzler 1981, p. 204sq und Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, op. cit., p. 473sq. Cf. Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, op. cit., p. 141 und Oskar Roth, Die Gesellschaft der honnêtes gens. Zur sozialethischen Grundlegung des honnêteté-Ideals bei La Rochefoucauld, op. cit., p. 93-

nicht erkennen: Diese betrifft die Bedeutung der Leidenschaften in der gesellschaftlichen Praxis und ist dahingehend zu erklären, daß die pragmatische Rationalität die Existenz der passions notwendig voraussetzt, welche von der subjektiven Vernunft explizit ausgegrenzt werden müssen. In welchem Verhältnis stehen diese Überlegungen zu der Ausgangsfrage nach der ambivalenten Einschätzung der ambition? Der Ehrgeiz zählt traditionell zu den passions und tritt damit in Opposition zum postulierten Rationalitätsprimat der frühmoralistischen Diskurse. De Chavaille definiert die ambition 1641 als «passion aueugle»,2^ und auch Jacques Esprit bezeichnet sie im Vorwort zu seiner 1677/78 verfaßten Streitschrift 'De la fausseté des vertus humaines' als «passion dominante»27 des Menschen. Esprits Einschätzung geht insofern von anderen Voraussetzungen aus, als er nicht mehr auf die allgemeine Einlösbarkeit des Rationalitätsprimats vertraut. Obwohl die raison in seinem theoretischen Entwurf keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann und den passions real untergeordnet ist, kritisiert er die ambition vehement. Ungleich entschiedener fällt die Negation der passions im Rahmen eines intakten Rationalitätsprimats aus, auf dessen Grundlage sowohl Faret als auch de Refuge und Balzac argumentieren. Dennoch bleibt ihre Einschätzung der ambition ambivalent. - Aus den bisherigen Ergebnissen könnte der Schluß gezogen werden, daß das ambivalente Urteil auf die paradoxe Stellung der passions innerhalb der Normen pragmatischer Rationalität zurückzuführen sei, weil diese die menschliche Triebnatur ebenso voraussetzt wie unterdrückt. Ein solcher Erklärungsansatz greift jedoch insofern zu kurz, als er die funktionale Differenz von ambition und passion im Theoriekonzept der behandelten Autoren verkennt. Im Gegensatz zu den Leidenschaften, die wirkungsästhetisch irrelevant sind, ist die ambition unmittelbar auf den art de plaire als zu vermit26 27

D e Chavaille, Observations morales et politiques en forme de maximes sur les vies des hommes illustres, Bd. 1, Paris: D. Langlois 1641, p. 229Jacques Esprit, La fausseté des vertus humaines, Bd. 1, Paris: G. Desprez 1677/78, Vorwort nicht paginiert. - Zur gleichen Zeit kritisiert Boutauld die ambition mit den Worten: «L'ambition ne sied pas bien à la sagesse» (Boutauld, Les conseils de la sagesse ou le recueil des maximes d e Salomon les plus nécessaires à l'homme pour se conduire sagement avec des réflexions sur ces Maximes, Paris: Mabre-Cramoisy 1677, p. 177). In den Augen des A b b é d'Ailly ist der ambitieux nicht anderes als ein «esclave de la gloire» (Ailly, Sentimens et maximes sur ce qui se passe dans la société civile. Paris: Louis Josse 1697, p. 4). D u Puy greift diesen Gedanken auf und stellt in einem seiner Aphorismen fest: «Les hommes sentent qu'ils sont nez libres, & ils deviennent esclaves par leur ambition, o u par leurs besoins» ( D u Puy, Diverses maximes et reflexions, Paris: N. Gosselin 1707, Aph. 160, p. 55).

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telnde Sozialtechnik bezogen. Genauer-. Im Zusammenhang mit dem Wirkungsinteresse der vorgestellten Traktate wird ambition zu einem normativen Begriff, während es sich bei den passions nur um deskriptive Theorieelemente handelt. Deshalb ist die Paradoxie der passions ein Problem theoretischer Konstruktion, die Frage nach der ambition hingegen eine der lebenspraktischen Orientierung: sie hat eine ganz andere Qualität. Auf der Ebene des Rationalitätsbegriffs läßt sich folglich keine Antwort auf die Ausgangsfirage finden. Allerdings beweist das Projekt pragmatischer Rationalität, daß den passions innerhalb des höfischen Verhaltenscodes eine Funktionsstelle zukommt und daß sich auch die ambition unter dem doppelten Rationalitätsprimat behaupten kann.

1.3 Legitime soziale Ungleichheit und relative Norm Unseren bisherigen Überlegungen zufolge realisiert sich ambition stets im Wertesystem des art de plaire, in dem die Erfahrungswirklichkeit des Subjekts auf der Grundlage einer weitreichenden sozialen Differenzierung ausgelegt wird. In dieser Konzeption werden soziale Verhältnisse über ständische Bindungen vergegenwärtigt, und die gesellschaftliche Praxis erscheint als Konkurrenz um Status- und Prestigechancen der Macht. Unter einem doppelten Rationalitätsprimat fordert der art de plaire einen Kanon von Verhaltensnormen, der die Akkumulation von honneur/estime (als Formen akzidenteller Qualität) und damit die Ausweitung persönlicher Vorrechte intendiert. Insofern als der art de plaire auf Privilegierung gerichtet ist, postuliert er die legitime soziale Ungleichheit der Subjekte, die sich objektiv in der höfisch-feudalen Ständeordnung ausdrückt. Gesellschaftliche Ordnung und art de plaire sind demnach über das Ideologem gerechtfertigter sozialer Differenz vermittelt. Dieser Zusammenhang von ständischer Hierarchie und höfischer Sozialtechnik stellt die frühen Moralisten vor das Problem der normativen Geltung. Zwar ist die oberste Norm - plaire - für alle Subjekte bindend, doch muß sich eine ranghohe Person notwendig anders verhalten als ein inférieur. Das Ungleichheitspostulat wird gegenstandslos, wenn ihr Verhalten identisch ist. Daraus folgt, daß die Verhaltensnormen nicht für alle Mitglieder der höfischen Gesellschaft im gleichen Maße verpflichtend sind. Unter den Bedingungen gesellschaftlicher Privilegierung kann der Normenkanon in der Formulierung seiner Imperative nicht von der Standeszugehörigkeit der handelnden Subjekte abstrahieren, mit anderen Worten: Das System ständischer Vorrechte relativiert die Verbindlichkeit des Verhaltenscodes unter 52

dem Aspekt sozialer Dignität. Dieses Strukturmerkmal höfischer Normativität drückt sich in Farets Traktat beispielsweise in der Bewertung der bons mots aus, die er zunächst als «dangereux» für den gesellschaftlichen Aufstieg einstuft. Wenig später hebt er jedoch hervor, «qu'ils ne plaisent pas seulement à ceux qui les escoutent, comme font toutes les choses bonnes, mais encore font regarder celuy qui les dit avec une extraordinaire admiration» (L'honneste homme, p. 83). Die Norm, um die es hier geht, ist das Verbot der bons mots, das für den art de plaire unter bestimmten Bedingungen aufgehoben werden kann. Obwohl der Gebrauch von bons mots wie kaum eine zweite Verhaltensweise dazu geeignet ist, dem Subjekt akzidentelle Qualität (hier: «admiration») zu sichern, hält Faret ihn - sofern er spontan erfolgt - für gefahrlich und empfiehlt den Lesern, zuvor zu überlegen: Et pour se servir agréablement d'une chose si rare, comme sont Les bons mots, il faut observer des reigles, et se retenir dans plusieurs considérations, sans lesquelles ils perdent souvent toute leur grâce. Il faut regarder qui nous sommes, quel rang tient celuy que nous voulons picquer, de quelle nature est la chose sur laquelle nous voulons exercer nostre esprit, en quelle occasion c'est, en quelle compagnie, et en fin quelle est la chose que nous voulons dire, et si l'on peut esperer avec apparence qu'elle doive passer pour bon mot. (L'honneste homme, p. 83) Die «reigles», von denen Faret spricht, sind keine Verhaltensnormen in dem Sinne, daß sie zu gesellschaftlich adäquatem Betragen anleiten. Sie benennen vielmehr diejenigen Bedingungen, unter denen bestimmte soziale Normen (hier das Verbot der bons mots) suspendiert werden können. Während Farets Postulate generell negativ nach dem Muster des 'Du sollst nicht ...' formuliert sind, haben diese «reigles» die Form des 'Du darfist doch, wenn ...'. Bevor das Subjekt ein bon mot ausspricht, muß es sich vergewissern, ob alle Bedingungen, die das Verbot aufheben, tatsächlich erfüllt sind. Die «considérations», die einem etwaigen Normenbruch vorausgehen müssen, beziehen sich zum einen auf den Gegenstand der bons mots, der sowohl eine bestimmte Person als auch ein fait social sein kann, und zum anderen auf die Umstände der Äußerung, d.h. auf die Redesituation («occasion») und die Adressaten («compagnie»). Die Funktion der «reigles» liegt darin, daß sie den Sprecher in die Schranken des gesellschaftlich Zulässigen verweisen und den Respekt gegenüber ranghöheren Personen sowie zentralen herrschaftlichen Institutionen garantieren sollen. Sie sind dazu bestimmt, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse zu sichern und gegen Kritik abzuschirmen. Mit seiner Forderung, das Subjekt solle die Redesituation und 53

die möglichen Reaktionen der Adressaten berücksichtigen, ordnet Faret diese Regeln der Kalkulation von Gewinn und Verlust von Status- und Prestigechancen der Macht unter und verdeutlicht damit zugleich den Funktionsmodus pragmatischer Rationalität. - Darüber hinaus enthalten die Ausführungen zu den bons mots ein qualitativ neues Element: die «considerations», die das handelnde Subjekt anzustellen hat, bevor es ein bort mot ausspricht, umfassen auch die Bestimmung «II faut regarder qui nous sommes.» Aus dem Zitat ist zu ersehen, daß Faret die Reflexion auf den eigenen Status für unverzichtbar hält. Im Unterschied zu den übrigen «considerations», die den Geltungsbereich der Norm nach Maßgabe der unterschiedlichen Bedingungen sozialer Interaktion festlegen, überdenkt das Subjekt hier die Möglichkeit einer grundsätzlichen Befreiung vom normativen Zwang für die eigene Person, genauer: für die eigene Statusgruppe. Die qualitative Differenz dieser Überlegungen gegenüber den vorausgegangenen ist evident: Als nähere Bestimmungen zu den Umständen einer Handlung sind die «reigles», welche die Redesituation und die Adressaten einer sprachlichen Handlung betreffen, für alle Subjekte identisch und legen die Verbindlichkeit der Norm in Abstraktion von der handelnden Person fest. Der normative Geltungsanspruch bleibt durch diese Einschränkungen insofern allgemein gegeben, als diese ausschließlich solche Bedingungen benennen, die für alle Subjekte in gleichem Maße relevant sind oder sein können. - Demgegenüber wird das Verbot der bons mots durch die Bestimmung «il faut regarder qui nous sommes» gruppenspezifisch außer Kraft gesetzt, und der Geltungsanspruch der Norm wird nach sozialen Gesichtspunkten differenziert. Die neue Qualität der normativen Bestimmungen liegt darin, daß die Imperative, die bisher für alle Rezipienten verbindlich waren, nunmehr für eine bestimmte privilegierte Gruppe irrelevant geworden sind. Für die Norm Verbot von bons mots' folgt daraus, daß ihr Geltungsanspruch sich umgekehrt proportional zu den Privilegien des handelnden Subjekts verhält: einem gering privilegierten Subjekt bleiben die bons mots gundsätzlich versagt, während eine hierarchisch hochrangige Person sich ihrer unter bestimmten Bedingungen bedienen darf. Ständische Privilegien entscheiden über die praktische Relevanz sozialer Normen. Dies bedeutet, daß die Verbindlichkeit der höfischen Imperative mit steigenden Privilegien abnimmt. Wenn sich das Modell normativer Geltungen, das am Beispiel der bons mots entwickelt wurde, auch auf andere Normen übertragen läßt, so kann im Hinblick auf den art de plaire von relativen Normen gesprochen werden - relativ insofern, als sie nicht intersubjektiv verallgemeinert werden können, sondern eine sozial differenzierte Verbindlichkeit implizieren. 54

Das Strukturmodell der normativen Geltungen hat dann die Form einer umgekehrten Pyramide, in der die normativ-indifferenten Handlungsspielräume nach oben hin z u n e h m e n . 2 8 Farets Theorie behält ganze Bereiche gesellschaftlichen Handelns exklusiv bestimmten Gruppen vor. Besonders deutlich wird diese Zuweisung am Beispiel des Waffenhandwerks, von dem die meisten Subjekte ausgeschlossen bleiben sollen: C'est par les armes principalement que la Noblesse s'acquiert, c'est par les armes aussi qu'elle se doit conserver, et s'ouvrir le chemin à la garnde (sic!) réputation, et de là aux grands honneurs. [...] Cependant, comme il n'y a personne qui ne soit jaloux de sa réputation, sur tout aux choses de sa profession, à combien plus forte raison un Gentilhomme se doit-il picquer de celle de ses armes, qui sont les véritables marques de sa Noblesse? (L'honneste homme, p. 12sq) Unter Berufung auf ritterliche Traditionen wird das Kriegshandwerk als ein Privileg geschildert, das den Aristokraten vorbehalten ist. 2 ^ Zugleich werden die Exerzitien funktional auf den Komplex hotineur/estime bezogen und damit dem art de plaire unterstellt. In der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen ist das Waffenhandwerk ständisch gebunden: Die unterprivilegierten Gruppen bleiben von diesem Instrument des art de plaire ausgeschlossen. Von vergleichbarer Exklusivität ist der Bereich der bonnes lettres, der eine bestimmte Begabung verlangt, von der es einserseits heißt, daß «ceux qui la possèdent ayent quelque chose au dessus de

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Norbert Elias reflektiert die soziale Funktion derartiger Handlungsspielräume im Zusammenhang höfischer Etikette und stellt fest: «Die Etikette hat überall Spielräume, deren er (der König, F.W.) sich nach seinem Gutdünken bedient, um auch im kleinen das Ansehen der Menschen am Hofe zu bestimmen. [...] er nutzt die Prestige- und Gunstkonkurrenz der höfischen Menschen, um durch die genaue Abstufung der Gunst, in der ein Mensch bei ihm steht, Rangordnung und Ansehen der Menschen innerhalb der Hofgesellschaft je nach seinem Herrschaftszweck zu variieren [...] Die Etikette-Apparatur ist noch nicht versteinert, sondern sie bildet in den Händen des Königs ein höchst flexibles Herrschaftsinstrument» (Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, op. cit., p. 137). Auch die Normen höfischer Etikette sind folglich suspendierbar und in ihrem Geltungsanspruch je nach sozialem Stand unterschiedlich verbindlich. Fritz Nies stellt in anderem Zusammenhang fest, «daß der alte Adel das Waffenhandwerk als einzige ernsthafte Betätigung sah, die seiner würdig war», und sorgsam über sein soziales Privileg wachte (Nies, Gattungspoetik und Publikumsstruktur. Zur Geschichte der S6vign6briefe, (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Bd. 21), München: Fink 1972, p. 80). 55

l'homme, et soient eslevez à une condition approchante de la divine» (L'honneste homme, p. 25), zu der andererseits aber in einer Kapitelüberschrift angemerkt wird: «De l'excellence des bonnes lettres, et combien elles sont convenables a la noblesse principalement» (L'honneste homme, p. 25). Offensichtlich reglementiert der art de plaire den Zugang zu dieser Tätigkeit. Innerhalb der gesellschaftlichen Praxis kommt der Aristokratie ein größerer Interaktionsspielraum zu als den weniger privilegierten Gruppen, die sich auf anderem Gebiet exponieren müssen. Wie diese Beispiele zeigen, beruht die höfische Sozialtechnik auf einem Kanon relativer Normen, deren Verbindlichkeit sozial determiniert ist. Die soziale Relativierung der Gültigkeit von Normen kann nicht o h n e Konsequenzen für die Konzeption des honnête homme bleiben, die d a s Leitmotiv beider Moralisten ist. Für Gerhard Hess liegt das Besondere des honnête homme im 17. Jahrhundert darin, daß dieser «'in erster Ausprägung ein gesellschaftlicher Begriff [ist] (zit.n. F. Schalk, F.W.), aber unabhängig von einem bestimmten Stande»^ 0 sein u n d damit außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung stehen soll. Ähnlich argumentiert Werner Krauss, der seine Auflassung zur honnêteté durch ein Zitat von Peter Klassen verdeutlicht, demzufolge dieses Ideal «nicht nur von allem Ständischen, sondern überhaupt von allen jeweils gegebenen lebensmäßigen Bindungen absieht.»3 1 Der honnête homme, s o heißt es weiter, sei insbesondere durch seine «Außerweltiichkeit>3 2 charakterisiert. Der gemeinsame Nenner von Hess und Krauss liegt in der Definition des honnête homme als eines gesellschaftlich Außenstehenden. In eine moderne Theoriesprache übersetzt, definieren beide die honnêteté als Kanon von Verhaltensnormen mit universaler Geltung, welche die Grenzen der ständischen Ordnung latent überschreiten. Diese These kann angesichts der hier vorgetragenen Interpretation nicht aufrechterhalten werden. Insofern als man Farets honnête homme als Modell einer umfassenden Realisierung des art de plaire ansehen darf - wie es der Titel des Traktats 'L'honneste homme ou l'art de plaire à la court' nahelegt - ist dessen Verhalten nämlich durch relative Normen bestimmt, er verläßt nicht 30

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Gerhard Hess, Wege des Humanismus im Frankreich des 17. Jahrhunderts. In: Id., Gesellschaft - Literatur - Wissenschaft. Gesammelte Schriften 1938-1966, ed. H.-R. Jauß et al., München: Fink 1967, p. 73sq; Cf. auch Oskar Roth, Die Gesellschaft der honnêtes gens. Zur sozialethischen Grundlegung des honnêteté-Ideals bei La Rochefoucauld, op. cit., P- 33. Werner Krauss, Über die Träger der klassischen Gesinnung im 17. Jahrhundert. In: Id., Gesammelte Aufsätze zur Literatur- und Sprachwissenschaft, Frankfurt/M.: Klostermann 1949, p. 324. Ib.

den Rahmen des ständisch Zulässigen. Sein Verhalten bleibt innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung und ist keineswegs 'außerweltlich'. Im Abschnitt 'De quelle sorte un honneste-homme se doit desmeler d'entre ces différentes conditions' merkt Faret hierzu an: Un Honeste-homme, parmy toutes ces sortes de conditions, juge de ce que la sienne luy peut permettre honnestement, et sçait relascher et retenir de sa courtoisie autant qu'il est nécessaire, pour ne rien faire d'indigne du personnage qu'il represente. (L'honneste homme, p. 88) Der bereits angesprochene Imperativ des «il faut regarder qui nous sommes» wird hier als eine verbindliche Reflexion des honnête homme auf seinen Stand und auf das diesem gemäße Verhalten präzisiert. Er muß sein Benehmen seinem Rang anpassen, der die jeweiligen Handlungsspielräume über relative Normen festlegt. Damit ist nun zweierlei gesagt: zum einen ist die Standeszugehörigkeit als Kriterium des honnête homme in bestimmten Grenzen tatsächlich irrelevant, denn wenn er beispielsweise ein Angehöriger der Hocharistokratie wäre, würde sich die oben angeführte Reflexion erübrigen. Zum anderen jedoch sind die normativen Ansprüche an die honnêtes gens - soweit sie den art de plaire betreffen - in der gesellschaftlichen Praxis über relative Normen formuliert und damit differenziert. Zwar kommt dem Konzept des honnête homme tatsächlich ein ständetranszendierendes Moment zu, doch ist die These von Hess und Krauss dahin zu relativieren, daß es in der gesellschaftlichen Praxis weitgehend folgenlos bleibt. 3 3 Diese Relativierung betrifft allein den art de plaire. Es wird sich später noch erweisen, daß der honnête homme in einem anderen Normensystem sozial übergreifend konzipiert ist. Von hier aus muß der Zusammenhang von normativer Sozialtechnik und gesellschaftlicher Ordnung so bestimmt werden: Auf der Grundlage legitimer sozialer Ungleichheit postuliert die höfisch-feudale Ständeordnung ein System gruppenspezifischer Privilegierung, innerhalb dessen sich das handelnde Subjekt nur auf der Basis relativer Normen orientieren kann. Im ganzen gesehen, baut sich der art

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Im Sinne dieser Ausführungen plädiert auch Fritz Nies für eine sozial differenzierte Auslegung des honnête homme, dessen Haltungsmodelle sich «auf das Selbstverständnis des alten Adels (beziehen lassen müssen), der sich durch sie ideologisch abzuschirmen sucht vor den in der gesellschaftlichen Wirklichkeit immer ungestümer nach oben drängenden Schichten aus Großbürgertum und Amtsadel» (Nies, Gattungspoetik und Publikumsstruktur. Zur Geschichte der Sévignébriefe, op. cit., p. 23). Die ideologische Zurechenbarkeit hebt die ständetranszendierende Interpretation des Verhaltensmodells honnête homme bei Hess und Krauss auf. 57

de plaire als Komplex differenzierter Verhaltensweisen auf, deren intersubjektive Verallgemeinerung mit Rücksicht auf die reale gesellschaftliche Ordnung vermieden wird. Auch das potentiell ständetranszendierende Konzept des honnête homme wird für die gesellschaftliche Praxis auf der Basis relativer Normen neutralisiert. An dieser Stelle ist es erforderlich, einen Überblick über die Struktur und die Funktion des art de plaire zu geben und den Zusammenhang zu der Ausgangsfrage nach der ambivalenten Einschätzung der ambition zu verdeutlichen. In Form theoretischer Vorüberlegungen wurde die offensichtliche Schwierigkeit, die ambition in ein normatives Verhaltensmodell zu integrieren, hypothetisch auf einen umfassenden Wertewandel der höfischen Gesellschaft zurückgeführt. Um dies zu beweisen, ist es notwendig, die widersprüchlich-ambivalente Einschätzung der ambition als eine Bruchstelle heterogener Wertesysteme zu interpretieren, in denen sie unterschiedlich definiert und beurteilt wird. Die Frage nach der ambition ist der Schlüssel, mit dem die aporetische Grundstruktur der hier diskutierten Texte, allen voran Farets, erschlossen werden kann. Die ambition konnte als subjektive Disposition zur normativen Sozialtechnik des art de plaire bestimmt werden, deren implizites Wertesystem nun entfaltet vorliegt. Faret und de Refuge stellen den art de plaire dem wesentlich älteren Prinzip der aktiven Bewährung durch Heldentaten an die Seite, die beide als Verhaltensstrategien in der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen fungieren. In dieser Bestimmung zielt der art de plaire auf den Gewinn und die Erhaltung sozialer Privilegien, die sich objektiv in der Ständehierarchie manifestieren. Letztere ist nicht nur Bedingung seiner Möglichkeit, sondern zugleich Ausdruck seiner umfassenden Realisierung. Gesellschaftliche Ordnung und normative Sozialtechnik sind über den Begriff akzidenteller Qualität (honneur/estime) vermittelt, durch den sich die Vergabe der Privilegien legitimiert. - Die Analyse des doppelten Rationalitätsprimats, der die paradoxe Bestimmung der passions zwischen subjektiver und pragmatischer Vernunft aufdeckt, trägt zur Klärung der Ausgangsfrage bei, da sie den Nachweis einer möglichen Funktionalisierung und der Legitimität der ambition als passion im an sich leidenschaftsfeindlichen Gesamtsystem erbringt. - Die Untersuchung der Postulate Farets hat ergeben, daß der art de plaire soziale Orientierung nur in Form relativer Normen geben kann und daß seine Imperative ständisch differenziert sind. Das komplexe System personaler Privilegierung ist auf der Grundlage intersubjektiv verallgemeinerter Normativität nicht zu rechtfertigen. Damit ist die Struktur eines Normen- und Wertekanons umrissen, der analog zu den realen gesellschaftlichen Gegebenheiten konzipiert ist. Die ambition erscheint hier

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als integrales Element einer sozial affirmativen Theoriebildung, das weit davon entfernt ist, die Ordnung der Gesellschaft zu stören und deren heiligste Gebote zu verletzen, um die negativen Aspekte seiner ambivalenten Beurteilung zu paraphrasieren. Das Wertesystem, auf das der art de plaire aufbaut und in das sich die ambition problemlos und widerspruchsfrei einfügt, ist damit in seinen Grundlinien aufgezeichnet. - Ein ganz anders strukturiertes System kündigt sich durch die Einführung moralischer Begriffe an.

2. Zum Verhaltenscode vertu/morale Die bisherigen Ausführungen skizzieren den art de plaire als ein Wertesystem, das soziale Orientierung vermittelt und zur Identitätsbildung der Höflinge beiträgt. Innerhalb einer Erfahrungswirklichkeit, die mit den realen zeitgenössischen Institutionen übereinstimmt, handelt das Subjekt auf der Grundlage der Konkurrenz um Statusund Prestigechancen, die ihm von der höfischen Öffentlichkeit als äußerliches Attribut (akzidentelle Qualität) zuerkannt werden. Diese Qualität kommt dem Subjekt in Form von honneur/estime zu und legt den Umfang seiner Privilegien fest. Farets Theorie kennt allerdings nicht nur das Phänomen akzidenteller Qualität, sondern stellt ihm im Abschnitt 'De l'estime et comme elle se doit acquérir' auch substantielle Qualität an die Seite. Beide Bezeichnungen sollen in einem notwendigen Sukzessionsverhältnis zueinander stehen, das den Widerspruch zwischen ihnen ausschließt (Cf. L'honneste homme, p. 40). In diesem Modell geht die substantielle Qualität der akzidentellen stets voraus und fungiert als Legitimationsgrundlage für das öffentliche estime. Damit wird die Differenz beider als eine zeitliche bestimmt. Substantielle und akzidentelle Qualität sind bei Faret in Form einer prästabilierten Harmonie vermittelt und in ihrer Funktion potentiell austauschbar. Immer, wenn die Normen des art de plaire sich auf den Erwerb akzidenteller Qualität konzentrieren, ist die ihnen korrespondierende substantielle Qualität mitgesetzt. Vor diesem theoretischen Hintergrund heben die frühen Moralisten die Bedeutung der akzidentellen Qualität hervor, jedoch nicht ohne auf deren strukturelle Defizite hinzuweisen. Insbesondere die Tatsache, daß der Grad der gesellschaftlichen Anerkennung, die einer Person entgegengebracht wird, wesentlich von der öffentlichen Meinung abhängt, veranlaßt Faret zu einer kritischen Einschätzung. In bezug auf die réputation heißt es:

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Car la réputation ne consistant, comme elle fait, qu'en l'opinion, qui se tourne facilement de bonne en mauvaise, et estant le propre des esprits vains, de s'attaquer tousjours aux choses les plus relevées. (L'honneste homme, p.99)

Ein Grundproblem der akzidentellen Qualität besteht offenbar darin, daß sie dem handelnden Subjekt über die opinion zukommt, welche im gleichen Traktat abschätzig als «pouvoir tyrannique» bezeichnet wird, deren einzige Funktion der «aveuglement» sei (Cf. L'honneste homme, p. 62). Weil die öffentliche Meinung sich permanent verändert und häufigen Schwankungen unterliegt, muß notwendig auch die akzidentelle Qualität instabil und schwer kalkulierbar sein. - Ahnlich äußert sich Sebastien de Senlis in seinen 'Les maximes du sage pour le règlement des moeurs'(1648), die rund zwanzig Jahre nach Farets Traktat erschienen. Es heißt dort zu den honneurs-. «Apres tout, il faut conclure que tous les honneurs du Monde, [...] sont dans le regne de l'opinion, & de l'inconstance.»34 De Senlis' Bestimmung beruht auf einem Stabilitäts- und Sicherheitsbedürfhis, das für viele Moralisten kennzeichnend ist. Die akzidentelle Qualität kann aufgrund ihrer Vermittlung mit der opinion zeitlich nicht generalisiert werden und verliert deshalb für die Theorie an Bedeutung. De Senlis benennt aber auch dauerhaftere Qualitätskriterien, nach denen eine Person beurteilt werden kann. Unmittelbar vor der zitierten Passage stellt er fest: «Nous n'auons rien d'immortel, que les biens de l'Ame.»35 im Gegensatz zur honneur, die durch das gesellschaftliche Urteil entsteht, beschreibt de Senlis hier eine dem Subjekt substantiell zukommende Qualität, die von der öffentlichen Meinung unabhängig und deshalb beständiger ist. Faret vertritt vergleichbare Positionen, sie wurden im Zusammenhang mit dem «ce que l'on vaut» bereits angesprochen. Im Abschnitt 'Des qualitez de l'esprit' präzisiert Faret, was hierunter zu verstehen ist: Pour celles de l'Esprit elles sont presque infinies, et sont tousjours excellentes, lors qu'elles ont pour guide la Vertu, qui comme la lumière

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Sebastien de Senlis, Les maximes du sage, pour le règlement des mœurs. Dediees à Monseigneur Le Chanceliier, Paris: S. Huré 1648, p. 115. - Neben de Senlis tritt vor allem du Camp d'Orgas als Kritiker der honneur hervor: «Gens avides d'honneur, je ris d'un tel caprice, des jugements de l'homme, apprenez l'injustice» (du Camp d'Orgas, Reflexions solitaires sur la vie et sur les erreurs des hommes, Paris: G. Quinet 1689, p. 4). Sebastien de Senlis, Les maximes du sage, pour le règlement des mœurs. Dediees à Monseigneur Le Chanceliier, Paris: S. Huré 1648, p. 114.

du Soleil rend plus beaux et plus éclattans tous les objets à qui elle se communique. (L'honneste homme, p. 22)

Die Verwendung der Begiffe «immortel» (de Senlis) und «toujours» (Faret) zeigt an, daß schon die frühen Moralisten dem Subjekt eine substantielle Qualität zugesprochen haben. Beide Autoren beziehen sich in ihrem Urteil ausschließlich auf das handelnde Subjekt selbst und rücken von der Beurteilung ab, die seitens der höfischen Sozialtechnik gefordert ist. Faret geht insofern noch über de Senlis hinaus, als er diese beständige Qualität, die ich an anderer Stelle als substantiell bezeichnet habe, auf den Begriff der vertu zurückführt. Vom Begriff der Tugend aus - so lautet meine These - läßt sich das zweite andersartig strukturierte Wertesystem ableiten, das dem art de plaire an die Seite gestellt ist. Faret beschreibt die vertu im Unterschied zum Komplex honneur/estime als eine unwandelbare Qualität, die dem handelnden Subjekt entweder wesenhaft zukommt oder nicht, die sich selbst genügt und die auf keine Öffentlichkeit angewiesen ist, vor der sie sich exponieren müßte. Vor dem Hintergrund dieser Bestimmung kann der Autor die modestie als «la plus nécessaire de toutes les vertus» (L'honneste homme, p. 101) einfuhren - eine Eigenschaft also, die gerade dadurch definiert ist, daß sie auf jede Selbstdarstellung verzichtet und dem öffentlichen Urteil gleichgültig gegenübersteht (Cf. L'honneste homme, p. 43). Innerhalb der Normen des art de plaire kann die modestie aufgrund eben dieser Bestimmung nicht funktionalisiert werden, welche sie für die vertu aber besonders wertvoll macht. Faret behauptet nämlich meistens ihre Selbstbezüglichkeit, allerdings definiert er die Tugend vereinzelt auch über ihre Außenwirkung, die er einmal sogar bildhaft mit der der Sonne vergleicht. Auch andernorts spricht er von der «vertu que nous respectons, laquelle a d'autant plus de charmes pour se faire admirer, quelle est accompagnée des Grâces, et comme esclairee des rayons de la Beauté» (L'honneste homme, p. 96). Obwohl die substantielle Qualität des öffentlichen Urteils nicht bedarf, konstruiert Faret doch immer wieder einen Zusammenhang mit der opinion. Mit diesem Schritt gelingt es ihm, die Unterschiede zwischen beiden Qualitäten zu verwischen und die Theorie oberflächlich zu homogenisieren.^ Auf 36

So heißt es an anderer Stelle: «L'industrie ayde beaucoup à faire esclater la vertu» (Nicolas Faret, L'honneste homme ou l'art de plaire à la court, op. cit., p. 59) und im Zusammenhang mit dem persönlichen Erfolg geht Faret davon aus, «que celuy qui n'a que sa vertu pour guide et pour support, est arrivé à ce haut comble de gloire, de se trouver comme compagnon de ceux qu'il pourrait avec honneur nommer ses maistres.» (Ib., p. 65). In beiden Fällen wird die vertu in die Nähe akzidenteller Qualität gerückt, die ihr strukturell fremd ist.

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diese Besonderheit der Argumentation wird später noch zurückzukommen sein. Es muß zunächst festgehalten werden, daß die akzidentelle Qualität, die im art de plaire wichtige Funktionen innehat, im Wertesystem der vertu durch ihr substantielles Äquivalent ersetzt wird, dessen Vorzug darin besteht, daß es zeitlich generalisierbar sein soll. Wenn meine Hypothese, derzufolge Farets Traktat auf zwei heterogenen Wertesystemen (dem art de plaire und der vertu) aufgebaut ist, zutrifft, so müssen nicht nur die jeweiligen Qualitätsparameter unterschiedlich abgeleitet sein, sondern es müssen darüber hinaus die normativen Interpretationen der gesellschaftlichen Praxis divergierenden Leitvorstellungen folgen. - Als normatives Kernstück des art de plaire formulieren Faret und andere frühe Moralisten einen doppelten Rationalitätsprimat, der neben einer bestimmten psychischen Disposition des handelnden Subjekts einen Verhaltenstypus postuliert, der die Rahmenbedingungen jeder Interaktion im Hinblick auf Gewinn und Verlust an Status- und Prestigechancen einschätzt und diesbezügliche Verhaltensstrategien entwirft. Beide Funktionsbestimmungen der raison rekurrieren auf einen Rationalitätsbegriff, dessen innerweltlicher Ursprung hier ganz deutlich wird: Der Normenkanon des art de plaire reglementiert das Sozialverhalten entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen und bietet als Gegenleistung die allgemeine Anerkennung in Form von Privilegien. Seine Legitimation ist unmittelbar an die der sozialen Institutionen gebunden, von denen er sich ableitet. - Orientiert sich das Sozialverhalten im art de plaire also an den gegebenen Institutionen höfischen Lebens, so beruft sich die mit dem Tugendbegriff evozierte Moral auf die Institution Religion. In Farets Theorie ist Moral gleichbedeutend mit den «Vertus Chrestiennes» (Cf. L'honneste homme, p. 32), und ohne Religion, so heißt es, «il n'y a point de probité» (L'honneste homme, p. 32). Der Nexus von Moral und Religion ist offensichtlich: Sur ce grand et ferme apuy de la Religion, se doivent fonder toutes les autres vertus, qui après nous avoir rendus agreables à Dieu, nous font plaire aux hommes, et nous donnent à nous mesmes une certaine satisfaction secrette, qui nous fait jouyr d'un repos solide au milieu des in quietudes de la Cour. (L'honneste homme, p. 33)

Durch diese metaphysische Legitimation von vertu/morale müssen sich alle handelnden Subjekte, unabhängig von ihrer Standeszugehörigkeit, vor Gott ausweisen,wodurch der Glaube funktional an 37

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Die Bedeutung der Institution Religion als einer egalitären Grundstruktur im ideologischen Kontext des 17. Jahrhunderts liegt nach Niklas

die Stelle der Rationalität tritt: «C'est cette crainte (de Dieu, F.W.) qui nous rend hardis dans les dangers, [...] qui reigle nos mœurs, et nous lait chérir des gens de bien, et redouter des meschans» (L'honneste homme, p. 33)- Die Erfahrungswirklichkeit des handelnden Subjekts ist infolge der transzendenten Verankerung der vertu nicht nach sozialen, sondern nach ethischen Gesichtspunkten strukturiert. Der moralische Kosmos ist nach «gens de bien» und «meschans» differenziert und nicht, wie der des art de plaire, nach «supérieurs», «esgaux» und «inférieurs». Im Entwurf einer höfischen Sozialtechnik wird gesellschaftliche Wirklichkeit nur insofern normativ erfaßt, als sie für die Zuweisung akzidenteller Qualität relevant ist. Deshalb sind von den hierarchisch gestaffelten Interaktionsmöglichkeiten insbesondere der Umgang mit den «supérieurs» und den «esgaux» von Bedeutung, während der Kontakt zu den «inférieurs» als gefährlich gilt und vermieden werden soll. Demgegenüber spielt genau dieser Bereich gesellschaftlichen Handelns innerhalb einer ethisch strukturierten Erfahrungswirklichkeit die herausragende Rolle und wird von den Normen der vertu detailliert beschrieben. Als ethische Imperative zählt Faret im einzelnen auf: Secourir les miserables, prendre part à la douleur d'un affligé, ayder à la foiblesse de ceux qui sont opprimez d'une puissance injuste, prévenir par nos services les prières de ceux qui ont besoin de nostre assistance, proteger les innocens, seconder les desseins des gens de bien, accorder les querelles, pacifier les différents, estouffer les mauvaises affaires des opiniastres et des imbecilles, et enfin employer tout son esprit, son authorité, et son industrie à ne faire que du bien, sont-ce pas des actions, sinon divines, du moins plus qu'humaines, et sur tout en un siècle où l'humanité semble estre bannie du monde? (L'honneste homme, p. 43sq)

Die Pflichten des handelnden Subjekts sind im Sinne der christlichen Caritas insbesondere auf sozial benachteiligte Gruppen bezogen, die wie «misérables» und «opprimez» - Opfer gesellschaftlicher Herrschaft geworden sind. Von Bedeutung ist nicht der Rang, den eine Person bekleidet, sondern, wie die Bezeichnungen «innocens» und «gens de bien» anzeigen, ihr ethisch-substantieller Wert. Nach traditioneller Auffassung stehen beide in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander.3 8 Im Gegensatz zur höfischen Sozialtechnik, deren

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Luhmann in ihrer Möglichkeit zur "Gegensymbolisierung", denn mit ihrer Hilfe kann «die für die Systemdifferenzierung notwendige Ungleichheit in Frage gestellt werden» (Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, op. cit., p. 78). Die Überzeugung, derzufolge das Seelenheil und der moralische Wert bei einer ranghohen oder reichen Person stärker gefährdet ist als bei

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Realitätsbegriff von der legitimen sozialen Ungleichheit ausgeht und deren Normen im Hinblick auf Herrschaftsinteressen formuliert sind, behauptet die Moral die prinzipielle Gleichheit aller Menschen vor Gott und differenziert das Personenspektrum unter dem Aspekt substantieller Qualität. Jenseits der realen Herrschaftsstrukturen und individuellen Aufstiegsambitionen intendiert die vertu die Verwirklichung eines moralischen biert, das sich aus religiösen Glaubensinhalten herleitet und legitimiert. Demgegenüber gibt es für die höfische Sozialtechnik kein Gut und Böse, sondern nur die Konkurrenz von Subjekten mit gleichgerichteten Interessen, deren Legitimität nicht gegeneinander aufgerechnet werden kann. Normengerechtes Verhalten im Sinne des art de plaire ist folglich stets interessegeleitet, und Normenübertretungen sind nur insofern möglich, als das Verhalten sozial inadäquat und damit auch gegen die Interessen des Handelnden gerichtet ist. Der Durchsetzung egoistischer Motive stellt der Moralbegriff ein altruistisches Verhaltensmodell entgegen, dem es um die Durchsetzung eines Normensystems geht, das frei von Partikularinteressen formuliert ist. Solange selbstbezügliche Interessen die Basis der höfischen Sozialtechnik bilden, lassen sie sich vom Standpunkt eines Tugendbegriffe, der sich auf christliche Dogmen beruft, nicht rechtfertigen. Entsprechend behauptet Faret im Abschnitt 'Contre les avares et ambitieux' einen «ordre de la raison, qui exige que l'interest des particuliers cede à celuy du public» (L'honneste homme, p. 38) und dokumentiert damit den modernen sozialphilosophischen Grundsatz, demzufolge «nur eine universalistische Moral, die allgemeine Normen (und verallgemeinerungsfähige Interessen) als vernünftig auszeichnet, [...] mit guten Gründen verteidigt werden [ k a n n ] . Die Durchsetzung des Wertesystems vertu/morale ist also nur dann möglich, wenn es gelingt, die Kategorie intérêt zu eliminieren. Von dieser Sicht aus müssen die unterschiedlichen Rechtfertigungsstrategien für die sozialpraktischen und die moralischen Normen so dargestellt werden: Der art de plaire beruft sich auf die feudalen Strukturen höfischer Lebenswirklichkeit und ist zentral am Begriff der Herrschaft orientiert. Demgegenüber basiert die vertu/morale auf

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einem inférieur, ist nach Max Weber eine Grundidee des christlichen Glaubens. Während sie ein generelles Kennzeichen des Katholizismus geblieben ist, konnte sie im Protestantismus durch das Modell der «innerweltlichen Askese» aufgefangen und für die gesellschaftliche Praxis über den Gedanken der Werkheiligkeit sogar in ihr Gegenteil verkehrt werden (Cf. Max Weber, Die protestantische Ethik I, ed. J. Winckelmann, Gütersloh: Mohn 1979, p 167). Jürgen Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? In: Id., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, p. 96.

einer metaphysischen Transzendenz, die in Gestalt der Institution Religion erscheint und deren konkrete Normen ausgehend vom Gedanken der Caritas formuliert sind. Statt der Partizipation an realer gesellschaftlicher Macht verspricht sie göttliches Wohlgefallen und Glückseligkeit. Auf der Subjektebene realisiert sich der art de plaire durch einen doppelten Rationalitätsprimat, dessen funktionale Bestimmung auf die Durchsetzung partikularer Interessen bezogen ist. Für das moralische Bewußtsein, das auf der Grundlage des Glaubens (crainte de Dieü) steht, sind hingegen nur verallgemeinerungsfahige Interessen relevant. Art de plaire und vertu/morale unterscheiden sich darüber hinaus unter dem Aspekt der normativen Geltung. Ausführlich widmet sich Faret dem Geltungsanspruch moralischer Normen im Abschnitt 'Des qualitez de l'esprit', in dem er die Vorzüge der vertu so auflistet: Aussi peut-on dire avec vérité, qu'entre les choses que nous possédons, il n'y a que celle-là qui ne soit point sujette à L'empire de la Fortune. Tout le reste releve de sa tyrannie. Tantost elle prend plaisir à renverser des throsnes, et à fouler aux pieds des Sceptres et des Couronnes: Tantost elle se joüe à ternir l'éclat des Beautez les plus florissantes, à ruyner des riches, et à tromper les mieux advisez par des accidents inoüys. La seule Vertu est au-dessus de tous ses outrages, et le comble de son excellence est qu'elle donne de l'admiration au Vice mesme, et imprime du respect jusques dans l'ame des meschants. (L'honneste homme, p. 23)

Die vertu wird von einem Begriff der fortune abgegrenzt, der dadurch charakterisiert ist, daß er Herrschaftsordnungen zerschlägt, Besitzverhältnisse umstößt und unvorhersehbare Ereignisse herbeiführt, kurz: die Rahmenbedingungen sozialen Handelns von Grund auf verändert. Die besondere Qualität der vertu liegt nun darin, sich von solcherlei Unbilden unbeeindruckt zu zeigen und den Geltungsanspruch ihres Normenkanons unabhängig von den jeweils gegebenen Situationen zu verfechten. Die Moral postuliert die situationsunabhängige und zeitlich generalisierbare Geltung ihrer Normen, weil sie von den Rahmenbedingungen sozialen Handelns absieht. - Doch weiter: Entsprechend der Gut/Böse-Schematisierung in der frühmoralistischen Auslegung gesellschaftlicher Erfahrungswirklichkeit reflektiert Faret das Verhältnis von vertu und vice. Dieses beschreibt er als eine einfache Opposition ohne dialektische Vermittlung, was dem heutigen Leser außerordentlich naiv anmutet. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Entwicklung moralischer Normenentwürfe im 17. Jahrhundert noch am Anfang stand und sich zusätzlich gegen die Konkurrenz andersgearteter Wertesysteme, wie beispielsweise dem art de plaire, zu behaupten hatte. Faret will durch die Gegenüber-

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Stellung der beiden Begriffe verdeutlichen, daß moralische Normen auch dort noch Wirkungen zeigen, wo sie explizit negiert werden: im vice. Zu diesem Problem formuliert er die These, daß die Tugend «se porte naturellement à engendrer dans les autres esprits une disposition pareille à la sienne propre» (L'honneste homme, p. 38), wodurch er ihr die Eigenschaft attestiert «de se reproduire soy-mesme» (L'honneste homme, p. 41). Sie selbst bleibt demgegenüber von der Unmoral völlig unberührt: «Le Sage peut au milieu des vices et de la corruption conserver sa vertu toute pure et sans tache» (L'honneste homme, p. 36). Unter dem Aspekt der höfischen Hierarchie führt Faret aus: En toutes sortes de conditions de vie que l'on se sçauroit figurer, la Vertu certes doit bien estre le premier object que l'on se propose; mais elle est si essentiellement le but de tous ceux qui se veulent faire considérer dans la Cour, qu'encore qu'elle ne s'y voye qu'avec des desguisements et des soüilleures, si est-ce que chacun veut faire croire qu'il la possédé toute pure, et sans artifice. (L'honneste homme, p. 23)

In dieser Passage, die für die Bestimmung normativer Geltungen entscheidend ist, postuliert der Autor die Möglichkeit einer intersubjektiven und statusunabhängigen Verallgemeinerung moralischer Normen, die für jedes Subjekt in gleichem Maße verbindlich sind.4° Aufgrund ihrer allgemeinen Generalisierbarkeit dulden sie keine sozial gestaffelten Handlungsfreiräume, sondern beanspruchen die universale Geltung ohne Ansehen der Person. Dieser Gleichheit der Subjekte vor den moralischen Postulaten steht in der höfischen Lebenswelt jedoch die reale gesellschaftliche Differenzierung in Form der Ständehierarchie gegenüber. Das bedeutet, daß die moralische Normativität die realen Herrschaftsverhältnisse abstrakt negiert und - unabhängig von der faktischen Gesellschaftshierarchie - eine innovative moralische Ordnung entwirft, die der ersteren notwendig widerspricht. Der Widerspruch läßt sich als Gegensatz von universeller Norm und sozialer Privilegierung beschreiben, denn «nach universalistisch zu rechtfertigenden Normen lassen sich bestimmte Gruppen von identitätsbildender Kraft (wie Familie, Stadt, Staat oder Nation) nicht mehr privilegieren.»^1 Fügt man Habermas' Aufzählung sozialer Institutionen noch den Stand hinzu, so wird die Grundstruktur des vorliegenden Widerspruchs erkennbar: Das moralische Postulat der potentiellen Gleichheit der Subjekte vor der Norm steht dem feudalen Ideologem 40

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In anderem Zusammenhang hebt Faret zusätzlich hervor, daß die vertu keine geschlechtsspezifischen Normen generiert (Cf. Faret, L'honneste homme ou l'art de plaire à la court, op. cit., p. 96). Jürgen Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, op. cit., p. 96.

legitimer sozialer Ungleichheit unvermittelt gegenüber. Der abstrakte Widerspruch von gesellschaftlicher und moralischer Ordnung produziert notwendig akute Orientierungsprobleme, die sich für das handelnde Subjekt so darstellen: Et n'y a nulle doute que de deux hommes également bien faicts, qui se présenteraient dans une compagnie, sans avoir encore donné aucune impression d'eux qui fist conoistre ce qu'ils pourraient valoir, lors que l'on viendrait à sçavoir que l'on est Gentil-homme et que l'autre ne l'est pas, il faudrait que ce dernier mist beaucoup de temps, devant que de donner de soy la bonne opinion que le Gentil-homme aurait acquise en un moment, par la seule connoissance que l'on aurait euë de son extraction. (L'honneste homme, p. 11)

Faret konfrontiert die soziale und die moralische Ordnung miteinander am Beispiel zweier moralisch gleich qualifizierter Personen, von denen jedoch nur eine adligen Standes ist, und führt aus, daß in einem solchen Fall stets dem Aristokraten der Vorzug gegeben werden würde. Der Gegensatz beider Wert- und Orientierungssysteme erscheint in Gestalt voneinander abweichender Beurteilungskriterien, die auf das bekannte Schema von substantieller («bien faict», «valoir») und akzidenteller Qualität («Gentil-homme», «opinion») rekurrieren. Die Möglichkeit eines Urteils beruht im angegebenen Beispiel auf der Voraussetzung, daß die substantielle Qualität der Vergleichspersonen als identisch angenommen wird, so daß der Wert der Person auf der Grundlage akzidenteller Qualität ermittelt werden kann. Im Gegensatz zur im übrigen durchgängig vorausgesetzten prästabilierten Harmonie von moralischer und sozialer Ordnung schließt diese Konstruktion die Möglichkeit des Widerspruchs insofern ein, als auch der Fall eines moralisch überlegenen Nichtaristokraten denkbar ist, der von Faret allerdings nicht diskutiert wird. Das Universalitätspostulat moralischer Normen kann im vorliegenden Fall nur deshalb mit traditionellen aristokratischen Privilegien versöhnt werden, weil die substantielle Qualität für das Urteil nicht relevant ist. Dieser Kunstgriff verdeckt die theoretische Aporie jedoch nur unvollkommen. Im Hinblick auf das ambition-Vroblem möchte ich zusammenfassen: Die ambivalente Beurteilung des Ehrgeizes wurde zunächst hypothetisch auf die parallele Konstruktion heterogener Wertesysteme zurückgeführt, die den Begriff im Kontext sozialethischer Theoriebildung unterschiedlich bewerten. - In der anschließenden Textanalyse konnten zwei strukturell verschiedene Systeme normativer Orientierung rekonstuiert werden, die als art de plaire und vertu/morale bezeichnet w u r d e n . I n n e r h a l b der Postulate des art de plaire steht der Begriff für eine bestimmte psychische Disposition, in der das

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Subjekt versucht, über rationale Verhaltenssteuerung soziale Privilegien zu akkumulieren. Dabei stimmt das äußerst interessegeleitete Verhalten insofern mit den gesellschaftlichen Ansprüchen und höfischen Institutionen überein, als es das System der Privilegierung ebenso voraussetzt wie die Legitimität feudaler Herrschaft. Individuellpartikulares und allgemeines Interesse lallen im art de plaire folglich zusammen und begründen sich wechselseitig. Dementsprechend kann Faret soziale Organisationsformen und partikulares Interesse als organische Einheit vorstellen, in der «le bien du Prince ne se séparé point de celuy de l'Estat, dont il est l'ame et le cœur, aussi bien que la teste» (L'honneste homme, p. 36). Im sozial affirmativen Wertesystem des art de plaire figuriert die ambition als eine Grundeinstellung, die an denjenigen feudalen Institutionen orientiert ist, die der Autor zu rechtfertigen versucht. Ganz anders die Argumentation im Kontext von vertu/morale, das als zweites Wertesystem in Farets Traktat von grundlegend neuer Struktur ist. In der Formulierung ihrer sozialen Normen beruft sich die vertu auf die Institution Religion und abstrahiert völlig von jeder innerweltlichen Interessensphäre. Eine Kalkulation von Status- und Prestigechancen ist ihr völlig fremd. Im Gegensatz zur höfischen Sozialtechnik gilt der vertu jedes interessegeleitete Verhalten von vornherein als suspekt. Was unter sozialtechnischem Blickwinkel als «le progrez des choses que nous entreprenons» legitim ist, wird unter moralischen Gesichtspunkten als egoistisches Streben des Einzelnen disqualifiziert. Unter diesen Voraussetzungen wird Balzacs Kritik an den «Hommes ambitieux» verständlich, «qui n'aiment que leur inte42

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Eine ähnliche Vermutung findet sich bei Jean Claude Tournand, der in Farets Traktat «deux éléments» erblickt, «qui, dans les faits, sont rarement compatibles, la nécessité d e plaire au souverain et la plus haute exigence morale» (Tournand, Introduction à la vie littéraire du XVII e siècle, Paris: Bordas 1970, p. 138). Tournand führt seine These jedoch nicht weiter aus. - Im Hinblick auf die moralistische Tradition vor 1660 im allgemeinen stellt J o h n Cruickshang fest, daß Moral und soziale Riten weitgehend zusammenfallen. Er konstatiert damit implizit die Existenz der prästabilierten Harmonie (Cf. Cruickshang, Aphorism and Portraiture. In: Id. (ed.), French literature and its background, Bd. II, The seventeenth Century, London, Oxford, New York: Oxford Univ. Press 1969, p. 137). Cf. hierzu femer Oskar Roth, La Rochefoucauld: Das Wertebewußtsein eines Frondeurs, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 4 (1977), p. 501. Beide, Cruickshang und Roth, gehen d e m Zusammenhang nicht weiter nach. - Auch Maurice Magendies Vorwurf, Faret habe den Gegensatz von tnorale und savoir vivre nicht erkannt, (Cf. Magendie, La politesse mondaine et les théories d e l'honnêteté en France au XVII e siècle d e 1600-1660, op. cit., p. 357) setzt voraus, dieser habe versucht, heterogene Wertsysteme zu synthetisieren. Allerdings bleibt Magendie bei dem bloßen Vorwurf stehen und läßt keine detaillierte Analyse folgen.

rest, & qui ne connoissent point d'autre Honneste que I'Vtile.»45 Balzac geht davon aus, daß der honneur im Sinne partikularer Interessen instrumentalisiert, d.h. mißbraucht wird, wodurch die ambition ins moralische Abseits gerät. Erst das Postulat der Interesselosigkeit, das mit der Einführung moralischer Theoreme verbunden ist, fuhrt zur Abwertung der ambition, die sich noch problemlos und widerspruchsfrei in den art de plaire integrieren ließ. Unter dem moralischen Aspekt des gesellschaftlich Allgemeinen läßt sie sich hingegen aufgrund ihres reinen Subjektbezugs nicht länger rechtfertigen und kann somit von Faret nur ambivalent beurteilt werden. Zu einer problematischen Kategorie wird der Ehrgeiz erst durch die Absicht des Autors, höfische Sozialtechnik und vertu zu synthetisieren, was wegen der heterogenen Struktur beider Wertesysteme nicht möglich ist und zu den aufgezeigten Aporien führt. Die unüberbrückbare Differenz beider Normenkataloge wird im Hinblick auf die Privilegierung deutlich, die zwar eine der Grundvoraussetzungen des art de plaire darstellt, im Horizont einer universalistisch zu rechtfertigenden Moral jedoch bar jeder Legitimation ist. 3. Gesellschaftliche Sinnkrise und literarischer Diskurs Die Untersuchungen haben bisher gezeigt, daß sich aus der Einführung moralischer Begriffe in einen Traktat, der sich auf das Argument legitimer sozialer Ungleichheit stützt, spezifische Probleme ergeben. Im folgenden soll die Interpretation klären, welche historischen Umstände und Erfahrungen die frühen Moralisten dazu veranlassen, dem art de plaire ein Wertesystem mit universalistischen Normen an die Seite zu stellen und welchen Einfluß die dualistische Konstruktion heterogener Wertesysteme auf die literarische Form des Diskurses ausübt. Zunächst muß auf die Veränderungen der historischen Erfahrung hingewiesen werden, die aus einem umfassenden sozialen Strukturwandel resultiert, den Norbert Elias als Konzentration des gesellschaftlichen Lebens auf den Hof bezeichnet.Während die feudale Lebenspraxis dem Subjekt noch die Gewähr eindeutiger Zuordnungen der Personen (nach Ständen) und klar definierter Herrschaftsverhält43 44

Guez de Balzac, Aristippe ou de la cour, op. cit., p. 144. Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, op. cit., p. 61, und Id., Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2, op. cit., p. 3-

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nisse bot, also einen geschlossenen Rahmen sozialer Orientierung, so sind die Beziehungen innerhalb der höfischen Gesellschaft viel komplexer. Ausgehend von den tradierten mittelalterlichen Herrschaftsformen, die durch das Nebeneinander territorial omnipotenter Feudalherren geprägt sind, beschreibt Elias verschiedene Monopolisierungsp r o z e s s e , w e l c h e die verhältnismäßig große Anzahl kleiner feudaler Territorien zugunsten immer größerer Herrschaftseinheiten reduzierten. Infolge der Zentralisierung politischer Macht, die aus dem Zusammenschluß und der Vergrößerung der zersplitterten Territorien resultierte, nahm die Zahl der zu besetzenden Funktionsstellen der Herrschaft notwendig ab. Auf Seiten der traditionell herrschaftstragenden Aristokratie führte dies zu einem personellen Überschuß, der ihre soziale Funktion insgesamt fraglich werden ließ. Für den zu großen Teilen entmachteten und funktionslos gewordenen Adel^ bot sich der königliche Hof oft als letzter Ausweg an, die eigene Subsistenz zu sichern. Mit diesem Schritt begab er sich allerdings in die Abhängigkeit einer Institution, die ihm ein von Grund auf verändertes Sozialverhalten abverlangte. Elias definiert die Doppelfunktion des Hofes im 17. Jahrhundert mit den Worten: «Versorgungsanstalt für Adlige auf der einen Seite, Beherrschungs- und Zähmungsanstalt der alten Kriegerschicht auf der a n d e r e n » , w o m i t er behauptet, daß die Verhaltensmuster dieses Standes im Zuge der veränderten Kräfteverhältnisse obsolet geworden waren. Für die alten, institutionell weitgehend ungebundenen Feudalherren war keine Verhaltenskontrolle notwendig. Sie konnten in ihren Territorien «wild, grausam, zu Ausbrüchen geneigt und hingegeben an die Lust des Augenblicks»48 herrschen. Am Hof jedoch begaben sie sich in ein komplexes Beziehungs- und Abhängigkeitsverhältnis, in dem die gewaltsame Auseinandersetzung weitgehend durch friedliche Konkurrenz um Status- und Prestigechancen ersetzt und feudale Machtausübung durch die Respektierung 45

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Cf. die Abschnitte über zentrifugale und zentripetale Kräfte in der Herausbildung zentralisierter Staaten. In: Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2, op. cit., p. I43sq. Erich Auerbach beschreibt beschreibt den Adel im Absolutismus als einen «Stand ohne Funktion» (Auerbach, Das französische Publikum des 17. Jahrhunderts, München: Hueber 1933, p. 34). Gegen diese These wendet Werner Krauss mit Recht ein, daß der scheinbare Funktionsverlust aus der historisch-hermeneutischen Distanz als ein «Funktionswechsel der herrschenden Schichten» angesehen werden muß (Krauss, Über die Träger der klassischen Gesinnung im 17. Jahrhundert, op. cit., p. 327. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 2, op. cit., p. 271. Ib., p. 96.

des Königs verdrängt wird. - Damit ist das sozialhistorische Problemfeld abgesteckt, dem Faret sich in seinem Diskurs vornehmlich widmet und das man knapp als Verhöflichung der K r i e g e r ^ oder auch als Prozeß der «Verwandlung des Adels aus einem kriegerischen Feudaladel in einen dekorativen Hofadel»50 beschreiben kann. Die Konsequenzen für die soziale Orientierung des handelnden Subjekts sind evident: Während sich Herrschaft in der feudalen Gesellschaft über standesrechtliche Privilegien herstellt und über Generationen perpetuiert, differenziert sich die höfische Gesellschaft entsprechend einem komplizierten Geflecht sozialer Abhängigkeiten und Beziehungen, die weit weniger überschaubar und nur von geringer Stabilität sind. Die Bedeutung der akzidentellen Qualität leitet sich aus eben diesem Mechanismus her, denn im Zuge der Vervielfachung wechselseitiger Interdependenzen ist der Status einer Person nicht ein für allemal gegeben, sondern er wird zu einer flexiblen und relativen Größe. Die Konsequenz ist eine Dynamisierung der interpersonalen Beziehungen, die auf Seiten der handelnden Subjekte notwendig Handlungsunsicherheiten und soziale Desorientierung nach sich zieht. Faret drückt diese neue historische Erkenntnis so aus: Le nombre des occurrences, qui peuvent se présenter en la vie des hommes est infiny: chaque jour en fait naistre une multitude, et en la suitte de tant de siècles passez il ne s'est gueres veu d'evenements si conformes les uns aux autres, que l'on n'y ait peu remarquer quelque notable différence: Outre qu'il se rencontre rarement que plusieurs personnes qui sont parvenues à un mesme but, y soient allées par un mesme chemin: Comme aussi tous ceux qui se servent des mesmes moyens, n'arrivent pas à une mesme fin. (L'honneste homme, p. 30)

Aus der Erfahrung, daß sich die Komplexität personaler Beziehungen potenziert hat, leitet der Autor ab, daß eine zweifelsfreie Zuordnung von Zwecken und Mitteln im sozialen Verkehr seiner Zeit nicht mehr gegeben sei. Damit dokumentiert er jene Desorientierung und Handlungsunsicherheit, die als Folge der sozialen Strukturveränderungen expliziert werden kann und auf die der art de plaire in Form relativer Normen antwortet. Die Leistung der höfischen Sozialtechnik liegt demnach darin, die normative Desorientierung kurzfristig aufzuheben und ein Funktionsmodell höfischer Lebenspraxis zu entwickeln, welches das handelnde Subjekt auf seine konkreten Lebensumstände übertragen kann. - Dadurch jedoch, daß der art de plaire seine Ansprüche stets auf der Grundlage relativer Normen formuliert, gerät 49 50

Ib., p. 353. Richard Alewyn, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste, München: Beck 1985, p. 51.

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den frühen Moralisten die Gesellschaft als Ganzes nicht in den Blick. Die Kategorie der Totalität bleibt ihnen a priori verschlossen. Ohne diese läßt sich aber die Frage nach dem Sinn einer sozialen Formation nicht stellen - sie muß notwendig ausgeklammert werden. Die Ausgrenzung ist möglich, weil die Erfahrungswirklichkeit des handelnden Subjekts im art de plaire zwar institutionell geschlossen ist, normativ aber immer nur partiell (nach Standesgruppen) erfaßt wird. Mit anderen Worten: Der art de plaire kann aufgrund seiner Struktur keine Sinnpotentiale erschließen und bleibt in Entwürfen ständisch spezifizierten Handelns stecken. Den Zusammenhang von Normenstruktur und gesellschaftlichem Sinn problematisiert Christoph Strosetzki, der - in Anlehnung an den Sprachtheoretiker Searle - zwischen konstitutiven und regulativen Regeln unterscheidet. Er subsumiert die Postulate des art de plaire, wie sie neben Faret auch Mere und Bellegarde aufisteilen, unter dem Begriff der regulativen Regel.51 Strosetzki zufolge läßt sich eine konstitutive Regel im Satz «x gilt als y» 52 formalisieren, wobei x für die Handlung und y für ihre gesellschaftliche Interpretation steht. Dieser Normentyp setzt neben der Austauschbarkeit der Subjekte notwendig einen geschlossenen Sinnzusammenhang voraus, in dem sich die Handlung vollzieht. Zur Verdeutlichung gibt Strosetzki das Beispiel zweier Schachspieler, deren Spielzüge allgemeinverbindlichen Regeln folgen, die aus festen Sinnstrukturen abgeleitet sind (Wertigkeiten der Figuren, Ziel der Eroberung des Königs, etc.).53 . Demgegenüber gehen die regulativen Regeln von den jeweils sich darbietenden Tatbeständen und Sachverhalten aus, auf deren Grundlage sie flexibel zu bestimmten Handlungen auffordern. Sie lassen sich im Satz «Wenn (x), dann (y)»5"* formalisieren, wobei y für die soziale Erwartungshaltung und x für die Summe aller möglichen Handlungen steht. Als Beispiel für eine regulative Regel führt Strosetzki das Postulat Farets an, wonach das Subjekt sein Verhalten dem eigenen sozialen Ort sowie den Wünschen und Vorstellungen der Interaktionspartner anzupassen hat. Da sich hier (wie im art de plaire überhaupt) keine allgemeinverbindlichen Handlungsanweisungen formulieren lassen, gibt es auch keine auf das Ganze bezogene Sinnstruktur, in der das Verhalten des Einzelnen aufgehoben wäre. Strosetzkis Modell ist im hier diskutierten Zusammenhang insofern von Bedeutung, als es die verschiedenen Normenbegriffe mit der 51 52 53 54

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Christoph Strosetzki, Moralistik und gesellschaftliche Norm, op. cit., p. 208. Ib. Cf. ib. Ib.

Möglichkeit einer Formulierung gesellschaftlichen Sinns verbindet und feststellt, daß diese auf der Ebene regulativer Regeln nicht gegeben ist. Das Beispiel des Schachspielers ist nicht gut gewählt, weil es nicht deutlich macht, daß das entscheidende Merkmal der konstitutiven Regel in ihrer subjektindifFerenten Formulierung liegt, wohingegen ihr regulatives Äquivalent in einen Kausalzusammenhang eingebettet ist, der ihren Geltungsanspruch sozial differenzieren muß. In dieser Bestimmung konvergieren die Begriffe der konstitutiven und der regulativen Regel weitgehend mit den oben angeführten universalistischen bzw. relativen Normen, da auch sie unter dem Aspekt normativer Geltung differenziert sind. So sieht Strosetzki durchaus etwas Richtiges, wenn er zahlreiche Forderungen Farets als regulative Regeln bezeichnet und ihnen die Möglichkeit, sozialen Sinn zu erschließen, abspricht. 55 Er verkennt jedoch zwei Dinge: erstens übersieht er auf der theoretisch-methodischen Ebene, daß den relativen Normen die Möglichkeit, gesellschaftlichen Sinn zu formulieren, nur deshalb nicht gegeben ist, weil sie nicht über die Kategorie der Totali tat verfügen; zweitens entgeht ihm in der einfachen Subsumtion aller Forderungen Farets unter dem Begriff der regulativen Regel, daß dessen Traktat neben dem art de plaire auch moralische Normen enthält, deren universeller Anspruch die Voraussetzungen konstitutiver Regeln durchaus erfüllt. Mit ihrer Hilfe erschließt sich der Traktat die Kategorie der Totalität und damit eben auch die Möglichkeit, gesellschaftlichen Sinn zu formulieren. Während die Funktion des art de plaire in der gesellschaftlichen Praxis auf sozialhistorische Umstrukturierungsprozesse zurückgeführt werden konnte, die einen innovativen Verhaltenstypus verlangten, so stehen die moralischen Postulate im Kontext gesellschaftlicher Sinnfragen, die in der ersteren nicht formulierbar sind. Diese Leistung des

55

Eine in diesem Zusammenhang wichtige Definition von Moral gibt Agnes Heller: «Moral ist das Verhältnis des Verhaltens und der Entscheidung des einzelnen zu den gesellschaftlich-gattungsmäßigen Anforderungen» (Heller, Das Alltagleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion, ed. Hans Joas, Frankfurt/M. 1978, p. 119). Sie unterstreicht mit dieser Bestimmung den notwendigen Bezug von Moral zur gesellschaftlichen Totalität (hier: Gattung). In gleicher Weise betont auch Hector-Neri Castañeda, daß moralische Normen immer universalistisch argumentieren müssen (Cf. Castañeda, The structure of morality, Springfield/lllinois: Thomas 1974, p. 15sq, p. 186) und auch Alcide Bonneau erachtet universalistische Normen als unverzichtbar für den Erhalt jeder gesellschaftichen Ordnung, (Cf. Bonneau, Erasme. La civilité puérile, ed. Philippe Aries, Paris: Ed. Ramsay 1977, p. XVII) weil - so muß ergänzt werden - nur so die Formulierung von gesellschaftlichem Sinn möglich ist.

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ethischen Wertesystems verdankt sich - wie bei Strosetzki gesehen der universellen, d.h. weitgehend kontextunabhängigen Generalisierbarkeit seiner Nonnen, welche die Gesellschaft stets als ganzheitliche Einheit voraussetzen. - Wie an verschiedenen Zusammenhängen aufgezeigt werden konnte, unternimmt Faret den Versuch, höfische Sozialtechnik und morale/vertu zu synthetisieren, der aufgrund ihrer voneinander abweichenden Strukturmerkmale aporetisch bleiben muß, was u.a. am Beispiel der a/nèi'ifow-Problematik oder an dem Gegensatz von moralischer und sozialer Ordnung zum Ausdruck kommt. Hinter dem Harmonisierungsversuch ist jedoch die Absicht einer einheitlich-geschlossenen Theoriebildung erkennbar, die versucht, die gesellschaftliche Kluft von Sein und Sinn zu überbrücken und die Lebensimmanenz, die infolge sozialer Umstrukturierungsprozesse verloren gegangen war, wieder herzustellen. Die Restitution sozialer Orientierung verlangt nach einer literarischen Form, die in der Lage ist, heterogene Erfahrungen zu homogenisieren und verlorene Sinnbezüge zu rekonstruieren. Unter diesen Vorzeichen strebt die Theorie zum gesellschaftlich Allgemeinen, das interpretativ erschlossen und zur Grundlage normativer Entwürfe gemacht wird. Faret selbst hebt hervor: «que pour bien juger des occurences, l'exemple ne suffît pas sans la reigle» und bestimmt die Homogenisierung voneinander abweichender Erfahrungen in einem geschlossenen Sinnkontext normativer Orientierung zur zentralen Intention seines Traktats: «De sorte que de la multitude de ces exemples, on voit à la fin sortir cette reigle, par le moyen de laquelle l'entendement se rend habile à bien juger» (L'honneste homme, p. 30). Wegen der Forderung nach Abstraktion vom Besonderen («exemple») und nach Reflexion auf das Allgemeine («reigle»), in dem bestimmte Zusammenhänge sichtbar gemacht werden sollen, entscheidet der frühmoralistische Autor sich für die Form des literarischen Diskurses, innerhalb derer er allerdings nicht - entgegen seiner Behauptung - induktiv, sondern - infolge seines normativen Wirkungsinteresses - deduktiv verfährt. Bereits die Aneinanderreihung der einzelnen Kapitel, die mit einem tableau de la cour beginnt und über die individuellen Voraussetzungen des plaire zu den Abschnitten 'De la vie de la cour' und 'Maximes générales de la conversation' gelangt, um mit einzelnen Verhaltensformen wie der raillerie oder der conversation des femmes abzuschließen, verdeutlicht den deduktiven Charakter des Traktats.5i> 56

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Dem Urteil Maurice Magendies über Farets Traktat: «C'est une description sommaire de l'honnête homme, et rien de plus. On chercherait en vain un principe central d'où ces vertus découleraient par une conséquence logique.» (Magendie, La politesse mondaine et les théories de l'honnêteté en France au XVII e siècle de 1600-1660, op. cit., p. 366)

Wirklichkeit wird von den gesellschaftlichen Institutionen her konstruiert, denen sich das partikulare Verhalten anpassen muß. Ihre Analyse geht der Beschreibung sozialer Lebenspraxis stets voraus. Der Primat des gesellschaftlich Allgemeinen dokumentiert sich auch in der Ausgrenzung der exemples, über die Faret einen Partikularismus verwirft, welcher der sinnhaften Interpretation höfischer Lebenswelt im Wege steht. Der frühe Moralist ist an einen systematischen, d.h. geschlossenen und konsistenten Diskurs gebunden, der allein einheits- und sinnstiftende Bezüge herstellen kann, zugleich aber auch identitätsbildend im Sinne des honnête homme wirkt. Dabei resultieren die immanenten Widersprüche und Aporien des Traktats aus der Unvereinbarkeit heterogener Wertesysteme, die - wenn überhaupt - nur innerhalb der Form rationaler Diskursivität synthetisiert werden können. Tatsächlich jedoch kündigt sich mit der Einführung moralischer Wertbegriffe eine innovative gesellschaftliche Erfahrung an, die mit den traditionellen Erkenntnisstrukturen nicht mehr in Einklang zu bringen ist und neue Horizonte gesellschaftsbezogener Reflexion und Normativität erschließt. Implizit legt der Traktat damit reale gesellschaftliche Widersprüche frei, die er explizit gerade glätten möchte.

kann vom gegenwärtigen Erkenntnisstand aus nicht zugestimmt werden. Es darf jedoch als wahrscheinlich angenommen werden, daß die Heteroeenität der implizierten Normensysteme maßgeblich zum Urteil Magenaies beigetragen haben mag.

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TeU III

1. Zur Negation von règle und précepte: Das Beispiel Méré Rund vierzig Jahre nach dem Erscheinen von Farets Traktat veröffentlicht Antoine Gombaud, Chevalier de Méré 'Les conversation avec le Maréschal de Clérembault' ( 1 6 6 8 ) - zu einem Zeitpunkt also, als dem oben genannten Diskurs noch zwei weitere Auflagen bevorstanden. Obwohl die beiden Texte in erheblichem zeitlichen Abstand und unter veränderten historischen Bedingungen verfaßt sind, bearbeiten sie vergleichbare Probleme, entwerfen konkurrierende Systeme normativer Orientierung und wenden sich an ein ähnlich zusammengesetztes Lesepublikum. Anders als Faret, der seine Theorie zur höfischen Lebensführung in einem zentralen Werk darlegt, entwickelt Méré seine Ideen in den Jahren nach 1 6 6 8 immer weiter fort. Bis zum Erscheinen seiner drei Diskurse 'Des agrémens', 'De l'esprit' und 'De la conversation' (alle 1 6 7 7 ) vergehen allerdings noch neun Jahre, und erst drei Jahre nach seinem Tod werden die 'Maximes, sentences et réflexions morales et politiques' ( 1 6 8 7 ) veröffentlicht, deren Urheberschaft bis heute umstritten ist. 1 Mérés Œuvre wird durch die im Jahre 1

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Obwohl der Chevalier de Méré sowohl im 'Dictionnaire des ouvrages anonymes et pseudonymes', 2 e m e édition, 1822, von Barbier, als auch im 'Manuel bibliographique' von Gustave Lanson und in Raymond Toinets Bibliographie (Id., Les écrivains moralistes du XVII e siècle, op. cit.) als Verfasser der 'Maximes, sentences et reflexions morales et politiques' genannt wird, sind diese Aphorismen nicht in die 'Œuvres complètes' des Herausgebers Charles H. Boudhors aufgenommen worden. In der Einleitung begründet er seinen Schritt mit drei Argumenten (Cf. Chevalier de Méré, Œuvres complètes, ed. Charles H. Boudhors, Bd. I, Introduction, Paris: F. Roches 1930, p. LIVsq), die aber bei näherer Betrachtung nicht überzeugen. - Erstens weist er auf eine verstümmelte Namensnennung im Privilège vom 10. Januar 1687 hin, in dem angeblich von einem Chevalier Méré die Rede sein soll, und fügt hinzu, daß diese von Mérés Erben (bei Erscheinen des Werks war er bereits verstorben) mit Sicherheit beanstandet worden wäre. Abgesehen davon, daß das o.g. Privilège die volle Namensnennung Chevalier de Méré enthält, ist das Argument Boudhors nicht stichhaltig, weil auch eventuell vorgetragene Proteste den Fehler in der Erstausgabe nicht nachträglich hätten korrigieren können. - Zweitens führt Boudhors die Feststellung an, daß Méré eine prinzipielle Abneigung gegen die literarische Form der Maximen gehabt habe, die Jean Lafond in einem Aufsatz aufgreift (Cf. Lafond, Le Chevalier de Mailly, auteur des 'Maximes' dites de Méré. In: Studi francesi 14 (1970), p. 87) und als negativen Beweis der Verfasserschaft des Chevalier de Mailly verwendet. Tatsächlich weiß Méré in der dort zitierten Schrift 'De l'esprit' nur wenig Vorteilhaftes von den aphoristischen Formen zu sagen. Unter anderem heißt es dort: «Ce ne sont

1700 von Abbé Nadal posthum publizierten sechs Diskurse abgeschlossen, in denen der Autor sich mit der vrai honnêteté, der éloquence und dem entretien sowie dem commerce du monde auseinandersetzt.2 Beide, Faret und Méré, teilen die Wirkungsabsicht, Normen für eine geordnete soziale Praxis bereitzustellen, jedoch entwickeln sie unterschiedliche Ansätze und Verfahren einer entsprechenden Theoriebildung, die sich in ihren voneinander abweichenden Auffassungen zum précepte offenbaren. Für Faret ist der précepte ein adäquates Instrument der moralischen Erziehung. Er postuliert, daß seine Leser «avec l'ayde des preceptes, et par des soins assidus (peuvent) corriger pas les regles ni les maximes, ni mesme les sciences qui font principalement reüssir les bons ouvriers, et les grands hommes», doch deutet die Verwendung des Begriffs im Kontext von règles und sciences darauf hin, daß Méré hier nicht die offene literarische Gattung, sondern vielmehr den allgemeinen moralischen Lehrsatz anspricht. Darüber hinaus merkt er unmittelbar im Anschluß an das Zitat an: «Ces choses-là peuvent beaucoup servir pour exceller, et mesme il semble qu'elles soient nécessaires» (OC,II,78). Selbst wenn Méré an dieser Stelle also von der literarischen Gattung spräche, würde seine Aversion keineswegs so deutlich ausfallen, wie sowohl Boudhors als auch Lafond unterstellen. - Das dritte Argument schließlich, das auf die Häufigkeit rhetorischer Antithesen in den fraglichen Maximen abhebt und darauf hinweist, daß diese in Mérés übrigen Werken nur selten oder überhaupt nicht nachzuweisen sind, kann gattungstheoretisch entkräftet werden: insofern man davon ausgehen kann, daß die Repräsentanz einzelner Kunstmittel gattungsspezifisch geregelt ist, erklärt sich die häufige Verwendung der Antithese einfach dadurch, daß Méré sich den stilistischen Eigentümlichkeiten der für ihn neuen Form anpassen mußte. Die Beweisführung Lafonds schließlich - sie beabsichtigt eine Zuschreibung des Werks auf den Chevalier de Mailly - geht insofern über die bereits von Boudhors vorgetragenen Argumente hinaus, als sie formale wie inhaltliche Äquivalenzen zwischen den fraglichen Aphorismen und 'gesicherten' Werken des Chevalier de Mailly nachzuweisen versucht (Cf. Lafond, Le Chevalier de Mailly, auteur des 'Maximes' dites de Méré, op. cit., p. 87-90). Im Rahmen eines solchen Beweisverfahrens ist jedoch der Nachweis einer irrtümlich Méré zugesprochenen Urheberschaft nicht zu erbringen, da sie sich ausschließlich auf das Werk eines anderen Autors bezieht. In beiden Fällen handelt es sich also um eine außertextuelle Kritik, deren Argumentation im Hinblick auf die jeweilige Intention nicht zwingend ist. Der in diesem Zusammenhang einzig gangbare Weg sind der textimmanente Vergleich und die Rekonstruktion inhaltlicher Widersprüche bzw. Parallelen zwischen den Maximen und dem übrigen Œuvre Mérés, die, wie bereits hier vorausgeschickt werden soll, eine weitgehende Übereinstimmung inhaltlicher Positionen liefern und an der Urheberschaft Mérés keinen Zweifel lassen. 2

Hinweis zur Zitiertechnik: Mit Ausnahme der 'Maximes, sentences et reflexions morales et politiques', die gesondert zitiert werden, sind alle Zitatnachweise zu den Werken Mérés auf die Gesamtausgabe (Œuvres complètes) von Charles H. Boudhors bezogen und werden durch das Kürzel OC kenntlich gemacht. Die nachfolgenden römischen Ziffern geben den jeweiligen Band-, die arabischen die Seitenzahl an.

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leurs défauts, et meriter à la fin l'estime de ceux qui la donnent.»3 Der précepte ist als eine dem Subjekt äußerliche Verhaltensnorm konzipiert, welche die persönlichen Defizite für die gesellschaftliche Praxis neutralisiert und die Akkumulation akzidenteller Qualität ermöglicht. Dagegen lehnt Méré den précepte als Medium moralistischer Unterweisung kategorisch ab. Er konzentriert seine Kritik auf drei Punkte: zunächst konstatiert er einen Bruch zwischen dem Anspruch moralischer Normen und der tatsächlichen gesellschaftlichen Praxis, den er darauf zurückfuhrt, daß «tant de préceptes si réguliers s'oublient avant q u e l'on s'en puisse servir» (OC,1,40). Dann kritisiert er die immanenten Rechtfertigungsdefizite der préceptes: «Ils instruisent d'une manière obscure, comme les Oracles, sans rendre raison de ce qu'ils disent.» (OC,II,91) Mérés letzter und schwerster Einwand gegen den tradierten Normenbegriff besteht darin, daß dieser in der gesellschaftlichen Praxis nur ungenügend anwendbar sei: «Car les réglés qui ne regardent rien en particulier n'en peuvent pas instruire.» (OC,II,78) Die Vielgestaltigkeit und Kontingenz der gesellschaftlichen Realität wird gegen die notwendig generalisierende Form moralischer Postulate ausgespielt. Aufgrund ihrer allgemeinen Formulierung kann die Verhaltensnorm die Fülle und die Komplexität sozialer Interaktionen nicht erfassen und den tatsächlichen Erfordernissen der gesellschaftlichen Praxis nicht gerecht werden. Die préceptes eignen sich nicht dazu, die Lebenswelt angemessen zu beschreiben. Dennoch verzichtet Méré nicht auf ein normatives Wirkungsinteresse: Il faut donc s'instruire, le plus qu'on peut, des choses de la vie, et ce n'est [joint ce qu'on appelle morale ni politique, au moins comme on en donne des préceptes; car j'ai vû des gens, qui savoient tout ce qui s'en montre, et qu'on trouvoit de mauvaise compagnie, parce qu'ils ne savoient pas vivre; et j'en connois d'autres, qui n'ont appris que le monde, et qu'on reçoit partout agréablement. Cet avantage paraît à pratiquer de bonne grâce les maniérés qu'on aime dans le commerce de la vie, et je remarque en cela un genie bien rare et bien à rechercher, qui ne vient pas moins du goût et du sentiment, que de l'esprit et de l'intelligence. (OC,III,72) Méré stellt das Modell einer unmittelbar an den situativen Erfordernissen orientierten Interaktion, die von den persönlichen Voraussetzungen und Fähigkeiten des handelnden Subjekts abhängt, einem normenorientierten Verhalten gegenüber, das notwendig an der höfischen Lebenswelt scheitert. Diese individuellen Möglichkeiten zur 3

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Nicolas Faret, L'honneste homme ou l'art de plaire à la court (Paris 1636), Nachdruck Genève: Slatkine Reprints 1970, ed. Maurice Magendie, p. 12.

Interaktion definiert der Autor im oben angeführten Zitat als «genie bien rare et à rechercher» und schlüsselt die hierzu erforderlichen Persönlichkeitsmerkmale im folgenden nach goût, sentiment, esprit und intelligence auf. Der Zusammenhang von Normenkritik und dem Wandel moralistischer Theoriebildung wird hier deutlich: Unter der Voraussetzung, daß die gesellschaftlichen Strukturen und Zusammenhänge kontingent und undurchschaubar geworden sind, läßt sich eine geordnete soziale Praxis nicht mehr auf der Grundlage von allgemeinen Verhaltensregeln herstellen, da diese stets hinter der objektiven Vielfalt von Kommunikationsmöglichkeiten und -Situationen zurückbleiben müssen. Deshalb ersetzt Méré die normative Beschreibung personaler Interaktion, wie wir sie bei Faret und de Refuge kennengelernt haben, durch die Analyse einer subjektiven Disposition, die flexibel auf die Veränderungen der jeweiligen Rahmenbedingungen reagiert und ein Verhalten garantiert, das den sich wandelnden gesellschaftlichen Erfordernissen kontinuierlich entspricht. Während Faret sich mit seinen préceptes unmittelbar auf die äußere Form des Verhaltens bezieht, beschreibt Méré die innerliche Verfassung des handelnden Subjekts, die dieser vorausgeht. Die moralistische Grundfrage lautet nicht länger 'Wie verhalte ich mich richtig?', sondern 'Wie muß ich beschaffen sein, um mich richtig verhalten zu können?' Diejenige subjektive Disposition, die der zeitgenössischen Lebenswelt optimal angepaßt ist, trägt bei Méré den Namen honnête homme. Für die Frage nach dem Verfahren, mit dem die moralistischen Normen generiert werden, ist eine Beobachtung Roland Galles von Bedeutung, der einen Wandel der Aonwêfefé-Diskussion in der zweiten Jahrhunderthälfte konstatiert, den er als Übergang von einer «sei es mehr utilitaristische(n), sei es mehr moralische(n) Zielsetzung» hin zur «Ausbildung eines Persönlichkeitsideals»"* beschreibt. Die von Galle aufgezeigte Entwicklung der moralistischen Theoriebildung wird von den methodischen Postulaten Mérés insofern bestätigt, als dieser nicht mehr konkrete Verhaltenstechniken (Gestus, Mimik, allgemeiner Habitus) thematisiert, sondern die mentalen und psychischen Aspekte des handelnden Subjekts. Mit der Verlagerung des moralistischen Erkenntnisinteresses von der Ebene sozialer Interaktion auf die Ebene subjektiver Handlungsvoraussetzungen ist das Problem der Negation von préceptes noch nicht gelöst, sondern lediglich verschoben worden: Während die 4

Cf. Roland Galle, Honnêteté und sincérité. In: Französische Klassik. Theorie - Literatur - Malerei, ed. Fritz Nies et K.-H. Stierle, München: Fink 1985, p. 47sq.

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ablehnende Haltung im Hinblick auf die gesellschaftliche Praxis mit dem Kontingenzargument hinreichend begründet ist, bleibt die Frage bestehen, inwieweit aus der Analyse des Subjekts verbindliche Strukturen deduziert werden können, die sich normativ verallgemeinern lassen. Die Hinwendung zu diesem neuen Gegenstand der moralistischen Reflexion erklärt nicht die Negation tradierter wirkungsästhetischer Verfahren. Der Schlüssel zum Problem des Widerspruchs von normativer Wirkungsabsicht und Negation des précepte liegt im Persönlichkeitsideal honnête homme selbst, das nunmehr rekonstruiert werden soll.

2. Galant homme versus honnête homme Der oberste Grundsatz einer geordneten gesellschaftlichen Praxis ist fur Méré das plaireß Bereits in den 'Conversations' von 1668 rät der Chevalier seinem fiktiven Dialogpartner: «[...] quelque but qu'on puisse avoir, il faut bien que celuy de plaire l'accompagne [...]». (OC,1,16) Diese Auffassung behält er auch noch in den Œuvres posthumes bei, in denen er den honnête homme dadurch charakterisiert, daß dieser jedermann gefällt: «[...) car lors qu'on s'aime comme on doit, rien ne plaît tant, que de vivre en honnête-homme, et de se rendre agréable.» (OC,III,87) Die begriffliche Kontinuität von honnête homme und dem Prinzip des Gefallens geht in den Werken Mérés mit der immanenten Differenzierung des plaire einher, die sich bereits im ersten von insgesamt sieben Dialogen zwischen dem Chevalier de Méré und dem Maréschal de Clérembault abzeichnet. In einer Kontroverse um die intellektuellen Fähigkeiten der Frauen, die mit der Feststellung abgeschlossen wird, esprit und honnêteté seien für alle Personen - gleich welchen Geschlechts - notwendige Voraussetzungen, 5

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In diesem Sinne hebt etwa Maurice Magendie hervor: «Méré accorde donc une place importante à l'étude de ce qui plaît.» (Magendie, La politesse mondaine et les théories de l'honnêteté en France au XVII e siècle de 1600 à 1660, Paris 1925, Nachdruck Genève: Slatkine Reprints 1970, p. 761) und auch nach Ansicht von Gerhard Hess sind soziale, moralische und anthropologische Fragen im Werk dieses Autors sekundär: «All das erscheint Méré nebensächlich gegenüber der vornehmsten Aufgabe des Menschen, dem art de plaire» (Hess, W e g e des Humanismus im Frankreich des 17. Jahrhunderts: D e r Chevalier de Méré. In: Id., Gesellschaft - Literatur - Wissenschaft. Gesammelte Schriften 1938-1966, ed. H.-R. Jauß et al., München: Fink 1967, p. 56). Nach Einschätzung von Jean Pierre Dens ist Méré sogar «sans doute l'écrivain de son siècle qui s'est le plus attaché à définir l'art de plaire et à chercher les moyens pour y exceller» (Dens, 'Les agrémens qui ne lassent point': Le Chevalier de Méré et l'art de plaire. In: L'esprit créateur 15 (1975), p. 221).

um in der höfischen Gesellschaft zu reüssieren, merkt der Maréschal an: Je demeure d'accord, [...], que parmi Les personnes qui jugent bien, on ne sçauroit estre trop honneste homme pour estre plaisant de la maniéré qu'on le doit souhaiter. Mais parce que la pluspart des gens n'ont pas le sentiment délicat, il arrive souvent qu'ils sont touchez, et mesme charmez de certains roolles qu'on leur joüe; mais les honnestes gens n'en sont pas volontiers les acteurs. Vous comprenez bien qu'il se trouve assez des personnes qui donnent du plaisir, et que néanmoins cela ne Eait pas qu'on les aime, ni qu'on s'intéresse en ce qui les regarde. Il me semble qu'on ne doit pas envier de pareils agrémens. Mais quand on plaist en honneste homme, on gagne assurément le cœur, et c'est de la sorte que je serais bien aise de plaire. (OC,1,9) Der Maréschal greift den von Méré hergestellten Zusammenhang von honnêteté und plaire auf und behauptet, daß es verschiedene Formen des Gefallens gibt, die unterschiedlich zu bewerten sind. Der Autor kontrastiert ein Verhalten, durch welches das Subjekt die meisten oberflächlichen Menschen für sich einnehmen kann, mit dem «plaire en honneste homme», dessen soziale Wirkung - wie die Verben «aimer» und «s'intéresser» andeuten - weit über das einfache Gefallen hinausgeht. Diese besondere Ausstrahlung verdankt der honnête homme einem sentiment délicat, der dem «agrément» des einstudierten Rollenverhaltens deutlich überlegen ist. In Kontinuität zu den Auffassungen der frühen Moralisten unterstreicht Méré zwar die Bedeutung des plaire innerhalb der höfischen Lebenswelt, aber er bleibt nicht bei dessen einfacher Affirmation stehen, sondern differenziert den Verhaltenscode. Dabei subsumiert er die kritisierte soziale Rolle unter dem Begriff des galant homme, von dem aus das Gegenbild des honnête homme entworfen wird.** Theorierelevant bleibt 6

Die Beziehungen zwischen dem galant homme auf der einen und dem honnête homme auf der anderen Seite sind seitens der Literaturkritik unterschiedlich ausgelegt worden. Als einer der ersten machte SainteBeuve auf die Differenzierung bei Méré aufmerksam und interpretierte den galant homme als einen «honnête homme un peu plus brillant ou plus enjoué qu'à son ordinaire, un honnête homme dans sa fleur» (Sainte-Beuve, Le Chevalier de Méré ou l'honnête homme au dixseptième siècle. In: Id., Derniers portraits littéraires, Paris: Didier 1852, p. 100). Nach D. Zevaco unterscheiden sich die beiden Verhaltensmodelle hingegen dadurch, daß dem galant homme «des qualités plus solides» zukommen, während sich der honnête homme durch bestimmte «qualités plus aimables» auszeichnet (Cf. Zevaco, L'honnête homme au XVIIe siècle. In: Revue de philologie française et de littérature 25 (1911), p. 5). In ähnlicher Weise äußert sich auch Maurice Magendie, ohne jedoch die Begriffe explizit einander gegenüberzustellen (Cf. Magendie, La politesse mondaine et les théories de l'honnêteté en France au XVIIe siècle de 1600 à 1660, op. cit., p. 755). Erich

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schließlich nur der Verhaltenstypus des «plaire en honneste homme», den er nach einer kurzen Überleitung detailliert beschreibt, worauf wir noch zurückkommen werden. Über verschiedene Reflexionen zur Erziehung eines jungen Prinzen im besonderen und zu der Notwendigkeit von Bildung im allgemeinen kommt das Gespräch zunächst auf den Gegensatz der beiden Verhaltensmodelle zurück. Auf den besorgten Einwand des Maréschal, der befürchtet, daß beide nur zu leicht verwechselt werden können, entgegnet der Chevalier: 'Il me semble, [...], qu'un galant homme est plus de tout dans la vie ordinaire, et qu'on trouve en luy de certains agrémens, qu'un honnête homme n'a pas toûjours; mais un honneste homme en a de bien profonds, quoi qu'il s'empresse moins dans le monde.' - 'Il y a bien à dire de l'un à l'autre, reprit le Maréschal; cette qualité de galant homme, qui plaist dans les jeunes gens, passe comme une fleur, ou comme un songe, et j'ay vû de ces galans hommes devenir le rebut et le mépris de ceux mesme qui les avoient admirez. Mais si l'on aime quelqu'un à cause qu'il est honneste homme, on l'aime toûjours, et de ce costé-là le temps n'a point de prise sur luy.' (OC,1,18)

Beide Verhaltensmodelle unterscheiden sich zunächst durch ihren 'Sitz im Leben': der «vie ordinaire» des galant homme steht die relative Zurückgezogenheit d e s honnête homme gegenüber. Dabei wird die außerordentlich positive Ausstrahlung des ersteren auf Fertigkeiten («agrémens») zurückgeführt, die dem letzteren nicht notwendig zukommen und ihm nicht wesentlich sind. Hierzu zählen der «sçavoir danser, ou courre la bague, ou quelque chose de cette nature» (OC,1,42), die d e n galant homme in die Sphäre höfischer Geselligkeit verweisen und den unter ihm subsumierten Personen ein kurzzeitiges Ansehen verschaffen. Demgegenüber besitzt der honnête homme d e n Vorzug eines «bien profond», von dem gesagt wird, daß er nicht demonstrativ nach außen gerichtet ist. Ihm verdankt der honnête homme seine Fähigkeit, daß er zeitlich unbegrenzt gefallt und sich niemand seiner Austrahlung entziehen kann. - Beide Verhaltensmodelle unterscheiden sich also durch die Art ihrer Beziehung auf die Öffentlichkeit. Im Diskurs 'Des agrémens' heißt es hierzu: «Le premier

Köhler schließlich definiert den Begriff des galant homme schlicht als Erscheinungsform des honnête homme in der Gesellschaft (Cf. Köhler, 'Je ne sais quoi' - Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen. In: Id., Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania, Frankfurt/M.: Athenäum 1972, p. 243) und spricht nur wenig später von einer «Ablösung des Ideals des 'galant homme' durch das des 'honnête homme'» bei Méré (ib., p. 248). Bereits diese kleine Übersicht verdeutlicht die Auslegungs- und Bewertungsbreite der Begriffe Mérés. 82

(galant homme, F.W.) et le plus commun est celui qui cherche la pompe et l'éclat: l'autre (honnête homme, F.W.) est plus modeste et plus caché.» (OC,II,23) In den sogenannten Œuvres posthumes greift Méré den Gegensatz erneut auf: «L'un», so sagt er vom galant homme «semble plus ouvert, et l'autre (honnête homme, F.W.) plus reservé.» (OC,III, 140) Während sich der erste durch sein sicheres gesellschaftliches Auftreten auszeichnet und in seinem Verhalten nachhaltig von der Institution Öffentlichkeit geprägt ist, erscheint der honnête homme als ein Verhaltensmodell, das von der Öffentlichkeit weitgehend unabhängig ist und dem Subjekt keinen Zwang zur Selbstdarstellung auferlegt. Die Definition des honnête homme durch das Prinzip des plaire stößt hier auf eine grundlegende Schwierigkeit: Wie soll ein Subjekt gefallen, das die höfische Öffentlichkeit ignoriert und alle Gelegenheiten zur Selbstdarstellung meidet? Im Vergleich zu diesem scheint das Modell des weltgewandten galant homme, der die Fähigkeit zum agrément besitzt, den immanenten Postulaten des plaire eher zu entsprechen. Méré ist an diesem jedoch nur in zweiter Linie interessiert. Soziales Handeln im Sinne des honnête homme zielt also nicht primär auf den Erwerb gesellschaftlicher Anerkennung und entzieht sich dem Zugriff der zeitgenössischen Sanktionsmechanismen. Entsprechend gering bewertet Méré die Reputation des Subjekts, die noch ein zentrales Anliegen des art de plaire war. Er veranschaulicht seine Auffassungen hierzu, indem er Sokrates mit Alexander dem Großen vergleicht, der trotz seiner «pauvre condition» ebenso honnête und libéral wie dieser gewesen sein soll. Dies läßt nur eine Schlußfolgerung ZU: [...] la veritable gloire ne consiste que dans le mérite, nous ne devons pas tant nous rejoüir ni nous attrister des choses qu'on dit de nous, que de celles qu'on en devrait dire. (OC,III, 160)

Die gloire kann als Ausdruck gesellschaftlicher Anerkennung generell unter dem Prinzip des plaire subsumiert werden. Als subjektive Qualität indiziert sie den Vollzug eines sanktionierten Sozialverhaltens im Sinne des geltenden Normenkanons. Demgegenüber konnotiert der Begriff der «véritable gloire» keine sozial relevante Qualität des handelnden Subjekts, sondern vielmehr eine Bewußtseinshaltung, die diesem immanent ist und in der es um den moralischen Wert seines eigenen Verhaltens weiß. Auf dieser Ebene erscheinen Sokrates und Alexander der Große als gleichwertige Personen. Hier wird bereits deutlich, daß der traditionelle Verhaltenscode höfischer Sozialtechnik sich nicht ohne Schwierigkeiten auf Mérés 83

honnête homme übertragen läßt. Wenn letzterer nach der «véritable gloire» strebt, dann handelt er unabhängig von den Rahmenbedingungen des Hofes und kann nicht am überlieferten Modell des plaire orientiert sein. - In den 'Maximes, sentences et reflexions morales et politiques' wird Méré noch bestimmter: Un homme d'honneur ne fait jamais rien qui ne soit digne d'estre fait en public; soit qu'il ait des témoins, ou qu'il n'en ait pas, sa presence le justifie par ou des reproches qu'on luy pourroit faire. (7)

Im Gegensatz zu einem Subjekt, das sein Verhalten auf allgemeines Gefallen ausrichtet und die öffentliche Wirkung jeder einzelnen Handlung berechnet, abstrahiert der homme d'honneur - den wir als Synonym zum honnête homme verstehen dürfen 8 - vom den jeweils gegebenen Rahmenbedingungen und agiert in immer gleicher Weise. Trotz seiner indifferenten Haltung gegenüber der Öffentlichkeit zieht der honnête homme sich jedoch keineswegs aus dem gesellschaftlichen Leben zurück; vielmehr verlangt gerade die vollkommene honnêteté «que l'on se communique à la vie.» (OC,III,79) Der honnête homme tut dies aber nicht mit dem Ziel der Selbstdarstellung, sondern er zeichnet sich durch eine «certaine aversion qu'ont la pluspart des honnestes gens à se faire valoir eux-mêmes» (OC,1,45) aus, womit Méré die honnêteté als eine selbstreferentielle Qualität charakterisiert. Sie ist dies insofern, als sie keiner äußeren Bestätigung bedarf und dem unter ihr subsumierten Subjekt unabhängig von jeder gesellschaftlichen Beurteilung zukommt. In dieser Definition erweist sie sich als eine beständige Qualität, die den honnête homme dauerhaft auszeichnet. Das Motiv des Handelns ohne Zeugen als Probe wahrhafter honnêteté ist keine originäre Erfindung Mérés, sondern kann als ein Gemeinplatz moralistischer Theoriebildung nach 1650 gelten. Aus der Vielzahl der möglichen Belege seien nur zwei herausgegriffen: Im zwölften Dialog der Schrift 'L'esprit de cour ou les conversations galantes' (1662) von René Bary versucht ein namentlich nicht ausgewiesener Prälat einen Abbé von der Nichtigkeit des öffentlichen Urteils zu überzeugen, indem er feststellt: «Le témoignage des Hommes est

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Méré, Maximes, sentences et reflexions morales et politiques. Paris: Du Castin 1687, Max. 25, p. llsq. In seinen Untersuchungen zur Preziosität im 17. Jahrhundert schreibt Roger Lathuiilère: «L'honnête homme est synonyme d'homme d'honneur ou d'homme de bien» (Lathuiilère, La préciosité. Etude historique et linguistique, Bd. 1: Position du problème. Les origines, Genève: Droz 1966, p. 579).

inutile; le témoignage de la conscience est salutaire.Berühmtheit erlangte das moralistische Motiv jedoch erst durch die 'Réflexions ou sentences et maximes morales' von La Rochefoucauld. In der Ausgabe von 1678 heißt es in der Maxime 216: «La parfaite valeur est de faire sans témoins ce qu'on serait capable de faire devant tout le monde.» 1 0 Ungeachtet der verschiedenen theoretischen Kontexte, in die das Motiv eingebettet und funktionalisiert ist - so etwa bei Bary im Zusammenhang christlicher Heilserwartung - zeigt sich durch seine Verbreitung nach 1650, daß das soziale Umfeld einer Handlung für die moralistische Theoriebildung an Bedeutung verliert. Damit wird zugleich die traditionelle Funktionsbestimmung des plaire als Instrument der Akkumulation von Prestigechancen fragwürdig. Seine Selbstreferentialität deutet auf einen Funktionswandel hin, den Méré mit dem Begriff des honnête homme propagiert. Für den honnête homme ist die gesellschaftlich vermittelte gloire nur von sekundärer Bedeutung. Auf der Grundlage selbstreferentieller Bestimmungen erscheint die gesellschaftliche Praxis hier nicht mehr als Konkurrenz um Status- und Prestigechancen. An seine Stelle tritt ein neues Handlungsziel, demzufolge das Subjekt, das sich an der honnêteté orientiert, die Maximierung von Glück anstrebt: «[...] eile consiste beaucoup plus à trouver le bonheur de la vie, et cela dépend assez de se faire aimer des personnes qui nous sont cheres.» (OC,III, 141) Im Sinne dieses Funktionswandels wird der Chevalier nicht müde, die Glückseligkeit als das eigentliche Ziel alles sozialen Handelns hervorzuheben. «Pour estre honneste homme», so heißt es im sechsten Dialog mit dem Maréschal, «il faut prendre part à tout ce qui peut rendre la vie heureuse.» (OC,1,89) Das Streben nach Glück wird als eine unverzichtbare Bedingung wahrhafter honnêteté definiert. Darüber hinaus ist dieses Bedingungsverhältnis auch austauschbar, wie sich im Diskurs 'De la vraie honnêteté' zeigt: «L'honnêteté me semble la chose du monde la plus aimable, [...] parce qu'elle nous rend heureux.» (OC,III,99) Das Glück ist sowohl Ursache als auch Ziel des Verhaltens eines honnête homme-, «Car la félicité, comme on sait, est la derniere fin des choses, que nous entreprenons.» (OC,III,99) Aus der theoretischen Verknüpfung von bonheur und honnêteté wird 9 10

René Bary, L'esprit de cour ou les conversations galantes. Divisees en cent dialogues, Paris: Sercy 1662, p. 82. La Rochefoucauld, Réflexions ou sentences et maximes morales. In: Id., Œuvres complètes, ed. Jean Marchand, Paris, o.J., Max. 216, op. cit., p. 432. - Im gleichen Zusammenhang stellt du Puy skeptisch fest: «Il y a peu de gens capables de faire une bonne action sans témoins» (Du Puy, Caractères et portraits critiques sur les mœurs et sur les deffauts ordinaires des hommes, Paris: A. Chrestien 1695, Aph. 44, p. 30).

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deutlich, daß das Modell des «plaire en honneste homme» aus dem Funktionszusammenhang der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen herausgelöst und im Hinblick auf die Maximierung von Glückschancen neu definiert wird. Als Konsequenz dieses Funktionswandels des plaire verändert sich die Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit von Grund auf. Wie am Beispiel Faret gezeigt werden konnte, agiert das handelnde Subjekt des art de plaire innerhalb eines dreifach gegliederten Kosmos («supérieurs», «esgaux», «inférieurs») und ist in erster Linie daran interessiert, die «opinion des grands et des honnestes gens» 11 für sich zu gewinnen. Während dieser Realitätsbegriff die Rahmenbedingungen sozialen Handelns nach hierarchischen Gesichtspunkten strukturiert, differenziert Méré nach anderen Aspekten. Im Diskurs 'De la vraie honnêteté' hält er fest, daß die honnêteté immer dann vorgetäuscht sei, «quand elle ne plaît pas aux personnes qui savent juger», und fuhrt dann weiter aus: Tous les esprits bien faits demeurent d'accord, que nous ne pouvons rien souhaiter de plus avantageux, que de meriter l'estime et l'affection des personnes, qui connoissent le bien et le mal: la difficulté ne consiste qu'à savoir ce que nous devons faire pour nous perfectionner dans ce mérité. (OC,III,94)

Die Authentizität eines Sozialverhaltens, das an der honnêteté orientiert ist, kann nach diesen Ausfuhrungen nicht an der Karriere oder dem Prestige des handelnden Subjekts abgelesen werden: soziale Stellung und moralische Dignität fallen auseinander. Einzig sicheres Indiz für wahrhafte honnêteté ist das Urteil einer moralisch qualifizierten Öffentlichkeit, und ausschließlich diesem gegenüber fühlt sich Mérés honnête homme verpflichtet. Im oben angeführten Zitat differenziert der Autor entsprechend zwischen den «personnes qui savent juger» bzw. «qui connoissent le bien et le mal» im besonderen und der öffentlichen Meinung im allgemeinen. An anderem Ort spricht er von den «personnes de bon sens et de bon goust» (OC,1,106) oder von einem «esprit qui voit le prix de tout.» (OC,III,74) Obwohl diese Bestimmungen im ganzen recht vage und unpräzise bleiben, ist doch erkennbar, daß die moralisch qualifizierte Öffentlichkeit an keiner 11

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Faret, L'honneste homme ou l'art de plaire à la court, op. cit., p. 40. Zu diesem Zweck ist das handelnde Subjekt im art de plaire auf Selbstdarstellung angewiesen. Wie Octave Nadal zutreffend hervorhebt, bedarf die vertu demgegenüber nicht länger des paraître (Cf. Nadal, L'éthique de la gloire au XVII e siècle. In: Mercure de France CCCVIII (1950), p. 27). Auch aus diesem Grunde liegt es nahe, Mérés honnête homme in die Nähe von vertu/morale zu rücken.

Stelle nach sozialen Gesichtspunkten zusammengesetzt ist. 12 Vielmehr zeichnet sie sich dadurch aus, daß sie die gleichen Wertvorstellungen vertritt, denen auch das handelnde Subjekt gehorcht. Damit wird der für die sozialethische Theoriebildung relevante Handlungskontext von den höfischen Herrschaftsinstitutionen auf die Gemeinschaft der honnêtes gens zurückgenommen. In den 'Maximes, sentences et reflexions morales et politiques' bringt Méré dies auf die knappe Formel: «Il faut être bien avec les honnestes gens, & jamais mal avec les a u t r e s . D i e Interaktion der «honnestes gens» untereinander ist wichtiger als der Kontakt zu anderen Personen. Innerhalb des solchermaßen ausdifferenzierten gesellschaftlichen Teilbereichs der honnêtes gens wird dem plaire eine neue Funktion zugewiesen. Noch bei Faret heißt es «il faut remarquer les choses qui peuvent plaire à celuy que nous désirons obliger,»1"* womit er dem handelnden Subjekt empfiehlt, sich der hierarchisch gegliederten Öffentlichkeit anzupassen und die supérieurs als Mittel zum gesellschaftlichen Aufstieg zu instrumentalisieren. Dies ist die Funktionsbestimmung des plaire innerhalb der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen. Demgegenüber erwächst dem handelnden Subjekt bei Méré kein unmittelbarer Handlungsvorteil aus dem positiven Urteil der moralisch qualifizierten Öffentlichkeit, sondern nur die Verpflichtung, sich diesem würdig zu erweisen («ce que nous devons fiire pour nous perfectionner dans ce mérité»). Die Interaktion innerhalb des gesellschaftlichen Teilbereichs honnêtes gens ist jedoch die Bedingung der Möglichkeit, Glückschancen zu maximieren. In den Gesprächen mit dem Maréschal de Clérembault heißt es hierzu: Je voi de plus, que quand on est de bonne compagnie à l'égard des honnestes gens, on l'est aussi pour soi-mesme, et delà dépend le plus grand bon-heur de la vie. (OC, 1,51)

Glück ist nur in der gesellschaftlichen Enklave einer Gemeinschaft möglich, die der honnêteté verpflichtet ist und in welcher der honnête homme ausschließlich Gleichgesinnten b e g e g n e t . I n der Konstruk12 13 14 15

Ich vernachlässige hier die Möglichkeit einer unmittelbaren Verknüpfung von Urteilsvermögen und Adelsprivileg, da sie angesichts der übrigen Äußerungen Mérés nicht wahrscheinlich ist. Méré, Maximes, sentences et reflexions morales et politiques, Max. 263, op. cit., p. 118sq. Faret, L'honneste homme ou l'art de plaire à la court, op. cit., p. 45. Den Begriff Enklave in bezug auf die honnestes gens übernehme ich von Oskar Roth. Er kennzeichnet «eine von allen politischen und wirtschaftlichen Problemen und Interessen abgesonderte» soziale Gruppe (Cf. Roth, La Rochefoucauld: Das Wettbewußtsein eines Frondeurs. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 4 (1977), p. 495). Sie

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tion einer moralisch qualifizierten Öffentlichkeit findet die honnêteté als selbstreferentielle Qualität des handelnden Subjekts einen adäquaten Interaktionsrahmen, der vom Streben nach Glück nicht transzendiert wird. Das plaire bezeichnet in dieser Funktionsbestimmung die Form der individuellen Glückserfahrung. Der Funktionswandel des plaire läßt sich vor diesem Hintergrund dahingehend beschreiben, daß er sich von einem Instrument der Akkumulation von Machtchancen zu einem Garanten individuellen Glücks entwickelt. Letzteres besteht darin, daß die selbstreferentielle Qualität des handelnden Subjekts sich im Urteil der moralisch qualifizierten Öffentlichkeit der honnêtes gens bestätigt findet. Erst unter der Bedingung dieses Wandels erscheint das sozialnormative Theorieelement plaire der innovativ subjektorientierten Theoriebildung bei Méré kompatibel. Wie stehen diese Reflexionen Mérés nun grundsätzlich zur Theoriebildung der frühen Moralisten? Aus der Analyse des Gegensatzes von galant homme und honnête homme dürfte deutlich geworden sein, daß ersterer sich durch seine akzidentelle Qualität definiert. Er ist per definitionem auf Öffentlichkeit angewiesen und dem Komplex honneur/estime verpflichtet. Demgegenüber basiert das Persönlichkeitsmodell des honnête homme auf dessen substantieller Qualität, weshalb er nicht um öffentliches Ansehen buhlt. Im Hinblick auf den Wandel moralistischer Theoriebildung fallen zwei bedeutsame Veränderungen auf: Erstens treten akzidentelle und substantielle Qualität bei Méré begrifflich wie faktisch auseinander und sind nicht - wie bei Faret oder de Refuge - in Form einer prästabilierten Harmonie vermittelt. Entwicklungsgeschichtlich können galant homme und honnête homme als Zerfiiisprodukte der prästabilierten Harmonie bezeichnet werden. Während Faret diese beiden Qualitäten noch durch ein Sukzessionsverhältnis harmonisieren konnte, in dem die substantiellen

entspricht damit strukturell der von Werner Krauss beschriebenen «Elite», die durch die «Entfremdung von allem wirklichen Leben» charakterisiert ist und als solche die Voraussetzung für eine vornehme Absonderung erfüllt (Cf. Krauss, Über die Träger der klassischen Gesinnung im 17. Jahrhundert. In: Id., Gesammelte Aufsätze zur Literatur- und Sprachwissenschaft, Frankfurt/M.: Klostermann 1949, p- 325). Diese Distinktionshypothese widerspricht nicht der Einschätzung K.-J. Burckhardts, demzufolge Mérés honnête bomme im wesentlichen durch Unter- bzw. Einordnung definiert sein soll (Cf. Burckhardt, Der honnête homme. Das Eliteproblem im 17. Jahrhundert. In: Id., Gestalten und Mächte, Zürich: Manasse-Verlag 1961, p. 353sq), denn sein Überlegenheitsgefühl bezieht sich ausschleßlich auf substantielle Qualitäten, während die soziale Hierarchie akzidentell hergestellt wird.

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Eigenschaften des handelnden Subjekts nachträglich durch das öffentliche Urteil sanktioniert wurden, leugnet Méré die Notwendigkeit dieses Vorgangs: «Toutefois il arrive, par de certaines conjonctures, qu'un honnête-homme est d'abord si peu connu, qu'on ne lui rend pas l'honneur qu'il mérité.» (OC,III, 142) Galant homme und honnête homme sind die Repräsentanten zweier autonomer Wertesysteme, die keinerlei Berührungspunkte miteinander haben. An die Stelle der prästabilierten Harmonie tritt die Dichotomie autonomer Wertesysteme. Die dualistische Konstruktion fuhrt notwendig zu begrifflicher Differenzierung. So unterscheidet der Autor im Diskurs 'Des agrémens' zwischen den «agrémens de rencontre», die sich rasch verflüchtigen, und einer zweiten Gruppe von agrémens, «qui vont droit au cœur, et qui sont de toutes les heures.» (OC,II, 1 lsq) Andernorts stellt er zwei Formen von grandeur nebeneinander, die sich einerseits aus Innerlichkeit und Vernunft, andererseits aus Glück und Anerkennung ableiten.17 Hinzu treten zahlreiche wertende Begriffepaare wie gloire/véritable gloire (Cf.OC,I,80), mérite/vrai mérite (Cf.OC,I,52 u. 78) oder honneur/vrai honneur (Cf.OC,1,80; OC,III,88) etc., in denen sich der Gegensatz zwischen den mit galant homme und honnête homme verknüpften Wertesystemen manifestiert. Die von Gerhard Hess beobachtete Vorliebe Mérés für die «Zweiheit»18 kann meines Erachtens zu einem nicht unerheblichen Teil auf den Zerfall der prästabilierten Harmonie und der daraus zwangsläufig resultierenden dualistischen Konstruktion zurückgeführt werden. Als zweite bedeutsame Veränderung in der moralistischen Theoriebildung ist festzuhalten, daß das entscheidende Kriterium, mit dessen Hilfe der honnête homme vom galant homme unterschieden wird, sich von der akzidentellen zur substantiellen Qualität verlagert. 16

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Cf. hierzu auch die Ausführungen von Jean-Pierre Dens, 'Les agréments qui ne lassent point': Le Chevalier de Méré et l'art de plaire, op. cit. Dens définiert die agréments de rencontre durch ihren Bezug «à quelque chose d'extérieur à la personne» (ib., p. 221) und grenzt die zweiten agréments mit den Worten ab: «Ceux qui les possèdent ont l'avantage de ne les tenir que d'eux-mêmes, ce qui en garantit la permanence» (ib., p. 222). Im Hinblick auf die öffentlich vermittelte akzidentelle und die selbstreferentielle und zeitlich generalisierbare substantielle Qualität decken sich Dens' Analysen mit den oben ausgeführten Thesen. Cf. OC,II,21f und OC,111,140. Cf. ferner die Ausführungen von Gerhard Hess, Wege des Humanismus im Frankreich des 17. Jahrhunderts: Der Chevalier de Méré, op. cit., p. 74. Hess geht trotz anderslautender Stellungnahmen Mérés von der Höherwertigkeit der grandeur extérieur aus. Cf. ib., p. 57.

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Während die Wirkung des honnête homme auf Dritte zeitlich generalisierbar sein soll, heißt es von der seines galanten Gegenübers: «J'ay vû de ces galans hommes devenir le rebut et le mépris de ceux mesme qui les avoient admirez.» (OC,1,18) Der Hinweis auf die Instabilität der öffentlichen Meinung gegenüber dem galant homme, dessen positive Ausstrahlung rasch vergehen oder sogar in das Gegenteil umschlagen soll, ist ein Beleg für dessen akzidentelle Qualität. Hingegen kann die Unwandelbarkeit des honnête homme nur durch seine substantielle Qualität plausibel erklärt werden. Neben dem Funktionswandel des plaire erweisen sich die aufgehobene Vermittlung von substantieller und akzidenteller Qualität sowie die Neubestimmung des honnête homme als sozialtheoretisch innovative Faktoren. Wenn die Qualität des honnête homme nicht mehr in akzidentellen, sondern nur noch in substantiellen Begriffen zu formulieren ist, verliert der Komplex honneur ¡estime notwendig an Bedeutung. In den 'Maximes, sentences et reflexions morales et politiques' heißt es im Aphorismus 14: L'honneur n'est pas toûjours le prix du mérité, il est aussi souvent le partage du crime que La recompense de la vertu. (19)

Innerhalb des dualistischen Wertesystems ist der honneur akzidentell definiert, während der mérite eine substantiell-authentische Qualität bezeichnet. Bemerkenswert ist dieser Aphorismus deshalb, weil er nicht nur die prästabilierte Harmonie von honneur und mérite aufkündigt, sondern darüber hinaus auch die Möglichkeit eines Widerspruchs beider Ordnungen in der Form beschreibt, daß ein objektiv negatives Verhalten (crime) gesellschaftliche Anerkennung finden kann. Damit wird der Begriff honneur für die Beschreibung und Rechtfertigung sozialen Handelns untauglich, eben weil er auf der Grundlage akzidenteller Qualität argumentiert. Innerhalb einer Theorie, welche die moralischen Postulate nicht aus der normativen Beschreibung sozialer Interaktion, sondern aus der modellgebenden Disposition des handelnden Subjekts honnête homme ableitet, ist der honneur als sozial vermittelter Begriff insofern inkommensurabel, als er tendenziell versucht, gesellschaftliches Handeln durch die öffentliche Zustimmung zu rechtfertigen. Es erscheint erforderlich, die bisherigen Arbeitsergebnisse zusammenzufassen und auf die Ausgangsfrage nach der Negation des précepte als wirkungsästhetischem Verfahren zu beziehen. Es wurde 19

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Méré, Maximes, sentences et reflexions morales et politiques, Max. 14, op. cit., p. 7.

zunächst der Wandel in der moralistischen Theoriebildung von der normativen Beschreibung der gesellschaftlichen Praxis zur Konstruktion eines Persönlichkeitsideals konstatiert. Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen steht die begriffliche Kontinuität frühmoralistischer Postulate - wie dem des plaire - im Zeichen eines umfassen Funktionswandels: Sie sind nicht länger auf die Konkurrenz um Status- und Prestigechancen bezogen, sondern im Hinblick auf die Maximierung von Glückschancen instrumentalisiert. - Im Vergleich zur Theorie der frühen Moralisten indiziert der begriffliche Dualismus von galant homme und honnête homme, daß die prästabilierte Harmonie von akzidenteller und substantieller Qualität bei Méré zerbrochen ist. Deshalb muß sich die subjektorientierte Theorie, die den honnête homme als normatives Persönlichkeitsmodell entfalten will, notwendig substantieller Begriffe bedienen. Insofern, als die Ableitung eines précepte im innovativen Rahmen eines Persönlichkeitsideals überhaupt möglich sein soll, hätte dieses nicht länger die Form eines äußerlichen Postulats, sondern die einer normativ explizierten Bewußtseinshaltung, welche nur als substantielle Qualität darstellbar ist. Damit spitzt sich die Frage nach der Negation des précepte auf die nach der Anthropologie zu, die der Theorie immanent ist. Die Rekonstruktion der psychischen Konstituenten und der mentalen Dispositionen des honnête homme bei Méré soll Aufschluß über dessen wirkungsästhetische Funktionsbestimmung geben.

2.1 Zur Anthropologie des honnête homme Mérés Negation des précepte steht im Zusammenhang mit einem grundlegenden Wandel der moralistischen Theoriebildung, der als Übergang von der normativen Beschreibung der gesellschaftlichen Praxis zur Formulierung des Persönlichkeitsideals honnête homme rekonstruiert werden kann. Dabei wird deutlich, daß das subjektorientierte Erkenntnisinteresse des Autors vom Postulat der Selbstreferentialität ausgeht, das neben dem Funktionswandel des plaire auch die Bewertung einzelner Personen nach deren substantieller Qualität bedingt. Indem die Theorie jedoch auf substantielle Begriffe verwiesen ist, kann der honnête homme nicht länger durch sein modellgebendes Verhalten in höfischen Kommunikationssituationen entwickelt und definiert werden, denn dies hieße, ihn akzidentell zu qualifizieren. An die Stelle der Beschreibung sozialer Interaktion tritt eine innovative Anthropologie, der sich Méré ausführlich widmet. Um die Unterschiede seiner Konzeption zu der der frühen Moralisten zu verdeutlichen, muß zunächst die Funktion der Rationa91

lität untersucht werden. Der traditionelle Verhaltenscode des art de plaire legitimiert soziale Normen auf der Grundlage eines umfassenden Rationalitätsprimats, der im Sinne der Domestikation von Triebnatur und der Zurückdrängung von Affekten funktionalisiert wird. In dieser Konstruktion figuriert das handelnde Subjekt ausschließlich als intelligibles Wesen, dessen Sozialverhalten an der Kalkulation von Status- und Prestigechancen orientiert ist. Normengerechtes Verhalten setzt, unter dem Rationalitätsprimat, stets die Subordination der Triebnatur unter den Verstand voraus. Letzterer entspricht der rational deduzierten Verhaltensnorm und garantiert deren Geltung gegenüber einer Affektivität, die als unkalkulierbar gesetzt wird und der Intention einer geordneten sozialen Praxis latent widerstreitet. Die Veränderungen in der Anthropologie des honnête homme bei Méré sind evident. In seiner Schrift 'De l'esprit. Discours de M. le Chevalier de Méré à Mme * * * ' negiert er die klare Trennung von raison und passion/sentiment und kündigt zugleich deren tradiertes Subordinationsverhältnis auf: On peut considérer la raison comme une puissance de l'ame commune à l'esprit et au sentiment: de sorte que ce que nous appelions raisonner, n'est autre chose que l'action de l'esprit, ou du sentiment, qui vont d'un objet à un autre, et qui reviennent sur leurs pas. L'esprit fiait plus de reflexions que le sentiment, et d'une maniéré plus pure et plus distincte. (OC,ll,69sq)

Wenn der Autor den Begriff raison auf den sentiment appliziert, dann bestreitet er das Vernunftmonopol des Verstands und wertet zugleich die menschliche Triebnatur in einem neuen Begründungszusammenhang auf. Zwar partizipiert auch der sentiment von der Autorität des Rationalitätsprimats, doch kann nicht länger von einer einfachen Rationalisierung der Leidenschaften in dem Sinne gesprochen werden, daß diese vom Verstand überformt und verdrängt würden. Mérés Gedanke dokumentiert vielmehr, daß der sentiment sich als ein Element der Vernunft definiert, womit das Subordinationsverhältnis in das der Koexistenz überführt ist. Im Begriff des «raisonner» sind intelligible- und Triebnatur allenfalls quantitativ, nicht jedoch qualitativ differenziert. Bereits in dem sechs Jahre zuvor erschienenen 'Discours de la justesse' (1671) wird der raison ein weitgehend emanzipierter sentiment gegenübergestellt und zum sozialen Funktionsträger aufgewertet. In der für ihn typischen «Zweiheit»20 stellt Méré fest:

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Cf. Anmerkung 18.

IL y a deux sortes de justesse: l'une paroist dans le bon temperament qui se trouve entre l'excès et le défaut. Elle depend moins de l'esprit et de l'intelligence que du goust et du sentiment; et quand l'esprit y contribue on peut dire (si vous me permettez de le dire ainsi) que c'est un esprit de goust et de sentiment: je n'ay point d'autres termes pour expliquer plus clairement ce je ne sçay quoy de sage et d'habile qui connoist partout la bienseance, qui ne souffre pas que l'on fasse trop grand, ou trop petit, ce qui veut estre grand, ou petit; et qui fait sentir en chaque chose les mesures qu'il y faut garder. (OC, 1,96)

Von der zweiten justesse

heißt es nur wenig später:

L'autre justesse consiste dans le vray rapport que doit avoir une chose avec une autre, soit qu'on les assemble ou qu'on les oppose; et celle-cy vient du bon sens et de la droite raison: [...] C'est que cette sorte de justesse s'exerce sur la vérité simple et nue, qui n'est point sujette au plus ni au moins et qui demeure toûjours ce qu'elle est. (OC,1,96)

Méré unterscheidet das Subjekt nach seiner intelligiblen (esprit/intelligence) und nach seiner affektiven Natur (goust/sentiment) und ordnet beiden Subjektkonstituenten unterschiedliche Handlungsfelder zu. Nicht ohne auf die vielfaltige Vermittlung von esprit und sentiment hinzuweisen, stellt er einen Zusammenhang von affektiv determinierter justesse und bienséance her, den näher zu erläutern er sich allerdings unter Berufung auf das je ne sais quoi enthält. Dennoch wird ersichtlich, daß dem sentiment eine zentrale Steuerungsfunktion in bezug auf soziales Handeln zukommt. Die uneingeschränkte Dominanz des Rationalitätsprimats bleibt nur in der zweiten justesse gewahrt, die vom bon sens und der droite raison beherrscht sein soll. In einer sehr modern anmutenden Gegenüberstellung gesellschaftlicher Wirklichkeitsbereiche konzipiert der Autor - so muß interpretiert werden - einen wissenschaftlichen Sektor der justesse, deren Wahrheitsanspruch rational einzulösen ist, und unterscheidet diesen vom Bereich des gesellschaftlichen Handelns und der sozialen Interaktion, in welchem auch die Triebnatur des Subjekts zum Träger von justesse avanciert. Auf die inhaltlichen Übereinstimmungen dieser doppelten Begriffebestimmung von justesse mit Pascals Unterscheidung von esprit de finesse und esprit de géometrie ist seitens der Forschung wiederholt hingewiesen worden. 21 Es erübrigt sich daher, die Bezüge näher 21

In den 'Pensées' unterscheidet Pascal zwischen dem esprit de géométrie und dem esprit de finesse, indem er die Prinzipien des ersteren als «palpables, mais éloignés de l'usage commun» und die des letzteren als «dans l'usage commun et devant les yeux de tout le monde» vorstellt (Cf. Pascal, Pensées. In: Id., Œuvres complètes, ed. Jacques Chevalier, Paris 1954, p. 1091sq). Gerhard Hess deutet den esprit de géométrie

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zu explizieren. Méré geht jedoch insoweit über Pascal hinaus, als er nicht bei erkenntnistheoretischen Bestimmungen stehen bleibt, sondern die justesse, die dem esprit de finesse entspricht, direkt auf die gesellschaftliche Praxis bezieht. 2 2 Im Hinblick auf die Anthropologie des honnête homme ist diese 'gemischte' justesse vor allem deshalb von Bedeutung, als neben der raison auch der sentiment - und damit die affektive Natur des handelnden Subjekts - für die Formulierung des Persönlichkeitsideals relevant wird. 2 ^ Im Gegensatz zur frühmoralistischen Theoriebildung integriert Méré die affektive Triebnatur des Subjekts in das Persönlichkeitsmodell des honnête homme. Der sentiment übernimmt damit soziale Steuerungsfunktionen. Seine moralische Qualifikation kommt in apodiktischen Sätzen wie «bien souvent le sentiment est plus subtil et plus penetrant que l'esprit» (OC,II,39) zum Ausdruck oder «ce sont principalement, les passions qui font exceller les meilleurs ouvriers» (OC,II,49). In diesem Sinne postuliert Méré immer wieder die Einheit von cœur et esprit als Bedingung der Möglichkeit substantieller Qualität. In seinem Werk steht der Topos cœur et esprit einerseits im

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unter diesen Voraussetzungen als einen Physiker oder Mathematiker, während er im esprit de finesse den Weltmann zu erkennen glaubt (Cf. Hess, Wege des Humanismus im Frankreich des 17. Jahrhunderts: Der Chevalier de Méré, op. cit., p. 57). Während K.-H. Stierle den esprit de finesse als ein «ästhetisch sensibilisierte^], Nuancen und Komplexitäten wahrnehmende(s) Bewußtsein» deutet, (Stierle, Sprache und menschliche Natur in der klassischen Moralistik Frankreichs. Vortrag zum Gedächtnis von Gerhard Hess. Mit einem Nachruf auf Gerhard Hess von H.R. Jauß, Konstanz: Universitätsverlag 1985 (Konstanzer Universitätsreden 151), p. 30) hat er nach Ansicht von Hugo Friedrich sogar metaphysische Implikationen (Cf. Friedrich, Pascals Paradox. Das Sprachbild einer Denkform. In: Zeitschrift für romanische Rhilologie 56 (1936), p. 338). Neben Gerhard Hess besteht auch Maurice Magendie auf der Parallelisierung beider Begriffspaare (Cf. Magendie, La politesse mondaine et les théories de l'honnêteté en France au XVII e siècle de 1600 à 1660, p. 776sq) und führt die ähnliche Argumentation auf einen Briefwechsel beider Autoren zurück. - Wie Jean-Pierre Dens betont, stehen die unterschiedlichen Begriffcpaare der beiden Moralisten für die beiden Pole der klassischen Ästhetik überhaupt, die er als «l'art et les règles» einerseits und als «instinct et réflexions» andererseits bezeichnet (Dens, Le Chevalier de Méré et la critique mondaine. In: XVIIe siècle 101 (1973), p. 42). Tatsächlich scheinen die beiden Begriffe von justesse bei Méré ebenfalls von der Leitdifferenz mathematischer Richtigkeit bzw. gesellschaftlicher Adäquatheit getragen zu sein und der Pascalschen Unterscheidung zu entsprechen. Cf. auch OC,I,l4. Diese Umwertung wird auch von Gerhard Hess besonders hervorgehoben, wenn er im Hinblick auf Méré feststellt, daß «die jeder Ordnung abholden, intuitiven, irrationalen Kräfte Grundlage und Werkzeuge der honnêteté [sind]» (Hess, Wege des Humanismus im Frankreich des 17. Jahrhunderts: Der Chevalier de Méré, op. cit., p. 59).

Zeichen der Definition der vrai honnêteté, von der es heißt: «elle ne dépend que du cœur et de l'esprit; son principal fonds est dans le coeur, et l'esprit lui donne les agrémens» (OC,III,94), womit die Affekte die raison an Bedeutung sogar übertreffen; andererseits dient er der Bestimmung der véritable grandeur (Cf. OC,III, 140 u. 143). Irr. Rückgriff auf den Topos cœur et esprit suspendiert der Autor das einseitig ratiozentrierte Subjekt firühmoralistischer Diskurse, indem er auch der affektiven Triebnatur moralische Qualität attestiert. Als Konsequenz dieser Bestimmung wird das handelnde Subjekt als Einheit von affektiver und intelligibler Natur definiert, d.h. als Totalität. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist die Negation des Rationalitätsprimats keineswegs nur auf Méré beschränkt. Auch du Pic macht sich in seinem 1688 erschienenen 'Discours sur la bienséance' zum Anwalt eines ganzheitlichen Subjekts, wenn er für den honnête homme postuliert: «Il est nécessaire que le cœur soit de concert avec l'esprit.»2"* Mlle de Scudery stellt in den 'Nouvelles conversations de morale' aus demselben Jahr fest, daß das Fundament der Moral «a toûjours esté dans le cœur de tous les h o m m e s , w o m i t sie sich gegen die rationalistische Begründung sozialer Normen ausspricht. Die Beispiele verdeutlichen, daß die Dominanz des Rationalitätsprimats in der zweiten Jahrhunderthälfte zwar nicht gebrochen, so aber doch bereits unterminiert ist. In diesem Zusammenhang kann Méré als einer der exponiertesten Vertreter der Theorie von einer moralisch rehabilitierten Triebnatur gelten. Die Differenz zur Anthropologie der frühen Moralisten stellt sich so dar: Für Faret ist das handelnde Subjekt durch eine defizitäre Grundstruktur charakterisiert, deren spezifische Mängel er mit Hilfe äußerlicher Normen und des Rationalitätsprimats zu kompensieren versucht. Jedoch kann er damit intersubjektive Handlungsziele nur in bezug auf die ständische Hierarchie formulieren und ein Verhalten beschreiben, das mit den gesellschaftlichen Institutionen vermittelt ist.

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Du Pic, Discours sur la bienséance avec des maximes & des réfléxions tres-importantes & tres-nécessaires pour réduire cette vertu en usage, Paris: Mabre-Cramoisy 1688, p. 150. Mlle de Scudery, Nouvelles conversations de morale. Dédiés au Roy, Bd. I, Paris: Mabre-Cramoisy 1688, p. 66. - Auch andere Autoren plädieren für eine ethische Aufwertung der menschlichen Triebnatur. Zu nennen ist beispielsweise Chomel, der hervorhebt, daß literarische Werke «sentimens vertueux» im Leser erzeugen können (Chomel, Veritez et maximes solides pour arriver à la perfection tirées de l'écriture et des Peres. Avec des pratiques pour la Sainte Communion pour tous les dimanches de l'année, prises de l'Evangile du jour, Paris: E. Michallet 1680, p. 262sq). Auch Chomel rückt damit deutlich vom überlieferten Rationalitätsprimat ab.

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Die Postulate der höfischen Sozialtechnik können deshalb immer nur aus äußeren Gegebenheiten deduziert werden, womit das einseitig ratiozentrierte Subjekt zum Erfüllungsgehilfen ihm exteriorer Prinzipien degradiert wird. - Demgegenüber artikuliert Mérés honnête bomme in der vermittelten Einheit von intelligibler und affektiver Natur legitime Bedürfhisstrukturen, die noch in der frühen Moralistik dem Verdikt subjektiver Defizite zum Opfer gefallen wären. Das handelnde Subjekt wird von der Erfüllung ihm äußerlicher Postulate dispensiert und kann seine Interessen auf den bonheur richten, hinter den die Anforderungen der gesellschaftlichen Praxis zurücktreten. Der Zusammenhang von innovativer Anthropologie, die das Subjekt als Einheit von cœur und esprit versteht, und einer gesellschaftlichen Praxis, die als Konkurrenz um Glückschancen konzipiert ist, muß so erschlossen werden: Solange das handelnde Subjekt seine Zwecke im Hinblick auf soziale Hierarchien formuliert, konkretisiert sich sein Verhalten unter der Vorherrschaft des Rationalitätsprimats, der nach frühmoralistischer Auffassung für alle Subjekte in gleichem Maße obligatorisch sein soll. Dieser erscheint als einfache Subordination der Affekte unter die Vernunft. Liegt hingegen der Zweck allen Handelns in der subjektiven Disposition der félicité, so rekurriert die Theorie auf individuelle Bedürfhisstrukturen, die das Schema einer einseitig rationalen Selbstdisziplinierung obsolet werden lassen. Im Traktat 'Des agrémens' simuliert Méré den fiktiven Zustand einer leidenschaftslosen Existenz und kommt zu dem Ergebnis: De sorte que quand on se pourrait défaire de toutes les passions, ce qui serait assez difficile, il s'en faudrait pourtant bien garder, parce que celuy qui ne souhaiterait rien, et qui ne serait sensible à quoy que ce soit, trouverait la vie ennuyeuse, et déplairait à tout le monde et à soymesme. (OC,II,49)

Der Autor lehnt die Ausgrenzung der passions, wie die traditionelle Anthropologie sie fordert, mit dem Hinweis auf die Legitimität subjektiver Bedürfnisstrukturen ab, ohne die weder der Begriff bonheur noch das Prinzip des plaire sozialtheoretisch formuliert werden können. Erst das intelligibel und affektiv entfaltete Subjekt Mérés ist in der Lage, selbstreferentielle Bedürfnisse zu artikulieren, die über bonheur bzw. félicité für jedes Individuum auf andere Weise einlösbar sind. Vor dem Hintergrund dieser Unterschiede wird deutlich, daß die anthropologische Uniformität aller Subjekte, die vom Rationalitätsprimat postuliert wird, in der an félicité orientierten Interaktion in ein komplexes und individuell differenziertes Persönlichkeitsideal überführt werden muß. Der Übergang vom Handlungspostulat der gloire

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auf das der bonheur setzt eine entwickelte Anthropologie zwingend voraus. Da die auf das Glück bezogene Theorie von den spezifischen Besonderheiten des jeweiligen Subjekts ausgehen muß und nicht - wie die an der gloire orientierte - an den sozialen Institutionen anknüpfen kann, muß der normative Anspruch sich jeder Verallgemeinerung enthalten. So gibt Méré zu bedenken, «que la haute intelligence trouve le bonheur en des choses que les gens de commun ne goustent pas, comme elle en méprise d'autres que le peuple admire» (OC,II,62) oder er hebt in allgemeiner Form hervor, «que ce ne sont pas des choses de même nature, qui peuvent rendre toute sorte de gens heureux.» (OC,III, 174) Wie die Beispiele zeigen, wird die Differenz der Subjekte im Hinblick auf Glückserfahrung nicht auf sozialer, sondern auf mentaler Ebene bestimmt. Im Gegensatz zur Uniformität der gloire, der für alle Menschen der gleiche ist, wird der bonheur als subjektiv vermittelter Begriff von verschiedenen Subjekten jeweils anders interpretiert. Mérés Gesellschaftsmodell hebt sich von dem der frühen Moralisten dadurch ab, daß die gesellschaftliche Praxis hier als eine Konkurrenz um Glückschancen aufgefaßt wird, die - wenn überhaupt - normativ nur noch in Form subjektiv differenzierter und disparater Handlungspostulate dargestellt werden kann, mit anderen Worten: Die Generalisierung der bonheur als gesellschaftliches Handlungsziel zieht die Differenzierung der darauf bezogenen Verhaltensnormen notwendig nach sich. Indem Méré das telos menschlichen Handelns von der gloire auf die félicité verlagert, führt er ein disparates, subjektabhängiges Handlungspostulat ein. Zugleich verweist er auf die damit verbundenen Probleme eines moralischen Wirkungsverfahrens, das am précepte orientiert ist: Il est aisé de bien conseiller pour la gloire, dit le Chevalier, on sçait ce que c'est et comment elle se peut acquérir. Tous ceux qui jugent bien en conviennent. Mais il n'en va pas ainsi de la félicité, qui dépend beaucoup plus du tempérament, que des choses que nous croyons qui la donnent. [...] Bien souvent nous-mesmes ne sçavons pas ce qui nous seroit b o n pour estre contens. (OC,1,83)

Das Postulat der gloire ist eng mit den gesellschaftlichen Institutionen vermittelt, und sie beweist das normenkonforme Verhalten desjenigen Subjekts, dem sie zuteil wird. Als solche ist sie potentiell für alle Subjekte identisch. Demgegenüber erscheint die félicité als eine subjektspezifische Disposition («qui dépend beaucoup plus du tempérament»), Sie kann aufgrund ihres disparaten Charakters nicht mit allgemeinen Normen beschrieben werden, so daß ihre Vermittlung durch den précepte a priori ausgeschlossen ist. Selbst die relativen Normen 97

mit sozial differenziertem Geltungsanspruch argumentieren zu allgemein und sind der Theorie Mérés, die vom handelnden Subjekt ausgeht, nicht adäquat. Die Grundzüge seiner Argumentation lassen sich vorläufig so zusammenlassen: Durch die Einfuhrung eines kontingenten und vielfältig differenzierten Subjektbegriffs wird der universell verbindliche und notwendig allgemein formulierte précepte wirkungsästhetisch gegenstandslos, weil er die Vielfalt des Empirischen nicht in sich aufnehmen kann. Mérés innovativer Theorieentwurf stützt sich auf eine Anthropologie, die den tradierten Rationalitätsprimat dahingehend auflöst, daß das Persönlichkeitsideal honnête homme auf der Basis subjektspezifischer Bedürfhisstrukturen konzipiert ist, die als legitim anerkannt und zugelassen werden. Der damit verbundenen anthropologischen Aufwertung menschlicher Triebnatur entspricht das Konzept einer am Begriff der bonheur orientierten gesellschaftlichen Praxis. Als disparates Handlungspostulat sperrt sich der bonheur gegen jede normative Vermittlung im Sinne des précepte. Eine abschließende Antwort auf die Frage nach der Negation des tradierten wirkungsästhetischen Verfahrens zeichnet sich somit vor dem Hintergrund des kontingenten und vielfach differenzierten Subjektbegriffs ab, der näher untersucht werden muß.

2.2 Naturel und je ne sais quoi Das Prirrzip der dynamischen Norm Die Rekonstruktion der innovativen Anthropologie bei Méré hat ergeben, daß der allgemeinverbindliche und vereinheitlichende Rationalitätsprimat früher Moralistik in eine vielfältig differenzierte Subjektivität unterschiedlicher Bedürfhisstrukturen überführt wird. Noch Faret unterwirft das Subjekt den gesellschaftlichen Strukturen, die sich ihm insbesondere über die gloire mitteilen. Diese wiederum kann es nur erreichen, wenn es seine Affekte und Triebe permanent kontrolliert. Das 'reduzierte' Subjekt ist die Bedingung der Möglichkeit von Verhaltensnormen und gewährleistet die Stabilität sozialer Strukturen. Im Übergang zu einer Beschreibung der gesellschaftlichen Praxis, die am Begriff der félicité orientiert ist, meldet das vielfältig differenzierte Subjekt hingegen eigene legitime Bedürfiiisse an, die als subjektspezifische nicht verallgemeinert werden können. Deshalb ordnet sich das handelnde Subjekt nicht fraglos der Norm unter, sondern begehrt zunehmend gegen sie auf. In 'Des agrémens' stellt Méré in diesem Sinne zwei Verhaltensmodelle einander gegenüber und schätzt die

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jeweiligen Erfolgsperspektiven ein: Il se trouve bien quelques naturels si souples, qu'ils se tournent comme ils veulent selon les occasions, et que tout leur réûssit; mais c'est une merveille que d'en rencontrer et je voy presque toujoûrs qu'on a peu de grâce quand on va contre son genie. (OC,II, 19)

Beide Modelle divergieren zunächst einmal durch ihren spezifischen Legitimationshorizont: Während sich die Interaktion im ersten Fall an den jeweils gegebenen Bedingungen und Institutionen («occasions») ausweist, rekurriert das zweite Modell auf die individuellen Dispositionen des Handelnden («genie»). In dieser Bestimmung entsprechen sie den oben unter den Begriffen gloire und bonheur subsumierten Handlungszielen. Durch die Gegenüberstellung von einem positiv formulierten «selon les occasions» und einem negativen «contre son genie» postuliert Méré, daß beide Verhaltensmodelle einander prinzipiell widersprechen, und entscheidet sich unter dem Aspekt der «grace» (hier zu verstehen als Synonym für plaire) für das letztere. Die institutionell gebundene Interaktion der «occasions» setzt voraus, daß die allgemeinen sozialen Normen respektiert werden; sie steht für eine Wirklichkeit, die für alle Personen in gleichem Maße relevant ist. Demgegenüber muß der Begriff «genie» als eine subjektive Handlungsdisposition verstanden werden, mit deren Hilfe der Autor die Relativierung allgemeiner normativer Ansprüche verlangt, welche entsprechend den unterschiedlichen subjektiven Voraussetzungen und Bedürfnisstrukturen ausgelegt werden müssen. Die Geltung gesellschaftlicher Normen wird damit nicht mehr bedingungslos postuliert, sondern im Hinblick auf das Subjekt spezifiziert. Der Relativierung sozialer Normen entspricht die Erweiterung der individuellen Handlungsspielräume, deren Grenzen Méré so absteckt: Il y a des choses si desagreables qu'on s'en doit absolument défaire, comme d'estre injuste, envieux, ou malin: de quelque façon qu'on le soit, il sied mal de l'estre, il y faut renoncer tout-à-fait, mais pour celles dont l'usage n'est ni bon ni mauvais, et qui ne depend que de s'y prendre bien ou mal, il faut suivre sa pente, et tout ce qu'on peut en cela, c'est d'en faire un peu plus ou un pieu moins. (OC,II, 19)

Méré zählt zunächst eine Reihe von Eigenschaften auf, die das Subjekt prinzipiell meiden soll, wie «injustice», «envie» und «malignité». Diesen traditionell negativ besetzten Qualitäten stellt er nicht - wie noch die frühen Moralisten es taten - eine Anzahl eindeutig positiver Begriffe gegenüber, vielmehr entwickelt er einen Kanon von moralisch indifferenten Verhaltensweisen, über die der Handelnde frei verfugen

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kann.2^ Bemerkenswert ist daran vor allem, daß deren Disponibilität nicht im Zeichen der rationalen Kalkulation von Wirkungspotentialen steht, sondern daß sie sich ausschließlich an den individuellen Neigungen des handelnden Subjekts orientieren soll («il faut suivre sa pente»). Aus der hier beschriebenen Relativierung des Rationalitätsprimats und der Erweiterung individueller Handlungsspielräume kann auf den Zustand und die innere Stabilität des sozialen Systems, d.h. der höfisch-absolutistischen Gesellschaft um 1670, geschlossen werden. In der Theorie frühmoralistischer Diskurse ist der Rationalitätsprimat insofern ein systemstabilisierender Faktor, als das Konzept eines einseitig ratiozentrierten Subjekts - das universellen und relativen Normen verpflichtet ist - ein konstantes und berechenbares Verhalten und somit eine geordnete soziale Praxis herzustellen vermag. Historisch fällt der Rationalitätsprimat mit dem Übergang von einer feudalen zu einer höfisch-absolutistischen Ordnung zusammen und unterwirft das Subjekt den Zwängen, die diesem Sozialsystem immanent sind. Vor dem Hintergrund dieser Funktionsbestimmung läßt die Relativierung des Vernunftprimats ebenso wie die Erweiterung der individuellen Handlungsspielräume auf einen nachlassenden Anpassungsdruck der zentralen gesellschaftlichen Institutionen schließen. Der Hof muß sich als Machtzentrum fest etabliert haben, denn Meres theoretische Innovationen können nur unter der Voraussetzung toleriert werden, daß die Herrschaftsstrukturen gesichert sind. Dies mag als Randbemerkung genügen. 26

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Sowohl Jean-Pierre Dens als auch Christoph Strosetzki machen auf eine Zäsur in der moralistischen Theoriebildung aufmerksam, welche die Moralisten der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts von denen der zweiten Jahrhunderthälfte trennt. Bei Strosetzki heißt es: «Während in der ersten Hälfte ethische und religiöse Qualitäten überwiegen [...], bezeichnet der Ausdruck ( honnête homme, F.W.) in der zweiten Hälfte vorwiegend gute gesellschaftliche Umgangsformen und bezieht sich auf moralische wie religiöse Bindungen eher beiläufig» (Strosetzki, Moralistik und gesellschaftliche Norm. In: Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Bd. 1: Von Rabelais bis Diderot, ed. Peter Brockmeyer et H. Wetzel, Stuttgart: Metzler 1981, p. 198). Im gleichen Sinne unterscheidet Jean-Pierre Dens zwischen einer Reflexion «d'ordre moral» und einer Theorie «d'ordre esthétique», als deren Hauptvertreter Méré eingeführt wird (Cf. Dens, L'honnête homme et l'esthétique du paraître. In: Papers on French Seventeenth Century Literature 6 (1976/77), p. 79). Das Problem einer Zuordnung ethisch/ästhetisch wird gerade anhand der engen Verflechtung beider Theoriebezirke im oben angeführten Zitat deutlich: Méré reflektiert an dieser Stelle im Rahmen eines ethisch indifferenten Verhaltensrahmens, den er ästhetisch auslegt, ohne dabei jedoch die Grenzen der zeitgenössischen Moralistik aus den Augen zu lassen.

Méré faßt seine Überlegungen zur Relativierung sozialer Normen und zur Erweiterung der individuellen Handlungsspielräume abschließend so zusammen: Je veux dire que celuy qui paroist plus sombre ou plus gay que la bienseance ne veut, doit essayer par adresse ou par habitude d'y apporter quelque modération. Ce juste temperament se peut acquérir et se rendre naturel quand on y prend garde, et la principale cause de la bienseance vient de ce que nous faisons comme il faut ce qui nous est naturel; d'ailleurs tous les caractères sont excellens lors qu'on s'en acquitte en perfection. (OC,II, 19) Unter dem Postulat der médiocrité,27 das sich in diesen Ausführungen abzeichnet, wird das latent normentranszendierende «temperament» auf ein «juste temperament» zurückgenommen, durch das der Handelnde sich erneut der sozialen Norm unterwirft. Allerdings bleibt die bienséance auch weiterhin von institutionellen Zwängen weitgehend unberührt und ist auf der Grundlage subjektiver Bedürfnisstrukturen definiert. Wenn der Autor die voneinander abweichenden Handlungsdispositionen verschiedener Subjekte im Begriff des naturel zusammenführt, behauptet er deren prinzipielle Vergleichbarkeit und ist sogar in der Lage, den (allgemeinverbindlichen) Perfektionsgedanken neu zu beleben. In diesem Sinne hängen sowohl «le bon air» als auch «les vrais Agrémens» von einer «disposition naturelle» (Cf. OC,II,36sq) ab. Auch die galanterie als eine spezifisch höfische Diskursform ist für Méré nur insofern authentisch, als sie sich 'natürlich' gibt: «Pour estre veritable et comme elle doit estre, il faut qu'elle (la galanterie, F.W.) se pratique d'une maniéré qui plaise, et de plus qu'elle soit bien naturelle.» (OC,II,43) Die Paradoxie des Begriffe naturel ist von hier aus wie folgt zu beschreiben: einerseits bezeichnet er diejenigen Elemente im Subjekt, 27

Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß die bienséance nach Méré «ne souffre pas que l'on fasse trop grand, ou trop petit» (OC,1,96). Auch die einzelnen Tugenden, wie die modestie «comme toutes les autres (vertus, F.W.) consiste dans un juste milieu» (OC,II,2) Angemerkt sei auch, daß «les vrais Agrémens ne veulent rien qui ne soit modéré» (OC,II,15), so daß man mit Gerhard Hess von einer «Mittelmäßigkeit seines honnête homme-Seins» sprechen kann (Cf. Hess, Wege des Humanismus im Frankreich des 17. Jahrhunderts: Der Chevalier de Méré, op. cit., p. 83). - Die aristotelische Komponente dieser bei den Moralisten verbreiteten Auflassung kommt sehr deutlich bei de Chalesme zum Ausdruck: «Ainsi pour nous donner la peine de chercher une définition pour la vertu en general, examinons seulement les différentes especes, & regardons les comme des vertus particulières, dont les deux extremitez sont vicieuses» (de Chalesme, L'homme de qualité, ou les moyens de vivre en homme de bien, & en homme du monde, Paris: A. Pralard 1671, p. 19sq). 101

die der sozialen Norm gegenüberstehen und diszipliniert werden müssen (Affekte, Triebnatur, etc.), andererseits erhebt er selbst einen normativen Anspruch, indem er dazu auffordert, die Leidenschaften zu mäßigen. Die ambivalente Stellung des naturel zwischen Triebnatur und Verhaltensnorm ist näher zu untersuchen. Der Begriff erscheint unter anderem als eine Bedingung von gentillesse: Il fout aussi que le naturel soit libre, et noble, et mesme délicat. Car tout ce qui se fait par contrainte ou par servitude, ou qui paroist tant soit peu grossier, la (la gentillesse, F.W.) détruit. Et pour rendre une personne aimable en ses façons, il faut la réjoûir le plus qu'on peut, et prendre bien garde à ne la pas accabler d'instructions ennuyeuses. (OC,II, 12)

Mérés Argumentation bewegt sich im Spannungsfeld von Freiheit und Zwang. Indem er den naturel auf die Seite der Freiheit stellt und ihn so gegen den «contrainte» und die «servitude» wendet, ist die soziale Norm, die durch ihren Zwangscharakter definiert ist, bereits im Begriff selbst tendenziell negiert. Insbesondere die Formulierung «rendre une personne aimable en ses façons» verweist auf die strukturelle Differenz von sozialer Norm und naturel-. Während erstere per definitionem vom Subjekt als Handlungsträger abstrahiert und die Vereinheitlichung des Sozialverhaltens anstrebt - sei es in relativer oder in universalistischer Gestalt - legitimiert der naturel individuelle Bedürfnisse und plädiert für die Vielfalt von Verhaltensweisen; mit anderen Worten: Ist die soziale Norm derart funktionalisiert, daß sie die Grenzen der individuellen Handlungsspielräume festlegt, so ist der naturel bestrebt, diese Grenzen nach Möglichkeit zu erweitern. Unter diesen Voraussetzungen realisiert sich normenkonformes Verhalten in erster Linie über die Imitation, welche das Subjektverhalten latent vereinheitlicht. Von ihr heißt es jedoch in 'De la conversation': «Il me semble que l'imitation n'est jamais noble ny agreable,» wenn sie nicht auf den naturel des Handelnden zugeschnitten und dadurch modifiziert werden kann: «si l'on ne renchérit sur le modele, au moins s'il est possible d'aller plus loin.» (OC,II,112) Während sich die Norm auf Seiten des Subjekts durch Imitation definiert, so ist das Wesen des naturel die Überschreitung. Als Allgemeinbegriff synthetisiert der naturel heterogene Subjektdispositionen und legitimiert zugleich sämtliche Verhaltensmodelle, die sich aus ihm ableiten. Folglich können unter diesem Begriff ganz unterschiedliche Interaktionsund Kommunikationsformen subsumiert werden.28 28

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In diesem Zusammenhang kann das bei Méré häufig anzutreffende sied bien, das Jean-Pierre Dens als Ausdruck gesellschaftlicher Determination auffaßt (Cf. Dens, 'Les Agréments qui ne lassent point' : Le Chevalier de

Die aufgezeigten Modifikationen lassen sich auch als Dynamisierung normativer Geltungen beschreiben. Der naturel hat insofern den Status einer dynamischen Norm, als er einen relativ großen Handlungsspielraum definiert und seine Verbindlichkeit subjektspezifisch geregelt ist. Indem der naturel vom Subjekt ausgeht, ist sein normativer Charakter dem Theorieansatz eines Persönlichkeitsideals durchaus kompatibel. Es ist jedoch nicht möglich, ihn als dynamische Norm intersubjektiv zu verallgemeinern, sondern er verlangt nach einer jeweils individuellen Auslegung. Aufgrund ihrer Eigenschaft, heterogene Verhaltensmuster begrifflich zu legitimieren, sperrt die dynamische Norm sich gegen eine wirkungsästhetische Vermittlung durch préceptes, die den Handlungsspielraum, den sie dem Subjekt zugesteht, nicht umfassen können. Als eine zweite dynamische Norm, deren strukturelle Merkmale denen des naturel entsprechen, tritt bei Méré das je ne sais quoi hervor, auf den ich bereits an anderer Stelle eingegangen bin. - Seine Funktion liegt darin, auf eine bestimmte Qualität des handelnden Subjekts hinzuweisen, sei es, daß der Autor seinem großen Vorbild Julius Cäsar ein «je ne sçai quoi de pur et de noble» attestiert, «qui vient de la bonne nourriture, et de la hauteur du genie» (OC,1,89) oder daß er mit Blick auf Alexander den Großen feststellt, dieser habe «un air facile, et je ne sai quoi de libre» (OC,III, 155) besessen. In jedem Fall wird das je ne sais quoi mit einem qualifizierenden Adjektiv verbunden, welches im Hinblick auf das jeweilige Subjekt spezifiziert wird und dessen sozialen Distinktionswert erhöht. Die besondere Funktion dieser Wendung wird an einem weiteren Beispiel noch deutlicher: an der Beschreibung des Alkibiades. In seinem hymnischen Urteil beruft Méré sich auf die Autorität eines ancien, den er in seinem Namen sprechen läßt. Auf diese Weise wird die emphatische Bewertung nicht etwa damit begründet, daß Alkibiades ein gebildeter Philosoph, begnadeter Heerführer und weiser Staatsmann gewesen sei - vielmehr heißt es in einem ebenso subjektiven wie suggestiven Ton: [...] je L'ay veu de tout et des premiers, qu'il avoit je ne sçay quoy de brillant, qui le distinguoit en quelque lieu qu'il fust, et je ne sçay quoy d'accommodant qui le faisoit citoyen de toutes les Villes. Je vous asseure aussi que je n'ay rien remarqué dans ses discours ny dans ses actions, qui ne m'ait extremément plû, et que c'est l'homme que je connoisse à qui j'aimerois le mieux ressembler. (OC,II,42) Méré et l'art de plaire, op. cit., p. 225), gerade umgekehrt im Sinne der subjektorientierten Legitimation unterschiedlicher Verhaltensmodelle interpretiert werden.

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Das Urteil des vermeintlichen ancien über die Person des Alkibiades stützt sich sowohl auf dessen Distinktions- als auch auf dessen Anpassungsvermögen, d.h. auf Fertigkeiten, die einander funktional widersprechen: Während der Handelnde sich durch die bewußte Distinktion von der sozialen Gemeinschaft distanziert und sich über diese stellt, versucht er mittels seines zweiten Vermögens, sich zu integrieren. Insofern, als beide Dispositionen sich funktional nicht vermitteln lassen, muß geschlossen werden, daß der wesentliche Bedeutungsaspekt des je ne sais quoi, der mit beiden verbunden ist, nicht in der näheren Bestimmung dieser beiden Dispositionen liegt, sondern nur in ihrer Beschreibung als einzelne, besondere. Das «je ne sais quoi» bedeutet, wie Remy G. Saisselin zutreffend bemerkt, «the intímate, the highly personal.» 2 9 Es steht somit für ein Individuationsprinzip, das die allgemeinen Begriffe in ihrer Bedeutung für die einzelnen Subjekte unterschiedlich auslegt. Unter dem Aspekt der Individuation handelt es sich beim je ne sais quoi also nicht einfach um einen inhaltlich leeren Begriff, wie Christoph Strosetzki behauptet, 3 0 sondern um den begrifflichen Ausdruck eines Besonderen, das zugleich unendlich sein soll. Gemäß dem Grundsatz des 'individuum est ineflabile' entzieht sich dieses jedem vereinheitlichenden Begriff, so daß Méré den je ne sais quoi auch als «chose inexplicable» definiert, «qui se connoist mieux à le voir pratiquer qu'à le dire.» (OC, 1,77) Als besondere Qualität menschlichen Handelns kann es zwar angeschaut, nicht jedoch eigentlich begriffen werden. Vor diesem Hintergrund liefert das je ne sais quoi stets nur Annäherungswerte und trifft das eigentlich Gemeinte niemals vollständig. 31 29

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Remy G. Saisselin, The rule of reason and the ruses of the heart. A philosophical dictionary of classical French criticism, critics and aesthetic issues, Cleveland, London: Press of Case Western Reserve University 1970, p 116. Cf. Christoph Strosetzki, Konversation - Ein Kapitel gesellschaftlicher u n d literarischer Pragmatik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, (Studia Romanica et Lingüistica 7), Frankfurt/M., Bern, Las Vegas: Lang 1978, p. 121. Nach Erich Haase bezeichnet das je ne sais quoi «das Unwägbare des h o n n ê t e h o m m e - [...], dessen Definition der Bestimmung der Quadratur des Kreises gleichkommt» (Haase, Zur Bedeutung von 'je n e sais quoi' im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für französische Sprache u n d Literatur 67 (1956), p. 54sq) u n d geht insofern an den Intentionen Mérés vorbei, als die Quadratur des Kreises in der Form eines logischen Paradoxons ein Objekt beschreibt, dem kein seinsmäßiges Korrelat in der Wirklichkeit entspricht, hingegen der honnête homme bei Méré sehr wohl als realisierbar vorausgesetzt wird u n d die honnêteté sogar «die einzige, unbezweifelbare Realität ist» (Hess, Wege des Humanismus im Frankreich des 17. Jahrhunderts: Der Chevalier d e Méré, op. cit., p. 79).

Indem das je ne sais quoi auf das Subjekt als einzigartiges hinweist, ist dessen Verhalten nicht nach generalisierbaren Maßstäben zu bewerten, sondern muß nach dessen spezifischen Voraussetzungen interpretiert werden. Als Allgemeinbegriff subsumiert es jedoch zugleich die Menge des Besonderen und expliziert diese normativ als honnêteté. «Als ein Auszeichnendes», so beschreibt Erich Köhler treffend die doppelte Funktion des Begriffe, «ist das 'je ne sais quoi' ein Unterscheidendes, als Postulat der 'honnêteté' ein Gemeinsames. Es bezeichnet das Höchstmaß an Individualität, das eine jedem Außenseitertum abholde Gesellschaft zuläßt, u n d zugleich das Mindestmaß an regelbefreiter Unbestimmbarkeit, dessen sie zur Behauptung ihrer eigenen Einzigartigkeit gegen den umfassenden Rationalisierungsanspruch der herrschenden Mächte bedarf.»^ 2 Das je ne sais quoi stimmt als Verhaltensnorm mit dem naturel insofern überein, als beide nicht intersubjektiv verbindlich argumentieren, sondern einen Handlungsspielraum definieren, in welchem sich das Subjekt «selon sa pente» selbst zurechtfinden muß. Ebenso wie das je ne sais quoi dynamisiert der naturel die starren Geltungsansprüche der tradierten Normensysteme u n d erhöht damit zugleich die Selbstverantwortlichkeit des Subjekts. Von daher muß Erich Köhlers These zugestimmt werden, welche dem Werk Mérés eine «Minderung der Herrschaft des Allgemeinen über das B e s o n d e r e » 3 3 konzediert. Da die Selbstverantwortlichkeit des Subjekts entsprechend der innovativen Anthropologie nicht rational eingelöst werden kann, spricht Méré auch von einem «instinct naturel», der die dynamischen Normen adäquat auslegen soll (Cf. OC,1,56) und grenzt ihn gegen ein einfaches, regelorientiertes Verhalten ab: Il y a deux sortes d'Estude, l'une qui ne cherche que l'Art et les Réglés; l'autre qui n'y songe point du tout, et qui n'a pour but que de rencontrer par instinct et par reflections, ce qui doit plaire en tous les sujets particuliers. S'il folloit se déclarer pour l'une des deux, ce seroit à mon sens pour la derniere, et sur tout lors qu'on sçait par expérience ou par sentiment, qu'on se connoist à ce qui sied le mieux. (OC,II, 109) Zwar lehnt Méré den ersten regelorientierten Verhaltenstypus nicht vollständig ab, er läßt aber auch keinen Zweifel an seiner Präferenz für den zweiten. Den traditionell relativen und universalistischen Normen werden der précepte bzw. die règle als wirkungsästhetisches Verfahren und der Rationalitätsprimat als subjektive Voraussetzung zugeordnet. 32 33

Erich Köhler, 'Je ne sais quoi' - Ein Kapitel aus der Begriffegeschichte des Unbegreiflichen, op. cit., p. 245. Ib., p. 260. 105

Demgegenüber rekurriert der Autor in der Formulierung des Persönlichkeitsideals honnête homme auf dynamische Normen, wie dem naturel und dem je ne sais quoi, die das handelnde Subjekt mittels seines «instinct» oder durch «reflections» individuell auslegen muß. Zusammenfassend kann die Negation des wirkungsästhetischen Verfahrens précepte darauf zurückgeführt werden, daß die normativen Geltungen sich seit den frühen Moralisten verschoben haben. Wie aus den Interpretationen des naturel und des je ne sais quoi deutlich geworden ist, sind die normativen Postulate nicht länger unmittelbar in gesellschaftliche Praxis umzusetzen, sondern sie sind für die handelnden Subjekte im Rahmen individueller Auslegung unterschiedlich verbindlich. Aufgrund ihrer Eigenschaft, heterogene Verhaltensmuster unter einem Begriff zu subsumieren, sind der naturel und das je ne sais quoi als dynamische Normen zu verstehen. Dynamisch insofern, als sie einen Handlungsspielraum symbolisieren, in dem sich gesellschaftlich legitimes Verhalten in ganz unterschiedlicher Weise herstellen kann. Unter der Bedingung einer allgemeinen Dynamisierung normativer Geltungen wird der précepte als wirkungsästhetisches Verfahren notwendig problematisch, weil er eine intersubjektive Verbindlichkeit behauptet, die dem subjektiv differenzierten Normensystem nicht adäquat ist. Angesichts der innovativen Strukturmerkmale dynamischer Normen ist Méré gezwungen, neue literarische Ausdrucksformen und -techniken zu erproben, in denen das Wirkungsinteresse zufriedenstellend eingelöst werden kann.

3. Conversation und Aphoristik als wirkungsästhetische Medien Die Negation des précepte konnte im vorhergehenden Abschnitt als Konsequenz der Veränderung normativer Geltungen expliziert werden. Das führt zu der Frage nach den wirkungsästhetischen Möglichkeiten der Vermittlung dynamischer Normen, d.h. nach einer literarischen Form, die den individuell differenzierten Postulaten gemäß ist. Wenn es zutrifft, daß die dem moralischen précepte angemessene Form der literarische Diskurs ist, dann überrascht Méré dadurch, daß er trotz seiner vehementen Polemik gegen die instructionsich doch überwiegend diskursiv äußert und der traditionellen moralistischen 34

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In diesem Sinne spricht Méré immer wieder von den instructions ennuyeuses (Cf. z.B. OC,II, 12) oder stellt durch den Maréschal de Clérembault fest, «que l'on ne profite point des instructions que nous ont donné les anciens» (OC,1,25).

Form verhaftet bleibt. An exponierter Stelle stehen aber bereits Versuche mit anderen literarischen Formen, wie der conversation oder der maxime, deren wirkungsästhetische Möglichkeiten mit Blick auf die Vermittlung dynamischer Normen nunmehr untersucht werden sollen. Mit dem Hinweis auf die Rezeptionshaltung des zeitgenössischen Publikums, die ausschließlich am plaisir orientiert sein soll - und die Méré im übrigen keinesfalls verurteilt wissen möchte («Je suis à peu prés de ce nombre» OC,1,5) - führt er in der préface zu den 'Conversations' mit dem Maréschal de Clérembault weiter aus: En effet, discourir long temps du vrai et du faux, du bien et du mal; c'est une sorte d'entretien qui agite l'esprit sans émouvoir le cœur; et ce qui plaist ordinairement vient du contraire: il faut pour cela remuer le cœur, et laisser l'esprit tranquille, ou du moins ne le pas tourmenter. (OC,1,5)

Der Autor hebt hervor, daß die rational argumentierenden Vermittlungsverfahren dem emotional determinierten Prinzip des Gefallens vollkommen unvereinbar sind. Diese Unstimmigkeit veranlaßt ihn zu ästhetisch relevanten Schlußfolgerungen: Auf der Grundlage der andernorts bewiesenen Legitimität der affektiven Triebnatur kann er den Einsatz von emotionalisierenden Wirkungsstrategien propagieren, die schon deshalb das allseitige plaire sicherstellen, weil sie der Rezeptionserwartung des Publikums entsprechen. Damit ist es gerade nicht der rationale Wirkungsmechanismus, der den «profit [...] de ces Entretiens» (OC,1,6) garantiert, sondern diejenigen Leidenschaften, welche durch diese Strategien im Leser erweckt werden. Méré begründet die Auswahl des Genus conversation also wirkungsästhetisch. Er eröffnet seinen ersten Dialog mit einem knappen Portrait des Maréschal de Clérembault, in dem bereits einige zentrale Begriffe des oben dargestellten Persönlichkeitsideals auftauchen: Le Mareschal de C. est ce qu'on appelle un galant homme, qui sçait parfaitement le monde. Il a passé sa vie à la Cour, ou à l'armée, et peu de gens ont eu plus que luy de cet esprit naturel, qui fait que l'on est habile, et agreable. Avec sa Langue embarrassée, il ne Laisse pas de s'expliquer de bonne grâce. Il aime mieux parler qu'écouter, soit qu'il trouve rarement son compte aux choses qu'il entend dire, ou qu'il se plaise, comme en croit, à se faire admirer. (OC,1,7)

Der Maréschal wird mit Hilfe dynamischer Postulate (naturel) als ein galant homme de sa façon eingeführt, der über umfangreiche mondäne Kenntnisse verfugt. Auch an anderer Stelle wird er wiederholt als galant homme oder auch als honnête homme qualifiziert.^^ i n einer 107

skizzenhaften Biographie wird berichtet, daß er sich vom Hof in die Provinz zurückgezogen und trotz umfassender weltmännischer Erfahrungen sich von der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen ausgeschlossen habe. Er repräsentiert somit ein Verhalten, das sich der Möglichkeit begibt, akzidentelle Qualität zu erwerben und das von Seiten der frühen Moralisten nur verurteilt werden könnte. Indem Méré jedoch feststellt: «En quelque lieu qu'il soit, il cherche à se divertir, et plus encore à donner de la joie» (OC,1,8) rechtfertigt er dieses Verhalten im Hinblick auf das Handlungsziel bonheur. Angesichts der zahlreichen Übereinstimmungen der fiktiven Figur mit den dynamischen Postulaten liegt es nahe, den Maréschal als Verkörperung des Persönlichkeitsideals zu sehen, das Méré in demselben Dialog auch theoretisch entwickelt. Sie treten besonders deutlich hervor, wenn der Maréschal seine eigene Sozialisation beschreibt: «Je n'ai jamais rien tant souhaité q u e d'avoir un peu moins d'ignorance; et quand je vous tiens en particulier, il me semble que je m'en défais sans étude et sans instruction.» (OC,I,8sq) Er entspricht damit exakt Mérés Bildungsideal einer ohne précepte und äußere Anleitung entwickelten Persönlichkeit. Darüber hinaus verkörpert der Maréschal die Qualitäten, die der Autor in dynamischer Form postuliert, sei es, daß er eine Redefertigkeit anstrebt, die aus der Einheit von cœur et esprit erwächst (Cf. OC,1,14), oder daß ihm ein «je ne sçai quoy de modeste» eigen ist, «qui fait naistre le respect.» (OC,1,8) - Bemerkenswert ist ferner, daß die substantiellen Qualitäten des Maréschal im Dialog stets als solche hervorgehoben werden. Infolge der Fülle positiver Eigenschaften fällt dem Chevalier häufig nur die Rolle eines Moderators zu, der die Fertigkeiten und das Vermögen seines Gegenübers in hymnischer Form anpreist. Diese Lobreden klingen etwa so: Monsieur le Maréschal, dit le Chevalier, vous avez une adresse merveilleuse: Il n'estoit question que des justesses de langage, ou de quelque chose d'approchant; neantmoins par une pente douce, et presque insensible, vous estes venu dans le commerce du monde, et vous avez dépeint les gens qui se servent mal de leur esprit, et qui ne parlent que pour leur interest: cela fait bien voir que vous avez observé la Cour, et que vous en voulez aux mauvaises mœurs. (OC,1,16) Méré hebt besonders die justesses des Maréschal hervor und charakterisiert ihn als einen esprit de finesse im Sinne Pascals. Da Auffassungsunterschiede zwischen dem Chevalier und dem Maréschal eigentlich nicht b e s t e h e n , m u ß angenommen werden, daß die literarische 35 36 108

Cf. OC,1,22 und OC,1,65. Im Gegensatz zu einer häufig anzutreffenden Funktionsbestimmung des Dialogs im 17. Jahrhundert, die darin besteht, «de présenter quasi simul-

Form des Dialogs zentral die exemplarische Vorstellung eines honnête homme intendiert, dessen Persönlichkeitsbild vom Leser über das spezifische Konversationsverhalten der Gesprächspartner erschlossen werden muß. Die honnêteté ist im Dialog demnach auf zweifache Weise präsent - zum einen als Gegenstand der Erörterung, zum anderen im Konversationsgebaren der Diskutierenden, d.h. in diesem Fall insbesondere durch die fiktive Figur des Maréschal. Von diesem Punkt meiner Untersuchungen aus läßt sich der Bezug zur dynamischen Norm folgendermaßen herstellen: Insofern als das Problem einer begrifflichen Fixierung dynamischer Normen darin besteht, daß diese sich als individuelle jeder Verallgemeinerung widersetzen, muß beispielsweise für den naturel festgestellt werden, daß dieser zwar angeschaut, nicht aber im eigentlichen Sinne begriffen oder erklärt werden kann. Das Problem wird in den 'Conversations' direkt angesprochen, wenn es von einem namentlich nicht genannten honnête homme heißt: «[...] il y avoit encore quelque chose d'inexplicable, qui se connoist mieux à le voir pratiquer qu'à le dire.» (OC,1,77) Im Rahmen wirkungsästhetischer Fragestellungen bedeutet dies, daß das Vermittlungspostulat in bezug auf dynamische Normen nur durch eine konkrete Anschaulichkeit eingelöst werden kann. So verstanden, verkörpert der Maréschal eine mögliche Ausprägung des naturel bzw. des je ne sais quoi, an dem sich die Rezipienten in groben Zügen orientieren können. Die literarische Form des Dialogs erweist sich aufgrund dieser darstellungsästhetischen Möglichkeiten als ein Genus moralischer Unterweisung, das den dynamischen Normen adäquat ist. Auf seiner Suche nach angemessenen Vermittlungsmedien wendet Méré sich auch aphoristischen Formen zu. Es ist bereits angemerkt worden, daß die Urheberschaft der 'Maximes, sentences et reflexions morales et politiques' aus dem Jahre 1687 auch in der neueren Méréforschung umstritten ist. Die Gegner der traditionellen Zurechnung begründen ihre Auflassung jedoch stets mit Argumenten, die wie oben kritisiert wurdet - nicht zwingend sind. Demgegenüber tanément le pour et le contre de la thèse proposée» (Bernard Bray, Le dialogue comme forme littéraire au XVII e siècle. In: Cahiers de l'Association internationale des Etudes françaises XXIV (1972), p. 12) sind die grundlegenden Auffassungen des Chevalier und des Maréschal in den 'Conversations' völlig identisch, so daß diese Funktionsbestimmung im vorliegenden Fall nicht zum Tragen kommt. Eher trifft die These Louis van Delfts zu, der. die darstellungsästhetischen Möglichkeiten des Dialogs dahingehend spezifiziert «d'aborder, tour à tour, les différents aspects d'un sujet, de faire remarquer ses différents côtés» (van Delft, Le moraliste classique - Essai de définition et de typologie, (Histoire des idées et critique littéraire Bd. 202), Genève: Droz S.A. 1982, op. cit., p. 260sq). 37

Cf. Anmerkung 1.

109

lassen sich jedoch aus der Rekonstruktion des honnête homme Parallelen zwischen den 'gesicherten' Werken Mérés und dem in Frage stehenden Text herausarbeiten, die geeignet sind, die Verfasserschaft Mérés zu untermauern: Hier wie dort wird die Konkurrenz um Statusund Prestigechancen durch das Prinzip der Maximierung von Glückschancen ersetzt. Neben Maxime 95 («Il faut estre hardy pour devenir heureux.»)^8 heben vor allem die Aphorismen 5, 138 und 365 den Bedeutungszuwachs des /é/i'ciYé-Komplexes hervor. Auch die Anthropologie, die den Maximen zugrundeliegt, ist der in den übrigen Werken durchaus vergleichbar. Zwar finden sich einige Maximen, die den tradierten Rationalitätsprimat fortschreiben (hier sind in erster Linie die Aphorismen 2, 136 und 262 zu nennen), daneben lassen sich aber auch verschiedene Versuche nachweisen, die affektive Triebnatur zu rechtfertigen. Die Maximen 63, 96 und 99 machen den cœur für moralisch wertvolles Handeln verantwortlich, und die Maxime 261 greift sogar auf den bekannten Topos cœur et esprit zurück: L'esprit & le cœur sont les deux sources principales de nôtre bien, ou de nôtre mal. (39)

Angesichts dieses unvermittelten Gegensatzes von Rationalitätsprimat und legitimer Triebnatur in den Maximen sei daran erinnert, daß das Verhältnis beider Subjektkonstituenten auch in den übrigen Werken Mérés nicht eindeutig festgelegt ist. Bereits Gerhard Hess merkte in diesem Zusammenhang an, daß der Standpunkt des Autors wechselt und bei Méré «wieder rationale Elemente in die Lehre von der honnêteté einfließen],»4° Folglich kann auch in diesem Punkt von einer weitgehenden Identität der inhaltlichen Auffassungen gesprochen werden. - Darüber hinaus sei festgehalten, daß auch der Autor der 'Maximes' die Existenz einer moralisch qualifizierten Öffentlichkeit postuliert, die der oben rekonstruierten weitgehend entspricht. Sie erscheint in den Aphorismen zumeist in der Figur des Weisen, von der es heißt: «Le sage fuit tout ce que le peuple estime.»"*1 An anderer Stelle wird das Urteil eines vulgaire, der alle Verhaltensformen allein nach ihrem äußeren Erfolg einschätzt, gegenüber dem der personnes d'esprit disqualifiziert, «[qui] voyent souvent plus de conduite & de 38 39 40 41

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Méré, Maximes, Sentences et reflexions morales et politiques, Max. 95, op. cit., p. 42. Ib., Max. 261, p. 118. Gerhard Hess, Wege des Humanismus im Frankreich des 17. Jahrhunderts: Der Chevalier de Méré, op. cit., p. 60. Méré, Maximes, Sentences et reflexions morales et politiques, Max. 61, op. cit., p. 27.

courage dans en effort sterile, que dans un succez avantageux.»^2 Wie die letzte Maxime veranschaulicht, stützt sich das Urteil der qualifizierten Öffentlichkeit auf die substantielle Qualität des Handelnden, wohingegen das des vulgaire nur akzidentelle Qualität registriert. So kann der Autor zusammenfassend feststellen: Tout le monde raisonne, mais il y a peu de gens raisonnables. (43)

Alle inhaltlichen Übereinstimmungen und Parallelen bestätigen hinreichend die traditionelle Zurechnung des Werks und weisen Méré als seinen Autor aus. Es bleibt nunmehr die Frage zu erörtern, inwiefern der Übergang zu aphoristischen Formen sich aus dem innovativen Theorieansatz ableiten läßt, oder anders formuliert, durch welche strukturellen Merkmale die Maximen dem wirkungsästhetischen Interesse entgegenkommen. Dieser Frage soll anhand der übergreifenden Betrachtung mehrerer Maximen nachgegangen werden. Die 'Maximes, sentences et reflexions morales et politiques' sind fortlaufend numeriert und nicht in bestimmte Abschnitte gegliedert. Inhaltlich gruppieren sich zahlreiche aufeinanderfolgende Aphorismen um bestimmte Themen, so daß die Reihenfolge nicht ganz willkürlich ist. Die Maximen 42 bis 48 befassen sich zum Beispiel mit dem orgueil als menschlicher Leidenschaft; die Aphorismen 73 bis 83 setzen sich mit dem Tod auseinander, und in den Sentenzen 138 bis 145 wendet der Autor sich dem Thema Liebe zu. Insofern als die thematische Gruppierung einzelner Maximen den Leser zum Vergleich herausfordert - wie einzelne Gattungstheoretiker behaupten - möchte ich die Frage anhand einer Gegenüberstellung der Maximen 492 bis 503 beantworten. Ihr Gegenstand ist das Problem der liberté, und bereits die Aphorismen 492 und 493 werfen in der Zusammenschau erhebliche Interpretationsprobleme auf: L'homme est né libre: & la liberté luy doit être plus chere que sa vie qui n'est rien sans elle. (44) La liberté est quelquefois la cause de nos plus grands maux, & souvent aussi celle qui nous conduit au comble du bon-heur. (45)

42 43 44 45

Ib., Ib., Ib., Ib.,

Max. Max. Max. Max.

196, 300, 492, 493,

p. p. p. p.

87sq. 134. 218. 218sq.

111

In Maxime 492 wird die Freiheit als eine wesenhafte Bestimmung des Menschen eingeführt, die allein den Wert seines Daseins ausmacht. Dieser uneingeschränkt positiven Beurteilung der liberté antwortet Maxime 493 mit einer differenzierteren Einschätzung und mit dem Hinweis auf die ambivalenten Konsequenzen der Freiheit in der menschlichen Lebenspraxis. Betrachtet man beide Aphorismen als einen Gedanken und liest den zweiten als nähere Erläuterung des ersteren, so entsteht ein partieller Widerspruch, der sich darin ausdrückt, daß der Mensch diejenige Qualität am höchsten achten soll, die ihm unter anderem das größte Unglück bringen kann. Beide Positionen schließen sich aber insofern nicht vollkommen aus, als die liberté auch für das größte Glück des Menschen verantwortlich ist. Wenn die Aphorismen einander auch nicht vollkommen widersprechen, so sind die inhaltlichen Standpunkte doch schwer zu vermitteln. Die zum Teil widersprüchliche Bestimmung der liberté scheint geeignet zu sein, den Zusammenhang von wirkungsästhetischer Funktionsbestimmung und dynamischer Norm aufzuklären, der sich in den Maximen 495 und 503 so darstellt: Le cœur de l'homme est libre, & quand il ne se donne pas luy-mesme, rien ne le peut gagner. (46) Il n'y a point d'homme qui puisse être nommé libre, que celuy qui vit comme il veut. (47)

Beide Maximen definieren die Freiheit des Subjekts als Abwesenheit äußerer Determination. Sowohl die menschliche Triebnatur, hier symbolisiert durch cœur, als auch die Lebensführung im allgemeinen können nur als selbstbestimmt-autonome frei genannt werden. Indem die liberté als «la chose la plus chere de la vie» sich direkt auf das handelnde Subjekt beruft, bezeichnet auch sie das Allerindividuellste überhaupt. Jenseits von allen kollektiven Zwängen realisiert sich die Freiheit durch das selbstbestimmte Verhalten des handelnden Subjekts und kann deshalb ganz unterschiedliche Formen annehmen. In der Gestalt aphoristischer Darstellungen konvergieren die partiell widersprüchlichen Stellungnahmen nicht in einem übergeordneten Zusammenhang inhaltlicher Begriffebestimmungen, sondern sie stehen einander als einzelne und voneinander unabhängige Positio-

46 47

112

Ib., Max. 495, p. 219. Ib., Max. 503, p. 223.

nen mit gleichem Wahrheitsgehalt gegenüber, die aber ebenso verschieden sind wie die Individuen einer sozialen Gemeinschaft. Die Aphorismen stehen unverbunden nebeneinander und wollen für sich, nicht jedoch im Kontext, verstanden werden. Das Für-sich-sein des einzelnen Aphorismus konzediert Hugo Friedrich der italienischen Moralistik und führt es auf erkenntnistheoretische Prämissen zurück. Der italienischen Moralistik - insbesondere Guicciardini und Machiavelli - liegt nach Friedrich eine idiographische Erfahrungsmethode zugrunde, die durch «die Einstellung des Blicks auf das Einmalige»^8 definiert ist und sich entschieden von allen gesetzbildenden oder strukturierenden Wahrnehmungsformen distanziert. Das Besondere soll als solches wahrgenommen und nicht durch ein bestimmtes Wahrnehmungsraster präformiert werden. Die literarische Form des Aphorismus gilt Friedrich als die «angemessene Form» eines moralistischen Denkens, «dem sich die Wirklichkeit in der Vielheit des jeweils individuellen, isolierten Falls, des 'particolare' darstellt.»1^ . Überträgt man diese erkenntnistheoretische Interpretation auf Mérés Maximen, so treten die strukturellen Affinitäten dieser literarischen Form zur dynamischen Norm offen zutage: Die Postulate des naturel ebenso wie des je ne sais quoi können als Ausdruck eines Individuell-Besonderen interpretiert werden, so daß sich der idiographische Aphorismus als adäquate Form ihrer literarischen Vermittlung erweist. Insofern als sich die dynamischen Postulate einer begrifflichen Verallgemeinerung verweigern und stets nur in ihrer individuellen Repräsentation wahrgenommen werden können, bieten die Maximen durch ihr Für-sich-Sein den hierfür angemessenen Ausdrucksrahmen. Eine solche Interpretation ist in der Lage, die partiellen Widersprüche in den Aussagen zur liberté zu erläutern und plausibel zu begründen: Sie entstehen erst durch die Zusammenschau mehrerer Aphorismen, welche der idiographischen Lesart nicht adäquat ist. Unter Berücksichtigung ihres dynamischen Charakters stehen sie gleichberechtigt nebeneinander und berühren sich nicht. Fassen wir zusammen: Die Kritik am traditionellen précepte, die aus der Formulierung dynamischer Normen resultiert, veranlaßt Méré dazu, sich vom traditionellen moralistischen Diskurs zu verabschieden und neue Formen des literarischen Ausdruck zu erproben. In diesem Zusammenhang kommen die conversation und die aphoristische Form dem innovativen Wirkungsinteresse des Autors auf unterschied48

H u g o Friedrich, Ü b e r d e n G a n g d e r italienischen Literatur. In: Id., Romanische Literaturen. Aufsätze Bd. 2 (Italien u. Spanien), Frankfurt/M.: Klostermann, p. 28.

49

Ib., p. 27.

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liehe Weise entgegen: erstere, indem sie die innovativen Bestimmungen des honnête homme nicht nur zum Gegenstand theoretischer Erörterung nimmt, sondern darüber hinaus auch am Konversationsverhalten einzelner Gesprächsteilnehmer exemplifiziert,50 letztere, indem sie die individuell divergierenden Verhaltensmodelle gleicher Legitimität unverbunden nebeneinanderstellen kann und damit die Vielfalt dynamischer Bestimmungen angemessen darstellt. In beiden Fällen deutet der Formenwandel auf Veränderungen im Theoriekonzept hin.

50

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Hier am Beispiel des Maréschal de CLérembault.

Teil IV

1. Aphoristische Hermeneutik und moralische Desillusionierung: La Rochefoucauld Die Entstehungsgeschichte von La Rochefoucaulds 'Réflexions ou Sentences et Maximes morales' ist verwickelt. Das Werk ist bis zum Tode des Autors nicht abgeschlossen worden. Die erste gedruckte Fassung mit insgesamt 188 Maximen datiert aus dem Jahre 1664 und wird nach ihrem Erscheinungsort allgemein als 'Edition hollandaise' bezeichnet. Ungeklärt ist das Entstehungsdatum des sogenannten 'Manuscrit Liancourt', das bereits 272 Aphorismen umfaßt. Erst 1665 erscheint in Paris die erste autorisierte Ausgabe des Werks, das bis zum Jahre 1678 in jeweils veränderter und erweiterter Form noch vier weitere Male aufgelegt worden ist. Die letzte und zugleich umfassendste Edition, auf die ich mich beziehen werde, setzt sich aus 504 Aphorismen zusammen. Im Verlauf ihrer Entstehungsgeschichte hat der Autor zahlreiche Maximen inhaltlich und formal überarbeitet und war dabei, bis auf wenige Ausnahmen, auf Verkürzungen bedacht. Andere wurden weggelassen (Maximes supprimées) oder gar nicht erst veröffentlicht (Maximes posthumes).1 - Produktion und Rezeption der Maximen fallen zeitlich mit den literarischen Werken des Chevalier de Méré zusammen, von denen sie sich allerdings in Methode und Wirkungsinteresse grundlegend unterscheiden. Dies zeigt sich schon darin, daß den ersten Auflagen ein 'Avis au lecteur' sowie ein anonymer 'Discours sur les réflexions ou sentences et maximes de morale' vorangestellt sind, die beide die Funktion haben, das Werk gegenüber einer Kritik zu rechtfertigen, die erstmals anläßlich der 'Edition hollandaise' laut geworden war. Obwohl La Rochefoucauld diese Sammlung im avis als «méchante copie» 2 verurteilt, gibt er sich doch als deren 1

2

Bereits seit 1663 kursierten eine unbekannte Anzahl von Maximen im Salon der Mme de Sablé (Cf. H.A. Grubbs, The originality of La Rochefoucauld's maxims. In: Revue d'histoire littéraire de la France 36 (1929), p. 19)- - Die erste autorisierte Ausgabe der 'Maximes' aus dem Jahre 1665 umfaßt insgesamt 317 Aphorismen. Durch Hinzufügungen und Weglassungen erreichte die zweite Ausgabe, die nur ein Jahr später erschien, nur noch 302. Danach wurde die Anzahl trotz einiger Streichungen kontinuierlich gesteigert. Die dritte Auflage (1671) weist bereits 341 Aphorismen auf, die vierte (1675) 413 und die fünfte Ausgabe aus dem Jahre 1678 schließlich 504 Maximen. Alle Zitatnachweise - mit Ausnahme der Maximes postumes und der Maximes supprimées - beziehen sich auf diese letzte Ausgabe, die noch zu Lebzeiten La Rochefoucaulds veröffentlicht wurde. La Rochefoucauld, Réflexions ou Sentences et Maximes morales. In: Id.,

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Verfasser zu erkennen, indem er die 'Réflexions ou Sentences et Maximes morales' als eine überarbeitete Fassung ankündigt. Der Autor begegnet seinen Kritikern mit einer doppelten Erwiderung: zum einen führt er den rein 'privaten' Charakter des Werks an, das ursprünglich nicht veröffentlicht werden sollte und das, wie er implizit voraussetzt, anderen Beurteilungskriterien zu unterwerfen ist als ein von vornherein zur Veröffentlichung bestimmtes Buch. Zum anderen weist er die mitunter scharfen Vorwürfe damit zurück, daß der Unmut seiner Kritiker allein auf deren selbstbezügliche Interpretation der Maximen zurückzuführen sei. Der in den Maximen angegriffene amour-propre kann sich seinerseits nur durch heftige Gegenattacken einer solchen Kritik erwehren. Wenn La Rochefoucauld aus diesem Sachverhalt den Schluß zieht, daß die ihm gemachten Vorhaltungen lediglich dazu geeignet sind, die Richtigkeit seiner Hypothesen zu bestätigen, entwirft er eine Verteidigungsstrategie, die jeder Art von Kritik - zustimmender wie ablehnender - zuvorkommt und sie als nachträgliche Bestätigung des Gehalts seiner Maximen auslegen kann. Auch die dem Leser nur wenig später empfohlene indifferente Haltung kann La Rochefoucaulds Immunisierungsstrategie nicht entgehen, weil auch sie nach dem gleichen Muster auf den amour-propre bzw. den intérêt des Kritikers zurückgeführt werden kann. Die Immunisierung besteht darin, daß jede mögliche Einstellung zu den Maximen geeignet ist, deren inhaltliche Positionen als zutreffend zu bestätigen: sowohl Zustimmung als auch Ablehnung und Indifferenz können als Affirmation ausgelegt werden. Über diese beiden defensiven Argumentationen ('Privatheit' und 'affirmative Kritik') hinaus begegnet der avis einem weiteren Vorwurf gegen die Maximen, der ihnen mangelnde Ordnung vorhält, mit dem versöhnlichen Hinweis auf eine table, die eine themenorientierte Lesart ermöglichen soll. Der vom Verleger Barbin erstellte und überaus knappe Schlagwortindex, der nur einige wenige Begriffe wie amour und amitié aufnimmt, verdeutlicht La Rochefoucaulds geringes Interesse an einem solchen Projekt und damit an einer Systematisierung der Maximen überhaupt. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß der Autor bereits im Vorwort zur zweiten Auflage sehr selbstbewußt seine Absicht erklärt, die Leser durch eine übermäßige Monotonie permanenter Wiederholungen nicht langweilen zu wollen. Obwohl La Rochefoucaulds Entgegnungen die Maximen gegenüber der vorgetragenen Kritik weitgehend immunisieren, fügt er dem avis noch den - anonymen - discours hinzu, der inhaltlich auf die Œuvres complètes, ed. L. Martin-Chauffier, (Bibliothèque de la Pleiade), Paris: Gallimard 1964, p. 397.

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Argumente der Kritik eingeht und deshalb geeignet ist, das literarische Selbstverständnis des Autors und die Funktion der Maximen im Hinblick auf die gesellschaftliche Praxis zu erschließen. Der vermutlich von La Chapelle-Bessé verfaßte Text* trägt alle Merkmale einer Rechtfertigungsrede und faßt die genannten Einwände in vier Argumentationen zusammen. - In der ersten Gruppe von Vorwürfen wird behauptet, La Rochefoucaulds Reflexionen zerstörten sämtliche Tugenden.^ La Chapelle-Bessé merkt hierzu an, dies liege überhaupt nicht in der Absicht des Autors, der ganz andere Ziele verfolge: II (La Rochefoucauld, F.W.) prétend seulement faire voir qu'il n'y en a presque point de pures dans le monde, et que, dans la plupart de nos actions, il y a un mélange d'erreur et de vérité, de perfection et d'imperfection, de vice et de vertu; il regarde le cœur de l'homme corrompu, attaqué de l'orgueil et de l'amour-propre, et environné de mauvais exemples, [...], il expose au jour toutes les misères de l'homme, mais c'est de l'homme abandonné à sa conduite qu'il parle, et non pas du chrétien. (5)

Abgesehen von der quantifizierenden Argumentation, derzufolge die Maximen den gesellschaftlichen Stellenwert moralischer Normen lediglich skeptischer beurteilen, als die Kritik es tut, verdeutlicht das Zitat die Ungleichzeitigkeit literarischer Erwartungshorizonte: Wenn die Kritiker daran Anstoß nehmen, daß La Rochefoucauld die TugendbegrifFe auflöst, setzen sie den traditionellen Anspruch fort, Moralistik habe sich auf Normenvermittlung zu konzentrieren, und müssen aufgrund dieses Vorverständnisses notwendig den Autor der Maximen mißverstehen, der ganz andere Absichten hat. Allein schon die Negativität der meisten Maximen verweigert sich einer Rezeption, die auf Normenvermittlung ausgerichtet ist, und führt zu dem im Diskurs

3

4 5

Während der Text von den zeitgenössischen Kritikern zunächst Segrais zugeschrieben wurde, besteht in der gegenwärtigen Forschung ein allgemeiner Konsens darüber, daß Henri de Bessé, Sieur de la Chapelle der wirkliche Verfasser ist. Diese Zuschreibung stützt sich in erster Linie auf einen Brief La Rochefoucaulds an P. Rapin vom 12.7.1664, in dem er seiner Dankbarkeit gegenüber La Chapelle-Bessé in bezug auf die Maximen Ausdruck gibt (Cf. La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., p. 634). Dieser Dank kann sich darauf beziehen, daß La ChapelleBessé die 'Edition hollandaise', die bei ihrem Erscheinen einen regelrechten Skandal verursacht hatte (Cf. Susan R. Baker, La Rochefoucauld et Jacques Esprit. In: Revue d'histoire littéraire de la France 78 (1978), p. 181), gegenüber ihren Kritikern in Schutz nahm. Cf. La Chapelle-Bessé: Discours sur les Réflexions ou Sentences et Maximes morales. In: La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., p. 389. Ib., p. 389sq.

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angesprochenen Mißverständnis. La Chapelle-Bessé hält der falschlich unterstellten Wirkungsabsicht des «instruire» bzw. «corriger» entgegen, der Autor verfolge eine ganz andere Intention, die durch die Verben «faire voir», «regarder» und «exposer au jour» definiert ist und im Leser eine innovative Rezeptionshaltung voraussetzt. Der 'Discours' argumentiert insofern traditionalistisch, als er antike Autoritäten wie Seneca und Lukrez heranzieht,6 welche die Anschauungen La Rochefoucaulds bestätigen und ihren Wahrheitsgehalt historisch verbürgen sollen. Ein innovativer Aspekt liegt jedoch darin, daß die ethische Frage nach der vertu eine erkenntnistheoretische Antwort erhält, die den Erwartungshorizont literarischer Normenvermittlung in eine analytisch-kritische Rezeptionshaltung zu überfuhren sucht. Eine weitere Argumentation gegen die Maximen knüpft unmittelbar an diese an. In La Chapelle-Bessés Zusammenfassung heißt es, der Autor der Maximen interpretiere auch jede noch so unschuldige und moralisch indifferente Verhaltensweise negativ und sei aufe Ganze gesehen zu pessimistisch7 Die Kritik bezieht sich hier auf die moralskeptische Grundhaltung der Maximen, stellt der zumeist negativen Auslegung menschlichen Verhaltens ein ethisch positives Menschenbild gegenüber und insistiert grundsätzlich auf der Möglichkeit einer gesellschaftlichen Praxis, die moralisch motiviert ist. In der bereits bekannten traditionalistischen Argumentation hält La Chapelle-Bessé den Kritikern die Anschauungen von Autoritäten, wie p.e. den Kirchenvätern, entgegen und faßt den Standpunkt der Maximen - der zugleich sein eigener ist - mit den Worten zusammen: Quand l'amour-propre a séduit le cœur, l'orgueil aveugle tellement la raison, et répand tant d'obscurité dans toutes ses connaissances, qu'elle ne peut juger du moindre de nos mouvements, ni former d'elle-même aucun discours assuré pour notre conduite. (8)

La Chapelle-Bessé entkräftet die These, derzufolge moralisch motiviertes Handeln grundsätzlich möglich sein soll, mit dem Hinweis auf die defizitäre Erkenntnisstruktur des Subjekts. Da die Kritiker ihr Postulat einer moralisch motivierten Interaktion nur dann aufrechterhalten können, wenn sie die sozialen Normen im Bewußtsein des handelnden Subjekts selbst lokalisieren, setzt ihre Argumentation die Möglichkeit der Selbsterkenntnis zwingend voraus. Die Gegenthese, amourpropre und orgueil verhinderten systematisch die Selbsterkenntnis,

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Cf. ib., p. 390. Cf. ib., p. 391. Ib., p. 393.

bestreitet diese Voraussetzung und zerstört damit die Beweisgrundlagen der Kritik. Wenn dem Subjekt die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis grundsätzlich abgesprochen wird, dann fehlt der These von menschlicher Moralität jede Plausibilität. An ihre Stelle tritt folgerichtig eine moralisch ambivalente Anthropologie, die auch die genannten Eigenschaften einschließt. - Diese zweite Erwiderung besteht somit ebenfalls darin, daß ein Vorwurf, der ethischer Natur ist, mit dem Hinweis auf die defizitären Erkenntnisstrukturen des Subjekts zurückgewiesen und damit erkenntnistheoretisch beantwortet wird. Anders verhält es sich bei der folgenden Gruppe von Vorwürfen, welche die mangelnde Verständlichkeit der Maximen monieren und damit selbst erkenntnistheoretische Aspekte ansprechen. La ChapelleBessé räumt zwar ein, daß der Sinn und die Formulierung der Maximen zahlreichen Lesern dunkel und unverständlich erscheinen können,9 lehnt es aber ab, die Schuld hierfür ausschließlich beim Autor zu suchen. Vielmehr deutet er die Verständnisschwierigkeiten als eine Folge literarischer Gattungsnormen, denen jeder Verfasser von Maximen gehorchen muß: Les Maximes et les Sentences, comme le monde a nommé celles-ci, doivent être écrites dans un style serré qui ne permet pas de donner aux choses toute la clarté qui serait à désirer. Ce sont les premiers traits du tableau: les yeux habiles y remarquent bien toute la finesse de l'art et la beauté de la pensée du peintre; mais cette beauté n'est pas faite pour tout le monde, et quoique ces traits ne soient point remplis de couleurs, ils n'en sont pas moins des coups de maître. (10)

In seiner Erwiderung führt La Chapelle-Bessé die mangelnde Transparenz einiger Formen auf das Postulat der Sprachkürze und damit auf allgemein anerkannte Gattungsnormen der Maxime und der Sentenz zurück, die selbst über jede Kritik erhaben sind. Diese Rechtfertigungsstrategie muß näher analysiert werden. Erkenntnistheoretische Vorbehalte der Kritiker werden ästhetisch mit dem Argument aufgefangen, daß eine verstärkte literarische Transparenz notwendig auf Kosten der «finesse de l'art» und der «beauté» gehen muß. Ganz abgesehen davon, daß der Hinweis auf die Gattungsnorm dem Leser des 17. Jahrhunderts, der in hohem Maß regelorientiert war, verständlicher gewesen sein dürfte als dem gegenwärtigen, ist es bemerkenswert, daß die Fürsprecher moralistischer Schriften sich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auf deren Kunstcharakter berufen und diese Werke mittels ästhetischer Argumentationen legitimieren. 9 10

Cf. ib., p. 394. Ib. 119

Abschließend rekurriert der 'Discours' auf eine Argumentation gegen die 'Maximes', die das ungeklärte Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem bei La Rochefoucauld bemängelt und den hohen Verallgemeinerungsgrad seiner Aphorismen in Frage stellt. La Chapelle-Bessé faßt diese Kritik dahingehend zusammen, daß die Maximen in beinahe jedem Fall zu allgemein argumentieren sowie menschliche Fehler und Schwächen in unzulässiger Weise generalisieren. In seiner Entgegnung greift er auf La Rochefoucaulds Immunisierungsstrategie zurück und behauptet, daß die Kritiker sich in den Beschreibungen der menschlichen Laster wiedererkannt hätten und sich gegen die Enttarnung zur Wehr setzten. Darüber hinaus werden die Gattungsregeln ein weiteres Mal angeführt: Je dirai encore, pour ce qui regarde les termes que l'on trouve trop généraux, qu'il est difficile de les restreindre dans les sentences, sans leur ôter tout le sel et toute la force. (11)

Insofern als man die Salz- und die Kraftmetapher im Sinne literarischer Ausdrucksqualitäten verstehen kann, handelt es sich auch hierbei um eine ästhetische Erwiderung auf erkenntnistheoretische Einwände. Für La Chapelle-Bessé ist es weniger wichtig, die Aussage der Maximen inhaltlich zu präzisieren, als diese ästhetisch zu gestalten. Seine Verteidigungsstrategie ist geeignet, näheren Aufschluß über Rezeption und Kritik moralistischer Werke im 17. Jahrhundert zu geben, deren inhaltliche Positionen sich rückbezüglich aus ihr rekonstruieren lassen. Daneben kann sie verdeutlichen, daß La Rochefoucaulds Maximen zwar thematisch an die Fragestellungen früherer Moralisten anknüpfen; daß sich jedoch zugleich die Form der Auseinandersetzung in entscheidender Weise verändert hat. Gerade die erkenntnistheoretischen Erwiderungen auf ethische Vorwürfe dokumentieren, daß sich das Wirkungsinteresse der Autoren von der literarischen Normenvermittlung auf die analytisch-kritische Diskussion gesellschaftlicher Verhaltensformen verlagert hat. Diese Entwicklung haben die Kritiker nicht mitvollzogen, so daß im 'Discours' unterschiedliche Erwartungshorizonte aufeinandertreffen. Angesichts dieser Verlagerung muß die Frage gestellt werden, inwieweit La Rochefoucaulds Maximen den traditionellen Bezugsrahmen literarischer Moralistik überschreiten.12 Dabei wird sich 11 12

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Ib., p. 394sq. Im Sinne dieser Ausführungen hebt Harald Wentzlaff-Eggebert besonders die «Diskrepanz zwischen dem Klima der freien Diskussion, in dem das Werk entstanden war, und den etablierten Erwartungen möglicher Kritiker» hervor (Wentzlaff-Eggebert, Lesen als Dialog. Französische

zeigen - so kann bereits vorweg festgehalten werden daß die Maximen nicht nur moralische Normen und gesellschaftliches Verhalten diskutieren, sondern in erster Linie die Bedingungen und Möglichkeiten von moralischen Urteilen reflektieren. Dabei entwickeln sie Ansätze zu einer immanenten Hermeneutik, die nicht nur dazu angetan ist, die Resultate früherer Moralisten anzuzweifeln, sondern auch Ansprüche an die literarische Form stellt.

2. Zur Kritik akzidenteller Qualität Unter den Maximen La Rochefoucaulds kommt dem Motto, das den 'Réflexions ou Sentences et Maximes morales' seit der vierten Auflage (1675) vorangestellt ist, besondere Bedeutung zu. Obwohl es sich unter dem Aspekt der Sprachkürze, der Struktur und des Gehalts kaum von zahlreichen nachfolgenden Aphorismen unterscheidet, muß ihm aufgrund seiner exponierten Stellung besondere Beachtung geschenkt werden. Es lautet: Nos vertus ne sont le plus souvent que des vices déguisés. (13)

Unterstellt man dem Motto sowohl eine hinweisende als auch eine einführende Funktion, so intendiert die thesenhaft vorgetragene Maxime eine Verunsicherung des Lesers, die auf die nachfolgenden einstimmt. Diese besteht darin, daß der positive moralische Wertbegriff vertu mittels der pejorativen Wendung n'est que in sein Gegenteil überführt wird. Sie wird noch gesteigert dadurch, daß die Maxime auf zwei verschiedene Weisen ausgelegt werden kann: versteht man sie als ethisches Postulat, so wird die Möglichkeit von Tugend a priori geleugnet. Das Motto wäre dann nur Ausdruck der moralskeptischen Grundhaltung des Autors. In diesem Sinne interpretiert etwa Roland Barthes, dem das n'est que generell als ein Schlüsselbegriff der Maximen gilt, das Motto als «expression logique de ce qu'on a appellé le pessimisme de La Rochefoucauld.»1^ 13 14

Moralistik in texttypologischer Sicht, Heidelberg: Winter 1986, p. 152). Ib., cit., p. 385. Roland Barthes, La Rochefoucauld: «Réflexions ou Sentences et Maximes». In: Id., Le degré zéro de L ' é c r i t u r e suivi de Nouveaux essais critiques, Paris: Editions du Seuil 1953, p. 76. - Serge Meleuc formalisiert diesen Maximentyp in der Form «Enoncé du lecteur + Nég.» (Cf. Meleuc, Structure de la maxime. In: Langages 13 (1969), p. 96). - Nach Ansicht von Jonathan Culler steht das ne que allein für die «structure of reductive definitions» (Culler, Paradox and the language of morals in La Rochefoucauld. In: Mondern Language Review 88 (1973), p. 35). Jean

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In der zweiten Lesart kritisiert die Maxime eine Form der moralischen Fehleinschätzung, die aufgrund ihrer allgemeinen Formulierung als weit verbreitet angesehen werden kann. Unter diesem erkenntnistheoretischen Blickwinkel liegt ihr Akzent - wie Harald WentzlaffEggebert deutlich macht - darauf, «daß unsere Bewertungsmaßstäbe als unbrauchbar entlarvt werden», was die «rationale Überprüfung der im Bereich der Moral als gesichert geltenden Wertmaßstäbe» 15 erforderlich werden läßt. Im Rahmen dieser zweiten Interpretation bleibt die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit von Moral offen; kritisiert wird lediglich eine bestimmte Form ihrer Auslegung in der gesellschaftlichen Praxis. ^ Unter Berücksichtigung der aus dem Vorwort deduzierten Verschiebung des Autoreninteresses auf analytisch-kritische Probleme, erscheint es im Hinblick auf das Motto plausibler, von der zweiten Interpretation auszugehen. Im Gegensatz zu einer ethischen Annäherung an diese Maxime, die den vice allgemein gegenüber der vertu ausspielt, muß eine erkenntnistheoretische Interpretation postulieren,

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16

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Lafond, der ebenfalls von der Wendung ne que ausgeht, beschreibt die Maximen dieses Typs hingegen als augustinische «dévaluation radicale des vertus dites 'humaines', des vertus naturelles» (Lafond: La Rochefoucauld, d'une culture à l'autre. In: Cahiers de l'Association internationale des Etudes françaises 30 (1978), p. 158). Alle Interpreten übertragen dem ne que damit Desillusionierungsfunláionen und beurteilen das darstellungsästhetische Verfahren im Sinne unserer Analyse. Harald Wentzlaff-Eggebert, Réflexion als Schlüsselwort in La Rochefoucaulds Réflexions ou Sentences et Maximes morales. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 82/3 (1972), p. 236. An anderer Stelle beschreibt Wentzlaff-Eggebert die 'Réflexions' dahingehend, daß sie zum «Überdenken und Infragstellen gängiger Vorstellungen» auffordern (Id., Lesen als Dialog. Französische Moralistik in texttypologischer Sicht, op. cit., p. 171). - Cf. hierzu auch Christoph Strosetzlds These, der gleichfalls davon ausgeht, daß «La Rochefoucauld [...] meist nicht gesellschaftliches Verhalten, sondern gesellschaftliche Interpretationen gesellschaftlichen Verhaltens [beurteilt und verurteilt].» (Strosetzki: Moralistik und gesellschaftliche Norm. In: Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Bd. 1: Von Rabelais bis Diderot, ed. Peter Brockmeier et H. Wetzel, Stuttgart: Metzler 1981, p. 193) und der entsprechend auch einer erkenntnistheoretischen Interpretation des Mottos zuneigt. Auch Hans-Jürgen Fuchs stellt fest, daß «didaktische und moralisierende Intentionen» bei La Rochefoucauld zugunsten einer «Beschreibung der neuen sozialen Wirklichkeit» zurücktreten (Fuchs, Der amour-propre, La Rochefoucauld und die Affektenlehre. Kritische Bemerkungen zu Liane Ansmanns 'La Rochefoucauld und die Tradition der Affektenlehre'. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 22 (1972), p. 99). Der Zusammenhang von neuer sozialer Wirklichkeit und der innovativen literarischen Funktionsbestimmung wird bei Fuchs nicht näher problematisiert.

daß die Beurteilungen, die mit den gegensätzlichen Wertbegriffen verknüpft sind, sich auf ein- und dieselbe Verhaltensform, d.h. auf die gleiche gesellschaftliche Wirklichkeit beziehen. Die Frage nach der Tugend ist deshalb weniger eine ontologische (Seinsweise der vertu) als vielmehr eine nach der Relation unterschiedlicher Urteilsebenen. Dieser Lesart zufolge ist weniger der Negationspartikel, sondern vor allem das Pronomen «nos» im Zusammenspiel mit dem Adjektiv «déguisé» von Bedeutung, weil beide die unterschiedlichen Urteile näher qualifizieren. Während das «nos», das Autor und Leser gleichermaßen umgreift, in der ethischen Perspektive allein die Generalisierbarkeit des beobachteten Phänomens (Verlogenheit der gesellschaftlichen Praxis) unterstreicht und als rhetorisches Stilmittel eine mögliche Zustimmung - also ein individuelles Bekenntnis - erleichtert, behauptet es unter erkenntnistheoretischen Vorzeichen den intersubjektiven Charakter einer vertu, die erst im kollektiven Urteil hergestellt wird. Demgegenüber bleibt der vice, der durch das Adjektiv «déguisé» näher bestimmt ist, auf das handelnde Subjekt selbst bezogen. Das Verhältnis von vice und vertu wird deutlicher, wenn man die erste Maxime in die Interpretation einbezieht, die dem Motto strukturell und von der Aussage her verwandt, jedoch neun Jahre älter ist und bereits der zweiten Auflage aus dem Jahre 1666 angehört: Ce que nous prenons pour des vertus n'est souvent qu'un assemblage de diverses actions et de divers intérêts que la fortune ou notre industrie savent arranger, et ce n'est pas toujours par valeur et par chasteté que les hommes sont vaillants et que les femmes sont chastes. (Max. 1)

Im Vergleich zum Motto treten insbesondere zwei Veränderungen hervor. Erstens legt die ältere und weniger verkürzte Maxime, welche bereits die n'est ¿ywe-Struktur aufweist, ihren erkenntnistheoretischen Anspruch offen. Dabei wird das Pronomen «nos» des Mottos durch die Formulierung «ce que nous prenons pour» substituiert, worin sich der Status der vertu als ein Persönlichkeitsattribut ausdrückt, das durch ein kollektiv-einvernehmliches Urteil entsteht. - Auf der Seite des moralischen Gegenpols treten - wenn man von der neutralen «action» absieht - die negativ konnotierten Begriffe «intérêt», «fortune» und «industrie» an die Stelle des vice, der dadurch ebenfalls näher bestimmt wird. Insofern als diese Eigenschaften ausgesprochen individuelle Qualitäten darstellen, werden die moralischen Begriffe in dieser Maxime entsprechend den Kategorien kollektiv (vertu) versus individuell (vice) differenziert. Der exemplarische zweite Teil des Aphorismus, der auf «valeur» und «chasteté» Bezug nimmt, wurde der 123

Maximensammlung gleichzeitig mit dem Motto in der vierten Auflage hinzugefugt. Diese Modifikation legt die Vermutung nahe, daß La Rochefoucauld mit diesem Schritt der allzu großen Ähnlichkeit beider Aphorismen abhelfen wollte, ohne dabei auf Maxime 1 verzichten zu müssen. Eine inhaltlich wie formal nahezu identische Aussage formuliert La Rochefoucauld in der Max. suppr. 607, deren Nähe zu den zitierten Aphorismen ihn dazu veranlaßt haben dürfte, sie seit der fünften Auflage aus der Sammlung herauszunehmen.17 Die thematische und formale Äquivalenz aller drei Maximen, von denen einige noch dazu an exponiertem Ort stehen, weist auf den hohen Stellenwert der in ihnen thematisierten Urteilsproblematik hin. 18 Der Autor unterscheidet zwei mögliche Formen, soziales Handeln zu beurteilen: neben einem Modus des öffentlichen Urteils, der für die gesellschaftlich relevante Einschätzung individuellen Sozialverhaltens steht und für die Verteilung von Prestige und Reputation verantwortlich ist, skizziert er einen zweiten Beurteilungsmodus, der zwar authentisch, gesellschaftlich jedoch weitgehend folgenlos ist. Innerhalb der dualistischen Konstruktion unterschiedlicher Urteilsformen ist die Position des Autors selbst schwankend: Während er sich im ersten Teil der drei Maximen über die Pronomen «nos» bzw. «nous» mit dem Leser auf die Seite des offiziellen Werturteils stellt, behauptet er anschließend jeweils die Authentizität und Geltung der individuell-subjektbezogenen Einschätzung, die das beschriebene Verhalten durchweg als moralisch verwerflich entlarvt. 17

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La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit, Max. suppr. 607, p. 493. Der Aphorismus lautet: «Nous sommes si préoccupés en notre faveur, que souvent ce que nous prenons pour des vertus n'est que des vices qui leur ressemblent, et que l'amour-propre nous déguise.» - Die vielfältige Durchdringung gegensätzlicher moralischer Begriffe bei La Rochefoucauld veranlaßt W.G. Moore zu der Feststellung: «Les vertus se décomposent» (Moore, La Rochefoucauld: Une nouvelle anthropologie. In: Revue des sciences humaines 1953, p. 303). - Mit dem gleichen Verfahren werden auch andere Begriffe relativiert. Margot Kruse hebt in diesem Sinne hervor, daß La Rochefoucauld auch die Trennungslinie von sagesse und folie aufhebt (Cf. Kruse, Sagesse et folie dans l'œuvre des moralistes. In: Cahiers de l'association internationale des études françaises 30 (1978), p. 132sq). Jean Starobinski interpretiert das Motto, indem er es auf eine einfache literarische Technik zurückfuhrt. «La structure», so sagt er über den vorangestellten Aphorismus, «en fait, repose simplement sur l'opposition des contraires (vertus-vices) et sur la réduction de cette opposition: les contraires sont des faux contraires.» (Starobinski: La Rochefoucauld ou l'oubli des sécrétés. In: Médicine de France 107 (1959), p. 34) Angesichts der exponierten Stellung und der häufigen Wiederaufnahme der im Motto angesprochenen Problematik in anderen Maximen, scheint diese Interpretation zu kurz zu greifen.

Der Rekurs auf gegensätzliche Werturteile, die gegeneinander ausgespielt werden und den Leser an moralischen Kategorien zweifeln lassen sollen, ist ein Verfahren, das La Rochefoucauld in zahlreichen Aphorismen anwendet. Aus der Vielzahl der Maximen dieses Typs werden zwei näher betrachtet. Maxime 246 analysiert die gesellschaftlich positiv bewertete générosité so: Ce qui paraît générosité n'est souvent qu'une ambition déguisée, qui méprise de petits intérêts, pour aller à de plus grands. (Max. 246)

La Rochefoucauld fuhrt den gesellschaftlichen Wertbegriff uneigennütziger générosité in der gesellschaftlichen Praxis auf ambition zurück und stellt ihn in den Dienst persönlicher Interessen. Damit wird der Konflikt gegensätzlicher Wertesysteme, der bereits in den Texten der frühen Moralisten angelegt ist, offen diskutiert. - Genauere Auskunft über das gesellschaftliche Erscheinungsbild der générosité und die Interessen, die sich hinter ihr verbergen, gibt die ursprüngliche Fassung dieser Maxime, die in der 'Edition Hollandaise' und im 'Manuscrit Liancourt' erscheint. Beide charakterisieren die générosité als «désir de briller», vermittels derer das Subjekt rasch zu großer Reputation gelangen möchte. Immer wenn sich das handelnde Subjekt den Anschein der générosité gibt, strebt es in Wirklichkeit nur nach gesellschaftlicher Anerkennung, mit anderen Worten: Die générosité steht vollkommen im Zeichen der Akkumulation akzidenteller Qualität. Von hier aus erschließt sich der Zusammenhang von vertu und öffentlichem Urteil wie folgt: Die Tugenden im allgemeinen und die générosité im besonderen sind in der gesellschaftlichen Praxis auf die Potenzierung von Status- und Prestigechancen bezogen und aufgrund dieser Funktionalisierung - trotz ihrer vordergründigen Konformität mit den moralischen Ansprüchen - ethisch entwertet. Diese Argumentation ist bereits in Farets Modell von vertu der Möglichkeit nach angelegt, denn auch dort wird die selbstbezügliche Instrumentalisierung zum Anlaß genommen, bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, etwa die ambition, moralisch zu verurteilen. La Rochefoucauld geht jedoch insofern weit über Faret hinaus, als er nicht bestimmte Tugenden auf die mit ihnen verknüpften Motive hin befragt, sondern generell die Differenz von moralischem Anspruch und individueller Praxis 19

In der 'Edition Hollandaise' trägt diese Maxime die Nummer 120 (Cf. La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., p. 323). Im 'Manuscrit Liancourt' erscheint sie unter Nummer 40 (Cf. La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., p. 344).

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behauptet, die bei den frühen Moralisten noch nicht geschieden sind. Seine Argumentation gewinnt damit eine neue Qualität. Nicht nur die générosité wird vom handelnden Subjekt in der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen instrumentalisiert und damit moralisch entwertet, auch der humilité kommen vergleichbare Funktionen zu: L'humilité n'est souvent qu'une feinte soumission, dont on se sert pour soumettre les autres; c'est un artifice de l'orgueil qui s'abaisse pour s'élever; et bien qu'il se transforme en mille manières, il n'est jamais mieux déguisé et plus capable de tromper que lorsqu'il se cache sous la figure de l'humilité. (Max. 254)

Die Unterwürfigkeit der humilité ist also nur eine scheinbare: hinter ihr verbirgt sich neben dem Stolz auch der Wille zum sozialen Aufstieg. In der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen soll die Demut dem handelndem Subjekt öffentliches Ansehen sichern und zu seiner akzidentellen Qualität beitragen, ohne daß ihr ein substantielles Korrelat entspräche. Die akzidentelle Qualität humilité, die dem Handelnden durch das öffentliche Urteil zukommt, kann daher zu keiner Zeit eine substantielle Entsprechung in der Person finden. In dieser oder ähnlicher Weise werden zahlreiche akzidentelle Wertzuweisungen auf Motivationen zurückgeführt, die diesen unvereinbar sind, teilweise sogar widersprechen. So heißt es von der clémence, sie bestehe nur aus vanité, paresse oder crainte,20 hinter der libéralité verberge sich nichts als die vanité de donner;21 und auch die pitié sei oft nichts anderes als «un sentiment de nos propres maux dans les maux d'autrui.» 22 Die Reihe läßt sich beinahe beliebig erweitern, 23 doch kommt es in unserem Zusammenhang weniger auf die vollständige Nachzeichnung der einzelnen Kritikpunkte als vielmehr auf die 20 21 22 23

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Cf. ib., Max. 16, p. 405. Cf. ib., Max. 263, p. 439Cf. ib., Max. 264, p. 439Cf. ferner ib.: Max. 37, p. 408; Max. 82, p. 4l4; Max. 146, p. 422; Max. 205, p. 430; Max. 213, p. 431 sowie Max. posth. 518, p. 477 und Max. suppr. 565, p. 487; Max. suppr. 579, p. 489; Max. suppr. 596, p. 491 und Max. suppr. 628, p. 496. - In diesem Zusammenhang fällt auf, daß alle Maximen mit Ausnahme der Max. posth. 518 bereits der ersten Ausgabe aus dem Jahr 1665 angehörten, woraus ersichtlich wird, welchen Stellenwert La Rochefoucauld diesem Thema von Anfang an zumaß. Die Ursachen für die Streichung der o.g. Max. suppr. sieht Gerhard Hess durchgehend in ihrer Ähnlichkeit mit anderen Aphorismen. So sieht er inhaltliche Parallelen zwischen Max. suppr. 565 und Max. 18; Max. suppr. 579 und Max. 78 sowie Max. suppr. 569 und Max. 149 und Max. suppr. 628 und den Maximen 246, 248 und 285 (Cf. Hess: Unveröffentlichte Aufzeichnungen und Vorlesungsmanuskripte).

Argumentationsstrategie an, mit deren Hilfe La Rochefoucauld seine Gesellschaftskritik vorträgt. Die Bezüge zu vorausgegangenen Modellen gesellschaftlicher Praxis sind evident: La Rochefoucauld zeichnet in seinen Maximen das Bild einer Gesellschaft, deren Hierarchie sich an der akzidentellen Qualität ihrer Angehörigen orientiert. Entsprechend sind das Verhalten und der soziale Ort aller Individuen durch deren öffentliche Reputation bestimmt. Insoweit folgt die Analyse der gesellschaftlichen Struktur und ihrer Sanktionsmechanismen der der frühen Moralisten, wie Faret oder de Refuge; allerdings zieht La Rochefoucauld grundsätzlich andere Konsequenzen: Während jene sich in der Formulierung des art de plaire affirmativ auf das soziale Ordnungsprinzip akzidenteller Qualität berufen und literarisch die optimalen Verhaltensmuster in der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen bereitstellen, formuliert La Rochefoucauld grundsätzliche Zweifel am gesamten öffentlichkeitsorientierten Modell sozialen Verhaltens. Dieser Auflassungsunterschied rührt daher, daß der Autor der Maximen das Vertrauen in die prästabilierte Harmonie von substantieller und akzidenteller Qualität verloren hat. Wie Méré äußert auch La Rochefoucauld Zweifel an der substantiellen Verankerung akzidenteller Qualität im handelnden Subjekt. Indem der Handelnde zahlreiche Persönlichkeitsmerkmale wie générosité und humilité bewußt dazu einsetzt, seine akzidentelle Qualität zu steigern und ihren moralischen Wert im Hinblick auf seine eigenen Interessen mobilisiert, stehen die 'Tugenden' insgesamt zur freien Disposition und tragen ihren Zweck nicht länger in sich selbst: Sie sinken zu einem Instrument für die gesellschaftliche Karriere herab. Als solche können alle Subjekte sich ihrer bedienen, sie sagen nichts über deren tatsächliche Eigenschaften und moralische (substantielle) Qualitäten aus. Sowohl für Faret als auch für Refuge und Balzac gilt eine substantiell positive Persönlichkeitsstruktur als Bedingung für den Erwerb akzidenteller Qualität, die mit dieser über den art de plaire vermittelt ist. Aus dieser prästabilierten Harmonie kann die notwendige Entsprechung von sozialer Hierarchie und moralischer Qualität systematisch deduziert werden, so daß die Diskussion des gesellschaftlichen Aufstiegs unmittelbar unter ethischen Vorzeichen geführt werden muß. - Demgegenüber macht Maxime 409 deutlich, daß die Einheit von substantiellen und akzidentellen Werten bei La Rochefoucauld unwiederbringlich zerbrochen ist: Nous aurions souvent honte de nos plus belles actions, si le monde voyait tous les motifc qui les produisent. (Max.409)

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Ein weiteres Mal entspricht die Doppelstruktur der Maxime2"* dem postulierten Dualismus zweier voneinander unabhängiger Urteilsformen: diejenigen Handlungen, die öffentlich als «belle action» gefeiert werden, sind auf der Stufe des individuell-subjektbezogenen Urteils immer schon entwertet. Das öffentliche Urteil muß sich notwendig täuschen, wenn es vom akzidentellen Wert eines vordergründig tugendhaften Verhaltens unmittelbar auf die moralische Substanz des handelnden Subjekts schließt, weil es sich an einer prästabilierten Harmonie orientiert, die de facto nicht mehr existiert. Die sozialen Konsequenzen dieses Mechanismus analysiert La Rochefoucauld SO: L'art de savoir bien mettre en œuvre de médiocres qualités dérobe l'estime, et donne souvent plus de réputation que le véritable mérite. (Max. 162)

Im Gegensatz zu der suggestiv und in persönlichem Ton vorgetragenen Maxime 409 nimmt der Autor hier erneut die Haltung eines unbeteiligten Beobachters ein und vergleicht die gesellschaftliche Wirkung von kunstvoll inszenierten «médiocres qualités» mit der des «véritable mérite». Dabei setzt seine negative Kritik die Existenz substantieller Qualität notwendig voraus, ohne diese allerdings inhaltlich näher zu bestimmen. Entsprechend dem bereits bekannten Kritikschema erweist sich das öffentliche Urteil einmal mehr als unfähig, akzidentelle Qualität (hier: réputation) adäquat zuzuordnen, weil es sich, so läßt sich ergänzend hinzufugen, in der falschen Annahme der prästabilierten Harmonie von der Oberfläche eines Handlungszusammenhangs leiten läßt. Darüber hinaus kritisiert La Rochefoucauld einen «art de bien mettre en oeuvre de médiocres qualités», der unschwer als art de

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Nach Siegfried Grosse ist eine Zweiteilung des Gedankens in beinahe jeder Darstellung des Aphorismus nachzuweisen, «worin der Hauptreiz der sprachlichen Formulierung und des stilistischen Schliffs» liegen soll. Die Funktion dieser Struktur beschreibt er im Sinne unserer Analysen dahingehend, «daß beide Glieder aufeinander bezogen werden müssen und dann erst ein Ganzes ergeben; denn das volle Verständnis darf sich erst am Schluß einstellen» (Grosse, Das syntaktische Feld des Aphorismus. In: Der Aphorismus. Zur Geschichte, zu den Formen und Möglichkeiten einer literarischen Gattung, ed. Gerhard Neumann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, p. 392sq). - Über den rein stilistischen Aspekt hinaus sieht Hugo Friedrich im Zweierrhythmus eine «künstlerische Entsprechung des philosophischen Denkens» im 17. Jahrhundert und verdeutlicht seine Auflassung am Beispiel Pascal (Friedrich, Pascals Paradox. Das Sprachbild einer Denkform. In: Zeitschrift für romanische Philologie 56 (1936), p. 334sq).

plaire zu erkennen ist. Die Polemik gegenüber der höfischen Sozialtechnik ist das logische Resultat seiner These, daß die prästabilierte Harmonie von substantiellen und akzidentellen Qualitäten zerbrochen sei: Unter der Voraussetzung dieser Harmonie konnten die frühen Moralisten sich darauf beschränken, ihre normativen An sprüche im Hinblick auf performative Aspekte gesellschaftlichen Handelns zu formulieren, um auf diese Weise die immer schon gewährleistete Umsetzung der individuellen Qualitäten in Status- und Prestigechancen zu vereinfachen und zu beschleunigen. Der höfischen Sozialtechnik lallt also die Funktion zu, zwischen substantieller und akzidenteller Qualität zu vermitteln; sie sichert die prästabilierte Harmonie ab und legitimiert sich an ihr. Unter der Bedingung, daß diese Einheit nicht mehr besteht, muß der art de plaire sich notwendig verselbständigen und die Masse der nunmehr frei verfügbaren tugendhaften Verhaltensformen (générosité, humilité, etc.) in akzidentelle Qualität verwandeln, ohne daß diese an eine substantielle im handelnden Subjekt zurückgebunden werden können. Sozialgeschichtlich markiert La Rochefoucaulds Kritik die Gleichzeitigkeit eines 'nicht mehr' und eines 'noch nicht': Während die traditionell über den art de plaire vermittelte prästabilierte Harmonie nicht mehr besteht, wird sie doch im öffentlichen Urteil perpetuiert, das die performativen Finessen der höfischen Sozialtechnik weiterhin als untrügliches Indiz substantieller Qualität deutet und ihre tatsächliche Auflösung noch nicht erkannt hat. La Rochefoucauld kündigt die prästabilierte Harmonie von substantieller und akzidenteller Qualität für die gesellschaftliche Praxis seiner Zeit auf und postuliert damit zugleich die Inkongruenz von sozialer Ordnung und moralischem Wertesystem: Il y a des gens, qu'on approuve dans le monde, qui n'ont pour tout mérite que les vices qui servent au commerce de la vie. (Max. 273)

In der Form einer allgemeinen Aussage stellt der Autor in aller Schärfe fest, daß individuelles Handeln im öffentlichen Urteil grundsätzlich verkannt und falsch interpretiert wird. Seine pointiert vorgetragene Kritik wird durch das unpersönliche «on» derart abgeschwächt, daß dem Leser die Möglichkeit offengehalten wird, sich von der skizzierten Einschätzung zu distanzieren. Die sozialen Karrieren und die hierarchischen Spitzenpositionen sind in dieser Bestimmung gerade solchen Personen vorbehalten, deren Verhalten als besonders unmoralisch angesehen werden muß: moralischer Maßstab und gesellschaftliches Urteil klaffen weit auseinander. La Rochefoucauld kritisiert damit nicht das moralische Ethos an sich, das im Begriff des vice negativ impliziert 129

ist, sondern dessen Auslegung in der gesellschaftlichen Praxis, d.h. die Form moralischer Urteile. Ein adäquates Verständnis der Maxime ist folglich nur dann gegeben, wenn zwischen Autor und Leser ein grundsätzliches Einvernehmen darüber hergestellt werden kann, was als moralisch oder unmoralisch zu gelten h a t . 2 5 Dieses einvernehmliche Ethos ist von La Rochefoucaulds moralistischer Kritik ebenso ausgenommen wie der vice an sich. Die Maximen polemisieren jedoch vehement dagegen, daß positive und negative Wertbegriffe im gesellschaftlichen Urteil vielfältig vermittelt sind. «La Rochefoucauld», stellt Jean Starobinski treffend fest, «n'est pas tant l'ennemi des puissances mauvaises que d'une sötte morale qui en est dupe.» 2 ^ Auf der Ebene allgemeiner Wertvorstellungen postulieren die Maximen durchaus die Möglichkeit eines Konsenses; sie richten aber ihr gesamtes kritisches Potential gegen die konkreten gesellschaftlichen Urteile, die einem vordergründig moralischen Verhalten vertrauen und akzidentelle Qualität nach dem Modell der prästabilierten Harmonie vergeben. In diesem Sinne insistieren zahlreiche Aphorismen auf der Differenz von

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In Beantwortung der Frage nach dem Ethos der Maximen ist im Gegensatz zu Harald Wentzlaff-Eggeberts Auffassung, der davon ausgeht, «daß die Existenz eines bindenden Wertungsmaßstabes - in Form des Gegensatzpaares vices-vertus - immer wieder infrage gestellt und als oberflächlich bewußt gemacht wird» (Wentzlaff-Eggebert: Reflexion als Schlüsselwort in La Rochefoucaulds Réflexions ou Sentences et Maximes morales, op. cit., p. 234), eher Oskar Roth beizupflichten, der postuliert, daß «auch La Rochefoucauld [...] ohne den idealen Gegenbegriff einer wahren, reinen und unvermischten Tugend nicht aus[kommt].» (Roth: Die Gesellschaft der honnêtes gens. Zur sozialethischen Grundlegung des honnêteté-Ideals bei La Rochefoucauld, Heidelberg: Winter 1981, p. 75) An anderer Stelle betont Roth, daß die Maximen «zwar die Kluft zwischen der teils amoralischen, teils widersittlichen, sich allerdings ständig als sittlich präsentierenden Faktizität einerseits und der sittlichen Anforderung andererseits ins Bewußtsein [heben]. Aber gerade das Konstatieren dieser Kluft hat das Postulat jener kaum mehr realisierbaren und inkarnierbaren ethischen Idealität zur Voraussetzung» (Id.: La Rochefoucauld: Das Wertbewußtsein eines Frondeurs. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 4 (1977), P- 493). In ähnlicher Weise äußert sich auch Jean Starobinski (Cf. Starobinski: La Rochefoucauld et les morales substitutives. In: La nouvelle revue française XXVIII (juillet-décembre 1966), p. 24). Abgesehen von der Frage nach der Realisierbarkeit interessiert in unserem Kontext vor allem die Frage nach den Gemeinsamkeiten der Wertehorizonte von Autor und (zeitgenössischem) Leser, die La Rochefoucauld durch die Form der Aussage offensichtlich voraussetzt. Jean Starobinski: La Rochefoucauld ou l'oubli des secrets, op. cit., p. 33. - Auch N. Wagner bestimmt die Hauptintention der Maximen mit den Worten: «Découvrir le vrai» (Cf. Wagner, De la méthode dans les maximes de La Rochefoucauld. In: L'information littéraire 7 (1955), P 99).

moralischer Norm und einem gesellschaftlichen Urteil, das sich nur scheinbar auf diese Normen stützt: Le monde récompense plus souvent les apparences du mérite que le mérite même. (Max. 166) Le nom de la vertu sert à l'intérêt aussi utilement que les vices. (Max. 187)

In vielfachen Variationen konstatieren die Maximen eine Auslegung des individuellen Sozialverhaltens in der gesellschaftlichen Praxis, die dem moralischen Ethos unvereinbar ist. Die vertus sind von einem ethischen Ideal substantiell verbürgter Qualität zu einem Instrument in der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen herabgesunken und deshalb nicht mehr in der Lage, etwas über das Wesen des Handelnden auszusagen. Insofern als die gesellschaftliche Distribution akzidenteller Qualität damit beliebig wird (weil ihr kein substantielles Korrelat im Subjekt entspricht), entzieht La Rochefoucauld der Hierarchie die traditionelle Rechtfertigungsgrundlage, wodurch insbesondere die Privilegien der sozialen Spitzengruppen getroffen werden. Die Argumentation geht sogar so weit, das Verhältnis von sozialem Rang und substantieller Qualität umzukehren und festzustellen, der sozial Höherstehende besitze lediglich weniger Skrupel als die ihm inferioren Personen. - Es liegt nahe, solche gesellschaftspolitischen Implikationen des Werks mit La Rochefoucaulds ideologischem Standort nach der Fronde in Verbindung zu bringen. Eine solche Interpretation müßte auf den Nexus von traditionellem Ethos und konservativer Kritik an der gesellschaftlichen Praxis hinweisen. Methodisch müßte die Vermittlung beider Aspekte aus der Kritik akzidenteller Qualität rekonstruiert werden. 27 In unserem Zusammenhang sind die gesellschaftspolitischen Implikationen der Maximen nur insoweit von Interesse, als sie den Punkt markieren, an dem La Rochefoucauld in seiner theoretischen Konzeption von derjenigen des Chevalier de Méré abweicht und moralistisches Neuland betritt. Wenn La Rochefoucauld und Méré noch darin übereinstimmen, daß die akzidentelle Qualität als gesell27

Ansatzweise durchgeführt bei Oskar Roth: La Rochefoucauld - Das Wertbewußtsein eines Frondeurs, op. cit. Roth betont insbesondere den Zusammenhang von Frondeerfahrung und literarischer Produktion bei La Rochefoucauld, ohne dabei die tradierte Abdrängungshypothese (Hinwendung zur Literatur infolge politischen Scheiterns) zu perpetuieren.

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schaftlicher Ordnungsfaktor obsolet geworden ist, weil die prästabilierte Harmonie nicht mehr besteht, so ziehen sie aus dieser Analyse doch unterschiedliche Konsequenzen. Während nämlich Méré vehement für die Neudefinition des honnête homme in substantiellen Begriffen plädiert und die Formulierung einer innovativen Anthropologie an die Stelle der normativen Beschreibung sozialer Interaktion treten läßt, nutzt La Rochefoucauld die Differenz beider Qualitäten, um seine Gesellschaftskritik moralisch zu begründen. Mérés apologetischem Bemühen, substantielle Qualität als innovativen Ordnungsfaktor zu etablieren und der gesellschaftlichen Legitimationskrise abzuhelfen, steht La Rochefoucaulds konservative Kritik gegenüber, der die zerbrochene prästabilierte Harmonie zum Anlaß nimmt, die Legitimität der gesellschaftlichen Praxis überhaupt in Zweifel zu ziehen, mit anderen Worten: Mérés Versuch, das gesellschaftliche Ganze auf eine neue Rechtfertigungsgrundlage zu stellen, wird von La Rochefoucauld durch die reine Negation der realen Verhältnisse ersetzt. Der unterschiedliche politisch-ideologische Standort beider Autoren drückt sich sehr deutlich in den diskutierten Themenkomplexen aus: Akzidentelle Qualität ist als Gegenstand theoretischer Erörterung bei Méré irrelevant geworden. Ihre Unwahrheit wird in der Person des galant homme entlarvt und durch authentische Parameter substantieller Natur ersetzt, die allerdings in hohem Maße individualisiert sind und sich ausschließlich in Form dynamischer Normen vermitteln lassen. Demgegenüber steht die akzidentelle Qualität gerade im Mittelpunkt der Maximen La Rochefoucaulds. In einer Vielzahl von Variationen werden das gesellschaftliche Ansehen und die individuelle Reputation als Täuschung dargestellt. Damit verlieren sämtliche 'Tugenden' ihren Status, eine unveräußerliche Eigenschaft des Individuums zu sein, und werden direkt in das Kalkül von Statusund Prestigechancen einbezogen. Der Handelnde eignet sich akzidentelle Qualität auf illegitime Weise dadurch an, daß er über die vertus als Karriereinstrumente in der gesellschaftlichen Praxis frei verfügt und sich den Anschein substantieller Qualität gibt. Der Autor konzipiert auf diese Weise ein handelndes Subjekt, ohne auf ethisch-substantielle Begriffe zu rekurrieren. Vor dem Hintergrund seiner These, daß die 'Tugenden' sich nicht mehr unmittelbar mit dem handelnden Subjekt verrechnen lassen, entwickelt er eine neue Anthropologie. Dieser zufolge ist das handelnde Subjekt in seinem Verhalten nicht mehr - wie noch bei Faret und Méré - substantiell prädisponiert, sondern es kann zu jeder Zeit frei zwischen moralisch positiven und negativen Handlungsmustern wählen. Eine solche Handlungsautonomie kann nur unter der Voraussetzung formuliert werden, daß sämtliche teleologischen Bestimmungen der 132

gesellschaftlichen Interaktion - sei es der soziale Aufstieg oder das Glück - negiert werden, weil diese sich erneut normativ beschreiben lassen und dadurch die Unabhängigkeit des handelnden Subjekts unterlaufen würden. Dementsprechend erscheint die Konkurrenz um Status- und Prestigechancen in den Maximen lediglich als abschreckendes Beispiel einer pervertierten Interaktion, und der Stellenwert des Glücks als einer lebenswerten Zielvorstellung des Menschen wird in einem posthum erschienenen Aphorismus in Frage gestellt: Nous nous tourmentons moins pour devenir heureux que pour faire croire que nous le sommes. (Max. posth. 539)

Mit der hier formulierten Verhaltensalternative ist die Möglichkeit authentischer Glückserfahrung a priori ausgeschlossen. Nicht nur, daß der bonheur allein auf dem Weg des «se tourmenter» erreichbar sein soll und sich in dieser Paradoxie selbst aufhebt, läßt den Glücksgedanken obsolet werden, sondern vor allem die These, daß das handelnde Subjekt den Anschein von Glück für die Wirklichkeit nimmt und sein selbsterklärtes Ziel auf diese Weise doppelt verfehlt. Für die Frage nach der bei La Rochefoucauld entwickelten Anthropologie ist weniger die Skepsis gegenüber der Möglichkeit von Glück im besonderen von Bedeutung, als vielmehr die Negation einer kontinuierlich moralischen oder kontinuierlich unmoralischen Handlungsweise im allgemeinen, denn sie ist die Voraussetzung, von der aus die substantiellen Begriffe für die Definition des Subjekts gegenstandslos werden. Jede teleologische Bestimmung seines Verhaltens würde zur normativen Beschreibung individueller Interaktionsmuster herausfordern, gesellschaftliche Kommunikationsformen latent vereinheitlichen und die Möglichkeit eröffnen, das Subjekt mit moralischen (substantiellen) Begriffen zu definieren. Vor diesem Hintergrund gewinnen einzelne Bestimmungen zum amour-propre eine neue Dimension, so etwa die Feststellung, daß dieser seine Wünsche an sich selbst entzündet und stets nur sich selbst nachläuft.28 In sämtlichen Aphorismen fallt der Zweck des amour-propre mit diesem selbst zusammen. Dadurch ist er nicht geeignet, ein kontinuierliches Handeln - unter welchen Vorzeichen auch immer - zu gewährleisten. Infolge der Abwesenheit einer generalisierbaren Zielvorstellung gesellschaftlichen Handelns bei La Rochefoucauld stellt sich die Frage 28

Cf. La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., Max. suppr. 563, p. 486.

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nach der Möglichkeit einer innovativen Anthropologie, die das Subjekt unabhängig von substantiellen Begriffen definiert.

2.1 Moralische Ambivalen2 und Dissoziierung des Subjekts Die Interpretation der Maximen La Rochefoucaulds hat ergeben, daß das Verhältnis des handelnden Subjekts zur Gesellschaft nicht mehr im Sinne substantieller Qualitäten prädisponiert ist, sondern von diesem frei gestaltet werden kann. Die Begriffe vice und vertu bezeichnen nur noch bestimmte Verhaltensmuster, die allen Subjekten gleichermaßen zur Verfügung stehen und unabhängig von substantiellen Persönlichkeitsmerkmalen zur Maximierung von akzidenteller Qualität eingesetzt werden. Aus dieser theoretischen Konstruktion folgt einerseits, daß die Frage nach der substantiellen Qualität aus dem Problemhorizont der Maximen a priori ausgeblendet wird und daß andererseits die Anthropologie des handelnden Subjekts grundsätzlich neu konzipiert werden muß. Der Schlüssel zur Rekonstruktion dieser innovativen Anthropologie liegt in dem bereits angeführten Begriff der Autonomie. Seine Bedeutung und Funktion für das handelnde Individuum sollen im Vergleich zu den Auffassungen der Moralisten Faret und Méré erschlossen werden. Für diese ist die soziale Interaktion des Individuums das Resultat subjektiver Anlagen und Prädispositionen, die weitgehend invariabel und zeitlich generalisierbar - im Begriff substantieller Qualität definiert sind. Unter diesen Voraussetzungen ist die gesellschaftliche Praxis nichts anderes als die mise en œuvre subjektiver Anlagen, die durch den art de plaire in geregelte Bahnen gelenkt wird. Die theoretische Anthropologie und die Beschreibung sozialer Interaktion sind derart miteinander verknüpft, daß letztere sich lückenlos aus der ersteren deduzieren läßt. Obwohl dieser Kausalnexus von Person und gesellschaftlicher Praxis bei Faret teleologisch im Zeichen des sozialen Aufstiegs steht - während er bei Méré im Hinblick auf Glückserfahrung formuliert ist - haben beide Konzeptionen doch die gleiche Struktur: Das Verhalten des handelnden Subjekts ist anthropologisch determiniert und kann auf dieser Grundlage theoretisch erschlossen und moralisch bewertet werden. Die Konsequenzen dieses Schemas für das moralische Urteil sind evident: aus der moralischen Qualität eines konkreten Sozialverhaltens kann unmittelbar auf die valeur des Subjekts zurückgeschlossen werden. Umgekehrt ist nur ein moralisch disqualifiziertes Subjekt des vice fähig. - Bei Faret und Méré sind moralistische Kernbegriffe wie vertu und vice also im handelnden Subjekt selbst verankert, so daß die 134

anthropologische Diskussion ihrerseits unter ethischen Vorzeichen geführt werden muß. Ein Blick auf Maxime 470 verdeutlicht die Unterschiede zu La Rochefoucaulds theoretischen Postulaten. Die Existenz substantieller Qualität wird hier so negiert: Toutes nos qualités sont incertaines et douteuses, en bien comme en mal, et elles sont presque toutes à la merci des occasions. (Max. 470)

In generalisierender Form verknüpft der Aphorismus, der dem Werk erst seit der fünften Auflage aus dem Jahre 1678 angehört, eine These zum Verhältnis moralischer Wertbegriffe untereinander mit einer aufschlußreichen anthropologischen Analyse. Der Autor argumentiert in drei Schritten: erstens postuliert er die Instabilität und Wandelbarkeit subjektiver Anlagen, die - wie das Pronomen «nos» anzeigt - sowohl für die Leser als auch für ihn selbst gilt, und negiert mithin die zeitliche Generalisierbarkeit substantieller Qualität. Zweitens qualifiziert er die solchermaßen evozierte Handlungsdisposition moralisch, indem er sie als Nebeneinander von positiven und negativen Eigenschaften schildert. Die Grenzlinie von vice und vertu verläuft damit nicht mehr zwischen verschiedenen Individuen (unterschiedlicher valeur), sondern quer durch jedes Subjekt hindurch. Mit der Einführung eines moralisch ambivalenten Subjekts negiert La Rochefoucauld den Ausschließlichkeitsanspruch moralischer Begriffe und suspendiert zugleich das traditionelle Modell moralischer Wertung. Alle weiteren Interpretationen der Maximen werden deshalb davon ausgehen müssen, daß vertu und vice auf anthropologischer Ebene keine gegensätzlichen, sondern komplementäre Begriffe sind. Drittens kehrt die Maxime den traditionellen Kausalnexus von Subjekt und sozialer Interaktion um und behauptet, daß nicht das moralisch geprägte Subjekt die gesellschaftliche Praxis, sondern die ethisch indifferente gesellschaftliche Praxis (vorgestellt über «occasions») das Subjekt bestimmt. Diese Interpretation der Maxime 470 zeigt, daß der Autonomiebegriff in La Rochefoucaulds innovativer Anthropologie nicht die Abwesenheit von Determination überhaupt bezeichnet, sondern die potentielle Verfügbarkeit von unterschiedlichen Verhaltensmustern. Er setzt somit einen Subjektbegriff, der Tugend wie Laster gleichermaßen umfaßt, und wirft neben der Frage, ob gesellschaftliches Handeln überhaupt moralisch beurteilt werden kann, das grundsätzliche Problem der Einheit des Subjekts auf. Solange die anthropologische Theoriebildung sich auf die Kategorie substantieller Qualität berufen kann, ist die Einheit des Subjekts durch ethische Begriffe garantiert. 135

Insbesondere die zeitliche Generalisierbarkeit der moralischen Zuordnungen steht dafür ein, daß der Subjektbegriff weitgehend unproblematisch ist. Er hat die Gestalt eines einseitig rational bestimmten Individuums, welches soziales Handeln und gesellschaftliche Norm durch bewußte Unterdrückung seiner Triebnatur in Einklang bringt. - Die These, daß vertu und vice im handelnden Subjekt komplementär verankert sind, relativiert zum einen die traditionellen ethischen Kategorien, indem sie deren Gegensatzcharakter aufhebt; zum anderen widerlegt sie - dies ist in unserem Zusammenhang der wichtigere Aspekt - die Einheit des Individuums. Der Autor verabschiedet sich also von der Vorstellung, daß dem Subjekt ein unveränderlicher moralischer Wert zukommt: L'intérêt met en œuvre toutes sottes de vertus et de vices. (Max. 253)

Wie schon in Maxime 470 behauptet La Rochefoucauld auch hier, daß die Tugenden und die Untugenden im Sinne des Disponibilitätspostulats eng miteinander verknüpft sind. Besonders auffällig ist dieser Aphorismus vor allem deshalb, weil er das handelnde Subjekt nicht als Ganzheit, sondern allein über den intérêt evoziert: Es handelt nicht aus Interesse; der intérêt handelt selbst. Hinter der Redefigur der Metonymie verbirgt sich ein theoretisches Problem für die Anthropologie, das sich aus der Relativierung ethischer Kategorien ergibt. Die Ambivalenz der moralischen Zurechnung von partikularem Verhalten fällt notwendig mit einer Dissoziierung des Subjekts zusammen, die - wie andere Maximen zeigen - nicht nur rhetorisch, sondern argumentativ zu verstehen ist. So heißt es vom intérêt weiter: L'intérêt parle toutes sortes de langues, et joue toutes sortes de person nages, même celui de désintéressé. (Max.39) Le nom de la vertu sert à l'intérêt aussi utilement que les vices. (Max. 187) L'intérêt, que l'on accuse de tous nos crimes, mérite souvent d'être loué de nos bonnes actions. (Max. 305)

In den drei Aphorismen steht die komplementäre Verwendung von traditionell gegensätzlichen ethischen Kategorien («vertu» vs «vice»; «crimes» vs «bonnes actions») im Zusammenhang mit einer Dissoziierung des Subjekts, das nicht länger als eine Einheit, sondern als Nebeneinander von einzelnen Persönlichkeitselementen (hier hauptsächlich als intérêt) gesehen wird. Die Reihe der voneinander unab136

hängigen Konstituenten des Subjekts wird in anderen Maximen ergänzt, in denen neben dem amour-propre auch die prudence und die vanité als Träger moralisch ambivalenter Verhaltensmuster erscheinen und die Interaktion steuern.2^ Die angeführten Maximen gleichen einander strukturell darin, daß die Relativierung moralischer Begriffe (im Zuge ihrer komplementären Verwendung) auf der anthropologischen Ebene eine Vielzahl von Dissoziierungen nach sich zieht, welche die Einheit des Subjekts ernsthaft gefährden, mit anderen Worten: Das handelnde Subjekt, das potentiell frei über soziale Verhaltensmuster unterschiedlicher moralischer Qualität verfügen kann, bezahlt diese Autonomie mit seiner substantiellen Einheit-, es wird in verschiedene Persönlichkeitselemente dissoziiert. - Im Begriff der Handlungsautonomie ist also die Einheit des Subjekts tendenziell negiert. Falls diese These zutrifft, müssen La Rochefoucaulds anthropologische Innovationen sich unmittelbar aus dem Verzicht auf eindeutige ethische Kategorisierungen deduzieren lassen. Die traditionell einheitsstiftenden Merkmale des handelnden Subjekts werden gegenüber den autonomen Persönlichkeitselementen, wie intérêt, amour-propre, prudence und vanité, systematisch depotenziert und als anthropologisch irrelevant verworfen. Dies betrifft unter anderem den Rationalitätsprimat, der seit den frühen Moralisten für ein normengeleitetes und zeitlich generalisierbares Verhalten verantwortlich ist. Unter den zahlreichen Maximen, die seinen gesellschaftlichen Geltungsverlust kritisieren,zeigen die beiden folgenden sehr deutlich die Richtung der Argumentation an: 29

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Vom amour-propre heißt es in Max. 339: «Nous ne ressentons nos biens et nos maux qu'à proportion de notre amour-propre» (La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., Max. 339, p. 448), wodurch die moralisch gegensätzlichen, aber komplementären Anlagen des Subjekts ebenso bestätigt werden wie in Max. 182, nur daß dieses Mal von der prudence die Rede ist: «Les vices entrent dans la composition des vertus, comme les poisons entrent dans la composition des remèdes: la prudence les assemble et les tempère, et elle s'en sert utilement contre les maux de la vie.» (ib., Max. 182, p. 427) Auch in den Ausführungen zur vanité heißt es einerseits: «La vertu n'irait pas si loin si la vanité ne lui tenait compagnie.» (ib., Max. 200, p. 429) Andererseits hebt La Rochefoucauld aber hervor: «Si la vanité ne renverse pas entièrement les vertus, du moins elle les ébranle toutes» (ib., Max. 388, p. 454). - Vor dem Hintergrund dieser Aphorismen ist es gerechtfertigt, mit E.D. James von zahlreichen «boundaries between virtue and vice» zu sprechen (James, Scepticism an positive values in La Rochefoucauld. In: French Studies 23 (1969), p. 349). Cf. La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit. Max. 44, p. 409; Max. 102, p. 417; Max. 103, p. 417; Max. 108, p. 417; Max. 154, p. 423; Max. 340, p. 448; Max. suppr. 586, p. 490.

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Nous n'avons pas assez de force pour suivre toute notre raison. (Max. 42) L'homme croit souvent se conduire lorsqu'il est conduit, et pendant que par son esprit il tend à un but, son cœur l'entraîne insensiblement à un autre. (Max. 43)

Die Zusammengehörigkeit beider Maximen ergibt sich aus ihrem gemeinsamen Gegenstand und der identischen Argumentationsrichtung, sie wird durch die unmittelbare numerische Abfolge im Werk noch unterstrichen. Maxime 42 befaßt sich mit dem überlieferten Rationalitätsprimat und stellt ihn in einen kausalen Zusammenhang mit der force. Dieser Nexus ist die argumentationstechnische Voraussetzung, von der aus die gesellschaftlich allgemein anerkannte Vernunft vorsichtig depotenziert werden kann. Während die Anthropologie früherer Moralisten von der uneingeschränkten Geltung der raison ausging, ist die Vernunft bei La Rochefoucauld nur noch Bestandteil eines komplexen Systems, dessen strukturelle Verschiebungen das handelnde Subjekt nachhaltig beeinflussen. Vor dem Hintergrund dieser Konstruktion kann La Rochefoucauld die Feststellung eines allgemeinen Vernunftdefizits (die der öffentlich sanktionierten Auffassung widerspricht) umgehen, indem er bestimmte Veränderungen im Kräftehaushalt des Subjekts beschreibt, die dem Leser indirekt suggerieren, daß der Rationalitätsprimat obsolet geworden ist.31

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Zweifellos steht diese Argumentationsstrategie auch im Zeichen der kontinuierlichen ideologischen Fortschreibung des Rationalitätsprimats und seiner offiziellen Propagierung für die gesellschaftliche Praxis. Letztere erklärt auch die vorsichtigen Formulierungen, mit denen La Rochefoucauld das brisante Thema angeht. Nicht nur der neuerliche Rückgriff auf die erste Person Plural, sondern vor allem auch die quantifizierenden Partikel assez und toute, die den Gehalt der Maximen relativieren, sind in dieser Weise zu interpretieren. - In der 'Edition Hollandaise' aus dem Jahre 1664 trägt die oben genannte Maxime die Nummer 77. Hier wird die Position des Autors durch ein zusätzlich zwischengeschaltetes presque Jamais sogar noch weiter zurückgenommen. - Wie heikel La Rochefoucaulds Kritik in diesem Punkt wirklich war, läßt sich an einer Reihe von Rezeptionsdokumenten ablesen, die konkret auf Maxime 42 Bezug nehmen. So notierte 'Le contemporain' schlicht «Faux» und gab als Begründung an «parce qu'il y a beaucoup de gens qui suivent toute leur raison, et qui en suivraient encore beaucoup plus, s'ils en avaient.» ('Le Contemporain', zit. n. La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., p. 816) Madame de Grignan kehrt die Aussage in einer ihrer Maximen einfach um: «Nous n'avons pas assez de raison pour employer toute notre force» (ib.).

Maxime 43 zieht hieraus die Konsequenzen. Der Autor schildert Rationalität und Triebnatur - wie in der anthropologischen Diskussion des 17. Jahrhunderts üblich - als moralisch gegensätzliche, aber - u n d hier liegt das innovative Potential - komplementäre Subjektdispositionen, die einander widerstreiten und den Handelnden von einem Lenkenden in einen Gelenkten verwandeln. Im Gegensatz zu Faret oder de Refuge, die in ihrer Anthropologie vehement die Unterordnung der Triebnatur unter die Vernunft verlangen, stellt La Rochefoucauld fest, daß das Determinationsverhältnis sich realiter umgekehrt habe u n d daß die Leidenschaften den menschlichen Willen dominieren. Diese theoretische Veränderung betrifft unmittelbar das moralische Verständnis von raison und passton bei den genannten Autoren. In der frühen Moralistik ist die Vernunft ebenso eng mit der Tugend verbunden wie die Leidenschaften mit der Unmoral. Insofern als La Rochefoucauld davon ausgeht, daß vertu u n d vice von vornherein im Subjekt vereinigt sind, verliert der Rationalitätsprimat notwendig seine Funktion u n d wird gesellschaftstheoretisch bedeutungslos. Auch die bei Méré vielerorts beschworene Einheit von cœur und esprit erscheint in diesem Verständnis irrelevant und unerreichbar, weil sie ein Harmonieideal verkörpert, das in La Rochefoucaulds Anthropologie, die auf dem Prinzip von Herrschaft und Unterordnung basiert, keinen Platz finden kann. Die Depotenzierung von Rationalität ist demnach s o zu beschreiben: Sie hat ihre moralische Kontrollfunktion weitgehend eingebüßt u n d ist vom Zentrum der anthropologischen Theoriebildung an deren Peripherie gerückt. An ihre Stelle tritt ein konkurrierendes Nebeneinander unterschiedlicher Strukturen, wodurch die Einheit des Subjekts nachhaltig in Frage gestellt ist. Die Rationalität, die ihre soziale Funktion verloren hat, wird allerdings nicht einfach durch die Triebnatur substituiert, vielmehr ist sie in einen komplexen Determinationszusammenhang eingebunden: C'est se tromper que de croire qu'il n'y ait que les violentes passions, comme l'ambition et l'amour, qui puissent triompher des autres. La paresse, toute languissante qu'elle est, ne laisse pas d'en être souvent la maîtresse: elle usurpe sur tous les desseins et sur toutes tes actions de la vie; elle y détruit et y consume insensiblement les passions et les vertus. (Max. 266) Die paresse, die von den passions ebenso unterschieden wird wie von den vertus, soll in der Lage sein, alle anderen Persönlichkeitselemente zu dominieren u n d das Verhalten des Subjekts zu bestimmen. Erneut wird der Zusammenhang von denjenigen subjektkonstituierenden Kategorien, die ethisch-ambivalent definiert sind, und der Subjekt139

dissoziation deutlich: Die Negation der Geltung bzw. d e r praktischen Relevanz des Rationalitätsprimats und der daraus resultierende Verlust positiver moralischer Wertbegriffe führt zur Auflösung des ganzheitlichen Individuums.3 2 Für ein Subjekt, das o h n e substantielle Qualität mit einer weitgehenden Handlungsautonomie ausgestattet ist, wird der Rationalitätsprimat gegenstandslos und durch die dissoziierende Konkurrenz unterschiedlicher Persönlichkeitselemente substituiert. Sogar der amour-propre, den J e a n Starobinski als oberste Herrschaftsinstanz des Subjekts a n s i e h t , w i r d von anderen Merkmalen der Person überlagert. Der intérêt etwa, den La Rochefoucauld als Seele des amour-propre d e f i n i e r t , w i r d durch den goût ausgeschaltet: On renonce plus aisément à son intérêt qu'à son goût. (Max. 390) Aus der Konkurrenz und der Ablösung verschiedener Persönlichkeitselemente folgt eine dissoziierte Anthropologie, innerhalb derer sich keine klaren o d e r zeitlich generalisierbaren Herrschaftsverhältnisse angeben lassen. Entgegen J e a n Starobinskis Auffassung ist der amourpropre damit ein zwar mächtiger, keineswegs aber allmächtiger Bestandteil des handelnden Subjekts.

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Auf die antiklassischen Aspekte der Anthropologie von La Rochefoucauld macht Jean Rousset aufmerksam und faßt die Unterschiede beider Konzepte in fünf Punkten zusammen: Erstens geht der Autor der Maximen entgegen der traditionellen Vorstellung eines harmonisch-ganzheitlichen Organismus von einer vielschichtigen Verflechtung unterschiedlicher Persönlichkeitselemente aus. Zweitens wird die Möglichkeit der Kalkulation von Leidenschaften prinzipiell negiert. Damit zusammenhängend werden drittens Zweifel am Rationalitätsprimat laut. Der vierte Punkt fällt inhaltlich weitgehend mit den voraufgehenden zusammen, wenn Rousset feststellt, daß La Rochefoucauld sich vom Modell der Herrschaft des Verstandes über die Leidenschaften verabschiedet. Fünftens wird die aristotelische Vorstellung vom Menschen als eines zoon politicon zugunsten des Gedankens des homo homini lupus suspendiert (Cf. Rousset: La Rochefoucauld contre le classicisme. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen 96 (1942) N.S. 80, p. 107). Cf. Jean Starobinski: La Rochefoucauld et les morales substitutives, op. cit., p. 16. An anderem Ort stellt Starobinski fest, La Rochefoucauld beschreibe die Seele des Menschen als ein «agglomérat de forces hétérogènes» (Starobinski, Complexité de La Rochefoucauld. In: Preuves 135 ( 1 % 2 ) , p. 39)- - Ein ähnliches Menschenbild finden wir bei Pascal, dessen Grundüberzeugungen Lucien Goldmann so zusammenfaßt: «L'homme actuel est un être déchiré, constitué sur tous les plans d'éléments antagonistes» (Goldmann, Le Dieu caché. Etude sur la vision tragique dans les Pensées de Pascal et dans le théâtre de Racine, Paris: Gallimard 1959, p. 244). Cf. La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit.: Max. posth. 510, p. 475.

Es ist kennzeichnend für den konservativen Ideologen La Rochefoucauld, daß er die Handlungsautonomie des Subjekts nur als Persönlichkeitsverlust interpretieren kann. Der Schwund einer eindeutig normativen Orientierung wird als subjektimmanente Konkurrenz autonomer Persönlichkeitselemente vorgestellt und als dekadentes Verfallsphänomen beklagt. Diese Verfallstheorie beruht in wesentlichen Punkten auf den politisch-ideologischen Positionen des ehemaligen Frondeurs. Während die Herrschaftsverhältnisse in der traditionellen Feudalgesellschaft über die Erbfolge perpetuiert wurden und eine klare und stabile Ordnung garantierten, werden sie im Zuge des sich durchsetzenden Absolutismus in delegierte Machtstrukturen überführt, so daß die politische Gewalt des Einzelnen sich von einer absoluten in eine relative Größe verwandelt. Durch die entstehende Abhängigkeit aller Subjekte vom absoluten Herrscher werden die überlieferten Orientierungsmuster politischen Handelns aufgehoben, und die soziale Struktur wird insgesamt flexibilisiert. Von La Rochefoucaulds Warte aus kann diese Entwicklung nur als politischer Niedergang und als Dekadenz der gesellschaftlichen Verhältnisse interpretiert werden. Seine Anthropologie ist ein Spiegelbild des objektiven gesellschaftlichen Strukturwandels, denn auch hier konkurrieren einzelne autonome Persönlichkeitselemente um die Vorherrschaft im Subjekt, wodurch dieses in Frage gestellt ist. In der Form einer Analogie von Makrokosmos (Gesellschaft) und Mikrokosmos (Subjekt) geht die Auflösung der tradierten Strukturen und Werte zu Lasten der normativen Ordnung und damit der Stabilität des Systems. La Rochefoucauld ist aufgrund seiner politisch-reaktionären Einstellung nicht in der Lage, die Handlungsautonomie des Subjekts als Chance zur freien Selbstverfügung zu begreifen, sondern kann sie nur als individuelle Selbstzerstörung ablehnen. Seine Kritik stellt sich in apodiktischen Feststellungen wie dieser dar: On est quelquefois aussi différent de soi-même que des autres. (Max. 135)

Die Maxime enthält eine paradoxe Bestimmung des Subjektbegriffe. Wenn das handelnde Subjekt in sich ebenso differenziert ist, wie verschiedene Subjekte untereinander es sind, wird seine Einheit, die mit den Pronomen «on» und «soi-même» postuliert ist, gegenstandslos. Der Autor evoziert das Subjekt nur, um seine Existenz zu leugnen. Was von der Logik her nur als Paradoxie zu verstehen ist, kann unter wirkungsästhetischen Aspekten als literarische Ironie gedeutet werden: Ironisch ist der Aphorismus insofern, als er durch den Rekurs auf den allgemeinen Sprachgebrauch eine ganzheitliche Anthropologie 141

voraussetzt, deren Existenz er inhaltlich gerade bestreitet. Thematisch zieht Maxime 135 das Resümee von La Rochefoucaulds anthropologischen Reflexionen, weil sie die subjektimmanente Heterogenität mit der Differenz zwischen verschiedenen Individuen vergleicht.

2.2 Bedingungen und Grenzen des moralischen Urteils La Rochefoucaulds Anthropologie geht von einer allgemeinen Dissoziierung des handelnden Subjekts aus, welche die Frage nach dessen substantieller Qualität von vornherein überflüssig werden läßt. Die moralisch-ambivalente Persönlichkeitsstruktur, die vice u n d vertu gleichermaßen umgreift, ist die Grundlage einer Analyse, derzufolge die gesellschaftliche Praxis nicht von ethischen Leitvorstellungen getragen, sondern weitgehend kasuistisch geprägt ist. Das Subjekt handelt nicht nach Maßgabe unverrückbarer Prinzipien, sondern mit Blick auf die jeweils sich darbietenden Situationen. Wenn die Subjekte nicht mehr moralisch positiv oder negativ veranlagt sein sollen, dann erscheint die gesellschaftliche Praxis notwendig als unberechenbar, weil äußerlich vergleichbare Verhaltensweisen ganz unterschiedlich motiviert sein können: Normenkonformes Verhalten ist kein Anzeichen für die substantielle Qualität des Handelnden. Diese Auffassung unterscheidet La Rochefoucauld erheblich von früheren moralistischen Theorien. Noch Faret konnte die intersubjektive Geltung moralischer Postúlate als gegeben voraussetzen u n d diese in universalistischer Form vermitteln. Méré wich in seiner Formulierung der Moralität von der normativen Beschreibung gesellschaftlicher Praxis ab und konzentrierte sich auf das Subjekt selbst, das in Gestalt dynamischer Normen akzentuiert wurde. Beide Ansätze gehen von der substantiellen Qualität des handelnden Subjekts aus und verbinden eine ganzheitliche Anthropologie mit einem normativen Wirkungsinteresse. - Solches Vorgehen ist unter La Rochefoucaulds theoretischen Prämissen nicht mehr möglich, denn im Hinblick auf ein dissoziiertes Subjekt, in dem Tugend und Laster als komplementäre Größen relativiert sind, ist ein normatives Wirkungsinteresse a priori undurchführbar. Es muß an der moralisch ambivalenten Grundkonzeption des Individuums scheitern, welches einer literarischen Normenvermittlung keinen Ansatzpunkt bietet, weil es ohne substantielle Qualität ist. Handlungsautonomie und Verhaltensnonn schließen sich in La Rochefoucaulds Theorie wechselseitig aus. Entsprechend heftig polemisieren die Maximen gegen den précepte und den exemple als wirkungsästhetische Verfahren: 142

Les vieillards aiment à donner de bons préceptes, pour se consoler de n'être plus en état de donner de mauvais exemples. (Max. 93)

Die antithetisch konstruierte Maxime beruht auf dem Gegensatz von «bons préceptes» und «mauvais exemples», die im Satzsubjekt («vieillards») zusammenfallen und damit als Gegensätze aufgehoben sind. Wenn diejenigen, die die moralischen Normen aufstellen, dieselben ständig brechen (oder gebrochen haben), dann ist neben der prinzipiellen Differenz von Anspruch und Wirklichkeit zugleich die Funktionslosigkeit von préceptes g e s e t z t . 3 5 in seiner Polemik gegen moralische Postúlate greift der Autor erneut auf die ethisch ambivalente Anthropologie zurück. Bereits die Differenzqualität von vermittelndem Subjekt und moralischem Postulat führt letzteres ad absurdum und dementiert die Möglichkeit, daß die 'Réflexions ou Sentences et Maximes morales' ein normatives Wirkungsinteresse implizieren könnten. An dieser Stelle begegnet die theoretische Rekonstruktion der Maximen den eingangs diskutierten Positionen des 'Discours' von La Chapelle-Bessé. Als Quintessenz des Rechtfertigungstextes, der den Maximen seit der ersten Auflage vorangestellt ist, kann festgehalten werden, daß die ethisch begründete Kritik mit erkenntnistheoretischen Argumenten erwidert wird, während die ihrerseits erkenntnistheoretischen Vorwürfe eine im weitesten Sinne ästhetische Antwort erhalten. Die Verlagerung von Argumentationsebenen wurde als Differenz unterschiedlicher Erwartungshorizonte und damit als eine lite-

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Auch an anderer Stelle polemisiert La Rochefoucauld gegen den précepte bzw. gegen den exemple als wirkungsästhetische Verfahren. So z.B. in Max. suppr. 589, die sowohl an die 'Edition Hollandaise' (hier: La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., Max. 142, p. 327) als auch an den 'Manuscrit Liancourt' (hier: ib., Max. 59, p. 350) anknüpft und die durch den Bezug auf Senecas Lebensregeln und die Werke anderer Philosophen feststellt, daß diese kaum je ein Verbrechen unterbunden hätten (Cf. ib., Max. suppr. 589, p. 490; Cf. ferner ib., Max. 230, p. 434). Gerhard Hess, der die Gründe für die Streichung dieser Maxime seit der zweiten Auflage (1666) nicht in einem grundsätzlichen Meinungswandel des Autors gegenüber der lebenspraktischen Norm vermutet, sondern statt dessen darauf zurückführt, daß dieser eine theologisierende Terminologie vermeiden, bzw. abmildern wollte (Cf. Hess, unveröffentlichte Aufzeichnungen und Manuskripte), ist zuzustimmen, denn auch die später verfaßten 'Réflexions diverses' setzen die Kritik am précepte und am exemple unvermindert fort. In Reflexion 7 heißt es unter der Überschrift 'Des exemples': «Quelque différence qu'il y ait entre les bons et les mauvais exemples, on trouvera que les uns et les autres ont presque également produit de méchants effets» (La Rochefoucauld: Réflexions diverses. In Id., Œuvres complètes, op. cit., p. 513).

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rarisch-funktionale Innovation La Rochefoucaulds interpretiert. Deren theoretische Voraussetzungen lassen sich vom jetzigen Stand der Rekonstruktion aus wie folgt darstellen: Die Maximen kritisieren weniger gesellschaftliches Verhalten an sich, als vielmehr dessen offizielle Beurteilung in der höfischen Öffentlichkeit und die damit verbundene Distribution von Status- und Prestigechancen. Das vielfältig dissoziierte Subjekt existiert nur noch in dem Urteil, das die höfische Gesellschaft sich von ihm macht. Sein ontologischer Status besteht ausschließlich in seiner Geltung im sozialen Umfeld; in einer Geltung freilich, deren Authentizität in zahlreichen vergleichbaren Aphorismen vehement bestritten wird. Dieser Maximentyp wird in der Regel durch ein festes Repertoire syntaktischer Wendungen eingeleitet. Hierzu zählen etwa Formulierungen wie ce que nous prenons pour oder ce que les hommes ont nommé, bzw. ce qu'on nomme, an die sich das bereits angesprochene n'est que anschließt. Diesen Aphorismen liegt ein einfaches Argumentationsmuster zugrunde, das leicht als ein Verfahren zur literarischen Desillusionierung zu erkennen ist: eine gängige positive Beurteilung von gesellschaftlichen Verhaltensformen wird als nicht-authentisch verworfen und durch eine neue, negative Interpretation ersetzt. Ein weiteres Desillusionierungsverfahren besteht darin, daß im ersten Teil des Aphorismus ein generalisierendes Pronomen mit dem Verb croire verknüpft wird, so daß ein allgemeines Urteil evoziert ist, welches der zweite Teil praktisch widerlegt. Die Maximen dieses Typs analysieren das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft ebenso wie das Bild, das der Einzelne von sich selbst hat. Die zahlreichen stilistischen Variationen dieses Verfahrens können hier nur mit wenigen Beispielen angedeutet werden: Celui qui croit pouvoir trouver en soi-même de quoi se passer de tout le monde se trompe fort; mais celui qui croit qu'on ne peut se passer de lui se trompe encore davantage. (Max. 201) On croit quelquefois haïr la flatterie, mais on ne hait que la manière de flatter. (Max. 329) Nous croyons souvent avoir de la constance dans les malheurs, lorsque nous n'avons que de l'abattement, et nous les souffrons sans oser les regarder, comme les poltrons se laissent tuer de peur de se défendre. (Max.420)

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Cf. La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., Max. 1, p. 403; Max. 83, p. 414 und Max. 263, p. 439-

Wenn man diese Maximen unter rein formalen Gesichtspunkten analysiert und von dem jeweiligen Inhalt absieht, ergeben sich einige strukturelle Merkmale dieses Aphorismustyps: In allen Fällen ist die strukturbildende Zweigliedrigkeit durch die alternierende Verwendung bejahender und negierender Aussagen geprägt. In Maxime 201 wird die Negation im zweiten Teil durch das Verb tromper, in den Maximen 329 und 420 durch die Negationspartikel ne que hergestellt. Die beiden Teile dieses Maximentyps sind entweder durch mais, lorsque oder encore que verknüpft, was die durchgehende Verwendung des Indikativs erlaubt. - Dieser gleichmäßige und häufig wiederholte Aufbau aller Maximen des ce que nous prenons [...] ne que bzw. des croire + Negation-Typs bezweckt eine Desillusionierung des Rezipienten, der die geläufigen Beurteilungen von sozialen Verhaltensweisen grundsätzlich in Frage stellen s o l l . D a s Resümee seiner Kritik am öffentlichen Urteil zieht La Rochefoucauld so: Il semble que nos actions aient des étoiles heureuses ou malheureuses, à qui elles doivent une grande partie de la louange et du blâme qu'on leur donne. (Max. 58)

In metaphorischer Form stellt der Autor fest, daß die gesellschaftliche Beurteilung individuellen Sozialverhaltens erheblich von dem 'Stern' abhängt, unter dem sie vollzogen wird. Die Metapher ist doppelt beziehbar: syntaktisch ist sie eindeutig den «actions» zugeordnet und benennt die Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Handelns. Rein verständnislogisch kann sie aber auch den Zusammenhang von «action» und «jugement» explizieren. In diesem Fall würde das Bild des Sterns summarisch die Bedingungen der gesellschaftlichen Urteilsbildung beschreiben. Während die Metapher in der ersten Auslegung den moralischen Wert der Handlung an sich meint, welcher durch das gesellschaftliche Urteil nur noch bestätigt wird, geht die zweite Interpretation von der moralischen Indifferenz aller Handlungen aus, denen ein ethischer Wert erst aus dem nachträglichen Urteil erwächst. Im Hinblick auf die angesprochene Relativierung gesellschaftlicher Wertvorstellungen und die zuvor vertretene These einer ethisch ambivalenten Anthropologie erscheint insbesondere die zweite Interpretation plausibel. Indem La Rochefoucauld die Bedingungen anspricht, unter denen gesellschaftliche Urteile im allgemeinen gefaßt werden, untersucht er auch die Authentizität und mögliche Relevanz von moralischen Einschätzungen im besonderen und stellt damit seine 37

Zu dem genannten Aphorismustyp zählen u.a. Max. 266, p. Max. 277, p. 441; Max. 372, p. 452 und Max. 374, p. 453.

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eigene moralistische Tätigkeit in Frage. Durch die Verschiebung des Problems 'Wie soll ich handeln?' zur Frage 'Wie kann ich erkennen (bzw. beurteilen)?' wird der Anspruch, den La Chapelle-Bessé programmatisch formuliert, literarisch eingelöst. Im Gegensatz zu seinen moralistischen Vorgängern entwickelt La Rochefoucauld in den Maximen eine immanente Hermeneutik. In einer großen Zahl von Maximen widmet der Autor sich den Bedingungen menschlicher Erkenntnis in der Gesellschaft und kritisiert die Grundlagen des moralischen Urteils. Bei der Rekonstruktion seiner Kritik muß unterschieden werden zwischen der Einschätzung, die das Subjekt von sich selbst hat, d.h. seiner inneren Befindlichkeit einerseits und dem Urteil der Subjekte untereinander andererseits, die durch unterschiedliche Irrtümer gekennzeichnet sind. - La Rochefoucauld hebt insbesondere die Bedeutung des amour-propre für die Selbsteinschätzung des Subjekts hervor: Nous ne ressentons nos biens et nos maux qu'à proportion de notre amour-propre. (Max. 339)

Daraus folgt notwendig: On n'est jamais si heureux ni si malheureux qu'on s'imagine. (Max. 49)

In beiden Maximen wird die Möglichkeit bestritten, daß das Subjekt in der Lage ist, seine eigene Lage adäquat einzuschätzen. Der Autor fuhrt dies auf den amour-propre zurück, der das persönliche Glücks- und Unglücksempfinden potenziert und die Einsicht in die eigene Gemütsverfassung verfälscht. Diese Neigung zum Extremen - die auch in anderen Aphorismen hervorgehoben wird 38 - ist durch den menschlichen Geltungsdrang und das Streben nach akzidenteller Qualität begründet, die das Subjekt unabhängig von seinem tatsächlichen Gemütszustand zur Selbstdarstellung treiben und es daran hindern, sich selbst zu erkennen. Es kann keinen gesicherten Aufschluß über sein eigenes Wesen gewinnen, weil ihm die Fähigkeit zur Selbstkritik oder zur Distanzierung von sich selbst fehlt, die einem objektiven Urteil unverzichtbar ist. Das dissoziierte und vielfach gespaltene Subjekt ist nicht imstande, sich selbst zum Gegenstand der Betrachtung zu machen, da es nicht Herr seiner selbst ist.39 38 39

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Cf. La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., Max. 125 der 'Edition Hollandaise', p. 324. Erich Auerbach zufolge ist das Mißtrauen gegen die eigenen inneren Bewegungen auch kennzeichnend für Pascal (Cf. Auerbach, Über Pascals politische Theorie. In: Id., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philo-

Der Literaturkritiker Paul Bénichou hat in diesem Zusammenhang bereits 1948 hervorgehoben, daß die psychologischen Erkenntnisse der Moralisten, die in der Forschung vielfach als tiefblickend gefeiert und gepriesen werden, letztlich auf das allgemeine Prinzip, «selon laquelle chacun se fait illusions sur soi»*0 reduziert werden können. In seinem Versuch, die Moralisten insgesamt zu entmystifizieren, ordnet Bénichou ihnen eine literarische Desillusionierungsabsicht zu, welche die traditionellen sozialethischen Theorien sprengt und sich vom Projekt der Vermittlung moralischer Normen verabschiedet. - Die Maximen argumentieren auf der Grundlage einer immanenten Hermeneutik, welche der Möglichkeit adäquater moralischer Beurteilungen skeptisch gegenübersteht und Zweifel an der zeitgenössischen Praxis ethischer Zurechnungen formuliert. La Rochefoucauld hält dem gesellschaftlichen Optimismus, demzufolge potentiell alle Subjekte treffende moralische Urteile fallen können, die realen hermeneutischen Defizite des Menschen entgegen. Die zentrale Innovation der 'Maximes, sentences et réflexions morales' besteht also nicht in der skeptischen Einstellung gegenüber der Möglichkeit moralischer Urteile, sondern in der hermeneutischen Reflexion auf das eigene Tun, und die herkömmlichen moralischen Beurteilungen müssen - so gesehen - notwendig als unzureichend erscheinen. Ahnliches gilt auch für die Urteile, mit denen sich die Subjekte untereinander bewerten, was anhand der Aussagen zur amitié dargestellt werden kann. Hier treten urteilendes und handelndes Subjekt auseinander, was eine Vielzahl von Fehlschlüssen und Irrtümern bewirkt. La Rochefoucauld stellt fest, daß die Maßstäbe, die der Urteilende an das Verhalten seiner Freunde anlegt, sich an dessen eigenen Interessen und Anschauungen orientieren und deshalb notwendig relativ sind. Auch hier wird der amour-propre für die moralischen Fehleinschätzungen verantwortlich gemacht:

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logie, Bern: Francke 1967, p. 216). Paul Bénichou, Morales du grand siècle, Paris: Gallimard 1948, p. 169- O b w o h l Bénichous Ausführungen überzeugend begründet sind hält sich hartnäckig die Einschätzung, La Rochefoucauld habe umfassende Einsichten in die menschliche Psychologie gewonnen. Noch 1966 preist ihn M.G.W. M o o r e als einen Vorläufer Freuds (Cf. Moore, La Rochefoucauld et le mystère de la vie. In: Cahiers d e l'association internationale des études françaises 18 (1966), p. 107). Vorsichtiger urteilt Louis van Delft, der in den Maximen «une psochologie du clair-obscur» erblickt (van Delft, Pour une lecture mondaine de La Rochefoucauld - La caractérologie d'un moraliste pair de France. In: Images d e La Rochefoucauld. Actes du tricentennaire 1680-1980, ouvrage publié avec le concours national des lettres, Paris: PUF 1984, p. 147).

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L'amour-propre nous augmente ou nous diminue les bonnes qualités de nos amis à proportion de la satisfiaction que nous avons d'eux; et nous jugeons de leur mérite par la manière dont ils vivent avec nous. (Max. 88) (41)

Die Maxime diskutiert die amitié unter dem Aspekt der moralischen Qualifizierung des handelnden Subjekts, d.h. sie diskutiert die Zuweisung akzidenteller Qualität. Sie kritisiert die Selbstbezüglichkeit von Urteilen, die darin besteht, daß der Urteilende an seinem persönlichen Nutzen orientiert ist und damit die moralische Qualität des Handelnden notwendig verfehlt. Abgesehen davon, daß die zweifelsfreie Zuordnung von substantieller und akzidenteller Qualität aufgrund der ambivalenten Anthropologie ohnehin nicht mehr gegeben ist, behauptet der Autor die vollkommene Willkür des moralischen Urteils, derer sich die Menschen nicht bewußt sind und sich deshalb im Besitz der Wahrheit wähnen. Selbstbezügliche und intentional-utilitaristisch geprägte Einschätzungen divergieren nicht nur von einem urteilendem Subjekt zum anderen, sondern feilen auch bei ein- und demselben Betrachter - je nach der aktuellen Situation - unterschiedlich aus. Der Wahrheitsanspruch moralischer Beurteilungen von Verhaltensweisen oder Personen muß in Frage gestellt werden, denn die Vergleichbarkeit verschiedener Bewertungen ist deshalb nicht gegeben, weil die jeweils zugrundeliegenden Beurteilungsrahmen nur relativ sind. Auf dem Wege hermeneutischer Reflexion werden der Geltungsanspruch akzidenteller Qualität - die sich dem Urteil der Subjekte untereinander verdankt - grundsätzlich angezweifelt und das soziale Ansehen als gesellschaftliche Ordnungskategorie problematisiert. Insofern als die moralischen Urteile in ihrer Genese immer auf die urteilenden Subjekte selbst zurückverweisen, sind sie in ihrem Kern autistisch und gestatten keinerlei gesicherten Aufschluß über das zu erkennende Gegenüber. Eine intersubjektiv verbindliche und generalisierbare moralische Bewertung kann es deshalb nicht geben, weil die Menschen stets ihren eigenen Interessen verhaftet und die Voraussetzungen von Fall zu Fall verschieden sind. Die Selbstbezüglichkeit, mit der die Subjekte einander gegenübertreten, ist nicht das einzige Defizit. Insbesondere bei der Einschätzung der Freunde kommt ein gewisses Trägheitsmoment hinzu, welches das Urteil verfälscht. Dieses Moment muß hermeneutischer Kritik unterzogen werden:

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Cf. auch Max. 428, p. 459-

La grâce de la nouveauté et la longue habitude, quelque opposées qu'elles soient, nous empêchent également de sentir les défauts de nos amis. (Max. 426)

Sowohl der Reiz des Neuen als auch die Macht der Gewohnheit stehen einer objektiven Bewertung der handelnden Subjekte im allgemeinen und der der Freunde im besonderen im Wege: der erste, weil er zu einem vorschnellen Urteil verleitet, die zweite, weil sie die Korrektur eines Irrtums unterbindet. Das erkennende Subjekt ist zu keiner Zeit imstande, sich eine ausreichende Distanz zu seinem Interaktionspartner zu verschaffen und wird in seinem Urteil entweder durch die scheinbare Qualität der Neuheit oder durch die selbstgeschaffenen Vorurteile korrumpiert. Im Unterschied zu den zuvor zitierten Maximen, die ausschließlich quantitative Fehlurteile diskutieren, in denen das persönliche Glücks- oder Unglücksempfinden überhöht oder das Verhalten von nahestehenden Personen zu deren Gunsten ausgelegt wird, liegt hier ein qualitatives Fehlurteil vor, weil die objektiven moralischen Defizite und Verfehlungen der Freunde verkannt werden. Die hermeneutische Kritik an traditionellen moralischen Urteilen und an dem Vertrauen auf die eigene Erkenntnis- und Urteilskompetenz, das sich in ihnen dokumentiert, tritt in Maxime 426 besonders deutlich hervor. La Rochefoucauld geht über die Analyse der subjektiven Faktoren, die das moralische Urteil verfalschen, hinaus und wendet sich den sozialen Determinanten dieses Urteils zu: La plupart des gens ne jugent des hommes que par la vogue qu'ils ont, ou par leur fortune. (Max. 212)

Der Aphorismus beschreibt eine verbreitete Form des zwischenmenschlichen Urteils und kritisiert durch die Wendung ne que eine moralisch inkompetente Öffentlichkeit, deren Anschauungen sich durch häufige Wiederholungen perpetuieren und als «vogue» niederschlagen. Die akzidentelle Qualität, die einem Subjekt auf diese Weise erwächst, ist ohne jede Relation zu dessen Persönlichkeit und ausschließlich das Resultat sozialer Prozesse der Meinungsbildung. Das Ansehen einer Person sagt nichts über deren moralisches Wesen aus. In seiner Argumentation setzt der Autor hier ein weiteres Mal die Existenz substantieller Qualität voraus, er bestreitet jedoch, daß diese in der Gesellschaft adäquat erkannt oder beurteilt werden kann. Die Negation substantieller Qualität würde die hermeneutische Kritik gegenstandslos machen. Letztere läßt sich etwa so beschreiben: Indem das urteilende Subjekt sich affirmativ an den gesellschaftlichen Vor149

urteilen orientiert, überantwortet es sich dem kollektiv erzeugten Schein und gewinnt ein moralisches Urteil, dessen gesellschaftliche Vermittlung ihm nicht bewußt wird. Die Begriffe vogue und fortune stehen in La Rochefoucaulds Maximen häufig für diese Form gesellschaftlich anerkannter Unwahrheit. 4 2 Die Maximen prangern nicht nur den affirmativen Rekurs auf soziale Vorurteile an, sie stellen darüber hinaus einen Verhaltenstyp zur Kritik, der versucht, diese permanent zu negieren: C'est plus souvent par orgueil que par défaut de lumières qu'on s'oppose avec tant d'opiniâtreté aux opinions les plus suivies: on trouve les premières places prises dans le bon parti, et on ne veut point des dernières. (Max. 234)

La Rochefoucauld bezieht sich in seiner Kritik auf den Reputationswert einer abweichenden Meinung. Die Möglichkeiten zur Selbstdarstellung, die ein dem gesellschaftlichen Tenor entgegenstehendes Urteil bietet, veranlassen das Subjekt, sich gegen seine eigentliche Überzeugung auszusprechen. Beide Aphorismen (Max. 212 und Max. 234) heben die Bedeutung des sozialen Umfelds hervor, in dem persönliche Wertentscheidungen gefallt werden, und verdeutlichen die zahlreichen Möglichkeiten, moralische Urteile zu manipulieren. Immer wenn das Subjekt sich in seinen Einschätzungen an der Mehrheitsmeinung orientiert - sei es affirmativ oder negativ - begibt es sich seiner Autonomie und überantwortet sich bedingungslos dem Schein akzidenteller Qualität, der sich auf diese Weise permanent reproduziert. Da das Verhältnis von urteilendem und handelndem Subjekt zu keiner Zeit unvermittelt und frei von gesellschaftlichen Einflüssen sein kann, muß ersteres hermeneutisch auf die sozialen Rahmenbedingungen und seine individuellen Interessen reflektieren, die sein Urteil beeinflussen können. Sowohl Anpassung als auch Widerspruch zur herrschenden Meinung haben einen gewissen Reputationswert und stehen innerhalb der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen. Diese Defizite des urteilenden Subjekts können zwar durch herme-

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Karlheinz Stierle geht in diesem Zusammenhang sogar soweit, zu behaupten, La Rochefoucauld konstatiere einen «Verstrickungs- und Blendungszusammenhang der Gesellschaft», der so vollkommen sein soll, «daß es schlechterdings kein Entrinnen aus ihm gibt» (Stierle, Sprache und menschliche Natur in der klassischen Moralistik Frankreichs. Vortrag zum Gedächtnis von Gerhard Hess. Mit einem Nachruf auf Gerhard Hess von H.-R. Jauß, Konstanz: Universitätsverlag 1985, p. 41). - Wie später noch gezeigt wird, ist für La Rochefoucauld ein Entkommen innerhalb bestimmter Grenzen doch möglich.

neutische Reflexion nicht kompensiert werden, aber seine Einschätzungen gewinnen durch das Wissen um die vielfachen Vermittlungsmechanismen eine neue Qualität. Darüber hinaus impliziert die hermeneutische Kritik der Maximen eine entschiedene Sozialkritik: Aufgrund der skizzierten Vermittlungen ist jeder Urteilsakt von der öffentlichen Meinung beeinflußt und partizipiert auf unterschiedliche Weise am offiziellen Schein, den er zugleich perpetuiert. Der zeitgenössischen Praxis der Zuweisung von akzidenteller Qualität an die Subjekte wird damit eine Eigendynamik zugeschrieben, in der die substantielle moralische Qualität irrelevant wird und in welcher der soziale Status einer Person zu einem willkürlich-zufalligen Merkmal herabsinkt. Der Hierarchie, die sich traditionell auf die prästabilierte Harmonie zwischen substantiellen und akzidentellen Qualitäten beruft, wird damit die zentrale Legitimationsgrundlage entzogen. Auf diese Weise wendet sich die hermeneutische Kritik gegen die bestehende Sozialordnung als ganze. La Rochefoucauld konstatiert in den Maximen also eine Vielzahl subjektiver Erkenntnis- und Urteilsdefizite, die sowohl quantitative als auch qualitative Fehlurteile provozieren. Diese gehen zu einem großen Teil auf die gesellschaftliche Praxis selbst zurück und wirken auf persönliche Werturteile nach Prinzipien, die moralisch ohne jede Relevanz sind. In Form hermeneutischer Reflexionen werden hierzu u.a. die Relativität der Maßstäbe und die Selbstbezüglichkeit der Einschätzungen gezählt. Hinzu treten die Neigung zum gewohnheitsmäßigen Urteil und der Einfluß gesellschaftlicher Stereotype, die zumeist unreflektiert übernommen und perpetuiert werden. In dem Abschnitt 'Du faux' der 'Réflexions diverses' faßt La Rochefoucauld seine hermeneutische Kritik zusammen: Ce qui fait cette fausseté si universelle, c'est que nos qualités sont incertaines et confuses, et que nos vues le sont aussi: on ne voit point les choses précisément comme elles sont; on les estime plus ou moins qu'elles ne valent, [...] Ce mécompte met un nombre infini de faussetés dans le goût et dans l'esprit. (43)

Der ethisch ambivalenten Anthropologie - die sowohl das erkennende als auch das handelnde Subjekt betrifft - entspricht auf der Ebene des moralischen Urteils eine Reihe von Erkenntnisdefiziten, welche die Möglichkeit einer prästabilierten Harmonie ebenso wie die Authentizität akzidenteller Qualität vehement dementieren. Diese Unzulänglichkeit aller Subjekte ist das eigentliche Thema von La Rochefou43

La Rochefoucauld: Réflexions diverses XIII. In: Id., Œuvres complètes, op. cit., p. 520.

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caulds Maximen, das in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen und Situationen ausgewertet wird. Die hier vorgestellte Interpretation der Maximen im Sinne einer hermeneutischen Kritik hat den Vorzug, einige Widersprüche plausibel auflösen zu können, mit denen die traditionelle La Rochefoucauld-Forschung bislang konfrontiert war. Ein großes Problem wird etwa darin gesehen, daß seine These von einer defizitären Erkenntnisund Urteilsfähigkeit des Subjekts sich in den Maximen selbst aufh e b e : ^ Wie kann das einzelne Subjekt (La Rochefoucauld) in allgemeiner Form feststellen, daß der Mensch kaum je eines begründeten moralischen Urteils fähig ist, ohne daß diese These sich durch die generalisierende Form der Aussage selbst aufhebt und den ethischen Gehalt der Aphorismen dementiert? Es ensteht ein logisches Paradoxon, das Oskar Roth dahingehend auflöst, daß La Rochefoucauld «dem Moralisten den Anspruch auf einen privilegierten, übermenschlichen Wahrheitsstandpunkt u n t e r s t e l l t » ^ ' hätte. Unter der Bedingung, daß der Moralist sich von der allgemeinen Erkenntnis- und Urteilsskepsis ausnimmt und für sich selbst ein überlegenes Urteilsvermögen reklamiert, erscheint das Paradoxon logisch eliminiert, allerdings um den Preis einer Argumentationshaltung, die Roth sofort heftig angreift und als unbegründet zurückweist."^^ Implizit setzt Roths Interpretation voraus, daß die Urteile der Maximen sich mit den gesellschaftlichen Einschätzungen, die in ihnen skizziert sind, auf einer Ebene bewegen und mit diesen um den Anspruch der Wahrheit konkurrieren. Unter der Prämisse, daß La Rochefoucauld einen überlegenen Erkenntnisstandpunkt beansprucht, müßte Roth das generalisierende und allumgreifende «nous» der zitierten Passage aus den 'Réflexions diverses' als bloße Rhetorik abtun. La Rochefoucauld würde sich also nur zum Schein mit den Rezipienten auf eine Stufe stellen, um deren Zuspruch zu gewinnen, in Wahrheit jedoch an seinem exklusiven Urteilsstandpunkt festhalten. - Wenn man hingegen davon ausgeht, daß La Rochefoucaulds Theorie nicht mehr ethisch, sondern hermeneutisch motiviert ist, wird mit dem postulierten Paradoxon auch Roths Exklusivitätshypothese gegenstandslos, weil die Maximen in diesem Fall die skeptische Frage nach den Bedingungen 44

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Zur Kombination zweier Urteilsebenen merkt Jean Starobinski kritisch an: «On ne prend pas impunément le ton de la vérité définitive, même pour dire qu'il n'y a pas de vérité définitive» (Starobinski: La Rochefoucauld et l'oubli des secrètes, op. cit., p. 34). Oskar Roth: Die Gesellschaft der honnêtes gens. Zur sozialethischen Grundlegung des honnêteté-Ideals bei La Rochefoucauld, op. cit., p. 130. Ib.

der Möglichkeit kompetenter gesellschaftlicher Beurteilungen stellen, die der Autor auch an sich selbst richtet. Unter hermeneutischen Gesichtspunkten hat er dem Leser allein den Zweifel an den eigenen Wahrnehmungen und Bewertungen voraus, den er diesem durch das Verfahren der Desillusionierung weitergeben möchte.

3. Intuition und aphoristische Form Die Analyse von La Rochefoucaulds Kritik an den moralischen Urteilen seiner Zeit hat ergeben, daß die Maximen Ansätze zu einer hermeneutischen Reflexion enthalten, die den Wahrheitsanspruch der traditionellen moralistischen Wertungen grundsätzlich in Zweifel ziehen. Der Moralist hat in dieser Bestimmung nicht nur ethische Stellungnahmen abzugeben und die gesellschaftliche Praxis normativ zu beschreiben, sondern er muß darüber hinaus die Bedingung der Möglichkeit dieser Beurteilungen offenlegen. Als Reflexion über moralische Bewertungen bewegen sich die Maximen im Vergleich zu den Diskursen und Aphorismen früherer Moralisten insofern auf einer anderen Ebene, als sie gleichsam metatheoretisch - sich selbst zum Gegensund der Betrachtung wählen. Der Autor der Maximen widerspricht seinen Vorgängern also nicht auf der inhaltlichen Ebene ethischer Betrachtungen - die Kritik am amour-propre und am intérêt ist im einzelnen nicht neu, allenfalls radikaler formuliert -, sondern durch eine implizite Hermeneutik, die seine Reflexionen permanent begleitet. - Entgegen der verbreiteten Forschungsmeinung, die einen Widerspruch konstruiert, der darauf hinausläuft, daß der Moralist einen privilegierten Erkenntnisstandpunkt für sich reklamiere und die dessen Inanspruchnahme wiederum als unbegründet kritisiert, geht diese Interpretation davon aus, daß der Autor die prinzipielle Gleichwertigkeit aller moralischen Bewertungen postuliert, sofern sie hermeneutisch abgesichert sind. Hierfür spricht u.a. die häufige Verwendung des Pronomens nous, die mehr als nur eine rhetorische Formel ist. Die Konsequenzen dieses Postulats für die literarische Praxis sollen nunmehr rekonstruiert werden. Neben der negativen hermeneutischen Kritik von moralischen Urteilen, durch welche die Maximen auch ihren eigenen Wahrheitsgehalt problematisieren, versucht La Rochefoucauld ansatzweise, das positive Modell einer moralistischen Urteilspraxis zu skizzieren, welche die aufgezeigten Defizite überwindet. Die Maximen bleiben also nicht bei der bloßen Deklamation von Skepsis und bei der Funktion allgemeiner Desillusionierung stehen, sondern sie versuchen darüber hinaus, eine innovative Form des moralischen Urteils zu be153

gründen. Die Rekonstruktion der hermeneutischen Grundüberzeugungen der Maximen ergibt, daß die Feststellung von allgemeinen Urteilsdefiziten kein durchgehendes Motiv ist. Einzelne Aphorismen, die den traditionellen Rationalitätsprimat angreifen, deuten vielmehr an, daß die Möglichkeit einer authentischen und weitgehend unverfälschten Wahrnehmung und Beurteilung moralischer Verhaltensweisen besteht. Diese wird überraschenderweise auf den amour-propre zurückgeführt, von dem es heißt: Ce qui fait voir que les hommes connaissent mieux leurs fautes qu'on ne pense, c'est qu'ils n'ont jamais tort quand on fes entend parler de leur conduite: le même amour-propre qui les aveugle d'ordinaire les éclaire alors, et leur donne des vues si justes, qu'il leur fait supprimer ou déguiser les moindres choses qui peuvent être condamnées. (Max. 494) Im Gegensatz zum Tenor der meisten Aphorismen räumt La Rochefoucauld an dieser Stelle ein, daß authentische Urteile im Rahmen einer größeren Öffentlichkeit möglich sind. Er führt diese Tatsache auf denselben amour-propre zurück, der bislang gerade für die Urteilsdefizite des Subjekts verantwortlich gemacht wurde. Die adäquate Einschätzung der eigenen Stärken und Schwächen verdankt sich nicht etwa der Vernunft, sondern dem Prinzip der Selbstliebe, das jener traditionell entgegengestellt ist. Es ist dabei für die Authentizität der gefällten Urteile vollkommen gleichgültig, ob diese Einsichten - wie im obigen Fall - in Beziehung auf die eigene akzidentelle Qualität instrumentalisiert werden oder nicht. Die Maxime betont zwar nochmals die hermeneutische Ambivalenz des amour-propre, dessen Funktion sowohl im aveugler als auch im éclairer bestehen kann, doch ist der Wahrheitsgehalt der durch ihn gewonnenen Erkenntnisse unstrittig. Ahnliches gilt für den intérêt, dessen Nähe zum amour-propre dadurch einmal mehr dokumentiert wird. La Rochefoucauld stellt apodiktisch fest: L'intérêt, qui aveugle les uns, fait la lumière des autres. (Max. 40) Während Maxime 494 die ambivalente Wirkung des amour-propre zwischen Erkenntnis und Verschleierung sukzessiv im Hinblick auf ein einzelnes Subjekt feststellt, differenziert Maxime 40 die Erkenntnisleistung des intérêt im Zusammenhang von verschiedenen Subjekten. Das interessegeleitete Subjekt kann mittels dieser Eigenschaft seine eigene Lage und die der anderen ebensosehr verkennen, wie adäquat einschätzen. Beiden Vermögen werden damit - trotz ihrer ambivalenten Beurteilung - sehr weitreichende Erkenntnisqualitäten zuge154

sprachen, ohne daß allerdings nähere Begründungen oder gar Beweise gegeben werden. Andere Maximen weisen dem intérêt und dem amour-propre bestimmte Strukturmerkmale zu, die sie im Sinne der hermeneutischen Kritik als besonders qualifiziert erscheinen lassen. Im Vergleich zur raison handelt es sich bei beiden um weitgehend unbewußte Persönlichkeitselemente, deren Authentizität darin liegt, daß sie weder gesellschaftlich vermittelt, noch von anderen subjektiven Faktoren beeinflußt sind: «C'est par lui-même», so heißt es vom amour-propre, «que ses désirs sont allumés», und wenig später, «c'est après lui-même qu'il c o u r t . I n w i e w e i t die Autonomie beider Vermögen, die stets auf sich selbst zurückweisen, zu deren hermeneutischer Aufwertung beigetragen hat, mag dahingestellt bleiben. Mit Sicherheit kann festgehalten werden, daß ihre moralischen Defizite, die in zahlreichen Maximen zum Ausdruck kommen, im Rahmen hermeneutischer Reflexion vollkommen irrelevant sind. Die Einsichten, die durch sie gewonnen werden, beruhen weder auf einer differenzierten Betrachtung noch auf einer rationalen Ergebniskontrolle, sondern ausschließlich auf dem spontanen und zufälligen Erkennen von Zusammenhängen. Einer vergleichbaren hermeneutischen Konstruktion begegnen wir im Umfeld der jansenistischen Morallehren bei Pascal. Seine Unterscheidung zwischen einem esprit de finesse und einem esprit de géométrie ist bereits in der Interpretation der Werke Mérés angesprochen worden.^ 8 Dort stand sie im Zeichen unterschiedlicher gesellschaftlich-ethischer Handlungsfelder und wurde in den Gestalten des honnête homme bzw. des galant homme personifiziert. Pascals Begriffepaar hat darüber hinaus aber auch erkenntnistheoretisch-hermeneutische Implikationen. Im Zusammenhang der Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit des ersteren heißt es: 47 48

La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., Max. suppr. 563, p. 486. Cf. Pascal: Pensées. In: Id. Œuvres complètes, (Bibliothèque de la Pléiade), Paris: Gallimard 1954, Aph. 21, p. 1091sq. - Cf. ferner die Anmerkung im Abschnitt zu Méré. - La Rochefoucaulds Verbindungen zu Port-Royal, die zu einem großen Teil im Salon der Mme de Sablé geknüpft wurden, sind ausführlich von Jean Mesnard dokumentiert worden (Cf. Mesnard, La rencontre de La Rochefoucauld avec Port Royal. In: Images de La Rochefoucauld. Actes du tricentennaire 1680-1980, ouvrage publié avec le concours national des lettres, Paris: PUF 1984, p. 161-165). - Auch Sainte-Beuve rechtfertigt ausdrücklich die Gegenüberstellung von La Rochefoucauld und jansenistischen Autoren: «Otez de la morale janséniste la rédemption, et vous avez La Rochefoucauld tout pur» (Sainte-Beuve, La Rochefoucauld. In: Id., Les grands écrivains français. Etudes des lundis et des portraits classées selon un ordre nouveau et annotées par M. Allem, XVIIe siècle - Philosophes et moralistes, Paris: Garnier 1928, p. 47).

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IL faut tout d'un coup voir la chose d'un seul regard, et non pas par progrès de raisonnement, au moins jusqu'à un certain degré. [...] Ceux qui sont accoutumés à juger par le sentiment ne comprennent rien aux choses de raisonnement, car ils veulent d'abord pénétrer d'une vue et ne sont point accoutumés à chercher les principes. (49) Das Wahrnehmungsvermögen des esprit de finesse ist durch eine Unmittelbarkeit charakterisiert, die den zu beurteilenden Sachverhalt schnell und in seiner Ganzheit erfaßt. Jedes rational differenzierende und analytische Vorgehen wird durch Formulierungen wie «tout d'un coup» oder «pénétrer d'une vue» außer Kraft gesetzt. Die Stufenfolge eines allmählichen Erkennens wird durch den spontanen Eindruck substituiert. Die Urteilsfähigkeit geht wesentlich auf den sentiment zurück, der konsequent gegen die Rationalität ausgespielt wird. Pascal spricht den rationalen Analysen des esprit de géométrie einen bestimmten Erkenntniswert zu, den er allerdings auf den Bereich der Naturerkenntnis und der Mathematik beschränkt wissen will. In der gesellschaftlichen Praxis sind die intuitiven Erfahrungen und Urteile des esprit de finesse allemal zutreffender; ihnen kommt ein höherer Wahrheitsgehalt zu. Die Gemeinsamkeit von La Rochefoucauld und Pascal liegt darin, daß sie beide eine moralistische Hermeneutik entwickelt haben, welche die aufgezeigten Defizite des herkömmlichen ethischen Urteils nicht durch rationale Reflexion auf die eigene Tätigkeit, sondern durch einen spontanen und intuitiven Zugriff überbrücken soll. Der hier postulierte Wahrnehmungs- und Urteilsmodus ist durch einen unvermittelten Zugang charakterisiert, der den jeweiligen Sachverhalt schnell und in seiner Ganzheit erfaßt. Im Rahmen einer hermeneutischen Reflexion kritisieren beide Moralisten den rational-analytischen Zugriff auf die gesellschaftliche Praxis, weil dieser stets interessegeleitet sein soll und das Bewußtsein des Urteilenden von vornherein korrumpiert. Im Vergleich der beiden jansenistisch geprägten Autoren ist La Rochefoucaulds Kritik wesentlich schärfer formuliert, weil Pascal eine vernunftorientierte Wirklichkeitserfahrung im Hinblick auf den esprit de géométrie nicht grundsätzlich ablehnt. Hingegen ist der Bereich naturwissenschaftlicher Erkenntnis für La Rochefoucauld vollkommen irrelevant. Er lehnt ein Urteil, das durch die raison gebildet wurde, grundsätzlich ab.

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Ib., p. 1092sq. - In den Augen von Hugo Friedrich hat Pascal mit diesem Entwurf eine zusammenhängende Erkenntnistheorie entwickelt (Cf. Friedrich, Pascals Paradox. Das Sprachbild einer Denkform, op. cit., p. 360sq).

Abschließend kann festgehalten werden, daß die Maximen nicht allein die hermeneutischen Defizite traditioneller moralistischer Beurteilungen aufzeigen, sondern daß sie außerdem einen Wahrnehmungsund Urteilsmodus entwickeln, der verläßlichere Einschätzungen garantieren soll. Der Zuwachs an Wahrheit zieht eine Reihe neuer Probleme nach sich, die insbesondere die literarische Vermittlung betreffen. Insofern als das Postulat intuitiver Erkenntnis eine hermeneutische Unmittelbarkeit voraussetzt, verweigert es sich generell jeder begrifflichen Vermittlung. Während der Wahrheitsanspruch intuitiver Einsichten an den jeweiligen Moment und an das konkrete Subjekt gebunden ist, abstrahiert ihr begrifflicher Ausdruck notwendig von den konkreten zeitlichen Umständen und situativen Gegebenheiten. Intuitive Erkenntnis und begrifflicher Diskurs sind strukturell vor allem deshalb unvereinbar, weil die intersubjektive Nachvollziehbarkeit einer gemachten Erfahrung, die durch die Mitteilung als solche postuliert ist, den Grundsätzen der Intuition widerspricht. Wahrheit ist für La Rochefoucauld kein kollektives Gut, über das eine Gemeinschaft sprachlich verfugt, sondern ein höchst subjektiver Wert, der in Form intuitiver Erkenntnis erlangt wird. Der erste Abschnitt der 'Réflexion diverses' trägt den Titel 'Du vrai' und beginnt mit den Worten: Le vrai, dans quelque sujet qu'il se trouve, ne peut être effacé par aucune comparaison d'un autre vrai, et quelque différence qui puisse être entre deux sujets, ce qui est vrai dans l'un n'efface point ce qui est vrai dans l'autre: ils peuvent avoir plus ou moins d'étendue et être plus ou moins éclatants, mais ils sont toujours égaux par leur vérité, qui n'est pas plus vérité dans le plus grand que dans le plus petit. (50)

La Rochefoucauld geht gleich zu Beginn des Werks auf den Zusammenhang von intuitiver Erkenntnis und Wahrheit ein und stellt fest, daß widersprüchliche Urteile verschiedener Subjekte sich in ihrem Wahrheitsgehalt weder wechselseitig dementieren noch aufheben; sie stehen einander vielmehr indifferent gegenüber. Auf der Basis des Postulats intuitiver Erkenntnis muß die moralistische Theorie zwangsläufig von einem intersubjektiv verbindlichen WahrheitsbegrifT abrücken und ein komplementäres Nebeneinander verschiedener subjektiver Wahrheiten einräumen.51 50 51

La Rochefoucauld, Réflexions diverses. In: Id., Œuvres complètes, op. cit., p. 503. Dies widerspricht der von Christa Schlumbohm vorgetragenen These, derzufolge die Intention der Maximen La Rochefoucaulds wesentlich in adäquaten Definitionen und Begriffserklärungen zu suchen ist. In diesem Zusammenhang fuhrt sie aus, daß der Autor «nicht einzelne, unzusammenhängende Porträts, sondern Einzelbilder, die aufgrund einer Gemeinsamkeit zu einem erhellenden Sinnganzen zusammen157

Abgesehen von den hermeneutischen Schwierigkeiten dieses innovativen Wahrheitsbegriffe berührt das Problem einer begrifflichen Vermittlung authentischer Erfahrung unmittelbar auch die Frage nach der literarischen Form. Eine diskursive Darstellung komplexer gesellschaftlicher Sachverhalte wird der intuitiven Erkenntnis und dem oben entfalteten Wahrheitsbegriff schon deshalb nicht gerecht, weil mit der Diskursform ein analytischer Zugriff gesetzt ist. Eine argumentativ zergliedernde Vorgehensweise muß jedoch - La Rochefoucaulds eigenen Postulaten zufolge - an der Wahrheit notwendig vorbeigehen. Darüber hinaus ist die Vielfalt unverbundener Wahrheiten diskursiv nicht darstellbar.

gefügt sind», darstelle (Schlumbohm: Definition und Veranschaulichung. Zu einem Grundprinzip preziöser Kleinformen, aufgezeigt an La Rochefoucaulds Maximes und Réflexions diverses. In: Romanistisches Jahrbuch 26 (1975), p. 75). Explizit führt Christa Schlumbohm die Problematik des Wahrheitsbegriffs bei La Rochefoucauld auf das Problem der Perspektive zurück und unterstellt, daß die Wahrheit mit der Summe der möglichen Urteile über einen Gegenstand identisch sei. Insofern die wahren Urteile sich also stets einer endlichen Zahl unterschiedlicher Perspektiven verdanken, werden sie in ihrer Gesamtheit auf einer höheren Ebene erneut zu einem einheitlichen Wahrheitsbegriff zusammengeschlossen. Diesem simplifizierenden Modell ist erstens zu entgegnen, daß die unterschiedlichen Wahrheiten nach La Rochefoucaulds eigenen Angaben unverbunden nebeneinander stehen können und gerade durch ihre wechselseitige Indifferenz charakterisiert sind. Zweitens ist die Aussageform der Maximen zumeist gerade nicht partikularisierend, sondern tendiert zur Generalisierung, wie sich an den häufig verwendeten Formeln presque toujours (Cf. La Rochefoucauld, Œuvres complètes, op. cit., Max. 10, p. 404; Max. 16, p. 405 und Max. 371, p. 452), plus souvent (Cf. ib., Max. 90, p. 415), d'ordinaire (Cf. ib., Max. 302, p. 444) oder la plupart des gens (Cf. ib., Max. 78, p. 413; Max. 238, p. 435; Max. 247, p. 436sq; Max. 368, p. 452 und Max. 440, p. 461) ablesen läßt. Die sogenannten «Einzelbilder» liegen damit zumeist selbst schon in Form generalisierender Aussagen vor, so daß sie nicht etwa partikulare Aspekte, sondern stets Totalität beleuchten (Cf. hierzu auch Serge Meleuc, Structure de la maxime, op. cit., p. 97). Von daher erübrigt es sich, näher auf die Additionshypothese einzugehen. - Drittens wird die Feststellung einer «organischen Einheit von sinnfälliger Auffächerung eines Phänomens» (Cf. Schlumbohm: Definition und Veranschaulichung. Zu einem Grundprinzip preziöser Kleinformen, aufgezeigt an La Rochefoucaulds Maximes und Réflexions diverses, op. cit., p. 84), die einen einheitlichen Wahrheitsbegriff voraussetzt, den zahlreichen Widersprüchen und Unstimmigkeiten der Maximen nicht gerecht. So wird z.B. die sincérité in Maxime 383 als «envie de parler de nous» (ib., Max. 383, p. 454) verurteilt, in Maxime 202 hingegen zum Zeichen wahrer honnêteté stilisiert. Der von Schlumbohm postulierten Homogenität des Gesamtbildes widerspricht de facto die Disparatheit widersprüchlicher Aussagen, die einander unvermittelt gegenüberstehen.

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Aus der Rekonstruktion von La Rochefoucaulds hermeneutischen Positionen wird verständlich, weshalb er gezwungen ist, seine Ansichten in aphoristischer Form darzulegen. Die Maximen, Sentenzen und Reflexionen sind aufgrund ihrer gattungsmäßigen Definition weitgehend dem Anspruch enthoben, komplexe und umfassende Bezüge herstellen zu müssen. In der Form einer lockeren und unzusammenhängenden Maximensammlung können deshalb die intuitiv ermittelten Wahrheiten unverbunden nebeneinander bestehen, ohne daß verstandesmäßige Korrelationen vorgenommen oder gar Schlüsse gezogen werden. Die widersprüchlichen, weil intuitiv ermittelten Wahrheiten, welche die diskursiven Formen nicht verkraften können, werden in ihnen literarisch darstellbar. Außerdem sind Maximen und Sentenzen aufgrund ihrer Gattungsnonnen und des daraus resultierenden Zwanges zu einer ebenso knappen wie prägnanten Formulierung dazu angetan, den Rezeptionsprozeß der postulierten Erkenntnis (intuitiv und plötzlich) anzunähern und eine individuelle Interpretation zu gewährleisten, die ihrerseits dem innovativen Wahrheitsbegriff entgegenkommt. Vor diesem Hintergrund erscheint die literarische Form des Aphorismus als die notwendige Konsequenz der hermeneutischen Reflexion. Die spezifischen Probleme einer Hermeneutik, die sich auf Intuition beruft, können durch die aphoristische Darstellungsform zwar nicht vollständig gelöst werden - weil Intuition sich prinzipiell jeder begrifflichen Fixierung widersetzt -, doch erweist die Maxime als literarische Gattung sich der diskursiven Form früher Moralistik in entscheidenden Punkten als überlegen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß La Rochefoucaulds moralistische Theorie den traditionellen ethischen Bezugsrahmen seiner Vorgänger sprengt und um eine hermeneutische Reflexionsebene erweitert, die, ausgehend von einem moralisch ambivalenten Subjektbegriff, die Frage nach der Möglichkeit moralischer Beurteilungen stellt. Über die Rekonstruktion und die Kritik der verschiedenen Einflüsse, die das moralische Urteil verfalschen und sowohl subjektiven als auch gesellschaftlichen Ursprungs sind, entwickelt der Autor einen innovativen Erkenntnismodus, der von der Intuition des erkennenden Subjekts selbst ausgeht. Dieser Hermeneutik muß allerdings notwendig der intersubjektive Wahrheitsbegriff geopfert werden, der den Widerspruch nicht in sich aufnehmen kann. Zudem stellt der neue Wahrnehmungs- und Urteilsmodus spezifische Probleme an die Techniken literarischer Vermittlung, die sich nur in aphoristischen Gattungen befriedigend lösen lassen.

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Teil V 1. Sozialer Determinismus und Individualität: La Bruyère

«Tout est dit.» Mit dieser resignierenden Einsicht eröffnet La Bruyère sein 1688 erschienenes Werk 'Les caractères ou les mœurs de ce siècle'. Erklärend fugt er hinzu: «[...] et l'on vient trop tard depuis plus de sept mille ans qu'il y a des hommes, et qui pensent. Sur ce qui concerne les mœurs, le plus beau et le meilleur est enlevé; l'on ne fait que glaner après les anciens et les habiles d'entre les modernes» (Des ouvrages de l'esprit, 1). Einerseits stellt er sich mit dieser Diagnose in eine moralistische Tradition, die weit über den hier diskutierten Zeitraum hinausgreift und ihren Ursprung in der Antike hat. Andererseits reflektiert er auf eine Krise der Moralistik, deren traditionelle Thematik (moeurs) er für erschöpft hält, so daß ein zeitgenössischer Autor, will er Wiederholungen vermeiden, nur wenige neue Ansatzpunkte finden kann. Tatsächlich sind einige Krisensymptome nicht von der Hand zu weisen. Nachdem die moralistische Literaturproduktion zwischen 1675 und 1685 deutlich zurückgegangen war,1 setzte erst gegen Ende dieser Dekade ein neuerlicher Veröffentlichungsschub ein, der auf ein wiedererwachendes Interesse an moralistischen Problemen und Fragestellungen schließen läßt. Zu dieser Entwicklung trugen die 'Caractères' wesentlich bei. Die Begeisterung, mit der das Werk aufgenommen wurde, läßt sich nicht nur durch die zahlreichen erweiterten Auflagen in den Jahren 1688 bis 16962 belegen, sondern auch durch die 1

In seiner umfangreichen Bibliographie zur französischen Moralistik führt Raymond Toinet für die Jahre 1655-1670 insgesamt 129 Werke an. Dieser vergleichsweise hohen Zahl stehen in dem anschließenden Zeitraum von 1671-1685 lediglich 87 Titel gegenüber (zugrundegelegt ist jeweils die in der Originalausgabe angegebene Jahreszahl). (Cf. Toinet, Les écrivains moralistes au XVII e siècle, op. cit.). O b w o h l die Bibliographie weit davon entfernt ist, eine vollständige Liste moralistischer Literatur zu bieten, und die Auswahl der aufgenommenen Werke teilweise subjektiv-willkürlichen Kriterien folgt (Cf. die Kritik von Louis van Delft. In: Id., Le moraliste classique - Essai de définition et de typologie, Genève: Droz S.A. 1982, (Histoire des idées et critique littéraire Bd. 202), p. 59), ist sie ohne Zweifel die bislang umfassendste Sammlung in dieser Richtung, mit der sich, nach meiner eigenen Zählung, eine stark rückläufige Veröffentlichungstendenz durchaus dokumentieren läßt.

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Die Erstausgabe der 'Caractères ou les mœurs de ce siècle' erschien im Jahre 1688 bei Estienne Michallet. Ihr folgten noch im gleichen Jahr zwei weitere, identische Ausgaben. Bis zum Jahre 1 6 9 6 folgten in beinahe regelmäßigen Abständen sechs jeweils erweiterte Fassungen

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literarischen Folgeproduktionen bei solchen Autoren, die sich inhaltlich oder stilistisch an La Bruyère orientierten. So kann die bereits am Zahlenmaterial ablesbare Krise ungefähr ab 1 6 8 8 als überwunden geltend Die Rekonstruktion ihrer Ursachen stößt auf einander vergleichbare Forschungspositionen, die sich La Bruyères Auflassung annähern: Für den oben angeführten Zeitraum konstatiert Margot Kruse eine strukturelle Krise der Moralistik, die daher rührt, daß «die Anzahl der Motive ihrer Schriften eng begrenzt und die Reihe der möglichen Antworten auf die immer wiederkehrenden Fragen bald erschöpft [ist] .»4 Louis van Delft registriert eine Stagnation in der moralistischen Theoriebildung, die er anhand einzelner motivischer und wörtlicher Entsprechungen bei La Rochefoucauld, Mme de Sablé und Jacques Esprit nachzuweisen versucht. 5 Angesichts der zeitlichen Übereinstimmung von zurückgehenden Auflagenzahlen und thematischen Wiederholungen in den Krisenjahren liegt es nahe, beide Prozesse ursächlich aufeinander zu beziehen. Stimmt man dieser Interpretation zu, so deutet der Veröffentlichungsschub gegen Ende der achtziger Jahre auf die Erschließung innovativer Themen und auf einen neuen

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(1689, 1690, 1691, 1692, 1694 und 1696), deren Hinzufügungen bei Robert Garapon synoptisch dokumentiert sind (Cf. Garapon, Les Caractères de La Bruyère. La Bruyère au travail, Paris: Société d'édition d'enseignement supérieur 1978, p.76 sq). - Die Angaben bei Garapon lassen erkennen, daß die Anzahl der Portraits in den einzelnen Kapiteln relativ gleichmäßig angehoben wurde. So enthielt beispielsweise das vergleichsweise kleine Kapitel 'De la ville' in der ersten Auflage lediglich vier Aphorismen und wuchs bis 1696 auf 22 Aphorismen an. Demgegenüber versammelte La Bruyère im Kapitel 'De l'homme' bereits im Jahre 1688 73 Portraits, deren Zahl bis zur neunten Auflage auf 159 anstieg. Auch ein quantitativer Vergleich der Zeilenzahl pro Kapitel (erforderlich aufgrund des sehr unterschiedlichen Umfangs der verschiedenen Portraits) zeigt eine homogene Erweiterung (Cf. ib.). Für den Zeitraum von 1686-1700 zähle ich in der Bibliographie Toinets insgesamt 227 Veröffentlichungen, was im Vergleich zu den fünfzehn Jahren davor beinahe eine Verdreifachung bedeutet. Darunter fatten allein neunzehn Werke, die nach 1688 erschienen sind und den Titel 'Caractères' führen (Cf. Toinet, Les écrivains moralistes au XVII e siècle, op. cit.). Margot Kruse, Die Maxime in der französischen Literatur, Studien zum Werk La Rochefoucaulds und seiner Nachfolger, (Hamburger Romanistische Studien Bd. 44), Hamburg: Cram, de Gruyter i960, p. 82. Diese Reduktion moralistischer Motive führt Kruse im gleichen Satz allerdings darauf zurück, daß «es dem Moralisten nicht um das Individuelle [...], sondern um das Typische» gehe, was beispielsweise durch die vorliegende Interpretation der Schriften Mérés als widerlegt gelten kann. Unabhängig von der Begründung scheint mir die Beobachtung einer Reduktion der Motive jedoch zutreffend zu sein. Cf. Louis van Delft, Qu'est-ce qu'un moraliste? In: Cahiers de l'Association internationale des Etudes françaises 30 (1978), p. 115. 161

Zugang zu traditionellen Stoffen hin. Die 'Caractères' leisten beides, denn sie bearbeiten einerseits Fragen und Probleme, die den vorausgegangenen Autoren fremd waren, und heben andererseits die herkömmlichen Theorieentwürfe und Beschreibungsmodelle auf ein neues Reflexionsniveau, womit sie diese zu einem vorläufigen Abschluß bringen. Die Palette der von La Bruyère angesprochenen Themen ist sehr groß und geht weit über die bislang vorherrschenden gesellschaftlichethischen Problemfelder hinaus. In einem universellen Konzept verklammern die 'Caractères' ganz unterschiedliche Bereiche, die das Werk inhaltlich wie formal in sechzehn Kapitel gliedern. Die einzelnen Kapitelüberschriften sind dabei zum Teil nicht schlüssig, sie geben die unter ihnen diskutierten Inhalte nur unzureichend wieder. Aus diesem Grund schlägt Roland Barthes eine neue Großgliederung vor, die die Kapitel mit überwiegend soziologischen Fragestellungen (De la Cour, De la ville) von solchen mit überwiegend anthropologischer Ausrichtung (Des Femmes) unterscheidet. Nach dieser Gliederung problematisiert La Bruyère auch aktuelle politische Fragen (Du Souverain ou de la monarchie) und stellt psychologische Reflexionen an (Du cœur, Du jugement, Du mérite personnel). Darüber hinaus finden sich literarische Wertungen sowie theologische Spekulationen und Apologien.^ Obwohl die thematische Zuordnung der einzelnen Abschnitte, wie sie Barthes vornimmt, nicht immer einsichtig ist,7 trifft seine Beobachtung, daß die hier behandelten Themen den traditionellen Rahmen moralistischer Literatur sprengen, dennoch zu. Im gleichen Sinne spricht Dietrich Schlumbohm von einer Erweiterung des moralistischen Themenkanons bei La Bruyère.8 Für Louis van Delft steht sogar außer Zweifel, «qu'il (La Bruyère, F.W.) veut faire de son livre une somme, un microcosme».9 Insgesamt kann die inhalt6 7

8 9

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Cf. Roland Barthes, La Bruyère. In: Id., Essais critiques, Paris: Ed. du Seuil 1964, p. 223Das Kapitel über den mérite wird von Barthes unter der Rubrik psychologischer Fragestellungen eingeordnet (Cf. Barthes, La Bruyère, op. cit., p. 223). Louis van Delft plaziert das Kapitel 'Du mérite personnel' hingegen im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Gesellschaft (Cf. van Delft, Clarté et cartésianisme de La Bruyère. In: The French review 44 (1970/71), p. 283). Cf. Dietrich Schlumbohm, Die Caractères von Jean de La Bruyère: Politische Parteinahme in moralistischer Form. In: Poetica 8 (1976), p. 37. Louis van Delft, Clarté et cartésianisme de La Bruyère, op. cit., p. 283- An anderer Stelle bezeichnet er die 'Caractères' auch als «fusion passionnée des éléments divers» (M-, La Bruyère moraliste. Quatre études sur les Caractères, Genève: Droz 1971, p. 163). - Auf die «stoffliche und thematische Ausweitung moralistischer Analyse» bei La Bruyère reagiert Dieter Steland mit der Ausgrenzung eines «moralistischen» Teils der Aphorismen, den er sich zum Gegenstand seiner Interpretation wählt (Steland,

liehe Erweiterung der moralistischen Problemfelder als Reaktion auf die oben skizzierte Krise moralistischer Literaturproduktion zu Beginn der achtziger Jahre interpretiert werden. Der Zugriff auf die Portraits von La Bruyère muß also notwendig selektiv sein, damit hinter der Vielfalt Strukturen entdeckt werden können, die dann in einen Zusammenhang mit den oben vorgestellten Theoriemodellen gebracht werden müssen. In dieser Arbeit berücksichtige ich deshalb insbesondere diejenigen Kapitel und Aphorismen, die sich mit dem Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft, mit moralisch-ethischen Grundbegriffen und mit anthropologischen Problemen auseinandersetzen, um deren innovativen Charakter im Kontrast zu den bislang diskutierten moralistischen Positionen offenzulegen und um die Frage nach der literarischen Form des Portraits zu stellen. Damit setzt die Interpretation den Schwerpunkt in den Bereichen der 'Caractères', die den Menschen als soziales Lebewesen betrachten und die, nach Auffassung von Roland Barthes und Michel Guggenheim, als das Kernstück moralistischer Theoriebildung anzusehen sind. 10 2. Amitié und sociabilité Die Struktur eines Wertekonflikts Seit der fünften Auflage aus dem Jahre 1690 enthalten die 'Caractères' im Kapitel 'Du coeur' einen Aphorismus, der den Zustand einer inneren Zerrissenheit des handelnden Subjekts schildert und in groben Zügen analysiert: Quelque désagrément qu'on ait à se trouver chargé d'un indigent, l'on goûte à peine les nouveaux avantages qui le tirent enfin de notre sujétion: de même la joie que l'on reçoit de l'élévation de son ami est un peu balancée par la petite peine qu'on a de le voir au-dessus de nous ou s'égaler à nous. Ainsi l'on s'accorde mal avec soi-même; car l'on veut des

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Moralistik und Erzählkunst - Von La Rochefoucauld und Mme de Lafayette bis Marivaux, München: Fink 1984, p. l65sq). Das Verfahren, literarische Texte immanent zu differenzieren und selektiv auszulegen, ist legitim und im Fall der 'Caractères' auch forschungspraktisch notwendig. - Problematisch erscheint mir jedoch die Unterscheidung von "moralistischen" und - unausgesprochen - "nicht-moralistischen" Werkelementen, die inhaltlich nicht zu begründen ist und auf kategoriale Vorentscheidungen hindeutet, die den Moralistikbegriff zunehmend unscharf werden lassen. Cf. Roland Barthes, La Bruyère, op. cit., p. 224 und Michel Guggenheim, L'homme sous le regard d'autrui ou le monde de La Bruyère. In: PMIA 81 (1966), p. 536.

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dépendants, et qu'il ne coûte rien; l'on veut aussi le bien de ses amis, et s'il arrive, ce n'est pas toujours par s'en réjouir que l'on commence. (Du Cœur, 51)

Diese Feststellung eines Widerspruchs im Bewußtsein des Subjekts ist deshalb bemerkenswert, weil dieser sich nicht auf den traditionellen Gegensatz von raison und passion oder von volonté und devoir zurückführen läßt. Im Unterschied zu den klassischen Grundkonflikten, wie dem zwischen Neigung und Pflicht, in denen das Subjekt unmittelbar gefordert ist, entspringt die ambivalente psychische Disposition hier aus der bloßen Wahrnehmung von Ereignissen, an denen der Handelnde nicht unmittelbar beteiligt ist. La Bruyère exemplifiziert diesen Sachverhalt anhand zweier in ihrem Effekt vergleichbarer Situationen und erläutert diese in einer aufschlußreichen Reflexion. Argumentationstechnisch greift er dabei auf das ebenso anonyme wie generalisierende Pronomen on zurück. Während die innere Zerrissenheit des handelnden Subjekts im ersten Fall als ein «désagrément» beschrieben wird, anläßlich dessen ursächlicher Beseitigung es keine Genugtuung finden kann, spitzt sich der Konflikt im zweiten Fall auf das Nebeneinander von «joie» und «petite peine» zu. Konnte der Empfindungsgegensatz im ersten Beispiel noch in einer zeitlichen Sukzession aufgehoben und dadurch abgeschwächt werden, so stehen die gegensätzlichen und strukturell unvereinbaren Empfindungen im zweiten Fall einander unvermittelt gegenüber. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Aphorismus vor allem dadurch, daß das problematische Aufeinandertreffen gegensätzlicher Affekte in der allgemeinen Reflexion keineswegs als Ausnahme, sondern als Regelfall interpretiert wird. Die skizzierten Ereignisse, die den inneren Widerspruch herbeiführen, haben eine ähnliche Grundstruktur: In beiden Fällen wird der Zwiespalt, den das Subjekt empfindet, durch Verschiebungen in der sozialen Hierarchie und den daraus resultierenden veränderten Sozialverhältnissen ausgelöst. Während der soziale Abstieg des «indigent» ein Abhängigkeitsverhältnis stiftet, das für den «désagrément» verantwortlich ist, wird die ambivalente Gefühlsdisposition im zweiten Fall durch den sozialen Aufstieg des Freundes hervorgerufen, also gerade durch die gegenläufige Bewegung. Das erste Beispiel kann also auf den Konflikt von Status- (Anzahl der untergebenen Personen) und finanziellen Interessen (Kosten aufwendiger Hofhaltung) zurückgeführt werden, wie sie Norbert Elias in den Überlegungen zur höfischen Gesellschaft anhand des Gegensatzes spezifisch aristokratischer bzw. bürgerlicher Wertehorizonte interpretiert. Der Widerspruch zwischen den gesellschaftlichen Status- und Prestigechancen und den 164

finanziellen Machtchancen soll an dieser Stelle nicht noch einmal dargestellt werden, weil dies nur zu der wenig fruchtbaren Frage der politisch-ideologischen Zuordnung La Bruyères fuhren w ü r d e . 1 1 Wesentlich aufschlußreicher ist hingegen eine Untersuchung des zweiten Konflikts, den La Bruyère beschreibt: die ambivalente Gefühlsdisposition des Subjekts, das den gesellschaftlichen Aufstieg seines Freundes beobachtet. Im Rahmen einer näheren Erläuterung der geschilderten Gefuhlsambivalenz wird die «joie» mit den Worten «on veut [...] le bien de ses amis» dargestellt, während die «petite peine» daraus entsteht, «de le voir (son ami, F.W.) au-dessus de nous ou s'égaler à nous.» Die gegensätzlichen Empfindungen sind also in sich begründet und stehen in unterschiedlichen Rechtfertigungszusammenhängen, denen das Subjekt zur gleichen Zeit unterworfen ist. Was La Bruyère im obigen Aphorismus als Ausdruck innerer Zerrissenheit des handelnden Subjekts auflaßt, kann von diesem Stand der Analyse aus als latenter Wertekonflikt interpretiert werden, in dem zwei unterschiedliche

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La Bruyères Werke sind in ihrer wissenschaftlichen Rezeption unterschiedlichen politisch-ideologischen Grundpositionen zugerechnet worden, auf die ich nur kurz eingehen möchte, indem ich zwei exponierte Interpretationen einander gegenüberstelle: Nach Auffassung von Gerhard Hess sind die 'Caractères' «ein Bild dessen, was im sozialen Bewußtsein eines Bürgerlichen in aristokratischer Umgebung sich als Gesellschaft darstellen konnte» (Hess, Wandlungen des Gesellschaftsbildes in der französischen Literatur. In: Id., Gesellschaft - Literatur Wissenschaft. Gesammelte Aufsätze 1938-1966, ed. H.-R. Jauß et al., München: Fink 1967, p. 8), womit sie einer vorwärtsweisenden bürgerlichen Ideologie zugeteilt werden. Noch deutlicher kommt diese Zuordnung bei Corrado Rosso zum Ausdruck, der in La Bruyère «un precursore dei 'philosophes' del Settecento» erblickt (Rosso, La Bruyère e la morale dei 'Caratteri'. In: Filosofia 2 (1963), p. 216). - In anderen Interpretationen, wie der von Erica Harth, wird La Bruyères Weltanschauung schlicht als «fundamentally reactionary» (Harth, Classical disproportion: La Bruyère's Caractères. In: L'esprit créateur 15 (1975), p. 210) bezeichnet. - Beide Ansätze sind inhaltlich dadurch gekennzeichnet, daß sie die Widersprüche des Werks als gegeben hinnehmen und die jeweils favorisierte ideologische Position gegenüber der anderen ausspielen, d.h. die Widerspruchsstruktur einseitig auflösen, anstatt sie selbst zum Gegenstand der Textauslegung zu machen. Die Diskussion um politisch-ideologische Zurechnungen hat, wie Hans Sanders in seiner hervorragenden Studie zu Recht feststellt, zu einer Reihe gegensätzlicher Positionen geführt, die sich inhaltlich kaum vermitteln lassen und an die nicht angeknüpft werden kann (Cf. Sanders, Moralistik und höfische Institution Literatur: La Bruyère. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 2/3 (1981), p. 194). - Die vorliegende Arbeit zieht hieraus die Konsequenz, die Struktur der Widersprüche selbst zu problematisieren, statt sie einer weltanschaulichen Beurteilung von geringem Erkenntniswert zu opfern. 165

normative Bezugssysteme im Subjekt aufeinandertreffen. Dabei ist das für die «joie» verantwortliche System durch eine rein personal-affektive Beziehung charakterisiert, in der sich die Handelnden unabhängig von ihrem sozialen Rang begegnen und in der sie im weitesten Sinne altruistisch motiviert sind. Dieses Verhaltensmodell subsumiert La Bruyère unter dem BegrifF amitié. Demgegenüber wird die «petite peine» durch eine sozial vermittelte Interaktion ausgelöst, in der die Subjekte sich über soziale Hierarchien definieren, die ihnen heterogen sind, und sich auf diese Weise zueinander in Beziehung setzen. Während der soziale Status des handelnden Subjekts für die Interaktion innerhalb der amitié vollkommen irrelevant ist, kommt ihm jedoch innerhalb des zweiten normativen Orientierungsrahmens, der hier als sociabilité bezeichnet werden soll, große Bedeutung zu. Der offensichtliche Wertekonflikt kann somit als Gegensatz unterschiedlicher normativer Bezugssysteme sozialen Handelns beschrieben werden, in denen der Handelnde sich entweder an denjenigen Normen orientiert, die sein Verhalten entsprechend den sozialen Gegebenheiten einer bestimmten Kommunikationssituation determinieren, oder an denjenigen, die aus statusindifferenten Werten abgeleitet sind und intersubjektive Relationen nach festen persönlichen Bindungen gestalten. Das Bewußtsein des Subjekts kann diese strukturell verschiedenen Normensysteme nicht harmonisieren: sie verursachen den Riß in der persönlichen Erfahrung. Die Normen der sociabilité entsprechen strukturell weitgehend dem bereits bekannten Modell der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen. Innerhalb dessen orientiert sich das handelnde Subjekt an der Maxime des eigenen gesellschaftlichen Aufstiegs und reflektiert sein Verhalten im Hinblick auf das Sozialprestige seiner Kommunikationspartner. Insofern als der eigene soziale Status sich stets relativ zu dem der anderen Subjekte verhält, muß jeder Prestigegewinn der Konkurrenten als der persönlichen sozialen Position abträglich empfunden werden. Das Verhalten innerhalb der sociabilité beruht deshalb auf dem Prinzip der Konkurrenz und des Egoismus. Die Beziehungen zwischen den Subjekten werden durch das jeweilige Sozialprestige bestimmt und sind gesellschaftlich vermittelt. Die «petite peine» kennzeichnet eine subjektive Reaktion im Rahmen des normativen Bezugssystems sociabilité: den Neid auf den Erfolg des Freundes, den das Subjekt aber nicht empfinden darf. Innerhalb eines geschlossenen Systems, in dem sich die Subjekte über ihren sozialen Rang differenzieren, kommt der Aufstieg Anderer - auch wenn es sich dabei um Freunde handelt - fast immer der eigenen Degradierung gleich. Angesichts der Umgestaltung der Hierarchie, auf deren vertikale 166

Verschiebungen das Subjekt entweder mit «joie» oder «peine» reagiert, sind die immanenten Konflikte nur vermeidbar, solange soziale Beziehungen ausschließlich als Konkurrenzverhältnis verstanden werden. Ein anderes Modell des sozialen Umgangs postuliert hingegen die amitié, innerhalb derer das Handeln nicht durch Standesunterschiede beeinflußt wird. Entsprechend dieser Konstruktion bleiben auch Verschiebungen in der Hierarchie ohne Einfluß auf die Form der intersubjektiven Beziehungen. Die Handelnden verstehen sich nicht als Konkurrenten, sondern als Partner mit gleichen Interessen. Erst durch die Differenz von ranggebundener sociabilité und standesneutraler amitié, die in das Subjekt fallt, wird die Möglichkeit einer dualistischen Werteordnung geschaffen. Die Folge ist die innere Zerrissenheit des Subjekts, das den objektiven Konflikt in sich auszutragen hat. Durch seine Unabhängigkeit von den sozialen Rahmenbedingungen stellt die amitié grundsätzlich andere Anforderungen an die handelnden Subjekte als die sociabilité. In dem oben zitierten Abschnitt 'Du Cœur' wird das intersubjektive Konkurrenzverhältnis mit der partnerschaftlichen amitié konfrontiert, deren immanente Postulate La Bruyère ausführlich diskutiert: «L'amitié», so heißt es in einem der ersten Aphorismen dieses Kapitels, «a besoin de secours: elle périt faute de soins, de confiance et de complaisance» (Du Cœur, 5). Die Differenz gegenüber dem Normensystem sociabilité, das eine vergleichbare Vertrauensbasis nicht kennt, ist evident. Vor allen Dingen wendet sich ein an der amitié orientiertes Verhalten gegen den intérêt, von dem es heißt: Il est doux de voir ses amis par goût et par estime; il est pénible de les cultiver par intérêt; c'est solliciter. (Du Cœur, 57, Hervorhebung von La Bruyère)

Innerhalb der amitié gehen die Subjekte auf der Grundlage gegenseitiger Wertschätzung miteinander um (goût, estimé). Sie sollen aus ihrer Beziehung keine Ansprüche ableiten, die dem Wesen der Freundschaft entgegenstehen, sondern allein die positiven Eigenschaften des anderen achten. Unter den Bedingungen eines interessegeleiteten Verhaltens - und dies heißt für den Moralisten des 17. Jahrhunderts eines aufstiegsorientiert-ambitionierten Verhaltens - treten diese Eigenschaften jedoch hinter die soziale Bedeutung des Subjekts und sein Prestige zurück. Die gesellschaftliche Stellung des 'Freundes' wird für das eigene Fortkommen instrumentalisiert. Der intérêt steht demnach für ein Verhalten, das den Rahmen des normativen Bezugssystems amitié sprengt, in dessen Mittelpunkt das Subjekt als solches steht, unabhängig von seiner sozialen Position. Innerhalb der amitié 167

wird das Verhalten an den Subjekten selbst gerechtfertigt, wodurch die soziale Hierarchie als Bezugspunkt der Interaktion suspendiert wird. Auch an anderer Stelle werden intérêt und amitié als gegensätzliche Begriffe definiert, die sich wechselseitig ausschließen. 12 La Bruyère erläutert die rein auf die Eigenschaften des Subjekts gegründete Beziehung innerhalb der amitié im Kapitel 'Du mérite personnel', in dem er in einem - für die 'Caractères' untypischen imperativischen Ton spricht: Il ne faut regarder dans ses amis que la seule vertu qui nous attache à eux, sans aucun examen de leur bonne ou de leur mauvaise fortune; et quand on se sent capable de les suivre dans leur disgrâce, il faut les cultiver hardiment et avec confiance jusques dans leur plus grande prospérité. (Du mérite personnel, 19)

Das Verfahren, in der Betrachtung handelnder Subjekte zwischen vertu und fortune zu differenzieren, konnte bereits bei Faret und de Refuge nachgewiesen und als Nebeneinander von substantiellen und akzidentellen Qualitäten dargestellt werden. Überträgt man die aus den Schriften dieser Autoren abgeleiteten Begriffe auf das Modell der amitié bei La Bruyère, so ergibt sich, daß sich die unter ihr subsumierten Beziehungen auf die substantielle Qualität der handelnden Subjekte stützen und sich am Komplex vertu/morale orientieren. Die gesellschaftliche Anerkennung dieser Qualitäten (fortune) ist demgegenüber vollkommen irrelevant. Insbesondere ist hervorzuheben, daß akzidentelle und substantielle Qualität hier nicht mehr zu vermitteln sind. Der Bruch der prästabilierten Harmonie wird auf der Bewußtseinsebene des Subjekts rekonstruiert und kommt darin zum Ausdruck, daß die unterschiedlichen Normensysteme nicht mehr synthetisiert werden können. Auf die Konsequenzen dieser Entwicklung für die literarische Form wird noch zurückzukommen sein. Rein inhaltlich ist La Bruyères Feststellung kein Fortschritt gegenüber Méré und La Rochefoucauld, sehr wohl aber gegenüber Faret und de Refuge. Bemerkenswert ist vor allem auch die Schlußfolgerung, die La Bruyère im zweiten Teil des obigen Aphorismus zieht: «Quand on se sent capable de les (les amis, F.W.) suivre dans leur disgrâce, il faut les cultiver hardiment et avec confiance jusques dans leur plus grande prospérité.» (Du mérite personnel, 19). Entgegen der zu erwartenden 12

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Cf. p.e. De l'homme, 28: «Rien n'engage tant un esprit raisonnable à supporter tranquillement des parents et des amis les torts qu'ils ont à son égard, que la réflexion qu'il fait sur les vices de l'humanité, et combien il est pénible aux hommes d'être constants, généreux, fidèles, d'être touchés d'une amitié plus forte que leur intérêt.»

Einschätzung, daß nämlich das normative Bezugssystem amitié dort an seine Grenzen stößt, wo das Sozialprestige der handelnden Subjekte unter ein bestimmtes Niveau herabsinkt (disgrâce), postuliert die Argumentation überraschend umgekehrt, daß gerade ein gehobenes Sozialprestige den Handelnden gefahrlich wird. Folgt man der impliziten Logik des Aphorismus, so stehen die akzidentelle Qualität und die Normen der amitié einander unversöhnlich gegenüber. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Die Antwort liegt in der dualistischen Konstruktion der beiden normativen Bezugssysteme selbst. Im Hinblick auf die amitié kann festgehalten werden, daß deren Postulate die Ordnung einer hierarchisch streng gegliederten Hofgesellschaft tendenziell unterlaufen. Insofern als die Legitimation der Hierarchie auf der Grundlage verschiedener normativer Bezugssysteme notwendig problematisch wird, erzeugt der Dualismus unterschiedlicher Wertesysteme nicht nur ambivalente Gefühlsdispositionen im handelnden Subjekt, sondern er wirft ebenso Sinnfragen auf, die La Bruyère zu beantworten sucht. Die Legitimation einer gesellschaftlichen Ordnung, die auf dem Prinzip gerechtfertigter sozialer Ungleichheit errichtet ist, kann vor dem Hintergrund des oben entfalteten Widerspruchs von akzidenteller Qualität (fortune) und substantieller Qualität (Fähigkeit zur amitié) offenbar nur im Rahmen der sociabilité geleistet werden. In bezug auf den Erhalt hierarchischer Strukturen kommen der sociabilité somit affirmative, der amitié hingegen kritische Funktionen zu. Die überlieferten sozialen Organisationsformen können unter dem Vorzeichen dieser dualistischen Werteordnung nur dann bewahrt werden, wenn der latent destabilisierenden amitié ihre gegen die traditionelle Gesellschaft gerichtete Spitze genommen wird. Die Mechanismen, die das kritische Normensystem entschärfen sollen, lassen sich aus den 'Caractères' rekonstruieren. Das handelnde Subjekt orientiert sich an variierenden Normensystemen, die sein Verhalten in unterschiedlicher Weise determinieren und in der gesellschaftlichen Praxis nachweisbar sein müssen. Um seine These zu erhärten, erläutert La Bruyère die Funktion der latent kontradiktorischen Bezugssysteme an einzelnen Fallbeispielen. Er entwickelt eine innovative literarische Technik, das mettre en acte, ^ 13

Um die Lebendigkeit der 'Caractères' von der «sechéresse algébrique» der Maximen La Rochefoucaulds abzugrenzen, ordnet Roland Barthes ihnen die literarische Technik des mettre en acte zu, die La Bruyère dazu benutzt, «à masquer le concept sous le percept» (Barthes, La Bruyère, op. cit., p. 232). Die begriffliche Auseinandersetzung mit bestimmten Persönlichkeits- oder Gesellschaftsmerkmalen wird durch eine exemplarisch-szenische Darstellung ersetzt. - In die gleiche Richtung

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durch die er die nicht anschauliche Abstraktion des Begriffe in einer fiktiven Figur aufhebt, ohne dessen essentiellem Gehalt zu schaden: der ambitieux Périandre verkörpert die ambition. La Bruyère schuf diese Gestalt, um den Begriff der fortune an ihr lebendig werden zu lassen: «[...] elle lui donne du rang, du crédit, de l'autorité; déjà on ne le prie plus d'accorder son amitié, on implore sa protection» (Des biens de fortune, 21). Dieser relativ lange Aphorismus spricht nicht von den normativen Bezugssystemen als solchen, sondern stellt die Veränderungen im Verhalten der Subjekte unter den Bedingungen sozialer Statusveränderungen in exemplarischer Form dar. Das mettre en acte veranschaulicht amitié und sociabilité durch ihre Wirkungen in der Praxis. Der gesellschaftliche Aufstieg Périandres, der durch die Attribute rang, crédit und autorité evoziert wird, zieht auf der Ebene sozialer Interaktion eine Zäsur nach sich, die La Bruyère als Übergang von der amitié zur protection bezeichnet. Insofern als die protection notwendig einen sozialen Standesunterschied der Subjekte voraussetzt, kann sie als Handlungsstrategie in der Konkurrenz um Statusund Prestigechancen verstanden werden. Deshalb orientiert sich Périandre nach vollzogenem Aufstieg an der Institution sociabilité. Dabei weist der Negationspartikel ne [...] plus auf die offensichtliche Unvereinbarkeit von amitié und gehobenem Sozialprestige hin, die bereits in 'Du mérite personnel, 19' angesprochen wurde. Für den Angehörigen der sozialen Oberschichten kann ein Verhalten, das ausschließlich oder überwiegend an der amitié orientiert ist, nicht akzeptiert werden, oder, anders formuliert: Der Übergang von amitié zur sociabilité vollzieht sich parallel zum gesellschaftlichen Aufstieg des handelnden Subjekts. Durch das mettre en acte exemplifiziert La Bruyère im Portrait Périandres, daß der Geltungsanspruch der verschiedenen normativen Bezugssysteme vom sozialen Rang der Subjekte selbst abhängt. Auf diese Weise können auch andere Aphorismen interpretiert werden. So geht La Bruyère im Abschnitt «De la cour» auch auf den Zusammenhang von sozialem Status und amitié ein:

weisen auch die Analysen von Hans Feiten, der die Konstruktion einzelner Portraits durch spezifisch novellistische Kunstmittel, wie dem Hinarbeiten auf eine Pointe (trait final), der Betonung der Macht des Zufalls und verschiedener Verkürzungstechniken bestimmt sieht (Cf. Feiten, Zum novellistischen Erzählen bei La Bruyère. In: Romanische Forschungen 87 (1975), p. 501sq). Von Bedeutung ist in unserem Zusammenhang insbesondere der Hinweis auf die narrative Bearbeitung der traditionellen moralistischen Themen, die auch der Begriff des mettre en acte anspricht.

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C'est beaucoup tirer de notre ami, si ayant monté à une grande faveur, il est encore un homme de notre connaissance. (De la cour, 25)

Der Aphorismus schildert die Veränderungen sozialer Interaktion infolge gesellschaftlicher Statusveränderungen - hierin ähnelt er der exemplarischen Beschreibung der ambition und der fortune in der Figur des Périandre. Im Gegensatz zu der bisherigen Argumentation scheint die Kontinuität des sozialen Handelns, die bei Périandre jäh gebrochen war, hier dadurch gewährleistet zu sein, daß La Bruyère am Begriff «ami» festhält. Die Formulierung deutet zunächst darauf hin, daß der aufgeworfene Standesunterschied durch ein an der amitié orientiertes Verhalten überbrückt werden könnte, wenn nicht der Widerspruch der Bezugssysteme, den das Subjekt in sich aushalten muß, implizit mitgesetzt wäre. Wenn die Überbrückung gelänge, so würden die soziale Hierarchie als normative Richtschnur gesellschaftlicher Interaktion weitgehend suspendiert und das System sociabilité praktisch folgenlos sein. La Bruyère kündigt mit den Worten «beaucoup tirer de» den Wechsel der Bezugssysteme an, indem er jetzt ein von persönlichen Interessen geleitetes Verhalten beschreibt, das mit den Grundsätzen der amitié unvereinbar ist. Der stilistische Ausdruck hierfür ist die ironische Verwendung des Begriffs «ami», der eine doppelte Funktion erfüllt: einerseits erinnert er an die durch die sociabilité abgelöste amitié, andererseits hebt er in ironisch gebrochener Form als negatives Vexierbild die neue Relevanz der sociabilité in Beziehung auf die Subjekte hervor. Darüber hinaus verweist die Wendung «homme de notre connaissance» auf eine soziale Distinktion, in der die Subjekte sich nur noch über ihr Sozialprestige definieren. La Bruyère harmonisiert den kontradiktorischen Widerspruch zwischen amitié und sociabilité, indem er ihn sukzessiv aufzulösen versucht: das eine Bezugssystem wird durch das andere ersetzt. Dennoch kann er dem Widerspruch nicht entgehen, wie die Verwendung des Begriffs «ami» im zitierten Passus beweist. Die jetzt gültige sociabilité kann ohne den Verweis auf ihr Gegenteil, den zentralen Begriff der amitié, gar nicht dargestellt werden. Es bedarf also notwendig der Relation mit seinem Anderen, welche es doch durch seine reale Existenz aufheben wollte. Erneut stoßen demnach gehobenes Sozialprestige und amitié aufeinander, ohne daß die Möglichkeit einer Versöhnung in Aussicht gestellt wird. Die beiden Bezugssysteme, die das gesellschaftliche Handeln maßgeblich bestimmen, werden verschiedenen sozialen Statusgruppen in der Weise zugeordnet, daß einem Aufstieg in der Hierarchie der Wechsel des Bezugssystems notwendig folgt. 14 Die Wahrscheinlichkeit, daß das Subjekt sich in seinen Handlungen an der 171

amitié orientiert, nimmt mit steigendem Sozialprestige ab, präziser formuliert: Die Interaktion der gesellschaftlichen Spitzen scheint a priori auf sociabilité festgelegt zu sein. Dieser Nexus von sozialem Rang und normativem Bezugssystem ist nicht absolut, sondern schließt die Möglichkeit ein, daß sich der Handelnde auch anderweitig orientiert, denn ohne die gleichzeitige Respektierung unterschiedlicher Werteordnungen kann die innere Zerrissenheit des Subjekts nicht plausibel erläutert werden. Wie ist diese Zuordnung der unterschiedlichen Systeme normativer Orientierung sozialhistorisch zu erklären, und welche Funktion kommt ihr in La Bruyères theoretischem Entwurf zu? Durch die Analyse der objektiven Zerrissenheit des Subjekts konnte gezeigt werden, d a ß d e r amitié

u n d der sociabilité

unterschiedliche Verhaltensweisen

entsprechen. Während der Verhaltenscode der letzteren maßgeblich auf die Hierarchie bezogen ist und die Handlungsmotivation des Subjekts über den intérêt mit der Gesellschaft vermittelt, ist die soziale Ordnung im Rahmen der amitié weitgehend handlungsirrelevant. Im Gegensatz zur affirmativen sociabilité

widerspricht ein a n der

amitié

orientiertes Verhalten dem idealtypischen Zustand einer streng hierarchisch gegliederten Hofgesellschaft, wie er in den 'Caractères' beschrieben wird. Darin manifestiert sich die latent kritische Funktion der amitié. Auf der Grundlage dieser Funktionsbestimmungen (affirmativ bzw. kritisch) läßt sich die wechselseitige Relation von Status und Bezugssystem so interpretieren: Insofern als die Normen der amitié das Prinzip legitimer Ungleichheit, auf dem die höfische Gesellschaft basiert, potentiell negieren, müssen die für die Wahrung der Ordnung maßgeblichen Spitzengruppen auf andere Bezugssysteme sozialer Interaktion verpflichtet werden. Dennoch kann La Bruyère die amitié für die privilegierten Gruppen nicht vollständig eliminieren. Der normative Dualismus evoziert einen manifesten Wertekonflikt, dessen destabilisierende Tendenz nur unter der Voraussetzung aufgefangen und kontrolliert werden kann, daß die hierfür verantwortlichen Postulate der amitié überwiegend auf die unteren Stände beschränkt bleiben. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weshalb der Aufstieg des Subjekts von einem Wandel in der normativen Orientierung begleitet 14

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Cf. z.B. Des grands, 50: «Pamphile ne s'entretient pas avec les gens qu'il rencontre dans les salles ou dans Les cours: si l'on en croit sa gravité et l'élévation de sa voix, il les reçoit, leur donne audience, les congédie; il a des termes tout à la fois civils et hautains, une honnêteté impérieuse et qu'il emploie sans discernement; il a une fausse grandeur qui l'abaisse, et qui embarrasse fort ceux qui sont ses amis, et qui ne veulent pas le mépriser.»

sein muß: Das kritische Potential einer vom sozialen Rang der Subjekte unbeeinflußten Interaktion stellt die Legitimität der absolutistischen Ständeordnung in Frage. La Bruyère versucht, die destabilisierende Tendenz der amitié theoretisch zu eskamotieren, indem er ihren Geltungsanspruch auf die unterprivilegierten Stände beschränkt. Trotz dieser Argumentationsstrategie, den latenten Widerspruch zwischen den normativen Bezugssystemen dadurch zu überwinden, daß sie auf verschiedene Stände verteilt werden, gelingt es La Bruyère nicht, den Wertekonflikt im Bewußtsein des handelnden Subjekts zu tilgen. Die historisch neue Erfahrung der Zerrissenheit, die in das Subjekt selbst fällt, konnte La Bruyère mit den traditionellen literarischen Techniken nicht adäquat erfassen, weil diese stets die Vermittlung von Darstellung (des Besonderen) und Reflexion (des Allgemeinen) voraussetzen. Durch das Kunstmittel des mettre en acte ist es ihm möglich gewesen, gesellschaftliche Krisen- und Umbruchsphänomene, die einer theoretisch-abstrakten Diskursivität noch nicht zugänglich waren, vorzustellen und zu bearbeiten.

2.1 Mechanismen gesellschaftlicher Determination und soziale Diskursformen La Bruyère ersetzt das traditionelle moralistische Erklärungsmodell der gesellschaftlichen Interaktion, demzufolge die moralischen Normen im Bewußtsein des handelnden Subjekts selbst verankert sind (in Form substantieller Qualität), durch eine Interpretation, die das Verhalten als eine an normativen Bezugssystemen orientierte Interaktion beschreibt. Die 'Caractères' führen die Verhaltensweisen des Subjekts nicht mehr auf individuelle Anlagen und persönliche Dispositionen zurück, sondern auf objektive Strukturen, die für alle Menschen verbindlich sind. Dieser neue Ansatz verfolgt das Ziel, das reale Verhalten der Menschen auf äußerliche Determinationsmechanismen zurückzufuhren, die das handelnde Subjekt entweder auf die amitié oder auf die sociabilité verpflichten. Obwohl La Bruyère die Geltung der oben genannten Systeme sozial differenziert, zeigt doch die Schilderung der inneren Zerrissenheit, daß die Entscheidung für einen bestimmten Verhaltenscode nicht ausschließlich durch den sozialen Rang, den das Subjekt bekleidet, bestimmt wird. Die Mechanismen, die den Handelnden an bestimmte Normen verweisen, werden in den verschiedenen Portraits durch die Darstellung zahlreicher Einzelfalle ermittelt. Sie sollen nunmehr auch begrifflich rekonstruiert werden. 173

Die Diskontinuität eines an unterschiedlichen Normensystemen orientierten Verhaltens veranschaulicht La Bruyère am Beispiel des allgemein gehaltenen Portraits eines homme de robe. Der Zustand innerer Zerrissenheit infolge einer normativ widersprüchlichen Orientierung wird in dem folgenden Aphorismus aus einer neuen Perspektive gesehen: Un homme de robe à la ville, et le même à la cour, ce sont deux hommes. Revenu chez soi, il reprend ses mœurs, sa taille et son visage, qu'il y avait laissés: il n'est plus ni si embarrassé, ni si honnête. (De la ville, 8)

Als Angehöriger der robe zählt das portraitierte Subjekt sozialhistorisch zur ville. Entsprechend dem sozialen Determinismus erscheint es durch die Formulierung «revenu chez soi» fest in diese bürgerliche Lebenswelt integriert, der charakteristische mœurs zugeordnet werden. Bereits der erste Satz jedoch läßt keinen Zweifel daran, daß dieser Verhaltenscode nicht zwingend verbindlich und der homme de robe durchaus zu einem Verhalten fähig ist, welches den Regeln der ville nicht entspricht: «Ce sont deux hommes». Im Rückgriff auf die literarisch-narrative Technik des mettre en acte setzt La Bruyère den homme de robe in verschiedene soziale Umfelder (cour und ville) und registriert daraufhin einige markante Verhaltensänderungen. Das handelnde Subjekt orientiert sich in seinem Verhalten an unterschiedlichen Normensystemen, ohne daß sich sein eigener sozialer Status als solcher verändert, denn nach seiner Rückkehr vom Hofe nimmt es erneut die für die ville charakteristischen Verhaltensweisen an. Der Autor interpretiert den durch die Gegensätzlichkeit der normativen Bezugssysteme hervorgerufenen Verhaltenswandel als Persönlichkeitsspaltung. In direkter Gegenüberstellung mit den höfischen mœurs wird die der ville zugerechnete Interaktion zwar als weniger embarrassé, aber auch als weniger honnête charakterisiert. Damit stellt La Bruyère fest, daß die Interaktion der Subjekte nicht nur standesspezifisch auszulegen ist, sondern vor allem davon ausgehen muß, daß der Handelnde sich den abweichenden Normen einer ihm fremden sozialen Umgebung anpaßt. Daraus folgt, daß die Entscheidung für ein bestimmtes normatives Bezugssystem nicht durch den sozialen Rang festgelegt wird (damit wäre die Persönlichkeitsspaltung des homme de robe nicht zu erklären), sondern durch die konkreten Umstände und Bedingungen des Handelns in der Gesellschaft. Die komplexen Mechanismen, die das Subjekt determinieren, liegen also in den sozialen Strukturen und Verkehrsformen selbst und verändern sich von 174

Situation zu Situation. Eine Zusammenschau mehrerer Aphorismen macht das deutlich. In dem berühmten Doppelportrait von Cimon und Clitandre (De la cour, 19) beschreibt La Bruyère exemplarisch das Verhalten im Umfeld des Hofes: «Qui pourrait les représenter exprimerait l'empressement, l'inquiétude, la curiosité, l'activité, saurait peindre le mouvement. On ne les a jamais vus assis, jamais fixes et arrêtés: qui même les a vus marcher? on les voit courir, parler en courant, et vous interroger sans attendre de réponse. Ils ne viennent d'aucun endroit, ils ne vont nulle part: ils passent et ils repassent.» Beide verkörpern den Typus des Höflings, dessen geschäftiges, fast hektisches Gebaren in reziprokem Verhältnis zu seiner Funktion am Hofe steht, welche gerade dadurch bestimmt wird, daß er nichts tut, als zu repräsentieren. Da das vorgebliche Tun in Wahrheit nur eine besondere Form des Nichtstuns ist, kann La Bruyère aufgrund dieser paradoxen Ausgangssituation die Spannung zwischen den divergierenden Extremen gestalten und sie als kritischen Einwand gegen die herrschenden Verhältnisse bei Hofe benutzen. Die Darstellung der vielfältigen Aktivitäten, die nie zu konkreten Ergebnissen führen, dient dem Zweck, die wirkliche soziale Funktion des mouvement hervorzuheben: «Ils ne sont pas les Satellites de Jupiter, je veux dire ceux qui pressent et qui entourent le prince, mais ils l'annoncent et le précèdent; ils se lancent impétueusement dans la foule des courtisans; tout ce qui se trouve sur leur passage est en péril. Leur profession est d'être vus et revus.» (De la cour, 19) Die letzten vier Worte ergeben das wirkliche Handlungsmotiv. Die Kombination des Begriffs profession mit dem Topos des Sehen-und-Gesehenwerdens macht deutlich, daß der Sinn ihres täglichen Treibens ausschließlich in der Selbstdarstellung liegt. Diese wiederum ist ein integraler Bestandteil des höfischen Lebens. La Bruyère skizziert also die sozialhistorisch nachweisbare Verhaltensmaxime des se faire voir, die Michel Guggenheim zu Recht als ein Leitmotiv der 'Caractères' hervorhebt. 15 Tatsächlich läßt sich das se faire voir in unterschiedlichen Portraits nachweisen: Das Leben auf den städtischen Plätzen sieht der Autor als einen «concours général, où les femmes se rassemblent pour montrer une belle étoffe, et pour recueillir le fruit de leur toilette [...]» (De la ville, 3)- Wenn die Frauen versuchen, sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild gegenseitig zu übertreffen, unterwerfen sie sich einem Rollenverhalten, das La Bruyère als Konkurrenzsituation ausweist. Für unsere Frage nach den Mechanismen, die das handelnde Subjekt auf ein bestimmtes norma15

Cf. Michel Guggenheim, L'homme sous Le regard d'autrui ou le monde de La Bruyère, op. cit., p. 535.

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tives Bezugssystem verpflichten, ist dieser Aphorismus insofern von Bedeutung, als er das se faire voir in die Nähe des Konkurrenzprinzips rückt, welches auch für das Handeln innerhalb der sociabilité charakteristisch ist. Näheren Aufschluß über die Art der durch diese Verhaltensmaxime ausgelösten Konkurrenz bietet die Darstellung der «promenade publique», von der es heißt: «[...] l'on y passe en revue l'un devant l'autre: carrosse, chevaux, livrées, armoiries, rien n'échappe aux yeux, tout est curieusement ou malignement observé [...]» (De la ville, 1). Während der öffentlichen Spaziergänge beobachten die Menschen die zur Schau gestellten Statussymbole, wie Kutschen, Pferde und Kleidung, so daß sich ihr Verhalten im Rahmen des se faire voir nahtlos in die Konkurrenz um Status- und Prestigechancen einfügt. - Zusätzlich geben mehrere Einzelportraits Einblicke in dieses Verhaltensmuster. Ein Beispiel ist die Charakterisierung des Onuphre, der sich vor dem Betreten einer Kirche umschaut, um festzustellen «de qui il peut être vu» (De la mode, 24) und die religiöse Praxis durch das se faire voir entwertet. Mit Onuphre exemplifiziert La Bruyère die vielfältigen Erscheinungsformen des hier beschriebenen Verhaltenstypus. Das handelnde Subjekt benutzt den Kirchgang zur Selbstdarstellung und bezieht ihn dadurch in den «grand concours» ein, von dem es lakonisch heißt: «On n'y manque point son coup, on y est vu.» Der Aphorismus bestätigt, daß auch die religiöse Praxis über das se faire voir in die Konkurrenz um Status- und Prestigechancen eingebunden ist, die als übergreifendes Prinzip das gesamte öffentliche Leben beherrscht. Allen Beispielen ist gemeinsam, daß die geschilderten Interaktionen durch das Sehen-und-gesehen-werden motiviert sind, mit dessen Hilfe das handelnde Subjekt versucht, eine spezifische Form der Öffentlichkeit herzustellen. Dabei treten zahlreiche strukturelle Übereinstimmungen zum normativen Bezugssystem sociabilité hervor. Hierzu gehört zunächst die Beobachtung, daß die Subjekte sich in der Öffentlichkeit über ihren sozialen Rang aufeinander beziehen, den sie mit Hilfe von Statussymbolen und spezifischen Verhaltensweisen dokumentieren. Parallel zum eigenen Auftreten wird das zur Schau getragene Sozialprestige der Anderen ebenso «curieusement» wie «malignement» beobachtet und eingeschätzt. Das öffentliche Verhalten und die Selbstdarstellung des handelnden Subjekts sind somit durch die soziale Hierarchie vermittelt. Die Konkurrenzsituation, in der das Subjekt sich befindet, macht La Bruyère in 'De la ville, 3' und 'De la mode, 24' als solche deutlich. Wenn wir die hier umrissene Öffentlichkeit des se faire voir als soziale Diskursform und integralen Bestandteil der gesellschaftlichen Praxis des 17. Jahrhunderts begreifen, so muß die Frage gestellt werden, ob und inwieweit diese Diskurs176

form die handelnden Subjekte auf die sociabilité verpflichten kann. Darüber hinaus ist zu klären, welche gesellschaftliche Diskursform das normative Bezugssystem amitié bedingt. Dafür müssen zunächst die Grundprinzipien der bei La Bruyère beschriebenen Öffentlichkeit systematisch analysiert werden. In dem für das Thema 'öffentliche Interaktion' zentralen Abschnitt 'De la cour' setzt La Bruyère eine Begegnung am Hofe in Szene, die er suggestiv einleitet: Vous voyez des gens qui entrent sans saluer que légèrement, qui marchent des épaules, et qui se rengorgent comme une femme: ils vous interrogent sans vous regarder; ils parlent d'un ton élevé, et qui marque qu'ils se sentent au-dessus de ceux qui se trouvent présents; ils s'arrêtent, et on les entoure; ils ont la parole, président au cercle, et persistent dans cette hauteur ridicule et contrefaite, jusques à ce qu'il survienne un grand, qui la faisant tomber tout d'un coup par sa présence, les réduise à leur naturel, qui est moins mauvais. (De la cour, 17)

Gegenstand des Aphorismus sind die spezifischen Veränderungen der Interaktion, die durch Verschiebungen des relativen sozialen Orts der handelnden Subjekte initiiert werden. Während deren Verhalten zunächst auf vielfältige Weise eine soziale Überlegenheit signalisiert, die von den Anwesenden bestätigt wird, verändert sich die Szene abrupt durch das Auftreten des grand, dessen Überlegenheit den Handelnden nun zwingt, in die Masse der Anwesenden zurückzutreten. Innerhalb dieses einfachen Schemas einer sozial differenzierten Interaktion bewertet La Bruyère die Veränderungen im Verhalten der solcherart degradierten Subjekte in einer für unseren Interpretationsansatz aufschlußreichen Weise. Ohne die sozial differenzierte Interaktion selbst in Frage zu stellen, kritisiert er den Gestus hierarchischer Überlegenheit als «ridicule» und «contrefaite». Demgegenüber bezeichnet er ein Verhalten unter den Bedingungen sozialer Unterlegenheit als naturel. Besondere Aufmerksamkeit schenkt der Autor auch in diesem Portrait dem se faire voir und der durch diesen konstituierten Öffentlichkeit. In dieser Schilderung stellt er die äußerlichen Attribute und Gesten heraus, mit denen das handelnde Subjekt seinen gesellschaftlichen Rang dokumentiert. Die Aufzählung der diesem Zweck untergeordneten Mittel deckt sich nahezu vollständig mit den bei Jürgen Habermas angeführten Elementen der Institution repräsentativer Öffentlichkeit. Im einzelnen nennt Habermas: «Insignien (Abzeichen, Waffen), Habitus (Kleidung, Haartracht), Gestus (Grußform, Gebärde) und Rhetorik (Form der Anrede, förmliche Rede überhaupt).» 16 Diese Aufzählung deckt sich mit den bei La Bruyère genannten Attributen und Verhaltensweisen; der hier angeführte Aphorismus beschreibt das 177

handelnde Subjekt im Hinblick auf Grußformen («entrer sans saluer»), Gebärden («se rengorger comme une femme») und die Form der Rede («parler haut», «interroger sans regarder»), und konkretisiert damit die Paradigmen der Theorie, die Habermas entwickelt. Dieser definiert die repräsentative Öffentlichkeit funktional als Demonstration der Größe und der sozialen Überlegenheit. 17 La Bruyère drückt die gleiche Funktion mit den Worten aus: «Ils (les gens, F.W.) se sentent audessus de ceux qui se trouvent présents.» Da man angesichts dieser formellen und funktionalen Entsprechungen von soziologischer Theorie und literarischem Aphorismus davon ausgehen darf, daß La Bruyère im oben zitierten Portrait in exemplarischer Weise die soziale Diskursform repräsentativer Öffentlichkeit darstellt, muß im folgenden untersucht werden, inwiefern diese Form des Diskurses das Subjekt auf ein Verhalten im Rahmen des normativen Bezugssystems sociabilité festlegt. Die repräsentative Öffentlichkeit dient der Selbstdarstellung des Subjekts und ist funktional auf Distinktion bezogen. Diese Funktionsbestimmung setzt voraus, daß die handelnden Subjekte sich auch innerhalb dieser Diskursform über ihren sozialen Status definieren und daß sie die gesellschaftliche Praxis als Konkurrenz um Status- und Prestigechancen verstehen. Ihr se faire voir ist damit durch den intérêt motiviert, der das eigene soziale Fortkommen intendiert und überwiegend in den gesellschaftlichen Oberschichten (hier: am Hof) anzutreffen ist: «L'on se couche à la cour et l'on se lève sur l'intérêt» (De la cour, 22) heißt es kritisch in der Darstellung höfischer Lebenspraxis, oder auch: «Les cours seraient désertes, et les rois presque seuls, si l'on était guéri de la vanité et de l'intérêt» (De la cour, 12). Zusammenfassend ist festzuhalten, daß La Bruyère, ausgehend vom Leitmotiv des se faire voir und verschiedener partikularer Verhaltensweisen, eine soziale Diskursform beschreibt, die nach den Bestimmungen von Jürgen Habermas nur als repräsentative Öffentlichkeit interpretiert werden kann. Aufgrund ihrer Struktur und immanenten Funktionsbestimmung schafft sie die Voraussetzungen, unter denen das handelnde Subjekt notwendig auf die Postulate des normativen Bezugssystems sociabilité verpflichtet wird. Wenn wir nun die bisherigen Ergebnisse der Untersuchung auf den homme de robe (Aphorismus 'De la ville, 8') übertragen, so läßt sich dessen Verhalten am Hofe, das als embarrassé und honnête 16 17

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Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1962, p. 20. Ib., p. 23.

bezeichnet wird, als eine Interaktion unter den Bedingungen repräsentativer Öffentlichkeit verstehen, die ihn auf die Normen der sociabilité 'vereidigt' und die seinem Stand entsprechenden Postulate der amitié vorübergehend suspendiert. Diese Interpretation unterstellt freilich ein Determinationsverhältnis, das aus den objektiven Bedingungen gesellschaftlicher Interaktion selbst abgeleitet ist 1 8 und nur dann als bewiesen gelten kann, wenn es gelingt, auch der amitié eine Diskursform zuzuordnen, die zwingend die Einlösung ihrer moralischen Ansprüche verlangt. Zu diesem Zweck müssen wir noch einmal zur Situation der gesellschaftlichen Spitzen zurückkehren. In den Aphorismen des Abschnitts 'Du souverain ou de la république', die überwiegend politische und staatsrechtliche Themen behandeln, setzt La Bruyère sich mit der condition sociale des absoluten Monarchen auseinander und kontrastiert dessen Lebensumstände in apologetischer Absicht mit denen des 'gemeinen' Mannes: Si c'est trop de se trouver chargé d'une seule famille, si c'est assez d'avoir à répondre de soi seul, quel poids, quel accablement que celui de tout un royaume! Un souverain est-il payé de ses peines par le plaisir que semble donner une puissance absolue, par toutes les prosternations des courtisans? [...] je me dis à moi-même: 'Voudrais-je régner?' Un homme un peu heureux dans une condition privée devrait-il y renoncer pour une monarchie? N'est-ce pas beaucoup, pour celui qui se trouve en place par un droit héréditaire, de supporter d'être né roi? (Du souverain ou de la république, 34)

Das Portrait bezieht sich auf die Metapher des père d'état, ohne sie ausdrücklich zu erwähnen. Mit ihrer Hilfe vergleicht La Bruyère die soziale Situation eines Familienoberhaupts mit der des Königs. Eine rhetorische Frage nach den eigenen Herrschaftsambitionen weist er mit der Begründung zurück, daß die Königsherrschaft eine große Bürde und schwere Belastung sei, womit er sie ausdrücklich rechtfertigt. Für die Beantwortung unserer Ausgangsfrage, welche soziale Diskursform der amitié zugeordnet werden kann, ist weniger die spektakuläre Rhetorik als vielmehr die Gegenüberstellung und Bewertung unterschiedlicher Rahmenbedingungen gesellschaftlichen Handelns von Interesse. Mit der «prosternation des courtisans» evoziert La 18

Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt Dieter Steland, wenn er mit Bezug auf die 'Caractères' feststellt, daß die Art der «Partnerbehandlung» in den Portraits «situationsbezogen» ausgelegt wird (Steland, Moralistik und Erzählkunst - Von La Rochefoucauld und Mme de Lafayette bis Marivaux, op. cit., p. 180). Er evoziert mit diesen Worten einen komplexen E>eterminationsmechanismus, den er allerdings im Rahmen seines psychologischen Erkenntnisinteresses nicht weiter verfolgt.

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Bruyère zuerst das Sozialverhalten einer hierarchisch differenzierten Interaktion, welches der repräsentativen Öffentlichkeit entspricht. Dabei wird der «plaisir», der dem absoluten Herrscher aus der Unterwürfigkeit der Höflinge scheinbar erwächst, grundsätzlich in Zweifel gezogen. Im zweiten Teil des Portraits stellt der Autor dem Verhalten der Höflinge die «condition privée» gegenüber. Da die Institution der absoluten Monarchie vom Herrscher den völligen Verzicht auf ein privates Glück verlangt und ihm statt dessen die 'Leiden der Herrschaft' auferlegt, besteht ein unvermittelbares Verhältnis zwischen dem öffentlichen Amt und der «condition privée». Eben diese ist, nach der Aussage des Portraits, den gesellschaftlichen Spitzengruppen verschlossen: für die Last, welche die Ausübung der Herrschaft mit sich bringt, gibt es keinen Ausgleich. Die ideologischen Implikationen der Argumentation La Bruyères, die keineswegs innovativ sind, haben für unser Problem nur eine geringe Relevanz - von Bedeutung ist dagegen die Negation der Privatsphäre für den absoluten Herrscher. Bereits die erste Auflage aus dem Jahre 1688 befaßt sich mit dem Problem der Unvereinbarkeit von Königtum und einer positiv konnotierten vie privée. Dabei geht der Autor insofern über 'Du souverain ou de la république, 34' hinaus, als er die Privatsphäre in die Nähe der amitié rückt: Il ne manque rien à un roi que les douceurs d'une vie privée; il ne peut être consolé d'une si grande perte que par le charme de l'amitié, et par la fidélité de ses amis. (Du souverain ou de la république, 15) Das Portrait greift das Problem der Unvereinbarkeit von roi und vie privée unter dem Aspekt einer möglichen Kompensation auf und erklärt das Defizit eines von der Privatheit ausgeschlossenen Subjekts dadurch, daß dieses auf eine Interaktion nach den Grundsätzen der amitié verzichten muß. Der Verweis auf den «charme de l'amitié» muß angesichts der obigen Interpretation, demzufolge die hierarchischen Spitzengruppen auf die gesellschaftlich affirmative sociabilité verpflichtet sind, als Ironie gedeutet werden. Erneut wird bestätigt, daß 19

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Der genannte Aphorismus ist geeignet, die politisch ambivalente Argumentation zahlreicher Aphorismen der 'Caractères' zu illustrieren: Im Rahmen einer Apologie des Königtums beruft La Bruyère sich affirmativ auf die condition privée und spricht damit die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre an, die es für «die Menschen der höfischen Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts» (Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft, Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, p- 175sq) noch nicht gab. Er antizipiert damit bürgerliche Kategorien der Beschreibung sozialer Lebenspraxis.

die Freundschaft den gesellschaftlich unterprivilegierten Gruppen vorbehalten ist. Erst dadurch, daß die Konkurrenz um Status- und Prestigechancen in der vie privée irrelevant wird, kommen die Postulate des Bezugssystems amitié voll zum Tragen: Auf privater Ebene sind die Beziehungen zwischen den Subjekten durch fidélité geprägt. Mit anderen Worten: Das normative Bezugssystem der amitié ist zwingend an die Privatheit als soziale Diskursform verwiesen, ohne die sie nicht in die gesellschaftliche Praxis eingehen kann. Die Grenzlinie zwischen öffentlicher Konkurrenz und privater Selbstlosigkeit zieht La Bruyère so: Il y a une philosophie qui nous élève au-dessus de l'ambition et de la fortune, qui nous égale, que dis-je? qui nous place plus haut que les riches, que les grands, et que les puissants; qui nous fait négliger les postes, et ceux qui les procurent; qui nous exempte de désirer, de demander, de prier, de solliciter, d'importuner; et qui nous sauve même l'émotion et l'excessive joie d'être exaucés. Il y a une autre philosophie qui nous soumet et nous assujettit à toutes ces choses en faveur de nos proches ou de nos amis: c'est la meilleure. (Des jugements, 69)

Der Aphorismus beschreibt zwei normative Systeme, die sich dem innerweltlichen Machtstreben verweigern und der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen gleichgültig gegenüberstehen. In der Überwindung von ambition und fortune suspendiert die erste «philosophie» die Hierarchie als relevanten Bezugspunkt sozialer Interaktion. Im Verzicht auf soziales Ansehen distanziert sich das Subjekt vom historisch relevanten Normen- und Verhaltenskanon und steht der Organisation höfischer Lebenswirklichkeit mithin kritisch gegenüber. La Bruyère begrüßt dies als Befreiung von äußeren Zwängen. Das Subjekt, welches sich der zweiten «philosophie» verschrieben hat, nimmt hingegen diese Zwänge gerade auf sich, allerdings nicht mit dem Ziel der eigenen Karriere, sondern im Hinblick auf den Vorteil der «amis» bzw. der «proches». Damit suspendiert der Autor beide Male den intérêt und greift in seiner Definition auf das Motiv der Selbstlosigkeit zurück, das uns bereits aus der Diskussion des normativen Bezugssystems amitié her bekannt ist. Das handelnde Subjekt ist trotz aller scheinbaren Konformität auch in diesem Fall ohne affirmativen Bezug zur Gesellschaft, weil es kein Sozialprestige anstrebt und der Hierarchie gleichgültig gegenübersteht. Für unsere Fragestellung ist aber ein anderer Aspekt von Bedeutung. Mit der Wendung «nos proches et nos amis» nimmt La Bruyère die soziale Diskursform repräsentativer Öffentlichkeit auf den sehr viel engeren Handlungsrahmen der «vie privée» zurück und stellt damit auf eine neue Weise den Nexus von amitié und Privatheit her. In beiden 'Lebensphilosophien' 181

hat das Subjekt sich faktisch von dem sozial affirmativen Wertesystem der sociabilité emanzipiert und agiert nun entsprechend kritischer Vorgaben, die vom Sozialprestige der Kommunikationspartner abstrahieren und statt dessen deren individuelle (substantielle) Qualitäten hervorheben. Es bleibt unklar, für welches normative Bezugssystem die erste «philosophie» steht, so daß die Vermutung erlaubt ist, in den 'Caractères' müßten noch weitere normative Bezugssysteme und soziale Diskursformen enthalten sein. Ihre Rekonstruktion würde den Umfang dieser Arbeit sprengen, sie ist für die Darstellung der prinzipiellen Wirkungsweise der Determinationsmechanismen auch nicht erforderlich. - Beiden 'Philosophien' ist offensichtlich die kritische Einstellung zur gesellschaftlichen Praxis der höfisch-absolutistischen Ordnung gemein. Trotzdem bewertet der Autor die zweite «philosophie» höher, in der sich der Handelnde den Ansprüchen der höfischen Lebenspraxis oberflächlich zwar fügt, tatsächlich jedoch - unabhängig von jedem intérêt - nur der Selbstlosigkeit verpflichtet ist. Als wesentliches Strukturmerkmal des Verhaltens innerhalb der Diskursform Privatheit kann festgestellt werden, daß sich das Subjekt von der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen distanziert und eine von persönlichen Interessen freie Interaktion betreibt. Dadurch nähert sich diese Form des Diskurses den Postulaten der amitié an. Insofern als man davon ausgehen kann, daß die Privatheit die Subjekte an die Normen der amitié verweist und daß umgekehrt die repräsentative Öffentlichkeit die sociabilité zwingend voraussetzt, definiert La Bruyère zwei gesellschaftliche Handlungsbereiche, zwischen denen das handelnde Subjekt hin- und hergerissen ist. Die 'Caractères' konstruieren mittels unterschiedlicher Diskursformen einen gesellschaftlichen Determinationsmechanismus, der das Subjekt an heterogene Bezugssysteme verweist. Vor diesem Hintergrund muß der dargelegte Wertekonflikt derart interpretiert werden, daß das handelnde Subjekt entsprechend der jeweils aktuellen Diskursform entweder durch die amitié oder durch die sociabilité überwiegend beherrscht ist. In seinem Bewußtsein sind beide stets präsent, wodurch der Zustand innerer Zerrissenheit auslöst wird. Die normativen Ansprüche sind damit nicht, wie im Begriff substantielle Qualität, unveränderlich vorgegeben, sondern sie sind den Umständen der Handlung angepaßt. Für die gesellschaftliche Praxis bedeutet dies, daß die Diskursformen sich auf vielfaltige Weise überschneiden und einander durchkreuzen, so daß sich jedes handelnde Subjekt notwendig an unterschiedlichen normativen Bezugssystemen orientieren muß. Zwar trifft es zu, daß repräsentative Öffentlichkeit und Privatheit auf verschiedene soziale Gruppen ungleich verteilt sind, so daß wir die sociabilité vornehmlich in gesellschaftlich privilegierten Ständen antreffen, aber diese Rele182

vanz ist stets nur graduell und in keinem Fall exklusiv festgelegt. Ein wertender Vergleich läßt denjenigen Handlungsbereich, der durch die Privatheit und die amitié definiert ist, gegenüber allen anderen insofern überlegen erscheinen, als er eine Interaktion gewährleistet, die von sozialen Zwängen weitgehend unverstellt ist und dem handelnden Subjekt authentische Glückserfahrung vermittelt. Soweit ich sehe, gibt es in der gegenwärtigen Forschung einen weitgehenden Konsens darüber, daß das handelnde Subjekt bei La Bruyère äußerlich bestimmt ist. Große Differenzen bestehen jedoch in bezug auf die konkrete Auslegung und Bewertung dieser Determination. So interpretiert Ulrich Schulz-Buschhaus die 'Caractères' ganz allgemein im Sinne einer «pointierte[n] Reduktion des Moralistischen auf das Ökonomische»,20 in der, wie Harald Wentzlaff-Eggebert ergänzend hinzufügt, «das persönliche und soziale Verhalten durch die jeweils gegebenen ökonomischen Bedingungen verursacht» wird. 21 Beide Interpreten berufen sich auf den historischen Bedeutungszuwachs des chapitre, anonyme et banal, de l'argent,22 in dem ausgesagt ist, daß die traditionell aristokratischen Werte zunehmend obsolet werden und das handelnde Subjekt sich im Sinne bürgerlicher Zweckrationalität an der Konkurrenz um Geld- und Machtchancen ausrichtet. In diesem Zusammenhang markiert der Determinationsbegriff den Übergang von einem aristokratischen zu einem bürgerlichen Wertehorizont, dessen ständeübergreifende Dominanz in den 'Caractères' historisch dokumentiert sein soll. Im Unterschied hierzu erklären Erica Harth und andere die Portraits La Bruyères auf der Grundlage eines sozial differenzierten Determinationsmodells, demzufolge die 'Caractères' gerade diejenigen Kräfte erforschen, «which have produced certain social conditions», und die den Menschen als «product of those forces»2^ erscheinen lassen. Die gleiche Forschungsposition vertritt auch Roland Barthes in seinem Vorwort zu den 'Caractères': «Tout 'caractère' se définit 20 21

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Ulrich Schulz-Buschhaus, Die historische Position des Giton-PhédonPortraits von La Bruyère. Ein Beitrag zur Methodologie der Literaturgeschichte. In Romanistisches Jahrbuch 21 (1970), p. 147. Harald WentzlafF-Eggebert, Gesellschaftsbezogene Reflexion und verweigerte Gattungsbildung. Versuch einer Funktionsbestimmung moralistischer Texte. In: Bildung und Ausbildung in der Romania, Bd. 1: Literaturgeschichte und Texttheorie, ed. R. Kloepfer, München: Fink 1979, p. 143. Der Ausdruck stammt von Serge Doubrovsky und markiert treffend diesen Interpretationsansatz (Cf. Doubrovsky, Lecture de La Bruyère. In: Poétique 1 (1970), p. 197). Erica Harth, Classical disproportion: La Bruyère's Caractères, op. cit., p. 189.

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d'abord par une relation d'appartenance à telle o u telle classe.» 2 ^ Seine Interpretation erhebt den Anspruch, jede bei La Bruyère dargestellte Interaktion auf die Standeszugehörigkeit der beteiligten Protagonisten zurückfuhren zu können. Der Ansatz von Harth und Barthes unterstellt eine kausale Beziehung von subjektivem Verhalten und sozialem Status, er postuliert mithin die Möglichkeit, partikulare Verhaltensweisen anhand von allgemeinen standesspezifischen Vorgaben explizieren zu können. Beide Determinationsmodelle bleiben in einem monokausalen Argumentationszusammenhang. Sowohl im Rahmen eines allgemein ökonomischen(Schulz-Buschhaus/WentzlafF-Eggebert) als auch innerhalb eines ständisch differenzierten Determinismus (Harth/Barthes) folgt das Subjekt kontinuierlich unveränderlichen Normen, wodurch ein Konflikt moralischer Werte objektiv unmöglich ist. Alle monokausalen Entwürfe haben die Schwäche, daß sie nicht in der Lage sind, d e n Zustand der inneren Zerrissenheit, wie er bei La Bruyère aufgezeigt ist, schlüssig zu erfassen u n d zu erklären. Demgegenüber geht eine Interpretation, die auf einer dualistischen Konstruktion sozialer Diskursformen nebst den zugehörigen normativen Bezugssystemen basiert, widerspruchsfrei und vollkommen im literarischen Material auf. Innerhalb der französischen Moralistik des 17. Jahrhunderts wird, soweit ich sehe, eine solche subjektive Disposition erstmals bei La Bruyère geschildert. Dabei geht der Autor der 'Caractères' von der Annahme aus, daß gesellschaftliche Interaktion nicht mehr durch eine dem Subjekt wesenhaft zukommende moralische Grundhaltung ( = substantielle Qualität), sondern durch dessen spezifische Situation u n d das soziale Umfeld seines Handelns bestimmt ist. Damit widerspricht er allen moralistischen Werken seiner Zeit, welche zwar ebenso die Existenz unterschiedbei licher Wertesysteme postulieren (art de plaire vs. vertu/morale 24

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Roland Barthes, La Bruyère, op. cit., p. 224. Einen sozial differenzierten Determinismus glaubt auch Michael P. Koppisch in den 'Caractères' erkennen zu können, wenn er von den darin portraitierten Figuren sagt: «Their identity has less to do with what they are than with who they are» (Koppisch, The ambiguity of social status in La Bruyère's Caractères. In: L'esprit créateur 15 (1975), p. 214). In demselben Sinne spricht Jules Brody von einer paradigmatischen Diskontinuität zwischen dem sozialen Status und der essence morale des Menschen bei La Bruyère (Cf. Brody, La Bruyère - Le style d'un moraliste. In: Cahiers de l'association internationale des études françaises 30 (1978), p. 150sq). Auch Alain Niderst hebt den Widerspruch von «réussite sociale» und «mérite authentique» hervor (Cf. Niderst, 'Du mérite personnel'. Remarques sur la composition d'un chapitre des 'Caractères' de La Bruyère. In: Approches des Lumières. Mélanges offerts à Jean Fabre, Paris: Klincksieck 1974, p. 337).

Faret), aber das reale Verhalten stets vom Subjekt aus erläutern. Dagegen bestimmt nach La Bruyère ausschließlich die besondere Situation das Verhalten des Subjekts, nicht aber der amour-propre, der goût oder die habitude. Das handelnde Subjekt ist flexibel an unterschiedlichen normativen Bezugssystemen orientiert, denen es sich nach Maßgabe der jeweils relevanten Diskursform zuwendet. Die Form dieser Determination darf freilich nicht, wie Barthes und Harth behaupten, der Standeszugehörigkeit des Subjekts zugerechnet werden, sondern muß in jedem Einzelfall vom Nebeneinander konkurrierender Diskursformen und Normensysteme ausgehen, das für die Wertekonflikte verantwortlich ist.

3. Rudimentäre Anthropologie: Das Portrait des homme de bien Im Rahmen der Rekonstruktion von verschiedenen Determinationsmechanismen kann aus La Bruyères Darstellung der gesellschaftlichen Praxis auf den Dualismus von repräsentativ-öffentlicher und privater Diskursform geschlossen werden, der das handelnde Subjekt auf unterschiedliche normative Bezugssysteme verpflichtet. Auf jeder Ebene ist es in anderer Weise konditioniert. Mit der Einführung dieser äußeren Determinanten verändert sich notwendig der Stellenwert des Subjektbegriffs für die Theorie. Jede anthropologische Reflexion des Moralisten droht gegenstandslos zu werden, wenn die gesellschaftliche Praxis unabhängig von subjektiven Voraussetzungen gedeutet werden kann. Wenn das handelnde Subjekt sich zwingend an sozialen Diskursformen orientiert, verliert es jede Handlungsautonomie und läuft Gefahr, zu einer rein funktionalen Größe im Wechselspiel objektiver Strukturen herabzusinken. La Bruyère beschreibt das solchermaßen festgelegte gesellschaftliche Leben metaphorisch mit dem Bild einer Maschine bzw. eines Uhrwerks, das in jener Epoche häufig anzutreffen und vor allem auch im philosophischen Diskurs verbreitet ist:25 Les roues, les ressorts, les mouvements sont cachés; rien ne paraît d'une montre que son aiguille, qui insensiblement s'avance et achève son tour: image du courtisan, d'autant plus parfaite qu'après avoir fait assez de chemin, il revient souvent au même point d'où il est parti. (De la cour, 65) 25

Bereits im Jahre 1637 stellt sich René Descartes die Frage, ob die Passanten unter seinem Fenster nicht vielleicht Maschinenwesen wären (Cf. Descartes, Discours de la méthode, suivi des Méditations, Paris: Union 185

Wenn also das Subjekt, und insbesondere der Höfling, nichts anderes ist, als der sichtbar bewegte Teil eines verborgenen Getriebes, dann muß der vorliegende Vergleich im Zusammenhang mit den sozialen Determinationsmechanismen interpretiert werden. Insofern nämlich, als das Subjekt in seinem Verhalten durch ihm äußerliche Faktoren 'fremdbestimmt' ist, spielt es in der moralistischen Theorie notwendig nur eine untergeordnete Rolle. Gesellschaftliche Interaktion hat ihren Ursprung nicht in spezifischen subjektiven Anlagen, sondern sie ist das Ergebnis objektiver Prozesse, die ohne den Rekurs auf den Handelnden erklärt werden können. Unter diesen Prämissen erübrigt sich letztlich jede anthropologische Reflexion - der Moralist muß das Schwergewicht auf die Beschreibung objektiver Strukturen legen. 26 La Bruyères Theoriemodell unterscheidet sich wesentlich von den moralistischen Entwürfen früherer Autoren. So ist das handelnde Subjekt bei Faret noch durch substantielle Qualitäten prädisponiert, und die gesellschaftliche Praxis ist durch ein rigides Normenbewußtsein geprägt. Um die Geltung der Postulate von vertu/morale und art de plaire sicherzustellen, muß eine einseitig ratiozentrierte Anthropologie formuliert werden, die sich gegen die jede Ordnung latent destabilisierende Triebnatur stellt. Vor diesem Hintergrund ist die Anthropologie unverzichtbarer Bestandteil moralistischer Theoriebildung.

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générale d'éditions 1951, p. 189). Der Vergleich hat also bereits Geschichte. Über die schwerwiegenden Konsequenzen der Annahme äußerlicher Determination für die anthropologische Theoriebildung äußern sich übereinstimmend Michel Guggenheim, Jules Brody und Louis van Delft: Zur Darstellung gesellschaftlicher Praxis in den 'Caractères' stellt Guggenheim in allgemeiner Form fest: «le comportement de l'homme en société est fondamentalement déterminé par l'existence d'autres individus» (Guggenheim, L'homme sous le regard d'autrui ou le monde de La Bruyère, op. cit., p. 537). Er spricht damit jene Form sozialer Fremdbestimmung an, die den portraitierten Figuren nach dem Eindruck von Jules Brody jedwede Substanz und Identität raubt (Cf. Brody, Images de l'homme chez La Bruyère. In: L'esprit créateur 15 (1975), p. 167). In gleicher Weise stellt Louis van Delft fest, daß der Mensch bei La Bruyère - wie zuvor schon bei Graçian - als ein «être essentiellement conditionné et dépendant» (van Delft, La Bruyère moraliste - Quatre études sur les Caractères, op. cit., p. 145) vorgestellt und beschrieben wird. - Geht man von Agnes Hellers Begriffsbestimmung aus, wonach Entfremdung nichts anderes ist, als die unbewußte Internalisierung verschiedener Wertsysteme (Cf. Heller, Das Alltagsleben. Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion, ed. und eingeleitet von Hans Joas, Frankfurt/M: Suhrkamp 1978, p. 133), so kann dieser Begriff problemlos auf die 'Caractères' angewendet werden. - Es ist evident, daß die anthropologische Reflexion auf der Grundlage dieses Subjektbegriffc kaum Anknüpfungspunkte finden kann.

Eine weitgehend individualisierte Anthropologie kann aus den Schriften des Chevalier de Méré deduziert werden, der sein normatives Wirkungsinteresse nur noch in dynamischen Normen formuliert, von denen auch in diesem Abschnitt noch die Rede sein wird. Ihre Zielvorstellung ist die Versöhnung von raison und passion in einem ganzheitlich-harmonischen Subjekt. In La Rochefoucaulds Maximen schließlich tritt uns ein Subjekt entgegen, das von allen ethischen Bindungen losgelöst ist, dem vertu und vice als freie Verhaltensmuster zur Verfügung stehen und dem damit eine Handlungsautonomie zukommt, die - vom konservativen Standpunkt des Autors aus - nur als Persönlichkeitsverlust gesehen werden kann. Die anthropologischen Überlegungen La Rochefoucaulds kreisen um die Dissoziierung des handelnden Subjekts und dessen Handlungsmotivationen, die unter anderem im amour-propre, im intérêt oder in der paresse aufgesucht werden. Bei allen Autoren ist die Anthropologie ein integrales Element zur Beschreibung des gesellschaftlichen Lebens, das nur im Zusammenhang eines festumrissenen Subjektbegriffe normativ oder deskriptiv zugänglich zu sein scheint. Im Zuge einer situationsabhängigen Determination erübrigt sich dagegen eine nähere Bestimmung des handelnden Subjekts, weil dieses selbst nur Mittel ist und sich keine eigenen Zwecke setzen kann. Nun sind aber in den 'Caractères' auch Elemente einer rudimentären Anthropologie verstreut, die der These von der universalen Determiniertheit widersprechen. Sie erfordern eine weiterführende Analyse, die hier am Kapitel 'De la cour' durchgeführt werden soll. Mittels der exemplarisch-funktionalen Beschreibung repräsentativer Öffentlichkeit kritisiert La Bruyère mit der Technik des mettre en acte eine bestimmte Form der Selbstüberschätzung mit den Worten «ridicule» und «contrefaite» (De la cour, 17). Er schildert in diesem Portrait das Verhalten einer bestimmten Personengruppe, die ihre hauteur ostentativ zur Schau trägt. Mit dem Erscheinen eines ranghöheren grand bricht die Fassade schließlich zusammen: die Subjekte werden auf ihr naturel zurückgeworfen, «qui est moins mauvais.» Der Aphorismus veranschaulicht einen Geltungsverlust der repräsentativen Öffentlichkeit, der für die Frage nach der Möglichkeit von Anthropologie aufschlußreich ist. Er wird zunächst in einer markanten Verhaltensänderung manifest. Durch die hierarchische Überlegenheit des grand verliert die Darstellung des persönlichen Sozialprestiges nach außen ihren Sinn. Das handelnde Subjekt orientiert sich nicht länger an seinem sozialen Status, sondern an dem, was La Bruyère den naturel nennt. Im Verlauf dieses Prozesses, der von außen initiiert ist, wird die repräsentative Öffentlichkeit funktional außer Kraft gesetzt, 187

und, hiermit verbunden, das normative Bezugssystem sociabilité relativiert. Dadurch schafft La Bruyère sich die Möglichkeit, unmittelbar subjektbezogen zu reflektieren. Er fuhrt die Kategorie des naturel ein, die funktional gegen die aufgezeigten Diskursformen und die damit verbundenen Determinationsmechanismen gerichtet ist. Der Begriff naturel hat eine bestimmte moralistische Tradition, die dem zeitgenössischen Leser der 'Caractères' durchaus bekannt war. Bereits 1641 hatte de Chavaille in seinen 'Observations morales et politiques' festgestellt: «Le naturel ne se dément iamais, & quoy qu'on puisse faire pour le changer, les inclinations demeurent tousiours, & aux rencontres s'excitent à faire voir leur portée.» 27 Für de Chavaille war der naturel gleichbedeutend mit der menschlichen Triebnatur, die entsprechend dem bei Faret dargestellten Rationalitätsprimat domestiziert werden mußte. So verstanden, ist der naturel ein anthropologischer Begriff mit negativem Vorzeichen. In der Theorie des Chevalier de Méré erfuhr der Begriff eine völlige Umwertung und erhielt eine neue Funktion. Innerhalb der 'Conversations' und der Aphorismen der siebziger und frühen achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts kann der naturel neben dem je ne sais quoi als dynamische Norm interpretiert werden, die ein Verhalten fordert, das den individuellen Anlagen des jeweiligen Subjekts gemäß ist. Hierdurch sollte der substantiellen Qualität ein größerer Einfluß auf die gesellschaftliche Praxis gegeben und die höfische Sozialform auf eine innovative Legitimationsgrundlage gestellt werden. Zur gleichen Zeit wie La Bruyère befaßt sich Jean Pic in den 'Maximes et reflexions sur l'éducation de la jeunesse' mit dem naturel und fordert den Leser auf: «Ne forcez point vostre naturel dans ce qui ne vous convient pas.» Der Mensch soll sich den äußeren Zwängen nicht beugen, sondern versuchen, sich gegen die «inclination de tous les hommes qui aiment toujours à faire les choses pour lesquelles ils ne sont pas nez» 28 zur Wehr zu setzen. Auch hier enthält der Begriff eine Tendenz, die quer zu den großen gesellschaftlichen Strömungen liegt. Ungeachtet der jeweils unterschiedlichen Funktionszusammenhänge, in die der Begriff bei den zitierten Autoren eingebettet ist, kennzeichnet der naturel in allen Fällen eine Qualität, die dem han27 28

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De Chavaille, Observations morales et politiques en forme de maximes sur les vies des hommes illustres. Dédiées à M. le Cardinal Duc de Richelieu, Bd. 2, Paris: D. LangLois 1641/48, p. 278sq. Jean Pic, Maximes et réflexions sur l'éducation de la jeunesse où sont renfermez les devoirs des parens & des précepteurs envers les enfans. Avec des maximes & des reflexions particulières sur l'éducation des Princes, Paris: Mabre-Cramoisy 1690, Aph. 63, p. 280.

delnden Subjekt selbst innewohnt, und leitet zu anthropologischen Fragen über. Angesichts dieser Begriffskonnotation kann festgehalten werden, daß das Subjekt bei La Bruyère im Begriff des naturel gegen die gesellschaftlichen Determinationsmechanismen aufbegehrt. Das Motiv, soziale Determinationszusammenhänge im Kontext des Begriffs naturel aufzuheben, ist in den 'Caractères' mehrfach nachgewiesen worden. Die entsprechenden Aphorismen zeigen dabei einander vergleichbare Konstruktionsmerkmale und sprachliche Wendungen: Il y a des hommes superbes, que l'élévation de leurs rivaux humilie et apprivoise; ils en viennent, par cette disgrâce, jusques à rendre le salut; mais le temps, qui adoucit toutes choses, les remet enfin dans leur naturel. (Des grands, 17)

Diese Darstellung geht von einer gesellschaftlichen Situation aus, in der sich das handelnde Subjekt mit Antagonisten konfrontiert sieht, die in der Hierarchie über ihm stehen. Die «hommes superbes» interpretieren die gesellschaftliche Praxis als Konkurrenz um Status- und Prestigechancen und müssen deshalb die Karriere der Konkurrenten notwendig als persönlichen Prestigeverlust auffassen. Diese negative Erfahrung ist jedoch nur von kurzer Dauer. Die Erhöhung ihrer «rivaux» vor Augen, reagieren die genannten Subjekte alsbald mit einer relativen Gleichgültigkeit gegenüber der sozialen Ordnung, die La Bruyère mit dem Begriff des naturel beschreibt. Aus dieser psychischen Disposition heraus verlieren die auf soziale Konkurrenz gerichteten Verhaltensnormen zunehmend an Bedeutung und veranlassen das Subjekt, innerlich von der sociabilité abzurücken. La Bruyère schildert diesen Vorgang mit einer Formulierung, die der in 'De Ia cour, 17' gleicht: «[Le temps] les remet dans leur naturel.» Bei näherer Betrachtung fallen zwei Aspekte der thematisch und begrifflich parallelen Darstellungen besonders auf: erstens, daß der Begriff naturel - unabhängig von seinem spezifischen Inhalt - allein gegenüber der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen abgegrenzt wird, und zweitens, daß die Rückbesinnung des Subjekts auf sich selbst, die mit dem Geltungsverlust sozialer Determinationsmechanismen verbunden ist, von außen initiiert ist. Während das Subjekt, das der sociabilité verpflichtet ist, ein Absinken seiner gesellschaftlichen Anerkennung unter außerordentlich schmerzlichen Erfahrungen erleidet, kann das am naturel orientierte diese Minderung seines Prestiges leichter verkraften («adoucir»), weil es der gesellschaftlichen Praxis weitgehend indifferent gegenübersteht. Vor diesem Sachverhalt erscheint der naturel als subjektorientierter Gegenbegriff zur gesellschaftlich ver189

mittelten sociabilité und rückt in dieser Funktionsbestimmung deutlich von den sozialen Determinationsmechanismen ab. Im Abschnitt 'De l'homme' veranschaulicht La Bruyère seine grundsätzliche Überzeugung, wonach der Mensch aus den Determinationsmechanismen herausgehoben werden und - im Rahmen seines naturel - selbstbestimmt handeln kann: «Un grand attachement ou de sérieuses affaires jettent l'homme dans son naturel» (De l'homme, 146). Hier ist es also nicht die Erfahrung des individuellen Prestigeverlusts, sondern die intensive Beschäftigung mit einem persönlichen Anliegen, die das Subjekt unabhängig von der konkreten Situation handeln läßt und es auf seinen naturel 'zurückwirft'. - In allen diskutierten Beispielen wird die repräsentativ-öffentliche Diskursform durch äußere Faktoren, wie dem reduzierten Sozialprestige oder der selbstvergessenen Beschäftigung mit den «sérieuses affaires», irrelevant. Dadurch, daß die normativen Bezugssysteme und die äußeren Determinationsmechanismen an Geltung verloren haben, sind die Bedingungen geschaffen, unter denen der naturel des Subjekts hervortreten kann. Mit diesem Begriff taucht eine Kategorie auf, die dem universalen Determinismus sozialer Diskursformen widerspricht und damit zugleich die Grundlage einer anthropologischen Reflexion bildet. La Bruyère bietet aber auch Beispiele dafür, daß die umgekehrte Bewegung des Subjekts, vom selbstbewußten Handeln zum Determinismus, möglich ist. In solchen Portraits werden etwa mehrere Formen des vice unterschieden: Il y a des vices que nous ne devons à personne, que nous apportons en naissant, et que nous fortifions par l'habitude; il y en a d'autres que l'on contracte, et qui nous sont étrangers. L'on est né quelquefois avec des mœurs faciles, de la complaisance, et tout le désir de plaire; mais par les traitements que l'on reçoit de ceux avec qui l'on vit ou de qui l'on dépend, l'on est bientôt jeté hors de ses mesures, et même de son naturel: l'on a des chagrins et une bile que l'on ne se connaissait point, l'on se voit une autre complexion, l'on est enfin étonné de se trouver dur et épineux. (De l'homme, 15)

Den angeborenen vices stellt der Autor diejenigen an die Seite, die ihren Ursprung in der gesellschaftlichen Praxis haben («les traitements que l'on reçoit de ceux avec qui l'on vit ou de qui l'on dépend») und die die positiven Eigenschaften des Subjekts korrumpieren. In einem Prozeß, in dem der Handelnde gesellschaftlich bedingte Verhaltensweisen übernimmt, wird er alsbald seiner individuellen Fertigkeiten beraubt und seinem naturel entfremdet. Dadurch überantwortet er sich vollständig den sozialen Diskursformen und normativen Bezugssystemen, also den gesellschaftlichen Determinationsmechanismen. 190

Dies geschieht ohne sein eigenes Zutun («l'on est bientôt jeté») und ist wiederum von schmerzlichen Erfahrungen («chagrins»/«bile») begleitet. Diese Interpretation dürfte deutlich gemacht haben, daß der naturel vor allem gegenüber der repräsentativen Öffentlichkeit abgegrenzt ist, während sein Verhältnis zur Privatheit und zu der mit dieser verknüpften amitié unklar bleibt. Naturel wie amitié stehen der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen indifferent gegenüber und suspendieren die soziale Hierarchie als handlungsrelevante Größe gesellschaftlicher Interaktion. Beide negieren somit das System sociabilité. Seiner Struktur nach konterkariert der naturel also die gesellschaftliche Praxis innerhalb der höfischen Ordnung. Dies verdankt er in erster Linie seiner Eigenschaft, Standesgegensätze tendenziell zu nivellieren. La Bruyère spricht das so aus: «Les princes ressemblent aux hommes; ils songent à eux-mêmes; suivent leur goût, leurs passions, leur commodité: cela est naturel» (Des grands, 29) Die unter dem Begriff des naturel subsumierten Qualitäten, wie «goût», «passion» und «commodité» machen den Prinzen dem 'gemeinen Mann' gleich, weil soziale Standesunterschiede durch den naturel nicht begründet werden können. Da das Prinzip der legitimen sozialen Ungleichheit im naturel immanent negiert ist, kommen diesem Begriff, ähnlich der amitié, kritische Funktionen in Beziehung auf die gesellschaftliche Praxis zu. Ebenso wie die amitié wird auch der naturel in den 'Caractères' stets positiv bewertet: In der moralischen Qualifizierung des subjektbezogenen Begriffe unterstellt La Bruyère, daß die «grands sentiments» wie die «actions nobles et élevées» sich überwiegend von der «bonté de notre naturel» (Du cœur, 79) herleiten. Parallel dazu heißt es von der amitié, sie sei «ce qu'il y a au monde de meilleur» (De la cour, 81). Obwohl diese beiden Begriffe sich strukturell entsprechen und positiv bewertet werden, dürfen sie nicht gleichgesetzt werden, denn während das normative Bezugssystem im Kontext der gesellschaftlichen Praxis fest institutionalisiert ist, bleibt der soziale Status des naturel problematisch. Deshalb muß La Bruyère den naturel auf eine neue Weise portraitieren: Ne faire sa cour à personne, ni attendre de quelqu'un qu'il vous fasse la sienne; douce situation, âge d'or, état de l'homme le plus naturel. (Des jugements, 109)

Entgegen dem bisher angewandten Verfahren, alltäglich erfahrbare Wirklichkeit exemplarisch zu beschreiben, wird in diesem Aphorismus ein Idealzustand eingeführt, welcher durch das Bild des âge d'or der bestehenden Realität vorgehalten wird. Die markante Abweichung von 191

der Technik des mettre en acte legt die Vermutung nahe, daß La Bruyère diese subjektbezogene Kategorie nur mit erheblichen Schwierigkeiten in der gesellschaftlichen Praxis nachweisen kann. Hätte der Autor den «homme le plus naturel» in der Anschauung vor Augen gehabt, so hätte er ihn auf herkömmliche Weise zeichnen können und nicht auf den Entwurf idealer Gegenwelten ausweichen müssen. Daraus folgt: die Dominanz der sozialen Diskursformen und normativen Bezugssysteme in der gesellschaftlichen Praxis ist ungebrochen.29 Der gesellschaftliche Idealzustand, der âge d'or, ist für La Bruyère durch das «ne faire sa cour à personne» definiert, d.h. durch die Abwesenheit der Konkurrenz um Status- und Prestigechancen. An die Stelle der repräsentativen Öffentlichkeit tritt der naturel als ein vom Menschen selbst ausgehendes, ihm angeborenes Verhalten, das unabhängig von jeder gesellschaftlichen Vermittlung besteht. In dem Portrait eines homme de mérite greift der Autor auf das Motiv des faire sa cour zurück und macht deutlich, daß es auch in den bestehenden Sozialverhältnissen möglich ist, den Zwängen sozialer Determination zumindest teilweise - zu entkommen: Il coûte à un homme de mérite de faire assidûment sa cour, mais par une raison bien opposée à celle que l'on pourrait croire: il n'est point tel sans une grande modestie, qui l'éloigné de penser qu'il fiasse le moindre plaisir aux princes s'il trouve sur leur passage, se poste devant leurs yeux, et leur montre son visage-, il est plus proche de se persuader qu'il les importune, et il a besoin de toutes les raisons tirées de l'usage et de son devoir pour se résoudre à se montrer. Celui au contraire qui a bonne opinion de soi, et que le vulgaire appelle un glorieux, a du goût à se faire voir, et il fait sa cour avec d'autant plus de confiance qu'il est incapable de s'imaginer que les grands dont il est vu pensent autrement de sa personne qu'il fait lui-même. (Du mérite personnel, 14; Hervorhebungen F.W.)

Unter dem Leitmotiv des se faire voir, welches für das Verhalten des Subjekts in der repräsentativen Öffentlichkeit steht, verdeutlicht der Autor den qualitativen Unterschied zwischen der Interaktion eines

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Harald Wentzlaff-Eggebert zufolge sucht La Bruyère die «kritische Auseinandersetzung mit einer deformierten Praxis» (Wentzlaff-Eggebert, Lesen als Dialog. Französische Moralistik in texttypologischer Sicht, Heidelberg: Winter 1986, p. 162). - Auch Alain Niderst attestiert den 'Caractères' eine pessimistische Beurteilung der Gesellschaft ihrer Zeit: «La Bruyère nous présente un tableau, qui est de plus en plus noir [...]» (Niderst, 'Du mérite personnel'. Remarques sur la composition d'un chapitre des 'Caractères' de La Bruyère, op. cit., p. 343).

homme de mérite und der eines glorieux. Während letzterer vollkommen von sich überzeugt ist und permanente Selbstdarstellung betreibt, zweifelt ersterer an sich selbst und folgt dem Anpassungsdruck der sozialen Diskursform nur widerstrebend. Die Bedeutung des Portraits geht über eine einfache Eloge der modestie, die nur beiläufig erwähnt wird, weit hinaus, weil sich der homme de mérite durch seine Haltung eine gewisse Distanz zur Konkurrenz um Statusund Prestigechancen schafft. Sie drückt sich in seiner zögernden Zurückhaltung aus, die ihn über die Masse der glorieux erhebt und ihm insofern potentielle Handlungsautonomie gewährt, als er sich innerlich von der Diskursform unabhängig machen kann. Seine kritischdistanzierte Haltung läßt ihn die sozialen Determinanten überwinden und versetzt ihn in die Lage, sein naturel auszuleben. Wenn er sich von der repräsentativ-öffentlichen Selbstdarstellung lossagt, ist er notwendig auf sich selbst zurückgeworfen und auf seine substantiellen Eigenschaften verwiesen. Noch deutlicher wird La Bruyère in einem anderen Portrait, wenn er feststellt: «Une belle femme est aimable dans son naturel» und mit Blick auf den homme de bierfi0 fortfahrt: De même un homme de bien est respectable par lui-même, et indépendamment de tous les dehors dont il voudrait s'aider pour rendre sa personne plus grave et sa vertu plus spécieuse: un air réformé, une modestie outrée, la singularité de l'habit, une ample calotte, n'ajoutent rien à la probité, ne relèvent pas le mérite, ils le fardent, et font peutêtre qu'il est moins pur et moins ingénu. (Des jugements, 29)

Die besondere Qualität des homme de bien, der infolge seiner gravité und seiner vertu über alle äußerliche Selbstdarstellung erhaben ist, liegt in diesem selbst, d.h. in seinem naturel. Jede bewußte Dokumentation von Sozialprestige, etwa durch Gestus, Kleidung oder Herrschaftsinsignien, käme einem Rückfall in die repräsentative Öffentlichkeit gleich und würde den mérite - hier als substantielle Qualität zu verstehen - herabsetzen. Besonders aufschlußreich sind die Formulierungen «moins pur» und «moins ingénu», die einen Subjektbegriff voraussetzen, der gesellschaftlich nicht vermittelt ist und sich der Determination durch soziale Diskursformen, vor allem durch die repräsentative Öffentlichkeit, widersetzt. 30

Im allgemeinen spricht La Bruyère vom homme de bien. Lediglich in 'Du mérite personnel, 14' führt er den homme de mérite als Gegenmodell zur gesellschaftlichen Praxis an, was als Reminiszenz an die Kapitelüberschrift gewertet werden kann, da beide Begriffe inhaltlich einander nicht widersprechen und, auf das Textganze bezogen, identische Funktionen haben.

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La Bruyères Versuche, zu einer rudimentären Anthropologie im Begriff des naturel zu gelangen, zeigen stets die Tendenz, die Möglichkeit eines positiven gesellschaftlichen Verhaltens zu formulieren. Entsprechend der moralistischen Tradition, die moralischen Normen in einer Leitfigur personalisiert zusammenzufassen, entwickelt auch er ein solches Persönlichkeitsbild. Von Farets Traktat vom honnête homme an hat sich der Begriff dieser moralistischen Idealfigur bis La Bruyère zum homme de bien umgewandelt. Dieser Wandel leitet sich inhaltlich aus den verschiedenen Ansprüchen ab, die von moralistischer Seite an das handelnde Subjekt herangetragen werden: Ist der honnête homme Farets noch als Gesellschaftsmensch charakterisiert, der sich innerhalb der sozial relevanten Institutionen selbstsicher bewegt und sich ebenso bereitwillig den Normen höfischer Etikette unterwirft, so steht am vorläufigen Ende der Entwicklung moralistischer Theoriebildung im 17. Jahrhundert ein Subjekt, das versucht, sich den objektiv gegebenen Strukturen zu widersetzen und jenseits der sozialen Determinationsmechanismen so weit wie möglich selbstbestimmt zu handeln. Bei La Bruyère nimmt der naturel genau die Funktionsstelle ein, die bei Faret die Konkurrenz um Status- und Prestigechancen innehat: er ist der Rechtfertigungsgrund für das moralistisch gewünschte Sozialverhalten. Während der honnête homme in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch unmittelbar aus gesellschaftlichen Erfordernissen deduziert wurde, die im Zusammenhang mit der Entstehung des Absolutismus stehen, wird der homme de bien ausdrücklich gegen die bestehenden Regeln der höfischen Gesellschaft entwickelt. - Sozialgeschichtlich läßt der dargelegte Prozeß Rückschlüsse auf die absolutistische Ordnung in Frankreich um 1690 zu, welche infolge ihrer inneren Stabilität offensichtlich in der Lage war, die im Begriff des naturel vorgetragene Kritik ohne größere Blessuren zu verkraften. Unter literatursoziologischem Aspekt erklärt die theorieimmanente Diskrepanz von idealer Norm und realer gesellschaftlicher Praxis den notwendigen Übergang zu aphoristischen Formen. Aus der Tatsache, daß den 'Caractères' der begriffliche Gegensatz von société und naturel zugrundeliegt,31 geht hervor, daß die morali31

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Louis van Delfts These, derzufolge La Bruyère in wesentlichen Punkten die Gedanken Jean-Jacques Rousseaus antizipiere, mag hier ihren Ursprung haben (Cf. van Delft, La Bruyère moraliste - Quatre études sur les Caractères, op. cit., p. 162). Angesichts des entwickelten Subjektbegriffe bei Rousseau, den Hans Sanders sehr anschaulich von dem, wie er es nennt, «kleinen Subjekt» der Klassik ablöst (Cf. Sanders, Das Subjekt der Moderne. Mentalitätswandel und literarische Evolution zwischen Klassik und Aufklärung. Tübingen: Niemeyer 1987, p. 172sq), erscheint es allerdings fraglich, ob man im Zusammenhang mit La Bruyère von einem «individualisme farouche» (Cf. van Delft, ib.) spre-

stische Kritik an der gesellschaftlichen Praxis maßgeblich über den Subjektbegriff gefuhrt wird. Sie kann noch nicht direkt formuliert werden, weil der historischen Erfahrung kein zureichendes Begrißsinstrumentarium zur Verfugung steht. Die innere Zerrissenheit des Subjekts, die für den zeitgenössischen Rezipienten nachvollziehbar war, sowie die Ambivalenz sozialer Verhaltensweisen können, weil ein Begriff sozialer Determination fehlt, lediglich anhand eines komplexen Geflechts von Handlungssituationen und -konstellationen nachgezeichnet werden, welches La Bruyère durch den mettre en acte zwar darstellen, nicht jedoch in einer zusammenhängenden Theorie interpretieren kann. Vor diesem Hintergrund bietet sich das Portrait als diejenige literarische Gattung an, welche die Erfahrung sozialer Determination in einem subjektiven Handlungszusammenhang zu rekonstruieren vermag. Die verwirrende Vielzahl unterschiedlicher normativer Bezugssysteme, deren systematische Verknüpfung den Moralisten des 17. Jahrhunderts aus den genannten Gründen verschlossen bleiben m u ß t e , k o n n t e nur in der Form des Aphorismus erfaßt und dargestellt werden. Erst der neueren Forschung ist es aus hermeneutischer Distanz möglich - über den Einzelfall hinaus - den systematischen Zusammenhang der 'Caractères' im Sinne einer Darstellung bestimmter sozialer Determinationsmechanismen und im Sinne einer Kritik derselben zu begreifen.

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chen kann. René Jasinski beschreibt die Bedeutung dieser aphoristischen Partikularisierungen in unserem Sinne, wenn er sie als «revanche au moins partielle du concret sur L'universel» 0asinski, Deux accès à La Bruyère, Paris: Minard 1971, p. 255) charakterisiert. - Unverständlich ist hingegen Gerhard Hess' Einschätzung, derzufolge La Bruyères Bemerkungen «immer mehr das Einmalige, die fast nebensächliche Einzelheit a u f s u chen ], um die Macht der Subjektivität deutlich zu machen» (Hess, Einleitung in La Bruyères 'Charaktere'. In: Id., Gesellschaft- Literatur-Wissenschaft. Gesammelte Schriften 1938-1966, ed. H.-R. Jauß und C. Müller-Daehn, München: Fink 1967, p. 118). Angesichts der Dominanz institutionalisierter Wertsysteme und sozialer Diskursformen scheint die gegenteilige Einschätzung von höherer Plausibilität zu sein: Gerade die geringen Chancen zu einem selbstbestimmten Handeln verlangen darstellungstechnisch nach einer partikularisierenden Gestaltung, d.h. nach aphoristischen Formen.

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Nachwort

Die hier vorgelegte Interpretation von verschiedenen Texten des 17. Jahrhunderts geht zunächst von der Beobachtung eines Formenwandels in der höfischen Moralistik aus. Im Gegensatz zu den Autoren der ersten Jahrhunderthälfte, die ihre gesellschaftsbezogenen Traktate in diskursiver Form verfaßten, griffen die Moralisten nach 1650 zunehmend auf offene und aphoristische Formen zurück. Die traditionelle Forschung zur Moralistik mußte den Übergang von geschlossenen zu offenen Gattungen solange übersehen, wie sie dem funktionalen, dem identitätsorientierten oder dem formalen Paradigma verpflichtet blieb. Die Gründe liegen in der jeweiligen Definition des Begriffe 'Moralistik' und dem daraus abgeleiteten Textkorpus. Der Aspekt der literarischen Form ist unter den beiden erstgenannten Paradigmen von nur sekundärer Bedeutung, weil sie die Fragen nach der Art des Gesellschaftsbezugs bzw. nach der thematischen Konstitution von Identität in den Vordergrund stellen. Moderne literatursoziologische Arbeiten können an die hier erarbeiteten Ergebnisse anknüpfen. Demgegenüber rückt der formale Aspekt in der letztgenannten Forschungsperspektive zum zentralen Definitionskriterium von Moralistik auf und wird mit den Mitteln der Gattungstheorie aufgearbeitet. Obwohl die Forschung des 20. Jahrhunderts sich auf formale Fragen der Ausdrucksmöglichkeiten verschiedener Genera konzentriert, kann sie den hier dargestellten Formenwandel nicht erkennen, weil sie als 'moralistisch' nur solche Werke anerkennt, die in Form von Maximen, Sentenzen, Portraits oder Reflexionen verfaßt sind und nach Möglichkeit bereits im Titel auf ihren aphoristischen Gattungscharakter hinweisen. Das so konzipierte Textkorpus setzt sich notwendig aus Werken zusammen, die in der zweiten Jahrhunderthälfte entstanden sind, und grenzt sich scharf von solchen Autoren ab, die zwar vergleichbare Probleme bearbeiten, formal aber eher zu diskursiven Formen neigen. Terminologische Hilfskonstruktionen, wie 'Erziehungsbücher' oder 'Literatur zum honnête homme', zeigen vor diesem theoretischen Hintergrund eine Grauzone literarischer Produktion an, die, trotz zahlreicher inhaltlicher Parallelen mit kanonisierten Moralisten, begrifflich ausgegrenzt wird. Dieser Zustand wird, wie jüngere Veröffentlichungen zeigen, in wachsendem Maße zu einem forschungspraktischen Problem. Die vorliegende Arbeit zieht hieraus die Konsequenz, von einem Textkorpus auszugehen, das die

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Bestimmungen der drei Paradigmen zusammenfaßt. Ihr liegt ein extensiver MoralistikbegrifF zugrunde, der den Formenwandel um 1650 erkennbar werden läßt. Weder die literatursoziologische Forschung, die in der Nachfolge des funktionalen und des identitätsorientierten Paradigmas steht, noch die gattungstheoretische Herangehensweise, die von den Postulaten des formalen Paradigmas ausgeht, sind demnach in der Lage, den Übergang von diskursiven zu aphoristischen Gattungen wahrzunehmen. Beide versuchen, den Formgegensatz durch begriffliche Ausgrenzungen zu eskamotieren. Eine Erklärung des historischen Phänomens kann aber nur dann gegeben werden, wenn das extensive Textkorpus mit literatursoziologischen und gattungstheoretischen Methoden zugleich bearbeitet wird und die jeweiligen Ergebnisse wechselseitig aufeinander bezogen werden. In diesem Sinne setzt die Untersuchung bei den frühen Moralisten Faret, de Refuge und de Balzac ein, die ein wirkungsorientiertes Textmodell konzipieren, das auf bestimmte soziale Umstrukturierungsprozesse reagiert. Im Zuge des Übergangs von der feudalen zur absolutistischen Gesellschaftsordnung verändert sich der soziale Status einer Person vom unveränderlichen Wesensmerkmal zur flexiblen Größe. Dies hat eine Änderung des Subjektverhaltens zur Folge, von der insbesondere der Adel betroffen ist. Die genannten Autoren reagieren auf diese Entwicklung, indem sie die relativen Normen der veränderten sozialen Praxis anpassen und einen art de plaire formulieren, dessen Geltung sie über den Rationalitätsprimat anthropologisch absichern. Durch relative Normen allein kann jedoch der Sinn einer historisch neuen Sozialformation nicht erschlossen werden, weil die Kategorie der Totalität einem ständisch differenzierten Verhaltensmodell notwendig inkommensurabel bleiben muß. Die frühen Moralisten sind demnach gezwungen, universalistische Normen zu konzipieren, die in Gestalt von vertu/morale erscheinen. Art de plaire und Moral erweisen sich im Hinblick auf die legitime soziale Ungleichheit insofern als unvereinbar, als sich die Privilegierung bestimmter sozialer Gruppen oder Einzelpersonen im Rahmen von Normen, die universalistisch zu rechtfertigen sind, nicht mehr begründen läßt. Der Widerspruch zwischen beiden Verhaltensmodellen erscheint als latenter Gegensatz von gesellschaftlicher Stellung (akzidentelle Qualität) und individuellem moralischem Wert (substantielle Qualität). Er wird von den genannten Autoren durch die Setzung einer prästabilierten Harmonie überbrückt, derzufolge der Rang, den ein Subjekt bekleidet, immer auch seinen moralischen Wert indiziert. - Die Intention, gesellschaftliche Normativität mit der Formulierung von sozialem Sinn zu verbinden, verweist die frühen Moralisten auf diskursive Formen des 197

literarischen Ausdrucks, innerhalb derer die unterschiedlichen Wertesysteme synthetisiert werden können. Eine innovative Gestaltung der sozialen Normativität ist bei Méré anzutreffen, der sein Verhaltensmodell in Form eines Persönlichkeitsideals entfaltet. Die prästabilierte Harmonie von substantieller und akzidenteller Qualität, die in der frühen Moralistik die Einheit von Sein und Sinn garantierte, zerfällt bei diesem Autor in die Persönlichkeitsmodelle des galant homme bzw. des honnête homme. Ersterer repräsentiert den überlieferten Verhaltenskanon des art de plaire, während letzterer sich von den Postulaten der vertu/morale leiten läßt. Beide Konzeptionen stehen beziehungslos nebeneinander. Neben der Auflösung der prästabilierten Harmonie ist von Bedeutung, daß in Mérés Konzeption die Moral der höfischen Sozialtechnik übergeordnet wird. Der Handelnde strebt nicht mehr nach gesellschaftlicher Anerkennung, sondern nach individueller Glückserfahrung. Damit wird die soziale Hierarchie als Bezugspunkt eines normenadäquaten Verhaltens irrelevant. Authentische Werturteile lassen sich nur auf der substantiellen Ebene begründen, für die der honnête homme steht. Darüber hinaus können die konkreten Postulate nicht mehr in universalistischen Normen formuliert werden, sondern sind nur noch in Gestalt dynamischer Regeln zu fassen. Als Beispiele wurden der naturel und das je ne sais quoi vorgestellt, welche die normativen Ansprüche individuell auslegen. - Die Dynamisierung normativer Geltungen verlangt nach innovativen literarischen Formen, die den individualisierten Ansprüchen gerecht werden. Méré greift auf die Gattungen der Conversation und der Maximes zurück. Der Dialog bietet in diesem Bereich die Möglichkeit, das Konversationsverhalten Einzelner exemplarisch zu gestalten, in dem das Gemeinte ohne eine begriffliche Fixierung anschaulich gemacht werden kann. Die auftretenden Personen verkörpern das Verhaltensideal, ohne dabei die intersubjektive Verbindlichkeit ihres Auftretens zu behaupten. Die Vielfalt der normenkonformen Verhaltensweisen erfordert eine ideographische Erfahrungsmethode, die das Besondere einer Handlung nicht normativ verallgemeinert, sondern als Partikulares in seinem Recht beläßt. Unter gattungstheoretischen Gesichtspunkten bieten aphoristische Formen hier insofern günstige Voraussetzungen, als sie unterschiedliche Erfahrungen unverbunden nebeneinander stellen können und sich sogar dem Widerspruch öffnen. La Rochefoucauld stellt die Möglichkeit eines normenkonformen Verhaltens grundsätzlich in Frage und versucht, seine moralskeptische Grundhaltung mit Hilfe von literarischen Verfahren der Desillusionierung zu verbreiten. Die akzidentelle Qualität ist für den Autor der Maximen nicht mehr Indiz für den substantiellen Wert eines Subjekts, 198

sondern das Resultat von rational kalkulierten Verhaltensweisen, die aus sich selbst heraus die Zustimmung und den Beifall der höfischen Gesellschaft finden, im Handelnden jedoch nicht wesenhaft verankert sind. Der Begriff substantielle Qualität setzt eine ganzheitlich-harmonische Anthropologie voraus, deren Existenz La Rochefoucauld vehement bestreitet. An die Stelle des Rationalitätsprimats (Faret) oder der Einheit von coeur und esprit (Méré) tritt in den Maximen ein dissoziiertes Subjekt, dessen Handlungsmotivation vom amour-propre, dem intérêt oder der paresse beherrscht wird und das dem Begriff substantielle Qualität strukturell widerspricht. Auch für La Rochefoucauld ist die prästabilierte Harmonie subjektiver Qualitäten zerbrochen und aufgrund der fehlenden substantiellen Begriffe - eine authentische Bewertung individuellen Verhaltens nicht mehr möglich. Vor diesem Hintergrund entwickelt der Autor eine immanente Hermeneutik, welche die Möglichkeit authentischer moralischer Urteile in einer Erkenntnishaltung sucht, die weitgehend auf Intuition basiert und der Vermittlung mit gesellschaftlich sanktionierten Anschauungen entgeht. Im Zuge dieser Partikularisierung von Erkenntnis muß er sich notwendig von einem intersubjektiven Wahrheitsbegriff distanzieren und ein komplementäres Nebeneinander unverbundener Wahrheiten einräumen. Seine innovative Hermeneutik läßt eine diskursive Darstellung nicht mehr zu: Der subjektiv-differenzierte Wahrheitsbegriff bedingt die aphoristische Form seiner Präsentation. Der Bruch in der prästabil ierten Harmonie erscheint bei La Bruyère in der Gestalt unterschiedlicher Wertesysteme, die als amitié und sociabilité einander gegenübergestellt werden. Beide Systeme interpretieren gesellschaftliches Verhalten unter abweichenden Perspektiven, sie geben verschiedene Modelle der normativen Orientierung und bewirken so eine innere Zerrissenheit des handelnden Subjekts, die in mehreren Portraits zum Ausdruck kommt. Im Gegensatz zu den vorausgegangenen moralistischen Entwürfen leitet La Bruyère die menschlichen Verhaltensweisen nicht aus subjektiven Anlagen oder Interessen ab, sondern konstruiert ein komplexes Geflecht unterschiedlicher sozialer Diskursformen, die den Handelnden auf teilweise gegensätzliche Wertesysteme verpflichten. Jedes Subjekt ist auf diese Weise in seinem Verhalten von außen determiniert und muß den Gegensatz der Wertesysteme in sich aushalten. Einzig der honnête homme kann sich dem Anpassungsdruck der sozialen Institutionen partiell entziehen und seinem naturel folgend - selbstbestimmt handeln. Diese Eigenschaft macht ihn zum Leitbild der 'Caractères'. - Als literarische Gattung bietet das Portrait die Möglichkeit, die unterschiedlichen Determinationsmechanismen, die von La Bruyère noch nicht begrifflich analy199

siert werden konnten, in einem subjektiven Erfahrungszusammenhang zu beschreiben. Die Heterogenität des Verhaltens aller Subjekte sperrt sich gegen den diskursiven Zugriff, weil sie keinen geschlossenen Sinnzusammenhang mehr erkennen läßt. Der Formenwandel in der höfischen Moralistik des 17. Jahrhunderts muß im Rahmen einer Interpretation, die literatursoziologische mit gattungstheoretischen Fragen verknüpft, auf epochale Veränderungen in der Sozialtheorie zurückgeführt werden. Der Bedeutungszuwachs der offenen Formen ist nicht eine Folge deskriptiver oder didaktischer Grundhaltungen auf Seiten der Autoren, sondern das Resultat der Negation einer prästabilierten Harmonie von substantieller und akzidenteller Qualität des handelnden Subjekts. Während die frühen Moralisten noch davon ausgehen konnten, daß die gesellschaftliche Stellung eines Subjekts Aufschluß über dessen moralisches Wesen geben kann, schwindet diese Sicherheit gegen Mitte des Jahrhunderts und macht einer Skepsis Platz, welche die Differenz von gesellschaftlichem Sein und dem von ihr selbst behaupteten Sinn konstatieren muß. Auf diese Erkenntnis reagiert die moralistische Theorie mit der Formulierung dynamischer Normen, mit einer innovativen Hermeneutik oder mit der Kritik an gesellschaftlichen Determinationsmechanismen, die aus jeweils unterschiedlichen Gründen eine aphoristische Form der Darstellung verlangen.

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