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German Pages 394 Year 2017
Tobias Zimmermann Digitale Diskussionen
Edition Politik | Band 44
Für Lena
Tobias Zimmermann, geb. 1987, Politikwissenschaftler, promovierte an der Graduate School of Politics der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Kommunikation, politische Theorie, politische Partizipation online wie offline – insbesondere mittels Social Media – sowie die Online-Deliberationsforschung. Er ist als Kommunikationsmanager bei einer gemeinnützigen Organisation tätig.
Tobias Zimmermann
Digitale Diskussionen Über politische Partizipation mittels Online-Leserkommentaren
Diese Dissertation wurde unter dem Titel »Diskussionen im Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0?! Eine vergleichende Analyse politischer Partizipation durch Online-Leserkommentare« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster vorgelegt undangenommen. D6 Das Forschungsvorhaben wurde von der Heinrich-Böll-Stiftung gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Tobias Zimmermann Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3888-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3888-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Danksagung | 7 1. Demokratische Öffentlichkeit und Online-Leserkommentare | 9
Einführung | 9 Argumentation dieser Studie | 15
2. Deliberative Demokratietheorie | 19
Grundlagen der Theorie nach Jürgen Habermas | 21 Kritik | 29 Definition des deliberativen Prozesses | 32 Zusammenfassung | 39 3. Partizipation durch Online-Leserkommentare: Einordnung und Beschreibung | 43
Die Relevanz von Online-Deliberation als Form diskursiver Online-Partizipation | 44 Die strukturellen Rahmenbedingungen von Online-Deliberation | 55 Zusammenfassung | 72 4. Der Untersuchungsgegenstand: Der Online-Leserkommentar als Leserbrief 2.0 | 75
Der Online-Leserkommentar: Eine Gegenstandsbestimmung | 77 Forschungsstand zur deliberativen Qualität von Online-Leserkommentaren | 91 Die Akteure von Online-Leserkommentaren: Journalisten und Produser | 107 Der klassische Leserbrief: Definition, Funktion und Forschung | 112 Zusammenfassung | 117 5. Hypothesenbildung | 121
Medial vermittelte diskursive Partizipation online und offline | 121 Handlungslogiken von Online-Leserkommentaren | 128 Der Einfluss struktureller und kontextueller Faktoren | 139 6. Methodische Vorgehensweise | 147
Diskussion zentraler Ansätze der empirischen (Online-) Deliberationsforschung | 148 Schwächen des Discourse Quality Index und Konsequenzen für die Studie | 153 Zwei Inhaltsanalysedesigns: Begründung und Codebuch | 159 Inhaltsanalyse deliberativer und liberal individualistischer Partizipation | 186 Diskussion der Reliabilität der inhaltsanalytischen Messinstrumente | 199 7. Online-Leserkommentare und der klassische Leserbrief im Vergleich | 203
Fallauswahl und Datensatz | 203 Ergebnisse | 209
8. Deliberative und liberal individualistische Partizipation in Online-Leserkommentaren | 229
Fallauswahl und Datensatz | 229 Ergebnisse | 233
9. Der Einfluss struktureller und kontextueller Variablen auf Online-Leserkommentare | 265
Fallauswahl und Datensatz | 266 Einfluss struktureller Variablen | 273 Einfluss kontextueller Variablen | 285
10. Kategorisierung diskursiver Partizipation | 301 11. Fazit, Schlussbetrachtungen und Ausblick | 311
Zusammenfassung der Ergebnisse und normative Interpretation | 312 Grenzen dieser Studie | 332 Implikationen für die zukünftige Forschung | 336 Literatur | 345 Abbildungsverzeichnis | 379 Tabellenverzeichnis | 381 Anhang | 385
Danksagung
Eine Dissertation zu verfassen lässt sich gut mit einem Langstreckenlauf vergleichen. Man weiß zu Beginn nicht, ob man das Ziel erreichen wird, obgleich man fest entschlossen ist. Während des Laufs, beziehungsweise Schreibprozesses, wird man überholt und überholt wiederum andere. Man durchleidet Krämpfe und erlebt das ein oder andere Runner’s High. Und schlussendlich, wenn man das Ziel erreicht hat, ist man glücklich erschöpft - und mag es kaum glauben. Obgleich eine Dissertation ebenso wie ein Langstreckenlauf eine höchst individuelle Aufgabe ist, die Läufer und Verfasser maximal auf sich selbst zurückwirft, gibt es zahlreiche Personen, die einem auf der Wegstrecke begegnen und ohne die man die vielen Kilometer, Seiten, Konferenzen und Vorträge wohl nicht erfolgreich absolviert hätte. Da sind die Menschen, die einen überhaupt erst dazu motivieren, anzutreten, die Trainer mit ihren Ratschlägen, andere Läufer, die einen mit sich ziehen und motivieren, die Menschen am Rand, die einen anfeuern und aufmuntern sowie diejenigen, die Wasser und Verpflegung immer dann bereithalten, wenn man kurz vor einem Hungerast steht. Diesen Menschen ist dieses kurze Vorwort gewidmet. Diesen möchte ich an dieser Stelle danken. Zuvor möchte ich mich noch für die materielle und ideelle Förderung durch die Heinrich Böll Stiftung bedanken, die durch ihr ‚Sponsoring’ einen wichtigen Beitrag dazu geleistet hat, dass ich mein Ziel erreichen konnte. Zuerst sind da natürlich meine Trainer oder Doktorväter zu nennen. Ich möchte Prof. Dr. Norbert Kersting in erster Linie dafür danken, mich dazu motiviert und mir erst die Chance gegeben zu haben, diese Dissertation anzugehen. Prof. Dr. Oliver Treib möchte ich ganz besonders für eine Betreuung weit über das übliche Maß eines Zweitbetreuers hinaus sowie Zeit, Rat und Tat in den entscheidendsten Momenten danken. Lieber Oliver, ich werde dir diese Unterstützung niemals vergessen. Liebe Trainer, danke!
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Von meinen Weggefährten an der Universität ist zuallererst Sebastian Schneider zu nennen, von dessen riesigem methodischen sowie auch theoretischen Wissen und seiner unerschöpflichen Hilfsbereitschaft ich unglaublich profitiert habe. Weiterhin möchte ich an dieser Stelle Dr. Andrea Walter, Dr. Anne-Dörte Balks, Christine Dietz, Dr. Ivo Hernandez, Dr. Kai Pfundheller, Martin Althoff, Michael Verspohl, Dr. Stephan Engelkamp und Prof. Dr. Thomas Dietz unter meinen vielen tollen Kolleginnen und Kollegen an der Graduate School of Politics und der Universität Münster besonders hervorheben und für ihre Unterstützung danken. Ganz besonderer Dank gebührt an dieser Stelle Prof. Dr. Bernd Schlipphak und Dr. Matthias Freise, deren Ratschläge und Hilfsbereitschaft für den Erfolg dieses Projekts unabdingbar waren, ebenso wie ihre Geduld, wirklich jede meiner Fragen mit einer qualifizierten Antwort zu würdigen. Liebe ehemalige Kolleginnen und Kollegen, liebe Weggefährten, danke euch! Auch außerhalb der Universität gab es Menschen, die mich über die dreieinhalb Jahre begleitet haben und mir neben ihrer unschätzbaren Freundschaft auch fachlich behilflich waren. Hier möchte ich Philipp Graf, meinen allzeitbereiten, sprachvirtuosen Hausanglisten, Sabrina „Meddy“ Gaisbauer, immer kompetente und hilfsbereite Politikwissenschaftlerin wie –vermittlerin und Stefan Rack, stets verfügbaren Social Media-Experten, Entrepreneur und kritisch-rationalen Geist hervorheben und ihnen meinen tief empfunden Dank aussprechen. Ich danke euch Leute für euren fachlichen Rat, eure Geduld, die zwischenmenschliche Rettung vor dem akademischen Hungerast und vor allem für eure Freundschaft. Ich bin in dieser Zeit so vielen Menschen begegnet, dass es unmöglich ist, allen den Dank zuteilwerden zu lassen, den sie verdienen. Nennen möchte ich an dieser Stelle dennoch noch Anne Edling, Daniel Blume, Gregor Rohloff, Katja Philipps, Leonard Klekamp und Paula Edling. Danke ihr Lieben! Der vielleicht größte Dank gilt natürlich meinen Eltern Gabriele und Werner Zimmermann, ohne deren Fürsorge in meinen bislang 29 Lebensjahren, unerschütterliche Unterstützung und familiären Zusammenhalt ich weder der wäre, der ich bin, noch dort wäre, wo ich bin. Danke euch Zwei - Ihr seid die besten Eltern, die ich mir wünschen kann! Den besonderen Platz am Ende dieser Danksagung reserviere ich indes Lena Edling, der ich dieses Buch zusammen mit meinen Eltern widme, ist sie doch der Mensch, der gemeinsam mit mir durch dieses Leben geht. Liebe Lena, ich danke dir für alles, natürlich für deine unermüdliche, unersetzliche und auf gar keinen Fall selbstverständliche Unterstützung auf der Zielgeraden dieses Marathons, für deine ebenso unermüdliche, unersetzliche und ebenso nicht selbstverständliche Unterstützung in allen Phasen meines Lebens seit wir unsere gemeinsam leben. Ich danke dir dafür, dass du an meiner Seite stehst.
1. Demokratische Öffentlichkeit und Online-Leserkommentare
„Within established national public spheres, the online debates of web users only promote political communication, when news groups crystallize around the focal points of the quality press, for example, national newspapers and political magazines“ (HABERMAS 2006, S. 423).
E INFÜHRUNG Es ist unklar, ob Jürgen Habermas zum Zeitpunkt dieser Aussage bereits im Sinn haben konnte, dass nur zehn Jahre später die meisten Nachrichtenseiten im Internet ihren Lesern die Möglichkeit bieten würden, journalistische Artikel zu kommentieren und zu diskutieren. Leserkommentarfunktionen sind mittlerweile fester Bestandteil von Online-Nachrichtenseiten und werden von den Nutzerinnen1 in hohem Maße genutzt (vgl. Kersting 2014, S. 55; Neuberger u. Nuernbergk 2010, S. 330-331; Reich 2011, S. 97-98; Ruiz et al. 2011, S. 464; Sehl 2013, S. 158). Nichtsdestotrotz liefert er hiermit eine Begründung für die politikwissenschaftliche Bedeutung von Online-Leserkommentaren. Die deliberative Demokratietheorie nach Habermas prägt den politikwissenschaftlichen Diskurs zum Internet maßgeblich und kann als Geburtshelfer der On-
1
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für alle Geschlechter. Im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit werden sowohl die männliche als auch die weibliche Form gebraucht.
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line-Deliberationsforschung betrachtet werden. Habermas (1992; 2006; 2008) beschreibt eine politisch aktive Öffentlichkeit, die im normativ definierten Diskussionsmodus der Deliberation rationale, allgemein zustimmungsfähige Meinungen und letztlich legitime Politik herstellt. Die zahlreichen Expressions- und Diskussionsmöglichkeiten im Internet inspirierten auf diesem theoretischen Fundament aufbauend einen eigenständigen Forschungsstrang (vgl. Coleman u. Moss 2012, S. 6; Dahlberg 2004, S. 29; Emmer u. Wolling 2010, S. 141; Graham 2015, S. 250-256; Janssen u. Kies 2005, S. 40; Kersting 2005b, S. 5-10; 2014, S. 62-76; Stromer-Galley u. Wichowski 2011, S. 169; Wright 2012, S. 255). Worauf Habermas mit seiner Aussage Bezug nimmt, ist, dass es sich bei der Netzöffentlichkeit weniger um ein konsistentes Gebilde handelt, als um die Ansammlung voneinander separierter oder nur lose zusammenhängender Suböffentlichkeiten. Dies steht dem deliberativen Öffentlichkeits-Ideal diametral entgegen (vgl. Bohman 2004, S. 139-145; Dahlgren 2014, S. 76-79; Habermas 2008, S. 161; Kersting 2014, S. 81). Die Nachrichtenseiten der Qualitätsmedien sind Hauptanlaufpunkt der Internetnutzerinnen auf der Suche nach politischen Informationen und damit in der Lage, Öffentlichkeit zu kanalisieren (vgl. Mitchelstein u. Boczkowski 2010, S. 1091). Online-Leserkommentare sind folglich für die Online-Deliberationsforschung nicht nur als ein vergleichsweise hochfrequentiertes Diskussionsforum von besonderem Interesse, sondern auch auf Grund ihrer Verbindung zu den Nachrichtenseiten der bekannten Qualitätsmedien. Die politische Bedeutung von Online-Leserkommentaren bemisst sich im Sinne der deliberativen Demokratietheorie nun daran, inwieweit sie für Diskussionen genutzt werden, die als deliberativ charakterisiert werden können (vgl. Graham u. Wright 2015, S. 5; Graham 2015, S. 251; Janssen u. Kies 2005, S. 40; Kersting 2005b, S. 2; Ruiz et al. 2011, S. 465-466, 468; Stromer-Galley u. Wichowski 2011, S. 177). Es überrascht, dass Leserkommentare trotz ihrer exaltierten Stellung und starken Nutzung erst seit Kurzem medial (vgl. Diener 2014; Lütkemeier u. Müller 2014; Schade 2015; Taube u. Schattleitner 2015) und wissenschaftlich (vgl. Coe et al. 2014; Freelon 2015; Graham u. Wright 2015; Jakobs 2014; Rowe 2014; Ruiz et al. 2011; Santana 2014; Strandberg u. Berg 2013) rezipiert werden. International, wie in Deutschland, steht ihre Erforschung erst ganz am Anfang (vgl. Graham u. Wright 2015, S. 3-5; Ruiz et al. 2011, S. 464; Sehl 2013, S. 159; Strandberg u. Berg 2013, S. 135).
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Hauptsächlich aus der Kommunikationswissenschaft kommen erste Fallstudien, die aber bislang noch keine konsistente Bewertung diskursiver Partizipation2 durch Online-Leserkommentare hervorbringen konnten. Es finden sich positive (vgl. Graham u. Wright 2015; Manosevitch u. Walker 2009; Singer 2009), negative (vgl. Coe et al. 2014; Jakobs 2014; Rowe 2014; Santana 2014) und ambivalente Evaluationen (vgl. Freelon 2015; Ruiz et al. 2011; Strandberg u. Berg 2013) aus deliberativer Perspektive. Die Studien beschränken sich überwiegend auf deskriptive Analysen und sind nur in begrenztem Maße vergleichbar. Die Ursachen hierfür sind methodischer und konzeptioneller Natur. Probleme, die auch die Online-Deliberationsforschung als Ganze betreffen (vgl. Coleman u. Moss 2012, S. 5-7; Graham 2015, S. 251). In der Politikwissenschaft spielen die Kommentare bislang keine Rolle. Hier muss notwendige Grundlagenarbeit erst noch geleistet werden. Diese Arbeit reagiert auf diese Herausforderungen und nimmt sich dem offenen Forschungsbedarf an, indem sie sich folgende Leitfrage stellt: Welche Rolle spielen Online-Leserkommentare für ein deliberativ-demokratisches Verständnis digitaler Öffentlichkeit? Somit werden mit den Strukturen von und Interaktionen durch deutsche Leserkommentare zwei zentrale Dimensionen der Online-Deliberationsforschung in den Blick genommen (vgl. Dahlgren 2005, S. 148). Nachfolgend wird erläutert, welche Forschungsfragen zu stellen sind, um eine Antwort auf die Leitfrage dieser Arbeit und eine systematische Herangehensweise an die methodischen und konzeptionellen Herausforderungen der Forschung zu finden. Die oben zitierten Beiträge verschiedener deutscher Online-Qualitätsmedien, wie FAZ.net oder Zeit Online, setzen sich kritisch mit dem Phänomen Online-Leserkommentar auseinander. Die Beiträge tragen Titel wie „Meine Tage im Hass“ (Diener 2014) oder „Gegen Argumente resistent“ (Taube u. Schattleitner 2015) und entsprechen der negativen Perzeption der Leserpartizipation durch den professionellen Journalismus, welche die Forschung mit Interviews und Umfragen offenlegen konnte (vgl. Bakker u. Pantti 2009, S. 9; Diakopoulos u. Naaman 2011, S. 3-4; Hermida u. Thurman 2008, S. 12-13; Manosevitch 2011, S. 436-438; Neuberger u. Nuernbergk 2010, S. 331; Reich 2011, S. 98, 103-104; Thurman 2008, 2
Es ist die Aufgabe der Online-Deliberationsforschung zu prüfen, ob digitale Kommunikation im theoretischen Sinne als deliberativ bezeichnet werden kann. Um terminologische Ungenauigkeiten zu vermeiden, nutzt diese Arbeit als allgemeineren Oberbegriff für die politische Meinungsäußerung das Konzept diskursiver Partizipation nach Delli Carpini et al. (2004, S. 318-319). Eine ausführliche Differenzierung leisten die Kapitel 2 und 3.
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S. 153-155). Der deutsche Presserat forderte in dieser Konsequenz, dass OnlineLeserkommentare künftig wie klassische Leserbriefe behandelt werden sollen (vgl. Lütkemeier u. Müller 2014; Spiegel Online 2014). Hieran wird zweierlei deutlich. Erstens lassen sich Online-Leserkommentare als digitales Äquivalent zum klassischen Leserbrief auffassen, die sich hauptsächlich durch das Publikationsmedium voneinander unterscheiden (vgl. Manosevitch u. Walker 2009, S. 6, 23; Sehl 2013, S. 157; Strandberg u. Berg 2013, S. 134). Zweitens wird angenommen, dass sich mediale Kommunikation durch das Internet grundlegend verändert (hat). Das ist auch eine wesentliche Prämisse der einschlägigen Forschung. Während die journalistische Kritik3 sich aber auf die vermeintlich problematisch niedrige Qualität der Nutzerbeiträge bezieht, hofft die Forschung auf eine Demokratisierung medialer Kommunikation im deliberativen Sinne. Sie bezieht sich darauf, dass Online-Leserkommentare wie auch andere digitale Diskussionsplattformen die interaktive Kommunikation zahlreicher Nutzer zulassen (many-to-many-Kommunikation). Klassische Massenmedien bieten diese Möglichkeit nicht (one-tomany-Kommunikation). Nur wenn die Nutzer interaktiv kommunizieren, kann sich Deliberation herausbilden (vgl. Emmer u. Bräuer 2010, S. 311-312; Emmer u. Wolling 2010, S. 37-38; Fung et al. 2013, S. 33; Kersting 2014, S. 77; Papacharissi 2009, S. 231). Beide Aussagen liefern widersprüchliche Implikationen, sind aber deshalb nicht unvereinbar. Sie haben gemeinsam, dass sie dem Internet als Massenmedium determinierenden Charakter unterstellen. Die erste Frage prüft genau diese Prämisse. Frage 1: In welcher Weise wirkt sich das Internet auf das Kommunikationsverhalten seiner Nutzer aus? Begünstigen Online-Leserkommentare andere Kommunikationsformen als der klassische Leserbrief? Die damit verbundenen Hypothesen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Online-Leserkommentare sind interaktiver, aber weniger qualitativ als die stärker journalistisch selektierten Leserbriefe. Wenn die Forschung bislang einen OnlineOffline-Vergleich anstrengt, vergleicht sie digitale Diskussionen mit klassischen Diskussionen von Angesicht zu Angesicht (Face-To-Face-Deliberation), die ihr als Referenzrahmen dienen (vgl. Baek et al. 2012; Fishkin 2009; Min 2007; Monnoyer-Smith u. Wojcik 2012; Tucey 2010). Die überschaubaren Arbeiten zum Leserbrief (de Nève 2012; vgl. Heupel 2007; Marcinkowski 2004; Mlitz 2008; Nielsen 2010; Richardson 2004; Wahl-Jorgensen 2001, 2002, 2007) sind kaum mit 3
Der Presserat bezieht sich in erster Linie auf ein hohes Maß an Aggressivität und wenig Rationalität in den Kommentarspalten. Die Kritik, dass Leserkommentare häufig Beleidigungen und selten konstruktive Ideen enthielten und sich damit negativ auf die journalistische Arbeit auswirken könnten, ist gängig unter deutschen, wie internationalen Journalisten. Dies zeigen die oben genannten Studien.
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den bisherigen Studien zu Online-Leserkommentaren zu vergleichen. Insofern betritt diese Studie hiermit weitgehend Neuland. Bestätigen sich die Hypothesen, muss dies aber nicht heißen, dass Online-Leserkommentare grundsätzlich von geringer deliberativer Qualität sind. Stattdessen gilt es einen der zentralen Schwachpunkte der jungen Online-Deliberationsforschung zu überwinden. Wenn Online-Deliberationsforscher digitale Kommunikation untersuchen, prüfen sie Diskussionen auf deliberative Qualität. Hierbei konzentrieren sie sich auf die Annahmen eines deliberativen Verständnisses von digitaler Kommunikation und Öffentlichkeit. Diskursive Partizipation online muss aber nicht automatisch deliberativ sein. Dies wird im Forschungsdesign einschlägiger Studien aber kaum reflektiert. Nicht-deliberative Partizipation wird somit in der Analyse vernachlässigt, was deren Interpretationsleistung notwendigerweise beschränkt. Die Analyse anderer Partizipationsmodi böte eine demokratietheoretische Erklärung für ambivalente Forschungsergebnisse und neue Perspektiven für die Online-Deliberationsforschung, wie sie Coleman und Moss (2012, S. 5-7) in ihrer Kritik des Forschungsstands bereits fordern. Dahlberg (2001a) hat bereits früh auf alternative Konzepte e-demokratischer Praxis hingewiesen. Zehn Jahre später kam er zu der Feststellung, dass deliberative Rhetorik und Praxis nicht die wahrscheinlichste Nutzungsmöglichkeit digitaler Beteiligungsangebote darstellen (vgl. Dahlberg 2011, S. 866). In der jüngeren Vergangenheit wurden deshalb verschiedene Konzepte vorgestellt, digitale Kommunikation auch alternativ als ausschließlich deliberativ zu beschreiben und zu analysieren (vgl. Dahlberg 2011, S. 859-860; Freelon 2010, S. 1181-1182; Hirzalla u. van Zoonen 2011, S. 484-487; Kersting 2014, S. 77-79; 2016, S. 255-259; Pickard 2008, S. 632). Die zweite Frage dieser Arbeit lautet wie folgt: Frage 2: Welche Form politischer Aktivität findet in Online-Leserkommentaren vorwiegend ihren Ausdruck? Sind Online-Leserkommentare in erster Linie ein Instrument deliberativer Partizipation oder anderer Aktivitäten? Die zugehörigen Hypothesen (2) gehen davon aus, dass sich in Online-Leserkommentaren neben deliberativer auch eine Form diskursiver Partizipation ausdrückt, die sich adäquat mit Lincoln Dahlberg (2001a; 2011) als liberal individualistisch beschreiben lässt. Es hat sich (noch) kein allgemein anerkanntes Verständnis digitaler Expression und Diskussion parallel zum deliberativen Ansatz etablieren können. Eine Gemeinsamkeit der aktuellen Forschung, die sich verschiedenen Analysen, Studien und Kommentaren entnehmen lässt, besteht aber darin, individuellen sowie expressiven Motiven und Ausdrucksformen zunehmende Bedeutung zuzuschreiben (vgl. Dahlberg 2011; Dahlgren 2014; Gibson u. Cantijoch 2013; Gil de Zúñiga et al. 2014; Gil de Zúñiga et al. 2010; Kersting
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2012c, 2013b, 2014, 2016; Papacharissi 2009, 2012; Schlozman et al. 2012). Hierfür bietet Dahlberg (2011, S. 858-859) einen konzeptionellen Rahmen, den er in der Tradition der liberalen Denkschule entwirft. Dies macht den Ansatz doppelt interessant, da liberale Werte und Normen doch fest in unserem gesellschaftlichen Mainstream verankert sind, wie Dahlberg (2011, S. 866) selbst argumentiert und Habermas (1992; 1996) seine Theorie deliberativer Demokratie dezidiert in Auseinandersetzung mit dem Liberalismus entwirft. Während Frage 1 und 2 deskriptiver Natur sind, ist Frage 3 explanativ angelegt. Nur in Ausnahmefällen sind bisherige Studien zu Online-Leserkommentaren vergleichend angelegt (vgl. Freelon 2015; Rowe 2014; Ruiz et al. 2011). Auch bei mehreren untersuchten Fällen bleiben die Analysen überwiegend deskriptiv. Kontextuelle oder strukturelle Erklärungsversuche bleiben zumeist spekulativ (vgl. Manosevitch 2011, S. 436-439; Ruiz et al. 2011, S. 482-483; Strandberg u. Berg 2013, S. 145). Die Heterogenität der Leserkommentarfunktionen und ihrer Betreibermedien wird nur unzureichend in die Analyse miteinbezogen. An dieser Forschungslücke setzt diese Studie mit Leitfrage 3 an. Frage 3: Welchen Einfluss haben die Struktur der Kommentarfunktion und das Betreibermedium auf die deliberative Qualität von Online-Leserkommentaren? Dem liegt die Hypothese zugrunde, dass die deliberative Qualität von OnlineLeserkommentaren zwischen verschiedenen Betreibermedien differiert. Als Indizien hierfür dienen erstens die heterogenen Untersuchungsergebnisse der verschiedenen Fallstudien. Diese untersuchten jeweils verschiedene Betreibermedien aus verschiedenen Nationen4. Zweitens die Tatsache, dass bei der Organisation und technischen Ausgestaltung von Online-Leserkommentaren „im Moment jeder Verlag sein eigenes Süppchen [kocht]“ (Lütkemeier u. Müller 2014), wie die FAZ in eigener Recherche herausgefunden hat. Und drittens unterscheiden sich die Medien selbst, etwa in der Form ihrer Berichterstattung oder ihren Zielgruppen. Hieraus lassen sich mit der Kommentarfunktion und dem Betreibermedium zwei Variablengruppen ableiten, welchen Einfluss auf die deliberative Qualität der Leserkommentare unterstellt werden kann. Ein wachsender Literaturkorpus innerhalb der Online-Deliberationsforschung zeigt den Einfluss der technischen und organisatorischen Struktur digitaler Diskussionsplattformen auf die deliberative Qualität der Inhalte (vgl. Davies u. Chandler 2012; Janssen u. Kies 2005; Kersting 2012c;
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Der bislang systematischste Ansatz (vgl. Ruiz et al. 2011) einer vergleichenden Untersuchung konnte wesentliche Unterschiede zwischen Online-Leserkommentaren aus unterschiedlichen Nationen aufzeigen. Unterschiede auf Ebenen unterhalb des Nationalstaats lassen sich mit diesem Ansatz aber nicht erklären.
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Wright 2012). Die Kommentarfunktionen deutscher Nachrichtenmedien unterscheiden sich anhand struktureller Merkmale (zum Beispiel Moderation, Art der Registrierung, Funktionen zum Antworten oder Melden von Kommentaren), weshalb hier Erklärungspotential vermutet werden kann. Mit Blick auf die Betreibermedien selbst bieten sich zwei in der Kommunikationswissenschaft gängige Unterscheidungen von Nachrichtenmedien an, denen angesichts des aktuellen Forschungsstandes Erklärungspotential unterstellt werden kann. Erstens lassen sich deutsche Nachrichtenmedien gemäß der ihnen von der kommunikationswissenschaftlichen Forschung unterstellten Berichterstattungstendenz auf einem politischen Links-Rechts-Schema verorten und somit voneinander abgrenzen (vgl. Donsbach et al. 1996, S. 348; Eilders 2002, S. 29, 41). Einzelne Studien zu Weblogs legen einen entsprechenden Einfluss nahe (vgl. Adamic u. Glance 2005, S. 14; Lawrence et al. 2010, S. 151-152; Shaw u. Benkler 2012, S. 478-482). Zweitens ist die Unterscheidung zwischen Qualitätsmedien und Boulevardmedien gängig und lässt Konsequenzen für den Inhalt von OnlineLeserkommentaren annehmen (vgl. Eilders 2002, S. 29; Gripsrud 2000, S. 292293; Manosevitch 2011, S. 438). Mit der Analyse der drei Fragestellungen kann geklärt werden, welchen Einfluss das Medium Internet auf die deliberative Qualität von Online-Leserkommentaren hat, inwieweit Online-Leserkommentare überhaupt als deliberatives Partizipationsinstrument betrachtet werden können und ob sich die deliberative Qualität von Online-Leserkommentaren in gewissem Maße determinieren lässt. Damit kann die Leitfrage dieser Arbeit beantwortet werden.
ARGUMENTATION DIESER S TUDIE In ihrem ersten Schritt erarbeitet diese Arbeit ihre theoretische Grundlage. Kapitel 2 erläutert die deliberative Demokratietheorie mit besonderem Fokus auf das Konzept von Jürgen Habermas, das den größten Einfluss auf die Online-Deliberationsforschung ausübt (vgl. Dahlberg 2004, S. 24). Zusätzlich gibt sie einen Einblick in die theoretische Debatte bezüglich der Kernkriterien des deliberativen Prozesses. Somit legt sie eine valide Grundlage für die zur empirischen Analyse notwendige Operationalisierung des Deliberationsprozesses und ermöglicht die Unterscheidung zwischen der anhand normativer Kriterien spezifizierten Form deliberativer Partizipation und anderen Formen diskursiver Partizipation. Mit Kapitel 2 leitet diese Arbeit folglich die demokratietheoretische Relevanz politischer Diskussionen und Diskussionsforen ab, wie sie Online-Leserkommentarfunktionen darstellen.
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Kapitel 3 beschäftigt sich anschließend mit der konzeptionellen Einordnung von Online-Deliberation. Hierzu wird Online-Deliberation als spezifische Form diskursiver digitaler politischer Beteiligung in die politikwissenschaftliche Partizipationsforschung eingeordnet und auf dieser Basis ihre empirische Relevanz erläutert. Zusätzlich wird mit den Rahmenbedingungen deliberativer Partizipation im Internet eine zentrale Dimension der Online-Deliberationsforschung aufgegriffen (vgl. Dahlgren 2005, S. 148). Anhand einer Erläuterung des Interaktivitätsbegriffs und der Diskussion zentraler technischer und organisatorischer Rahmenbedingungen diskursiver Partizipation online wird die Basis für die Beschreibung und Konzeptualisierung des Online-Leserkommentars als diskursives Partizipationsinstrument gelegt. Dies geschieht auf dieser Basis in Kapitel 4, indem zentrale Charakteristika des Online-Leserkommentars als diskursives Partizipationsinstrument ausdifferenziert und diskutiert werden. Nachdem konzeptionelle Klarheit mit Blick auf den Online-Leserkommentar als Untersuchungsgegenstand dieser Studie geschaffen wurde, wird der aktuelle Forschungsstand skizziert. Hierzu werden das Vorgehen und die Ergebnisse einer breiten Auswahl an Fallstudien miteinander in Bezug gesetzt, verglichen und ausgewertet. Die Erkenntnisse hieraus bilden eine wichtige Grundlage für die Begründung und Ausdifferenzierung des Untersuchungsdesigns dieser Studie und ihrer Arbeitshypothesen. Darüber hinaus wird ein kurzer Einblick in die akteursbezogene Forschung zu Online-Leserkommentaren geleistet und der klassische Leserbrief als Prä-Internet-Pendant dem OnlineLeserkommentar gegenübergestellt. Dieser Vergleich bereitet die Basis für den Online-Offline-Vergleich dieser Studie. Damit nimmt sie sich der theoretischen Vakanz in der Politikwissenschaft den Online-Leserkommentar betreffend an und geht deutlich über die übersichtliche Zahl bisheriger Arbeiten hinaus. Diese beschränken sich zumeist auf eine allgemeine Beschreibung ihres jeweiligen Fallbeispiels und erschweren damit eine übergeordnete Einordnung ihrer Untersuchung. Auf Basis der in den Kapiteln 2 bis 4 erarbeiteten theoretischen sowie konzeptionellen Grundlagen und Forschungsständen können in Kapitel 5 die Arbeitshypothesen dieser Studie entwickelt werden. Die Hypothesen dienen dazu, die in der Einführung artikulierten Leitfragen mittels ihrer empirischen Überprüfung zu beantworten. Kapitel 6 schließt hieran an und stellt den methodischen Zugang dieser Studie vor. Eine Diskussion der wesentlichen methodischen Ansätze der Online-Deliberationsforschung begründet die Auswahl einer quantitativen Inhaltsanalyse mithilfe des sogenannten Discourse Quality Index (DQI). Dieser stellt ein besonders valides, anerkanntes und variables Inhaltsanalysedesign dar, dessen Stärken und
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Schwächen im Anschluss evaluiert und Konsequenzen für das methodische Design dieser Studie abgeleitet werden. Dies bildet die Grundlage für die Entwicklung des Forschungsdesigns dieser Arbeit und hat drei wesentliche Folgen hierfür. Erstens folgt hieraus die Notwendigkeit, den Einsatz und Nicht-Einsatz der einzelnen Inhaltsanalyse-Kategorien theoretisch zu begründen und somit zweitens eine dem Forschungsinteresse dieser Arbeit angepasste Version des DQI zu entwickeln. Der Begründung und Darstellung des Kategoriensystems dessen folgt drittens die Ableitung eines zweiten binären Kategoriensystems zur Überprüfung von Hypothese 2 und ihrer Subhypothesen. Dem folgt eine kritische Evaluation der Qualität der zwei zuvor ausdifferenzierten inhaltsanalytischen Messinstrumente, welche die Diskussion der methodischen Vorgehensweise dieser Arbeit beschließt. Die folgenden Kapitel 7, Kapitel 8 und Kapitel 9 bilden schließlich das empirische Zentrum dieser Arbeit. Hier werden die Ergebnisse der inhaltsanalytischen Untersuchungen präsentiert und im Hinblick auf die einzelnen Arbeitshypothesen diskutiert. Dabei wird jeweils der Ergebnisdarstellung und -präsentation eine Begründung der Fallauswahl und Beschreibung des zugrunde liegenden Datensatzes vorangestellt. In Kapitel 7 wird der Online-Offline-Vergleich von Online-Leserkommentaren mit dem klassischen Leserbrief durchgeführt. Somit wird einem Einfluss des Publikationsmediums auf die zentralen Kriterien deliberativer Qualität nachgespürt und eine Antwort auf die erste Leitfrage dieser Arbeit gesucht, in welcher Weise sich das Internet auf das Kommunikationsverhalten seiner Nutzer auswirkt. Die Untersuchung von Online-Leserkommentaren und Leserbriefen von fünf Publikationsmedien zu drei vergleichbaren, lokalpolitischen Konfliktfällen (Essen, Kiel, Münster) soll zusätzlich dabei helfen, den Widerspruch zwischen theoretischer Forschung und journalistischer beziehungsweise gesellschaftlicher Perzeption der Leserbeiträge, aufzuklären und zu verstehen. Untersucht werden sowohl Online-Leserkommentare als auch Leserbriefe der Kieler Nachrichten sowie der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (Essen) und, in Ermangelung von Online-Leserkommentaren, ausschließlich Leserbriefe der Westfälischen Nachrichten (Münster). Kapitel 8 soll Hinweise auf (dominierende) Partizipationsmuster in OnlineLeserkommentaren anhand inhaltlicher Merkmale liefern. Hierzu werden sechs Leserkommentarspalten auf den bedeutendsten deutschen Online-Nachrichtenmedien, die nicht eindeutig dem Boulevard zuzuordnen sind, vollständig auf indikative Merkmale deliberativer und liberal individualistischer Partizipation hin untersucht. Um Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden Leserkommentare zu Arti-
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keln der Online-Plattformen von Frankfurter Allgemeine Zeitung, Focus, Rheinische Post, Welt, Spiegel und Zeit gesichert, welche als erste auf der jeweiligen Internetseite den Rücktritt des ehemaligen Landwirtschaftsministers Hans-Peter Friedrich vermeldeten und Kommentare zuließen. Hierauf basierend werden die Online-Leserkommentare zu den sechs Artikeln auf mögliche Muster diskursiver Partizipation hin analysiert, indem der vorliegende Datensatz auf Zusammenhänge zwischen einzelnen inhaltlichen Merkmalen untersucht wird. Die hier zugrunde liegende Annahme ist die, dass begründetermaßen angenommen werden kann, dass bestimmte inhaltliche Merkmale andere fördern oder hemmen und deshalb Muster deutlich werden. Somit soll eine Antwort auf Leitfrage 2 gefunden werden, welche Form politischer Aktivität in Online-Leserkommentaren vorwiegend ihren Ausdruck findet. Die Untersuchung in Kapitel 9 geht über die deskriptive Ebene hinaus und soll Erklärungsansätze für Unterschiede zwischen den Ergebnissen der Leserkommentare auf verschiedenen Nachrichtenseiten überprüfen. Hierzu wird der in Kapitel 8 untersuchte Datensatz um Online-Leserkommentare von Bild Online ergänzt und der Einfluss medienabhängiger Variablen auf die inhaltlichen Merkmale der Online-Leserkommentare geprüft. Untersucht wird erstens der Einfluss technischer und organisatorischer Merkmale der Online-Leserkommentarfunktionen auf den einzelnen Nachrichtenseiten, die der Identifizierung der Nutzerinnen, der Regulierung des Inhalts sowie der Beteiligung der Nutzer an dieser Regulierung dienen. Zweitens werden neben diesen strukturellen Variablen kontextuelle Variablen analysiert. Hierzu werden die Nachrichtenmedien in Boulevard- und Qualitätsmedien unterteilt und auf dem politischen Links-Rechts-Schema verortet. Auf diese Weise wird auf gängige Differenzierungen der Kommunikationswissenschaft zurückgegriffen. Damit kann auch Forschungsfrage 3 nach dem Einfluss der Struktur der Kommentarfunktion und dem Einfluss des Betreibermediums auf die deliberative Qualität von Online-Leserkommentaren beantwortet werden. In Kapitel 10 wird eine Kategorisierung diskursiver Partizipation entwickelt und somit eine tiefergehende Interpretation der Ergebnisse der Inhaltsanalyse geleistet. Kapitel 11 beschließt diese Arbeit in drei Teilen. Erstens werden die Ergebnisse zusammenfassend normativ reflektiert und eingeordnet und somit Antworten auf die leitenden Forschungsfragen dieser Arbeit formuliert. Zweitens werden die Erkenntnisgrenzen dieser Studie reflektiert und der bisherigen Forschung gegenübergestellt. Drittens endet diese Arbeit mit einem Ausblick auf und Implikationen für die zukünftige Forschung
2. Deliberative Demokratietheorie
Mit dem „deliberative turn“ (Dryzek 2000, S. 1) in den 1990er-Jahren hat sich die deliberative Demokratietheorie nicht nur zu einem führenden demokratietheoretischen Denkansatz entwickelt. Sie hat das Denken und Forschen zum demokratischen Potential des Internets massiv beeinflusst und die Debatte entscheidend geprägt (vgl. Dahlberg 2011, S. 864-867; Emmer u. Wolling 2010, S. 37-40; Kersting 2014, S. 74-75). Im Rahmen der deliberativen Demokratietheorie hat sich eine beachtliche Anzahl an theoretischen und empirischen Studien angesammelt (für eine Übersicht siehe Bächtiger u. Wyss 2013; Thompson 2008). Diese wird seit Kurzem ergänzt durch einen wachsenden Korpus von Perspektiven auf eine digitale Öffentlichkeit (vgl. Bohman 2004; Castells 2008; Dahlberg 2001b; Dahlgren 2005; Habermas 2006, 2008; Kersting 2012a, 2014; Papacharissi 2002, 2009; Stromer-Galley; Yang 2008). Die empirisch ausgerichtete Online-Deliberationsforschung beschäftigt sich hauptsächlich mit Untersuchungen digitaler Expression und Diskussion anhand theoretischer Imperative. Bereits früh wurden sogenannte Usenet-Gruppen, EKonsultationsforen und klassischen Webforen auf ihr Potential hin untersucht, deliberative Diskussionen hervorzubringen (vgl. Albrecht 2006; Dahlberg 2001b; Jankowski u. van Os 2004; Kersting 2005b; Kies u. Wojcik 2010; Linaa Jensen 2003; Papacharissi 2004; Strandberg 2008; Talpin u. Wojcik 2010; Wilhelm 1998; Wright 2006; Wright u. Street 2007). Mittlerweile fokussiert sich die Forschung hauptsächlich auf die Diskussionsplattformen sozialer Medien wie Facebook (vgl. Halpern u. Gibbs 2013; Kushin u. Kitchener 2009; Robertson et al. 2010; Valenzuela et al. 2012; Vesnic-Alujevic 2012), Twitter (vgl. Conover et al. 2011; Larsson u. Moe 2011; Thimm et al. 2014; Tumasjan et al. 2011; Vicari 2012), Weblogs (vgl. Ferreira 2011; Lawrence et al. 2010; Mummery u. Rodan 2013; Papacharissi 2009; Vatrapu et al. 2008); Youtube (vgl. Halpern u. Gibbs 2013; Uldam u.Askanius 2013) oder Wikipedia (vgl. Black et al. 2011b; Taraborelli u. Ciampaglia 2010).
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Die deliberative Demokratietheorie bietet folglich eine besonders fruchtbare Perspektive auf den Gegenstand dieser Studie: Der Online-Leserkommentar als diskursive Partizipation am gesellschaftspolitischen Diskurs. Als solche geraten Online-Leserkommentare folgerichtig seit Kurzem ebenfalls in den Fokus der Forschung (vgl. Graham u. Wright 2015; Ruiz et al. 2011; Strandberg u. Berg 2013). Ziel dieses Kapitels ist es deshalb, eine valide theoretische Basis für die Untersuchung von Online-Leserkommentaren zu bereiten. Zu diesem Zweck wird die deliberative Demokratietheorie als Konzeptualisierung demokratischer Öffentlichkeit diskutiert. Eingangs wird das Konzept deliberativer Demokratie nach Jürgen Habermas als Modell prozeduraler demokratischer Legitimation durch eine aktive Öffentlichkeit grundlegend beschrieben. Es wurden verschiedene prominente Konzepte deliberativer Demokratie und Öffentlichkeit (vgl. Benhabib 1996b; Dryzek 2000; Gutmann u. Thompson 2004; Habermas 1996) vorgelegt, aber zumeist orientieren sich deliberative Analysen der digitalen Öffentlichkeit am Ansatz von Jürgen Habermas. Als wesentliche Gründe hierfür werden dessen normative Robustheit und systematische Entwicklung genannt (vgl. Dahlberg 2004, S. 29). Besonders vorteilhaft am Ansatz von Jürgen Habermas ist darüber hinaus, dass Habermas selbst an der Weiterentwicklung seines Ansatzes mitarbeitet und seine Konzeption deliberativer Öffentlichkeit auf das Internet ausweitet (vgl. Habermas 2006, S. 416; Habermas 2008, S. 167). Deshalb bildet die Darstellung der zentralen Elemente seines Ansatzes die Grundlage dafür, die Bedeutung des Internets und seiner Öffentlichkeit für die deliberative Demokratietheorie zu begreifen. Ein Exkurs zu den zentralen Kritikpunkten am deliberativen Paradigma vervollständigt die Grundlage dieses Kapitels und schafft ein basales Verständnis für die Kontroversen der theoretischen Debatte. Die deliberative Demokratietheorie bleibt ein kontroverses Konzept. Sie sieht sich durch ihre Prominenz einer wachsenden Heterogenität an Interpretationen ausgesetzt (vgl. Chambers 2003, S. 308). Besonders im Fokus steht ihre zentrale Handlungsform: die Deliberation. Neben klassischen Kontroversen (vgl. Parkinson 2003, S. 180) erfährt aktuell die Frage große Aufmerksamkeit, wie die normative Basis mit den Bedingungen der empirischen Realität in Verbindung gebracht werden kann - ohne, dass die Theorie ihr kritisches Potential dabei einbüßt (vgl. Bächtiger et al. 2010, S. 54). Deshalb wird im nächsten Schritt die Definition von Deliberation als spezifische Kommunikations- und Partizipationsform diskutiert. Hierzu werden allgemein geteilte Annahmen (vgl. Fung 2005, S. 401) und Kontroversen aufgezeigt sowie Entwicklungstendenzen der Debatte wiedergegeben. Auf diese Weise werden die grundlegenden theoretischen Ansprüche an dis-
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kursive Beteiligung aus deliberativer Perspektive herausgearbeitet. Auf Basis dieser Überlegungen bilden die deliberative Demokratietheorie und ihre Anwendung auf die digitale Öffentlichkeit eine valide Grundlage für die Untersuchung und Bewertung des Online-Leserkommentars aus politikwissenschaftlicher Perspektive.
G RUNDLAGEN
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J ÜRGEN H ABERMAS
Der Austausch des politischen Führungspersonals über freie und faire Wahlen steht im Zentrum der repräsentativen Demokratie und vieler Demokratietheorien (vgl. Dahl 2006, S. 37). Diese wurden in der jüngeren Vergangenheit durch verschiedene demokratische Innovationen ergänzt. Das sind neue Ideen, welche die demokratischen Strukturen und Prozesse von Politik und Regieren verbessern sollen (vgl. Kersting u. Woyke 2012, S. 132; Newton 2012, S. 4). Neben direktdemokratischen Verfahren1, die, wie die Wahl selbst, als numerische Beteiligungsmöglichkeiten (vgl. Schmitter u. Trechsel 2004, S. 83-84) oder voting-centric kategorisiert werden, sind dies zunehmend Verfahren, die als talk-centric eingeordnet werden (vgl. Chambers 2003, S. 308; Dryzek u. Dunleavy 2009, S. 215). Formate wie sogenannte Mini-Publics, Planungszellen, moderne Beiräte oder offene Foren, zum Beispiel im Kontext lokaler Bürgerhaushalte, beteiligen die Bürger diskursiv an der politischen Entscheidungsfindung, wenn auch zumeist rein konsultativ. Den theoretischen Hintergrund hierfür bildet die deliberative Demokratietheorie (vgl. Kersting 2008b, S. 28-33; 2014, S. 61-62). „Voting-centric views see democracy as the arena in which fixed preferences and interests compete via fair mechanisms of aggregation. In contrast, deliberative democracy focuses on the communicative processes of opinion and will-formation that precede voting. Accountability replaces consent as the conceptual core of legitimacy. A legitimate political order is one that could be justified to all those living under its laws“ (Chambers 2003, S. 308). Die Idee, Demokratie stärker talk-centric als votingcentric zu konzipieren, ist keine Innovation des 20. Jahrhunderts. Die Debatten 1
Direktdemokratische Verfahren finden auf kommunaler und Länderebene Anwendung. Hier können die Bürger unmittelbar über Sachfragen oder Personen abstimmen. Dieses Instrument erfreut sich zunehmender Beliebtheit unter den Bürgerinnen und kommt verstärkt als disziplinierendes Element gegenüber den gewählten Repräsentanten zum Einsatz (vgl. Geißel u. Kersting 2013; Kersting 2013a). Beispiele sind die Abstimmung über das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 oder die Abwahl des Oberbürgermeisters Adolf Sauerland 2012 in Duisburg im Kontext des Loveparade-Unglücks.
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der Polis-Demokratie im antiken Griechenland können hierfür als Beispiel dienen. Aber auch in der modernen politischen Theorie wurde die Bedeutung des öffentlichen Diskurses, etwa von Edmund Burke, John Stuart Mill oder John Dewey, beschrieben (vgl. Bohman 1998, S. 400; Habermas 2008, S. 143). Die moderne deliberative Demokratie soll hierbei nicht als Ersatz der repräsentativen Demokratie missverstanden werden. Sie soll diese ergänzen und qualifizieren. Mansbridge (1998, S. 143) schrieb: „Democracy originally meant deliberative democracy.“ Diese Idee findet sich bereits bei John Dewey, der den zentralen Wert des Mehrheitsentscheids in den damit einhergehenden Diskussionen verortet. Diese Diskussionen ermöglichten es, dass Minderheitspositionen in der Zukunft die Chance haben, eine Mehrheit für sich zu gewinnen. Hierbei legt er besonderen Wert auf die Qualifikation der Bürgerinnen für den qualitativen Diskurs. Eine Position, die sich auch in heutigen Theorien prominent wiederfindet (vgl. Landemore 2013, S. 82-85). Der Begriff der Deliberation ist vergleichsweise jung. Landwehr führt ihn auf Joseph M. Bessette und das Jahr 1980 zurück. Die Theorieentwicklung, etwa zehn Jahre später, ist vor allem mit den Namen John Rawls und Jürgen Habermas verknüpft. Besonders Habermas Faktizität und Geltung stieß die Debatte an und inspirierte die Werke wichtiger deliberativer Autoren wie Seyla Benhabib (1996b), James Bohman (1998), John Dryzek (2000) Amy Gutman und Dennis Thompson (2004) (vgl. Landwehr 2012, S. 355-359). Die deliberative Demokratietheorie nahm und nimmt damit eine dominante Rolle in der demokratietheoretischen Debatte ein2. „The final decade of the second millennium saw the theory of democracy take a strong deliberative turn“ (Dryzek 2000, S. 1).
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Gemeinsam ist den normativen Großkonzepten deliberativer Demokratie das Prinzip diskursiver Entscheidungsfindung, sie unterscheiden sich aber hinsichtlich ihres jeweiligen Fokusses. John Rawls stellt den epistemischen Wert von Deliberation in den Mittelpunkt, die vor allem in den politischen Institutionen, wie Parlamenten, Regierungen oder Gerichten verortet wird (vgl. Landwehr 2012, S. 358-359). Seyla Benhabib (1999, S. 62-64) hebt die Herstellung einer erweiterten, empathischeren Mentalität als Folge der legitimitätsproduzierenden Diskussionen gleicher Betroffener hervor. Ein weiteres prominentes Konzept entwickelten Amy Gutmann und Dennis Thompson. Hier steht die Verarbeitung von gesellschaftlichem Wertepluralismus und daraus resultierender Konflikte im Zentrum der Theoriebildung. Es ist das Ziel, das beste und ‚berechtigtste’ Konzept für den Umgang mit moralischen Meinungsverschiedenheiten und dauerhaften Konfliktfragen vorzulegen (vgl. Gutmann u. Thompson 2004, S. 10-12). Jürgen Habermas (2008, S. 167) betont die Bedeutung der (Gegen-)Öffentlichkeit und ihrer Rationalitätsproduktion.
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Jürgen Habermas konstruiert seine deliberative Demokratie über den Gegensatz von Politik und Öffentlichkeit, die sich in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis befinden. Politik und Verwaltung bringen administrative Macht hervor, wodurch sie ihre Aufgabe erfüllen, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen und Recht zu schaffen. Das Recht bedarf in einer Demokratie aber der Begründung und dient hierdurch als Mittler zwischen Politik und unvermachteter Öffentlichkeit. Die Politik ist nicht in der Lage, diese Gründe und damit Legitimation für ihre Entscheidungen zu generieren. Diese werden durch die öffentliche Debatte geschaffen. Die Basis hierfür bildet bei Habermas eine aktive und kritische Zivilgesellschaft. Hierdurch entsteht kommunikative Macht, die nicht direkt Recht setzen, aber diesem Legitimation verschaffen kann. Durch die formalen und institutionalisierten Prozesse des demokratischen Rechtsstaates, in dessen Zentrum die Wahl steht, wird kommunikative Macht in die Politik übertragen. Dort transformiert sie sich durch die Auswahl von Begründungen in administrative Macht und kommt im Recht zur Geltung (vgl. Habermas 2009, S. 63-66; Schaal u. Ritzi 2012, S. 132-134). Mit dieser Konzeption schafft Habermas eine Dichotomie zwischen Zentrum und Peripherie. Im organisierten und formalisierten Zentrum administrativer Politik stehen die Institutionen moderner repräsentativer Demokratie (vgl. Habermas 2008, S. 165-167). Dort dienen sie der Herstellung politischer Rationalität und garantieren die Möglichkeit der öffentlichen Meinungsbildung, indem die Bürger rechtlich abgesichert und von ständiger politischer Entscheidungsfindung entlastet werden. In der Peripherie dient die nicht-organisierte und informelle zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit demgegenüber als Kontrollmechanismus. Die kritische Gegenöffentlichkeit der rationalen kollektiven Meinungsbildung schafft dem politischen Prozess erst seine Legitimität (vgl. Fuchs-Goldschmidt 2008, S. 173; Habermas 2006, S. 415-416; Vogt 2005, S. 99). Bei Habermas finden sich somit zwei Heimstätten von Deliberation: „[…] both the generation of public opinion in the informal sphere and debate in the legislature“ (Dryzek u. Dunleavy 2009, S. 220). Ausgangspunkt für Habermas Theorieentwicklung in Faktizität und Geltung (vgl. Habermas 1992) bildet die Unterscheidung von republikanischem und liberalem Demokratieverständnis. Habermas verbindet Rechtsstaat mit Demokratie und Grund- und Menschenrechte mit Volkssouveränität (vgl. Bevc 2007, S. 294; Buchstein 2003, S. 257; Habermas 1999, S. 285), indem er die deliberative Demokratie als Mittelweg zwischen den gegensätzlichen Modellen konstruiert3 (vgl. 3
Eine ausführliche Gegenüberstellung der sich widersprechenden Prinzipien findet sich in seinem Text „Drei normative Modelle der Demokratie“ (vgl. Habermas 1999, S. 277289).
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Kies 2010, S. 21; Lösch 2005, S. 154, 156; Vogt 2005, S. 98). Wie anhand der Dichotomie von Zentrum und Peripherie deutlich wurde, sind nach Habermas die Verfahren des Rechtsstaates abhängig von einer freien Öffentlichkeit und deren Artikulation politischer Meinung. Die Souveränität des Volkes lässt er aber letztlich nur durch deren Kanäle zur Geltung kommen, um den normativen Anspruch deliberativer Demokratie mit empirischer Relevanz zu verbinden und eine ethische Überfrachtung zu vermeiden (vgl. Fuchs-Goldschmidt 2008, S. 163-164; Habermas 2009, S. 64). Auf diese Weise sucht er die jeweiligen Stärken von Liberalismus und Republikanismus zusammenzufügen und ihre Schwächen zu überwinden. Der integrative, deliberative Ansatz fußt auf der Annahme, dass sich bei hinreichender Institutionalisierung der Kommunikationsformen dialogische und instrumentelle Politik verschränken. Der Meinungs- und Willensbildungsprozess ist damit ins Zentrum des theoretischen Politikverständnisses gerückt, womit das Ziel einer idealen Prozedur von gegenseitiger Beratung und gemeinsamer Beschlussfassung realisiert werden soll (vgl. Habermas 1999, S. 283-289; Lösch 2005, S. 157; Reese-Schäfer 2001, S. 103). Deliberation und Öffentlichkeit Die Öffentlichkeit ist für Habermas ein, wenn nicht das zentrale Konzept seines Wirkens (vgl. Habermas 1990). Darüber hinaus ist es das zentrale Element für die Übertragung seiner Theorie auf die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (vgl. Dahlberg 2004, S. 29-30). Das Verständnis von Öffentlichkeit ist bei Habermas normativ geprägt. Öffentlichkeit ist nach Habermas nicht greifbar, sondern (re-)produziert sich erst durch kommunikatives Handeln. Die politische Öffentlichkeit basiert demnach auf veröffentlichten Meinungen. Dies geschieht in der modernen Gesellschaft vor allem (massen-)medial, weshalb sich bei Habermas zwei Öffentlichkeitskonzepte finden. Wenn Habermas von Öffentlichkeit spricht, meint er in erster Linie die weder organisierte noch vermachtete Kommunikation in der Peripherie des Politischen. Diese wird hergestellt durch die nicht institutionalisierten Strukturen der von Politik und Ökonomie unabhängigen Zivilgesellschaft4. Dem steht die vermachtete Öffentlichkeit der Massenmedien gegenüber, deren Kommunikation hauptsächlich durch politische und ökonomische Eliten geprägt ist. Der hieraus
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Die Zivilgesellschaft bildet bei Habermas eine dritte gesellschaftliche Sphäre gegenüber Staat und Ökonomie. Sie operiert auf Basis ihrer eigenen Handlungslogik: der Solidarität. Dieses Verständnis von Zivilgesellschaft wurzelt im angelsächsischen Konzept der civil society (vgl. Fuchs-Goldschmidt 2008, S. 177; Lösch 2005, S. 158).
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resultierende ungleiche Einfluss auf die öffentliche Meinung ist aus deliberativer Perspektive kritisch. Deswegen ist es Aufgabe der zivilgesellschaftlich konstituierten Kommunikationsfähigkeit der Öffentlichkeit, die durch Massenmedien, Verbände und Politik vermachteten Kommunikationen zu beeinflussen. Sei es als kritischer Filter oder aktiv. Habermas ordnet dies als unrealistisch, aber nicht als negativ utopisch ein (vgl. Habermas 2008, S. 165-167; Habermas 2009, S. 63-66; Landwehr 2012, S. 365-366; Yang 2008, S. 7-8). Hier setzt die Kritik im Strukturwandel der Öffentlichkeit an. Habermas sieht in seiner Habilitationsschrift noch einen kritisch zu beurteilenden Strukturwandel von einer räsonierenden hin zu einer passiv konsumierenden Bürgerschaft. Gleichzeitig überwiege der massenmedial vermittelte Einfluss auf die öffentliche Meinung. „Der Kommunikationszusammenhang eines räsonierenden Publikums von Privatleuten ist zerrissen; die aus ihm einst hervorgehende öffentliche Meinung teils in informelle Meinungen von Privatleuten ohne Publikum dekomponiert, teils zu formellen Meinungen der publizistisch wirksamen Institutionen konzentriert“ (Habermas 1990, S. 356). In seinen späteren der deliberativen Demokratietheorie zugrunde liegenden Werken Die Theorie des kommunikativen Handelns (1981) und Faktizität und Geltung (1992) weist Habermas der Öffentlichkeit optimistischer die Aufgaben zu, Agenda setting zu realisieren und Argumente zu produzieren. Das heißt, sie soll „reflektierte öffentliche Meinungen“ (Habermas 2008, S. 167) hervorbringen. Hier zeigt sich deutlich, welche Rolle das Internet für Habermas spielen kann. Er betont, dass durch das Internet Elemente von Interaktion und Deliberation wieder einziehen in die (Massen-)Bürgerkommunikation und dieses somit eine egalisierende und aktivierende Wirkung auf das Publikum ausübt (vgl. Habermas 2008, S. 161). Implizit weist er hierbei dem Online-Leserkommentar als Diskussionsforum im Umfeld der Qualitätspresse zentrale Bedeutung zu, da diese die wesentlichen Kanalisationspunkte digitaler Öffentlichkeit generiere (vgl. Habermas 2006, S. 423). Die Funktion der Öffentlichkeit besteht für ihn darin, diskursiv Rationalität zu erzeugen, indem Informationen sowie Argumente für und wider generiert werden (vgl. Fuchs-Goldschmidt 2008, S. 182; Habermas 2006, S. 416; Habermas 2008, S. 167; Vogt 2005, S. 99). Dies geschieht im normativ definierten Modus der Deliberation. Hierzu benötigt die Öffentlichkeit entsprechende Foren, wie sie unter anderem Online-Leserkommentare theoretisch bieten. Trotz zahlreicher verschiedener Öffentlichkeitskonzepte im Rahmen der deliberativen Demokratietheorie stellt das vorherrschende Netzöffentlichkeitskonzept in der Online-Deliberationsforschung eine Erweiterung der hier beschriebenen Öffentlichkeit nach Habermas dar. Deliberative Netzöffentlichkeit wird hierbei als wünschenswerte Möglichkeit oder Utopie entworfen. Einen der meist zitierten Artikel zum Thema (vgl. Goldberg 2011, S. 739) legte die amerikanische
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Kommunikationswissenschaftlerin Zizi Papacharissi (2002) vor. Sie schreibt hierin Folgendes: „The fact that people from different cultural backgrounds, states, or countries involve themselves in virtual political discussions in a matter of minutes, often expanding each other’s horizons with culturally diverse viewpoints, captures the essence of this technology. The value of the virtual sphere lies in the fact that it encompasses the hope, speculation, and dreams of what could be“ (Papacharissi 2002, S. 23). Besondere Betonung im konzeptionellen Denken findet der globale Charakter der Netzöffentlichkeit, wie etwa bei James Bohman (2004) oder Manuel Castells (2008). Aber auch hier wird die globale deliberative Netzöffentlichkeit vor allem als ultimatives Ziel oder Idealvorstellung verstanden. Ginge es nach Bohman, würde ein internationaler Kontext garantieren, dass potentiell jede Sprecherin Forderungen an andere Sprecher richten kann, jeder mit jedem in Dialog treten kann. Dies böte die Grundlage einer transnationalen deliberativen Utopie. Eine besondere Rolle schreibt Bohman (2004, S. 152-154) hierbei dialogischen Stellvertretern zu, welche die Position ihrer Gemeinschaft im transnationalen Dialog vertreten. Im Zusammenspiel mit dem passenden institutionellen Kontext könne somit digital-deliberativer Dialog über Grenzen und Öffentlichkeiten hinweg vermittelt werden. „But it does so only if there are agents who make it so and transnational institutions whose ideals seek to realize a transnational public sphere as the basis for a realistic utopia of citizenship in a complexly interconnected world“ (Bohman 2004, S. 154). Manuel Castells geht bereits eine Ebene weiter und bietet einen Ausblick auf die Frage legitimer globaler Steuerung. Castells (2008, S. 78-80) setzt seine Konzeption deliberativer Netzöffentlichkeit in direkten Zusammenhang mit der Ermächtigung und Konstitution einer globalen Zivilgesellschaft, die er als Gegenpol zur institutionalisierten Politik in Fragen globaler Steuerung konzeptualisiert. Globale Steuerung wird bei Castells zu einem Aushandlungsprozess zwischen den politischen Institutionen und der globalen Zivilgesellschaft, die öffentliche Meinungen in Form einer „Public Diplomacy“ (Castells 2008, S. 91) gegenüber den politischen Eliten vertritt. Dies wird möglich durch die Verschiebung der Öffentlichkeit von den national-territorialen Institutionen hin zu den diversen Plattformen des globalen Mediensystems. „That global public sphere is built around the media communication system and Internet networks, particularly in the social spaces of the Web 2.0, as exemplified by YouTube, MySpace, Facebook, and the growing blogosphere“ (Castells 2008, S. 90). Hiermit wird bereits deutlich, dass die (Netz-)Öffentlichkeit Zugang zu Foren hat, wo sie im Modus der Deliberation diskursiv Rationalität herstellen kann. Die zentrale Frage der Online-Deliberationsforschung dreht sich deshalb darum, ob dies auch geschieht.
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Deliberation ist hierbei keineswegs als Synonym für Diskussion oder (politisches) Gespräch zu verstehen, sondern unterliegt spezifischen Regeln, beziehungsweise „Postulaten“ (Habermas 1992, S. 370). Zentral für die Regeln des deliberativen Diskurses nach Habermas ist die Logik des kommunikativen Handelns5, welche die Akteure lenkt. Zusammengefasst agieren die Akteure im deliberativen Prozess oder der deliberativen Beratung, indem sie ihr Gegenüber argumentativ zu überzeugen suchen. Sie sind aber bereit, sich der Kraft des besseren Arguments zu unterwerfen. Die Überzeugungskraft der Argumente bildet die Währung der jeweiligen Akteure. Durch die gemeinschaftliche Entscheidungsfindung und (potentielle) Einbeziehung aller Betroffenen wird ein Maximum an Legitimität erzeugt. In diesem Prozess kommt es zu Lerneffekten in Bezug auf die jeweiligen Informationsstände. Gleichsam fördert die inhärente Logik, allgemeine Zustimmung zu erreichen, allgemeinwohlorientierte Argumente. Zusammen mit der Inklusion divergierender Sichtweisen und Informationsstände entstehen bessere Politikergebnisse. Das Ziel von Deliberation bildet eine einvernehmliche Begründung: Konsens oder zumindest eine allgemein akzeptable Lösung der Problemlage (vgl. Habermas 2006, S. 415-416; Steiner 2012, S. 4-5). Die charakteristische öffentliche Argumentation zwischen Gleichen mit gleichen Zugangs- und Einflussmöglichkeiten führt demnach letztlich zum Primat des besseren Arguments. Warren (2011, S. 6) bringt die wesentlichen Funktionen einer solchen deliberativen Entscheidungsfindung in vier Stichworten auf den Punkt. Deliberative Politik sei erstens epistemisch besser, da sie ein Mehr an Perspektiven und Informationen integriere. Zweitens seien deliberative Entscheidungen ethisch besser, wenn sie allgemein zustimmungsfähig sein müssten und somit gerechter ausfielen. Deliberation stärke drittens die individuelle und kollektive Autonomie der Bürger als zu überzeugende Akteure, deren Meinung sich in der Entscheidung widerspiegele. Und viertens werde ein Maximum an demokratischer Legitimität erzeugt, bestehe doch die Möglichkeit durch Argumente zu überzeugen und steige somit die Bereitschaft andere Argumente und schlussendlich Entscheidungen zu akzep-
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Die Grundlage für diesen komplexen wie ertragreichen kommunikativen Handlungsmodus legte Habermas bereits mit seiner Theorie kommunikativen Handelns und der Unterscheidung zwischen kommunikativem und strategischem Handeln. Während kommunikatives Handeln in Öffentlichkeit und Privatsphäre stattfindet, auf Verständigung abzielt und egoistische Motive somit zwangsläufig zurücktreten (vgl. Habermas 1992, S. 188), orientiert sich strategisches Handeln an Erfolg und bildet den kommunikativen Handlungsmodus von Ökonomie und Verwaltung (vgl. Landwehr 2012, S. 364365).
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tieren. Legitimation muss hier als regulatives Ideal und nicht als Fixpunkt begriffen werden. Ihre Produktion sei Prozess und kein ultimatives Ziel (vgl. Parkinson 2006, S. 25, 42). Öffentlichkeit kann somit durch das diskursive Bereitstellen oder den Entzug von Legitimation Politik (indirekt) beeinflussen, wenn auch nicht steuern (vgl. Vogt 2005, S. 99-101). „Kommunikative Macht wird ausgeübt im Modus der Belagerung“ (Habermas 2009, S. 64), indem die Öffentlichkeit „einen breitenwirksamen Einstellungs- und Wertewandel [welcher] die Parameter der verfassten Willensbildung verschiebt“ (Habermas 2009, S. 63) erwirkt. Eine Eroberungsabsicht liegt aber nicht vor. Ziel des deliberativen Diskurses ist vielmehr ein Konsens (vgl. Holtkamp et al. 2006, S. 74-75). Dieses normativ anspruchsvolle Ziel steht aber nicht der repräsentativ demokratischen Entscheidungsfindung entgegen. Vielmehr integriert Habermas die Mehrheitsregel in den komplexen Gesellschaften der Moderne als Methode politischer Entscheidungsfindung (vgl. Fuchs-Goldschmidt 2008, S. 165). Die Begründung hierfür liegt darin, dass in einem fortlaufenden Prozess zumindest eine Mehrheit von einem Argument überzeugt wurde. Der deliberative Prozess läuft trotz der Zäsur in Form der Wahl weiter fort. Wie schon bei Dewey besteht die Möglichkeit, durch Argumente die Mehrheit von der Minderheitsposition zu überzeugen. Die Bedeutung eines Konsenses wird somit nicht unterminiert und kommunikative durch die Wahl in administrative Macht transformiert (vgl. Fuchs-Goldschmidt 2008, S. 167-170; Habermas 1999, S. 288; Habermas 2009, S. 64). Die deliberative Qualität der Meinungs- und Willensbildung wird so zur zentralen Variable des Modells deliberativer Demokratie bei Habermas. Sie fungiert als Maß für die demokratische Qualität und Legitimität des modernen Rechtstaates. Demzufolge ist es nur logisch, dass Habermas an der Deliberation auch den empirischen Hauptreferenzpunkt deliberativer Demokratie festmacht. Der normative Anspruch, der damit verbunden ist, bezieht sich vor allem auf die zivilgesellschaftlich informell organisierte Öffentlichkeit und deren Deliberation und damit auf die Peripherie des Politischen (vgl. Fuchs-Goldschmidt 2008, S. 165, 172; Habermas 2006, S. 413; Habermas 2009, S. 64; Landwehr 2012, S. 365-366). Die politische Bedeutung von Online-Leserkommentaren bemisst sich im Sinne der Theorie nun folglich daran, inwieweit sie für Diskussionen genutzt werden, die als deliberativ charakterisiert werden können. Dieses Kapitel hatte die Aufgabe, die Bedeutung der Frage nach der deliberativen Qualität eines Beitrags zur öffentlichen Debatte hervorzuheben und in den übergeordneten theoretischen Zusammenhang einzubetten. Es zeigt, dass nur das Vorhandensein von als deliberativ zu charakterisierenden Beratungen die kritische (Gegen-)Öffentlichkeit und ihr Re-
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flexionspotential herstellen. Diese fügt Habermas dann mit der kollektiven Entscheidungs- und Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems zu einer emergenten Struktur zusammen. Diesen nachzuspüren ist deshalb eine zentrale Aufgabe dieser Studie. An dieser Stelle wurde die Definition der prozessualen Bedingungen von Deliberation, welche das Maß dieser Qualität darstellen, nur zusammengefasst dargestellt. Nachdem im Folgenden auf die zentralen Kritikpunkte am Konzept deliberativer Demokratie eingegangen wird, sind diese und die Kontroversen, die sich um sie drehen, Gegenstand des Kapitels 2.3.
K RITIK Die exaltierte Stellung des Ansatzes deliberativer Demokratie hat auch eine entsprechend kritische Auseinandersetzung nach sich gezogen. Drei wesentliche Kritikpunkte sind von besonderer Bedeutung. Erstens wird ihr stark normativer Charakter als realitätsfern kritisiert. Zweitens wird ihr vorgeworfen, die bestehende partizipatorische Spaltung nicht zu mildern, sondern zu verstärken. Drittens schließlich, wird ihr vorgehalten, empirisch nicht überprüfbar zu sein. Die Aufgabe dieses Abschnitts ist es, diese Kritikpunkte kursorisch anhand ihrer Hauptargumente darzustellen und ihre Bedeutung für diese Arbeit auszudifferenzieren. Es werden verschiedene Prämissen der deliberativen Demokratietheorie als realitätsfern kritisiert. Die Änderung von Präferenzen aufgrund von Argumenten erscheint in einer systemisch auf Macht fixierten Politik unwahrscheinlich (vgl. Bächtiger u. Wyss 2013, S. 158; Landwehr 2012, S. 373-375). Die Anforderung eines maximal inklusiven Diskurses von Gleichen scheint weiterhin nur idealtypisch denkbar und praktisch nicht vollständig umsetzbar. Dies gilt auch im Zeitalter digitaler Massenmedien (vgl. Habermas 2006, S. 421-422; Lösch 2005, S. 192-193; Parkinson 2006, S. 4-5, 28). Darüber hinaus wird eine Überforderung der potentiell deliberierenden Bürger angemahnt. Objektivität ist demzufolge nicht möglich und menschliches Denken immer durch eine zuvor bestehende Meinung determiniert. Deliberation sei als Prozess des rationalen Argumentierens zu anspruchsvoll und seine Befürworter unterschätzten affektives und triebhaftes Verhalten der Menschen (vgl. Bächtiger u. Wyss 2013, S. 158; Gutmann u. Thompson 2004, S. 49-53; Lösch 2005, S. 177, 180-181). Saward (2000, S. 6970) stellt in diesem Kontext die Frage, wie legitim die Ergebnisse deliberativer Entscheidungsfindungsprozesse sein können, wenn sie nicht dem Ideal entsprächen und kritisiert damit den kontrafaktischen Charakter des Ansatzes (vgl. Parkinson 2006, S. 8).
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Der Kritik der Realitätsferne nimmt sich diese Studie direkt an, indem mit der Inhaltsanalyse von Online-Leserkommentaren realweltliche Diskussionen auf ihre deliberative Qualität hin untersucht werden und der Versuch unternommen wird, Deliberation nachzuweisen. Ohne der weiteren Argumentation zu weit vorgreifen zu wollen, hat dieser Kritikpunkt aber nur begrenzte Relevanz für diese Arbeit und die Online-Deliberationsforschung an sich. Denn bei der deliberativen Demokratie handelt es sich um eine kontrafaktische Idealkonzeption, der kritisches Potential innewohnt und die darauf zielt, die Legitimität der repräsentativ-demokratischen Prozesse zu optimieren. Sie ist eine Utopie und kann so auch von der Forschung zum deliberativen Potential der Netzöffentlichkeit verstanden und genutzt werden (vgl. Benhabib 1996a, S. 73; Gutmann u. Thompson 2004, S. 27-29; Mansbridge 2003, S. 308; Papacharissi 2002, S. 23; Parkinson 2006, S. 8). Der zweite zentrale Kritikpunkt am deliberativen Paradigma bezieht sich aus zwei Perspektiven auf die mangelnde Egalität des deliberativen Prozesses. Zum einen ist Deliberation als Partizipation Teil der aus der Partizipationsforschung bekannten partizipativen Spaltung. Damit ist anzunehmen, dass Menschen mit hohem sozio-ökonomischen Status überrepräsentiert sind. Zum anderen wird kritisiert, dass Deliberation ein spezifisches Diskursmodell bevorzuge, das weiß, rational und männlich geprägt sei. Daher würden andere Formen des Meinungsaustausches benachteiligt, insbesondere Frauen und schlechter gebildete Menschen diskriminiert. Dieser Kritikpunkt wird besonders von Iris Marion Young (2000) und feministischen Denkerinnen vertreten. Sie empfiehlt deshalb die Integration alternativer Kommunikationsmodi ins deliberative Paradigma und setzt sich hierzu ausführlich mit dem Grüßen, der Rhetorik und dem Erzählen persönlicher Geschichten (Storytelling) auseinander (vgl. Bächtiger u. Wyss 2013, S. 158; Landwehr 2012, S. 373-375; Schaal u. Ritzi 2012, S. 139-142; Young 2000, S. 53-77). Die Kritik mangelnder Egalität trifft einen sprichwörtlichen wunden Punkt der Theorie, auch mit Blick auf ihre Ausweitung auf das Internet. Wie zu zeigen sein wird, unterliegt Online-Deliberation zwar nicht den klassischen Determinanten der partizipatorischen Spaltung, ist aber dennoch weit von ihrem egalitären Ideal entfernt (vgl. Kapitel 3). Die Forschung reagiert hierauf durch eine Ausweitung des deliberativen Paradigmas um weitere Handlungsmodi, wie von Young (2000, S. 53-77) empfohlen. Dennoch finden sich ähnliche Kritikpunkte auch mit Blick auf die Online-Deliberationsforschung (vgl. Coleman u. Moss 2012, S. 9), wie die Zusammenfassung des Forschungsstandes deutlich machen wird. Die Erweiterung des deliberativen Paradigmas stellt eine der zentralen Kontroversen der jüngeren Theoriedebatte dar und wird deshalb im Folgenden ausführlich diskutiert (vgl. Kapitel 2.3).
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Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt besteht darin, dass viele Konzepte deliberativer Demokratie unter mangelnder Konkretisierung leiden und dementsprechend in der Realität unbrauchbar sind (vgl. Saward 2000, S. 69-70). Insbesondere Diana Mutz (2008, S. 529-533) hat veranschaulicht, dass das zentrale empirische Problem deliberativer Demokratie in dem Zusammenhang zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen besteht. Deliberation basiert demnach auf einer Reihe definitorischer Bedingungen und soll eine ganze Reihe positiver Effekte produzieren. Die Deliberation selbst aber bleibt hier eine Art Black Box. Es ist unklar, welche Bedingung zu welchem Ergebnis führt. In dieselbe Richtung zielt die Kritik an den normativen Großmodellen der deliberativen Demokratie. Ob die (potentiell) deliberative Öffentlichkeit ihrer ihr zugedachten Funktion auch gerecht wird, ist empirisch kaum nachzuprüfen (vgl. Landwehr 2012, S. 366). Weniger eine Kritik als eine Warnung ist an dieser Stelle der Vollständigkeit halber zu nennen. Es wird vor zunehmender Polarisierung und Verstärkung von Extrempositionen durch intensive Diskussion gewarnt. Gesellschaftliche Konfliktgräben könnten noch vertieft werden. Ebenfalls wird vor der Möglichkeit ungerechter Ergebnisse der Beratungen gewarnt (vgl. Bächtiger et al. 2010, S. 38-40; Gutmann u. Thompson 2004, S. 40-43, 46-48, 53-54). Diese Argumente sind für die Grenzen dieser Arbeit von zentraler Bedeutung. Wie Mutz (2008, S. 525-529) deutlich macht, muss in der empirischen Forschung zwischen der Analyse auf die deliberative Qualität von Diskussionen hin und der Analyse von Effekten deliberativer Prozesse unterschieden werden. Diese Studie stößt hiermit methodisch insofern an Grenzen, als dass sie nicht deterministisch auf die gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer Ergebnisse schließen kann. Hier sind lediglich theoretische sowie empirisch begründete Vermutungen möglich. Da die Online-Deliberationsforschung aber noch in ihren Kinderschuhen steckt, leistet sie hiermit notwendige Grundlagenarbeit, um in Zukunft diesen zweiten Schritt gehen zu können. Diese Arbeit zielt auf die qualitative wie quantitative Messung von Deliberation als Partizipation durch Online-Leserkommentare ab. Damit ist sie in diesem spezifischen Kontext Voraussetzung für alle darüber hinausgehenden Ansätze. Die Frage, ob das Internet und seine Diskussionsforen zu zunehmender Fragmentierung und Polarisierung der Öffentlichkeit führen, ist eine zentrale in der Debatte und wird von Habermas (2008, S. 161) selbst kritisch aufgeworfen. Auch wenn diese Studie keine Aussagen über Effekte trifft, ist ihre Inhaltsanalyse in der Lage, empirische Daten zur Aggressivität und Kompetivität digitaler Diskussionen zu liefern.
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D EFINITION
DES DELIBERATIVEN
P ROZESSES
Bis hierhin wurden die Grundlagen der deliberativen Demokratietheorie nach Jürgen Habermas als dieser Arbeit zugrunde liegendes normatives Konzept geklärt. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Definition von Deliberation als prägendem Handlungsmodus des Konzeptes. Dabei ist es die Aufgabe die Grundlagen einer solchen Definition aufzuzeigen und der Leserin einen Sinn für die damit einhergehenden Herausforderungen zu verschaffen. Der deliberative Prozess markiert den empirischen Hauptreferenzpunkt des Konzeptes deliberativer Demokratie. Wie die Einleitung bereits deutlich gemacht hat, ist es für die Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit deshalb wesentlich, zu analysieren, inwieweit OnlineLeserkommentare als deliberativ bezeichnet werden können und wie qualitativ hochwertig sie aus deliberativer Perspektive sind. Deshalb ist es notwendig, die definitorischen Kriterien des deliberativen Prozesses auszudifferenzieren, um eine valide Analyse auf Deliberation hin durchzuführen (vgl. Steenbergen et al. 2003, S. 22-23). „The problem is that nearly everybody these days endorses deliberation in some form or other (it would be hard not to)“ (Chambers 2003, S. 308). Was Chambers damit kritisch anmerkt, ist, dass im wissenschaftlichen Diskurs keineswegs Einigkeit darüber herrscht, wie Deliberation exakt charakterisiert ist. Aufgrund der Prominenz und Heterogenität des Diskurses haben sich zentrale Kontroversen um die verschiedenen Elemente der Definition von Deliberation herausgebildet (vgl. Parkinson 2003, S. 180; Steenbergen et al. 2003, S. 23; Steiner 2012, S. 9-11). Dies ist für die empirische Analyse deliberativer Annahmen besonders kritisch, da es die Definitionskriterien deliberativer Diskussionen sind, die dessen hohen normativen Anspruch konstituieren. Dennoch sind einige verallgemeinernde Aussagen möglich. Diese sind weitestgehend akzeptiert und prägen das akademische Verständnis von Deliberation (vgl. Mansbridge et al. 2010, S. 65-66; Mutz 2008, S. 525). „Though there are as many variants of deliberative democracy as there are theorists of it, the family of views shares enough in common to make possible some generalizations“ (Fung 2005, S. 401). Diese Kriterien sind es, die die Grundlage dafür bieten, Deliberation von Nicht-Deliberation zu unterscheiden, beziehungsweise ein Maß deliberativer Qualität zu entwickeln, wie diese Arbeit im empirischen Abschnitt mit der Operationalisierung spezifischer Kriterien. Obgleich viele Arbeiten Deliberation synonym für politische Diskussionen verwenden, ist festzuhalten, dass Deliberation nicht jede Form des politischen Gespräches und auch nicht der Diskussion meint (vgl. Mansbridge et al. 2010, S. 9394). Diese Arbeit schließt sich deshalb Delli Carpini et al. (vgl. 2004, S. 318-319)
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an und differenziert zwischen diskursiver Partizipation im Allgemeinen und Deliberation im Speziellen. Während diese Differenzierung im folgenden Kapitel im Rahmen der Einordnung deliberativer Partizipation in die Partizipationsforschung ausführlicher erläutert wird, liegt an dieser Stelle das Augenmerk auf der Beschreibung des deliberativen Prozesses und seiner definitorischen Kriterien. Bei der folgenden Diskussion dieser Kriterien oder „Postulate“ (Habermas 1992, S. 370) ist zu beachten, dass unterschiedliche Autoren diverse Begriffe, Bezeichnungen oder Konzepte nutzen und entwickeln sowie unterschiedliche Kategorien auf verschiedene Weise zusammenfassen. Diese Arbeit orientiert sich übergeordnet am Deliberationsverständnis von Jürgen Habermas. In Faktizität und Geltung beschreibt er „Deliberative Politik ein Verfahrensbegriff der Demokratie“. Hier bezieht er sich auf Cohen und nennt deutlich sieben charakteristische „Postulate“ eines deliberativen Verfahrens. „(a) Die Beratungen vollziehen sich in argumentativer Form, also durch den geregelten Austausch von Informationen und Gründen zwischen Parteien, die Vorschläge einbringen und kritisch prüfen. (b) Die Beratungen sind inklusiv und öffentlich. Im Prinzip darf niemand ausgeschlossen werden; alle von den Beschlüssen möglicherweise Betroffenen haben gleiche Chancen des Zugangs und der Teilnahme. (c) Die Beratungen sind frei von externen Zwängen. Die Teilnehmer sind insofern souverän, als sie einzig an die Kommunikationsvoraussetzungen und Verfahrensregeln der Argumentation gebunden sind. (d) Die Beratungen sind frei von internen Zwängen, die die Gleichstellung der Teilnehmer beeinträchtigen können. Jeder hat die gleichen Chancen, gehört zu werden, Themen einzubringen, Beiträge zu leisten, Vorschläge zu machen und zu kritisieren. Ja/Nein Stellungnahmen sind allein motiviert durch den zwanglosen Zwang des besseren Argumentes. Weitere Bedingungen spezifizieren das Verfahren im Hinblick auf den politischen Charakter der Beratungen: (e) Beratungen zielen allgemein auf ein rational motiviertes Einverständnis und können im Prinzip unbegrenzt fortgesetzt oder jederzeit wieder aufgenommen werden. Politische Beratungen müssen aber mit Rücksicht auf Entscheidungszwänge durch Mehrheitsbeschluβ beendet werden. Wegen ihres internen Zusammenhangs mit einer deliberativen Praxis begründet die Mehrheitsregel die Vermutung, daβ die fallible Mehrheitsmeinung bis auf weiteres, nämlich bis die Minderheit die Mehrheit von der Richtigkeit ihrer Auffassungen überzeugt hat, als vernünftige Grundlage einer gemeinsamen Praxis gelten darf. (f) Die politischen Beratungen erstrecken sich auf sämtliche Materien, die im gleichmäβigen Interesse aller geregelt werden können. Das bedeutet aber nicht, daβ Themen und Gegenstände, die nach traditioneller Auffassung «privater« Natur sind, a fortiori der Diskussion entzogen werden dürften. Öffentlich relevant sind insbesondere Fragen der Ungleichverteilung jener Ressourcen, von denen die faktische Wahrnehmung gleicher Kommunikations und Teilnahmerechte ab-
34 | DIGITALE DISKUSSIONEN hängt. (g) Politische Beratungen erstrecken sich auch auf die Interpretation von Bedürfnissen und die Veränderung vorpolitischer Einstellungen und Präferenzen. Dabei stützt sich die konsenserzielende Kraft der Argumente keineswegs nur auf einen in gemeinsamen Traditionen und Lebensformen vorgängig ausgebildeten Wertekonsens“ (Habermas 1992, S. 370-371).
Diese sieben „Postulate“ nach Habermas (1992, S. 370) bilden die Grundlage der allgemein anerkannten Kernprinzipien deliberativen Handelns, welche sich in unterschiedlichsten Deliberationskonzepten wiederfinden (vgl. Bächtiger u. Wyss 2013, S. 156-157; Bohman 1998, S. 401-402; Chambers 2003, S. 308; Dryzek 2000, S. 2; Fung 2005, S. 401; Habermas 2006, S. 415-416; Landwehr 2012, S. 361; Mansbridge et al. 2010, S. 65-66; Naurin 2007, S. 562; Parkinson 2003, S. 180-181; Parkinson 2006, S. 3). Idealerweise ist Deliberation demnach maximal inklusiv und öffentlich. Das heißt, dass Deliberation offen ist für alle Themen und alle von einer Entscheidung potentiell Betroffenen. In der deliberativen Demokratie herrscht Gleichheit. Die Teilnehmer verfügen über die gleichen Chancen, Einfluss auf Debatte und Entscheidungsprozess zu nehmen. Dieses positive Freiheitsrecht geht einher mit negativen Abwehrrechten. Deliberation ist gekennzeichnet durch die Abwesenheit von Machteinfluss und Zwang. Damit ist der Anspruch auf Grundrechte verbunden. Der Entscheidungs-, beziehungsweise Meinungsbildungsprozess ist geprägt durch den Kommunikationsmodus der wechselseitigen Rechtfertigung. Dieser Prozess zeichnet sich durch den Austausch von Argumenten aus. Argumente bilden grundsätzlich die einzige Währung von Deliberation. Um in einem maximal inklusiven Diskussionsprozess überzeugen zu können, müssen Argumente allgemein zustimmungsfähig sein, was zu einer Unterordnung von Partikularinteressen unter das Allgemeinwohl6 führt. Ziel ist ein Konsens. Der Prozess ist reziprok: die Teilnehmer behandeln sich respektvoll und sind ehrlich und aufrichtig in ihrer Argumentation. Aus dieser emergenten Struktur resultiert der alleinige Zwang des besseren Argumentes, der gleichsam durch seine intrinsische Logik bessere Ergebnisse und eine höhere Legitimation schafft. 6
Eine klare Definition des Allgemeinwohls liefert die deliberative Demokratietheorie nicht. Grundlegend wird das Allgemeinwohl auf der Basis der Unterscheidung von kommunikativem und strategischem Handeln in Abgrenzung gegenüber Partikularinteressen definiert (vgl. Landwehr 2012, S. 364-365 Mansbridge et al. 2010, S. 64; Parkinson 2003, S. 180). Ziel kann auch gar nicht eine feststehende Definition des Allgemeinwohls sein, da in einer idealen Deliberation alles Diskussionsthema sein kann, auch die Bestimmung des Allgemeinwohls. Wie Steiner (2012, S. 103) es ausdrückt, muss es Ziel sein, die verschiedenen Definitionen des Allgemeinwohls zu respektieren.
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Pointiert heißt das: Deliberation beschreibt einen egalitären, rationalen und reziproken Prozess der Meinungsbildung, beziehungsweise Entscheidungsfindung. Inklusivität und Öffentlichkeit sind ebenfalls kennzeichnend, aber als vorprozessuale Kriterien aufzufassen und können als solche durchaus analysiert werden; allerdings nicht mit Blick auf den Prozess selbst, der im Idealfall ja bereits öffentlich und inklusiv ausgestaltet ist. Dasselbe gilt für die Ausbildung diverser rationaler Meinungen und eines Konsenses als übergeordnete Ziele deliberativen Handelns. Auch Ergebnisse lassen sich untersuchen, beschreiben aber eine andere Analyseebene als der Prozess selbst. Über das konkrete Verständnis dieser verschiedenen Prinzipien ist aber noch kein Konsens erreicht. Obgleich die hier dargestellten Kriterien allgemein akzeptiert sind, gibt es eine Reihe an Kontroversen. Die Forschung diskutiert etwa über die notwendige Inklusivität von Deliberation. Die Forderungen reichen von totaler Inklusivität hin zum Vorschlag von Deliberationen in Kleingruppen (vgl. Parkinson 2003, S. 370; Steiner 2012, S. 33-35, 49). Ein anderes Beispiel ist die Öffentlichkeit von Deliberation, die auf der einen Seite eine notwendige Bedingung für die Herstellung von Deliberation darstellt, aber auf der anderen Seite auch zahlreiche Herausforderungen mit sich bringt (vgl. Chambers 2004, S. 398-405; 409-410; Steiner 2012, S. 125-138). Äußerst kontrovers diskutiert die Forschung die inhaltliche sowie formale Offenheit des deliberativen Prozesses. Ist der Inhalt der Deliberation nicht apriorisch definiert, gelten doch negative Freiheitsrechte jedes Individuums. Viele deliberative Demokraten wollen keine Kommunikationsformen von vornherein ausschließen. Die zentrale Rolle der Argumentation als prägender Kommunikationsmodus der Deliberation wird aber kaum angezweifelt (vgl. Chambers 2003, S. 322; Dryzek 2000, S. 167-168; Habermas 1981, S. 47-48; Habermas 1995, S. 3436; Steiner 2012, S. 121-123; Warren 2006, S. 178-179). Eine ausführliche Diskussion dieser Kontroversen soll an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Eine vergleichsweise aktuelle Aufbereitung des Stands der normativen Debatte in Verbindung mit eigenen empirischen Forschungsergebnissen legte Steiner (2012) vor. An dieser Stelle soll aber darauf verwiesen werden, dass derzeit besonders intensiv eine Entwicklung diskutiert wird, die von der angelsächsischen Debatte ausgehend eine Ausdehnung und Flexibilisierung des deliberativen Konzepts vorantreibt. Das charakteristische normativ anspruchsvolle prozessuale Verständnis von Deliberation wird durch ein empirisch begründetes Deliberationsverständnis ergänzt. Dies fokussiert hauptsächlich Ergebnisse, die epistemische Funktion und integriert weitere Kommunikationsformen ins deliberative Paradigma. Diskutiert wird dieses weitere Verständnis mit Konzepten, wie „type II deliberation“ (Bäch-
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tiger et al. 2010, S. 33) oder „democratic deliberation“ als Ausdruck eines „Deliberative neo-pluralism“ (Mansbridge 2007, S. 254, 261). Dieses Verständnis versteht sich dezidiert als Erweiterung und nicht als Substitution des klassischen Deliberationsverständnisses. Es bereitet vielmehr die Basis eines jungen makroanalytischen Konzeptualisierungsansatzes von deliberativer Demokratie: Deliberation wird hier als systemischer Prozess7 der Gesamtgesellschaft betrachtet, der arbeitsteilig den hohen Anspruch des Ansatzes umsetzen und dessen Leistungen produzieren soll (vgl. Bächtiger et al. 2010, S. 58-59; Bächtiger u. Wyss 2013, S. 174-177; Habermas 2006, S. 413; Mansbridge et al. 2012, S. 1-13). Einige zentrale Ergebnisse dieser konzeptionellen Weiterentwicklung lassen sich bereits festhalten. Die Forderung nach Konsens wird in erster Linie abstrakt begriffen. Deliberation gilt als regulatives, kontrafaktisches Ideal. Kompromissbereitschaft, Akzeptanz des Anderen und der anderen Meinung und reziprokes Verhalten haben Vorrang vor dem hehren Ziel, Konsens herbeizuführen (vgl. 7
Zuerst findet sich diese Idee in einem Aufsatz von Robert Goodin (2006), der den deliberativen Prozess in mehrere Sequenzen aufteilt. Damit schafft er eine Form deliberativer Arbeitsteilung im politischen System. Nicht mehr jede Arena des Diskurses muss allen deliberativen Kriterien vollauf entsprechen. Dies basiert auf der Annahme, dass verschiedene Schauplätze des Politischen über divergierende deliberative Stärken und Schwächen verfügen. Zentrale Stärken des Ansatzes sind es, deliberative Demokratie (wieder) gesamtgesellschaftlich zu denken und dabei die gesellschaftliche deliberative Arbeitsteilung sichtbar zu machen. Zentral ist, dass der Ansatz von normativer Überforderung entlastet wird, da Schwächen eines systemischen Bestandteiles durch die Stärken eines anderen ausgeglichen werden können, um gesamtgesellschaftliche Deliberation zu realisieren. Der Ansatz arbeitet dezidiert makro-analytisch als überspannende Erweiterung der Theorie deliberativer Demokratie und soll diese dezidiert nicht ersetzen (vgl. Mansbridge et al. 2012, S. 2). Es kann angenommen werden, dass der systemische Ansatz das deliberative Denken stark prägen wird. Die Präsentation des Ansatzes stellt eine Kollaboration einer ganzen Reihe prägender Autoren der angelsächsische Deliberationsdebatte dar (vgl. Mansbridge et al. 2012). Bächtiger et al. (2010, S. 56) sehen in einem systemischen Ansatz die erfolgversprechendste Möglichkeit der Integration von Deliberation Typ II und sogar Jürgen Habermas schreibt: „Nur im Hinblick auf die funktionale Arbeitsteilung zwischen den Arenen kann man vom politischen System im Ganzen erwarten, dass eine diskursive Meinungs- und Willensbildung die Vermutung auf mehr oder weniger vernünftige Resultate begründet“ (Habermas 2008, S. 148). Trotzdem ist dieser Ansatz keineswegs als Allheilmittel zu betrachten, „liegt ihm doch eine Tendenz inne, kritische Studien zu ‚deliberative failures’ mit dem Argument auszuhebeln, deliberative Qualität werde systemisch mit gewissermassen unsichtbarer Hand doch irgendwie hergestellt“ (Bächtiger u. Wyss 2013, S. 176).
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Bächtiger u. Wyss 2013, S. 160; Bohman 1998, S. 412-415; Dryzek 2000, S. 170; Gutmann u. Thompson 2004, S. 27-29; Parkinson 2006, S. 8). Eine Position, die Habermas (1992, S. 371) mit seinem Modell von Zentrum und Peripherie durchaus teilen kann. Er hat kein Problem damit, Mehrheitsentscheide als notwendige Zäsuren zu legitimieren. Das deliberative Allgemeinwohlverständnis wird vor allem durch das Wirken von Jane Mansbridge um das individuelle Partikularinteresse erweitert, wodurch die empirisch schwierige Unterscheidung zwischen strategischem und kommunikativem Handeln hinfällig wird. Demzufolge kommt es zu einer Integration strategischer Kommunikationsformen in das deliberative Paradigma (vgl. Bächtiger u. Wyss 2013, S. 160; Dryzek 2000, S. 169; Mansbridge et al. 2010, S. 93-94). Gegenüber der Forderung nach Authentizität wird argumentiert, dass eine respektvolle Argumentation an sich bereits ausreichend sei, um von Deliberation zu sprechen. Dies würde ein substantielleres Legitimitätsverständnis darstellen, als die nur rudimentär mögliche Überprüfung von Authentizität, die noch dazu Gefahr laufe, die komplexe menschliche Psyche zu simplifizieren (vgl. Bächtiger u. Wyss 2013, S. 160; Parkinson 2006, S. 25; Steiner 2012, S. 9-11). „[R]esearch should focus not on deliberative intentions but on institutional functions […] Empirical researchers therefore should not worry, as some evidently do, about formulating an independent test for sincerity or truthfulness“ (Thompson 2008, S. 504). Von besonderer Bedeutung für die empirische Forschung aber ist, dass im Kontext weiterer Konzepte von Deliberation, wie „type II deliberation“ (Bächtiger et al. 2010, S. 34), „democratic deliberation“ (Mansbridge 2007) oder einem systemischen Ansatz von Deliberation (vgl. Mansbridge et al. 2012) die Inklusion nicht deliberativer Kommunikations- und Handlungsformen in das deliberative Konzept diskutiert und vorangetrieben wird. Die Forschung ist hierbei noch nicht zu einer einheitlichen Terminologie oder Konzeptualisierung gelangt. Besondere Aufmerksamkeit erlangten das Verhandeln, welches schon lange intensiv diskutiert wurde und in die Zusammensetzung einer eigenen Arbeitsgruppe mündete (vgl. Mansbridge u. Martin 2013), das Storytelling, welches die Expression persönlicher Erfahrungsgeschichten bezeichnet und bereits erfolgreich empirisch operationalisiert wurde (vgl. Bächtiger et al. 2012; Monnoyer-Smith u. Wojcik
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2012; Pedrini 2014; Polletta u. Lee 2006; Steiner 2012; Stromer-Galley 2007) sowie die Rhetorik, die eine historisch wechselseitige Beziehung8 mit der Diskussion von Deliberation aufweist und insbesondere im Zuge mediatisierter Politik neue Relevanz erlangte (vgl. Garsten 2011). Insbesondere verschiedene Ansätze, welche das deliberative Argument mit der Artikulation von Emotionen zu verbinden suchen, brachten aber zahlreiche weitere Kommunikationsformen in die Diskussion. Diese Ansätze resultieren vor allem aus einer feministischen Kritik an Ansätzen deliberativer Demokratie (siehe Kapitel 2.2). Auch diese Position ist mit dem Deliberationsverständnis nach Habermas keineswegs unvereinbar. Er selbst schreibt zum Beispiel auch expressiven Ausdrucksformen rationalen Charakter zu (vgl. Habermas 1995, S. 34-35). Bächtiger et al. (2010) haben sich ausführlich mit den Konsequenzen und Möglichkeiten, die die aktuelle Theorieentwicklung mit sich bringt, auseinandergesetzt. Eine Erweiterung des deliberativen Konzeptes, wie sie momentan vorangetrieben wird, hat den Vorteil, dem Vorwurf der utopischen Realitätsferne zu entgehen und die Forschung stärker an der empirischen Realität zu orientieren, argumentieren Bächtiger et al. (2010, S. 53). Gleichzeitig gestalte sich das Konzept inklusiver, obgleich der Vorwurf der konzeptuellen Verwässerung bleibe. Deshalb wird betont, dass die Kernkriterien der Deliberation zu einem relevanten Mindestmaß gegeben sein müssen, um von Deliberation zu sprechen. Andere Kommunikationsformen wie Storytelling, Verhandeln oder Rhetorik müssten auf ihre Weise deliberativen Ansprüchen genügen und könnten damit von ihren nichtdeliberativen Pendants unterschieden werden. Um die deliberative Demokratie als valide theoretische Grundlage normativer und empirischer Forschung zu erhalten, besteht daher die aktuelle Herausforderung der Theorieweiterentwicklung darin, deliberative Demarkationslinien zu definieren (vgl. Bächtiger et al. 2010, S. 5559). Wann ein Mindestmaß an deliberativer Qualität gegeben ist, ist eine der zentralen Fragen der Debatte und bislang unzureichend beantwortet. Bislang wird von besserer und schlechterer Deliberation gesprochen, eine binäre Unterscheidung vermieden (vgl. Black et al. 2011a, S. 5; Mutz 2008, S. 525-528). Das Festlegen von Grenzwerten für gute Deliberation scheint demzufolge notwendig und kann 8
Garsten (2011, S. 161-162) führt die Rennaissance der Rhetorik in der akademischen Debatte auf die Prominenz deliberativer Konzepte zurück. Demnach stellt die zunehmende Auseinandersetzung mit der Rhetorik einen Protest gegenüber den engen, normativen Anforderungen an deliberative Kommunikation dar. Interessant ist, dass er mit Verweis auf John Dewey deutlich macht, dass deliberative Ideen wiederum selbst eine Reaktion auf die Bedeutung von Rhetorik in der modernen Massengesellschaft und ihrer Abhängigkeit von Massenmedien darstellen.
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auch praktikabel gestaltet werden (vgl. Bächtiger et al. 2012, S. 18-20). Empirisch stellt sich weiterhin die kritische Frage, welche prozessualen Bedingungen der Deliberation, welche positiven Ergebnisse hervorrufen (vgl. Mutz 2008, S. 529533). Insgesamt ist an dieser Stelle deutlich geworden, dass, um es mit den Worten von Diana Mutz (2008, S. 525) zu sagen, „it may be fair to say that there are as many definitions of deliberation as there are theorists, although there are certainly commonalities among these conceptualizations as well.“ Es herrscht folglich Einigkeit darüber, dass Deliberation möglichst egalitär, reziprok und rational ablaufen soll, (oder wie die einzelnen Kriterien letztlich genannt oder umgesetzt werden,) aber nicht darüber, in welchem Maße. Eine operationalisierte, allgemeingültige Minimaldefinition des deliberativen Prozesses gibt es bislang nicht und ist angesichts des normativen Charakters der Theorie sowie der Heterogenität der Debatte kaum zu erwarten. Die theoretische Öffnung des Konzeptes, wie sie aktuell vorangetrieben wird, macht diese Aufgabe nicht einfacher, sondern vergrößert die Bandbreite der zu berücksichtigenden Argumente zusätzlich. Dieses Kapitel hat einen Eindruck der Debatte vermittelt, allgemein geteilte Annahmen herausgearbeitet und somit die theoretischen Grundlagen für die Diskussion und Begründung der Operationalisierung deliberativer Partizipation für die empirische Untersuchung dieser Studie bereitet sowie die Argumente für die Notwendigkeit einer solchen Diskussion geliefert.
Z USAMMENFASSUNG Erstes Ziel dieses Kapitels war es, in die deliberative Demokratietheorie nach Jürgen Habermas als normative Grundlage einer demokratischen Öffentlichkeit einzuführen und somit die Basis für deren Übersetzung in die digitale Öffentlichkeit zu leisten. Es konnte gezeigt werden, dass Deliberation Demokratie qualifizieren und (re-)legitimieren kann. Sie ist hierzu auf Foren angewiesen, wie sie der Online-Leserkommentar bietet. Weiterhin wurde dargestellt, wie in solchen Foren ausgebildete kommunikative Macht im Politischen zur Geltung kommt und welche zentrale Bedeutung insbesondere digitalen Diskussionen zukommen kann: Durch das Durchbrechen der massenmedialen Logik im Zentrum digitaler Aufmerksamkeit ist es möglich, Gegenöffentlichkeit mit massenmedialer Reichweite zu verbinden und diese somit in bislang unbekanntem Maße zu emanzipieren. Die Kritik zeigte aber auch Schwachstellen des Ansatzes. Insbesondere sein egalitäres Potential scheint zumindest fragwürdig.
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Aufbauend hierauf wurde die Komplexität erläutert, Deliberation als spezifische politische Handlungsform zu definieren. Grundlegend wurden Gemeinsamkeiten der Debatte herausgearbeitet. Es konnte gezeigt werden, dass trotz verschiedenartiger Kontroversen Einigkeit darüber herrscht, dass Deliberation einen inklusiven, egalitären, rationalen und reziproken Prozess der Meinungsbildung (und im Idealfall: Entscheidungsfindung) beschreibt. Obgleich sich bislang keine allgemein anerkannte Minimaldefinition deliberativer Partizipation ausdifferenzieren konnte, ist deutlich geworden, dass ein Mindestmaß an Egalität, Rationalität und Reziprozität gegeben sein muss, damit mit Blick auf die prozessuale Ebene von Deliberation die Rede sein kann. Dies gilt trotz oder gerade wegen der zunehmenden Berücksichtigung neuer Kommunikationsmodi im deliberativen Paradigma. Die hier entwickelten Argumente können somit die Grundlage der Diskussion der Operationalisierung deliberativer Partizipation im zweiten Teil dieser Arbeit bilden. Tabelle 2.1 zeigt die verschiedenen Kernkriterien deliberativen Handelns, die auch vor dem Hintergrund der beschriebenen Theorieweiterentwicklung allgemein anerkannt werden und ordnet sie verschiedenen Analyseebenen zu9. Maßgeblich für die vorliegende Arbeit ist die prozessuale Ebene, da hier konkretes Partizipationshandeln stattfindet. Normativ hochwertige Diskussionen bilden den zentralen, konstitutiven Bestandteil einer deliberativen (Netz-)Öffentlichkeit. Hierin liegt die Bedeutung der empirischen Analyse dieser Arbeit zu Online-Leserkommentaren begründet, die ein entsprechendes Diskussionsforum darstellen.
9
Auch für die Terminologie dieser Arbeit gilt, dass verschiedene Forscherinnen und Theoretiker durchaus unterschiedliche Termini verwenden können, ohne sich im Kern zu widersprechen. Die hier aufgeführten Kernkriterien wurden auf Basis der Argumentation in diesem Kapitel und der dieser zugrunde liegenden Literatur ausdifferenziert und begründet. Das heißt nicht, dass andere Terminologien als falsch betrachtet werden. Letztlich ist es Aufgabe jedes Deliberationsforschers sich begründetermaßen für eine Terminologie zu entscheiden und diese transparent darzustellen.
DELIBERATIVE DEMOKRATIETHEORIE | 41
Tabelle 2.1: Definitorische Merkmale des deliberativen Prozesses Ebene
Kernkriterien
Vorprozessual Inklusivität Öffentlichkeit Prozessual
Egalität Rationalität Reziprozität
Ergebnis
Rationale (öffentliche) Meinungen
3. Partizipation durch Online-Leserkommentare: Einordnung und Beschreibung
Nachdem im vorangegangen Kapitel mit der deliberativen Demokratietheorie die theoretische Basis dieser Arbeit vorgestellt und diskutiert wurde, ist es Aufgabe des folgenden Kapitels, die praktischen Grundlagen für die Konzeptualisierung des Online-Leserkommentars zu entwickeln. Hierfür sind zwei Gründe wesentlich. Erstens ist es Aufgabe dieser Studie, politische Partizipation durch OnlineLeserkommentare politikwissenschaftlich zu erschließen. Aus Sicht der Partizipationsforschung aber befindet sich der Online-Leserkommentar in einer Grauzone. Es ist zum einen nicht allgemein anerkannt, ob es sich bei politischer Kommunikation und Diskussion von Bürgern im Internet um politische Partizipation im eigentlichen Sinne handelt (vgl. Gibson u. Cantijoch 2013, S. 701-704; Graham 2015, S. 248). Zum anderen wird der politische Austausch im Internet, wenn, zumeist als deliberative Partizipation verstanden. Dies wird der konzeptionellen Komplexität der Theorie, wie sie im vorangegangenen Kapitel dargestellt wurde, aber nicht gerecht. Dass das Internet zum politischen Meinungsaustausch genutzt wird, soll hiermit nicht infrage gestellt werden. Wenn jedoch jeder digitale Meinungsaustausch idealtypische Deliberation darstellen würde, wäre die Online-Deliberationsforschung überflüssig (vgl. Graham 2015, S. 248-252; Mansbridge et al. 2010, S. 94). Deshalb ist es erstens Ziel dieses Kapitels, den (politischen) Online-Leserkommentar als Form politischer Partizipation zu begründen und diese einzuordnen. Zweitens gibt es nicht das eine Diskussionsforum im Internet. Das Internet zeichnet sich durch eine schier unendliche Vielfalt an Kommunikationsplattformen aus, die notwendigerweise unterschiedliche Rahmenbedingungen für deliberative Partizipation mit sich bringen (vgl. Birchall u. Coleman 2015, S. 271-276;
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Davies u. Chandler 2012, S. 105; Wright 2012, S. 256). Zweites Ziel dieses Kapitels ist es deshalb, die zentralen funktionalen Rahmenbedingungen, die Diskussion und Kommunikation im Internet entscheidend beeinflussen, darzustellen und zu diskutieren. Somit wird die Konzeptualisierung von Online-Deliberation vervollständigt und die Basis für die Charakterisierung des Online-Leserkommentars als spezifisches digitales Diskussionsforum geschaffen.
D IE R ELEVANZ VON O NLINE -D ELIBERATION DISKURSIVER O NLINE -P ARTIZIPATION
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F ORM
Politische Partizipation1 bildet das Zentrum der partizipatorischen Demokratietheorie, den Ausgangspunkt der deliberativen Demokratietheorie und einen wichtigen Referenzrahmen für die meisten Demokratietheorien. Der Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen werden viele kollektive wie individuelle Funktionen zugeschrieben2. In erster Linie aber ist Bürgerbeteiligung per definitionem ein konstituierendes Element der Demokratie (vgl. Dahl 2006, S. 37). „Citizen participation is at the heart of democracy“ (Verba et al. 1995, S. 1), lässt sich festhalten (vgl. Dalton 2008, S. 76; Kersting 2008b, S. 13-14; Verba et al. 1995, S. 6). Eine Demokratie ohne Beteiligung taugt theoretisch und praktisch bestenfalls als Oxymoron. Deshalb ist ihr quantitatives Ausmaß ein wichtiger Indikator der Gesundheit moderner Demokratien und zwar sowohl für die Forschung als auch die Öffentlichkeit3.Diese Studie begreift das Verfassen politischer Online1
Eine ausführliche Genealogie politischer Partizipation und Deliberation in den Werken
2
Neben dem normativen Legitimationsargument finden sich auch prozessuale Begrün-
zentraler politischer Denker findet sich bei Landemore (2013). dungen, wie die Ausdifferenzierung allgemein akzeptabler und somit besserer Argumente (und in deren Konsequenz Entscheidungen) durch Beteiligung der Bürger oder auch Lerneffekte unter diesen. Auf individueller Ebene beschreibt Steinbrecher (2009, S. 33-37) verschiedene, etwa instrumentelle, identifikatorische, qualifizierende und expressive Funktionen politischer Partizipation. Er leistet auch eine ausführliche Diskussion der Funktionen politischer Partizipation. 3
Die Bewertung des Partizipationsniveaus in einem Staat hängt von der theoretischen Herangehensweise ab. Ein hohes Maß an Partizipation kann als Ausdruck von Zufriedenheit und Unterstützung, aber auch als Faktor der Instabilität eingeordnet werden. Niedrige Partizipation wird zumeist als Krisensymptom wachsender Unzufriedenheit interpretiert, kann aber auch ein Zeichen apathischer Zufriedenheit darstellen (vgl. Steinbrecher 2009, S. 30-33; van Deth 2009, S. 141).
PARTIZIPATION DURCH ONLINE-LESERKOMMENTARE: EINORDNUNG UND BESCHREIBUNG | 45
Leserkommentare als politische Partizipation. Dies ist im Folgenden zu begründen, da sich Online-Leserkommentare, wie bereits erwähnt, in einer Grauzone des politikwissenschaftlichen Partizipationsverständnisses befinden. Diese Studie ist mit der Analyse von Online-Leserkommentaren der Online-Deliberationsforschung zuzuordnen, ohne damit vorauszusetzen, dass Online-Leserkommentare im Sinne der Theorie als deliberativ zu bezeichnen sind. Die Online-Deliberationsforschung ist wiederum der empirischen Deliberationsforschung und den Internetstudien zuzuordnen. Beide übergeordneten Forschungsstränge weisen nur rudimentäre Verbindungen zur politischen Partizipationsforschung auf (vgl. Gibson u. Cantijoch 2013, S. 702). Die Definition politischer Partizipation ist ein kontroverses Thema. Trotz oder aufgrund ihrer Bedeutung wird abseits der etablierten Partizipationsakte wie etwa der Wahl oder Parteimitgliedschaft, die Trennlinie zwischen Partizipation und Nicht-Partizipation schnell unscharf. Klassisch ist die Definition des Forscherteams um Sidney Verba, welches die Debatte prägte (vgl. Gabriel u. Neller 2010, S. 89; Zukin et al. 2006, S. 5-7). „By political participation we refer simply to activity that has the intent or effect of influencing government action—either directly, by affecting the making or implementation of public policy, or indirectly, by influencing the selection of people who make those policies“ (Burns et al. 2001, S. 4; Verba et al. 1995, S. 38).
Im deutschen Raum hat die ähnlich lautende Definition von Kaase große Prominenz erlangt (vgl. Kersting u. Woyke 2012, S. 20; Rucht 2010, S. 1-2). Demnach gelten alle Aktivitäten als politische Partizipation, „die Bürger freiwillig mit dem Ziel vornehmen, Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen“ (Kaase 1995, S. 521). Die Abgrenzung politischer Partizipation bleibt dennoch umstritten. Zusätzlich existiert eine große Bandbreite an Definitionen4, die sich über die Jahre des Diskurses entwickelt hat (vgl. de Nève u. Olteanu 2013, S. 14; Steinbrecher 2009, S. 27-29). Deswegen lohnt ein Blick auf die Entwicklung der Interpretation politischer Partizipation, um den Online-Leserkommentar als Instrument politischer Partizipation zu konzeptualisieren. Die Forschungen Lazarsfelds und seines Teams von 1948 und 1954 beschränkten sich noch auf den Wahlakt und wahlbezogene Aktivitäten (vgl. Schmitt-Beck 2007, S. 229-233). Dies weitete sich seitdem sukzessive aus. Durch die zäsurartige Arbeit von Sidney Verba und verschie-
4 Eine umfangreiche Übersicht verschiedener Definitionen politischer Partizipation findet sich bei de Nève und Olteanu 2013, S. 14.
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denen Kollegen wurden in einem engen definitorischen Rahmen auch nicht-institutionalisierte Formen der Partizipation wissenschaftlich salonfähig. Sie nahmen eine Klassifizierung anhand von vier Kategorien vor (vgl. Norris 2002, S. 190; Verba u. Nie 1987, S. 45-47). „Thus we suggest that there are four broad modes of political participation […] by citizens: voting, campaign activity, citizen-initiated contacts, and cooperative participation“ (Verba u. Nie 1987, S. 47). Mittlerweile herrscht Konsens darüber, dass die Bürgerinnen sich einer größeren Bandbreite an Aktivitäten bedienen, um ihre Interessen deutlich zu machen. Vor allem Protestaktivitäten (zum Beispiel Demonstrationen oder Produktboykotte) bereichern das partizipative Repertoire. Seit den 1990er Jahren ist in diesem Kontext von einer Normalisierung unkonventioneller Partizipationsformen die Rede (vgl. Barnes u. Kaase 1979; Norris 2002, S. 190-191). Zentrale Charakteristika, die sich aus den Definitionen von Verba et al. und Kaase ergeben, sind deren Freiwilligkeit, Zielorientierung und ihre politische Natur (vgl. Burns et al. 2001, S. 3-5; Kersting 2008b, S. 21; Steinbrecher 2009, S. 25-27; Zukin et al. 2006, S. 5-7). Auf dieser Basis ergibt sich eine enorme Bandbreite möglicher Aktivitäten. Verschiedene Differenzierungen, wie etwa direkt/ indirekt, verfasst/ nicht-verfasst oder konventionell/ unkonventionell5 sind gebräuchlich (vgl. Kersting 2008b, S. 2128). Bürgerschaftliches Engagement lässt sich grundlegend von politischer Partizipation unterscheiden und abgrenzen, wie Kersting (2008b, S. 21) erläutert, da hier eher weniger die Teilnahme am politischen Entscheidungsprozess, sondern Formen der Selbsthilfe im Mittelpunkt stehen. Trotzdem steht die Frage im Raum, ab wann von einem konkreten Ziel und ab wann von Aktivität gesprochen werden kann. Während eine wachsende Anzahl an Forschern ein inklusives Verständnis politischer Partizipation entwickelt (vgl. zum Beispiel de Nève u. Olteanu 2013, S. 13-14; Kersting 2008b, S. 21-28; Macedo 2005, S. 6-8; Norris 2002, S. 190-193; Rucht 2010, S. 2), gibt es auch andere Positionen. Sidney Verba und sein Forscherteam (Burns et al. 2001, S. 35; 1995, S. 38-42) beschränken politische Partizipation auf Aktivitäten, deren Ziel öffentliche Amtsträger (public officials) sind. Sie differenzieren zwischen sozialer und politischer Aktivität, aber auch zwischen Aktivität und Aufmerksamkeit und schließen damit kommunikative Handlungen, wie Leserbriefe oder Diskussionen dezidiert aus. Ein engeres Verständnis und die Exklusion kommunikativer, wie auch symbolischer und expressiver Handlungen, werden auch im deutschen Raum, etwa von Steinbrecher (2009, S. 28-29), vertreten. Nun ist nicht nur die kommunikative Natur des Online-Leserkommentars aus Perspektive der Partizipationsforschung problematisch, sondern auch sein Kommunikationsmedium. 5
Eine ausführliche Übersicht verschiedenster Differenzierungen politisch partizipatorischer Aktivität nach binärem Muster findet sich bei Kersting 2008b.
PARTIZIPATION DURCH ONLINE-LESERKOMMENTARE: EINORDNUNG UND BESCHREIBUNG | 47
Kritik bezieht sich vorrangig auf den niederschwelligen Charakter digitaler Aktivitäten (vgl. Sander u. Putnam 2010, S. 15; Schlozman et al. 2010, S. 501) und drückt sich beispielsweise im negativ konnotierten Konzept des Slacktivism (vgl. Christensen 2011) aus. Online-Deliberation ist eine spezifische Form des mittlerweile6 als multidimensional verstandenen Feldes digitaler Beteiligungsmöglichkeiten (vgl. Emmer et al. 2011, S. 161; Gibson u. Cantijoch 2013, S. 704; Oser et al. 2013, S. 98-99). Wie Emmer et al. (2011, S. 161) in ihrer einflussreichen Studie zeigen, lassen sich diese entsprechend ihres Verhältnisses zu klassischen Partizipationsformen kategorisieren. Während einige Online-Formate klassische Partizipationsformen oftmals subsidiär unterstützen (zum Beispiel Voting Advice Applications (VAAs); Garzia u. Marschall 2012) oder ein digitales Pendant zum klassischen Weg darstellen (zum Beispiel E-Voting; Kersting 2005a oder E-Petitionen; Jungherr u. Jürgens 2011), sind neue Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten von besonderem Interesse, die gänzlich neue Formen politischen Handelns hervorbringen. Ein prominentes Beispiel ist politischer Protest7, dem sich zahlreiche neue Ausdrucksformen bieten (zum Beispiel das sogenannte „Culture Jamming“, welches das kreative Aufgreifen, Nutzen und Verändern von Werbeslogans, Corporate Designs und anderen Symbolen bezeichnet; van Laer u. van Aelst 2010), aber auch Online-Deliberation. Denn die digitalen Medien übertragen nicht nur den wechselseitigen Austausch auf eine neue mediale Ebene, sondern ermöglichen eine neue, massenmediale, von den Bedingungen von Raum und Zeit weitgehend entlastete Form der Deliberation (vgl. Blank 2013, S. 591; Habermas 2008, S. 161; Jarren u. Donges 2011, S. 113-114; Martinsen 2009, S. 54; Papacharissi 2009, S. 231; Sarcinelli 2012, S. 440; Vowe 2014, S. 30). Dies ist Thema im nächsten Kapitel und wird dort in aller Ausführlichkeit erläutert.
6
Wenn politikwissenschaftliche Studien E-Partizipation in Deutschland (vgl. z.B. Albrecht et al. 2008, S. 14; Decker 2014, S. 89) oder international (vgl. z.B. Dalton 2008, S. 88; Sander u. Putnam 2010, S. 12) thematisieren, wird diese oftmals (noch) als unidimensionale Subkategorie politischer Partizipation kategorisiert. Einen anderen Weg schlagen Studien (vgl. zum Beispiel Gibson et al. 2005, S. 568; Livingstone et al. 2005, S. 290; Oser et al. 2013, S. 92) ein, die E-Partizipation anhand einer Reihe von verschiedenen internetbasierten Aktivitäten erfassen.
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Ambivalenter ist in dieser Dimension das sogenannte Hacken zu bewerten. Hacker können enormen persönlichen wie kollektiven Schaden verursachen, aber auch Problemlagen gesellschaftlich sichtbar machen. Das Angreifen von Websites kann in diesem Kontext als digitaler ziviler Ungehorsam aufgefasst werden (vgl. Baringhorst 2014, S. 110; van Laer u. van Aelst 2010, S. 244).
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Das Hauptargument, Online-Deliberation als politische Partizipation zu verstehen, bezieht sich nicht auf ihren innovativen Charakter, sondern besagt, dass Aktivitäten, die mittlerweile im partizipatorischen Mainstream angekommen sind, sich nicht sinnvoll von der Analyse ausschließen lassen (vgl. Dalton 2008, S. 9294; Macedo 2005, S. 6-8; Norris 2002, S. 190-193). Die empirische Forschung liefert die entscheidenden Indizien für diese Sichtweise. Die Entwicklung verschiedener Indikatoren politischer Teilhabe, wie Wahlbeteiligung, Parteienmitgliedschaft, aber auch die Teilnahme an Demonstrationen oder politisch motivierter Protest, werden deshalb seit langem international erforscht (zum Beispiel: Almond u. Verba 1989; Crozier et al. 1975; Dalton 2006; Hay 2011; Norris 2002; Pharr u. Putnam op. 2000; Putnam 2000; Verba u. Nie 1987; Verba et al. 1995). Es ist mehr oder weniger Konsens in der Forschung, dass die klassischen oder konventionellen Indikatoren politischer Beteiligung global gesehen in einem Abwärtstrend begriffen sind, ohne dass die repräsentative Demokratie als solche infrage stünde (vgl. Dalton 2008, S. 76; Hay 2011, S. 20-23; Macedo 2005, S. 156-159; Putnam 2000, S. 31-47; Putnam 2002, S. 404-407). Eine Entfremdung der Bürgerinnen voneinander und von der Politik wird konstatiert: Eine Gesellschaft des „Bowling alone“ (Putnam 2000), die sich fragen muss „Why we hate Politics?“ (Hay 2011) mit dem Ergebnis einer „Democracy at Risk“ (Macedo 2005)?! Im Gegenteil ist die Lesart vieler Forscher eine andere. Es wird argumentiert, dass die Bürger mehr Beteiligung wünschen und ihre Politikkritik demokratisch interpretiert werden kann8 (vgl. Gabriel u. Neller 2010, S. 79-89; Gabriel u. Völkl 2008, S. 268; Newton 2012, S. 3-4; Roth 2011, S. 37-63; Rucht 2010, S. 2; Treib 2014, S. 1551). Deshalb liegt eine Antwort auf diese scheinbar widersprüchlichen Entwicklungen im Trend „into less formal, more voluntary, more effective channels“ (Putnam 2000, S. 47) politischer Beteiligung, welcher wiederum von Inglehart und Welzel (2005, S. 270-271) mit der Entwicklung post-materialistischer Gesellschaften erklärt wird. Interkulturell führe die sozio-ökonomische Entwicklung dazu, dass für Menschen, die nicht mehr allein für ihr täglich Brot arbeiten müssen und Selbstentfaltungs- und Freiheitswerte9 an Bedeutung gewinnen. Diesen Befund lesen die Wissenschaftler zum einen als Emanzipation der 8
Passend hierzu ist die Feststellung von Treib (2014, S. 1546, 1551), wonach beim Erfolg europaskeptischer Parteien bei den Europawahlen 2014 auch ihre Forderung nach mehr demokratischer Mitbestimmung für die Bürger eine Rolle gespielt hat (Er nennt als Beispiele Griechenland, Italien oder die Niederlande).
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Damit gewinnt die individuelle Freiheit Priorität vor kollektiver Disziplin, menschlicher Pluralismus vor Gruppenkonformität und bürgerliche Autonomie über die Autorität des Staates.
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Massen gegenüber einer marxschen Bourgeoisie und gleichsam als intrinsische Unterstützung demokratischer Werte. Öffentliches Vertrauen und massenhafte Partizipation in hierarchisch-bürokratischen Organisationen wie Parteien und Verwaltung wird somit zum Ausdruck sozialer Konformität (vgl. Inglehart u. Welzel 2005, S. 270-271). Die Verbreitung eines freiheitlichen und selbst-expressiven Wertekatalogs wird dagegen zum Ausdruck demokratischer Stärke, was die weitläufige Krisenthese kontrastiert. Selbstexpressivität und zunehmende Autonomie der Bürgerinnen gegenüber dem Staat und den Parteien werden folglich für die Verbreitung ebenso autonomer und individueller Beteiligungsformen verantwortlich gemacht (vgl. Inglehart u. Welzel 2005, S. 299-300). Deutschland, das einst als „Musterland für Wahlen“ und „Schönwetterdemokratie“ (Kersting u. Woyke 2012, S. 18) bekannt war, liegt hier im Trend. Die klassischen Indikatoren politischer Beteiligung befinden sich in Deutschland wie international in einem Negativtrend beziehungsweise stagnieren. Einen gegenläufigen Trend zeigen dagegen stärker unkonventionelle Formen der Beteiligung. Unterschriftensammlungen oder Demonstrationen sind quantitativ kaum mehr als unkonventionell einzustufen (vgl. Gabriel u. Neller 2010, S. 90-99; Kersting 2012b, S. 6-7; Kersting u. Woyke 2012, S. 7; Roth 2011, S. 60-61; Rucht 2010, S. 3-6). Es kann demzufolge von einer sich institutionalisierenden heterogenen Nutzung des partizipativen Repertoires ausgegangen werden. Die Verweigerung politischer Beteiligung oder die Substitution klassischer Partizipationskanäle lässt sich dagegen nicht überzeugend belegen. Dies gilt insbesondere für die Gruppe der Jüngeren, die von der Partizipationsforschung häufig besonders kritisch betrachtet wird. Gegenüber dem teilweise vorhandenen Rückgang in Kanälen konventioneller Beteiligung zeigt sich ein konstantes Beteiligungsniveau „bei freieren Formen des Engagements […], die als Erweiterung des partizipatorischen Handlungsrepertoires mittlerweile akzeptiert sind“ (Gaiser u. Rijke 2010, S. 32). In diesen Trend lassen sich auch Forschungsergebnisse mit Fokus auf OnlineDeliberation10 einordnen. Erste Erkenntnisse der Deliberationsforschung bestätigen diese Annahme für Deliberation als auch Online-Deliberation. Studien deuten darauf hin, dass politische Diskussionen als Akte politischer Aktivität weit verbreitet sind und in überdurchschnittlichem Maße von Menschen genutzt werden, die sich von konventionellen, parteibezogenen Aktivitäten abgewandt haben (vgl. Baek et al. 2012, S. 378-379; Cook et al. 2007, S. 25-27, 31; Neblo et al. 2010, S. 582). Ihnen kann folglich mobilisierendes Potential zugeschrieben werden. In 10 An dieser Stelle ist kritisch einzuschränken, dass die Forschung Online-Deliberation selten klar definiert. Deshalb beziehen sich die hier vorgestellten Ergebnisse eher auf diskursive Partizipation im weiten Sinne nach Delli Carpini et al. (2004) als auf den normativ definierten Deliberationsbegriff.
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Deutschland findet mittlerweile eine große Vielfalt deliberativer Verfahren Anwendung (vgl. Roth 2014, S. 247-249). „Sie können in ihrer Formenvielfalt und in immer neuen Anwendungsfeldern als der eigentliche Wachstumsbereich politischen Engagements beschrieben werden, während die Kerninstitutionen repräsentativen Regierens (Parteien, Wahlen) in vielen Ländern schwächeln“ (Roth 2014, S. 237). Bächtiger und Wyss (2013, S. 171) bewerten die Teilnahmezahlen an sogenannten deliberative polls und auch die sozio-demographische Zusammensetzung des Teilnehmerfeldes durchaus positiv und leiten daraus ab, dass Deliberation keine „exklusive Veranstaltung für gebildete und anderweitig privilegierte Bürger“ ist. Online-Deliberation scheint zwar im Gegensatz zu ihrer klassischen Variante noch kein Mehrheitsphänomen zu sein, aber insbesondere von jüngeren Menschen bereits in relevantem Ausmaß genutzt zu werden. Junge Menschen scheinen hier überrepräsentiert zu sein (vgl. Cook et al. 2007, S. 41-43; Emmer et al. 2011, S. 145-150). Problematisch an den vorliegenden Zahlen (vgl. Cook et al. 2007, S. 33, 35; Emmer et al. 2011, S. 145-150) ist aber, dass es sich letztlich um geringe Fallzahlen handelt, was die Verallgemeinerbar- und Nutzbarkeit der Prozentzahlen einschränkt11. Überzeugende Hinweise auf die Entwicklungstendenz politischer Diskussionen im Internet und vergleichsweise aktuelle Zahlen mit Fokus auf Deutschland liefert die Studie von Victoria Spaiser (2013). Spaiser beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit der politischen Internetnutzung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland. Dabei legt sie eine ausführliche Sekundäranalyse vorliegender Forschung vor (2013, S. 37-56) und führt auch eine eigene Studie durch, womit sie vergleichsweise aktuelle Zahlen bietet (2013, S. 179-187). Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass sich die politische Internetnutzung Jugendlicher bereits enorm weiterentwickelt hat. Nach der Nutzung als Informationsquelle und zur Koordinierung mit anderen war die politische Diskussion die drittwichtigste politische Beteiligungsform der 2082 befragten Jugendlichen. Ihren Zahlen nach hat sich jeder fünfte befragte Jugendliche bereits mehrfach an Online-Diskussionen beteiligt. Diese sprechen somit für die Annahme eines positiven Trends (vgl. Spaiser 2013, S. 183).
11 Cook et al. (2007, S. 25-27, 31) fragten im klassischen Sinne der Partizipationsforschung nach der Verbreitung diskursiver Partizipation in den Vereinigten Staaten. Dabei stützten sie sich auf Survey-Daten der Universität von Connecticut und ein national repräsentatives Sample von 2003 (vgl. Cook et al. 2007, S. 25-27, 31, 33, 35). Ihr Datensatz umfasst allerdings nur 61 sogenannte „Internet deliberators“. Die Panelstudie von Emmer et al. (2011, S. 145-150) bezieht sich auf den Zeitraum der Jahre 20032009. Die Fallzahlen liegen im zwei- oder niedrigen dreistelligen Bereich.
PARTIZIPATION DURCH ONLINE-LESERKOMMENTARE: EINORDNUNG UND BESCHREIBUNG | 51
Dieses Ergebnis korreliert mit der Einschätzung der Shell Jugendstudie aus dem Jahr 2015, in welcher die Autoren deliberative Formen der Beteiligung im Internet als niederschwelligen Einstieg in die politische Partizipation hervorheben und erklären, diese könnten „ein wichtiges Element zur Förderung von Beteiligung darstellen“ (Schneekloth 2015, S. 199). Die Jüngeren sind im Bereich der E-Partizipation deutlich überrepräsentiert und werden mit zunehmendem Alter ihre Mediennutzungs- und Kommunikationsgewohnheiten auch mit Bezug auf politische Partizipation nicht mehr den aktuell älteren Generationen anpassen. Deshalb kann angenommen werden, dass der Jugendbias von E-Partizipation in der Zukunft gesellschaftliche Realität wird (vgl. Livingstone et al. 2005, S. 304; Schlozman et al. 2012, S. 489-502; Vowe 2014, S. 48-50). Ihre unhierarchische und informelle Struktur scheint vielmehr im (jungen) umgangssprachlichen Trend zu liegen (vgl. Baek et al. 2012, S. 378-379; Cook et al. 2007, S. 41-43; Emmer et al. 2011, S. 145-150; Hirzalla u. van Zoonen 2011, S. 487; Neblo et al. 2010, S. 582; Schlozman et al. 2012, S. 511). Weitere Unterstützung für das Argument dieses Kapitels ergibt sich durch dessen Verbindung mit der Wertewandel-These nach Inglehart (2007). Insbesondere die sozialen Medien und ihre mannigfaltigen Foren für Diskussion und Expression lassen sich mit diesem und einem insgesamt heterogenisierten Partizipationsrepertoire in Verbindung bringen (vgl. Dahlgren 2014, S. 61-62). Selbst die Forschergruppe um Sidney Verba, die als Vorreiter eines restriktiven Verständnisses des Partizipationskonzeptes gelten darf, betont die zunehmende Bedeutung von Social Media für das politische Engagement der sogenannten Post-Boomer. Sie leiten hieraus gar den Bedeutungsgewinn individuell-persönlicher und expressiverer Partizipationsformen ab (vgl. Schlozman et al. 2012, S. 511, 530-533). Dies bestätigt erneut die aktuellste, vorliegende Shell Jugendstudie mit Blick auf Deutschlands Jugendliche. Während Politikverdrossenheit und geringes Parteienvertrauen weiterhin vorherrschen, befindet sich das politische Interesse im Positivtrend. Mit dieser wieder stärker politisierten, kritischen Grundhaltung sei auch die Bereitschaft zu politischer Partizipation verbunden. „Charakteristisch sind hier vor allem individuelle und niederschwellige Beteiligungsmöglichkeiten. Vieles spricht dafür, dass mit Partizipations- und Beteiligungsangeboten, die über das Internet zugänglich sind […] sich an dieser Stelle wichtige neue Möglichkeiten eröffnen“ (Schneekloth 2015, S. 200). Empirische Indizien liefern Shen und Liang (2015, S. 119), die auf makro-gesellschaftlicher Ebene Bedingungen für die Partizipation an Online-Diskussionen im internationalen Vergleich untersuchen. Die Studie zu Webforen in 75 Staaten belegt einen Zusammenhang für die Partizipationsbereitschaft an Online-Diskussionen mit der nationalen Ausprägung selbst-expressiver
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Werte und der Demokratisierung des politischen Systems. Auch wenn diese Studie notwendigerweise unterkomplex bleiben muss, liefert sie ein weiteres Indiz dafür, dass Online-Deliberation als Partizipationsform Bestandteil eines gesellschaftlichen Entwicklungstrends von Wertewandel und Heterogenisierung politischer Beteiligungsformen ist (vgl. Hirzalla u. van Zoonen 2011, S. 487). Abbildung 3.1: Die Heterogenisierung politischen Partizipationsverhaltens der Bürger
(Eigene Darstellung.)
Die empirische Relevanz von Online-Deliberation als politische Ausdrucksform wurde bis hier hin deutlich. Ebenso wurde deutlich, dass die Bedeutung digitaler Kommunikationskanäle als Ventil politischer Beteiligung weiter zunehmen wird; insbesondere über Social Media. Die rapide zunehmende Nutzung und Bedeutung mobiler Endgeräte für den Internetzugang und (mobile) politische Partizipation12 bringen in diesem Kontext eine ganze Reihe zusätzlicher Möglichkeiten mit sich (vgl. Eimeren u. Frees 2012, S. 362-365; Leven u. Schneekloth 2015, S. 123-124; Martin 2014, S. 174-175; 178). Während für die Partizipationsforschung die Quantität politischer Beteiligung von zentraler Bedeutung ist, fokussiert sich die Deliberationsforschung hauptsächlich auf deren Qualität, hat sie doch die Maßstäbe selbst entwickelt (vgl. Macedo 2005, S. 8-10). Im Gegensatz zu vielen anderen Formen politischer Beteiligung ist Deliberation in erster Linie kein Konzept zur Beschreibung der empirischen
12 Martin (2014) setzt sich in seinem Artikel „Mobile media and political participation: Defining and developing an emerging field“ gezielt mit den Möglichkeiten mobiler politischer Partizipation auseinander und arbeitet an einer definitorischen Beschreibung von „mobile political participation.“ (Martin 2014, S. 174)
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Realität, sondern bezieht sich auf ein partizipatorisches Ideal, das theoretisch entwickelt wurde und als Prüfmaßstab gegenüber der Realität angewandt wird. Deliberation lässt sich nachvollziehbar von anderen Bereichen politischer Partizipation abgrenzen. Sie folgt einer eigenen Logik und ist demzufolge als rede-zentristische Partizipation einzuordnen (vgl. Chambers 2003, S. 308; Kersting 2014, S. 62; Schmitter u. Trechsel 2004, S. 83-84). Im Zentrum der Deliberation steht, im Modus der Argumentation Einigung über das Allgemeinwohl zu erzielen. Voraussetzung der Argumentation im Sinne von Habermas (1981, S. 47-48) ist hierbei, dass „die Struktur ihrer Kommunikation, aufgrund rein formal zu beschreibender Merkmale, jeden (sei es von außen auf den Verständigungsprozeß einwirkenden oder aus ihm selbst hervorgehenden) Zwang - außer dem des besseren Argumentes - ausschließt […]“ Aus diesem Grund ist es durchaus geläufig, wenn Autoren mit eigenständigen Kategorien politischer Beteiligung mit direktem Bezug auf das Paradigma deliberativer Demokratie arbeiten (vgl. Dahlberg 2011, S. 859-860; Freelon 2010, S. 1181-1182; Kersting 2014, S. 64-79; Pickard 2008, S. 632), alternative Bezeichnungen wählen (vgl. Hirzalla u. van Zoonen 2011, S. 484-487, sharing) oder ausschließlich zwischen verschiedenen Typen digitaler Diskussion differenzieren (vgl. Dahlgren 2005, S. 153; Strandberg 2008, S. 76). Die verschiedenen Ansätze definieren die E-Partizipationskategorie deliberativer Demokratie übereinstimmend untereinander und mit dem klassischen Ansatz über die Diskussion als zentralen Handlungsmodus. Online-Deliberation wird darüber hinaus anhand spezifischer, normativ-theoretisch hergeleiteter Kriterien spezifiziert, wie sie Kapitel 2.3 dargestellt hat. Einige Ansätze erklären zusätzlich explizit die Ausformung einer Netzöffentlichkeit auf Basis deliberativer Diskussionen als Ziel von Online-Deliberation (vgl. Dahlberg 2011, S. 859-860; Dahlgren 2005, S. 153; Freelon 2010, S. 1181-1182; Kersting 2014, S. 74-75; Pickard 2008, S. 632; Strandberg 2008, S. 76). Damit wird eines deutlich: Auch wenn der Deliberationsbegriff häufig unscharf verwendet wird, bezeichnet Online-Deliberation nicht jede Form politischer Kommunikation oder Diskussion im Internet. Es ist konzeptionell stimmiger, Delli Carpini et al. (2004) zu folgen und deliberative von diskursiver Partizipation zu unterscheiden. Als eine mögliche Ausprägung diskursiver Partizipation ordnen Delli Carpini et al. (2004, S. 318-319) Deliberation ins Paradigma politischer Partizipation ein. „Talking in public with other citizens is a form of participation, one that arguably provides the opportunity for individuals to develop and express their views, learn the positions of others, identify shared concerns and preferences, and come to understand and reach judgments about matters of public concern“ (Delli Carpini et al. 2004, S. 319).
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Dies erscheint sinnvoll. Während sie mit dem Konzept diskursiver Partizipation politische Kommunikation und Diskussion der Bürger allgemein als Form politischer Partizipation verstehen, bezeichnet deliberative diskursive Partizipation in diesem Sinne ausschließlich diskursive Partizipation, die den normativen Anforderungen der deliberativen Theorieschule gerecht wird. Delli Carpini et al. (2004, S. 318) grenzen Deliberation bewusst nur unvollständig von anderen Formen diskursiver Partizipation ab und sprechen von einer spezifischen, wichtigen und idealisierten Kategorie diskursiver Partizipation. Diskursive Partizipation ist nach Delli Carpini et al. (2004, S. 319) durch fünf Merkmale definiert: „First, and most obviously, the primary form of activity we are concerned about is discourse with other citizens—talking, discussing, debating, and/or deliberating. Second, we see discourse of this kind as a form of participation. […] Third, discursive participation can include but is not limited to the formal institutions and processes of civic and political life. […] Fourth, discursive participation can occur through a variety of media, including face-to-face exchanges, phone conversations, email exchanges, and internet forums. Fifth, it is focused on local, national, or international issues of public concern.“
Deliberation stellt dieser Lesart nach eine normativ definierte und anspruchsvolle Subform diskursiver Partizipation dar. Damit bietet sie einen Maßstab, Diskussionen qualitativ voneinander zu unterscheiden. Hierzu passend beschreiben Schaal und Ritzi (2012, S. 140) Deliberation als unkonventionelle und nicht verfasste Form13 politischer Partizipation und orientieren sich dabei an der Definition nach Kaase. Die bisherige Argumentation in diesem Kapitel lässt sich diesem Verständnis nach problemlos auf diskursive Partizipation im Allgemeinen übertragen, was Delli Carpini et al. (2004, S. 318-319) durch die Berufung auf aktuelle Beteiligungstrends bereits getan haben. Demnach werde diskursive Partizipation14 bedeutsamer, um Meinungsverschiedenheiten zu beleuchten, zu thematisieren und 13 Die Grundannahme zahlreicher Studien, wonach Partizipation als Deliberation auftreten kann, dekonstruieren sie hierzu und erweitern den angestrebten Output von Deliberation neben der Entscheidungsfindung um Selbstaufklärung, Fremdaufklärung und die Beratung von Dritten (vgl. Schaal u. Ritzi 2012, S. 140). 14 Delli Carpini et al. grenzen diskursive Partizipation noch weiter ein. Dazu legen sie die folgenden Kriterien an: Diskursive Partizipation verstehen sie als Oberbegriff für zahlreiche verschiedene Formen der diskursiven Auseinandersetzung von Bürgern mit Bürgern, ob im politischen Gespräch, der politischen Diskussion und insbesondere der Deliberation. Diskursive Partizipation findet demnach in den formalen Institutionen des politischen und bürgerlichen Lebens statt, aber auch außerhalb, etwa privat und informell (vgl. Delli Carpini et al. 2004, S. 318-319).
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zu verarbeiten. Insbesondere solche, die ansonsten nicht vollständig oder gar nicht statuiert worden wären. Zur Zusammenfassung dieses Kapitels ist folglich hinzuzufügen, dass in erster Linie die empirische Relevanz und das Potential diskursiver Partizipation aufgezeigt wurden. Es erscheint vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses dieser Studie deshalb sinnvoll, mit Blick auf Online-Leserkommentare wertfrei von diskursiver Partizipation zu sprechen. Es ist dagegen ein wesentliches Ziel dieser Arbeit, zu prüfen, ob sich tatsächlich deliberative Partizipation realisiert. Demnach ist Online-Deliberation als diskursive Partizipation online zu verstehen, welche einem Mindestmaß deliberativer Qualität gerecht wird.
D IE STRUKTURELLEN R AHMENBEDINGUNGEN VON O NLINE -D ELIBERATION Nachdem Online-Deliberation als Subform diskursiver Partizipation im Internet definiert wurde, ist es nun Aufgabe dieses Kapitels, die daraus resultierenden strukturellen Rahmenbedingungen zu klären. Zuerst einmal unterscheidet sich Online-Deliberation von ihrem klassischen Pendant durch ihre mediale Natur. Das Internet und in einer neuen Dimension Social Media-Plattformen brechen mit der klassischen Logik der Massenmedien. Die Möglichkeit von (Nutzer-)Interaktion ist neben prinzipieller Zugangsoffenheit und egalisierenden Elementen die zentrale Strukturveränderung massenmedialer Öffentlichkeit durch das Internet und macht massenmediale Deliberation überhaupt erst denkbar (vgl. Emmer u. Wolling 2010, S. 39-40; Kersting 2012c, S. 11-12; Münker 2012, S. 45; Wright 2012, S. 254). Deshalb leitet dieses Kapitel mit einer prägnanten Darstellung der Spezifika des Mediums Internet gegenüber traditionellen Massenmedien ein, um in einem zweiten Schritt dessen aus deliberativer Perspektive zentrale Strukturveränderung zu beleuchten und zu klären, was unter Interaktivität online zu verstehen ist. Schließlich ist das Internet durch eine Vielzahl verschiedener Kommunikationsmöglichkeiten geprägt, die sich anhand unterschiedlicher technischerund organisatorischer Rahmenbedingungen unterscheiden. Die Online-Deliberationsforschung im Speziellen und die Internetstudien im Allgemeinen haben bereits hinlänglich gezeigt, dass sich diese auf die Form von Kommunikation und (diskursiver) Partizipation auswirken. Es kann also kaum von dem Internet als Kommunikationsraum die Rede sein, sondern von zahlreichen durch verschiedene Variablen geprägte Kommunikationsräume im Internet (vgl. Schweitzer u. Albrecht 2011, S. 26).
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Janssen und Kies (2005, S. 320-321) haben hier mit ihrem Acta Politica-Artikel vergleichsweise früh erste Grundlagenarbeit geleistet. Und obgleich sich mittlerweile eine veritable Bandbreite an Fallstudien und Überblicksartikeln mit den strukturellen Einflussfaktoren von Online-Deliberation beschäftigt (vgl. Davies u. Chandler 2012; Jankowski u. van Os 2004; Kersting 2012c; Lampe u. Resnick 2004; Leshed 2009; Linaa Jensen 2003; Rhee u. Kim 2009; Wright 2012; Wright 2006; Wright u. Street 2007), ist hier ist noch viel Grundlagenarbeit offen. Die Forschung konnte zeigen, dass der Struktur einer Diskussionsplattform Einfluss zukommt. Sie konnte zahlreiche Ergebnisse zu verschiedenen Einflussfaktoren vorlegen, ihr Zusammenspiel aber ist bislang kaum erforscht und auch einen Anspruch auf Vollständigkeit konnte bislang keine Aufzählung für sich beanspruchen. Um den Online-Leserkommentar als Plattform für Online-Deliberation fassen zu können, werden deshalb als zentrales Element in diesem Kapitel wesentliche Strukturvariablen digitaler Kommunikationskanäle diskutiert. Dabei orientiert sich diese Arbeit an der von Janssen und Kies (2005, S. 321) eingeführten Unterscheidung zwischen technischen und organisatorischen strukturellen Rahmenbedingungen von Online-Deliberation. Anhand dieser Variablen kann dann im nächsten Schritt der Online-Leserkommentar als digitales Beteiligungsinstrument für diskursive Partizipation konzeptualisiert und eingeordnet werden. Das andere Massenmedium Internet Der Neu- oder Weiterentwicklung von (Massen-)Medien wurde seit jeher große öffentliche sowie akademische Aufmerksamkeit zuteil. In chronologischer Reihenfolge15 lassen sich hier der Buchdruck, die (Zeitungs-)Massenpresse, der Kinofilm, das Radio, das Fernsehen, der Computer und schließlich das Internet anführen (vgl. Jäckel 2011, S. 47; Mergel 2010, S. 41; Schulz 2010, S. 313). Dies kann vor dem Hintergrund der zentralen Rolle, die Massenmedien für moderne Massendemokratien spielen, kaum überraschen. Erst die allgemeine Reichweite
15 Eine prägnante Darstellung und Diskussion der historischen Entwicklung der Massenmedien leistet Jäckel (2011, S. 47). Leggewie (2009, S. 74) schildert vier historische Epochen des Zusammenwirkens von Politik und Medien: Auf die Vollversammlungsdemokratie der antiken Polis folgt die Salonöffentlichkeit, die durch Flug- und Zeitschriften bereichert wird. Die telekommunikative Massendemokratie folgt darauf bis zur aktuellen Phase individualisierter Massenkommunikation durch digitale Medien.
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der Massenmedien ermöglicht gemeinschaftliche Realitätskonstruktion16, die Herstellung demokratischer Öffentlichkeit und somit die Basis für Transparenz, Resonanz und die Ausbildung öffentlicher Meinung. Nur die notwendigerweise massenmedial vermittelte Öffentlichkeit bietet den Bürgern die Möglichkeit, politische Meinung zu artikulieren, Gegenöffentlichkeit zu konstituieren und somit abseits der Wahl politischen Einfluss auszuüben (vgl. Emmer u. Wolling 2010, S. 37; Habermas 1990, S. 38; Jäckel 2011, S. 25; Martinsen 2009, S. 37; Mittendorf 2009, S. 52-53; Pfetsch u. Marcinkowski 2009, S. 11). Massenmediale Kommunikation wird als öffentlich, indirekt und einseitig (one-to-many) charakterisiert. Massenmedien verbreiten mit technischen Hilfsmitteln Kommunikation öffentlich über ein als stabil anzunehmendes, aber nicht präzise zu bestimmendes Publikum. Die massenmediale Logik ist prinzipiell durch die Abwesenheit von Interaktion gekennzeichnet (vgl. Jäckel 2011, S. 47, 63; Luhmann 2004, S. 11; Martinsen 2009, S. 40). Problematisch an der Prä-Internet-Medienöffentlichkeit ist aber, dass diese sich vermachtet darstellt und von politischen wie ökonomischen Gatekeepern kontrolliert wird (vgl. Habermas 2008, S. 165-167). Aus normativ demokratischer Sicht finden zu wenige Kommunikatoren und Botschaften Eingang in die von wenigen Akteuren kontrollierte und zentralisierte Medienöffentlichkeit, die vom wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis politischer, ökonomischer und medialer Akteure geprägt ist (vgl. Emmer u. Wolling 2010, S. 37-38; Fung et al. 2013, S. 33; Marcinkowski 2007, S. 101106; Thurman 2015, S. 358-361). Die partizipativen Elemente des Internets haben hiermit gebrochen. Es ist von einem neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit die Rede (vgl. Büffel 2008, S. 135; Vowe 2014, S. 25-28). „Die Logik von Online-Medien beginnt den öffentlichen Raum zu dominieren und Einfluss darauf zu nehmen, wie kollektiv bindende Entscheidungen erörtert, getroffen und durchgesetzt werden“ (Vowe 2012, S. 4). Ein wesentlicher Unterschied zwischen klassischen Medienangeboten und digitalen Medien besteht darin, dass klassische Medien vor allem Push-Angebote liefern,
16 Die kollektive Wirkung massenmedial vermittelter Inhalte wird häufig anhand verschiedener Effekte veranschaulicht. Der Werther-Effect (die steigende Selbstmordrate im Zuge von Goethes Die Leiden des Jungen Werther) und der Luther-Effect (autodidaktische Verbreitung des christlichen Glaubens durch die Luther-Bibel) sind traditionelle, der Kylie-Effect (der sprunghafte Anstieg von Brustkrebsvorsorgeuntersuchungen nach der Bekanntwerdung der Erkrankung der Sängerin Kylie Minogue) und der sogenannte Ophra’s Pick (der Sprunghafte Anstieg von Verkaufszahlen von Konsumgütern durch die Nennung von der amerikanischen Talkmasterin Ophra Winfrey) sind moderne Beispiele (vgl. Jäckel 2011, S. 23-24).
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während Internetmedien als Pull-Angebote charakterisiert werden, welche fortlaufende Selektionsleistungen des Nutzers fordern und damit zwangsläufig vom Nutzer individualisiert werden (müssen). Dies führe zu einem verstärkten Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Nutzer (vgl. Emmer u. Wolling 2010, S. 41). Das Internet ist weiter als Medium erster Ordnung einzuordnen, welches die Basis für verschiedene digitale Medien zweiter Ordnung bietet. Die digitalen Inhalte stammen von verschiedenen Medien zweiter Ordnung, wie etwa Nachrichtenseiten - und deren Nutzern (vgl. Bruns 2009, S. 2; Jäckel 2011, S. 69; Jarren u. Donges 2011, S. 79). Das Internet stellt eine crossmediale Struktur dar. Seine Multimedialität bedeutet eine neue mediale Qualität (vgl. Büffel 2008, S. 150151; Sarcinelli 2012, S. 439; Yang 2008, S. 5-7). Kommunikationstechniken verschiedener Geräte und verschiedene Kommunikationselemente werden miteinander verknüpft. Im Gegensatz zur einseitigen one-to-many-Kommunikation der klassischen Massenmedien, ermöglichen digitale Kanäle potentiell einen massenmedialen Dialog aller Beteiligten. Die Forschung bezeichnet diese Kommunikationsform als many-to-many-Kommunikation. Parallel hierzu sind aber auch andere Kommunikationsformen, wie das persönliche Gespräch one-to-one, klassisch massenmediale Kommunikation one- oder few-to-many sowie auch umgekehrt many-to-one möglich (vgl. Fung et al. 2013, S. 33; Jarren u. Donges 2011, S. 79; Konert u. Hermanns 2002, S. 417-418; Vowe 2014, S. 29-30). Dies alles ist überdies erreichbar zu sehr geringen Kosten an Aufwand, Fähigkeiten und Zeit, auch wenn neue Faktoren, wie Internetfähigkeiten hinzukommen und die Erstellung von Inhalten selbst weiterhin Kreativität erfordert, zeit- und energieaufwändig ist (vgl. Blank 2013, S. 591; Fung et al. 2013, S. 33; Gibson et al. 2005, S. 566; Schlozman et al. 2012, S. 508-511; Vowe 2012, S. 2; Vowe 2014, S. 31, 44). Insbesondere gesunken sind die Kosten für die Aneignung einer großen Menge an Informationen und verschiedener Sichtweisen, die quasi unbegrenzt verfügbar sind (vgl. Fung et al. 2013, S. 33; Jarren u. Donges 2011, S. 110-111). Das zentrale Element des Wandels medialer Logik besteht in der Interaktivität der neuen Kommunikationskanäle. Die Nutzerinnen können untereinander sowie mit politischen, medialen und ökonomischen Akteuren interagieren (vgl. Jarren u. Donges 2011, S. 113-114; Martinsen 2009, S. 54; Sarcinelli 2012, S. 440). Seine auffällige Entwicklungsdynamik erhielt der hier beschriebene Wandel medialer Logik aber mit der Entwicklung von Applikationen, für die der amerikanische Verleger Tim O’Reilly 2004 den Begriff Web 2.0 erfand (vgl. Ebersbach et al.
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2011, S. 17-27; Schmidt 2008, S. 19). Der Begriff Web 2.0 ist abseits seines fehlführenden, revolutionären Impetus17 als Sammelbegriff für verschiedene Funktionen im Netz praktikabel. Er beschreibt in erster Linie eine neue Internetlogik, die sich zunehmend ausbreitet. War das Internet lange dominiert durch verschiedene hierarchisch organisierte und starre Informationsangebote, existiert es heute parallel dazu als ein partizipativer Anwendungsrahmen für die fortlaufende und kollaborative Inhaltsproduktion durch die Nutzer (vgl. Bruns 2009, S. 2; Kaplan u. Haenlein 2010, S. 60-61; O’Reilly 2007, S. 18-19; Sarcinelli 2012, S. 439-440; Schmidt 2008, S. 22). Dem Web 2.0-Begriff wohnt keine klare Abgrenzung inne. Vielmehr stellt dessen partizipative Logik18 eine Art gravitätischen Kern dar. Das Konzept Web 2.0 beschreibt Plattform und Handlungslogik gleichermaßen. Gebräuchlicher und zielführender erscheint daher momentan der Begriff soziale Medien oder international gebräuchlich Social Media, um die Plattformen interaktiver Inhaltsproduktion zu fassen. Die Breite der sich rasant entwickelnden Social Media-Landschaft reicht von kollaborativen Wissenssystemen (Wikipedia) über soziale Netzwerke (Facebook, Google+, Tumblr), Karrierenetzwerke (LinkedIn, Xing), thematisch orientierten Netzwerken (MySpace), Photodiensten (Flickr), Microblogging (Twitter) und Videoplattformen (Youtube). Definitorisch19 lässt sich diese Vielfalt auf zwei wesentliche Kerncharakteristika eingrenzen. Soziale Medien basieren erstens grundlegend auf der Struktur und Logik des Web 2.0, indem sie interaktiv, kollaborativ und partizipativ angelegt sind. Zweitens erlauben Social Media die individuelle, wie gemeinschaftliche Generierung und das Teilen von User-Generated-Content (UGC) (vgl. Kaplan u. Haenlein 2010, S. 61). Als solcher wird der seit 2005 gebräuchliche Terminus genutzt, um die verschiedenen Formen medialen Inhalts zu beschreiben, welcher öffentlich zugänglich ist und von Endnutzern erstellt wurde. Gemäß dieser Argumentation lässt 17 Wie Jan Schmidt (2008, S. 19, 22) in seinem Grundlagenbeitrag hierzu schreibt, vollzog und vollzieht sich die Entwicklung der sogenannten Web 2.0-Plattformen vielmehr evolutionär. Web 2.0-Strukturen existierten parallel zu klassischen Web 1.0-Strukturen. 18 „Web 2.0 is the network as platform, spanning all connected devices; Web 2.0 applications are those that make the most of the intrinsic advantages of that platform: delivering software as a continually-updated service that gets better the more people use it, consuming and remixing data from multiple sources, including individual users, while providing their own data and services in a form that allows remixing by others, creating network effects through an ‘architecture of participation’" (O’Reilly 2007, S. 17). 19 Der Bundesverband digitale Wirtschaft (BVDW) bietet eine praxisgeleitete, deutschsprachige Definition in seinem Social Media-Kompass (vgl. BVDW 2009, S. 5). Eine ausführlichere, grundlegende, definitorische Eingrenzung auf mehreren Ebenen nimmt Michelis (2012, S. 19) im Social Media Handbuch vor.
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sich auch der Online-Leserkommentar als soziales Medium auffassen. Er steht damit metaphorisch ausgedrückt in der ersten Linie der aktuellen Entwicklungsdynamik digitaler Medien. Mit der Leserkommentarfunktion ist der Nutzer nicht mehr nur Rezipient, sondern auch Produzent von medialen Inhalten. Diese hybride Figur beschreibt Bruns (2009, S. 2-3) mit dem Begriff Produtzer oder Produser (vgl. Bruns 2009, S. 2-3).20 Die traditionellen Massenmedien haben auf diese Weise ihr institutionelles Monopol über die Produktion und Publikation von Informationen und Meinungen eingebüßt. Dies gilt, auch wenn eine stärker zentralisierte und verringerte Zahl an einflussreicheren und größeren Akteuren nach wie vor die weitreichendsten Botschaften produziert. Habermas sieht sich deshalb dazu veranlasst, die Wiederbelebung der „historisch versunkene[n] Gestalt eines egalitären Publikums von schreibenden und lesenden Konversationsteilnehmern“ (Habermas 2008, S. 161) anzunehmen. Aber, wie Leggewie (2009, S. 74) schreibt, ist es auch das Zeitalter der individuellen Massenkommunikation. Sicher, viele Nutzer können mit einer Vielzahl anderer Nutzer in den Dialog treten. Sie können sich aber auch auf das Absenden ihrer Botschaft beschränken. Dies jedenfalls ist mittlerweile egalitärer möglich als je zuvor. Die enorme Verbreitung von Smartphones, Tablets und anderer mobiler Technologie trägt weiter hierzu bei und bietet zusätzliche Nutzungspotentiale (vgl. Eimeren u. Frees 2012, S. 362-365; Leven u. Schneekloth 2015, S. 123-124).
20 Der von Bruns (2009) geprägte Begriff ist eine Adapation des von dem Futurologen Alvin Toffler entwickelten Konzepts des „Prosumers“ (Toffler u. Sennett 2006, S. 89). Das Konzept der Prosumption beschreibt „the willing seduction of the consumer into production“ (Toffler 1980, S. 275 nach Bruns 2012 S.69). Bruns (2009, S. 2; 2012, S. 67) verortet sein Konzept bewusst in der Entwicklungslinie eines informierten wie aktiven Konsumenten und überträgt dies mit dem Produser auf eine neue Ebene. Während der Prosumer ökonomische Versuche beschrieb, den Konsumenten als fast professionalisierten Verbraucher in den Produktionsprozess zu integrieren und damit einen stark ungleichen, dezentralisierten und unausgewogenen Prozess der Wertschöpfung beschreibt, geht der Produser darüber hinaus. Dieser setzt sich über das traditionell industrielle Verständnis der Inhaltsproduktion hinweg, indem er auf Basis von digitaler Technologie kollaborativ entstandene Inhalte beschreibt. Eine ausführliche Definition von Produsage oder Produtzung findet sich bei Bruns (2009, S. 2-3).
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Interaktivität Interaktivität ist, wie gerade beschrieben, das herausragende Merkmal des Internets, das es als Massenmedium einzigartig macht und ist damit den technischen Rahmenbedingungen vorgelagert. Holtkamp et al. (2006, S. 78-79) zeigen, dass bereits 1972 modellhafte Vorstellungen einer Computerdemokratie entwickelt wurden und sich auf Basis des interaktiven Potentials des Internets Konzepte wie Cyberdemocracy oder Electronic Democratization entwickelten. Bräuer et al. (2008, S. 190-192) betonen, dass die Interaktivität einer freiheitlichen Perspektive auf das Internet Vorschub leistete und damit deliberative Vorstellungen inspirierte. Dies findet sich auch bei Yang (2008, S. 3), der euphorische Demokratisierungserwartungen auf die Interaktivität der neuen Medien zurückführt. Martinsen (2009, S. 54) sowie Jarren und Donges (2011, S. 113-114) bestätigen diese Sicht aus medienwissenschaftlicher Perspektive und diskutieren demokratisierende und deliberative Erwartungen anhand des interaktiven und partizipatorischen Potentials der neuen Medien. Theoretisch begründet dies Leggewie (2009, S. 75), der die Interaktivität des Internets ebenfalls besonders hervorhebt. Hierdurch werde aus dem klassischen Medienmodell von Sender und Empfänger eine dauerhafte Mehrwegkommunikation. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive ist die Interaktionsmöglichkeit denn auch eine, wenn nicht die entscheidende Strukturveränderung massenmedialer Öffentlichkeit, welche die Online-Deliberationsforschung inspiriert, wie Emmer und Wolling (2010, S. 39-40) in ihrem Überblicksartikel betonen. Sarcinelli (2012, S. 440) fragt beispielhaft, ob das Web 2.0 nicht die „ideale Plattform für die Generierung einer demokratischen Öffentlichkeit bietet“ und führt dies auf die Entwicklung des Internets zum „interaktiven Mitmachmedium“ zurück. Habermas sieht durch das Internet (wieder) deliberative und somit interaktive Elemente in der (Massen-)Kommunikation (vgl. Habermas 2008, S. 161). Diese Beispiele zeigen, dass Interaktivität ein viel genanntes Konzept in der Debatte darstellt. Gleichzeitig wird es aber selten genauer beleuchtet. Die Definition gestaltet sich schwierig. Insbesondere die auf Massenmedien spezialisierte Kommunikationswissenschaft führt hier eine lebhafte definitorische Debatte (vgl. Neuberger 2007, S. 34). Neuberger analysiert die kommunikationswissenschaftliche Debatte auch im Kontext digitaler Kommunikationsmedien. Dabei gelingt es ihm, drei Variablen auszudifferenzieren, welche interaktive Kommunikation von nicht-interaktiver Kommunikation unterscheiden. „Interaktive Kommunikation bedarf einer bestimmten zeitlichen Folge sowie einer sachlichen und sozialen Bezugnahme“ (Neuberger 2007, S. 46). Genauer heißt dies, dass interaktive Kommunikation die aufeinanderfolgende Produktion von Nachrichten beschreibt, bei
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welcher individuell auf eine Nachricht reagiert wird und dabei an einen bestimmten Kommunikationspartner adressiert ist, sich nicht an eine unbestimmte Masse an Kommunikationspartnern richtet. Damit wird deutlich, dass Interaktionspotential als Rahmenbedingung von Online-Deliberation die Möglichkeit des spezifischen Bezugs aufeinander erfordert. Werden das Internet oder spezifischer Social Media als interaktiv beschrieben, kann angenommen werden, dass dessen Plattformen für Online-Deliberation dem gerecht werden. Die Verwirklichung dieser Maßgabe gestaltet sich im Online-Kontext aber komplexer, wie auch Neuberger (2007, S. 46-47) beispielhaft zeigt. So schreibt er, dass eine temporäre Verzögerung von Nachrichten (Asynchronität) die Notwendigkeit des expliziten Bezugs auf die entsprechende Nachricht verstärkt. Spezifischer wird hier die Definition von Interaktivität nach Kiousis, die Neuberger (2007, S. 35) als besonders umfassenden Klärungsversuch würdigt. (Hybride) Technologie, Kommunikation und Nutzerwahrnehmung würden hier integriert. Kiousis (2002) kommt auf Basis einer breiten Literaturanalyse zu folgender Definition, die dezidiert auch die technischen Rahmenbedingungen inkludiert und Interaktion vor allem im kommunikationstechnologischen Kontext betrachtet: „Interactivity can be defined as the degree to which a communication technology can create a mediated environment in which participants can communicate (one-toone, one-to-many, and many-to-many), both synchronously and asynchronously, and participate in reciprocal message exchanges (third-order dependency). With regard to human users, it additionally refers to their ability to perceive the experience as a simulation of interpersonal communication and increase their awareness of telepresence“ (Kiousis 2002, S. 372). Die Konzeptualisierung des Interaktivitätsbegriffs, insbesondere im Kontext der neuen Medien ist erst an ihrem Anfang. Zahlreiche Definitionen werden diskutiert. Es lässt sich aber festhalten, dass Interaktivität kein Modebegriff ist und in einem engen Verhältnis zu den neuen Kommunikationswegen im Internet gesehen werden muss. Vielmehr pointiert er den unwidersprochenen Qualitätssprung der Medienentwicklung durch das Internet (vgl. Bieber u. Leggewie 2004, S. 14). In Konsequenz dessen lässt sich mit der ausführlichen Diskussion von Neuberger in Verbindung mit der stärker technisch fokussierten Definition nach Kiousis zeigen, dass die Realisierung von Interaktion von technischen Variablen abhängig ist. Technische Rahmenbedingungen von Online-Deliberation Im Folgenden werden die Kommunikationsform und die Zeitlichkeit (vgl. Davies u. Chandler 2012, S. 105; Kersting 2012c, S. 26-28; Schweitzer u. Albrecht 2011, S. 27), der Kommunikationsmodus (vgl. Baltes et al. 2002, S. 158; Fishkin 2009,
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S. 169; Schweitzer u. Albrecht 2011, S. 26) sowie die Anforderungen an die Nutzerfähigkeiten (vgl. Gibson et al. 2005, S. 566) als technisch determinierte Variablen von Online-Deliberation ausführlicher diskutiert, welche die Unterscheidung verschiedener Plattformen zulassen. Zusätzlich wird noch das virale Potential der Instrumente als eigenständige Variable eingeführt, welches erst seit kurzem erforscht wird. Politikwissenschaftlich ist es unter anderem im Kontext der Forschung zu Online-Kampagnen ins Blickfeld geraten (vgl. Römmele 2012, S. 120-121). Die Diskussion erfolgt in alphabetischer Reihenfolge. Kommunikationsform: Unter dem Begriff der Kommunikationsform versteht diese Arbeit hier die Anzahl vorrangig an der Kommunikation beteiligter Akteure auf einer potentiell deliberativen Webplattform (vgl. Schweitzer u. Albrecht 2011, S. 26). Für die Transformation massenmedialer Öffentlichkeit ist es zentral, dass sich digital nicht (mehr) ausschließlich Einwegkommunikation (one-to-many) realisiert. One-to-one, one-to-many oder many-to-many als Gruppen- oder Massenkommunikation sind möglich. Die Möglichkeit der many-to-many-Kommunikation wird in Einführungskapiteln oftmals kurz als ein Merkmal von vielen aufgezählt. Ihm werden aber durch seine dezentrale Wirkung auf massenmediale Inhaltsproduktion vorwiegend egalisierende Effekte und positive Auswirkungen auf die Repräsentativität medialen Inhalts zugeschrieben. Dies unterscheidet es elementar von der klassischen one-to-many-Kommunikation der Massenmedien (vgl. Baek et al. 2012, S. 366; Halpern u. Gibbs 2013, S. 1160; Kersting 2012c, S. 1112). Die Kommunikation vieler mit vielen ist die Grundlage für die charakteristische kollaborative Inhaltsproduktion von Social Media, obgleich das Entstehen von many-to-many-Kommunikation keine Notwendigkeit ist. Es ist allerdings ein wesentliches Unterscheidungskriterium klassischer, statischer Web 1.0-Angebote, wie Enzyklopädien, Gästebüchern oder der traditionellen Homepage zu Web 2.0Angeboten wie Foren, sozialen Netzwerken oder Wikis (vgl. Baringhorst 2014, S. 94-96, 104-106; Decker et al. 2013, S. 118; Kersting 2014, S. 77). Kommunikationsmodus: Die digitale Kommunikation ist multimedial. Verschiedene Kommunikationsmodi (Text, Bild, Audio oder Video) sind möglich und können verknüpft werden (vgl. Ebersbach et al. 2011, S. 31-32; Kersting 2005b, S. 5; Vowe 2014, S. 29). Es lässt sich dennoch ein eindeutiger Schwerpunkt auf textbasierter Kommunikation ausmachen (Fishkin 2009, S. 169). Virtueller Dialog durch Textnachrichten muss auf non-verbale Kommunikation verzichten und wird als verknappte Kommunikation angesehen (vgl. Garrison et al. 2000, S. 90; Kersting 2005b, S. 5). Das kann Kersting (2005b, S. 5) zu Folge zu Missverständnissen, verringerter Komplexität auf qualitativer und verringerter Partizipation auf
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quantitativer Seite führen21. Price (2009, S. 37, 50-51) schreibt aber, dass Teilnehmer keine Probleme dabei haben müssen, das Textformat als Diskussionsmodus anzunehmen. Verschiedene Studien implizieren eher positive Auswirkungen textbasierter Kommunikation, etwa, dass sie zu Präzision und Exaktheit von Sprache beiträgt (vgl. Marra et al. 2004, S. 24; Newlands et al. 2003, S. 344) sowie ein Mehr an Zeit und somit Reflektionspotential bietet (vgl. Halpern u. Gibbs 2013, S. 1160; Kersting 2005b, S. 4; Nanz u. Fritsche 2012, S. 90). Durch Emoticons können noch dazu Gefühle und Emotionen ausgedrückt werden (vgl. Davies u. Chandler 2012, S. 120-121). Studien legen sogar nahe, dass Menschen es angenehmer einschätzen, Meinungsverschiedenheiten digital zu thematisieren als klassisch von Angesicht zu Angesicht, Egalität gefördert und individuelle Dominanz abgemildert werden kann (vgl. Nanz u. Fritsche 2012, S. 90; Price 2009, S. 43; Stromer-Galley, Stromer-Galley 2003). Online-Fähigkeiten (online skills): Dass der Zugang zu Information, Partizipation und Öffentlichkeit mit dem Internet vereinfacht wurde, scheint Konsens. Dennoch gestaltet sich die Beurteilung des Zugangs komplexer, da computerbasierte Partizipation und somit auch deliberative Partizipation online spezifischer Kenntnisse bedarf, wie die entsprechenden Plattformen (effizient) zu nutzen sind (vgl. Best u. Krueger 2005, S. 187; Bräuer u. Seifert 2008, S. 192-194; Gibson et al. 2005, S. 566; Hargittai u. Walejko 2008, S. 241; Litt 2013, S. 625-626; Schlozman et al. 2012, S. 491). Diese Fähigkeiten werden in der Debatte unter dem Label online- oder technical skills, zu Deutsch Internet- oder Online-Fähigkeiten diskutiert (vgl. Hargittai u. Walejko 2008, S. 241; Litt 2013, S. 612-618; Mossberger et al. 2008, S. 470, 475; Schlozman et al. 2012, S. 491). Verschiedene Studien haben hier Grundlagenarbeit geleistet und unter anderem den signifikanten Einfluss von Online-Stimuli und digitalen Kontakten (vgl. Gibson et al. 2005, S. 568-569), Erfahrungen mit verschiedenen Online-Aktivitäten (vgl. Best u. Krueger 2005, S. 190) oder Online-Selbstwirksamkeitseinschätzungen (vgl. Livingstone et al. 2005, S. 313) nachgewiesen. Hier werden online skills verschiedenartig auf der Anwenderseite operationalisiert und über Befragungen erhoben22. Dennoch kommt Litt (2013, S. 626) zu dem Fazit, dass „[i]n the last half decade, many scholars have tackled difficult questions related to internet skills measurements. As the internet plays an increasingly important role in our daily lives, understanding better what these skills entail and how we can measure them is critical.“ 21 „Some argue that the impersonal nature of computerized communication renders it poorly suited to developing meaningful relationships, encourages uncivil discourse, facilitates diffusion of unverified information, and ultimately serves to polarize opinions rather than support finding common ground“ (Price 2009, S. 37). 22 Ein Übersicht findet sich bei Litt (2013, S. 614-621).
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Viralität: Die Viralität von (politischen) Informationen ist selbst für Internetverhältnisse ein junges Phänomen. Bislang erfährt vor allem das Viral Marketing große Aufmerksamkeit, weswegen Definitionen zu allererst ökonomisch23 geprägt sind (vgl. Dobele et al. 2007, S. 291-292; Nahon et al. 2011, S. 2-3). Obgleich die sozialwissenschaftliche Forschung durch die Wahlkampfvideos im Präsidentschaftswahlkampf der USA im Jahr 2008 auf das Phänomen der Viralität aufmerksam wurde (vgl. Boynton 2009, S. 2-3; Nahon u. Hemsley 2011, S. 3; Wallsten 2010, S. 164), bleibt der Begriff des Viralen theoretisch nur dünn ausgearbeitet (vgl. Boynton 2009, S. 2; Nahon et al. 2011, S. 1). Nahon et al. (2011, S. 1) bieten eine Definition mit stärker sozialwissenschaftlichem Fokus an, der hier gefolgt wird. Demnach stellt Viralität einen Prozess dar, „which gives any information item (picture, video, text, or any other audio-visual-textual artifact) the maximum exposure, relative to the potential audience, over a short duration, distributed by many nodes.“ Einschlägige Studien zeigen das virale Potential von Social Media (vgl. Nahon u. Hemsley 2011; Nahon et al. 2011; Wallsten 2010)24. „Durch das Nadelöhr der sozialen Netzwerke gehen politische Botschaften umso eher, je überraschender und unterhaltsamer sie sind. Dadurch verändern sich die Relevanzkriterien für politische Information.“ (Vowe 2012, S. 5) Es lassen sich der Literatur drei wesentliche Effekte der Viralisierung politischer Kommunikation entnehmen. Der Urheber einer Botschaft hat keine Kontrolle über ihre Verbreitung und Interpretation. Sie verbreitet sich (potentiell) selbstständig in Form eines sich stetig verändernden und neu zusammensetzenden Schneeballsystems verschiedenster individueller und kollektiver Akteure. Politische Botschaften verbreiten sich demzufolge umso effizienter, je aufregender und überraschender sie sind. Zusätzlich zu diesen drei Effekten kann eine egalisierende Wirkung viralen Potentials angenommen werden (vgl. Nahon u. Hemsley 2011, S. 20-21; Römmele 2012, S. 103-105; Wallsten 2010, S. 174-175).
23 Im Anschluss an die erste Verwendung des Begriffs viral im Jahr 1997 durch Steve Jurvetson und Tim Draper definiert Montgomery (2001) virales Marketing als „a type of marketing that infects its customers with an advertising message, which passes from one customer to the next like a rampant flu virus.“ 24 Ein schönes Beispiel für die Viralität digitaler Botschaften lieferte Jonah Peretti mit seinem Protest gegen die Arbeitsbedingungen des Sportartikelherstellers Nike. Er bat die Firma einen individualisierten Schuh mit der Aufschrift ‚sweatshop’ herzustellen, was diese in einem längerem E-Mail-Dialog ablehnte. Den Dialog verbreitete er über Freunde und erreichte laut Schlozman et al. (2012, S. 483) bis zu 11,4 Millionen Menschen. Der Dialog findet sich unter: http://www.shey.net/niked.html (Gesehen: 21.01.2014).
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Zeitlichkeit: Besondere Aufmerksamkeit beim Vergleich von klassischer und Online-Deliberation wird der Zeitlichkeit der Kommunikation zu Teil. Die Möglichkeit asynchroner Kommunikation ist ein wesentlicher Faktor, der diskursive Online-Partizipation vom Austausch von Angesicht zu Angesicht unterscheidet (vgl. Kersting 2012c, S. 27-28; Tucey 2010, S. 29-30; Wojcik 2007, S. 1). Asynchronität bedeutet, dass kein direkter Austausch stattfindet, sondern zeitlich versetzte Reaktionen aufeinander möglich sind (vgl. Davies u. Chandler 2012, S. 107). Synchroner Austausch ist online aber ebenso möglich. Beispiele können klassische Chat-Seiten, Online-(Video-)Konferenzen, Instant Messaging-Dienste, aber auch die Kommunikation in Online-Spielen sein (vgl. Schweitzer u. Albrecht 2011, S. 27). „It is generally recognized that the former [synchronous online discussion spaces] are spaces that attract ‘small talk’ and jokes, while the latter [asynchronous online discussion spaces] constitute a more favourable place for the appearance of some form of rational-critical form of debate“ (Janssen u. Kies 2005, S. 321). Asynchrone Kommunikation ist von den Einschränkungen durch Raum und Zeit weitestgehend entlastet, weshalb ihr größeres Reflektionspotential unterstellt wird. Präzisere und detailliertere Beiträge würden wahrscheinlicher (vgl. Halpern u. Gibbs 2013, S. 1160; Kersting 2005b, S. 4-5; Kersting 2012c, S. 28). Ergebnisse legen aber auch nahe, dass Asynchronität die Interaktivität und Reflexivität der Diskussion mindert und synchrone Konversation bei den Teilnehmern positiver eingeschätzt werde (vgl. Davies u. Chandler 2012, S. 117-118; Smith et al. 2013, S. 725-728; Tucey 2010, S. 30-34). Davies und Chandler (2012, S. 124-125) zeigen, dass asynchrone Online-Deliberation Menschen zur Teilnahme bewegen kann, die normalerweise in der gesellschaftlichen Debatte unterrepräsentiert sind. Organisatorische Rahmenbedingungen von Online-Deliberation Diese Arbeit diskutiert die Organisation von diskursiver Online-Partizipation, beziehungsweise Online-Deliberation anhand von vier Aspekten. Die Fragen nach der Moderation von Online-Deliberation (vgl. Edwards 2002; Wright 2006) und der Identifikation der Kommunikationsteilnehmer (vgl. Brodnig 2013; Rhee u. Kim 2009) sind für Janssen und Kies (2005, S. 321) die relevantesten organisatorischen Aspekte von Online-Deliberation und haben bereits breitere Debatten ausgelöst, die hier zusammengefasst dargestellt werden. Die Offenheit ist ein, wenn nicht das zentrale Argument der deliberativen Demokratietheorie. Offenheit und Öffentlichkeit können organisatorisch eingeschränkt werden, weshalb sie zu wesentlichen organisatorischen Variablen von Online-Deliberation werden. Abschließend wird unter dem Begriff der inhaltlichen Freiheit die quantitative wie
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qualitative Strukturierung von Online-Deliberation in Abgrenzung zu ihrer Expressionsfreiheit diskutiert. Identifikation: „The scale of online privacy runs from complete identifiability to complete anonymity“ (Leshed 2009, S. 244). Es herrscht Einigkeit im Diskurs, dass eine der zentralen Determinanten digitaler Partizipation deren mögliche Anonymität darstellt. Ihre Effekte aber werden von der Forschung kontrovers diskutiert. Positiv fällt ins Gewicht, dass anonymer Partizipation egalitäre Effekte zugeschrieben werden. Soziale Unterschiede, beziehungsweise deren Empfinden würden gemindert, wenn nicht negiert (vgl. Rhee u. Kim 2009, S. 225). Anonyme Nutzer könnten exakt so viel von sich preisgeben, wie sie selbst es wünschen (vgl. Leshed 2009, S. 244). Dies kann ein Grund dafür sein, dass argumentiert wird, Anonymität befreie Nutzerinnen von Konformitätsdruck und Effekten sozialer Erwünschtheit. Es scheint folgerichtig, wenn Stewart et al. (2007, S. 20) aufzeigen, dass anonyme Nutzerinnen eher sensible Themen diskutierten. In der Literatur wird konsequenterweise übereinstimmend deutlich, dass Anonymität die Partizipationsbereitschaft in Online-Foren zu steigern scheint (vgl. Baltes et al. 2002, S. 160-161; Leshed 2009, S. 244). Diese Annahme bestätigte sich in experimentellen Forschungsdesigns (vgl. Leshed 2009, S. 246-247; Rhee u. Kim 2009, S. 227230). Auf der anderen Seite ist sich die Literatur weitestgehend einig darin, dass Anonymität Verantwortlichkeit reduziert und damit negativ auf die Qualität der Diskussion einwirken kann. Identifizierbarkeit der Nutzer wird dagegen für höhere Aufmerksamkeit gegenüber den Beiträgen und höherer elaborativer Qualität verantwortlich gemacht (vgl. Baltes et al. 2002, S. 161; Leshed 2009, S. 245; Rhee u. Kim 2009, S. 225; Tucey 2010, S. 24). Inhaltliche Freiheit: Inhalte können quantitativ sowie qualitativ eingeschränkt werden. Auf quantitativer Seite besteht die Möglichkeit, die zur Verfügung stehende Zeichenanzahl zu limitieren. Prominentestes Beispiel sind die 140 Zeichen des Kurznachrichtendienstes Twitter. Die Auswirkungen dieser quantitativen Limitierung sind noch nicht tiefgehend erforscht. Erste Indizien sprechen dafür, dass substantielle Themen aufgegriffen und diskutiert werden können (vgl. Tumasjan et al. 2011, S. 407). Für die Entwicklung komplexer Argumente kann eine solch rigide Einschränkung aber womöglich eine nicht zu unterschätzende Herausforderung darstellen. Hierzu passt die Einschätzung einer einschlägigen Studie, nach der sich auf Twitter ein eigenes Kommunikationsverhalten ausdifferenziert, dass durch hohes Tempo und Emotionen geprägt ist. Demnach sei Twitter gut geeignet für den Dialog, aber nicht für Deliberation (vgl. Yardi u. Boyd 2010, S. 325). Dies passt zu den insgesamt ambivalenten Forschungsergebnissen bezüglich Twitter als Partizipations- und Kommunikationskanal (vgl. Bruns u. Stieglitz 2012, S. 178; Kim u. Park 2012, S. 138; Larsson u. Moe 2011, S. 741; Thimm et
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al. 2014, S. 267-268; Tumasjan et al. 2011, S. 408, 414; Yardi u. Boyd 2010, S. 325). Die Forschung hat sich bislang stärker mit der qualitativen Regulierung von Inhalten beschäftigt. Der Erfolg von Online-Deliberationsexperimenten kann als Beleg dafür angesehen werden, dass definierte Diskussionsregeln eingehalten werden (vgl. Coleman u. Moss 2012, S. 6). Ein viel zitiertes Beispiel lieferte Dahlberg (2001b, S. 9), der am Beispiel eines E-Democracy-Projektes in Minnesota nachweisen konnte, dass Strukturierung, Formalisierung, Management und Verhaltensanleitungen die Qualität der Debatte verbessern können (vgl. Dahlberg 2001b, S. 9). Studien zu Webforen aus Dänemark (vgl. Linaa Jensen 2003, S. 370371) und den Niederlanden (vgl. Jankowski u. van Os 2004, S. 187-188) bestätigen dies, aber deuten ebenso an, dass stärkere Regulierung die Teilnahmebereitschaft senken kann. Moderation: Wright (2006, S. 551) kann repräsentativ dafür angeführt werden, welch hohe Bedeutung die Forschung der Moderation von Online-Debatten zuschreibt: „Of particular importance is the moderator(s), who can help to mitigate many of the problems by actively intervening in the debates. The use of a moderator to help improve the quality of the discussion is an established, albeit controversial part of many deliberative exercises.“ Diese Position wird von verschiedenen Studien gestützt (vgl. Albrecht 2006; Edwards 2002; Linaa Jensen 2003; Rhee u. Kim 2009; Wright 2006). Rhee und Kim (2009, S. 229-230) zum Beispiel zeigen anhand eines experimentellen Forums, bei welchem sie ein moderiertes und ein nicht-moderiertes Forum gegenüberstellen, dass ein Moderator Interaktivität und das Bewusstsein für andere Beiträge erhöht. Albrecht (2006, S. 73-74) arbeitet heraus, dass Moderation mit hoher Präsenz während der Debatte zu einer konstruktiven Atmosphäre von gegenseitigem Respekt und rationaler Argumentation führen kann. Auch Moderation lässt sich aus deliberativer Perspektive aber kaum durchweg positiv beurteilen. Es lässt sich zwischen einem aktivpartizipierenden und einem passiv-zensierenden Moderator unterschieden25. Die 25 Eine umfassende Auflistung möglicher Funktionen eines Moderators findet sich bei Edwards (2002, S. 5) und spezifischer auch bei Wright (2006, S. 554). Eine erfolgversprechende Alternative zur zentral organisierten Moderation scheint die dezentrale Moderation durch die Nutzer selbst, was im Fall der Wikipedia (vgl. Black et al. 2011b, S. 603-604, 622) durchaus positiv bewertet wird. Weniger in die Moderation als Zensur von Inhalten binden sogenannte Meldefunktionen die Nutzer mit in die Moderationsaufgaben von digitalen Kommunikationsplattformen ein. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Firma Facebook. Zur Meldefunktion schreibt Facebook: „Wir entfernen Inhalte, die nicht den Nutzungsbedingungen von Facebook entsprechen (z. B. Nacktheit, Mobbing, Gewaltdarstellungen, Spam). Wenn dir Inhalt auf Facebook auffällt, der
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positiven Moderationseffekte scheinen sich demnach eher auf einen aktiven Moderator zurückführen zu lassen (vgl. Janssen u. Kies 2005, S. 321-322; Wright 2006, S. 555). Rhee und Kim liefern Indizien dafür, dass moderierte Foren gegenüber nicht-moderierten weniger Teilnehmer verzeichnen (vgl. Rhee u. Kim 2009, S. 229). Moderation impliziere zusätzlich einen sogenannten „shadow of control“ (Edwards 2002, S. 18). Offenheit und Öffentlichkeit: Die Offenheit der Diskussion, beziehungsweise ihres Zugangs kann online durch verschiedene Funktionen eingeschränkt werden (vgl. Janssen u. Kies 2005, S. 322); ihre Öffentlichkeit ebenso. Es lässt sich unterscheiden zwischen einer selektierten Nutzerschaft und freiem Zugang, der auf Selbstselektion basiert. Angesichts des sichtbaren Trends digitaler Diskussionsrunden zu Homophilie (vgl. Bohman 2004, S. 151-154; Farrell 2012, S. 39; Habermas 2008, S. 161; Kersting 2014, S. 80-82; Papacharissi 2009, S. 235; Vowe 2014, S. 1) erscheint es folgerichtig anzunehmen, dass der offene, selbst-selektive Zugang noch zu größerer Heterogenität führt, als wenn homophile Gruppen den Zugang selbst regeln können. Dass die Möglichkeiten gezielter Teilnehmerselektion (vgl. Davies u. Chandler 2012, S. 115-116) vor allem durch experimentelle Designs weit darüber hinaus reichen, zeigen entsprechende Versuche und ist logisch (vgl. Fishkin 2009; Grönlund et al. 2010; Kies u. Wojcik 2010; Smith et al. 2013). Aus deliberativer Perspektive ist Öffentlichkeit ein Qualitätskriterium ebenso wie die Offenheit und damit Selbstzweck. Aus der psychologischen Forschung entnehmen Davies und Chandler (2012, S. 116), dass Öffentlichkeit positive Auswirkungen auf den deliberativen Charakter von Debatten hat. Im Internet gibt es diverse Möglichkeiten, den Zugang zu diskursiver Partizipation einzuschränken und die Öffentlichkeit auszuschließen (zum Beispiel zugangsbeschränkte Webforen oder geschlossene Facebook-Gruppen). Bislang kaum erforscht, aber von kaum abzusehendem Einfluss sind Algorithmen, wie sie Facebook oder Google einsetzen und damit nach intransparenten Kriterien bestimmen, welche Inhalte vielfach gesehen und welche kaum beachtet werden. Die strukturellen Rahmenbedingungen: ein variables, heterogenes Feld Dieses Kapitel konnte zweierlei zeigen. Erstens wird den organisatorischen, wie technischen strukturellen Rahmenbedingungen veritabler Einfluss auf die Gestalt nicht den Facebook-Richtlinien entspricht, sende uns über den Link „Melden“ neben dem missbräuchlichen Inhalt eine Meldung oder ein Foto“ (Facebook 2014b). Ausgeschlossene Inhalte finden sich in der Erklärung der Rechte und Pflichten unter Punkt „3. Sicherheit“ und der Haftungsausschluss unter Punkt „16. Streitfälle“ (Facebook 2014a).
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diskursiver Partizipation zugeschrieben, welcher sie Raum bieten. Zweitens sind diese in hohem Maße variabel. Entsprechend variabel gestalten sich die Rahmenbedingungen diskursiver Partizipation auf verschiedenen sozialen Netzwerken. Die Variablität bezieht sich aber nicht nur auf die Diversität verschiedener Plattformen, sondern hat einen sehr bedeutsamen temporären Faktor, da sowohl Hard- als auch Software in enormem Tempo weiterentwickelt werden. Insbesondere der mobile Internetzugang verspricht aktuell eine hohe Entwicklungsdynamik (vgl. Eimeren u. Frees 2012; Leven u. Schneekloth 2015; Martin 2014). Dies führt dazu, dass sich wissenschaftliche Arbeiten, wie vorliegende, immer nur auf einen zeitlich sehr begrenzten Status quo beziehen können, der in kurzer Zeit und in vielen Aspekten sicher schon zum Zeitpunkt der Publikation mehr Vergangenheit als Gegenwart repräsentiert. Diese Zusammenfassung zeigt, dass die zahlreichen digitalen Diskussionsplattformen ganz unterschiedliche Vor- und Nachteile aus deliberativer Perspektive aufweisen und somit unterschiedliche Diskussionsund Expressionsformen befördern. Tabelle 3.1 verdeutlicht noch einmal in der Übersicht die in der Forschung diskutierten Auswirkungen der hier thematisierten Struktur- oder Designvariablen von Online-Deliberation auf ebenjene. Obgleich die Forschung hier bereits einen veritablen Kenntnisstand produzieren konnte, ist dennoch viel Raum für weitere Untersuchungen. Einzelne Faktoren werden unterschiedlich interpretiert oder versprechen positive Auswirkungen auf ein deliberatives Qualitätskriterium, aber negative auf ein anderes. Weiterhin ist zu bedenken, dass Online-Deliberation auch noch von zahlreichen weiteren Variablen, wie dem Thema der Diskussion oder der intrinsischen Motivation der Teilnehmerinnen abhängt. Trotz der hieraus resultierenden Unsicherheit liefert dieses Kapitel damit eine fundierte Grundlage, um den Online-Leserkommentar im nächsten Kapitel als Plattform für diskursive und möglicherweise deliberative Partizipation online strukturell zu beschreiben. Tabelle 3.1: Strukturelle Rahmenbedingungen von Online-Deliberation Technische und orga- Auswirkungen auf die Diskussinisatorische Variab-
Literatur
onsqualität
len Kommunikationsform
Die bevorzugte Kommunikations-
Adamic u. Glance 2005;
form beeinflusst das Interaktionspo- Hargittai et al. 2008; Patential einer Plattform.
pacharissi 2009; Sack 2000, 2005
Kommunikationsmo-
Die Beschränkung auf den Aus-
dus
tausch von Textnachrichten kann die Fishkin 2009; Garrison et
Davies u. Chandler 2012; al. 2000; Marra et al. 2004;
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Rationalität von Diskussionen erhö- Newlands et al. 2003; hen helfen, sich aber negativ auf de- Price 2009; Vowe 2014 ren Reziprozität auswirken. „Online-skills“
Die Anforderungen an die Fähigkei- Best u. Krueger 2005; ten der Nutzer beeinflusst die Wahr- Blank 2013; Gibson et al. scheinlichkeit der Teilnahme und
2005; Hargittai u. Walejko
somit deren Heterogenität.
2008; Litt 2013; Mossberger et al. 2008
Viralität
Virales Potential einer Diskussions- Dobele et al. 2007; Nahon plattform scheint eher zu emotiona- et al. 2011; Römmele ler denn rationaler Kommunikation
2012; Vowe 2012
zu führen. Zeitlichkeit
Asynchrone computerbasierte Kom- Davies u. Chandler 2012; munikation scheint im Gegensatz zu Janssen u. Kies 2005; synchroner eher Rationalität Vor-
Kersting 2005b, 2012c;
schub zu leisten. Durch zunehmende Tucey 2010; Wojcik 2007 Gewöhnung an asynchrone Kommunikation können sich Defizite in puncto Reziprozität möglicherweise abbauen. Identifikation
Identifizierung der Nutzer wirkt sich Adams et al. 2005; Baltes eher positiv auf die Diskussionsqua- et al. 2002; Brodnig 2013; lität aus.
Hanson u. Hogea 2012;
Anonymität befördert aber eher stär- Leshed 2009; Li 2007; kere Partizipation und Heterogenität Rhee u. Kim 2009; Tucey von Sichtweisen. Inhaltliche Freiheit
2010
Quantitativ: Quantitative Einschrän- Dahlberg 2001b; kungen können zu Prägnanz und ho- Jankowski u. van Os 2004; her Interaktion führen, aber scheinen Linaa Jensen 2003; Tusich eher negativ auf die Diskussi-
masjan et al. 2011; Wright
onsqualität auszuwirken.
u. Street 2007; Yardi u.
Qualitativ: Regeln scheinen sich po- Boyd 2010 sitiv auf die Diskussionsqualität auszuwirken. Moderation
Aktive Moderation verbessert die
Edwards 2002; Janssen u.
Diskussionsqualität, passive Mode-
Kies 2005; Lampe u.
ration (Zensur) dagegen weniger,
Resnick 2004; Rhee u.
führt zu einem „shadow of controll“. Kim 2009; Wright 2006
72 | DIGITALE DISKUSSIONEN Offenheit/Öffentlich-
Offen- und Öffentlichkeit erhöhen
Davies u. Chandler 2012;
keit
die Heterogenität der Teilnehmer,
Janssen u. Kies 2005; Kus-
was aber auch zu Aggressivität füh- hin u. Kitchener 2009; Varen kann.
lenzuela et al. 2012
Z USAMMENFASSUNG Ausgehend von der Erkenntnis der mangelnden Konkretisierung des Konzepts Online-Deliberation hat dieses Kapitel zweierlei geleistet. Zum einen wurde Online-Deliberation als Grenzgebiet der Forschungen im Bereich deliberative Demokratie und E-Partizipation in den Kontext der Partizipationsforschung eingeordnet. Es wurde als unkonventionelle E-Partizipationsform beschrieben und seine zunehmende Relevanz im Kontext der Heterogenisierung gesellschaftlicher Partizipationsmuster begründet. Online-Deliberation wurde hierbei als diskursive Partizipation online, welche einem Mindestmaß deliberativer Qualität gerecht wird, verstanden. Dies verdeutlicht ein enges, normativ geprägtes Verständnis von Deliberation, dem diese Arbeit folgt. Als spezifische Partizipationsform kann OnlineDeliberation folglich von anderen Formen diskursiver Partizipation online unterschieden werden. Zum anderen wurde Online-Deliberation anschließend strukturell konzeptualisiert. Es wurde erläutert, dass sowohl die Möglichkeit individueller Massenkommunikation als auch die digitale Interaktion vieler Bürger in sogenannten manyto-many-Kommunikationen eine neue Qualität politischer Kommunikationsmöglichkeiten für die Bürgerinnen bedeuten. Die elementare Bedeutung des interaktiven Potentials digitaler Kommunikationswege für deliberative Vorstellungen wurde verdeutlicht und der Interaktivitätsbegriff diskutiert. Als Abschluss des Kapitels erarbeitete diese Arbeit die zentralen technischen und organisatorischen strukturellen Rahmenbedingungen von Online-Deliberation. Hierbei wurde deutlich, dass ein weites Feld unterschiedlicher Einflussfaktoren diskursive Partizipation online (mit)prägt. Über ihr Zusammenspiel ist bislang wenig bekannt. Weiterhin ist ihr jeweiliger Einfluss nicht eindeutig erforscht. Dennoch konnten Tendenzen der jeweiligen Einflussfaktoren auf Basis der Analyse vorliegender Studien ausdifferenziert und begründet werden. Dies ermöglicht es, im nächsten Kapitel den Online-Leserkommentar strukturell zu beschreiben und bietet eine wichtige Grundlage für die Hypothesenbildung bezüglich des deliberativen Potentials von Diskussionen über Leserkommentarfunktionen. Weiterhin wurde argumentiert, dass die strukturellen Rahmenbedingungen von diskursi-
PARTIZIPATION DURCH ONLINE-LESERKOMMENTARE: EINORDNUNG UND BESCHREIBUNG | 73
ver Partizipation online stark heterogen sind, sich aber auch einige generelle Tendenzen ableiten lassen. Demnach läuft diskursive Partizipation online eher unstrukturiert, vorwiegend asynchron und anonym ab. Diese Erkenntnis muss die Erwartungen an die deliberative Qualität digitaler Diskussionen notwendigerweise beschränken. Denn diese Eigenschaften sprechen, wie der Forschungsüberblick zeigen konnte, zwar für ein hohes Beteiligungsniveau, aber limitierte Rationalität und Reziprozität der Beiträge.
4. Der Untersuchungsgegenstand: Der Online-Leserkommentar als Leserbrief 2.0
Die Kommunikationswissenschaft belegt, dass Online-Nachrichtenmedien immer stärker auf Inhalte ihrer Nutzer setzen und diese an der massenmedialen Inhaltserstellung teilhaben lassen. Online-Leserkommentare stellen das meistimplementierte Partizipationsinstrument auf professionellen Nachrichtenseiten dar und werden auch von den Nutzern in quantitativer Hinsicht genutzt, wie kaum ein anderes Instrument (vgl. Reich 2011, S. 97-98; Ruiz et al. 2011, S. 464). Dies gilt auch für Deutschland (vgl. Neuberger u. Nuernbergk 2010, S. 330-331; Sehl 2013, S. 158). Online-Leserkommentare sind damit Teil der zahlreichen Social Media-Instrumente, die in der jüngeren Vergangenheit Verbreitung finden und die traditionelle Logik der Massenmedien durchbrechen (vgl. Bruns 2009, S. 2; Graham u. Wright 2015, S. 3-4; Kaplan u. Haenlein 2010, S. 60-61; O’Reilly 2007, S. 18-19; Reich 2011, S. 97; Ruiz et al. 2011, S. 464; Sarcinelli 2012, S. 439-440; Springer 2011, S. 248). Die deliberative Demokratietheorie konzeptualisiert, wie in Kapitel 2 dargestellt, die Integration der Öffentlichkeit in die politische Entscheidungsfindung. Dies geschieht, indem die Öffentlichkeit begründete öffentliche Meinungen hervorbringt, was sie im allgemein als Deliberation bekannten Verfahren des wechselseitigen Argumentierens prozessiert (vgl. Habermas 2008, S. 167; Habermas 2009, S. 63, 66). Um dies gesamtgesellschaftlich zu realisieren, bedarf es dem einzigartigen Kommunikationskanal der Massenmedien, der, wie Kapitel 3.2.1 zeigen konnte, aus deliberativer Perspektive problematisch ist (vgl. Emmer u. Wolling 2010, S. 37-38; Fung et al. 2013, S. 33; Luhmann 2004, S. 11). OnlineLeserkommentare führen nun zusammen mit zahlreichen anderen Social MediaInstrumenten zur Option einer deliberativen Renaissance in der massenmedialen Realität (vgl. Emmer u. Wolling 2010, S. 37-40).
76 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Online-Leserkommentare sind von der Forschung lange weitgehend ignoriert worden (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 464). „Detaillierte Forschungsergebnisse liegen für Onlinekommentare auf Medienwebsites kaum vor, noch weniger für die Qualität derselben“ (Sehl 2013, S. 159). Vorhandene Studien kommen überwiegend aus der Kommunikationsiwssenschaft und nicht aus der Politikwissenschaft. Erst seit Kurzem wird eine zunehmende Zahl an Studien publiziert, die dazu beiträgt, den vorhandenen Forschungsbedarf abzutragen (vgl. Coe et al. 2014; Freelon 2015; Graham u. Wright 2015; Rowe 2014; Santana 2014). Diese Studie reiht sich hier ein und hat das Ziel einen umfassenden Analysensatz zu entwickeln, welcher es erlaubt, an die ersten Forschungsergebnisse anzuknüpfen, vorhandene Defizite der bisherigen Forschung zu vermeiden und somit die Erforschung diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare mit weiterzuentwickeln. Dass Online-Leserkommentare zunehmend in den Fokus der Online-Deliberationsforschung geraten, ist aus drei Gründen wenig überraschend. Erstens sind sie direkt verbunden mit professionellen Nachrichtenseiten, was im Kontext einer sich fragmentierenden Netzöffentlichkeit zu potentiell höherer Sichtbarkeit und Heterogenität der Beiträge führt, als im Falle unabhängiger Diskussionsforen. Dieser hierdurch sichergestellten massenmedialen Sichtbarkeit wird zugeschrieben, gänzlich neue Formen der diskursiven Partizipation hervorzubringen (vgl. Delli Carpini et al. 2004, S. 318-319; Gibson u. Cantijoch 2013, S. 704, 714; Kersting 2014, S. 56; Papacharissi 2009, S. 243-244; Sehl 2013, S. 157; Strandberg u. Berg 2013, S. 134). Zweitens wird ihre, weitgehend direkte und uneingeschränkte Möglichkeit der diskursiven Partizipation der aktuellen Nachfrage nach nicht-hierarchischen und informellen Wegen politischer Beteiligung gerecht, die sich abseits institutionalisierter und insbesondere parteipolitischer Strukturen vollzieht (vgl. Kersting 2014, S. 56-60; Manosevitch u. Walker 2009, S. 6; Schlozman et al. 2012, S. 530-533; Sehl 2013, S. 157; Singer 2009, S. 490). Drittens stellte der klassische Leserbrief im Prä-Internetzeitalter eine der wenigen Möglichkeiten für den ‚Ottonormalbürger’ dar, massenmedial zu kommunizieren. Der OnlineLeserkommentar lässt sich in seiner Verbindung zu professionellen Nachrichtenmedien als digitales Pendant des Leserbriefes auffassen (vgl. Sehl 2013, S. 157). „User generated content existed long before the web, in the form of a Letter To the Editor (LTE), which was part of newspapers from the start. With newspapers going from printed form to the web, some of them have also adopted the web analogue of the LTE: comments to news-articles“ (Schuth et al. 2007, S. 1). Er unterscheidet sich von diesem aber vor allem auf Basis der Spezifika digitaler Partizipation (vgl. Manosevitch u. Walker 2009, S. 6; Schuth et al. 2007, S. 1; Strandberg u. Berg 2013, S. 134). Dies ermöglicht einen Vergleich von Partizipation an
DER UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND: DER ONLINE-LESERKOMMENTAR ALS LESERBRIEF 2.0 | 77
der massenmedialen Debatte online versus offline, wie es andere Untersuchungsgegenstände in Ermangelung eines klassischen Pendants nicht ermöglichen. Zusätzlich ist in der jüngeren Vergangenheit deutlich geworden, dass die Kommentare insbesondere von den Medien selbst kontrovers diskutiert (vgl. Diener 2014; Lütkemeier u. Müller 2014; Meedia.de 2015; Spiegel Online 2014) und gar ausgewertet werden (vgl. Schade 2015; Schmidt 2014; Taube u. Schattleitner 2015). Sie stellen somit deutlich sichtbar ein gesellschaftlich relevantes Thema dar, das akademisch bislang unzureichend aufgearbeitet ist. Dieses Kapitel hat die Aufgabe, den Online-Leserkommentar als Untersuchungsgegenstand dieser Studie zu konzeptualisieren und den aktuellen Stand der bislang vorhandenen Forschung darzustellen. Dazu wird der Online-Leserkommentar auf Basis der im vorangegangenen Kapitel erarbeiteten technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen eingeordnet und vor dem Hintergrund des deutschen Kontextes diskutiert. Hier steht notwendige Grundlagenarbeit bislang noch aus. Der Forschungsstand wird zweigeteilt dargestellt. Eine detaillierte Analyse der vorhandenen Studien zum deliberativen Potential von Online-LeserkommentarDebatten liefert erste Eindrücke aus Perspektive der dieser Studie zugrunde liegenden deliberativen Demokratietheorie. Dies bildet eine wesentliche Grundlage für die Hypothesenbildung dieser Arbeit. Darüber hinaus ermöglicht es dieser Literaturüberblick, Schwächen und blinde Flecken der bisherigen Forschung offenzulegen und darauf zu reagieren. Komplettiert wird die Konzeptualisierung des Online-Leserkommentares durch eine Darstellung der bisherigen Forschung zur Akteursperspektive (Journalisten und Nutzer). Darüber hinaus wird der klassische Leserbrief als Vergleichsobjekt dargestellt, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Online-Leserkommentar offenzulegen. Dieser Subabschnitt liefert zentrale Informationen für den Online-Offline-Vergleich in Kapitel 7.
D ER O NLINE -L ESERKOMMENTAR : E INE G EGENSTANDSBESTIMMUNG Online-Leserkommentare lassen sich als „micro-forums attached to news“ (Domingo 2008, S. 694) beschreiben. Als solche bieten sie Raum für diskursive Partizipation und somit auch Deliberation. Während die meisten entsprechenden Studien sich auf eine prägnante Beschreibung ihres Untersuchungsgegenstandes beschränken, wird an dieser Stelle der Online-Leserkommentar als digitales Partizipationsinstrument systematisch konzeptualisiert. Dazu wird auf Basis, der in Kapitel 3.2 erarbeiteten technischen- und organisatorischen Strukturvariablen eine
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generelle Einordnung vorgenommen. Diese wird mit der empirischen Realität der deutschen Nachrichtenmedien in Bezug gesetzt. Hierzu wurden die Kommentarfunktionen einer Auswahl der relevantesten deutschen (Online-)Medien systematisch kategorisiert und gegenübergestellt.1 Es lässt sich generell zwischen zwei Formen der Implementation von OnlineLeserkommentaren unterscheiden: Eingebunden in ein separates Forum oder als reine Kommentarfunktion (vgl. Domingo 2008, S. 694). Letztere ist deutlich weiter verbreitet. Zentrales Definitionskriterium eines Leserkommentares dürfte aber die direkte Verbindung mit dem Artikel sein. Generell ermöglicht eine Leserkommentarfunktion den Lesern, in einem Kommentarfeld unterhalb eines Artikels direkt ihre Meinung zu publizieren. Die Kommentare erscheinen dann üblicherweise in chronologischer Reihenfolge unterhalb dieses Artikels. Einige Kommentarfunktionen ermöglichen es hierbei, die Kommentare nach verschiedenen Kriterien, wie Veröffentlichungsdatum, Bewertung oder Anzahl der Reaktionen zu sortieren (vgl. Díaz Noci et al. 2010, S. 1; Freelon 2015, S. 778-779; Manosevitch u. Walker 2009, S. 5; Sampaio u. Barros 2012, S. 197; Singer 2009, S. 485; Strandberg u. Berg 2013, S. 134). Online-Leserkommentare werden allgemein als eine sehr freie Form der digitalen Partizipation beschrieben, welche nur geringen inhaltlichen Freiheitsbeschränkungen unterliegt (vgl. Freelon 2015, S. 778-779; Manosevitch u. Walker 2009, S. 6; Reich 2011, S. 98; Singer 2009, S. 490; Springer 2011, S. 247-248; Strandberg u. Berg 2013, S. 134). Dies spiegelt sich auch in der deutschen OnlineMedienlandschaft wider. Die Medien können die Zeichenanzahl eines Kommentars begrenzen, was auch in einigen Fällen genutzt wird (vgl. Freelon 2015, S. 778). Hier zeigen sie sich aber verhältnismäßig generös mit Begrenzungen, die ab 1.000 Zeichen beginnen. Einzig der Focus fordert auch eine Mindestzeichenanzahl, während viele Medien aber auf eine solche Regulierung verzichten. Es können nicht alle Artikel kommentiert werden. Wie Diaz Noci et al. (2010, S. 8) herausgefunden haben, versuchen die Unternehmen damit ihren eigenen personellen Aufwand im Rahmen zu halten. Dies stellt eine strukturelle Einschränkung dar, da die Leser nicht selbst entscheiden können, welche Artikel kommentiert werden können und welche nicht. Weiterhin besteht die Möglichkeit für die Unternehmen, die Kommentarfunktionen zu bestimmten Artikeln nach einer Zeit zu schließen. 1
Die Auswahl der Medien erfolgte anhand dreier Kriterien in folgender Reihenfolge: zehn meistbesuchte Nachrichtenseiten im Internet in Deutschland, relevante überregionale Tages- und Wochenzeitungen sowie Auflage deutscher Tageszeitungen. Auf diese Weise wurden insgesamt 35 deutsche Online-Nachrichtenmedien untersucht, von denen 29 eine Kommentarfunktion aufwiesen. Im Folgenden wird der Eindruck während des Selbsttests der einzelnen Kommentarfunktionen wiedergegeben.
DER UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND: DER ONLINE-LESERKOMMENTAR ALS LESERBRIEF 2.0 | 79
Da Kommentare aber hauptsächlich in kurzer Zeit nach dem Publikationszeitpunkt des Artikels geschrieben werden, stellt Letzteres nur eine geringe Einschränkung dar (vgl. Schuth et al. 2007, S. 2). Ein Extremfall findet sich bei der Süddeutschen. Seit dem 01.09.2014 wurde die klassische Kommentarfunktion eingestellt und durch eine Debattierfunktion ersetzt. Diese bleibt dem Stil der Kommentarfunktion treu, erlaubt aber nur noch Kommentare zu drei von der Redaktion ausgewählten Themen pro Tag. Nach einem Tag werden die Debatten geschlossen2 (vgl. Wüllner 2015). (Fast) Alle Unternehmen verfügen über ein verschriftlichtes Regelwerk, welches erklärt, was und wie publiziert werden darf. Generell kann zwischen ethischen und rechtlichen Richtlinien unterschieden werden, welche die Unternehmen in einer Netiquette, ihren Frequently Asked Questions oder den Allgemeinen Geschäftsbedingungen ihrer Seite veröffentlichen. Die Öffentlichkeit dieser Richtlinien stellt für die Unternehmen sicher, dass die Nutzer sich bei etwaigen Verstößen nicht mit Unwissen rechtfertigen können. Hier behandeln sie die Nutzerinnen gleichsam als Leser, wie als Autoren von Inhalten auf ihrer Plattform. Erstes Ziel ist es, die Verantwortung für die Kommentare an die jeweiligen Nutzer auszulagern. Die Medienunternehmen erklären, dass alle Verantwortung für veröffentlichte Nutzerinhalte beim jeweiligen Nutzer liegen und damit auch die rechtlichen Konsequenzen. Ethisch vermitteln diese Richtlinien implizit, dass die Redefreiheit nicht absolut ist, spätestens dort endet, wo die negative Freiheit anderer tangiert wird. Viele Seiten definieren, welche Inhalte nicht angemessen sind und auch wenn es hier Unterschiede gibt, finden sich zumeist starke Ähnlichkeiten. Diskriminierungen, Beleidigungen, Rassismus und obszöne Inhalte sind zumeist ausgeschlossen (vgl. Díaz Noci et al. 2010, S. 7; Ruiz et al. 2011, S. 472, 474). Besonders rigide Regelungen können auch eine Fokussierung auf das jeweilige Thema des Artikels vorgeben (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 473). Kommentare abseits des Artikelthemas sind aber üblich. Interessant mit Blick auf die deutschen Medien ist hier, dass keineswegs alle Medien ihre Regularien den Nutzern direkt zugänglich machen. Nur etwa die Hälfte der untersuchten Medien verwiesen im Umfeld der Kommentarfunktionen leicht auffindbar auf ihr Regelwerk. Manche waren sogar nur äußerst schwer über eine Suchmaschine aufzufinden. Im Fall der Frankfurter Rundschau waren sie gar nicht zu finden. Dies zeigt, dass die Regularien oftmals nur geringe Wirkung auf 2
Die Süddeutsche begründet diese Maßnahme dezidiert mit der Qualität der Diskussionen. Sie schreibt etwa: „Wir wollen mit den Leserforen und den anderen Angeboten einen echten Raum für Argumente schaffen“ (Wüllner 2015). Andere Kommentatoren bezweifeln diese Motivation aber und sehen hierin vor allem eine Maßnahme, die Nutzer zu entmündigen und den Arbeitsaufwand gering zu halten (vgl. Kosok 2014).
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das Partizipationsverhalten der Nutzer haben, auch wenn sich die Unternehmen im Zweifel auf ihre Regularien berufen können. Die Identifikation oder Anonymität der Nutzer ist ein ganz wesentlicher Anhaltspunkt für die Qualität digitaler Diskussionen, wie Kapitel 3.2 zeigen konnte. Grundsätzlich gibt es drei Antwortmöglichkeiten auf die Frage der Identifizierbarkeit der Autoren von Online-Leserkommentaren. Kommentare können vollständig anonym, per Synonym oder identifizierbar mit Klarnamen ermöglicht werden. Während in den Anfangszeiten des Internets Anonymität noch die Regel war, ist vollständige Anonymität bei Online-Leserkommentarfunktionen nur noch selten. Diaz Noci et al. (2010, S. 7) beschreiben den Fall einer katalanischen Zeitung, die ursprünglich die Möglichkeit bot, vollständig anonym zu kommentieren, aber aufgrund der niedrigen inhaltlichen und formalen Qualität von dieser liberalen Handhabe wieder abrückte. Ein ähnliches Beispiel schildert Sehl (2013, S. 157) mit Blick auf das Onlineportal der-westen der WAZ-Mediengruppe. Bei den untersuchten deutschen Medien bot allein Die Welt diese Möglichkeit und stellte damit die Ausnahme der Regel dar. Dennoch kann das Schreiben von Online-Leserkommentaren zumeist als de facto anonym charakterisiert werden. In der Regel ist eine Registrierung mit einer aktiven E-Mail Adresse erforderlich, woraufhin die Nutzer unter einem Pseudonym ihre Beiträge verfassen können. Da in diesem Prozess die Identität des Nutzers weder für das Medienunternehmen noch die Öffentlichkeit sichtbar gemacht wird, kann hier weiterhin von anonymen Diskussionen gesprochen werden (vgl. Domingo 2008, S. 694; Freelon 2015, S. 778-779; Manosevitch u. Walker 2009, S. 5; Reich 2011, S. 97; Schuth et al. 2007, S. 2; Sehl 2013, S. 157; Singer 2009, S. 486). Es ist auf diese Weise lediglich möglich, das Verhalten einer bestimmten Nutzeridentität mehreren Beiträgen zuzuordnen, ohne, dass sichergestellt werden kann, dass die Nutzerin nicht mit mehreren E-Mail-Adressen mehrere Identitäten besitzt. Gänzlich ohne Handhabe scheinen die Betreibermedien gegen das Kommentieren unter verschiedenen E-Mail-Adressen aber nicht zu sein. Vielmehr scheinen sie Mittel und Wege entwickelt zu haben, problematisch agierende Nutzer zu identifizieren, wie es etwa die Zeit leicht ironisch3 schildert (vgl. Taube 3
Sie schreibt unter anderem Folgendes: „Nach ein paar Tagen hat sich tz12 - natürlich heißt er jetzt nicht mehr so, und auch nicht mehr ZONengaudi, hallo1, hallo2, hallo3 oder ichmalwieder - einen ungefähren Überblick über die Stärke und Reaktionsgeschwindigkeit des Moderationsteams sowie die aktivsten seiner Mitkommentatoren verschafft. Ja, er nennt sie tatsächlich Mitkommentatoren, aber natürlich nur im Scherz, er hat ja Humor, auch noch nach der Sperrung seines zwanzigsten Profils. Nach ein paar weiteren Tagen weiß er, dass die Moderation weiß, dass er weiß, wie man einen Proxy gebraucht. Jetzt kann der Spaß so richtig losgehen. […]“ (Taube 2015)
DER UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND: DER ONLINE-LESERKOMMENTAR ALS LESERBRIEF 2.0 | 81
2015). Die Registrierung kann auch die Angabe zusätzlicher Informationen, wie Geschlecht, Heimatland, Postleitzahl bis hin zur Angabe einer Telefonnummer erfordern (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 472; Sampaio u. Barros 2012, S. 197). Die untersuchten deutschen Medien erforderten in der Mehrheit eine solche Registrierung, aber forderten neben der E-Mail Adresse keine weiteren Angaben oder validierten diese nicht. Einen Mittelweg zwischen vollständiger Anonymität und Identifizierbarkeit bietet die Angabe des Namens bei der Registrierung, aber die Möglichkeit, diesen der Öffentlichkeit vorzuenthalten, wie es zum Beispiel die Süddeutsche anbot. Hiermit bietet sich den Medienunternehmen eine Kontrollmöglichkeit, ohne die Anonymität gegenüber der Öffentlichkeit aufzuheben. Weiter geht die Forderung nach Klarnamen. Die FAZ begründet die Verpflichtung der Nutzer zu Klarnamen dezidiert mit der Qualität der Beiträge: „Wir glauben, dass die besten Beiträge von Mitgliedern erstellt werden, die für ihre Meinung mit ihrem Namen einstehen“ (FAZ.net 2016). Die mögliche Leistung von Klarnamen wird allerdings in allen Fällen dadurch eingeschränkt, dass keine Validierung der Namen stattfindet. Nutzer können potentiell unter Angabe eines falschen Namens kommentieren, wie Abbildung 4.1 zeigt (Vorname „So“, Nachname „Isses“). Abbildung 4.1: Umgehen der Klarnamenpflicht bei der Kommentarfunktion des Handelsblatts
Quelle: www.handelsblatt.de
Eine sehr rigide Möglichkeit zeigt etwa die brasilianische Zeitung Folha, welche die Angabe einer Ausweisnummer erfordert, wie Sampaio und Barros (2012, S. 197) schreiben. Eine zusätzliche Möglichkeit, die Identifizierbarkeit der Nutzer herzustellen, bietet sich über eine Verknüpfung mit dem Facebook-Profil. Hier wird im Normalfall eine Verbindung der Identität der Nutzer mit deren digitaler Identität hergestellt, für deren Ausbildung soziale Netzwerke vorrangig genutzt werden (vgl. Schmidt 2008, S. 23-24). Ein Zwang zur Registrierung via Facebook, um die Kommentarfunktion nutzen zu können, ist unüblich. Von den untersuchten
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Medien ging allein die in Koblenz erscheinende Rhein-Zeitung so vor, scheint damit aber kein relevantes Kommentaraufkommen generieren zu können. Dennoch ist die Registrierung über Facebook verlockend, da sie für die Nutzerinnen weniger Aufwand als der Registrierungsprozess über die E-Mail Adresse erfordert. Damit zeigt sich ein Trend hin zu einer stärkeren Identifizierbarkeit der Nutzer, ohne größeren Aufwand zu betreiben. Trotzdem bleibt die Möglichkeit des anonymen Kommentierens zumeist über ein Pseudonym und manchmal über falsche Angaben zur eigenen Identität. Das Design von Kommentarfunktionen unterscheidet sich im Detail nahezu je nach Betreibermedium, ist aber in der Regel schlicht und funktional gehalten. Wie auch Sampaio und Barros (2012, S. 197) mit Blick auf die Kommentarfunktion der brasilianischen Seite Folha hervorheben, wird auf diskussionsfördernde Elemente wie Suchmaschinen, Smileys (sogenannte Emoticons) und den Einsatz multimedialer Elemente größtenteils verzichtet. Im Gegensatz zu dieser Seite hat das Gros der deutschen Medien Antwort- oder Zitationsfunktionen implementiert. Die deutlich häufiger verbreiteten Antwortfunktionen setzen Kommentare in direkten Bezug zueinander und erlauben es, diese direkt miteinander zu verknüpfen, sodass ein eigener Diskussionsstrang entstehen kann. Üblich ist es, dass diese Subdiskussionen per Mausklick sichtbar gemacht werden können, nur der oder die erste(n) Kommentar(e) unmittelbar sichtbar sind. Beispiele hierfür sind die Internetauftritte der Bild-Zeitung oder der WAZ-Gruppe (der-westen). Direkter in die Diskussion eingebunden waren Antworten auf der Internetseite der Zeit, welche die Kommentare, wie normale Kommentare in die Chronologie einbaut und gleichzeitig ausklappbar dem Ausgangskommentar zuordnet. Ein solches Vorgehen ermöglicht, Diskussionen in doppeltem Maße anzuregen. Die andere Möglichkeit über eine Zitationsfunktion wurde von Spiegel Online genutzt und ist bekannt aus klassischen Webforen. Hier werden vorangegangene Kommentare oder Teile dieser zitiert und als Zitat sichtbar in den neuen Kommentar eingebaut. Eine direkte Beziehung zwischen den Kommentaren wird aber nicht hergestellt. Die Kommunikationsform ist damit auf Text beschränkt. Einziges multimediales Element bildet die Möglichkeit, auf externe Internetseiten zu verlinken, was von den meisten Anbietern zugelassen wird und wie Singer (vgl. 2009, S. 488) herausgefunden hat, ein probat genutztes Mittel der Nutzerinnen darstellt. Der Kommunikationsmodus lässt sich grundlegend als many-to-many beschreiben, da potentiell eine Vielzahl verschiedener Autoren die Masse potentieller Leserinnen des jeweiligen Nachrichtenmediums anspricht und untereinander in Interaktion treten kann (vgl. Manosevitch u. Walker 2009, S. 2, 5). Theoretisch ist auch Interaktion mit den Journalisten möglich. Diese können somit aus dem
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klassischen Schema der journalistischen one-to-many-Kommunikation ausbrechen. Die Forschung ist sich aber einig, dass dies in hohem Maße unwahrscheinlich ist (vgl. Graham 2015, S. 17; Manosevitch u. Walker 2009, S. 6-7; Singer 2009, S. 482). Eine Umfrage unter deutschen Journalisten bestätigt diese Einschätzung. Die Journalisten beteiligen sich kaum an den Leserkommentardiskussionen (vgl. ECCO-Agenturnetz 2014, S. 18). Dies bestätigt auch die Studie von Jakobs (2014, S. 206), die in ihrer Untersuchung einiger deutscher Nachrichtenmedien keine Beteiligung von Journalisten in den Kommentarbereichen feststellen konnte. Mit Blick auf die Moderation von Online-Leserkommentaren lässt sich generell zwischen zwei Strategien unterscheiden. Ein Modell wird als interventionalistisch beschrieben. Hier müssen die Beiträge vor der Publikation durch die Redaktion freigeschaltet werden. Dieses Modell war unter den untersuchten deutschen Medien deutlich in der Überzahl und kann als Zeichen des journalistischen Verantwortungsbewusstseins für den veröffentlichten Inhalt und die Qualität dessen betrachtet werden (vgl. Hermida u. Thurman 2008, S. 12; Ruiz et al. 2011, S. 465). Eine wesentliche Kritik an diesem Modell bezieht sich auf die dadurch entstehende Verzögerung. Die von Domingo (2008, S. 694) interviewten Journalisten erklärten, dass apriorische Moderation das Ende jeder Debatte bedeute. Das zweite, lockerere Moderationsmodell sieht eine Moderation der Beiträge nach direkter Publikation vor, wodurch die Kommentarsektion zu einem von der Nachrichtenproduktion klar getrennten Bereich auf der Website werde (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 465). International ist dieses zweite, liberalere Moderationsmodell weiter verbreitet und vor allem aufgrund seiner ökonomischen Vorteile weiter auf dem Vormarsch, wie Reich (2011, S. 108-109) in seiner Interviewstudie herausgefunden hat. Einzig die deutschen Medien bildeten die Ausnahme der Regel und setzten aus Sicherheitserwägungen verstärkt auf die apriorische Moderation. Einer Umfrage unter Journalisten zufolge stieg der Anteil dieser Strategie entgegen dem internationalen Trend sogar deutlich. Die Agentur Ecco (2014, S. 7) machte einen Anstieg von 37,5% auf fast 50% aus. Dies deckt sich mit der Analyse dieser Studie, wonach jede zweite Kommentarplattform eine Freischaltung der eingehenden Kommentare erforderte. Das Gros der deutschen Medien ließ die Moderation unabhängig von ihrem Modell von den Nutzern selbst unterstützen, indem diese über Meldefunktionen anstößige Beiträge an die Redaktion melden konnten. Während dies eine gängige Funktion darstellt (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 473; Sampaio u. Barros 2012, S. 197; Sehl 2013, S. 157; Singer 2009, S. 489), ist eine Auslagerung der Moderation an die Nutzer unüblich und wurde von den untersuchten Medien nicht angewandt. Wie Diaz Noci et al. (2010, S. 10) erklären, befürchten die Re-
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daktionen hierdurch subjektive Zensur durch die Nutzer. Trotz verschiedener Moderationsstrategien schätzen Studien die Debatten auf Basis von Online-Leserkommentarfunktionen als weitestgehend uneingeschränkt ein (vgl. Manosevitch u. Walker 2009, S. 7; Singer 2009, S. 489-490; Strandberg u. Berg 2013, S. 134). Dies passt zu vergleichsweise geringen Ablehnungsraten von Leserkommentaren, auf die Reich (2011, S. 106-107) gestoßen ist und die ebenfalls aus bereits zitierter Umfrage unter deutschen Journalisten hervorgehen (vgl. ECCO-Agenturnetz 2014, S. 8). Online-Leserkommentare stellen generell eine offene und öffentliche Diskussionsplattform dar (vgl. Domingo 2008, S. 695; Reich 2011, S. 98; Strandberg u. Berg 2013, S. 134). Einschränkungen bestehen noch am ehesten darin, dass Beiträge gelöscht werden können und damit nicht mehr sichtbar sind, DiskussionsThreads geschlossen werden können und Vormoderation ein Hindernis darstellt. Grundsätzlich aber sind die Funktionen - zumeist nach Registrierung - offen nutzbar und die Beiträge grundsätzlich öffentlich in dem sehr sichtbaren Umfeld der Nachrichtenmedien. Damit sind sie sogar potentiell sichtbarer und offener als andere, unabhängige Foren, kanalisieren die Nachrichtenmedien doch nachweisbar Internetaufmerksamkeit (vgl. Habermas 2006, S. 423; Strandberg u. Berg 2013, S. 135). Eingeschränkt wird die tatsächliche Offenheit durch Erkenntnisse der Forschung, wonach nur ein geringer Prozentsatz der Leser tatsächlich aktiv partizipiert. Die Zahlen von maximal fünf Prozent aktiver Nutzer beschreiben eine relativ homogene Gemeinschaft an Nutzern, die für ein Gros der Beiträge verantwortlich ist und damit die Diskussionskultur auf der Website eines Nachrichtenmediums wesentlich prägt (vgl. Hermida u. Thurman 2008, S. 11-12). Einschätzungen deutscher Journalisten stimmen hiermit grundsätzlich überein (vgl. ECCO-Agenturnetz 2014, S. 12). Eine weitere Einschränkung stellt die chronologische Abfolge der Kommentare dar. Üblich scheint es, die zehn aktuellsten Kommentare mit dem Aufrufen der jeweiligen Website anzuzeigen. Bei einem hohen Kommentaraufkommen kann es somit sein, dass ein Kommentar nur kurzzeitig oder gar nicht auf der ersten und damit direkt sichtbaren Seite der Kommentare auftaucht. Die benötigten Online-Fähigkeiten, die benötigt werden, um einen Online-Leserkommentar abzusenden, scheinen kaum eine Hürde darzustellen. Eine gängige Benutzeroberfläche besteht aus einem einfachen Textfeld am Ende eines Artikels. Das Klicken des Abschicken-Knopfes (vgl. Abbildung 4.2) reicht dann (nach Registrierung) aus, um den Beitrag zu veröffentlichen (vgl. Freelon 2015, S. 778).
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Abbildung 4.2: Ein Kommentarfeld auf Zeit Online mit Maximalzeichenanzahl
Quelle: www.zeit.de
Diaz Noci et al. (2010, S. 1) schließen demzufolge, dass „for citizens, it is a very simple way to react to current events and discuss about them, right after reading the story.“ Die Viralität von Online-Leserkommentaren ist noch nicht erforscht. Es lässt sich aber auf ein gewisses virales Potential der Beiträge schließen. Neben einer ökonomischen Motivation, Leserkommentare zuzulassen, um somit eine stärkere Leser-Blatt-Bindung zu generieren und eine vorhandene Nachfrage zu bedienen, gibt es auch eine journalistische Motivation für die Medienunternehmen. So können die Inhalte der Nutzer den Journalisten ein Bild von den Interessen ihrer Leser vermitteln und gleichzeitig neuen Input liefern. Beiträge der Nutzer stellen interessante Quellen für die Journalisten dar (Díaz Noci et al. 2010, S. 8-9; vgl. ECCO-Agenturnetz 2014, S. 14; Hermida u. Thurman 2008, S. 11). Der Freitag betont etwa, dass jeder fünfte Kommentar nützliche Informationen enthalte (vgl. Kosok 2014). Es ist deshalb auch in der deutschen Medienlandschaft nicht mehr unüblich, Leserkommentare in Artikeln zu erwähnen oder sogar zu zitieren, wie etwa Zeit Online im Artikel „Abschied vom Gutmenschentum“ vom 30.05.2014, wie Abbildung 4.3 zeigt. Ein darüber hinausgehendes virales Potential des Teilens und Verlinkens, wie in sozialen Netzwerken, ist aber bislang nicht zu erwarten. Aufgrund der hohen Anzahl an Leserkommentaren können die Produser auch kaum davon ausgehen, dass ihr Beitrag zusätzliche Erwähnung durch professio-
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nelle Journalisten findet. Dies kann gemäß der Logik massenmedialer Öffentlichkeit dazu führen, besonders auffällige Beiträge zu verfassen, um aus der breiten Masse hervorzustechen. Abbildung 4.3: Zitierte Online-Leserkommentare auf Zeit Online
Quelle: www.zeit.de
Auffällig ist mit Blick auf die Leserkommentarfunktionen in Deutschland, dass die Mehrheit über ein eingebettetes Belohnungssystem verfügt. Nutzerinnen können einzelne Beiträge positiv bewerten und in manchen Fällen, wie etwa beim
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Focus, auch negativ abwerten. Die Summe der Bewertungen erscheint üblicherweise gut sichtbar dem jeweiligen Kommentar zugeordnet. Ein solches Belohnungssystem ist offensichtlich dazu intendiert, die Nutzer dazu zu motivieren, sich besondere Mühe beim Verfassen ihres Kommentares zu geben, um möglichst viele positive Bewertungen zu erzielen. Die Auswirkungen solcher Belohnungssysteme sind bislang so gut wie kaum erforscht, wie Davies und Chandler (2012, S. 124) in ihrer Metaanalyse erklären. Sie zitieren ausschließlich eine experimentelle Studie aus Korea, welche auf positive Auswirkungen auf die Diskussionsqualität hin schließen lässt (vgl. Rhee u. Kim 2009, S. 227, 230). Besondere Bedeutung unter Gesichtspunkten der Viralität können solche Bewertungssysteme dann gewinnen, wenn sie mit einer Möglichkeit kombiniert werden, die chronologisch angeordneten Kommentare nach Beliebtheit oder der Anzahl an Leserempfehlungen zu sortieren. Auf diese Weise erhält ein besonders beliebter Kommentar überproportional viel Aufmerksamkeit und somit erhöhtes virales Potential. Ein Beispiel hierfür ist Zeit Online, wo die Redaktion zusätzlich Empfehlungen aussprach, die ebenfalls als Grundlage der Reihenfolge der Kommentare bilden konnten. Hierüber zu entscheiden lag beim jeweiligen Nutzer. Im Ausgangszustand waren die Kommentare aber auch hier chronologisch sortiert. Die Zeitlichkeit der Diskussionen über Online-Leserkommentare lässt sich eindeutig als asynchron bestimmen (vgl. Strandberg u. Berg 2013, S. 134). Auch, wenn die Diskussionen zu spezifischen Artikeln normalerweise nur in einem engen zeitlichen Rahmen von um die 24 Stunden stattfinden (vgl. Schuth et al. 2007, S. 2) und eine nicht unübliche, hohe Anzahl an Kommentaren die wechselseitige Diskussion erschwert, bleibt die Abfolge der Kommentare asynchron. Eine Diskussion in Echtzeit ist nicht möglich. Die deutschen Online-Leserkommentarfunktionen in der Übersicht Insgesamt stellen deutsche Online-Leserkommentare ein öffentliches und leicht zugängliches Forum für Diskussion und Expression dar. Es unterliegt geringen strukturellen Beschränkungen und lässt trotz vorhandenem Moderationsaufwand weitestgehend uneingeschränkte Äußerungen auf Textbasis und in asynchroner Abfolge zu. Die Kommentare können many-to-many-Kommunikation generieren und verfügen über gewisses virales Potential. Dennoch sind Generalisierungen nur in sehr begrenztem Maße möglich. Über Auswirkungen der zunehmenden mobilen Nutzung kann bislang nur spekuliert werden, es spricht aber nichts dagegen, dass Online-Leserkommentare auch mittels mobiler Endgeräte genutzt werden. Ihre Zugänglichkeit wird durch deren allgegenwärtigen Charakter (vgl. Martin
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2014, S. 181-183) sicherlich nicht gemindert. Bei der Diskussion der verschiedenen technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen diskursiver Beteiligung durch Online-Leserkommentare wird vor allem eins deutlich: den Betreibermedien bietet sich großer Variationsspielraum. Deshalb ist auch wenig verwunderlich, dass sich wesentliche Unterschiede zwischen einzelnen Kommentarfunktionen in Deutschland finden, wie ein Selbsttest von 35 deutschen Online-Medien ergab. Hierzu wurden die 10 meistbesuchten digitalen Nachrichtenseiten in Deutschland sowie die Internetseiten deutscher Tageszeitungen mit einer Auflage von über 140.000 Exemplaren sowie die Internetseite der Wochenzeitung Der Freitag einem Selbsttest unterzogen. Von den ausgewählten Nachrichtenseiten hatten 29 (=n) eine Kommentarfunktion bei politischen Artikeln implementiert. Auf Basis der Literaturdiskussion bis hierhin sowie der Beobachtungen während der Analyse wurden insgesamt elf dichotome, technische und organisatorische Variablen ausdifferenziert. Diese bilden die Basis dafür, einzelne Kommentarfunktionen voneinander zu unterscheiden. Vermerkt wurden nur Merkmale, die während des Prozesses des Kommentierens direkt erfahrbar waren, um somit ein authentisches Abbild der Rahmenbedingungen wiedergeben zu können. Einer Netiquette, die erst durch kompliziertes Navigieren durch mehrere Menüs einer Website auffindbar ist, kann zum Beispiel kaum ein Einfluss auf das Kommentierverhalten der Leser zugeschrieben werden. Ebenso verhält es sich mit der Möglichkeit, sich mittels eines Profils bei einem sozialen Netzwerk anzumelden, wenn diese Option im Registrierprozess nicht deutlich sichtbar angeboten wird, um nur zwei Beispiele zu nennen. Es wurde hierbei ebenfalls deutlich, dass nahezu alle Betreibermedien Nutzerinteraktion technisch fördern, indem sie entweder eine Antwort- oder eine Zitationsfunktion anbieten. Dies scheint deshalb als Unterscheidungskriterium vernachlässigbar. Die übrigen neun Strukturvariablen weisen in ihrer ihnen zugrunde liegenden Logik teilweise Ähnlichkeiten auf, sodass sie sich unter drei Gesichtspunkten subsummieren lassen: der Identifikation von Nutzern, der Regulierung der Kommentare sowie der Partizipation der Nutzer in der Organisation des Kommentarbereichs. Tabelle 4.1 zeigt diese neun Strukturvariablen drei Organisationsdimensionen zugeordnet in der Übersicht sowie ihre absolute und relative Häufigkeit im Selbsttest (Stand: Sommer 2014).
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Tabelle 4.1: Strukturvariablen 29 deutscher Online-Leserkommentarfunktionen Organisationsdimension Variablen Identifikation
Nutzerregistrierung erforderlich (27/ 93,1%) Registrierung durch ein Facebook-Profil möglich (12/ 41,4%) Klarnamenpflicht (7/ 24,1%)
Regulierung
Verweis auf Netiquette/Diskussionsregeln (11/ 37,9%) Limitierung der Zeichenanzahl pro Kommentar (8/ 27,6%) Moderation der Kommentare vor Veröffentlichung (15/ 51,7%)
Partizipation
Meldefunktion für Nutzer (22/ 75,9%) Nutzerbewertungsfunktion (16/ 55,2%) Inhaltliche Sortierung (11/ 37,9%)
Sonstige
Antwort- oder Zitationsfunktion
Wie der Name schon sagt, bezeichnet die Identifizierungsdimension Funktionen, um Zurechenbarkeit und Verantwortung für die Kommentare herzustellen. Hierzu zählen die Voraussetzung einer Registrierung mit einer aktiven E-Mail-Adresse, um Kommentieren zu dürfen oder die offensiv angebotene Registrierung über das Facebook-Profil als Rückgriff auf die digitale Identität der Nutzerinnen. Zusätzlich operieren einige Anbieter mit einer Klarnamenpflicht, das heißt, die Nutzer werden aufgefordert, ihren echten Namen mit Vor- und Nachnamen anzugeben. Wie bereits oben angesprochen, zeigt Tabelle 4.1, dass fast alle Anbieter eine Registrierung erfordern und etwas weniger als die Hälfte bereits eine Registrierung mit Facebook anbietet. Der Klarnamenzwang ist vergleichsweise selten, was sich möglicherweise dadurch erklären lässt, dass sich die Authentizität der angegebenen Namen nicht nachhalten lässt, wie das Beispiel des Handelsblatts zeigte. Unter der Bezeichnung Regulierungsdimension fasst diese Arbeit Aspekte der Diskussionsmoderation, wie das Vorredigieren oder Vorgaben bezüglich der zur Verfügung stehenden Zeichenanzahl. Weiterhin wurde vermerkt, ob explizit auf die Netiquette verweisen wurde oder diese unmittelbar mittels Suchfunktion des Browsers zu finden war. Es ist interessant, dass zwar fast alle Plattformen über eine Netiquette oder ein ähnliches Regelwerk verfügten, aber weniger als die Hälfte beim Kommentieren explizit hierauf verwiesen oder sie zumindest gut sichtbar in die Seite integrierten. Insbesondere bei einer direkten Beteiligungsmöglichkeit, wie sie der Online-Leserkommentar bietet, kann ein Regelwerk seine regulierende Funktion nur entfalten, wenn es den Nutzern bekannt ist. Es war durchaus üblich, die zur Verfügung stehende Zeichenanzahl zu begrenzen, während nur eine Plattform (Focus Online) eine Mindestanzahl definierte. Dies kann
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logisch erscheinen vor dem Hintergrund, dass längere Beiträge nicht automatisch bessere Argumente enthalten und Prägnanz einen wesentlichen Vorteil von textbasierter Kommunikation darstellen kann. Die deutschen Medien stellen mit Blick auf die apriorische Moderation eingehender Kommentare nach wie vor eine Ausnahme im internationalen Vergleich dar. Etwa die Hälfte der Anbieter behielt sich vor, Kommentare nicht automatisch zu veröffentlichen. Kommentare müssen in diesem Fall erst durch den Anbieter freigeschaltet werden, bevor sie im Kommentarbereich erscheinen. Reich (2011, S. 108) führt dies auf die besondere Aufmerksamkeit deutscher Medien gegenüber sensiblen Themen, insbesondere die NSVergangenheit Deutschlands zurück. Die Variablen der Partizipationsdimension waren insgesamt am stärksten ausgeprägt. Die überwiegende Mehrheit der Anbieter band ihre Nutzerinnen mit in die Moderation der Diskussionen ein, indem diese auffällige Beiträge melden konnten. Dies wird, Reichs (2011, S. 110) Interviews zufolge, von den verantwortlichen Redaktionen als effiziente Selbstdisziplinierungsmaßnahme der Diskutanten eingeschätzt und soll deshalb in Zukunft aus ökonomischen Gründen das Prinzip des Vorredigierens zunehmend ersetzen (vgl. Reich 2011, S. 113-115). Mehr als jede zweite Plattform bot ihren Nutzern die Möglichkeit, veröffentlichte Kommentare zu bewerten, während nur eine Minderheit auch eine inhaltliche Sortierung, etwa gemäß der Anzahl positiver Bewertungen offerierte. Bei der Analyse deutscher Leserkommentarfunktionen ist ihre begrenzte Komplexität zu reflektieren. Weder ist der konkrete Moderationsaufwand, den ein Betreibermedium sich leistet, berücksichtigt, noch findet eine Bewertung der unterschiedlichen Variablen statt. Kapitel 3 konnte zeigen, welche Bedeutung der Moderation von Diskussionen zukommt, geht es um ihre deliberative Qualität. Es ist bis hier hin unklar, welche Anstrengungen die Redaktionen konkret unternehmen, ob von einer aktiven oder passiven Moderation die Rede sein muss. Es ist ebenfalls nicht transparent, wie viele Personen sich um die Moderation kümmern und ob die aufwändige Vorredigierung tatsächlich durch Mitarbeiter der Online-Redaktion, externe Mitarbeiter oder eine Software durchgeführt wird. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass die einzelnen Variablen sich in unterschiedlichem Maße auf die Diskussionsqualität auswirken. Während eine Vorredigierung aktiv dazu beiträgt, unerwünschte Inhalte aus dem Kommentarbereich herauszuhalten, ist unklar, wie viele Nutzer die veröffentlichten Diskussionsregeln überhaupt lesen. Generell ist unklar, welche Auswirkungen die Anstrengungen in Bezug auf die Identifizierung der Nutzer haben. Wenn die Nutzer anonym bleiben wollen, haben sie momentan auch die Möglichkeit dazu. Eine Registrierung mit dem Facebook-Profil und somit der Rückgriff auf die digitale Identität war nur in einem Fall verpflichtend.
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Nichtsdestotrotz zeigt diese erste vergleichende Analyse - obgleich ohne Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit -, dass deutliche Unterschiede zwischen den Kommentarfunktionen sichtbar sind. Im Hinblick auf die Erkenntnisse der einschlägigen Forschung wäre es verwunderlich, wenn sich dies nicht auf die Gestalt der sich realisierenden, diskursiven Partizipation niederschlagen würde.
F ORSCHUNGSSTAND ZUR DELIBERATIVEN Q UALITÄT O NLINE -L ESERKOMMENTAREN
VON
Die wissenschaftliche Aufarbeitung von Online-Leserkommentaren befindet sich noch in den Kinderschuhen (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 464), aber seit kurzer Zeit nimmt die Anzahl an Arbeiten zum Thema deutlich zu. Die Analyse der deliberativen Qualität der Debatten mit dem Ziel, Online-Leserkommentare in eine übergeordnete Theorie digitaler Öffentlichkeit einzuordnen, ist hierbei ein zentrales Motiv. Andere Studien fokussieren stärker die Herausgeberperspektive (vgl. Domingo 2008; Hermida u. Thurman 2008; Schultz 2000; Singer 2010; Skjerdal 2008; Thurman 2008) oder die Nutzer selbst (vgl. Diakopoulos u. Naaman 2011; Schultz 2000; Springer 2011; Tenenboim u. Cohen 2015). Die verschiedenen Studien liefern widersprüchliche Interpretationen in Bezug auf die deliberative Qualität der Debatten und die einzelnen Kriterien deliberativer Qualität, was auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden kann. Dieses Kapitel diskutiert im Folgenden eine breite Auswahl entsprechender Fallstudien, um einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zu erhalten. Dieser soll Rückschlüsse über bestehende Herausforderungen und Defizite sowie übereinstimmende Annahmen der Forschung ermöglichen und somit eine zentrale Grundlage für die Hypothesenbildung und die Entwicklung des Untersuchungsdesigns dieser Studie bilden. Eine der ältesten der hier diskutierten Studien legten Schuth et al. (2007) mit Blick auf die holländische Kommentarsphäre vor. Ihre Daten bleiben auf sehr abstraktem Niveau. Deshalb kommt ihrer Analyse nur begrenzte Aussagekraft im Kontext digitaler Öffentlichkeit zu. Sie analysierten Kommentare auf fünf Nachrichtenseiten nur implizit gemäß eines Konzepts digitaler Öffentlichkeit. Sie verweisen auf die soziologische Bedeutung kontroverser Leser-Diskussionen (vgl. Schuth et al. 2007, S. 1). Dies kann ein Grund dafür sein, weshalb ihre Analyse auf basale quantitative Faktoren der Kommentare beschränkt bleibt. Sie untersuchten die beeindruckende Anzahl von 117.162 Kommentaren zu 3.431 Artikeln auf Faktoren wie Publikationszeitpunkt, Länge und Anzahl der Sätze pro Kommentar sowie die numerische Verteilung der Beiträge auf die verschiedenen Nut-
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zer. Parallel dazu untersuchten sie die Interaktivität auf Basis wechselseitigen Bezugs (Nennung des Namens, Verwendung des „@“-Zeichens, u.ä.). Hier allerdings reduzierten sie die Anzahl untersuchter Kommentare durch eine halb-zufällige Stichprobenziehung auf 478 (vgl. Schuth et al. 2007, S. 2-4). Insgesamt kommen sie auf dieser Basis zu einem positiven Fazit, obgleich einige wenige Nutzer die Debatten klar dominierten. Sie beschreiben Online-Leserkommentare als nützliche Informationsquelle. Die Länge der Sätze und ihre Anzahl schätzen sie als vergleichsweise hoch ein und sehen dies als Indikator für eine hohe Qualität der Beiträge. Ebenso bewerteten sie das Ausmaß wechselseitiger Bezüge (etwa 40%) positiv4. Eine der frühesten Arbeiten mit aus normativer Perspektive vielversprechenden Ergebnissen legten Manosevitch und Walker (2009) vor. Sie analysierten Foren auf zwei lokalen US-amerikanischen Zeitungsportalen und betrachteten insgesamt 124 Kommentare von 61 Nutzerinnen (vgl. Manosevitch u. Walker 2009, S. 17). Deliberation wurde hier nach John Gastil (2008) mittels neun binärer Kategorien (zugeordnet dem analytischen und sozialen Prozess von Deliberation) operationalisiert (vgl. Manosevitch u. Walker 2009, S. 14-16). Resümierend erklären Manosevitch und Walker (2009, S. 21) optimistisch, dass „reader comments to opinion content can manifest both the analytic as well as the social processes necessary for public deliberation.“ Ein genauerer Blick in ihre Ergebnisse verrät allerdings, dass die Studie keinen Anlass zu deliberativer Euphorie liefert. Demnach stellten mit etwa 50% die Darstellung der eigenen Position, die Darstellung von Fakten sowie der Bezug auf andere Teilnehmer oder Kommentare, die am häufigsten vertretenen Kategorien dar. Etwa 40% der Beiträge enthielten Begründungen. Das heißt auch, dass über die Hälfte der Beiträge keine Begründung aufweisen und etwa die Hälfte keinen Bezug zu anderen Teilnehmern oder Kommentaren hergestellt hat. Fragen und die Thematisierung des Artikels waren den Daten zufolge nur Minderheitsphänomene. Darüber hinaus liefern die nominalen Kategorien keine Aussage über die Qualität der Fakten, Begründungen und den Charakter des Bezugs auf andere Kommentare oder Kommentatoren. Über das Vorhandensein von Beleidigungen oder negativen Aussagen gibt die Studie keine Auskunft.
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Eine interessante zusätzliche Erkenntnis liefern sie (vgl. Schuth et al. 2007, S. 3), indem sie zeigen, dass die Anzahl beigetragener Kommentare pro Artikel einen Pik unmittelbar nach Veröffentlichung sowie in verringertem Maße noch einmal 24 Stunden später aufwies. Dazwischen sowie danach marginalisierten sich die Kommentarzahlen. Das impliziert, dass Diskussionen auf Basis von Online-Leserkommentaren in engen zeitlichen Grenzen stattfinden.
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Ebenfalls aus dem Jahr 2009 stammt eine größer angelegte Studie mit nationalem Fokus von Singer (2009) anlässlich der schottischen Parlamentswahlen im Jahr 2007. Auf Basis aller thematischen Artikel der drei wichtigsten schottischen Online-Medien wurden in ihrer Studie 4.796 Online-Leserkommentare mittels systematischer Stichprobenziehung (jeder erste, zweite und zehnte Kommentar wurde codiert) für die Analyse ausgewählt. Die Kategorien der schottischen Analyse unterscheiden sich von den meisten anderen Analysen, die hier vorgestellt werden. Singer (2009, S. 482-485) bezieht sich aber ebenfalls auf normative Konzepte der Netzöffentlichkeit von Habermas, Dahlberg, Dahlgren und Papacharissi. Zum einen wurde die Heterogenität des Teilnehmerfeldes (zum Beispiel Umfang der Beteiligung oder Herkunft der Teilnehmer) und zum anderen der Inhalt der Beiträge untersucht. Es wurde etwa analysiert, ob Politik thematisiert wird, der Beitrag eines anderen Nutzers aufgegriffen wird oder ob sich Referenzen zum entsprechenden Artikel oder anderen Medien finden. Die Ergebnisse der Studie sind ambivalent. Obgleich eine politische Position (schottisch nationalistisch) sowie eine überproportional aktive Minderheit der Nutzerinnen die Debatten numerisch eindeutig dominierte und der Umgangston eher rauerer Natur war (vgl. Singer 2009, S. 490), schließt Singer (2009, S. 491) mit Bezug auf Papacharissi (2004), dass „the study thus underscores the argument that democratic discourse is supported rather than undermined by the sort of freewheeling conversation, including ardent disagreement, that the online medium facilitates.“ Etwa 60% der Beiträge griffen dezidiert politische Themen auf und 50% bezogen sich auf einen anderen Beitrag. Darüber hinaus kamen die Teilnehmer laut eigener Angabe von verschiedenen Orten auf der ganzen Welt. Ein interessantes Ergebnis, das in anderen Studien so nicht erhoben wird. Dies spricht für die grenzübergreifende Natur digitaler Öffentlichkeit (vgl. Singer 2009, S. 486-490). Gegenpositionen wurden trotz einseitiger Dominanz offen artikuliert und intensiv debattiert. Dabei habe die Debatte manifeste Selbstreinigungskräfte gezeigt (vgl. Singer 2009, S. 490-491). Festzuhalten ist aber auch, dass die Qualität der Diskussion und der Charakter der Interaktion nur rudimentär untersucht wurden. Trice (2010) orientierte sich theoretisch an Habermas und analysierte 206 Online-Leserkommentare zu elf Artikeln auf sechs US-amerikanischen Internetseiten. Die aus deliberativer Perspektive zentralen Kategorien seines eng angelegten Instruments sind die Inhaltsinteraktion (Aufgreifen des Inhaltes des Artikels), die Kommentarinteraktion (wechselseitiger Bezug durch Zitation oder Nennung des Nutzernamens), die Vorstellung neuen Inhalts (Zitation oder Vorstellung neuer Informationen) sowie die Präsentation komplexer Argumente. Ein komplexes Argument definiert er als die Einführung multipler Ideen, welche er durch die
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Nutzung mehrerer Sätze oder durch Semikolon abgetrennter Sinnabschnitte operationalisiert. Zusätzlich maß er noch die Anzahl an Nutzern, die nur einen Beitrag beigetragen haben (vgl. Trice 2010, S. 192-193). Trice (2010, S. 195) schränkt allerdings ein, dass seine Kategorien noch nicht hinreichend ausdifferenziert sind, um nachprüfbar Deliberation zu messen. Seine Resultate zeigen trotz einiger Ähnlichkeiten in eine andere Richtung als die bislang diskutierten. Auf der einen Seite notierte er eine veritable Anzahl an neuen Fakten (circa 31%) und eine deutliche Dominanz komplexer Argumentation (circa 89%). Zwar spricht er selbst von einer großen qualitativen Bandbreite der Argumente, aber entnimmt diesen Werten, dass die Nutzer etwas Gehaltvolles beitragen wollten. Negativ fällt ihm das sehr geringe Ausmaß an Interaktion zwischen den Nutzern (unter 10%) auf (vgl. Trice 2010, S. 193-195). Gegenüber der starken Fixierung auf den Inhalt des Artikels (circa 86%) kommt er deshalb zu dem Schluss, dass „there appears to be an extreme minority of readers engaging with the type of interaction amongst themselves that could be considered deliberative“ (Trice 2010, S. 196). Unter der Frage „Democracy Booster or Journalistic Nightmare?“ analysierten Diaz Noci et al. (2010) insgesamt 1.976 Online-Leserkommentare auf den Plattformen von sieben katalanischen Nachrichtenmedien und wandten dazu ein an der habermasianischen Diskursethik orientiertes, binäres Codierschema an. Dabei codierten sie, ob die Beiträge das Thema des Artikels aufgriffen, Beleidigungen enthielten, andere Nutzer nach zusätzlichen Erklärungen anfragten, Interesse an den Begründungen anderer zeigten und die Begründungen anderer akzeptierten und weiterentwickelten. Zusätzlich zählten sie die Anzahl der Beiträge der einzelnen Nutzer (vgl. Díaz Noci et al. 2010, S. 14-17). Da das Papier größeren Wert auf eine zusätzliche quantitative Untersuchung eines größeren Datenmaterials mithilfe von Inhaltsanalysesoftware legt, bleibt eine Diskussion der Operationalisierung von Habermas Postulaten, welche zu den untersuchten Kategorien führt, aus. Die gewonnen Daten werden prägnant und stark zusammengefasst dargestellt. Damit bleiben Diaz Noci et al. notwendigerweise auf sehr allgemeiner Ebene und strengen auch keinen Vergleich an, was ihre Aussagekraft begrenzt. Ihre Analyse fokussiert auf die jeweiligen Nutzer, was eine Interpretation erschwert, da die überwiegende Mehrheit der Nutzer (circa 84%) nur einen Beitrag geschrieben hat und damit schwerlich aktiv an einer Diskussion teilnehmen konnte. Die deutliche Mehrheit der Nutzer beschäftigte sich überwiegend mit dem Thema des Artikels (über 80%), aber zeigte nur geringes Interesse an den Argumenten anderer Nutzer. Die deutliche Mehrheit ignorierte Argumente anderer Nutzer (64%). Beleidigungen waren kein Mehrheitsphänomen, aber über 40% der 1.417 Nutzer kamen nicht völlig ohne Beleidigung aus (vgl. Díaz Noci et al. 2010, S. 14-17). „The discourse analysis demonstrates that comments in news are not
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fostering a democratic dialogue. They hardly meet any of the Habermasian principles. The fact that most users make a single contribution is a first drawback, but also the lack of respect for each other, the lack of diverse perspectives or the lack of mature arguments.“ (Díaz Noci et al. 2010, S. 18) Die bislang größte und gleichzeitig vergleichend angelegte Studie legten Ruiz et al. (2011) vor. Insgesamt codierte das Forscherteam 15.314 Kommentare zugehörig zu 32 Artikeln auf Websites der Nachrichtenmedien The Guardian (Großbritannien), Le Monde (Frankreich), The New York Times (USA), El País (Spanien) und La Repubblica (Italien). Bei dieser Studie lag der Schwerpunkt der Analyse dezidiert auf dem Vergleich. Als Unterscheidungskriterien differenzierten die Autoren drei Variablengruppen aus: Die ethischen, beziehungsweise rechtlichen Richtlinien, die Moderationsstrategien sowie den kulturellen Kontext. Das Team um Carlos Ruiz bestand laut eigener Aussage weitestgehend aus denselben Forschern, die sich bereits mit den katalanischen Leserkommentaren auseinandergesetzt hatten. Deshalb seien dieselben Codierer zum Einsatz gekommen und weitestgehend dieselben Kategorien analysiert worden (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 463465). Als theoretische Grundlage diente auch dieser Studie die Arbeit von Jürgen Habermas sowie der Ansatz nach Lincoln Dahlberg (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 465468). Ihre Ergebnisse bestätigen das bisherige Bild weitestgehend, zeigen aber interessante Unterschiede im Vergleich. Die große Mehrheit der Teilnehmer trug nur einen Kommentar bei (von 72 bis 95%). Eine ebenso deutliche Mehrheit der Kommentare beschäftigte sich mit dem Thema des Artikels (71% bis 99%). Hier konnten sie deutliche Auswirkungen der Moderationsstrategie festmachen. Eine apriorische Moderation vor der Veröffentlichung erzielte die höchsten Werte, während die Moderation nach direkter Veröffentlichung hier zwar nicht aus dem Trend fiel, aber deutlich schlechter abschnitt (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 476). Das zentrale Ergebnis ihrer Studie besteht darin, dass sie den kulturellen Kontext als einflussreichste Variable ausdifferenzieren konnten, noch vor der Moderationsstrategie. Sie ordneten die fünf Medien einem liberalen (The Guardian, The New York Times) und einem polarisiert pluralistischem (El Paìs, La Republicca, Le Monde) Medienmodell zu, die sie mit den Bezeichnungen der Debattiergemeinschaft (communities of debate) und der homogenen Gemeinschaft (homogenous communities) voneinander abgrenzen (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 482-484). Grundlage dieser Unterscheidung war ihre Beobachtung, dass die liberalen Medien bei dem Vorhandensein von Argumenten, Beleidigungen beziehungsweise Abschätzigkeiten und dem wechselseitigen Bezug aus deliberativer Perspektive deutlich besser abschnitten als die pluralistisch kategorisierten Medien. Insgesamt aber zeigten alle Medien einen ähnlichen Trend. Mit Ausnahme der französischen Le Monde beinhalteten die Beiträge mehrheitlich eine argumentative Struktur. Die
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pluralistischen Medien erzielten hier Werte von 42 bis 58%, die liberalen 65 und 78%. Beleidigungen waren nahezu nicht vorhanden, Abschätzigkeiten blieben in der Minderheit. Hier zeigten sich die größten Unterschiede. Mit zwischen 2 und 3% der Beiträge war der Anteil der Abschätzigkeiten in den liberalen Medien äußerst gering, während die Bandbreite von 7 bis 42% bei den pluralistischen Medien deutlich größer war. Schließlich zeigte sich auf den liberalen Seiten die Präsenz verschiedener Sichtweisen, wenn auch minderheitlich (12 und 24%). Andersartige Sichtweisen waren auf den anderen Plattformen mit unter 3% marginalisiert. Das Interesse an anderen Beiträgen war auf allen Seiten äußerst gering ausgeprägt. Allein der als liberal eingeordnete Guardian stach hier mit 40% hervor. Hohe deliberative Qualität schreiben die Autoren ihren Ergebnissen insgesamt nicht zu (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 475-478). Kritisch an der Studie zu beurteilen ist, dass sie ihre Analysekategorien nicht transparent machen. So bleibt zum Beispiel unklar, was es bedeutet, wenn sie schreiben, dass „Participants Try to Argue Their Points“ (Ruiz et al. 2011, S. 477). Ihre Modellbildung bleibt darüber hinaus auf einem sehr allgemeinen Niveau und wird nicht ausführlich erläutert und hergeleitet (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 467-468, 482-484). Eine kleinere Studie, die aber stärker als die zuvor diskutierten auf bisherigen Forschungsergebnissen aufbaut und sich gleichzeitig elementar auf die empirische Deliberationsforschung bezieht, legten Sampaio und Barros (2012) vor. Sie analysierten insgesamt 260 Kommentare zu vier Artikeln auf der Website der brasilianischen Zeitung Folha (vgl. Sampaio u. Barros 2012, S. 188-191). Auf Basis der Arbeit von Dahlberg unterteilten sie ihre Inhaltsanalyse in die fünf Kategorien Reziprozität, Reflexivität, Rechtfertigung, Respekt und Identifikation mit insgesamt zehn Subkategorien. Dabei machten sie in den binär-exklusiv angelegten Kategorien der Identifikation ein deutliches Übergewicht nicht-anonymer Nutzer (circa 81%) gegenüber anonymen Nutzern sowie in puncto Reziprozität ein klares Übergewicht dialogischer Beiträge gegenüber monologischen (76 zu 24%) aus. Der hohe Anteil dialogischer Beiträge kann allerdings darauf zurückgeführt werden, dass Sampaio und Barros (2012, S. 194) Beiträge als dialogisch einstufen, sofern ein Bezug auf einen anderen Teilnehmer deutlich wurde oder das Thema der Diskussion aufgegriffen wurde. Andere Studien ziehen eine klare Grenze zwischen diesen Kategorien und kommen zu divergierenden Resultaten. Die Ergebnisse der anderen Kategorien können den positiven Trend auch nicht bestätigen. Zwar entwickelten die Teilnehmerinnen der Diskussionen in relevantem Maße neue Argumente (circa 43%), ließen sich aber kaum von anderen Argumenten überzeugen (6,5%). Das quantitative Niveau argumentativer Begründungen war zwar relevant, bewegt sich aber im Vergleich zu anderen Studien am unteren Rand
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(circa 40%). Auch in dieser Studie wird keine Aussage zur Qualität der Begründungen getroffen. Bedenklich ist weiterhin das Ergebnis, dass nahezu die Hälfte aller Beiträge einen aggressiven Tonfall enthielt (vgl. Sampaio u. Barros 2012, S. 198). Die Autoren ordnen Online-Leserkommentare als vergleichsweise unstrukturiertes Diskussionsforum ein und wollen ihre Ergebnisse daher nicht zu negativ interpretiert wissen (vgl. Sampaio u. Barros 2012, S. 200). Aus Brasilien kommt auch die kleine Studie von Torres da Silva (2013, S. 101102), die 303 Leserkommentare auf den Internetseiten zweier portugiesischsprachiger Zeitungen analysierte. Dazu codierte sie das Vorhandensein zahlreicher, verschiedener Indikatoren, welche sie sieben Kategorien zuordnete: Ausmaß der Argumentationslegitimität positiv und negativ, kritisch-rationales Urteil, Grad rationaler Legitimität, rhetorische Stilmittel, pluralistische Elemente und freie Kategorien. Hierin wog sie positive wie negative Eigenschaften aus deliberativ-normativer Perspektive quantitativ gegeneinander ab. Damit wählte sie ein anderes Vorgehen als allgemein üblich, wie sie selbst anmerkt (vgl. da Silva 2013, S. 106). Insgesamt beschreiben die Resultate von Torres da Silva (2013, S. 103) eine hochgradig interaktive Diskussion mit einem hohen Maß an externen Verweisen und Belegen zur Begründung. Dies impliziert hohes informatives Potential der Diskussionen. Andere auffällige Ergebnisse sind, dass unbegründete Meinungen nahezu doppelt so oft codiert wurden wie begründete Meinungen. Dies spricht gegen die Rationalität der Debatte. Zusätzlich wurde die Kategorie Kritik anderer vergleichsweise häufig vergeben, was sie als ein Indiz für die hohe Aggressivität der Debatten interpretiert. Zusammen mit einem substantiellen Maß an Unhöflichkeit ergibt sich damit ein stark kompetitives Bild des wechselseitigen Umgangs miteinander. Zusätzlich hebt sie hervor, dass die Nutzer hochgradig ungleich zu den Diskussionen beitrugen. Wie auch in anderen Analysen bereits dargestellt, beschränkten sich die meisten Nutzer auf einen Beitrag, während eine kleine Minderheit von Nutzern überproportional aktiv war und die Debatte dominierte. Trotzdem schließt sie optimistisch, „that the space for news comments has in itself the potential to promote the dialogue and reciprocity among the traditional media public“ (da Silva 2013, S. 106). Das bislang komplexeste Analysedesign wanden Strandberg und Berg (2013) zur Analyse von 300 Online-Leserkommentaren der finnischen Lokalzeitung Vasabladet vom März und April 2010 an, die aus insgesamt 91 Artikeln mit mehr als zehn Kommentaren ausgewählt wurden (vgl. Strandberg u. Berg 2013, S. 137138). Bei ihrer Inhaltsanalyse konzentrierten sie sich auf die vier Bereiche Rationalität, Relevanz des Themas, Reziprozität und Grad der Höflichkeit. Dabei kombinierten sie verschiedene Codierschemata, um deren jeweilige Schwachpunkte
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(Über- oder Unterkomplexität) zu kompensieren. Insgesamt nutzten sie 13 Operationalisierungen zugeordnet zu den vier Analysebereichen, was sie auch als Hauptgrund für die Begrenzung ihrer Fallzahl anführen (vgl. Strandberg u. Berg 2013, S. 136-138). Bei den vier Operationalisierungen von Rationalität fällt übereinstimmend positiv auf, dass jeweils eine deutliche Mehrheit der Kommentare eine Begründung enthielt. Interessant ist hierbei, dass dennoch der Einfluss des Untersuchungsinstrumentes deutlich wird. Gemäß der DQI-Operationalisierung Niveau der Begründung fanden sie insgesamt 209 Begründungen. Bei der Operationalisierung Argumentation von Behauptungen waren es dagegen nur 175. Ebenfalls korrespondierten die Ergebnisse darin, auf mangelnde Qualität dieser Begründungen zu verweisen. Demnach waren die meisten Begründungen (41%) schwach, ignorierten andere Beweisführungen (71%), waren mehrheitlich nicht extern validiert (88%) und verwiesen nur minderheitlich auf Fakten oder Quellen (20%) (vgl. Strandberg u. Berg 2013, S. 139-141). Positiver wird im Bereich Relevanz bewertet, dass nur eine Minderheit der Kommentare von 14% als thematisch irrelevant eingeordnet wurde (vgl. Strandberg u. Berg 2013, S. 141). Die Ergebnisse der drei Operationalisierungen von Reziprozität seien weiter vom normativen Ideal entfernt, da die Mehrheit der Kommentare nicht reziprok (60%) ausfiel und wenn doch, dann neutral (74%) oder negativ (25%) konnotiert (vgl. Strandberg u. Berg 2013, S. 142-143). Im Gegensatz zu anderen Studien kommen sie bezüglich der Kategorie Respekt und Höflichkeit zu positiven Folgerungen (99% der Beiträge waren nicht undemokratisch, 85% nicht unhöflich), obwohl der Ton vieler Beiträge negativ (42%) war (vgl. Strandberg u. Berg 2013, S. 143-144). Somit kommen sie nachvollziehbarerweise zu dem ambivalenten Resümee, dass Online-Leserkommentare digitale Pendants zu den Cafés einer aktiven Öffentlichkeit darstellen könnten, „but just as often, if not even more frequently, they do not“ (Strandberg u. Berg 2013, S. 144). Eine weitere Studie legte Freelon (2015) vor, der Online-Leserkommentare mit Beiträgen auf Twitter verglich. Er untersuchte mit seinem Team insgesamt 1.752 Kommentare auf den Seiten der Washington Post und der Seattle Times, die thematisch ausgewählt wurden. Untersucht wurden hier nur die ersten 500 Zeichen je Kommentar, womit nicht mehr die Rede davon sein kann, dass der jeweilige Kommentar die Untersuchungseinheit bildet. Mögliche deliberative Charakteristika, die in drei binär codierten Kategorien5 untersucht wurden und in längeren Beiträgen an späterer Stelle auftreten, wurden somit ignoriert. Freelon (2015, S. 5
Obgleich er sich bei der Erläuterung seines Codierschemas darauf beruft, dass die Kategorien in der Online-Deliberationsforschung gängig seien, operiert er nicht mit einem bekannten Codierschema, sondern setzt seine Kategorien zu einem eigenen Schema zusammen (vgl. Freelon 2015: 779-781).
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781-784) operationalisierte nicht nur das deliberative, sondern ebenfalls ein kommunitaristisches und ein liberal individualistisches Verständnis diskursiver Partizipation. Im Gegensatz zu den von ihm analysierten Tweets zeigte sich ein statistischer Zusammenhang der Leserkommentare sowohl zu deliberativen als auch liberal individualistischen Charakteristika. Freelon (2015, S. 786) spricht deshalb bei diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare von deliberativem Individualismus. Diese Schlussfolgerung ist aus deliberativer Perspektive aber mit Vorsicht zu genießen. Trotz eines mathematischen Zusammenhangs ist das Ausmaß deliberativer Merkmale insgesamt sehr gering. So wurden Monologe (liberal individualistisch) 27 mal häufiger codiert als übergreifende Begründungen (deliberativ) und Beleidigungen (liberal individualistisch) mehr als 24 mal häufiger als übergreifende Fragen (deliberativ). Insbesondere vor dem Hintergrund der sehr allgemeinen Form der Operationalisierung der deliberativen Kategorien kann dieses Ergebnis somit kaum Anlass für deliberativen Optimismus liefern (vgl. Freelon 2015, S. 782). Die jüngste hier aufgeführte Studie kommt aus Großbritannien und analysierte 3.792 Leserkommentare auf der Seite des britischen Guardian. Graham und Wright (2015, S. 5-6) untersuchten hiermit gezielt alle eingegangen Kommentare während der UN-Klima-Konferenz in Kopenhagen (an insgesamt acht Tagen) im Jahr 2009 mit Grahams Codierschema aus 2008 (vgl. Graham 2008), womit sie vor allem auf die Form der Interaktion sowie die Funktion der Leserbeiträge eingingen. Insgesamt kommen sie bei dieser Analyse zu einer vergleichsweise positiven Einschätzung von Online-Leserkommentaren. „The analysis of comment fields found that they were deliberative (RQ1): Discussions were typically rational, critical, coherent, reciprocal, and civil“ (Graham u. Wright 2015, S. 16). Der Anteil begründeter Aussagen (circa 47%) und wechselseitiger Bezüge zwischen den Kommentarverfasserinnen (circa 47%) unterscheidet sich allerdings nicht fundamental von dem anderer Studien. Der Anteil herabwürdigender Aussagen ist vergleichsweise gering (circa 12%), aber von relevantem Ausmaß (vgl. Graham u. Wright 2015, S. 8). Folglich unterscheidet sich auch bei dieser Studie weniger das Ergebnis denn die Interpretation dessen von den anderen Studien. Zusätzlich kommen die Autoren zu der interessanten Schlussfolgerung, dass die Nutzer sich mittels der Leserkommentare kritisch mit der journalistischen Berichterstattung auseinandersetzten und die Kommentarfunktionen als Plattform eines öffentlichen Gegendiskurses nutzten. Dies sind erfreuliche Implikationen aus deliberativer Perspektive. Mit Blick auf diskursive Leserpartizipation in Deutschland liefern die Studien von Kersting (2005b) und Jakobs (2014) wichtige Evidenz, die von besonderem Interesse für die Hypothesenbildung dieser Arbeit ist, da sich diese mit deutschen
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Online-Leserkommentaren auseinandersetzt. In der aktuelleren Studie von Jakobs (2014, S. 193-198) wurden 1.390 per Stichprobe ausgewählte Kommentare zu 72 Artikeln auf sechs deutschen Nachrichtenseiten analysiert. Sie untersuchte die aktive Bezugnahme von Journalisten auf die Nutzerinnen (nicht relevant), den wechselseitigen Bezug der Kommentarfunktionsnutzerinnen untereinander sowie die Beschaffenheit der Beiträge. Die Beschaffenheit wurde mittels der fünf fünfstufigen, intervallskalierten Kategorien Argumentgehalt, Faktenorientierung, Emotionalität, Umgangston sowie sprachliche Korrektheit operationalisiert. Dies unterscheidet sich deutlich vom üblichen Vorgehen der Online-Deliberationsforschung und erschwert die Einordnung der Ergebnisse, da eine klärende Herleitung der Kategorien ausbleibt6. Jakobs (2014, S. 206) bewertet ihre Ergebnisse indes übereinstimmend mit dem bisherigen Bild der Forschung zweigeteilt. Demnach entsprächen die von ihr untersuchten Kommentare überwiegend nicht den deliberativen Qualitätsanforderungen, die Kommentare seien abseits dieser theoretischen Imperative aber nicht so schlecht, wie vielfach wahrgenommen würde. Neben einem hohen one timer-Anteil (84%), der geringen Länge der Beiträge (überwiegend nicht mehr als fünf Sätze) und dem vergleichsweise geringen Anteil an wechselseitigen Bezügen (25%), ist es ein spannendes Ergebnis, dass exakt in den schlecht ausfallenden, inhaltlichen Kategorien Argumentgehalt, Emotionalität sowie Faktenorientierung die dialogischen Kommentare aus theoretischer Sicht bessere Ergebnisse erzielten, als die nicht dialogischen (vgl. Jakobs 2014, S. 201-202, 205-207). Obgleich sich nicht nur ihre Methodik, sondern auch ihr Sampling7 deutlich von dem dieser Studie unterscheidet, sind die Ergebnisse für die Erwartungshaltung an dieser Stelle relevant, da sie mit Bild Online, FAZ.net, Focus Online, Spiegel Online und Welt.de fünf Betreibermedien untersuchte, die auch in dieser Studie untersucht werden. Da ihre Daten allerdings vier Jahre älter sind als die dieser Studie, müssen auch deutlichere Unterschiede angesichts der Variabilität von Online-Leserkommentarfunktionen nicht überraschen.
6
Für weitere Informationen zu ihrem Kategoriensystem verweist sie auf eine unveröffentlichte Masterarbeit (vgl. Jakobs 2014, S. 200, 204). Wie es scheint, fokussiert sich ihr Rationalitätsindikator eher auf den Anteil an Argumenten an einer Aussage denn deren Qualität. Den gemessenen Argumentgehalt von 2,3 auf ihrer Intervallskala von 1 bis 5 interpretiert sie als niedrig.
7
Jakobs definiert keine thematischen Kriterien für die Auswahl der Kommentare. Damit befinden sich in Jakobs Sample höchstwahrscheinlich auch dezidiert nicht-politische Artikel und Kommentare (vgl. Jakobs 2014, S. 193-198). Da diese Studie sich auf diskursive politische Partizipation konzentriert, erschwert dies den Vergleich der Ergebnisse.
DER UNTERSUCHUNGSGEGENSTAND: DER ONLINE-LESERKOMMENTAR ALS LESERBRIEF 2.0 | 101
Kersting (2005b, S. 10-14) untersuchte bereits, bevor Online-Leserkommentare weite Verbreitung fanden, in den Jahren 2003 und 2004 die Webforen der Online-Nachrichtenseiten Focus und Spiegel. Da Foren sich in wesentlichen Charakteristika von Online-Leserkommentaren unterscheiden, sind die Ergebnisse nicht direkt übertragbar (siehe die Kapitel 3.2 und 4.1). Sie sind an dieser Stelle aber dennoch von besonderem Interesse, da die Leserkommentare auf Spiegel Online auch heute in eine klassische Forenstruktur integriert sind, was eine Seltenheit im deutschen Kontext darstellt. Daher wird es interessant zu sehen sein, inwieweit die Partizipation sich in sechs Jahren (vgl. Jakobs 2014) und zehn Jahren (diese Studie) (nicht) verändert hat. Kersting (2005b, S. 6-8, 13) operierte bereits sehr früh mit den Kategorien des klassischen DQI im digitalen Kontext und zeigte damit den Mehrwert einer komplexen Operationalisierung, die tiefergehende Einsichten in die deliberative Qualität der Leserdebatten ermöglicht als weniger komplexe Ansätze. Die prozentualen Ergebnisse (Level of Justification, Respect Toward Group, Respect Toward Demand /Toward Counter Arguments) Kerstings (2005b, S. 12-14) einzelner Kategorien fallen aus deliberativer Perspektive im Vergleich noch besser aus als die Meisten der bislang vorgestellten Studien, was zu der relativ positiven Evaluation von klassischen Webforen passt (vgl. Albrecht 2006; Dahlberg 2001b; Desquinabo 2008; Kies u. Wojcik 2010; Linaa Jensen 2003; Wright 2006; Wright u. Street 2007). Kersting (2005b, S. 15) zieht aber ein ernüchterndes Fazit. „In general, the quality of discourse is low even though some discussions are characterized by more enhanced argumentation. […] In many discourses there is no respect for the statement of a counterpart. […] Most web forums are just a sample of statements without any kind of interpersonal communication. There is no dialogue, only a number of monologues.“ Insbesondere die Betonung mangelnden Respekts findet sich so oder in ähnlicher Form in vielen der bereits zitierten Studien zu Online-Leserkommentaren, weshalb dieser Überblick zum Forschungsstand mit drei aktuellen Studien komplettiert wird, die sich dezidiert mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Die im Folgenden diskutierten Studien aus den USA untersuchten Online-Leserkommentare gezielt im Hinblick auf negative und aggressive Formulierungen hin. Coe et al. (2014, S. 661-667) analysierten insgesamt 6.444 Kommentare auf der Website des Arizona Daily Star, die in der Zeit vom 17.10. bis zum 06.11.2011 veröffentlicht wurden. Dabei kam ein binäres Codierschema zum Einsatz, mit welchem fünf verschiedene Formen von unhöflichem bis nicht mehr zivilem Verhalten codiert wurden (Beschimpfungen, Verleumdung, Lügen, vulgäre Sprache sowie abwertende Sprache). Rowe (2014, S. 7-9) untersuchte insgesamt 498 Leserkommentare, die in einem mehrfach zufallsbasierten Auswahlprozess auf der Seite der Washington Post in zwei konstruierten Wochen der ersten Jahreshälfte
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des Jahres 2013 erhoben wurden. In insgesamt acht verschiedenen binären Kategorien untersuchte er mit seinem Team die Kommentare auf die Häufigkeit und Form aggressiven Verhaltens hin, sowie darauf hin, ob sich dieses auf andere Kommentarschreiber oder externe Personen(-gruppen) bezog. Santana (2014, S. 23-26) untersuchte 900 zufällig ausgewählte Kommentare verschiedener Nachrichtenseiten in den USA im Hinblick auf den Einfluss der Identifizierbarkeit der Nutzer. Hier wurden zu gleichen Teilen anonym und nicht anonym abgegebene Kommentare auf neun jeweils dreistufig skalierte Formen nicht zivilen Verhaltens hin untersucht. Alle drei Studien bestätigen grundlegend die ihnen zugrunde liegende Prämisse, wonach Online-Leserkommentare anfällig seien für aggressive und konfrontative Äußerungen. Oder wie Coe et al. (2014, S. 673) es ausdrücken, zeigen die Ergebnisse „very clearly that incivility is a common feature of public discussions.“ Während die Ergebnisse von Coe et al. (2014, S. 673-676) auf eine entscheidende Rolle kontextueller Faktoren bezüglich des Ausmaßes aggressiver Beiträge hindeuten, zeigt Rowe (2014, S. 11-12) im Vergleich zum FacebookAuftritt der Washington Post, dass seine untersuchten Online-Leserkommentare statistisch signifikant eher von negativ-aggressiver Tonalität geprägt waren, denn ihre Pendants auf Facebook. Hierzu passt die Beobachtung von Santana (2014, S. 27-28), wonach die nicht-anonym abgegeben Leserkommentare deutlich weniger durch Aggressivität und Negativität geprägt waren denn die anonym abgegeben Kommentare. Fazit Wie die Übersicht in Tabelle 4.2 noch einmal verdeutlicht, implizieren die verschiedenen hier vorgestellten Studien widersprüchliche Resultate. Während einige ein positiv gefärbtes Fazit ziehen (da Silva 2013; vgl. Graham u. Wright 2015; Manosevitch u. Walker 2009; Schuth et al. 2007; Singer 2009), kommen andere zu einer negativeren Schlussfolgerung (vgl. Coe et al. 2014; Díaz Noci et al. 2010; Jakobs 2014; Kersting 2005b; Ruiz et al. 2011; Santana 2014) in Bezug auf das Potential von Online-Leserkommentaren als Fokuspunkte einer deliberativen Netzöffentlichkeit zu dienen. Bei vier weiteren Studien (vgl. Freelon 2015; Rowe 2014; Sampaio u. Barros 2012; Strandberg u. Berg 2013) lässt sich keine klare Tendenz in der Interpretation der Resultate ausmachen. Neben ihrem Ergebnis lassen sich die verschiedenen Studien auch grundsätzlich nach ihrem Veröffentlichungsdatum, ihrer Fallzahl (klein mittel0,95 und erweisen sich damit als nahezu perfekt reproduzierbar. Die Kategorien Referenz zum Allgemeinwohl (0,71), Begründung (0,75), diskursiver Protest (0,8) und schließlich demokratischer Respekt (0,89) erzielten ebenso gute bis sehr gute Ergebnisse. Ausschließlich die Kategorie Partikularinteressen (0,47) ließ es nicht zu, zufriedenstellende Ergebnisse zu erzielen. Dies ist aber aus zwei Gründen für diese Arbeit unerheblich. Erstens wies diese Kategorie sehr geringe Varianz auf, was dazu führte, dass trotz einer Übereinstimmung von 94% kein zufriedenstellender Wert berechnet werden konnte. Zweitens wurde die Ausprägung Partikularinteressen insgesamt nur sehr selten codiert und deshalb als irrelevant eingeordnet, wie die Diskussion der Ergebnisse deutlich machen wird. Für die folgenden Auswertungen und Interpretationen ist die Kategorie Partikularinteressen daher nur insofern von Bedeutung, als dass sie zeigt, dass die Äußerung von Partikularinteressen durch Online-Leserkommentare die Ausnahme darzustellen scheint. Diese Folgerung wird durch die hohe Ratio of Coder Agreement (RCA) nach Holsti (0,94) untermauert. Generell ist zur Methode der quantitativen Inhaltsanalyse bei der Untersuchung von Online-Leserkommentaren und vermutlich auch diskursiver Partizipation online generell anzumerken, dass die Codierung eine hohe Herausforderung darstellt. Ursächlich hierfür sind die Spezifika der Online-Kommunikation, wie ihre Kürze, spezifische Ausdrucksweisen und das Voraussetzen von impliziten Informationen. Die Kommentare lassen relativ großen Raum zur Interpretation, weshalb es trotz spezifizierter Codieranweisungen und langer Übung vielfach schwerfällt, eindeutig einen Code zuzuweisen. Vor diesem Hintergrund ist es doppelt 21 Für die Kategorie Rhetorik wurde ein gesonderter Reliabilitätstest mit 50 weiteren Kommentaren durchgeführt, die über hinreichende Varianz verfügten. Die Kategorie Rhetorik ist nominal skaliert. Daher gilt hier der Wert von Krippendorff’s alpha nominal.
202 | DIGITALE DISKUSSIONEN
wichtig, dass die Ergebnisse mit dem Gesamteindruck des Forschers, den dieser während seiner Forschung von den analysierten Kommentaren gewonnen hat, übereinstimmen. Zusammen mit den guten Ergebnissen des Reliabilitätstests können die vorliegenden Daten deshalb als verlässlich betrachtet werden.
7. Online-Leserkommentare und der klassische Leserbrief im Vergleich
Die empirische Analyse folgt der Gliederung des Hypothesenkapitels. In der Hypothesenbildung in Kapitel 5.1 ist ausführlich auf die Unterschiede textlicher, massenmedialer Kommunikation online und via Printmedien eingegangen worden. An dieser Stelle soll nun das entsprechende Hypothesenbündel überprüft werden. Zu Beginn wird hierzu die der Prüfung zugrunde liegende Datenbasis beschrieben, bevor die Ergebnisse der Inhaltsanalyse vorgestellt und interpretiert werden.
F ALLAUSWAHL
UND
D ATENSATZ
Die Fallauswahl für den Vergleich zwischen Leserbrief und dem Online-Leserkommentar - dessen ‚2.0-Version’ - sieht sich einer wesentlichen praktischen Herausforderung gegenüber. Während ein Artikel auf einem reichweitenstarken Online-Nachrichtenportal problemlos mehrere hundert Kommentare an nur einem Tag nach sich ziehen kann, ist das Aufkommen an Leserbriefen viel geringer. Die aktuellsten Daten hierzu liefert Andrea Mlitz (2008) mit ihrer Dissertation. Sie zeigt erstens, dass das Ausmaß an Einsendungen, welche die Tageszeitungen erreichen, stark variiert. Zweitens zeigt sie deutlich, dass trotz des digital massiv vereinfachten Einsendens und Verarbeitens von Leserbriefen, diese quantitativ weit vom Ausmaß der Online-Leserkommentare entfernt sind (vgl. Sehl 2013, S. 112). Während 500 eingehende Leserbriefe pro Woche einen Extremwert darstellen, kann allein eine Kommentarspalte auf einer der meist frequentierten deutschen Nachrichtenseiten wie etwa Zeit Online eine solche Anzahl in wenigen Stunden erreichen.
204 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Diese Diskrepanz ist aus zwei Gründen problematisch. Zum einen beeinflusst das konkrete Thema einer (Online-)Diskussion ihren inhaltlichen Charakter (vgl. Weber 2014), weshalb es sinnvoll erscheint, Beiträge zu einem konstanten Thema zu analysieren, um thematisch bedingte Verzerrungen zu vermeiden. Zweitens kann Deliberation zwischen Leserbriefschreiberinnen unmöglich in einer spezifischen Ausgabe stattfinden, da eine Reaktion aufeinander nur in aufeinander folgenden Ausgaben möglich ist. Dies belegt die Notwendigkeit, eine ganze Leserbriefdebatte über mehrere Ausgaben eines Mediums hinweg zu analysieren. Hinzu kommt, dass trotz vergleichbar hoher Publikationsraten (vgl. Reich 2011, S. 106107; Sehl 2013, S. 112) eine oder nur wenige Ausgaben einer Zeitung eine zu geringe Fallzahl an themenspezifischen Leserbriefen böten, um eine quantitative Inhaltsanalyse gewinnbringend durchzuführen. Eine ganze Debatte über mehrere Kommentarspalten eines Onlinemediums hinweg produziert aber leicht eine unüberschaubare Anzahl an Kommentaren, auf welche sich aus forschungspraktischen Gründen nur durch eine Stichprobenziehung reagieren ließe. Deshalb wurde an dieser Stelle mit der Umbenennung von Straßen und Plätzen gezielt ein lokalpolitisches Thema zur Analyse ausgewählt, obgleich das Gros der vorhandenen Studien sich eher auf Themen von nationaler Bedeutung konzentriert. Dies ist problemlos möglich, da auch ein lokalpolitisches Thema den zentralen Prämissen der Themenfindung, die sich durch das Untersuchungsinteresse dieser Studie konsequenterweise ergeben, gerecht werden kann. Es ist erstens wesentlich, dass es sich um ein politisches Thema handelt, damit von politischer Partizipation die Rede sein kann. Zweitens sollte das Thema von hohem öffentlichem Interesse sein, um hinreichende Partizipation und Rezeption möglich zu machen. Drittens schließlich sollte das Thema kontrovers diskutiert werden, um heterogene und hoch frequentierte Diskussionen hervorzubringen (vgl. Tenenboim u. Cohen 2015; Weber 2014). Das hier gewählte, lokalpolitische Thema wird diesen Anforderungen nicht nur gerecht, sondern weist gegenüber einem größeren, bundesweit relevanten Thema zusätzlich forschungspraktische Vorteile auf. Maßgeblich hierfür sind drei Gründe. Erstens konzentriert sich die Forschung bislang hauptsächlich auf die Analyse von Online-Leserkommentaren auf den reichweitenstarken Seiten der Qualitätsmedien (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 483). Lokale Medien sind bislang nicht in diesem Maße präsent. Hiermit reagiert diese Studie folglich auf einen offensichtlichen Nachholbedarf. Da für die Überprüfung der Hypothesen 2 und 3 ein bundesweit relevantes Thema gewählt wird und dazu Leserkommentare auf den bedeutendsten deutschen Nachrichtenseiten analysiert werden, ist dies auch keine Entscheidung des Entweder-oder, sondern stellt einen zusätzlichen Mehrwert dar. Zweitens berührt die Frage der Umbenennung von
ONLINE-LESERKOMMENTARE UND DER KLASSISCHE LESERBRIEF IM VERGLEICH | 205
Straßen und Plätzen die lokale Identität der Anwohner und hat damit in der jüngeren Vergangenheit in Deutschland zu einem enormen Ausmaß lokalpolitischen Protests und Engagements geführt, von dem auch Leserbriefrubriken nicht unberührt blieben (vgl. Kersting u. Völkler 2012). Eine ausreichende Anzahl an Leserbriefen für die Analyse kann somit sichergestellt werden. Drittens schließlich haben lokale Nachrichtenmedien online viel geringere Nutzerzahlen als national relevante Nachrichtenportale. Somit ist anzunehmen, dass auch die Kommentarzahlen meist in überschaubaren Grenzen bleiben1. Das polarisierende Thema von Straßenumbenennungen sorgt aber dennoch dafür, dass eine hinreichende Fallzahl vorliegt. Somit ist es möglich, ganze Debatten auf Basis von Leserbriefen und Online-Leserkommentaren zu vergleichen. Im Rahmen dieser Studie wurden für den Vergleich zwischen diskursiver Partizipation online und offline insgesamt 381 Leserbriefe und 1.176 Online-Leserkommentare gesichtet. Nach einer grundlegenden Sammlung ähnlich gelagerter lokalpolitischer Konfliktfälle zur Umbenennung von Straßen und Plätzen in Deutschland der Jahre 2012 und 2013 wurden drei Fälle für die Analyse ausgewählt, welche ein relevantes Maß an Partizipation hervorgebracht haben. In den Fällen Essen (Rüttenscheid), Kiel und Münster wurde daraufhin jeweils die wichtigste lokale Nachrichtenzeitung für die Analyse ausgewählt und alle Leserbeiträge per Online-Leserkommentar und Leserbrief mit Bezug zur Debatte in deren wesentlichem Zeitraum gesichert. Die untersuchten Leserbriefe wurden von den jeweiligen Redaktionen bereits für den Leser deutlich erkennbar dem entsprechenden Thema zugeordnet und konnten somit eindeutig ausdifferenziert werden. Die Online-Leserkommentare sind, wie es bei dieser Form der Leserpartizipation gängig ist, einem spezifischen Artikel zugeordnet. Deshalb wurden auf den ausgewählten Online-Nachrichtenportalen mithilfe der integrierten Suchfunktion alle Artikel zum Thema gesucht und die dazu publizierten Leserkommentare in den Gesamtdatensatz aufgenommen. Die Verteilung der analysierten Leserbeiträge auf drei thematisch ähnlich gelagerte Fälle verdeutlicht Tabelle 7.1. Dabei führt die Tabelle die einzelnen Fälle nach Publikationsmedium geordnet auf. Diesen ordnet sie in dieser Reihenfolge das übergeordnete Medienhaus, den Ort der De-
1
Auch wenn diese Arbeit dies nicht systematisch erhoben hat, bestärkte sich dieser Eindruck bei der Analyse der jeweiligen Funktionen für Online-Leserkommentare auf verschiedenen Online-Nachrichtenseiten. Während die großen Nachrichtenportale auch mehrere hundert Kommentare pro Artikel aufweisen konnten, wurden auf den lokalen Nachrichtenseiten viele Artikel gar nicht kommentiert. Dies schien eher die Regel denn eine Ausnahme zu sein. Eine systematische Analyse müsste diesen Eindruck allerdings verifizieren.
206 | DIGITALE DISKUSSIONEN
batte sowie die jeweilige Fallzahl zu. Wie zu Beginn der Operationalisierung erläutert, wurden nur die einzelnen Leserbeiträge, die eine Forderung enthielten, vollständig codiert, wie es beim DQI üblich ist. Die letzte Spalte zeigt die Anzahl dieser Beiträge je Medium und ihren Anteil an den Gesamtkommentaren. Tabelle 7.1: Fallauswahl des Online-Offline-Vergleichs Medium
Medienhaus Stadt
Fallzahl
Vollständig codiert (=n)
der-westen
WAZ
Essen
971 Online-Leserkom-
622 (64,1%)
mentare Westdeutsche Allge-
WAZ
Essen
76 Leserbriefe
76 (100%)
KN
Kiel
205 Online-Leserkom-
151 (73,7%)
meine Zeitung (WAZ) kn-online
mentare Kieler Nachrichten
KN
Kiel
25 Leserbriefe
25 (100%)
(KN) Westfälische Nachrich- WN
Münster 280 Leserbriefe
269 (96,1%)
ten (WN)
Somit liegen dieser Analyse Daten aus drei verschiedenen Kontexten zugrunde. Während für die Fälle Essen und Kiel Daten zu Leserbriefen sowie Online-Leserkommentaren aus Print- und Online-Ausgabe desselben Medienhauses (WAZ und Kieler Nachrichten) vorlagen, wurden im Fall Münster ausschließlich Leserbriefe der Westfälischen Nachrichten ausgewertet. Dies resultiert aus dem Umstand, dass im Fall Münster zum Zeitpunkt der Debatte noch keine Online-Leserkommentarfunktion vorhanden war. Es gibt folglich keine Online-Leserkommentare zum Fall Münster. Da die Datenbasis der zu analysierenden Leserbriefe in Essen und Kiel aber überschaubarer Natur ist, wurde diese um die hohe Anzahl themenspezifischer und publizierter Leserbriefe aus dem Fall Münster ergänzt. Vergleichbare andere Fälle in Garmisch-Patenkirchen, Hamburg oder Voerde ließen nach grundlegender Recherche kein vergleichbares Maß an Leserpartizipation erkennen und wurden deshalb nicht weiter verfolgt, da mit den Leserbriefen und Kommentaren zu den drei oben erwähnten Fällen eine hinreichende Basis für die geplante Untersuchung geschaffen werden konnte. Natürlich erschiene es aus Vergleichsperspektive wünschenswert, wenn für die Münsteraner Leserbriefe ebenfalls ein digitales Pendant vorhanden wäre, da - wie Hypothesenbündel 3 nahelegt -, auch der mediale Kontext Einfluss auf die Gestalt der sich manifestierenden diskursiven Partizipation hat. Die Münsteraner Leserbriefe sind aber notwendig, um eine
ONLINE-LESERKOMMENTARE UND DER KLASSISCHE LESERBRIEF IM VERGLEICH | 207
hinreichende Datenbasis an Leserbriefen zu gewährleisten. Der divergierende Kontext ist bei der Interpretation der Resultate aber stets zu reflektieren. Es ist zu beachten, dass die Unterscheidung zwischen Online- und OfflineMedium auch unterschiedliche Leser-, beziehungsweise Nutzerschaften mit sich bringt (zum Beispiel im Hinblick auf ihren sozio-ökonomischen Status oder ihre politische Einstellung). Hinzu kommt, dass einschlägige Studien nahelegen, dass die Verfasser von Leserbriefen sowie Online-Leserkommentaren nicht repräsentativ für die Leserschaft der Publikationsmedien sind. Daten hierzu sind rar, aber demzufolge ist davon auszugehen, dass sich Publikationskontext sowie Verfasser der Leserbeiträge online und offline deutlich unterscheiden, auch wenn beide Plattformen demselben Medienhaus zuzuordnen sind (vgl. Tenenboim u. Cohen 2015). Demzufolge ist für einen Online-Offline-Vergleich, wie er hier durchgeführt wird, das Diskussionsthema die zentrale Variable für die Vergleichbarkeit. Im Folgenden werden die einzelnen Fälle der Reihe nach präsentiert sowie die jeweilige Datenbasis und ihre Akquise beschrieben. Hierbei wird deutlich, dass die Fälle trotz ihrer Unterschiede und der divergierenden politischen Entscheidungen vergleichbar sind und eine ähnliche Polarisierung hervorgerufen haben. Essen Rüttenscheid: Rüttenscheid ist ein wichtiger, zentral gelegener Stadtteil der Ruhrgebiets-Großstadt Essen. Eine rot-rot-grüne Mehrheit beschloss im Juni 2012 die von Seeckt- und von Eimen-Straßen umzubenennen. Noch im selben Monat wurden 500 Unterschriften für ein Bürgerbegehren gesammelt. Die Initiatoren bemängelten die mangelnde Rücksicht auf die Bürger bei der Umbenennungsentscheidung. Im August hatte die von der CDU unterstützte Bürgerinitiative „ProVon“ genug Unterschriften für einen Bürgerentscheid. Trotz einer Gegenbürgerinitiative und einem stark polarisierenden Wahlkampf stimmten beim Bürgerentscheid am 03.02.2013 bei circa 30% Wahlbeteiligung eine deutliche Mehrheit (79,7%) gegen die Umbenennung und kippten somit die Entscheidung der Bezirksvertretung. Online-Leserkommentare auf der Online Nachrichtenseite der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (der-westen): Auf ihrer Online-Plattform hat die WAZ-Mediengruppe eine klassische Kommentarfunktion implementiert, welche die Kommentare in umgekehrt chronologischer Reihenfolge anzeigt. Um die Funktion zu nutzen, muss eine Registrierung mit gültiger E-Mail-Adresse erfolgen. Das Kommentieren von Artikeln ist dennoch anonym möglich. Nutzerinnen können Kommentare an die Redaktion melden, welche sie für mit den Kommentarregeln unvereinbar halten und direkt auf andere Kommentare mittels einer Antwortfunktion antworten. Weitergehende Funktionen, etwa zur Bewertung von Kommentaren oder deren Sortierung, sind nicht vorhanden. Die Redaktion schaltet sich aber
208 | DIGITALE DISKUSSIONEN
durchaus aktiv in die Diskussion ein, sofern nötig. Die Beiträge müssen zur Veröffentlichung von der Redaktion freigeschaltet werden. Mithilfe der integrierten Suchfunktion der Website wurden alle gefundenen, thematisch passenden Artikel im Zeitraum von Juni 2012 bis Mai 2013 elektronisch gesichert und die veröffentlichten Leserkommentare für die Analyse genutzt. Leserbriefe in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ): Die WAZ verfügt in den Jahren 2012 und 2013 über zwei verschiedene, institutionalisierte Leserbriefbereiche. Im Mantelteil werden auf der zweiten oder dritten Seite der Zeitung zumeist bis zu vier Leserbriefe zu tagesaktuellen Themen veröffentlicht. Parallel ist die zweite Seite des Lokalteils Essen als sogenannte ‚Bürgerseite’ konzipiert. Hier findet sich neben Abdrucken von Online-Beiträgen und Kommentaren zu bürgernahen Themen mit dem ‚Bürgerforum’ eine weitere Rubrik für Leserbriefe. Mit Ausnahme von zwei im Mantelteil erschienenen Leserbriefen, wurden alle analysierten Leserbriefe hier abgedruckt. Es wurden nach Durchsicht aller Ausgaben der WAZ im Zeitraum von August des Jahres 2012 bis Mai 2013 alle thematisch passenden Leserbriefe elektronisch gesichert und ausgewertet. Kiel: Im Januar 2013 brachte die Fraktion der Linken einen Antrag zur Umbenennung der Promenade Hindenburgufer in den rot-grün dominierten Stadtrat der Landeshauptstadt Schleswig-Holsteins ein. Die Verwaltung leitete darauf im März ein öffentliches Verfahren zur Klärung des Sachverhaltes ein. Obwohl der Antrag trotz fraktionsübergreifender Zustimmung erst abgelehnt wurde, blieb das Thema aktuell. Protest gegen eine Umbenennung formierte sich im rechts-konservativen Lager. Im Frühjahr des Jahres 2014 stimmte aber doch eine Mehrheit des Stadtrates für eine Umbenennung des Hindenburgufers. Die Promenade heißt jetzt Kiellinie. Online-Leserkommentare auf der Online Nachrichtenseite der Kieler Nachrichten (kn-online): Auf ihrem Internetauftritt verbinden die Kieler Nachrichten ihre Kommentarfunktion mit einem integrierten Forum. Während erste Kommentare unter dem Artikel angezeigt werden, leitet die Gesamtansicht in das angeschlossene Forum weiter. Um hier zu kommentieren, ist die Registrierung für die Forencommunity mit einer gültigen E-Mail-Adresse notwendig. Anonyme Kommentare unter einem frei wählbaren Nutzernamen sind möglich. Eine spezifische Antwortfunktion gibt es nicht, aber die Möglichkeit, andere Beiträge zu zitieren und somit eine Verbindung herzustellen. Ihrer Meinung nach problematische Kommentare können auch hier Nutzer melden und es stehen anders als bei den meisten Kommentarfunktionen Emoticons zur Verfügung. Mehr Funktionen sind aber nicht vorhanden. Die Beiträge müssen zur Veröffentlichung von der Redaktion freigeschaltet werden. Mithilfe der integrierten Suchfunktion der Website und der Suchmaschine Google wurden alle gefundenen, thematisch passenden Artikel
ONLINE-LESERKOMMENTARE UND DER KLASSISCHE LESERBRIEF IM VERGLEICH | 209
im Zeitraum von Januar 2013 bis Januar 2014 elektronisch gesichert und die veröffentlichten Leserkommentare für die Analyse genutzt. Leserbriefe in den Kieler Nachrichten (KN): Auch die KN verfügen über eine eigene Rubrik für Leserbriefe im Blatt. Die in dieser Arbeit analysierten Briefe sind zum Teil zusammen mit thematisch anders orientierten Zuschriften veröffentlicht worden. Am 16.01.2014 veröffentlichten die KN eine Sonderseite nur mit Leserbriefen zur Umbenennung des Hindenburgufers, von welcher 13 der untersuchten Briefe stammen. Die Leserbriefredaktion der Kieler Nachrichten hat freundlicherweise alle veröffentlichten Leserbriefe zum Thema (laut eigenen Angaben) für die Analyse in elektronischer Form per E-Mail zur Verfügung gestellt. Münster: Der Rat der Stadt Münster beschloss am 21.03.2012 unter großem öffentlichem Interesse die Umbenennung des zentral gelegenen Hindenburgplatzes in Schlossplatz. Dies wurde am 27.06. erneut bestätigt, was durch eine Unterschriftenaktion der Bürgerinitiative „Pro Hindenburgplatz“ erzwungen wurde. Der Rat verwies auf die Empfehlung einer Expertenkommission aus Historikern, während die Bürgerinitiative eine zu geringe Einbindung der Bürger beklagte. Da die Initiative Unterstützer aus allen Bevölkerungsschichten rekrutieren konnte, erreichte sie das entsprechende Quorum und erzwang einen Bürgerentscheid am 16.09.2012. Nach polarisierendem Wahlkampf wurde die Umbenennung knapp mit 59,38% bei 40,3% Wahlbeteiligung bestätigt. Leserbriefe in den Westfälischen Nachrichten (WN): Die Westfälischen Nachrichten verfügen über einen eigens gekennzeichneten Bereich für Leserbriefe im Lokalteil ihrer täglichen Ausgaben. Die untersuchten Leserbriefe wurden hier in unregelmäßigen Abständen veröffentlicht. Es gab ebenfalls mehrere Sonderseiten für Leserbriefe zum Thema im Laufe der Debatte. Weiterhin gibt es wöchentlich einen Bereich für Leserbriefe im Mantelteil der Zeitung. Hier wurde nur einer der in dieser Arbeit untersuchten Leserbriefe veröffentlicht. Es wurden nach Durchsicht aller Ausgaben der WN im Zeitraum von Dezember des Jahres 2011 bis 16. September 2012 alle thematisch passenden Leserbriefe elektronisch gesichert und ausgewertet.
E RGEBNISSE Kernhypothese 1 geht davon aus, dass Online-Leserkommentare und Leserbriefe durch unterschiedliche Kommunikationsformen geprägt sind. Um diese Kernhypothese bestätigen oder widerlegen zu können, wurde ein Bündel aus vier Subhypothesen aufgestellt. Diese werden im Folgenden der Reihe nach diskutiert und die entsprechenden Ergebnisse der Inhaltsanalyse ausgewertet.
210 | DIGITALE DISKUSSIONEN Hypothese 1a: Online-Leserkommentare zeichnen sich gegenüber Leserbriefen durch ein deutlich höheres Maß an wechselseitiger Bezugnahme der Nutzer unter-einander aus.
Subhypothese 1a ist auf Basis der Ergebnisse der DQI-Kategorie Respekt gegenüber Gegenargumenten als bestätigt anzusehen. Eine Übersicht bietet Tabelle 7.2. Diese und die folgenden Tabellen listen in den jeweils linken Spalten die einzelnen Codierungen der Kategorie auf und ordnen diesen in den folgenden Spalten die absoluten und relativen Häufigkeiten des jeweiligen Codes je Debatte zu. Die Kopfzeile bestimmt, auf welches Medium sich die Angaben beziehen. Alle Kategorien wurden vollständig codiert. Das heißt, jedem vollständig analysierten Leserkommentar wurde ein Code zugewiesen, sodass sich die relativen Häufigkeiten spaltenweise immer auf 100% addieren. Die folgenden Tabellen in diesem Auswertungsschritt sind auf dieselbe Weise zu lesen. Die in Tabelle 7.2 dargestellten Ergebnisse der Kategorie Respekt gegenüber Gegenargumenten liefern eindeutige Indizien dafür, dass die Nutzung von OnlineLeserkommentaren zur Integration interaktiver und deliberativer Elemente in der massenmedialen Kommunikation der Nutzerinnen (vgl. Habermas 2008, S. 161) beiträgt. Hierfür sind zwei Argumente wesentlich. Erstens zeigt der Vergleich mit dem klassischen Leserbrief einen deutlichen qualitativen Sprung durch die Online-Leserkommentare. Aufgrund des vergleichsweise anspruchsvollen (vgl. Kies 2010, S. 44-45; Monnoyer-Smith u. Wojcik 2012, S. 33) und kohärenten Interaktivitätsbegriffs, der sowohl eine soziale (formale Interaktion) als auch eine sachliche Bezugnahme (Gegenargument) voraussetzt (vgl. Neuberger 2007, S. 46), fällt der Unterschied von etwas weniger als einem Drittel an deliberativ-interaktiven Online-Leserkommentaren gegenüber den fast ausschließlich nicht-interaktiven Leserbriefen besonders ins Gewicht. Dass Online-Leserkommentare im Vergleich zur hochgradig asynchronen Kommunikationsform des Leserbriefes mehr Interaktivität zwischen den Verfassern hervorbringen, überrascht nicht und war angesichts der bisherigen Forschungsergebnisse zu erwarten. Obwohl dies bereits aus deliberativer Perspektive den qualitativen Sprung von Nicht-Interaktion hin zu Interaktion markiert, ist es bemerkenswert, dass ein relevanter Anteil der Online-Leserkommentare ebenfalls einem anspruchsvolleren Interaktivitätsbegriff gerecht wird.
ONLINE-LESERKOMMENTARE UND DER KLASSISCHE LESERBRIEF IM VERGLEICH | 211
Tabelle 7.2: Respekt gegenüber Gegenargumenten im Online-Offline-Vergleich
Gegenargumente werden ignoriert … negativ erfasst
WAZ
KN
WAZ
KN
WN
(=622)
(n=151)
(=76)
(n=25)
(n=269)
441 (70,9%) 102 (67,5%) 74 (97,4%) 25 (100%) 255 (94,8%) 168 (27%)
34 (22,5%)
1 (1,3%)
0
11 (4,1%)
… neutral erfasst
11 (1,8%)
6 (4,0%)
1 (1,3%)
0
3 (1,1%)
… positiv erfasst
2 (0,3%)
9 (6,0%)
0
0
0
Die vorliegenden Daten liefern bis hier hin keine Aussage über die formale Interaktivität von Leserbriefen und sagen ebenfalls nichts darüber aus, in welchem Maße eine Auseinandersetzung mit Gegenargumenten (etwa aus der öffentlichen Debatte im Allgemeinen oder dem zugehörigen Nachrichtenartikel) stattfindet. Codiert wurde die Auseinandersetzung mit Gegenargumenten von direkten Teilnehmerinnen der jeweiligen Diskussionen, etwa durch Bezugnahme auf einen konkreten Leserbrief oder Online-Leserkommentar oder Ansprache durch Nennung des (Nutzer-)Namens einer Teilnehmerin. Zwar ist auch die Auseinandersetzung mit Gegenargumenten im Allgemeinen aus deliberativer Perspektive erfreulich, aber sie ist strenggenommen kein Indikator von Wechselseitigkeit zwischen den Diskussionsteilnehmern, wie in Kapitel 6 argumentiert wurde. Die interaktive Auseinandersetzung mit Gegenargumenten ist sowohl bei den Leserbriefen der WAZ als auch den WN die absolute Ausnahme. Im Falle der KN konnte kein einziger Fall dokumentiert werden. Obgleich die geringe Anzahl an Leserbriefen aus Kiel keine weitreichenden Folgerungen ermöglicht, bestätigt sich auch hier die Annahme, dass es sich bei einem in einer Zeitung publizierten Leserbrief primär um eine konventionelle Nutzung massenmedialer Kommunikation nach dem Muster one-to-many handelt. Dies meint nicht, dass sich die Verfasserinnen von Leserbriefen nicht mit Gegenargumenten auseinandergesetzt hätten. Aber, wenn dies geschah, dann überwiegend nicht als Antwort auf einen anderen Leserbrief und ohne eine konkrete Person anzusprechen, von der wiederum eine Antwort per Leserbrief erwartet werden könnte (es werden zum Beispiel eher Personen des öffentlichen Lebens, wie Politiker, oder wichtige Akteure in den jeweiligen Debatten, wie zum Beispiel Wissenschaftler, angesprochen). Zwar konnte in einigen wenigen Fällen deliberative Interaktion codiert werden, aber dies ändert nichts daran, dass die vorliegende Erhebung ein deutliches Indiz dafür liefert, dass Leserbriefe sich nicht als Instrument deliberativer Partizipation eignen. Die Tendenz ist eindeutig und stimmt mit den theoretischen Annahmen überein.
212 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Die Daten liefern zusätzlich ein zweites, interessantes Argument für eine Bestätigung der Subhypothese. Die zu beobachtenden Unterschiede zwischen den Leserbriefrubriken untereinander sowie den Online-Leserkommentardiskussionen untereinander sind in der Gesamtauswertung eher gering. Nicht nur die drei analysierten Leserbriefdebatten weisen eine hohe Ähnlichkeit auf, sondern auch die zwei Leserkommentarfälle. Beschränkt sich die Analyse auf die Messung formaler Interaktivität und somit auf die Messung wechselseitiger Bezüge (zum Beispiel durch expliziten Verweis auf einen anderen Leserbrief oder Online-Leserkommentar oder Nutzen der Zitationsfunktion), wie in der Online-Deliberationsforschung üblich (vgl. Kies 2010, S. 44-45; Monnoyer-Smith u. Wojcik 2012, S. 33), wird die Reflexion von Gegenargumenten nicht mehr erhoben. Hierbei wird zweierlei deutlich (siehe Tabelle 7.3). Zum einen schnellen die Werte der Online-Leserkommentare in die Höhe, denn fast jeder zweite ist formal interaktiv. Dies ist ein relativ positives Ergebnis, das dem Trend der bisherigen Forschung voll entspricht und auf veritables Interaktionspotential schließen lässt (vgl. Graham u. Wright 2015; Jakobs 2014; Manosevitch u. Walker 2009; Ruiz et al. 2011; Schuth et al. 2007; Strandberg u. Berg 2013). Dies fällt besonders ins Gewicht vor dem Hintergrund vergleichsweise enttäuschender Ergebnisse ähnlicher Untersuchungen eines vermeintlich interaktiveren Mediums, wie dem Kurznachrichtendienst Twitter (vgl. Larsson u. Moe 2011, S. 741; Tumasjan et al. 2011, S. 407). Die Werte für die Leserbriefe verändern sich demgegenüber nicht nennenswert. Interaktion durch Leserbriefe bleibt die absolute Ausnahme. Die Zahlen zur formalen Interaktivität zwischen Kommentar- und Leserbriefschreibern können als zusätzliches Indiz für die interaktive Natur und Nutzung des Mediums Internet im Vergleich zu klassischen Massenmedien angesehen werden. Tabelle 7.3: Interaktivität Online-Offline-Vergleich WAZ (=622) KN (n=151) WAZ
KN
(=76)
(n=25)
Keine formale Interak- 320
88
74
25
tivität
(58,3%)
(97,4%)
(100%)
63 (41,7%)
2 (2,6%) - (0%)
(51,4%)
Formale Interaktivität 302 (48,6%)
WN (n=269) 246 (91,4%) 23 (8,6%)
Hypothese 1b: Online-Leserkommentare sind stärker als Leserbriefe durch Respektlosigkeit und Aggressivität geprägt.
Die Auswertung der Kategorie Respekt (siehe Tabelle 7.4) bestätigt grundlegend Sorgen aus populärem Diskurs (vgl. Diener 2014; Schade 2015; Spiegel Online
ONLINE-LESERKOMMENTARE UND DER KLASSISCHE LESERBRIEF IM VERGLEICH | 213
2014; Taube u. Schattleitner 2015) sowie kommunikationswissenschaftlichen Interviewstudien mit Journalisten (vgl. Bakker u. Pantti 2009, S. 9; Chung 2007, S. 57-58; Hermida u. Thurman 2008, S. 12-13; Reich 2011, S. 98, 103-104; Thurman 2008, S. 153-155), wonach Leserkommentare in hohem Maße anfällig sind für aggressives und/oder beleidigendes Kommunikationsverhalten und Negativität. Überraschenderweise muss Subhypothese 1b dennoch zurückgewiesen werden. Denn die vorliegenden Daten geben keinen Hinweis darauf, dass der traditionelle Redaktions- und Auswahlprozess von Leserbriefen zu besseren Ergebnissen aus deliberativer Perspektive führt (vgl. de Nève 2013, S. 124). Ganz im Gegenteil fällt die Tonalität der untersuchten Leserbriefe sogar in leichtem Maße negativer aus, als die der parallel untersuchten Leserkommentare. Tabelle 7.4: Respekt im Online-Offline-Vergleich WAZ (=622) KN (n=151) WAZ
KN
(=76)
(n=25)
WN (n=269)
Kein Respekt
289 (46,5%)
54 (35,8%)
39 (51,3%)
7 (28%)
140 (52%)
Neutrale Aus-
324 (52,1%)
94 (62,3%)
30 (39,5%)
18 (72%)
119 (44,2%)
- (0%)
4 (5,3%)
- (0%)
3 (1,1%)
3 (1,9%)
3 (3,9%)
- (0%)
7 (2,6%)
sage Ausgeglichener 4 (0,6%) Re. Expliziter Res- 5 (0,8%) pekt
Zunächst einmal ähneln sich die zwei größeren Datensätze der untersuchten Leserbriefe in hohem Maße. Über die Hälfte aller analysierten Leserbriefe enthalten demnach negative Äußerungen. Anders die Briefe in den Kieler Nachrichten, die mehrheitlich neutral ausfielen. Insgesamt zeigt die Auswertung aber, dass der Ausdruck expliziten Respekts in Leserbriefen nicht erwartet werden sollte. Der Inhalt der Zuschriften ist aus deliberativer Perspektive im Idealfall neutral. Oder eben durch negative Aussagen gegenüber Individuen oder Gruppen geprägt, ob abseits oder an der Diskussion beteiligt. In diesem Punkt zeigt sich eine hohe Ähnlichkeit zu den untersuchten OnlineLeserkommentaren. Auch diese sind in ihrer Tonalität entweder negativ oder neutral. Positive Aussagen spielen in beiden Fällen keine Rolle. Dies scheint somit ein authentisches Bild diskursiver Beteiligung in Online-Leserkommentardebatten in einer aufgeheizten lokalpolitischen Atmosphäre zu vermitteln. Die Ergebnisse stimmen hiermit im Großen und Ganzen mit den Ergebnissen der bisherigen For-
214 | DIGITALE DISKUSSIONEN
schung überein. Verschiedene Studien zeichnen allerdings ein wesentlich düstereres Bild (vgl. Coe et al. 2014, S. 673; Freelon 2015, S. 782; Sampaio u. Barros 2012, S. 199; Santana 2014, S. 27). Das Bild der vorliegenden Ergebnisse ist nicht so negativ, wie von Kommentatoren und Journalisten vielfach angenommen. Auch die insgesamt kritische Einschätzung der einschlägigen Forschung kann nicht uneingeschränkt geteilt werden. Dies hat zwei Gründe. Zum einen ist der Anteil negativer Aussagen zwar relevant, denn immerhin mehr als jeder dritte Kommentar enthält einen negativen Bezug. Aber die negativ konnotierten Aussagen sind dennoch in der Minderheit. Eine Mehrheit der Beiträge ist neutral gehalten und erfüllt damit deliberative Anforderungen. Zum anderen ist der Anteil negativ geprägter Kommentare auf den Online-Plattformen der KN (kn-online) sowie der WAZ (der-westen) niedriger als in den Leserbriefen von WAZ und WN. Ein negativer Einfluss des Internets auf die inhaltliche Qualität der Leserpartizipation geht aus den vorliegenden Daten somit nicht hervor. Der institutionalisierte Selektions- und Begutachtungsprozess der traditionellen Leserbriefe durch die Zeitungsredaktionen scheint in den hier analysierten Fällen keineswegs für ein weniger aggressives Klima in der Debatte zu sorgen. Auch wenn dieses Ergebnis angesichts der Hypothese und ihrer Begründung überrascht, passt es zu einschlägigen Evaluationen, welche in Leserbriefen auch ein Ventil sehen, Emotionen, Ärger und Frust zu artikulieren sowie Politik und politische Akteure kritisch zu adressieren (vgl. Nielsen 2010, S. 33-34; WahlJorgensen 2007, S. 68-71). Eingeschränkt werden muss, dass aus den bisherigen Daten weder hervorgeht, wer mit den negativen Aussagen adressiert wird, noch, wie drastisch die negativen Aussagen ausfallen. Um Letzteres genauer untersuchen zu können, wurde mit dem Code undemokratisches Verhalten eine zusätzliche Differenzierung zur Analyse negativer Aussagen implementiert, die es erlaubt, zwischen aus deliberativer Perspektive zulässigen und unzulässigen negativen Äußerungen zu unterscheiden. Im Vergleich zu ähnlichen Erhebungen erzielt das vorliegende Sample von Leserkommentaren relativ gute Ergebnisse (vgl. Coe et al. 2014, S. 673; Santana 2014, S. 27). Auch im Vergleich zu den Leserbriefen bestätigt sich die bisherige Tendenz grundlegend. Der Anteil undemokratischer Äußerungen an den negativen Äußerungen fällt bei den Einsendungen online höher aus als bei den Leserbriefen. Dies kann zwar als Indiz dafür gedeutet werden, dass sich das traditionelle Gatekeeping im Printjournalismus mäßigend auszuwirken scheint, wie die Subhypothese annahm, aber ein deutlicher Hinweis sieht anders aus. Der anteilsmäßige Unterschied zwischen WAZ-Leserbriefen und Kommentaren auf der-westen verkehrt sich zwar mit Blick auf undemokratisches Verhalten zu Gunsten der Leser-
ONLINE-LESERKOMMENTARE UND DER KLASSISCHE LESERBRIEF IM VERGLEICH | 215
briefe, aber bewegt sich im Rahmen von unter 1%. Tabelle 7.5 zeigt die hier diskutierten Ergebnisse der zusätzlichen Codierung auf undemokratisches Verhalten hin. Tabelle 7.5: Undemokratisches Verhalten im Online-Offline-Vergleich
Undemokratisches
WAZ
KN
WAZ
KN
WN
(=622)
(n=151)
(=76)
(n=25)
(n=269)
119 (19,1%) 13 (8,6%)
14 (18,4%) 4 (16%)
28 (10,4%)
Verhalten Negative Aussage,
174 (28%)
41 (27,2%) 29 (38,2%) 3 (12%)
115 (42,8%)
aber kein undemokratisches Verhalten Neutrale oder posi-
329 (52,9%) 97 (64,2%) 33 (43,4%) 18 (72%) 126 (46,8%)
tive Aussage
Für deliberative Demokraten sind die Ergebnisse dieser Auswertung ambivalent. Mit Blick auf Hypothese 1b sprechen sie aber eine deutliche Sprache. Die Tonalität der untersuchten Leserkommentare ist häufig negativ, aber überwiegend nicht undemokratisch. Die meisten Kommentare sind neutral. Das entspricht nicht deliberativen Idealvorstellungen, aber es scheint ein Minimum prozessualer Egalität gewahrt zu werden, die notwendig ist, damit im deliberativen Prozess kein anderer Zwang als der des besseren Arguments zum Tragen kommt (vgl. Gastil 2008, S. 10; Habermas 1981, S. 47-48; 2009, S. 62; Steiner 2012, S. 121-123). Entgegen Hypothese 1b schnitten die Online-Leserkommentare hierbei sogar leicht besser ab als die Leserbriefe. Die Unterschiede innerhalb der zwei Vergleichsgruppen sind deutlich geringer als die zwischen Online und Offline (Ausnahme sind die Leserbriefe der KN, die aufgrund ihrer geringen Fallzahl, aber nicht überinterpretiert werden sollten). Dies spricht dafür, dass an dieser Stelle der Effekt des Mediums größer sein könnte als der des Falls. Vergleicht man die beiden OnlineDiskussionen, fällt allerdings auf, dass die Kommentare auf kn-online konstant leicht bessere Werte erreichen, als die auf der-westen. Dieser Trend bestätigt sich auch beim Blick zurück auf die Kategorie Respekt gegenüber Gegenargumenten (siehe Tabelle 7.2). Der Unterschied macht sich vor allem am Ausmaß neutraler und positiver Thematisierungen von Gegenargumenten fest. Dies ist auf der-westen kaum von Bedeutung, repräsentiert auf kn-online aber immerhin ein Zehntel der untersuchten Kommentare. Dies deutet auf ein insgesamt gemäßigteres Diskussionsklima hin. Ein Vergleich mit vorliegenden Forschungsergebnissen wird durch die Unterschiedlichkeit der komplexeren Interaktivitätsmessungen (vgl. Díaz Noci et al. 2010; Sampaio u. Barros 2012; Strandberg
216 | DIGITALE DISKUSSIONEN
u. Berg 2013) erschwert. Die Auswertung an dieser Stelle stimmt aber insofern mit vorliegenden Untersuchungen überein, als dass sie ebenfalls keinen Anlass zu deliberativer Euphorie bietet. Wenn Gegenargumente auf interaktive Weise diskutiert werden, dann überwiegend in negativer Tonalität. Dies gilt sowohl für Leserkommentare als auch für Leserbriefe und lässt eher auf aggressive, antagonistische Debatten schließen, denn auf deliberativ konsensorientierte. Dies mag vor dem Hintergrund der insgesamt aggressiv geführten öffentlichen Debatten zwar nicht überraschen, ist aus deliberativer Perspektive aber dennoch kein besonders gutes Resultat. Bezüglich der Tonalität der Leserbeiträge ist zu resümieren, dass die untersuchten Leserbriefe anders als angenommen schlechter abschnitten als ihr digitales Pendant. Hypothese 1b ist deshalb zurückzuweisen. Hypothese 1c: Online-Leserkommentare sind von geringerer Rationalität geprägt als Leserbriefe.
Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen Hypothese 1c nur zum Teil. Nur selten wurde im Falle der Leserbriefe keine kausale Struktur codiert. Die entsprechenden Werte liegen zwischen etwa 8% und 15%. Anders sieht es bei den OnlineKommentaren aus: Hier konnte bei etwa jedem fünften Leserkommentar keine kausale Struktur festgestellt werden (siehe Tabelle 7.6). Dies ist ein sichtbarer Unterschied, für den die unmittelbare und direkte Natur des Leserkommentarschreibens eine einleuchtende Erklärung bietet. Wenn es so leicht möglich ist, einen Kommentar abzusetzen, scheint es folgerichtig, dass auch einige unbegründete Meinungsäußerungen darunter sind. Ausnahme ist die WAZ: Hier unterscheiden sich die Werte der Leserbriefe kaum von denen der Online-Leserkommentare im zugehörigen Online-Portal der-westen. Von einem qualitativen Unterschied der codierten Begründungen kann insgesamt kaum die Rede sein. In allen codierten Debatten wurde der Code Indirekte Begründung mit Abstand am häufigsten vergeben. Unter 50% Anteil von indirekten Begründungen wurde in keinem Fall gemessen. Dass der Code Indirekte Begründung sehr offen definiert ist, muss hierbei reflektiert werden. Er deckt ein weiteres Feld an möglichen Begründungsversuchen ab als die anderen Codes. Im Vergleich zu vorherigen Analysen ist die Gesamtzahl mindestens indirekt begründeter Online-Leserkommentare bemerkenswert. Bessere Werte sind in den hier ausgewerteten Studien die Seltenheit. Es werden dagegen bereits weit geringere Werte positiv interpretiert (vgl. Graham u. Wright 2015; Manosevitch u. Walker 2009; Ruiz et al. 2011; Sampaio u. Barros 2012; Strandberg u. Berg 2013). Komplexere Operationalisierungen, wie die hier
ONLINE-LESERKOMMENTARE UND DER KLASSISCHE LESERBRIEF IM VERGLEICH | 217
durchgeführte (Janssen u. Kies 2005, S. 327; vgl. Kies 2010, S. 47), kommen dagegen ebenfalls nicht zu allzu optimistischen Folgerungen (vgl. Jakobs 2014; Strandberg u. Berg 2013). Damit bestätigt sich der bisherige Eindruck, dass die vorliegenden Leserkommentare unter deliberativen Gesichtspunkten keineswegs aus dem Rahmen fallen. Die Daten machen deutlich, dass nur wenige Leserinnenbeiträge eine höhere argumentative Qualität aufweisen. Dies gilt sowohl für die Leserbriefe als auch die Leserkommentare online. Dies zeigt, dass das Entwickeln einer qualifizierten Begründung ein aufwendiger Prozess ist, der die entsprechenden Fähigkeiten wie auch die nötige Zeit (vgl. Blank 2013, S. 591; Elster 1998, S. 13; Young 2000, S. 53-57) voraussetzt. Es wird deutlich, dass dies sowohl online als auch klassisch per Leserbrief nicht in ausreichendem Maße gegeben zu sein scheint, um ein hohes Maß an argumentativer Qualität hervorzubringen. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass nicht nur der Online-Leserkommentar (vgl. Díaz Noci et al. 2010, S. 1; Freelon 2015, S. 778-779; Strandberg u. Berg 2013, S. 134), sondern auch der Leserbrief als niederschwellige und direkte Form der Partizipation charakterisiert werden kann, die auch spontan nutzbar ist (vgl. de Nève 2013, S. 124). Dies hat sich durch die Möglichkeit, Leserbriefe per E-Mail einzusenden, deutlich verstärkt. Tabelle 7.6: Niveau der Begründung im Online-Offline-Vergleich WAZ
KN
WAZ
KN
WN
(=622)
(n=151)
(=76)
(n=25)
(n=269)
Keine Begründung
138 (22,2%) 28 (18,5%) 12 (15,8%) 2 (8%)
29 (10,8%)
Indirekte Begrün-
406 (65,3%) 79 (52,3%) 52 (68,4%) 18 (72%) 188 (69,9%)
dung Qualifizierte B.
69 (11,1%)
29 (19,2%) 9 (11,8%)
4 (16%)
34 (12,6%)
Ausführliche B.
9 (1,4%)
15 (9,9%)
1 (4%)
18 (6,7%)
3 (3,9%)
Auch wenn der akademisch-theoretische Diskurs zum Konzept Deliberation immer mehr bereit ist, auch zusätzliche Kommunikationsmodi als zulässigen Bestandteil des deliberativen Prozesses zu akzeptieren, zeigt die Analyse der Kategorien Rhetorik, Storytelling und Selbst-Expression, dass nicht dezidiert rationale Ausdrucksformen tendenziell eher in den untersuchten Leserbriefen vorzufinden sind, denn in ihren Online-Pendants (siehe die Tabellen 7.7, 7.8 und 7.9). Auch hier sind die Ergebnisse aber alles andere als deutlich. Vor dem Hintergrund des sehr umfassend gewählten Zugangs zur Kategorie Rhetorik, bei welcher nur der deutliche Verzicht auf emotional-rhetorische Stilmittel codiert wurde, erklären sich die hohen Rhetorik-Werte (siehe Tabelle 7.7)
218 | DIGITALE DISKUSSIONEN
in allen untersuchten Fällen. Auffällig ist nur das Ergebnis von kn-online, wo in höherem Maße auf Rhetorik verzichtet wird als auf der-westen und auch bei den Leserbriefschreiberinnen. Der Anteil rhetorikfreier Kommentare ist hier ungefähr doppelt so groß wie in den anderen Debatten. Dies bestätigt das Bild einer weniger emotional aufgeheizten Debatte in Kiel im Vergleich zu den anderen zwei Debatten in Essen und Münster, wie es sich während der ersten zwei Hypothesenprüfungen bereits abzeichnete. Nichtsdestotrotz sind alle untersuchten Debatten durch ein hohes Maß an Rhetorik gekennzeichnet, was auf eine wichtige Rolle emotionaler Aspekte in den öffentlichen Debatten schließen lässt. Dies kann vor dem Hintergrund des entsprechend ausgewählten Diskussionsthemas nicht überraschen und deckt sich mit den Ergebnissen von Jakobs (2014, S. 203-204), die ebenfalls ein hohes Maß an Emotionen in deutschen Leserkommentaren aufdeckte. Tabelle 7.7: Rhetorik im Online-Offline-Vergleich WAZ (=622) Keine Rhetorik 44 (7,1%) Rhetorik
KN
WAZ
KN
WN
(n=151)
(=76)
(n=25)
(n=269)
30 (19,9%)
7 (9,2%)
1 (4%)
14 (5,2%)
578 (92,9%) 121 (80,1%) 69 (90,8%) 24 (96%) 255 (94,8%)
Mit Blick auf das Storytelling zeigen sich deutlichere medienabhängige Unterschiede (siehe Tabelle 7.8). Trotz seiner weiten Definition in dieser Untersuchung war Storytelling insgesamt selten, aber immer noch häufiger als in vergleichbaren Untersuchungen, was sich möglicherweise auf Unterschiede in der Operationalisierung zurückführen lässt. Entgegen der Rationalitätserwartung ist Storytelling in den untersuchten Leserbriefen deutlich häufiger anzutreffen als online, was der Tendenz ähnlich gelagerter Studien entspricht. Storytelling scheint zumindest kein online-spezifisches Phänomen zu sein (vgl. Monnoyer-Smith u. Wojcik 2012, S. 39; Pedrini 2014, S. 13). Eine Erklärung hierfür mag in der Länge der Beiträge liegen. Die durchschnittlich längeren Leserbriefe bieten eher noch zusätzlichen Platz, das eigene Argument mit einer Erfahrungsgeschichte zu untermauern. Hierzu passt, dass in allen Fällen ergänzendes Storytelling und damit die ‚deliberativste’ Form des Storytelling am häufigsten codiert wurde. Hier unterscheiden sich die untersuchten Leserbriefe und Online-Leserkommentare nicht.
ONLINE-LESERKOMMENTARE UND DER KLASSISCHE LESERBRIEF IM VERGLEICH | 219
Tabelle 7.8: Storytelling im Online-Offline-Vergleich
Kein Storytelling
WAZ
KN
WAZ
KN
WN
(=622)
(n=151)
(=76)
(n=25)
(n=269)
515 (82,8%) 115 (76,2%) 51 (67,1%) 15 (60%) 168 (62,5%)
Unfokussiertes St. 47 (7,6%)
16 (10,6%)
9 (11,8%)
3 (12%)
53 (19,7%)
Begründendes St.
7 (1,1%)
0
2 (2,6%)
0
4 (1,5%)
Ergänzendes St.
53 (8,5%)
20 (13,2%)
14 (18,4%) 7 (28%)
44 (16,4%)
Ähnlich sind die Ergebnisse in der Kategorie Selbst-Expression (siehe Tabelle 7.9). Es finden sich in den analysierten Leserbriefen eher Bezüge zur eigenen Person als in den Online-Leserkommentaren. Wenn Selbst-Expression codiert wurde, war sie mehrheitlich als dominant einzuschätzen. Dies ist aus deliberativer Perspektive ein weniger wünschenswertes Ergebnis als im Fall des Storytellings, obgleich dies nur eine Minderheit der codierten Lesermeinungen betrifft. In keiner der analysierten Debatten überstieg der Anteil der Selbstreferenzen die 50%Marke. In Anbetracht fehlender Vergleichsdaten sind die Ergebnisse schwer einzuschätzen. Da Robertson et al. (2010, S. 21) in Facebook-Kommentaren eher eine Tendenz zu auf andere denn auf sich selbst gerichtete Pronomen ausmachen, ist dieses Ergebnis aber nicht überraschend. Denn Facebook scheint als soziales Netzwerk viel stärker für digitale Identitätsentwicklung und Expression geeignet als Online-Leserkommentare. Nicht zuletzt könnte die leichtere Identifizierbarkeit auf Facebook dazu beitragen, eher auch die eigene Person mit einer Aussage zu verknüpfen. Dies gilt mit Blick auf diese Untersuchung in der Tat eher für den klassischen Leserbrief als den Online-Leserkommentar, da Leserbriefe nicht anonym veröffentlicht werden. Tabelle 7.9: Selbst-Expression im Online-Offline-Vergleich
Keine S.-E.
WAZ
KN
WAZ
KN
WN
(=622)
(n=151)
(=76)
(n=25)
(n=269)
389 (62,5%) 88 (58,3%) 46 (60,5%) 13 (52%) 147 (54,6%)
Nebensächliche S.-E. 72 (11,6%) Dominante S.-E.
20 (13,2%) 8 (10,5%)
5 (20%)
28 (10,4%)
161 (25,9%) 43 (28,5%) 22 (28,9%) 7 (28%)
94 (34,9%)
Der Blick auf die zusätzlichen Analysekategorien hat die Frage nach dem rationaleren Partizipationsmedium nicht weiter aufklären können. Vielmehr zeigte sich, dass es eher die Leserbriefe sind, die tendenziell emotionaler und expressiver formuliert sind als die Online-Leserkommentare. Dies muss nicht zwingend deren Rationalität einschränken, wie die Diskussion des Storytellings gezeigt hat. Dieses
220 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Ergebnis bestätigt aber bisherige Forschungsarbeiten, die den Leserbrief eher als Instrument individueller Selbst-Expression und der Artikulation persönlicher Erfahrungen beschreiben, denn als deliberatives Partizipationsinstrument (vgl. de Nève 2012, S. 30; Nielsen 2010, S. 32-34; Wahl-Jorgensen 2001, S. 314-318; 2007, S. 68-71). Es kann weiterhin als Indikator dafür aufgefasst werden, dass diskursive Partizipation online eher zu präziseren Ausführungen neigt; sich die Teilnehmer hier tendenziell stärker auf ihre wesentliche Aussage beschränken. Insgesamt ist die Subhypothese damit höchstens teilweise zu bestätigen. Auch, wenn die Ergebnisse darauf hindeuten, dass Nutzerbeiträge in Offline-Medien tendenziell eher begründet sind als in Online-Medien, lassen die Ergebnisse keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu. Die Leserbriefe waren nicht nur eher rational, sondern auch eher emotional und expressiv. Hypothese 1d: Die Debatten in Online-Leserkommentaren sind stärker durch Ungleichheit geprägt als die redaktionell selektierten Leserbriefe.
Es wurde gemutmaßt, dass die Teilnehmerselbstselektion bei Online-Leserkommentaren im Zusammenspiel mit Fragmentierungstendenzen der digitalen Öffentlichkeit gegenüber dem redaktionellen Selektionsprozess von Leserbriefen dazu führt, dass die Partizipation online weniger egalitär abläuft als via Leserbrief (vgl. Nielsen 2010, S. 28; Reich 2011, S. 99-100; Richardson 2004, S. 224-225; WahlJorgensen 2007, S. 220-221). Die Analyse der Wortanzahl (Partizipationsaktsebene), der Anzahl von Beiträgen je Nutzerin (Nutzerebene) sowie der binär codierten Verteilung politischer Positionen (Diskussionsebene) legt aber nahe, diese Hypothese zurückzuweisen (siehe die Tabellen 7.10, 7.11 und 7.12). In der Länge der Beiträge gibt es größere Unterschiede sowohl zwischen Online- und Offline-Beiträgen, als auch der Online- und Offline-Plattformen untereinander, die mutmaßlich strukturell bedingt sind (siehe Tabelle 7.10). Dennoch wird deutlich, dass Leserbriefe im Schnitt mehr Worte beinhalten als Leserkommentare. In Anbetracht der direkten und unmittelbaren diskursiven Partizipation, wie sie online möglich ist, war nichts anderes zu erwarten. Überraschend ist dagegen, die vergleichsweise hohe durchschnittliche Wortanzahl bei den Kieler Nachrichten online. Diese könnte eine Begründung für das relativ gute Ergebnis der Online-Leserkommentare auf kn-online darstellen. In der Forschung wird die Länge eines Beitrags vereinzelt als Indikator für dessen Rationalität herangezogen (vgl. Desquinabo 2008, S. 6-7; Halpern u. Gibbs 2013, S. 1163; Schuth et al. 2007, S. 2-4; Trice 2010, S. 195). Ein Erklärungsansatz hierfür bietet wiederum die Forenstruktur, in welche die Leserkommentare der Kieler Nachrichten eingebunden sind und welche gegenüber der chronologischen Listung der Leserkommentare,
ONLINE-LESERKOMMENTARE UND DER KLASSISCHE LESERBRIEF IM VERGLEICH | 221
wie im Fall von der-westen, Vorteile haben könnte (vgl. Graham u. Wright 2015, S. 6; Jakobs 2014, S. 202-203). Insgesamt sind sowohl Online-Leserkommentare als auch Leserbriefe äußerst heterogen, was ihre Wortanzahl betrifft. Am ehesten egalitär fällt hier noch die Debatte in der WN aus. Eine deutliche Mehrheit der Leserbriefe überschreitet die Grenze von einhundert Worten. Hier nehmen sich die meisten Verfasser verhältnismäßig viel Raum für ihre Argumentation, den sie auch bekommen. In allen anderen Debatten dagegen sind nicht annähernd so viele Beiträge, die in diese Kategorie fallen. Tabelle 7.10: Länge nach Wortanzahl im Online-Offline-Vergleich WAZ
KN
WAZ
KN
WN
(=622)
(n=151)
(=76)
(n=25)
(n=269)
1-10 Worte
16 (2,6%)
3 (2,0%)
0
0
11-50 Worte
264 (42,4%) 39 (25,8%) 19 (25,0%) 4 (16,0%)
0 13 (4,8%)
51-100 Worte 215 (34,6%) 46 (30,5%) 40 (52,6%) 10 (40,0%) 65 (24,2%) >100 Worte
127 (20,4%) 63 (41,7%) 17 (22,4%) 11 (44,0%) 191 (71,0%)
Durchschnitt
64,2
95,9
78,9
111,0
148,1
Ein deutlicher, medienabhängiger Unterschied zeigt sich dagegen bei der Anzahl der Beiträge pro Teilnehmerin (siehe Tabelle 7.11). Leserbriefe sind überwiegend one timer. Über 80% aller Leserbriefschreiber hat einmal und somit exakt gleich häufig partizipiert. Der Anteil besonders a0ktiver Teilnehmer ist hier relativ gering. Das mag als Indiz einer egalitären Diskussionskultur gelten, aber aus deliberativer Perspektive ist wiederholte Partizipation wünschenswert, wenn nicht sogar zwingend, da Deliberation einen fortlaufenden Diskussionsprozess beschreibt. Es ist aus deliberativer Perspektive wenig erstrebenswert, einmal seine Meinung zu sagen und sich dann aus der Diskussion zurückzuziehen. Ziel ist der fortwährende Austausch, der im Idealfall in einen Konsens oder Kompromiss mündet. Weiterhin ist es folgerichtig, dass die Dominanz weniger besonders aktiver Diskutanten in einem Umfeld stärker ist, wo sich alle anderen nur minimal beteiligen, als in einem Umfeld, in welchem sich mehrere Diskutanten häufiger in die Debatte einschalten und mehrere Kommentare, beziehungsweise Leserbriefe, verfassen. Da anzunehmen ist, dass sich Redaktionen bei der Selektion von Leserbriefen eher gegen die Veröffentlichung mehrmaliger Zuschriften einer Person entscheiden (vgl. Reich 2011, S. 99-100), ist dieser Unterschied unmittelbar auf das Publikationsmedium zurückzuführen. Aus dieser Perspektive gewinnen die Debatten auf Basis von Online-Leserkommentaren gegenüber den Leserbriefen somit an egalitärer Qualität. Zwar ist auch in beiden untersuchten Online-Debatten die Anzahl
222 | DIGITALE DISKUSSIONEN
der one timer hoch, sodass jeder zweite Kommentar von einem solchen one timer stammt, aber deutlich geringer als im Falle der Leserbriefe. Eine relevante Anzahl an Nutzern partizipiert zumindest mehrfach und trägt somit zu einer egalitäreren Debatte bei. Zwar sind die hier analysierten Online-Diskussionen mit Blick auf die Anzahl individueller Beiträge keineswegs als egalitär zu bezeichnen, die Daten können sich im Vergleich zu anderen Fallstudien aber durchaus sehen lassen. Die Anzahl an one timern ist vergleichsweise niedrig, obgleich einzuschränken ist, dass die Verfasserinnen in der vorliegenden Untersuchung die Möglichkeit hatten, mehrere Artikeln zu kommentieren, um hier nicht als one timer geführt zu werden. Ruiz et al. (2011, S. 476) verglichen Leserkommentare auf fünf einflussreichen europäischen Nachrichtenportalen. Die Anzahl der Nutzer, die exakt einen Kommentar beisteuerten, reicht von einem immer noch hohen Minimum von 72,2% (ElPaís.com) bis zu einem Maximum von 95,5% (LeMonde.fr). Dies deckt sich mit den Ergebnissen von Diaz Noci et al. (2010, S. 14). Die Ergebnisse hier sind ebenfalls nicht höher als in vergleichbaren Studien mit Fokus auf andere Plattformen, wie zum Beispiel Facebook (vgl. Halpern u. Gibbs 2013, S. 1164; Robertson et al. 2010, S. 17). Tabelle 7.11: Anzahl der Beiträge pro Verfasserin im Online-Offline-Vergleich WAZ
KN
(n=235)
(n=77)
One timer
120 (51,1%) 47 (61%)
One timer
Zwei bis
99 (42,1%) 27 (35,1%) Zwei bis
zehn Bei-
drei Bei-
träge
träge
Über zehn Beiträge
16 (6,8%)
3 (3,9%)
Über drei
WAZ
KN
WN
(n=61)
(n=24)
(n=213)
49 (80,3%) 23 (95,8%) 179 (84%) 12 (19,7%) 1 (4,2%)
26 (12,2%)
0
8 (3,8%)
0
Beiträge
Überraschend eindeutig ist das Bild auf allen analysierten Plattformen mit Blick auf die Verteilung von Pro- und Contra-Positionen. Sowohl in Online-Leserkommentaren als auch in Leserbriefen dominieren die Beiträge, die sich gegen eine Umbenennung aussprechen, in quantitativer Hinsicht eindeutig. Während in allen Debatten über die Hälfte aller Beiträge einer ablehnenden Contra-Haltung zugeordnet wurden, erreichen die Beiträge, die eine eindeutige Tendenz pro Umbenennung aufweisen, keine 40%. Am Höchsten ist ihr Wert noch bei den Leserbriefen der WAZ mit 39,5%. Dennoch liegen sie damit numerisch mit knapp 16 Prozentpunkten hinter den, eine Umbenennung der von Seeckt- und von Eimen-Straßen
ONLINE-LESERKOMMENTARE UND DER KLASSISCHE LESERBRIEF IM VERGLEICH | 223
ablehnenden, Leserbriefen. Von einem hohen Maß an Egalität kann aus kollektiver Perspektive daher in keiner der Debatten die Rede sein. Die ablehnenden Contra-Meinungen dominieren in jedem hier untersuchten Fall. Die Studie von Richardson und Franklin (2004, S. 459) bietet eine mögliche Erklärung für dieses Ergebnis. In ihrer Analyse von Leserbriefen zu den Wahlen in Großbritannien im Jahr 2001 erklären sie die Selektionskriterien von Zeitungsredaktionen gegenüber Leserbriefen unter anderem wie folgt: „editors select letters not simply according to their newsworthiness but to reflect the identity of the newspaper“. Es erscheint zusätzlich logisch, dass sich politisch eher konservativ orientierte Menschen für den Erhalt eines historischen Straßennamens einsetzen. Für ein tendenziell konservativ geprägtes Nachrichtenmedium, wie zum Beispiel die WN in Münster, ist dies daher ein durchaus überzeugender Erklärungsansatz. Passend hierzu war es in allen drei ausgewählten Fällen die CDU, die in Teilen die Umbenennungsgegner politisch unterstützte. Ein weiterer Erklärungsansatz bietet sich mit Blick auf das Thema der Debatten. In allen drei Fällen wurden die Umbenennungen vom zuständigen politischen Gremium beschlossen. Logischerweise mobilisiert dies zuerst die Widerständler, durch ihre Beteiligung etwas zu bewegen, als diejenigen, die mit dieser Entscheidung von Grund auf einverstanden sind. Demzufolge muss das Übergewicht von Contra-Meinungen nicht überraschen und dessen Bewertung ist ein Stück weit zu relativieren. Tabelle 7.12: Verteilung von Pro- und Contra-Positionierungen im OnlineOffline-Vergleich
Pro
WAZ
KN
(=622)
(n=151)
237 (38,1%) 46 (30,5%)
Neutral 55 (8,8%) Contra
5 (3,3%)
WAZ
KN
(=76)
(n=25)
WN (n=269)
30 (39,5%) 3 (12%)
96 (35,7%)
3 (3,9%)
20 (7,4%)
0
330 (53,1%) 100 (66,2%) 43 (56,6%) 22 (88%) 153 (56,9%)
Erneut lässt sich aus deliberativer Perspektive kein Vorteil für die untersuchten Leserbriefe begründen. Auch wenn der normative Diskurs keine vollständige Egalität fordert und die vorgefundenen Ergebnisse vor dem Hintergrund kontextueller Faktoren nicht überraschen müssen, gestalten sich die Debatten auf beiden Publikationsmedien nicht besonders egalitär für alle Individuen, Gruppen und Meinungen sowie Interessen (vgl. Steenbergen et al. 2003, S. 27; Steiner 2012, S. 32-35; Stromer-Galley 2007, S. 11; Thompson 2008, S. 507). Zum Abschluss ist mit dem Inhalt der Begründung noch auf eine Kategorie einzugehen, die den entwickelten Subhypothesen nicht eindeutig zuzuordnen ist.
224 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Im weiteren Sinne liefert diese Kategorie Aufschluss darüber, inwieweit die Verfasserinnen von Leserbriefen und Online-Leserkommentaren inhaltlich egalitär argumentieren. Orientieren sie sich am Wohl aller gleichermaßen und berufen sich auf eine subjektive Konstruktion des Allgemeinwohls oder berufen sie sich auf ihre individuellen oder Gruppeninteressen? Die Ergebnisse der Kategorie Inhalt der Begründung lassen zwei Schlussfolgerungen zu (siehe Tabelle 7.13). Erstens spielt die Angabe von Partikular- oder Gruppeninteressen im hier definierten Sinne keine Rolle für diskursive Partizipation mit massenmedialer Reichweite. Dies gilt sowohl für den Offline-Fall des Leserbriefs als auch den Online-Fall des Leserkommentars. Die Werte bewegen sich in allen untersuchten Debatten deutlich unter 10%. Auch eine Vermischung von Allgemeinwohl- und Partikularinteressen findet kaum statt; eine überraschend deutliche Ähnlichkeit. Zweitens zeigt sich in den Leserbriefen der WN ein hohes Maß an Verweisen auf das Allgemeinwohl. Ein Ergebnis, das im Falle des Leserbriefs den Annahmen von Wahl-Jorgensen (2007, S. 68) widerspricht, die in ihrem Literaturüberblick davon ausgeht, dass Leserbriefe primär den individuellen Interessen der Verfasserinnen dienen und nicht dem Allgemeinwohl. Dieser Widerspruch ist aber insofern nicht absolut, als dass der hier codierte Verweis auf ein abstraktes Allgemeinwohl nicht zwingend ein Interesse am Allgemeinwohl voraussetzt. Es ist nicht auszuschließen, dass Nutzer sich auf das Allgemeinwohl berufen, um Partikularinteressen zu verschleiern. Im Kontext der bisherigen Ergebnisse bietet sich hierfür eine logische, wenn auch spekulative Erklärung an. Die mangelnde Interaktivität von den Leserbriefschreiberinnen scheint dadurch ausgeglichen zu werden, dass umgangssprachlich versucht wird, eine möglichst breite Masse ihres Publikums ‚ins Boot zu holen’2. Online dagegen dominieren die neutralen Aussagen. Über zwei Drittel aller Kommentare lassen keine klare Tendenz zu partikularen Interessen oder einem Allgemeinwohl erkennen. Wenn sich ein Verweis findet, dann auch digital eher auf das Wohl Aller denn auf partikulare Interessen bezogen. Dies ist in den beiden analysierten Debatten immerhin bei jedem vierten oder fünften Kommentar der Fall. Insgesamt ist dies ein durchaus positives Ergebnis aus deliberativer Perspektive, das den oben beschriebenen Mangel an Egalität etwas abmildert, werden durch die allgemein zustimmungsfähige Konstruktion von Argumenten doch alle potentiell Betroffenen zumindest abstrakt miteinbezogen, was ein wichtiges Kennzeichen deliberativer Diskussionen darstellt (vgl. Bächtiger u. Wyss 2013, S.
2
Eine Vermutung, die sich auf Basis der Auswertungen von Hypothesenbündel 2 im folgenden Kapitel weiter bestätigt. Hier wird ein statistisch signifikanter, negativer Zusammenhang zwischen Interaktion und expliziten Allgemeinwohlreferenzen deutlich.
ONLINE-LESERKOMMENTARE UND DER KLASSISCHE LESERBRIEF IM VERGLEICH | 225
159-160; Bohman 1998, S. 402; Habermas 1995, S. 48, 109; Steiner 2012, S. 8892). Tabelle 7.13: Inhalt der Begründung im Online-Offline-Vergleich WAZ
KN
WAZ
KN
WN
(=622)
(n=151)
(=76)
(n=25)
(n=269)
Partikularinteressen
21 (3,4%)
5 (3,3%)
5 (6,6%)
1 (4%)
13 (4,8%)
Neutrale Aussage
420 (67,5%) 110 (72,8%) 38 (50%)
22 (88%)
118 (43,9%)
Partikular- und Allge-
22 (3,5%)
0
7 (2,6%)
7 (4,6%)
6 (7,9%)
meinwohlinteressen Allgemeinwohl
159 (25,6%) 29 (19,2%) 27 (35,5%) 2 (8%)
131 (48,7%)
Aufgrund der massiven Allgemeinwohlorientierung in den WN-Leserbriefen und den geringeren, aber vergleichsweise ebenfalls hohen Werten der veröffentlichten WAZ-Leserbriefe können die Ergebnisse als Indiz dafür dienen, dass Leserbriefe sich eher am Allgemeinwohl orientieren als Online-Leserkommentare. Dies heißt im Gegenzug aber nicht, dass letztere sich deshalb stärker an Partikular- oder Gruppeninteressen orientieren. Es liegt nahe, in der Länge der Beiträge und ihrer (mangelnden) Interaktivität einen Grund hierfür zu sehen. Insgesamt kann damit nicht davon die Rede sein, dass diskursive Partizipation durch Leserbriefe egalitärer ausgestaltet wäre als durch Online-Leserkommentare. Aus deliberativer Perspektive finden sich auf beiden Seiten manifeste Defizite mit jeweils kleineren Vorteilen für das eine (Leserbrief: kollektive Ebene) oder andere Medium (Online-Leserkommentar: individuelle Ebene) je Indikator. Zwar verweisen die dieser Auswertung zugrunde liegenden Leserbriefe stärker auf das Allgemeinwohl als die Leserkommentare, die Tendenz zu neutralen oder allgemeinwohlorientierten Begründungen findet sich aber auch hier. Zusammenfassung Obgleich sich nicht alle Hypothesen des ersten Hypothesenbündels bestätigten, lieferte die Analyse sehr interessante Ergebnisse. Dies gilt umso mehr für die Subhypothesen, die nicht bestätigt werden konnten. Die Kommunikationsformen der untersuchten Leserbriefe und Online-Leserkommentare unterscheiden sich durchaus in wesentlichen Aspekten voneinander, aber weitaus nicht so stark, wie ursprünglich angenommen wurde. Deshalb ist das zentrale Ergebnis dieser ersten Analyse, dass Leserbrief 1.0 und 2.0 sich aus deliberativen Gesichtspunkten ähnlicher sind, als anzunehmen war.
226 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Am deutlichsten wurde der Unterschied bei der Beantwortung von Hypothese 1a. Es ist deutlich geworden, dass Online-Leserkommentare in relevanterem Ausmaß zu Interaktion und reflexiver Interaktion genutzt werden, als es in den untersuchten Leserbriefen ersichtlich wird. Dass Leserbriefe rationaler ausfallen als Online-Leserkommentare (Hypothese 1c) wurde nicht widerlegt, aber auch nicht in dem Maße bestätigt, wie ursprünglich angenommen. Die Auswertung lässt vier Aussagen zu. Erstens enthält die überwiegende Mehrheit aller untersuchten Beiträge mindestens einen indirekten Begründungsversuch. Zweitens kommen die untersuchten Leserbriefe seltener ohne Begründung aus als die Online-Leserkommentare. Der Unterschied ist vergleichsweise deutlich, aber keineswegs fundamentaler Natur. Drittens ist das argumentative Niveau sowohl in Leserbriefen als auch in Online-Leserkommentaren nicht besonders hoch. Viertens schließlich lassen sich Emotionalität und Expressivität nicht auf die digitale Kommunikation zurückführen. Die Leserbriefe weisen hier höhere Werte auf. Das heißt, weder Leserbriefe noch Online-Leserkommentare in dieser Studie sind in hohem Maße irrational oder von herausragender argumentativer Qualität. Am auffälligsten ist an dieser Auswertung, dass sie eher die Ähnlichkeit der Leserbeiträge online und offline betont denn ihren Unterschied. Nicht bestätigt werden konnten die Hypothesen 1b und 1d. Bei beiden Hypothesen war angenommen worden, dass der Leserbrief aufgrund seiner stärkeren Strukturierung und Einhegung in redaktionelle Selektionsprozesse besser abschneiden würde. Aus deliberativer Perspektive aber sind die Ergebnisse nicht entscheidend besser als die der untersuchten Online-Leserkommentare. Beide Methoden diskursiver Partizipation gegenüber einer massenmedialen Öffentlichkeit sind in hohen Maßen anfällig für negative Äußerungen. Positive, respektbezeugende Aussagen spielen keine wesentliche Rolle. Ebenfalls ausbaufähig ist die Qualität der Beteiligung aus einem deliberativen Egalitätsverständnis heraus. Auch hier ist das Gesamtbild aber keineswegs schlechter als es der aktuelle Forschungsstand von der Netzöffentlichkeit als Ganzes zeichnet. Positiv fiel zudem auf, dass der Rekurs auf ein abstraktes Allgemeinwohl ein durchaus übliches Stilmittel über mediale Grenzen hinweg darstellt. Eine Übersicht über die Hypothesen liefert Tabelle 7.14. Die Hypothesentabellen geben an, ob eine Hypothese überwiegend als bestätigt, zu Teilen als bestätigt oder überwiegend nicht bestätigt angesehen werden kann. Zudem wird das Ergebnis der Hypothesenprüfung prägnant zusammengefasst.
ONLINE-LESERKOMMENTARE UND DER KLASSISCHE LESERBRIEF IM VERGLEICH | 227
Tabelle 7.14: Zusammenfassung der ersten empirischen Analyse nach Hypothesen Hypothese Bestätigt Teilweise bestätigt 1 1a
Nicht
Ergebnis
bestätigt
x x
Die Wechselseitigkeit von Online-Leserkommentaren ist deutlich höher als
die von Leserbriefen. 1b
x
Sowohl Leserbriefe als auch OnlineLeserkommentare sind durch ein hohes
Maß an negativen Äußerungen geprägt. 1c
x
Leserbriefe sind eher begründet als Online-Leserkommentare, aber auch eher emotional-expressiv denn letztere.
1d
x
Aus egalitärer Perspektive sind sowohl
Leserbrief- als auch Online-Leserkommentardebatten von ausbaufähiger Qualität.
8. Deliberative und liberal individualistische Partizipation in Online-Leserkommentaren
An dieser Stelle wird eine Analyse von Online-Leserkommentardebatten auf deliberative sowie liberal individualistische Partizipation hin vorgenommen, um auf vorherrschende Partizipationsmuster schließen zu können. Hiermit wird eine der großen Herausforderungen der Forschung angegangen, die sich bislang vorwiegend auf die inhaltliche Analyse von Online-Leserkommentaren mit Hilfe deliberativer Konzepte beschränkt und somit nur einen Teil der empirischen Realität überzeugend begreifen und erklären kann (vgl. Coleman u. Moss 2012). Auch dieses Kapitel ist in Fallauswahl sowie Ergebnispräsentation unterteilt. Die Ergebnispräsentation wiederum ist dreigeteilt. Eingangs werden die Ergebnisse der Inhaltsanalyse von insgesamt 1.248 Online-Leserkommentaren von sechs der zehn meistgenutzten Nachrichtenseiten in Deutschland prägnant zusammengefasst. Anschließend wird eine operative Minimaldefinition deliberativer Partizipation hergeleitet, um eine, mehrere inhaltliche Merkmale aggregierende, Variable deliberative Partizipation zu erhalten, die in diesem und im Folgekapitel als eigenständige Variable ausgewertet werden kann. Schließlich überprüft dieses Kapitel die einzelnen Hypothesen mithilfe der Berechnung möglicher statistischer Zusammenhänge zwischen inhaltlichen Variablen.
F ALLAUSWAHL
UND
D ATENSATZ
Die Fallauswahl für die Analyse auf die vorherrschende Partizipationsform in Online-Leserkommentaren hin orientiert sich an normativen und empirischen Prämissen. Aus normativen Gesichtspunkten sind Foren zu wählen, die sich als Heimstadt deliberativer Debatten eignen. Im Kontext einer fragmentierten Netzöffentlichkeit (vgl. Bohman 2004, S. 151-154; Fung et al. 2013, S. 33-34) sind
230 | DIGITALE DISKUSSIONEN
dies am ehesten die reichweitenstarken Internetauftritte professioneller Nachrichtenmedien, die Aufmerksamkeit kanalisieren und eine heterogene Öffentlichkeit versammeln (vgl. Mitchelstein u. Boczkowski 2010, S. 1091). Dies erkennt auch Habermas (2006, S. 423), der genauer die Auftritte der Qualitätspresse als Fokuspunkte deliberativen Handelns in der Netzöffentlichkeit beschreibt. Erste Forschung legt nahe, dass insbesondere Dissens mit geäußerten Meinungen Menschen zur Partizipation an Leserkommentardiskussionen motiviert (vgl. Sehl 2013, S. 159-162; Tenenboim u. Cohen 2015, S. 214; Weber 2014, S. 12-13). Deshalb ist es folgerichtig anzunehmen, dass es hier zu heterogenen Diskussionen kommen kann, die im Idealfall als Deliberation bezeichnet werden können. Bei der Fallauswahl geht diese Studie daher einen durchaus üblichen Weg (vgl. Jakobs 2014, S. 199-200; Weber 2014, S. 6) und konzentriert sich folgerichtig an dieser Stelle auf Kommentare auf Nachrichtenseiten, die drei Bedingungen erfüllen: Erstens gehört die Nachrichtenseite zu den zehn meistbesuchten Nachrichtenseiten in Deutschland. Zweitens ist die Nachrichtenseite nicht eindeutig dem Boulevardjournalismus zuzurechnen (, damit wird Bild.de an dieser Stelle exkludiert). Und drittens verfügt die Seite überhaupt über eine Kommentarfunktion (Sueddeutsche.de, Stern.de und n-tv.de fallen daher aus der Untersuchung heraus, Stand: Februar 2014). Damit bleiben sechs Medien, die mittels dieser kriteriengeleiteten Fallauswahl zur Analyse herangezogen werden. Dies sind in der Reihenfolge ihrer Nutzerzahlen: Focus Online, Spiegel Online, Die Welt, FAZ.net, Zeit Online sowie RP Online. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel argumentiert, kann das Thema des zugehörigen Nachrichtenartikels Einfluss auf die Leserkommentare ausüben. Die Flut der täglich eingehenden Kommentare erfordert eine Begrenzung der zur Analyse herangezogenen Fälle. Auch hier entscheidet sich diese Arbeit gegen eine Stichprobenziehung und analysiert stattdessen jeweils vollständige Diskussionen. Das heißt, alle Kommentare zu einem spezifischen Artikel wurden gesichert und untersucht. Pro Medium wurde folglich ein sogenannter Thread vollständig analysiert (Ausnahme ist RP Online, wo aufgrund des geringen Kommentaraufkommens zwei Threads zu Artikeln, die innerhalb einer Stunde veröffentlicht wurden, codiert wurden). Um größtmögliche Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden alle Kommentare zum jeweils ersten Artikel auf den genannten sechs Nachrichtenwebsites untersucht, welcher den Rücktritt des damaligen Landwirtschaftsministers Hans-Peter Friedrich im Zuge der sogenannten ‚Edathy-Affäre’ verkündete und über einen geöffneten Kommentarbereich verfügte. Das Thema eignet sich in besonderem
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 231
Maße für die Analyse, da der Rücktritt Friedrichs die erste Krise der im Jahr 2013 gewählten Regierung Merkel, bestehend aus den Fraktionen von CDU/CSU und SPD markierte. Die Koalitionspartner differierten massiv in ihrer Interpretation der Ereignisse sowie der daraus zu ziehenden Konsequenzen. Dies führte zu einem hohen öffentlichen Interesse an dem Thema. Parallel bildeten sich auf Basis der Parteigrenzen zwei klar umrissene Fronten, welche die öffentliche Meinung prägten. Aufgrund der hohen Veränderlichkeit1 von Kommentarfunktionen war es notwendig, einen aktuellen Fall für die Analyse auszuwählen. Zum Untersuchungszeitpunkt war der Fall ‚Friedrich’ in Anbetracht der Bedeutung eines politisch kontroversen Themas für hinreichende und hinreichend heterogene Partizipation der geeignetste Fall in der deutschen Medienlandschaft (vgl. Sehl 2013, S. 159162; Weber 2014, S. 3, 12-13; Weber 2014, S. 3, 12-13). Der Fall des Rücktritts von Landwirtschaftsminister Hans-Peter Friedrich: Hans Peter Friedrich (CSU) trat am 14. Februar 2014 als Bundeslandwirtschaftsminister zurück. Er war im Zuge staatsanwaltlicher Ermittlungen gegen den SPDBundestagsabgeordneten Sebastian Edathy unter Druck geraten. Es wurde aufgedeckt, dass Friedrich noch als verantwortlicher Bundesminister des Inneren im Herbst 2013 den SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel über die Ermittlungen gegen Edathy informiert hatte. Die Staatsanwaltschaft Berlin kam später zu dem Schluss, er habe damit rechtswidrig gehandelt, trage aber nur eine geringe Schuld, weshalb keine Anklage erhoben wurde. Im Februar 2014 kam es aufgrund des Rücktritts zu größeren Verwerfungen zwischen den Koalitionspartnern CDU/CSU und SPD, da der Verdacht im Raum stand, dass die Informationen von Friedrich über Verantwortungsträger der SPD an Edathy gelangt sein könnten. Dass auf Seiten von CDU/CSU personelle Konsequenzen aus der ‚Affäre’ gezogen wurden, aber nicht auf Seiten der SPD, war Hauptgegenstand der Kontroverse, die auch die analysierten Diskussionen in den Kommentarbereichen prägte. Während die eine Seite Verständnis und Respekt für das Verhalten Friedrichs zeigte und Konsequenzen auf Seiten der Sozialdemokraten forderte, sah die Gegenseite in erster Linie Friedrich in der Schuld und kein nachweisliches Fehlverhalten auf SPD-Seite (Quellen: 1
Die anders gelagerte Studie von Weber (2014, S. 6), der Unterschiede im quantitativen Kommentaraufkommen zu erklären sucht, zeigt mit Blick auf seine Fallauswahl die hohe Veränderlichkeit struktureller Eigenschaften von Kommentarfunktionen. Er analysiert die Kommentarfunktionen von Die Welt, Focus Online und Sueddeutsche.de im Jahr 2008. Die Kommentare bei Die Welt beschreibt er als unmoderiert. Heute arbeitet Die Welt mit einer Kommentarmoderation vor Veröffentlichung. Er schreibt weiter, Focus Online setze keine Registrierung voraus. Dies ist heute anders. Um einen Kommentar zu verfassen, ist ein Benutzerprofil notwendig. Die Süddeutsche hingegen hat ihre Kommentarfunktion mittlerweile gänzlich eingestellt.
232 | DIGITALE DISKUSSIONEN
siehe die entsprechenden Artikel sowie einen Artikel der Berliner Zeitung aus dem September 2014 (vgl. Decker 2014)). Insgesamt erschienen 1.248 Kommentare zu den sieben ausgewählten Artikeln (siehe Tabelle 8.1). Wieder wurden nur die Kommentare vollständig untersucht, die eine Forderung enthielten. Insgesamt wurden 972 Kommentare vollständig analysiert. Eine Übersicht über die Verteilung der Kommentare auf die verschiedenen Medien bietet Tabelle 8.1. Sie zeigt, dass das Kommentaraufkommen deutlich differiert. Ähnlich wie im vorangegangenen Kapitel gibt die Tabelle Auskunft über das Betreibermedium. Da für diese Auswertung jeweils ein DiskussionsThread je Medium vollständig codiert wurde, ist in der zweiten Spalte der zugehörige Artikel aufgeführt, inklusive möglichst exaktem Publikationszeitpunkt, je nach öffentlich einsehbaren Informationen des Betreibermediums. In den Spalten drei und vier finden sich erneut die Angaben über die Kommentare insgesamt sowie die vollständig codierten Kommentare und deren prozentualen Anteil an den Gesamtkommentaren je Medium. Tabelle 8.1: Fallauswahl der zweiten empirischen Analyse Medium Die Welt
Artikel Hans-Peter Friedrich - Protokoll eines
Kommen-
Vollständig
tare
codiert (=n)
244
202 (82,4%)
144
113 (77,1%)
219
180 (82,2%)
Rücktritts (Moche et al. 2014) (veröffentlicht: 14.02.2014) FAZ.net
Friedrich tritt zurück (FAZ.net 2014) (veröffentlicht: 14.02.2014, 16:25 Uhr)
Focus Online
Wie Thomas "Foppermann" Agrarminister Friedrich opferte (Tjong 2014) (veröffentlicht: 14.02.2014, 18:55 Uhr)
RP Online
Hans-Peter Friedrich tritt zurück (Bröcker 22
17 (77,3%)
2014) (veröffentlicht: 14.02.2014, 16:14 Uhr) und Ein Pechvogel stürzt ab (RP Online 2014) (veröffentlicht: 14.02.2014, 17:00 Uhr) Spiegel Online Bundesregierung: Minister Friedrich tritt wegen Fall Edathy zurück (Spiegel Online 2014) (veröffentlicht: 14.02.2014, 16:15 Uhr)
402
298 (74,1%)
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 233
Zeit Online
Minister Friedrich tritt zurück (Zeit Online 217
162 (74,7%)
2014) (veröffentlicht: 14.02.2014, 17:40 Uhr)
E RGEBNISSE Kernhypothese 2 prognostiziert, dass Online-Leserkommentare sowohl Anzeichen deliberativer als auch liberal individualistischer diskursiver Partizipation aufweisen. Anders als bei der vorherigen Hypothesenprüfung bringt diese Studie zur Überprüfung von Hypothesenbündel 2 ein dichotomes, inhaltsanalytisches Instrumentarium zum Einsatz. Dies dient dazu, auf das Vorhandensein von Merkmalen deliberativer und liberal individualistischer diskursiver Partizipation zu schließen. Während mittels einfacher Auswertung der entsprechenden Codierungen bereits eine tendenzielle Beantwortung der Kernhypothese möglich ist, zielen die vier Subhypothesen darauf ab, Zusammenhänge zwischen einzelnen Indikatoren zu prüfen. Hierdurch sollen Rückschlüsse auf die Kohärenz und Relevanz möglicher Partizipationsmuster gezogen werden. Hypothese 2: In Online-Leserkommentaren finden sich sowohl Belege für die deliberative als auch die liberal individualistische Handlungslogik.
Die Ergebnisse der Auswertung der deliberativen und liberal individualistischen Kategorien zeigen Unterschiede sowohl zwischen den einzelnen analysierten Debatten als auch zwischen den einzelnen Indikatoren. Dennoch wird ein Trend in den analysierten Leserkommentaren deutlich. In ihrer Form der diskursiven Partizipation scheinen sich die einzelnen Debatten auf Basis der einzelnen Kategorien nicht fundamental zu unterscheiden. Die Ergebnisse belegen sowohl deliberatives Potential als auch liberal individualistische Einflüsse. Dennoch verteilen sich die Höchstwerte der einzelnen Kategorien auf die verschiedenen Medien und zeigen damit gewisse Unterschiede (RP Online weist einige prozentuale Höchstwerte auf, wird in der folgenden Diskussion aber nicht genannt, da den Ergebnissen wegen der begrenzten Fallzahl nur geringe Aussagekraft zukommt). Zeit Online weist sowohl die höchsten Anteile in den Kategorien Begründung sowie Referenz zum Allgemeinwohl als auch den höchsten Wert im Bereich Selbst-Expression auf. Spiegel Online scheint auf Basis der hier erhobenen Daten die respektvollste Debatte aufzuweisen, zählt aber ebenso die höchsten Werte der Kategorie Monolog. Die stärkste Interaktivität und der höchste Anteil diskursiven Protests finden sich
234 | DIGITALE DISKUSSIONEN
bei Focus Online. Überraschender sind die über alle Debatten hinweg extrem niedrigen Werte in der Kategorie Partikularinteressen. Der Verweis auf individuelle oder kollektive Partikularinteressen scheint für die diskursive Partizipation durch Online-Leserkommentare keine relevante Rolle zu spielen. Der Anteil ist mit 6,1% bei Focus Online noch am höchsten. Insgesamt ergeben sich aus den Ergebnissen vier wesentliche Schlussfolgerungen. Die Tabellen 8.2 und 8.3 stellen die Ergebnisse in der Übersicht dar. Die Tabellen zeigen jeweils in der Kopfzeile die Gesamtanzahl vollständig codierter Leserkommentare und in den einzelnen Zeilen die relativen Anteile sowie absoluten Zahlen an Leserkommentaren pro Medium und insgesamt, welche das in der linken Spalte aufgeführte, indikative Merkmal deliberativer oder liberal individualistischer Partizipation aufweisen. Gefettete Werte zeigen die höchste relative Häufigkeit der untersuchten Threads an. Deliberative Partizipation: Alle Debatten sind vergleichsweise rational. Über zwei Drittel aller codierten Forderungen werden begründet. Dies sind vergleichsweise gute Ergebnisse aus deliberativer Perspektive, entsprechen aber im Großen und Ganzen denen vergleichbarer Arbeiten (vgl. Graham u. Wright 2015; Jakobs 2014; Manosevitch u. Walker 2009; Ruiz et al. 2011; Sampaio u. Barros 2012; Strandberg u. Berg 2013). Mit Blick auf den internationalen Vergleich von Ruiz et al. (2011, S. 477) schlagen sich die deutschen Qualitätsmedien in puncto begründeter Kommentare beachtlich. Die 67,4% an begründeten Kommentaren auf Spiegel Online markieren unter den fünf Medien mit relevantem Kommentaraufkommen den schlechtesten Wert. Bei Ruiz et al. dagegen würden sie sich an zweiter Stelle einordnen. Nur die Kommentare der New York Times weisen dort höhere Werte auf (circa 79 Prozent). Lag der englische Guardian bei Ruiz et al. noch knapp unter dem Wert von Spiegel Online, kommt er in der Studie von Graham und Wright (2015, S. 7) auf etwa 70% begründeter Forderungen. Ein Wert der zumindest eine gewisse Konstanz im Partizipationsverhalten auf ein und demselben Betreibermedium nahelegt. Bezüglich der Interaktivität der untersuchten Online-Leserkommentare halten sich Monolog und Dialog in etwa die Waage. Damit bestätigen die analysierten Debatten den Trend früherer Auswertungen (vgl. Graham u. Wright 2015; Jakobs 2014; Manosevitch u. Walker 2009; Ruiz et al. 2011; Schuth et al. 2007; Strandberg u. Berg 2013). Online-Leserkommentare werden angesichts ihres Rufs überraschend konstant und in vergleichsweise hohem Maße zu wechselseitiger Interaktion genutzt. Alle Debatten sind mehrheitlich zu einem Mindestmaß respektvoll, auch, wenn sich deutliche Unterschiede zwischen dem Höchstwert auf Spiegel Online und dem niedrigsten Wert auf Focus Online von über 30% ergeben. Explizite Referenzen auf das Allgemeinwohl sind in allen untersuchten Fällen vergleichsweise selten. Nur im Fall von Zeit Online übersteigt
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 235
der Anteil an vollständig codierten Online-Leserkommentaren, welche einen Bezug zum Allgemeinwohl enthalten, ein Drittel der Gesamtkommentare. Trotzdem ist der Allgemeinwohlbezug ein relevantes Motiv in den untersuchten Online-Leserkommentaren. Mindestens jeder sechste wurde in jedem Fall entsprechend codiert. Dies bestätigt auch die Ergebnisse der vorangegangenen Auswertung zum Thema Straßenumbenennungen, wo sich die Werte in einem ähnlichen Prozentbereich bewegten. Tabelle 8.2: Häufigkeit indikativer Merkmale deliberativer Partizipation Die
FAZ.net
Welt (202)
Gesamt
Focus On- RP
Spiegel
Zeit
line (180) Online
Online
Online
(17)
(298)
(162)
(972)
(113)
Begründung 69,3%
68,1%
77,8%
23,5%
73,2%
82,1%
73,3%
Dem. Res-
64,9%
67,3%
50,6%
64,7%
85,9%
76,5%
70,9%
Interaktivität 47,0%
43,4%
53,3%
23,5%
36,2%
51,9%
44,9%
Allgemein-
27,4%
31,7%
29,4%
18,8%
35,8%
26,0%
pekt 22,8%
wohl
Liberal individualistische Partizipation: Wie bereits angesprochen, sind Monologe und interaktive Online-Leserkommentare im vorliegenden Datensatz nahezu gleichhäufig. Die Monologe überwiegen allerdings leicht. Einzige Ausnahme ist Spiegel Online mit einem deutlichen Übergewicht an Monologen. Obwohl die Online-Leserkommentare überwiegend ein Mindestmaß an Respekt, im hier operationalisierten Sinne, einhalten, findet sich ein hohes Maß politischer Aggression in den Debatten. Obgleich die Werte hier (mit) am stärksten variieren, ist dieser Indikator mindestens das zweitwichtigste Anzeichen liberal individualistischer Partizipation in den Leserkommentardebatten. Auch mit Blick auf die Tonalität von Online-Leserkommentaren bestätigen die vorliegenden Ergebnisse damit den Trend der aktuellen Forschung (vgl. Coe et al. 2014; Díaz Noci et al. 2010; Jakobs 2014; Ruiz et al. 2011; Santana 2014; Singer 2009). Am konstantesten lesen sich die Ergebnisse der codierten Selbstbezüge durch Pronomina der ersten Person Singular, die in den Debatten zumeist in etwas weniger als jedem dritten Fall codiert wurde. Als irrelevant einzustufen ist der explizite Verweis auf Partikularinteressen. Dies spielte in den untersuchten Debatten keine Rolle.
236 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Tabelle 8.3: Häufigkeit indikativer Merkmale liberal individualistischer Partizipation Die Welt FAZ.net Focus O. RP-On- Sp. O. 202
Zeit O.
Gesamt
113
180
line 17
298
164
969
Diskursiver Protest 53,0%
58,4%
70%
70,6%
37,2%
41,4%
50,3%
Monolog
53,0%
56,6%
46,7%
76,5%
63,8%
48,1%
55,1%
Partikularinteres-
5,0%
5,3%
6,1%
5,9%
2,7%
3,7%
4,3%
29,7%
32,7%
32,8%
41,2%
27,9%
32,7%
30,8%
sen Selbst-Expression
Insgesamt liefert diese erste, allgemeine Auswertung zwei zentrale Implikationen. Erstens prägen sowohl die Indikatoren deliberativer als auch liberal individualistischer Partizipation die analysierten Debatten in relevantem Ausmaß. Zweitens liefern die Daten keinen eindeutigen Hinweis darauf, ob Online-Leserkommentare stärker zu deliberativer oder liberal individualistischer Partizipation genutzt werden. Alle Debatten sind sowohl durch Indikatoren deliberativer als auch liberal individualistischer Partizipation geprägt. Höchstwerte in der Kategorie Begründung schließen zum Beispiel keine hohen Werte im Bereich Selbst-Expression aus, wie der Fall von Zeit Online zeigt. Ob sich innerhalb der Debatten auf unterschiedliche Partizipationsformen schließen lässt, wird mithilfe der im Folgenden diskutierten Hypothesen geprüft. Diese implizieren nicht, dass diese Arbeit annähme, beide Partizipationsformen könnten sich nicht durchmischen. In dieser Studie wird davon ausgegangen, dass sich eindeutige Tendenzen zu einer der zwei Partizipationsformen in den analysierten Kommentaren auffinden lassen. Dazu werden zuerst die Hypothesen 2a1 und 2a2 überprüft. Hypothese 2a1: Deliberative Beiträge sind weniger liberal individualistisch geprägt als nicht-deliberative Beiträge.
Um Hypothese 2a1 zu überprüfen, ist es notwendig, deliberative von nicht-deliberativen Beiträgen zu unterscheiden. Wie bereits mehrfach gezeigt wurde, besteht im akademischen Diskurs keine Einigkeit über die Grenzen deliberativer Partizipation (vgl. Mutz 2008, S. 525). Deshalb arbeitet diese Arbeit eine operative Arbeitsminimaldefinition von Deliberation heraus, die sich auf die zum Einsatz kommenden Kategorien bezieht. Hiermit wird es möglich, ausschließlich als deliberativ eingestufte Beiträge auf Anzeichen liberal individualistischer Partizipation hin zu untersuchen. Diese können dann zum bereits präsentierten Gesamtergebnis in Bezug gesetzt und die obige Hypothese somit verifiziert oder falsifiziert werden.
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 237
Die Diskussion über die entsprechende Minimaldefinition leistet das folgende Subkapitel. Begründung einer operativen Minimaldefinition deliberativer Partizipation Im Zuge der theoretischen Grundlagenarbeit von Kapitel 2 wurden bereits allgemein geteilte Annahmen sowie aktuelle Entwicklungstendenzen bezüglich der konkreten Definition des deliberativen Prozesses deutlich. Im Anschluss an Cohen benennt Habermas in Kapitel 7 „Deliberative Politik“ seines Werks „Faktizität und Geltung“ die sieben entscheidenden Postulate, welche ein deliberatives Verfahren seines Verständnisses nach charakterisieren. Dies wären erstens der argumentative Charakter des diskursiven Austausches und zweitens dessen Inklusivität und Öffentlichkeit. Drittens besteht Freiheit von externen Zwängen sowie viertens Freiheit von internen Zwängen. Es gilt folglich ausschließlich der Zwang des besseren Arguments und die Teilnehmer sind einander gleichgestellt. Fünftes ist das Ziel ein „rational motiviertes Einverständnis“. Habermas entlastet sein Konzept aber sogleich von dieser sehr anspruchsvollen und viel kritisierten Forderung. Er schränkt ein, dass die Beratungen prinzipiell endlos sind und zwischenzeitlich durch Mehrheitsbeschluss beendet werden müssen. Sechstens fordert er, dass sämtliche Themen von allgemeinem Interesse potentiell Gegenstand des deliberativen Prozesses sein können müssen. Siebtens schließlich postuliert er, dass sich die Beratungen auch auf Bedürfnisse und vorpolitische Präferenzen beziehen und damit nicht von einem grundlegenden Wertekonsens abhängig sind (vgl. Habermas 1992, S. 370-371). Die Debatte um den Deliberationsbegriff wurde seitdem nicht nur intensiv weitergeführt; Deliberation muss auch stets als kontrafaktisches Ideal gedacht werden (vgl. Bohman 1998, S. 401; Parkinson 2006, S. 8). Hier mag ein Grund dafür liegen, dass es der wissenschaftlichen Debatte so schwer fällt, sich auf eine Minimaldefinition zu verständigen. Die obige Diskussion, die anhand der Kategorien des DQI geführt wurde, welche wiederum vorrangig auf Basis der oben genannten Postulate von Steenbergen et al. (2003, S. 27) hergeleitet wurden, lässt einige Rückschlüsse über eine mögliche Form einer solchen operativen Minimaldefinition zu. Im theoretischen Kapitel 2 wurden Egalität, Rationalität und Reziprozität als allgemein akzeptierte Prinzipien des habermasianischen Verständnisses von Deliberation als Prozess ausdifferenziert. Dies entspricht nicht nur dem aktuellen Stand der theoretischen Debatte (vgl. Bächtiger et al. 2010; Mansbridge et al. 2010; Mansbridge et al. 2012), son-
238 | DIGITALE DISKUSSIONEN
dern auch dem üblichen Vorgehen der Online-Deliberationsforschung, in der zumeist diese drei Prinzipien auf unterschiedliche Art und Weise operationalisiert werden (vgl. Graham 2015; Kies 2010; Stromer-Galley u. Wichowski 2011). Demzufolge ist es notwendig, operative Mindestanforderungen an die deliberativen Leitprinzipien der Egalität, Rationalität und Reziprozität zu definieren, um eine valide Minimaldefinition zu begründen. Wesentlich hierbei ist, dass nur der Prozess untersucht wird. Mindestanforderungen an vorprozessuale, kontextuelle Faktoren wie die Inklusivität oder die Freiheit von externen Zwängen (vgl. Kies 2010, S. 42) sind logischerweise nicht Bestandteil einer prozessualen Minimaldefinition. Die folgenden Ausführungen erheben keinen Anspruch, diese Frage abschließend zu klären. Dennoch fußt die an dieser Stelle präsentierte Arbeitsminimaldefinition auf zwei Säulen, die sie als logische Konsequenz erscheinen lassen. Sie lässt sich erstens nachvollziehbar auf Basis der Annahmen der deliberativen Theoriedebatte begründen. Die entsprechenden Argumente haben zweitens bereits Anwendung in verschiedenen Arbeiten gefunden. Egalität: Erstens ist ein grundsätzlich respektvoller Umgang miteinander als Ausdruck und Gewährleistung wechselseitiger Egalität zu verstehen. Dies entspricht der habermasianischen Forderung nach interner Freiheit von Zwang (vgl. Habermas 1992, S. 370) und stellt ein gängiges Argumentationsmuster in der Online-Deliberationsforschung dar (vgl. Dahlberg 2001b; Graham u. Wright 2015; Graham u. Witschge 2003; Jankowski u. van Os 2004; Linaa Jensen 2003; Mummery u. Rodan 2013; Papacharissi 2004; Strandberg u. Berg 2013; Wilhelm 1998; Wright u. Street 2007). Um zu einer operativen Minimaldefinition deliberativer Partizipation zu gelangen, ist es notwendig, ein Minimum an wechselseitigem Respekt theoretisch zu definieren und dieses zu operationalisieren. Die OnlineDeliberationsforschung quantifiziert überwiegend negative, aggressive oder beleidigende Aussagen und schließt aus deren Anteil auf die Respekthaftigkeit einer Debatte. Die Diskussion der DQI-Kategorie Respekt im sechsten Kapitel zeigte demgegenüber, dass die Literatur aber überwiegend darin übereinstimmt, dass negative Äußerungen und Unhöflichkeiten, beziehungsweise ein hitziges Diskussionsklima, mit dem deliberativen Prozess durchaus vereinbar sind. Das Ausbleiben nicht genauer spezifizierter, negativer, aggressiver oder beleidigender Äußerungen eignet sich demzufolge nicht als Operationalisierung des erforderlichen Minimums an wechselseitigem Respekt. Es ist deutlich geworden, dass ein entsprechendes Mindestmaß nicht Höflichkeit oder einen gezielt positiven Umgang miteinander voraussetzt, sondern abstrakter die Einhaltung gleicher Grundrechte, welche die egalitäre Teilhabe und Berücksichtigung im deliberativen Prozess gewährleistet (vgl. Bächtiger et al. 2012, S. 17; Dryzek 2000, S. 173-174; Gastil 2008, S. 10; Goodin 2006, S. 185; Habermas 2009, S. 62; Papacharissi 2004, S.
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 239
281; Parkinson 2006, S. 3; Pedrini 2014, S. 11; Steiner 2012, S. 121-123). Wann ein solches Minimum gegeben ist, ist kaum abschließend zu klären. Einen erfolgversprechenden Ansatz, dieses Maß zu operationalisieren, bietet Papacharissis (2004) Unterscheidung zwischen „civil“ und „incivil“, auf die diese Arbeit an dieser Stelle zurückgreifen kann. In Ermangelung einer zufriedenstellenden deutschen Übersetzung nutzt sie Papacharissis (2004, S. 274) Operationalisierung von „civility“ unter der Bezeichnung demokratischer Respekt (für Beispiele, eine ausführlichere Diskussion sowie die Herleitung der Operationalisierung siehe die Ausführungen zur Kategorie Respekt in Kapitel 6), um das Mindestmaß an Respekt, welches nötig ist, damit von deliberativer Partizipation die Rede sein kann, zu definieren. Wird kein demokratischer Respekt codiert, kann ein Online-Leserkommentar folglich nicht als deliberative Partizipation eingeordnet werden. Rationalität: Zweitens besteht der Kern von Deliberation im alleinigen Zwang des besseren Arguments. Deshalb kann deliberative Partizipation unmöglich auf die Begründung aufgestellter Forderungen verzichten. In der Debatte herrscht trotz verschiedener Strömungen Konsens darüber, dass Deliberation eine Begründung erfordert (vgl. Habermas 1995, S. 38; 2008, S. 148; Mansbridge et al. 2010, S. 93-94; Parkinson 2006, S. 3; Steiner 2012, S. 4-5). Die Qualität dieser kann allerdings nicht vorausgesetzt werden, da der Inhalt von Deliberation nicht prädeterminiert ist. Argumente können falsifiziert und durch Lerneffekte optimiert werden. Aufgabe des deliberativen Prozesses ist es schlussendlich, das beste Argument auszudifferenzieren (vgl. Habermas 1995, S. 38; Steenbergen et al. 2003, S. 28). Das Entwickeln einer kausalen Struktur wird in der Online-Deliberationsforschung üblicherweise als Maß der Rationalität einer Aussage operationalisiert (vgl. Janssen u. Kies 2005, S. 327; Kies 2010, S. 99-100) und kann somit konsequenterweise als eine allgemein geteilte Minimalanforderung an die Rationalität einer deliberativ-partizipativen Handlung interpretiert werden. Dies erscheint angesichts der Argumentation bis hier hin konsequent. Dass Deliberation zumindest den Versuch der Begründung voraussetzt, ist bis hier hin deutlich geworden. Dessen Qualität weist auf höher- oder minderwertigere Deliberation hin, bietet sich aber angesichts der dargestellten Debatte nicht als Ausschlusskriterium an. Diese Arbeit operationalisiert die deliberativen Mindestanforderungen an die Rationalität einer Aussage folglich mithilfe ihrer dichotomen Kategorie der Begründung. Nur, wenn eine Begründung codiert wurde, kann somit von deliberativer Partizipation die Rede sein. Reziprozität: Drittens ist Deliberation ein gemeinschaftlicher Prozess. Die Voraussetzung für das Zuhören oder Lesen, die Aufnahme anderer Meinungen und Argumente und schließlich Antworten ist Interaktion (vgl. Goodin 2000, S. 92).
240 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Deliberation wird allgemein akzeptiert als gemeinschaftlicher, dialogischer Prozess konzipiert (vgl. Bohman 1998, S. 402, 407; Goodin 2000, S. 92; Landwehr 2012, S. 360-361). Habermas (1992, S. 370) postuliert im Anschluss an Cohen, dass sich deliberative Beratungen in „argumentativer Form [vollziehen], also durch den geregelten Austausch von Informationen und Gründen zwischen Parteien, die Vorschläge einbringen und kritisch prüfen.“ Das Vorhandensein eines solchen Austausches muss somit konsequenterweise als kleinster gemeinsamer Nenner in puncto Reziprozität angesehen werden. In der Online-Deliberationsforschung wird deshalb oftmals vom Anteil formal interaktiver Beiträge auf die Reziprozität einer Debatte geschlossen (vgl. Graham 2015, S. 252-253; Janssen u. Kies 2005, S. 326-327; Kies 2010, S. 44-45; Monnoyer-Smith u. Wojcik 2012, S. 33; Stromer-Galley u. Wichowski 2011, S. 177-180). Dem schließt sich diese Arbeit an und nutzt die dichotome Unterscheidung zwischen formaler Interaktion und Monolog, um das deliberative Mindestmaß an Reziprozität zu operationalisieren. Wenn von deliberativer Partizipation im Folgenden die Rede ist, muss ein Online-Leserkommentar folglich formal interaktiv codiert sein. Die explizite Referenz auf ein abstraktes Allgemeinwohl, beziehungsweise die gemeinschaftliche Definition dessen, wurde als vierter Indikator deliberativer Partizipation begründet und analysiert. Es wurde im Rahmen der bisherigen Ausführungen aber ebenso deutlich, dass diese Forderung kein konstitutiver Bestandteil von Deliberation ist. Eine Übersicht über die Argumentation findet sich bei Mansbridge et al. (2010). Wenn Online-Leserkommentare im Rahmen dieser Analyse als deliberative Partizipation eingeordnet werden, weisen sie folglich drei inhaltliche Merkmale auf, die mittels des in Kapitel 6 hergeleiteten, dichotomen Inhaltsanalyseinstrumentes operationalisiert werden. Als deliberativer Online-Leserkommentar gilt somit im Folgenden jeder Kommentar, der eine Begründung enthält (beziehungsweise eine kausale Struktur entwickelt), formal interaktiv ist und als demokratisch respektvoll codiert wurde. Nur wenn alle drei inhaltlichen Merkmale vorhanden sind, ist von deliberativer Partizipation die Rede. Hierbei gilt zu beachten, dass die hier entwickelte Definition ausschließlich dem besseren Verständnis diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare dient. Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, die komplexe theoretische Frage nach den Grenzen deliberativer Partizipation zu beantworten. Das heißt, sie erhebt keinerlei Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, sondern macht im Erkenntnisinteresse dieser Studie eine begründete Grenzziehung zwischen deliberativ und nicht-deliberativ möglich, um eine entsprechende Aggregatvariable zu bilden.
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 241
Darüber hinaus handelt es sich um eine Minimaldefinition, weshalb die Einordnung eines Online-Leserkommentars als deliberativ nicht mit der Feststellung hoher deliberativer Qualität verwechselt werden sollte. Zusammenhänge zwischen einzelnen Variablen Um die einzelnen Subhypothesen zu testen, wurden im Rahmen der Auswertung dieses Kapitels nicht nur die relativen Häufigkeiten einzelner indikativer Merkmale verglichen, sondern diese auch auf statistische Zusammenhänge, beziehungsweise Korrelationen untereinander untersucht. Um einen solchen Zusammenhang in einer einzelnen Maßzahl auszudrücken, wurde Pearsons Chi-Quadrat (ab jetzt: Chi-Quadrat-Test) berechnet, was in der empirischen Sozialforschung ein gängiges Vorgehen darstellt. Da Chi-Quadrat aber abhängig von der Fallzahl ist, wurde mit dem Phi-Koeffizienten ein auf Chi-Quadrat basierendes Zusammenhangsmaß berechnet, welches für die Analyse dichotomer, nominalskalierter Variablen sensibel und gängig ist. Mithilfe des Phi-Koeffizienten kann somit die Stärke eines möglichen Zusammenhanges interpretiert werden2. Weiterhin wurden die vorgefunden Zusammenhänge zusätzlich auf Signifikanz überprüft. Bezüglich des Signifikanzniveaus wird auf die in der empirischen Sozialforschung gängigen Grenzwerte zurückgegriffen. Ab einem p-Wert von ≤ 0,05 ist in dieser Arbeit folglich von einem signifikanten Zusammenhang die Rede3. Damit folgt diese Arbeit einem Vorgehen, wie es in der empirischen Sozialforschung allgemein üblich und in verschiedenen, einschlägigen Hand- und Lehrbüchern nachzulesen ist4 (vgl. Benninghaus 2007, S. 89-91; Diaz-Bone 2013,
2
In der Literatur variiert die Interpretation der Grenzwerte der Korrelationskoeffizienten zwischen dem, was als geringer, mittlerer und hoher Zusammenhang interpretiert wird. In dieser Arbeit ist bei Werten von < 0,2 von einem geringen, bei Werten > 0,2 und < 0,5 von einem mittleren, beziehungsweise moderatem und > 0,5 von einem hohen Zusammenhang die Rede.
3
Mithilfe von einem, zwei oder drei Sternchen hinter dem Wert des jeweiligen Korrelationskoeffizienten in den einzelnen Tabellen wird zum Ausdruck gebracht, ob ein signifikanter (*=p ≤ 0,05), ein stark signifikanter (**=p ≤ 0,01) oder ein hochsignifikanter Zusammenhang (***= p ≤ 0,001) vorliegt.
4
Es ist einzuschränken, dass im vorliegenden Fall keine eindeutige Bestimmung der Grundgesamtheit möglich ist. Diese Arbeit schließt sich dem Vorgehen in den hier zitierten, ähnlich vorgehenden Studien an und nutzt dennoch die oben genannten statistischen Berechnungen, um einen Signifikanztest und den Korrelationskoeffizienten zu berechnen.
242 | DIGITALE DISKUSSIONEN
S. 82-85; Kuckartz et al. 2013, S. 88-100, 219-222; Müller-Benedict 2007, S. 187199; Toutenburg et al. 2008, S. 109-113). Es wurden den einzelnen Kommentaren auf Basis ihrer inhaltlichen Merkmale (zum Beispiel, ob ein Kommentar deliberativ oder formal interaktiv ist) dichotome Variablen zugewiesen und auf statistische signifikante Zusammenhänge zwischen dem (Nicht-)Vorhandensein eines bestimmten Merkmals und den Ausprägungen der übrigen, codierten indikativen Merkmale deliberativer und/oder liberal individualistischer Partizipation hin geprüft. Ein Vorgehen, das sich in ähnlicher Form bereits in einigen ähnlichen Forschungsarbeiten findet (vgl. Halpern u. Gibbs 2013, S. 1164; Rowe 2014, S. 10; Santana 2014, S. 26-27). Es gilt als Voraussetzung für einen Chi-Quadrat-Test, dass maximal 20% aller Zellen einer Kreuztabelle eine erwartete Häufigkeit aufweisen dürfen, die kleiner als 5 ist. Dies ist vor allem bei besonders kleinen Stichproben nicht der Fall. In den an dieser Stelle durchgeführten Berechnungen trifft das nur in Ausnahmefällen und hauptsächlich bei der Variable Partikularinteressen zu, da diese nur selten codiert wurde. Auch, wenn die Literatur empfiehlt, in diesen Fällen mit dem exakten Test nach Fisher zu arbeiten, wird an dieser Stelle aufgrund mangelnder Relevanz auf weitere Berechnungen und Interpretationen verzichtet (vgl. Kuckartz et al. 2013, S. 96-97, 221). In den entsprechenden tabellarischen Übersichten wird in diesem Fall mit einem Bindestrich auf den fehlenden Wert verwiesen. Tabelle 8.4 zeigt somit zweierlei. Erstens zeigt sie in der Kopfzeile die Häufigkeit der gemäß oben ausdifferenzierter Minimaldefinition als deliberativ zu bezeichnenden Leserkommentare pro Diskussion. Die untersuchten Online-Leserkommentare wurden folglich auf Basis der oben hergeleiteten Minimaldefinition deliberativer Partizipation zu zwei Gruppen aggregiert, die das Merkmal deliberativ entweder aufweisen oder nicht aufweisen. Zweitens zeigt sie, ob zwischen dem (Nicht-)Auftreten von Merkmalen liberal individualistischer Partizipation und Kommentaren, welche das Merkmal deliberativ aufweisen, ein statistisch signifikanter Zusammenhang besteht und mittels Phi-Koeffizienten verdeutlicht, von welcher Stärke der vorgefundene Zusammenhang ist. Diese und die folgenden Tabellen geben somit Auskunft über die Stärke statistischer Zusammenhänge zwischen einzelnen Variablen. Angegeben wird der Wert des Korrelationskoeffizienten Phi, welcher die Stärke des Zusammenhangs anzeigt. Sternchen hinter diesem Wert weisen auf einen signifikanten Zusammenhang hin. Eingangs dieses Kapitels wurde erläutert, wie die jeweiligen auf Chi-Quadrat basierenden Kennzahlen interpretiert werden. Die folgenden Tabellen sind entsprechend zu lesen und werden daher nicht eigens erläutert.
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 243
Die Ergebnisse bestätigen Subhypothese 2a1 zum Teil. Zuerst ist festzustellen, dass alle untersuchten Debatten über ein relevantes Ausmaß an Kommentaren verfügen, die sich gemäß hier ausdifferenzierter Definition als deliberativ bezeichnen lassen. Mindestens jeder vierte untersuchte Kommentar ist demzufolge deliberativ. Dies spricht für ein veritables deliberatives Potential von Online-Leserkommentaren und widerspricht der kritischen Einschätzung durch Journalisten (vgl. Chung 2007, S. 57-58; Diakopoulos u. Naaman 2011, S. 3-4; Diener 2014; Hermida u. Thurman 2008, S. 12-13; Manosevitch 2011, S. 436-438; Reich 2011, S. 98, 103-104; Taube u. Schattleitner 2015; Thurman 2008, S. 153-155) und Forscher (vgl. Díaz Noci et al. 2010, S. 18; Jakobs 2014, S. 206; Ruiz et al. 2011, S. 482-484; Sampaio u. Barros 2012, S. 200; Singer 2009, S. 490; Strandberg u. Berg 2013, S. 144; Trice 2010, S. 196) gleichermaßen. Andererseits wird deutlich, dass die deutliche Mehrheit von mehr als zwei Dritteln aller Kommentare in jedem Fall nicht den deliberativen Anforderungen gerecht wird. Da hier eine sehr niederschwellige operative Definition deliberativer Partizipation ausdifferenziert wurde, verhindert dies allzu optimistische Schlussfolgerungen aus deliberativer Perspektive. Tabelle 8.4: Einfluss deliberativer Partizipation Die
FAZ.net Focus
Welt
RP
Spiegel
Zeit
Gesamt
Online
Online Online
Online
Deliberativ
29,7%
30,1%
27,2%
5,9%
28,9%
37,7%
29,9%
(=nD)
(60)
(34)
(49)
(1)
(86)
(61)
(291)
Disk. Protest Phi -,429*** -,582*** -,526*** -
-,276*** -,420*** -,411***
Partikularint. Phi -
-
-
-
-
-
-,051
Selbst-Ex-
-,211*
-,028
-
,017
-,053
-,051
Phi -,091
pression
Der angenommene Zusammenhang, nach dem die liberal individualistischen Merkmale in deliberativen Kommentaren vermindert auftreten, bestätigt sich zunächst in allen drei Fällen. Aggregiert man alle sechs untersuchten Debatten, stellt sich der prozentuale Anteil von Leserkommentaren, welche Partikularinteressen, Protest oder Selbst-Expression zum Ausdruck bringen, niedriger dar als in den übrigen (nicht-deliberativen) Leserkommentaren. Allerdings fällt dieser Unterschied nur für die Kategorie Protest statistisch signifikant aus. Wie sich zeigt, besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Artikulation von Protest und Deliberation in allen analysierten Debatten, der als negativ einzuordnen ist. Die Berechnung des Phi-Koeffizienten zeigt konstant einen vergleichsweise deutlichen Zusammenhang mittlerer Stärke an. In den Fällen von FAZ.net und Focus
244 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Online ist der Zusammenhang sogar als hoch zu interpretieren. Wie erwartet worden war und daher nicht unbedingt überraschen kann, deuten die vorliegenden Daten auf einen Gegensatz deliberativer Partizipation und dem Ausdruck von Protest hin. Zwar zeigt die Tendenz auch in den Fällen Selbst-Expression und Partikularinteressen in Richtung einer Bestätigung der Subhypothese, ein statistisch signifikanter Zusammenhang kann aber nicht nachgewiesen werden. Einzig die Kommentare auf FAZ.net weisen einen statistisch signifikanten (negativen) Zusammenhang deliberativer Indikatoren mit Selbst-Expression auf. Der ohnehin niedrige Anteil an Kommentaren inklusive eines expliziten Verweises auf Partikularinteressen ist für eine entsprechende Analyse kaum geeignet. Die Verteilung der wenigen entsprechend codierten Kommentare zeigt noch dazu keine klare Tendenz. In den folgenden Abschnitten findet der Indikator Partikularinteressen deshalb nur Erwähnung, falls eine eindeutige Tendenz erkennbar ist. Andernfalls ist er der Vollständigkeit halber in den Tabellen enthalten, wird aber nicht mehr explizit erwähnt. Insgesamt kann Subhypothese 2a1 somit nur zum Teil bestätigt werden. Unterschiede sind vor allem zwischen den einzelnen Indikatoren deutlich, während die Ergebnisse der einzelnen Debatten relativ konstant ausfallen. Diskursiver Protest steht in einem klaren, signifikant negativen Zusammenhang zu Deliberation. In Bezug auf Selbst-Expression und den Verweis auf Partikularinteressen ist die Subhypothese zurückzuweisen, obwohl die Mehrzahl der Debatten tendenziell den Annahmen der Subhypothese folgt. Ein statistischer Zusammenhang konnte aber nicht nachgewiesen werden. Die empirischen Daten sprechen somit erst einmal gegen ein zusammenhängendes Modell liberal individualistischer Partizipation. Dies ist ein erstes Argument gegen das liberal individualistische Konzept als empirisch angemessenere Beschreibung der Netzrealität im Gegensatz zum deliberativen Ansatz (vgl. Dahlberg 2011, S. 866). Hypothese 2a2: Beiträge, die in stärkerem Maße liberal individualistisch geprägt sind, sind weniger deliberativ als nicht liberal individualistische Beiträge.
Eine Minimaldefinition lässt sich im Fall liberal individualistischer Partizipation nicht begründen (wie im Fall deliberativer Partizipation). Es wurden zwar Indikatoren liberal individualistischer Partizipation begründet, aber, ob diese konstitutive Bestandteile als liberal individualistisch zu bezeichnender diskursiver Partizipation sind, kann auf Basis der vorgetragenen Argumente nicht begründet werden. Hierfür fehlt es an theoretischer Grundlagenarbeit.
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 245
Dennoch lassen sich auch mit Blick auf die Idee liberal individualistischer Partizipation Kommentare theoretisch überzeugend zu Gruppen aggregieren. Hypothese 2a2 wird geprüft, indem der Einfluss des Auftretens liberal individualistischer Partizipationsindikatoren auf die deliberativen Indikatoren hin geprüft wird. Hierzu wurden zwei Werte erhoben. Einmal wurden alle Kommentare, welche mindestens ein Merkmal liberal individualistischer Partizipation aufweisen, auf die drei inhaltlichen Indikatoren deliberativer Partizipation hin untersucht. In einem zweiten Schritt wurde die Auswahl dann auf die Kommentare mit mindestens zwei Merkmalen liberal individualistischer Partizipation verengt. Gemäß Hypothese 2a2 müsste der Effekt hier stärker sein als bei nur einem Merkmal. Somit werden alle Indikatoren liberal individualistischer Partizipation gleich behandelt und dennoch die Bildung einer Aggregatvariable wie bereits im deliberativen Fall möglich. Tabelle 8.5 liefert demzufolge zwei wichtige Ergebnisse. Zum einen gibt sie in der Kopfzeile Aufschluss über den Anteil an Online-Leserkommentaren, die mindestens ein Merkmal liberal individualistischer Partizipation aufweisen. Zum anderen zeigt sie, ob ein statistisch signifikanter Zusammenhang zu den inhaltlichen Merkmalen deliberativer Partizipation erkennbar ist und bringt dessen Stärke zum Ausdruck. Da sich die formalen Kommunikationsformen Monolog und Interaktion wechselseitig ausschließen, wird Interaktivität als Indikator deliberativer Partizipation an dieser Stelle nicht gesondert erhoben. Ein negativer Zusammenhang ist offensichtlich. Tabelle 8.6 ist ebenso zu lesen. Tabelle 8.5: Einfluss eines Merkmals liberal Individualistischer Partizipation Die
FAZ.net Focus
Welt
RP
Spiegel
Zeit
Online
Online
Online
Online
Gesamt
Ein Merk-
77,2%
76,1%
85,6%
88,2%
80,2%
77,8%
79,8%
mal (=nI1)
(156)
(86)
(154)
(15)
(239)
(126)
(776)
Begründung Phi
-,131
-,339*** -,144
Dem. Res-
-,301*** -,347*** -,343*** -
-,129*
-,261*** -,260***
,098
,088
-,003
Phi
-
-,187*** -,211** -,182***
pekt Allgemein- Phi wohl
,019
-,026
-
,047
246 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Tabelle 8.6: Einfluss zweier Merkmale liberal Individualistischer Partizipation Die
FAZ.net Focus
RP
Spiegel
Zeit
Online
Online
Online
Online
58,4%
49,4%
76,5%
40,6%
40,7%
(66)
(89)
(13)
(121)
(66)
(452)
-
-,116*
-,137
-,168***
Welt Zwei Merk-
48,0%
male (=nI2)
(97)
Begründung Phi -,069 Dem. Re-
-,384*** -,193**
Phi -,392*** -,436*** -,311*** -
Gesamt 46,5%
-,333*** -,401*** -,370***
spekt Allgemein- Phi
,163*
,036
-,028
-
,127*
,088
,091**
wohl
Insgesamt wird deutlich, dass nur wenige Kommentare keine Anzeichen liberal individualistischer Partizipation aufweisen. Mehr als vier von fünf Kommentaren weisen mindestens ein Merkmal liberal individualistischer Partizipation auf. Mindestens zwei Merkmale liberal individualistischer Partizipation parallel sind deutlich seltener. Dies ist aber immer noch bei zahlreichen Kommentaren der Fall. Der Anteil reicht von etwa 40% auf Spiegel Online und Zeit Online bis zu fast 58% auf FAZ.net5. Dies kann als Indiz für die Bedeutung liberal individualistischer Merkmale in Online-Leserkommentarspalten verstanden werden. Subhypothese 2a2 kann mit Einschränkungen als bestätigt angesehen werden. Es ist festzustellen, dass der Anteil an Kommentaren mit einer Begründung und ohne undemokratische Äußerungen innerhalb der Kommentare mit mindestens einem Merkmal liberal individualistischer Partizipation tatsächlich geringer ist als an allen (anderen) Kommentaren. Hier stimmen alle analysierten Debatten überein. Dieses Ergebnis kann überraschen vor dem Hintergrund, dass nur eine vergleichsweise geringe Anzahl an exkludierten Kommentaren für diesen Unterschied verantwortlich ist. Dieser Unterschied kann mit Blick auf die einzelnen Debatten und die begründeten Kommentare bereits in den Fällen FAZ.net, Spiegel Online und Zeit Online als statistisch signifikant bezeichnet werden. Beim Ausbleiben von undemokratischem Verhalten zeigt sich in allen Fällen statistische Signifikanz. Hier sind die Zusammenhänge insgesamt auch deutlich stärker; in fast allen Fällen von mittlerer Stärke. Logischerweise weist die Gesamtberechnung in dieser Konsequenz für beide Kategorien einen negativ-signifikanten Zusammenhang sowohl zu mindestens einem als auch mindestens zwei Merkmalen 5
Aufgrund der niedrigen Fallzahl der Kommentare auf RP Online lassen sich keine verlässlichen Rückschlüsse ausschließlich mit Blick auf diese Kommentare ziehen. Daher werden die Werte der Vollständigkeit halber in den Tabellen aufgeführt, bei einer Interpretation aber nicht weiter berücksichtigt.
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 247
liberal individualistischer Partizipation auf. Bei der Betrachtung der begründeten Kommentare überrascht, dass einige Einzelergebnisse weniger eindeutig ausfallen, wenn ein zweites Merkmal liberal individualistischer Partizipation hinzukommt. Dies lässt Zweifel an einer diskursiven Partizipationsform liberal individualistischer Natur aufkommen. Trotzdem bleibt der Zusammenhang in der Aggregation aller Debatten signifikant, wenn er auch gering ausgeprägt ist. Völlig anders verteilen sich die Kommentare mit einer expliziten Referenz zum Allgemeinwohl. In fast allen Fällen übersteigt der Anteil an Kommentaren inklusive Bezug zum abstrakten Allgemeinwohl spätestens bei Hinzunahme eines zweiten Merkmals liberal individualistischer Partizipation den an allen Kommentaren. Dies widerspricht der hier zu überprüfenden Subhypothese eindeutig. Bei Die Welt und Spiegel Online zeigt sich sogar ein signifikanter positiver Zusammenhang zwischen zwei Merkmalen liberal individualistischer Partizipation und einem Bezug zum Allgemeinwohl. In der Gesamtberechnung wird tatsächlich ein signifikant positiver Zusammenhang expliziter Allgemeinwohlreferenzen zu der Voraussetzung mindestens zweier Merkmale liberal individualistischer Partizipation je Kommentar deutlich, obgleich dieser im Vergleich als sehr gering zu bewerten ist. Die drei Indikatoren lassen damit eindeutige Aussagen zu. Die Kategorien Begründung und demokratischer Respekt deuten auf eine Bestätigung der Subhypothese hin, während diese für den Indikator Referenz zum Allgemeinwohl zurückzuweisen ist. Hier wurde sogar das Gegenteil deutlich. Zusammen mit der widersprüchlichen Tendenz der begründeten Kommentare erhält dieses Ergebnis somit eine zweite Implikation. Während die Subhypothese für zwei Indikatoren als bestätigt angesehen werden kann, widersprechen die Ergebnisse gleichsam der Logik einer kohärenten Partizipationsform liberal individualistischer Natur, deren Annahme zur Formulierung der Subhypothese führte. Bislang zeigen sich Protest und Deliberation als Gegensatzpaare, während die zwei übrigen, bislang getesteten Indikatoren liberal individualistischer Partizipation kein ähnlich aussagekräftiges Ergebnis lieferten. Die konstitutiven Indikatoren deliberativer Partizipation stehen in der Tat in einem negativen Zusammenhang zu Merkmalen liberal individualistischer Partizipation, weshalb das Subhypothesenpaar 2a grundlegend als bestätigt angesehen werden kann. Die überraschenden Ergebnisse des Indikators Referenz zum Allgemeinwohl legen allerdings eine Re-Interpretation dessen nahe. Da bereits begründet wurde, dass ein Allgemeinwohlbezug nicht notwendigerweise Bestandteil deliberativer Partizipation ist, schränkt dies die grundlegende Bestätigung der Annahme, wonach liberal individualistisch geprägte Kommentare weniger deliberativ sind, nicht entscheidend ein.
248 | DIGITALE DISKUSSIONEN Hypothese 2b: Beiträge, die von Teilnehmern verfasst wurden, die sich insgesamt nur einmal an der Diskussion beteiligen, sind weniger deliberativ und stärker individualistisch geprägt und vice versa.
Hypothese 2b bestätigt grundsätzlich die bis hierhin deutlich gewordenen Trends im Datensatz. Damit kann die Hypothese zum Teil als bestätigt angesehen werden. Tabelle 8.7 zeigt den Anteil der einzelnen Indikatoren an den Kommentaren, die jeweils die einzigen der Nutzerin in der codierten Debatte sind. Sie gelten somit als sogenannte one timer. Der Anteil an one timern bewegt sich im normalen Rahmen, den der Forschungsüberblick gesteckt hat. Im Vergleich weisen die hier analysierten Debatten mit 64,4 bis 84,6% one timer-Anteil sogar eher geringe Werte aus (vgl. da Silva 2013, S. 106; Díaz Noci et al. 2010, S. 14; Jakobs 2014, S. 201; Ruiz et al. 2011, S. 476; Singer 2009, S. 486; Weber 2014, S. 10). Drei wesentliche Ergebnisse lassen sich aus den Daten herauslesen. Erstens setzt sich der Eindruck einer koheränten Partizipationsform deliberativer Natur fort. Begründungen und Interaktivität sind bei one timern signifikant seltener als bei Teilnehmern, die mehr als einen Kommentar verfasst haben. Der negative Zusammenhang zwischen formaler Interaktion und one timern ist sehr deutlich ausgeprägt und über alle untersuchten Debatten hinweg konstant von mindestens mittlerer Stärke. In zwei Fällen ist er sogar als hoch einzustufen (FAZ.net und Spiegel Online). Diskussion und Deliberation sind fortlaufende Prozesse und folgerichtig kann es kaum überraschen, dass in allen analysierten Debatten deutlich weniger one timer in Interaktionen verstrickt sind als Nutzerinnen, die häufiger partizipieren. Der Umkehrschluss hieraus beinhaltet, dass, wer mehrfach partizipiert, auch interagiert. Obgleich der Zusammenhang beim Indikator Begründung in nur zwei Fällen (Spiegel Online, Zeit Online) statistisch signifikant ausfällt, bestätigen alle Debatten die Tendenz, wonach mehrfach partizipierende Nutzer eher ihre Aussagen zu begründen suchen. In der Gesamtberechnung ergibt sich denn auch ein signifikanter Zusammenhang. Die Absicht zu diskutieren (beziehungsweise zu interagieren) kristallisiert sich heraus, obgleich der statistische Zusammenhang nicht so stark ist, wie im Falle formaler Interaktivität. Spannend ist, dass dies für das Aufrechterhalten minimalen Respekts nicht gilt. Hier findet sich kein relevanter Unterschied. Es setzt sich dagegen das Bild fort, dass ein expliziter Allgemeinwohlbezug nicht in direktem Zusammenhang zu den übrigen Indikatoren deliberativer Partizipation zu stehen scheint. In der Mehrheit der Fälle ist der Anteil allgemeinwohlorientierter Kommentare sogar höher unter den one timern. Auch, wenn in diesem Fall keine eindeutige Tendenz für den Indikator demokratischer Respekt konstatiert werden kann, liefert die Analyse der one timer weitere
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 249
Indizien für eine koheränte Form deliberativer, diskursiver Partizipation ohne expliziten Allgemeinwohlbezug. Zweitens zeigt sich weiterhin, dass der Ausdruck diskursiven Protests einem kohärenten Muster folgt. Protest ist nicht nur unwahrscheinlicher, wenn die zentralen deliberativen Indikatoren zusammen auftreten. Auch Nutzer, die mehrere Kommentare beitragen, protestieren seltener. Dies erscheint logisch. Während dem Ausdruck von Protest mit einem Kommentar Genüge getan sein kann, benötigt eine Diskussion fortlaufende Beteiligung. Dieses Ergebnis bestätigt den Befund von Coe et al. (2014, S. 673), die ihre Analyse zwar nicht auf die Äußerung von Protest beschränken, sondern fünf Arten negativer Formulierungen (eng.: incivility) analysieren. Aber auch sie machen eine Tendenz aus, wonach „it is the occasional commenter who is more likely to be uncivil“. Demzufolge liefert diese Analyse weitere Evidenz für den Gegensatz von Protest und Deliberation. Hinzu kommt die vergleichsweise starke Tendenz von one timern zu Monologen. Es ist nur konsequent, im Falle einmaliger Partizipation auf Interaktion zu verzichten. Tabelle 8.7: Einfluss einmaliger Partizipation (one timer) Die
FAZ.net Focus
Welt
RP
Spiegel
Zeit
Online
Online
Online
Online
Gesamt
one timer
56,4%
37,2%
30,6%
47,1%
56,7%
42,6%
(=nOT)
(114)
(42)
(55)
(8)
(169)
(69)
Begründung Phi -,130
,054
-,052
-
-,193*** -,216**
-,134***
Dem. Re-
-,049
-,019
-
-,042
-,022
Phi -,166*
-,024
47,0% (457)
spekt Inter-
Phi -,372*** -,525*** -,492*** -
-,553*** -,469*** -,485***
aktivität Allgemein- Phi
,096
-,021
,119
-
,022
-,044
,014
Phi
,172*
,203*
,066
-
,197*** ,240**
Monolog
Phi
,372*** ,525*** ,492*** -
Partikular-
Phi -
-
-
-
-
-
,003
Phi -,041
-,146
,051
-
-,001
-,015
-,029
wohl Disk. Pro-
,132***
test ,553*** ,469*** ,485***
int. SelbstExpr.
250 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Drittens wird deutlich, dass abseits der formalen Kommunikationsform und dem Ausdruck von Protest kein Zusammenhang zwischen den zwei übrigen Indikatoren liberal individualistischer Partizipation und der Frage one timer ja oder nein besteht. Die Ergebnisse lassen keinen Rückschluss zu, außer, dass kein Einfluss konstatiert werden kann. Dies muss als weiteres Argument gegen eine liberal individualistische Form diskursiver Partizipation interpretiert werden. Hypothese 2c: Beiträge, die Respektlosigkeiten gegenüber anderen Nutzerinnen enthalten, sind stärker deliberativ geprägt als solche, die sich eher auf Dritte, kollektive oder individuelle politische Akteure beziehen und vice versa.
Bei der Überprüfung von Hypothese 2c stellt sich dieser Arbeit ein praktisches Problem. Es wurde erhoben, ob eine negative Äußerung einem anderen Diskussionsteilnehmer, individuellen sowie kollektiven politischen Akteuren oder einer abstrakten Gegenseite (‚den Anderen’) galt. Der Codiervorgang war exklusiv ausgestaltet. Wenn ein Kommentar eine negative Aussage bezüglich anderer Diskussionsteilnehmerinnen enthielt, wurde dieser entsprechend codiert; unabhängig von möglichen negativen Äußerungen gegenüber einer Gegenseite oder politischen Akteuren. War dies nicht der Fall, wurde codiert, ob eine negative Aussage bezüglich politischer Akteure vorhanden war. Erst, wenn auch dies nicht der Fall war, wurde codiert, ob eine abstrakte Gegenseite negativ adressiert wurde. Hierbei wurde deutlich, dass die überragende Mehrheit aller negativen Äußerungen auf politische Akteure abzielte. Die Teilnehmer adressierten sich untereinander in kaum relevantem Maße negativ. Dies ist ein ebenso überraschendes, wie erfreuliches Ergebnis aus Perspektive der Online-Deliberationsforschung. Es legt ebenso nahe, bei allen künftigen Studien zu codieren, wem negative oder aggressive Äußerungen gelten. Denn es macht nachvollziehbarerweise einen massiven Unterschied für die Ergebnisinterpretation, ob die Teilnehmerinnen sich gegenseitig abschätzig behandeln oder ihren Protest gegenüber politischen Akteuren kundtun, dabei untereinander aber respektvoll Argumente austauschen. Wie Tabelle 8.8 zeigt, ist nur etwa jede zehnte negative Äußerung an einen anderen Diskussionsteilnehmer gerichtet. Aufgrund der begrenzten Aussagekraft der limitierten Fallzahl, fokussiert diese Studie an dieser Stelle auf den hochrelevanten diskursiven Protest, welcher über 85% aller negativen Aussagen auf sich vereint. Subhypothese 2b wird deshalb angepasst als Doppel-Subhypothese 2b1 und 2b2 reformuliert.
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 251
Tabelle 8.8: Negative Äußerungen nach Adressat Diskussionsteilneh-
Politische Akteure
mer
Abstrakte Gegenseite
Die Welt (n=121)
7,4% (9)
88,4% (107)
4,1% (5)
FAZ.net (n=76)
7,9% (6)
86,8% (66)
5,3% (4)
Focus Online (n=144) 9,7% (14)
87,5% (126)
2,8% (4)
RP Online (n=14)
7,1% (1)
85,7% (12)
7,1% (1)
Spiegel
9,8% (13)
84,1% (111)
6,1% (8)
Zeit Online (n=81)
14,8% (12)
82,7% (67)
2,5% (2)
Gesamt (n=568)
9,7% (55)
86,1% (489)
4,2% (24)
Online (n=132)
Hypothese 2c1: Online-Leserkommentare, die diskursiven Protest zum Ausdruck bringen, sind weniger deliberativ geprägt als die Gesamtheit der Kommentare. Hypothese 2c2: Online-Leserkommentare, die diskursiven Protest zum Ausdruck bringen, sind stärker liberal individualistisch geprägt als die Gesamtheit der Kommentare.
Die Überprüfung der zwei neu formulierten Subhypothesen bestätigt den Trend, welcher sich bereits während der ersten zwei diskutierten Subhypothesen deutlich abzeichnete (siehe Tabelle 8.9). Während die Kategorie Selbst-Expression keinen deutlichen Unterschied zur Auswertung aller Kommentare aufweist, widersprechen die Ergebnisse der Kategorie Referenz zum Allgemeinwohl den aufgestellten Hypothesen gar. Alle Debatten zusammengefasst weisen einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Protest und dem Verweis auf das Allgemeinwohl auf, der allerdings erneut sehr gering ausfällt. Begründungen sind in allen Fällen seltener, wenn diskursiver Protest zum Ausdruck gebracht wird. Der Zusammenhang ist für alle Kommentare zusammen von geringer Stärke, in den Fällen von FAZ.net und Focus Online aber immerhin mittelstark. Ein ähnliches Bild zeigt sich mit Blick auf die formale Interaktivität. In allen untersuchten Debatten sind Kommentare, die diskursiven Protest enthalten, deutlich weniger häufig interaktiv als die übrigen Kommentare. Hier ist der Zusammenhang auch eindeutiger ausgeprägt. Es wird in jedem einzelnen Fall statistische Signifikanz deutlich. Ein relativ konstanter, hoher statistischer Zusammenhang ergibt sich schließlich für die Abwesenheit undemokratischer Äußerungen. Damit lässt die Überprüfung dieser reformulierten Doppel-Subhypothese zwei wesentliche Schlussfolgerungen zu.
252 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Tabelle 8.9: Einfluss diskursiven Protests Die
FAZ.net Focus
Welt Diskursiver
RP
Spiegel
Zeit
Online
Online
Online
Online 41,4%
Gesamt
53,0%
58,4%
70,0%
70,6%
37,2%
50,3%
Protest (=nP)
(107)
(66)
(126)
(12)
(111)
(67)
(489)
Begründung Phi
-,132
-,346*** -,233** -
-,050
-,066
-,140***
Dem. Res-
Phi
-,569*** -,474*** -,502*** -
-,426*** -,541*** -,528***
Interaktivität Phi
-,324*** -,457*** -,296*** -
-,220*** -,295*** -,270***
Allgemein- Phi wohl Monolog Phi
,181**
,109
pekt
Partikularint.
,076
-,128
-
,083**
-
,324*** ,457*** ,296*** Phi -
Selbst-Expr. Phi
,053
,026
,206*
,018
-
,220*** ,295*** ,270*** ,059 ,063
-,025
,056
Erstens ist die Doppelsubhypothese zum Teil zu bestätigen und untermauert damit den bereits deutlich gewordenen Trend. Die zwei hier analysierten Partizipationsmodi sind in leichtem Maß konsistent. Sie schließen sich aber ebenso wenig aus. Obgleich die vorgefundenen Zusammenhänge von unterschiedlicher Stärke sind, weist diskursiver Protest, welcher als Indikator liberal individualistischer Partizipation begründet wurde, einen negativen Zusammenhang zu Indikatoren deliberativer Partizipation auf und steht in einem positiven Zusammenhang zum Monolog als Indikator liberal individualistischer Partizipation. Überraschenderweise zeigt sich zwar ein schwacher, aber statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen diskursivem Protest und explizitem Allgemeinwohlbezug, welcher als Indikator deliberativer Partizipation begründet worden war. Da die Indikatoren SelbstExpression und Partikularinteressen keine eindeutigen Ergebnisse liefern, scheinen die vorliegenden Debatten neben deliberativer, in erster Linie durch eine protestorientierte Partizipationsform geprägt zu sein. Die sich abzeichnende Form diskursiven Protests ist eher durch einmalige Partizipation (one timer), monologische Ausdrucksweise und explizite Allgemeinwohlreferenzen geprägt. Einzuschränken ist die Aussagekraft des vergleichsweise starken negativen Zusammenhangs der Abwesenheit undemokratischen Respekts und diskursiven
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 253
Protests. Zwar sind beide Kategorien bei der Codierung unabhängig voneinander6, aber es ist logisch, dass eine Gruppe von Kommentaren, welche ohnehin negative Aussagen enthalten (Protest), eher auch undemokratisches Verhalten aufweist als eine Gruppe, welche zusätzlich auch positive und neutrale Kommentare enthält. Daher ist dieses Ergebnis wenig überraschend. Angesichts dieser zusätzlichen Einschränkung deuten die Ergebnisse damit auf eine schwache Bestätigung der aufgestellten Hypothesen hin. Zweitens ist der zweitdeutlichste Zusammenhang, der an dieser Stelle ersichtlich wird, der zwischen diskursivem Protest und der formalen Kommunikationsform. Diskursiver Protest ist wahrscheinlicher, wenn es sich bei einem Kommentar um einen monologischen Kommentar handelt. Im Gegensatz zu den Ergebnissen des Indikators Begründung7 bestätigen diese Ergebnisse die von Coe et al. (2014, S. 672). In der auf grobe, beziehungsweise negative oder unhöfliche Kommentare fokussierten Studie, wurde ein Zusammenhang zwischen negativen Kommentaren und der formalen Kommunikationsform deutlich, weshalb die Autoren abschließend empfehlen, die Diskussionsteilnehmerinnen stärker zum Dialog anzuregen, da innerhalb der interaktiven Beiträge die negativen Aussagen deutlich seltener codiert wurden (vgl. Coe et al. 2014, S. 673). Hierbei ist allerdings weiterhin einzuschränken, dass die Codierpraxis diesem Ergebnis förderlich gewesen sein könnte. Die Leserkommentare wurden primär auf negative Aussagen in Bezug auf einen anderen Diskussionsteilnehmer hin codiert. Erst wenn dies nicht der Fall war, wurde gegebenenfalls diskursiver Protest codiert. Das heißt, dass theoretisch einige Fälle diskursiven Protests in interaktiven Kommentaren nicht Bestandteile der Auswertung waren. Um dies zu prüfen, wurde eine nachträgliche Auswertung der insgesamt 55 Kommentare vorgenommen, in welchen ein negativer Bezug auf andere Teilnehmer festgestellt wurde. Hierbei wurde zweierlei deutlich. Erstens enthält nur ein geringer Anteil der Kommentare negative Äußerungen bezüglich politischer Akteure (14 Kommentare, etwa ein Viertel). Zweitens bezog sich die negative Äußerung überwiegend nur mittelbar auf politische Akteure, während die Kritik am anderen Nutzer im Mittelpunkt stand. Deshalb wurde aus Validitätsgründen entschieden, die Kommentare nicht als diskursiven 6
Ein Kommentar kann diskursiven Protest ausdrücken und entweder undemokratisches Verhalten aufweisen oder nicht. Ebenso kann eine als undemokratisch codierte negative Aussage parallel diskursiven Protest ausdrücken oder nicht.
7
Coe et al. (2014, S. 672) finden ebenfalls einen signifikanten Zusammenhang zwischen ihrem Indikator diskursiver Rationalität (evidence) und Negativität. Allerdings umgekehrt als an dieser Stelle. Wie sie selbst zugeben, für sie überraschend, zeigt sich, dass die negativen Kommentare eher einen Beleg enthielten, denn die nicht negativen Kommentare.
254 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Protest aufzufassen. Schließlich betrifft dies auch nur einen sehr geringen Anteil der Gesamtkommentare und ist daher von marginaler Bedeutung. Hypothese 2d: Es wird angenommen, dass dialogische Beiträge stärker deliberativ denn liberal individualistisch geprägt sind und vice versa.
Es wurde angenommen, dass die sonstigen, indikativen Merkmale deliberativer Partizipation wahrscheinlicher in formal interaktiven Online-Leserkommentaren anzutreffen sind als in Monologen. Umgekehrt war anzunehmen, dass Merkmale liberal individualistischer Partizipation hier seltener sind und stattdessen häufiger in Monologen auftreten. Die bisherigen Ergebnisse legten bereits nahe, dass sich die Hypothese überwiegend bestätigen würde. Ihre spezifische Überprüfung liefert dennoch drei wesentliche und spannende Implikationen, die zur Klärung der Frage nach der dominierenden diskursiven Partizipationsform in Online-Leserkommentaren beitragen. Eine Übersicht über die Häufigkeiten der einzelnen Indikatoren in allen als formal interaktiv codierten Leserkommentaren bietet Tabelle 8.10. Hier bestätigt sich erstens erneut, dass sich ein deliberatives Partizipationsmuster in den untersuchten Online-Leserkommentaren abzeichnet. Obgleich einzuschränken ist, dass die vorgefundenen Zusammenhänge mit Blick auf alle Kommentare nur schwach ausgeprägt sind, sind interaktive Kommentare häufiger begründet als monologische Kommentare. Der Zusammenhang ist statistisch hochsignifikant und in drei Debatten immerhin von moderater Stärke. Zusätzlich sind sie in allen untersuchten Debatten häufiger grundlegend respektvoll als ihre monologischen Pendants. Der Zusammenhang zwischen demokratischem Verhalten und Interaktion ist im Fall von Die Welt stark signifikant sowie auch in der Aggregation. Die Prozentwerte entsprechen innerhalb dieser zwei Kategorien allesamt der aufgestellten Hypothese. Zweitens bestätigt sich hier der Eindruck, nach dem ein expliziter Allgemeinwohlbezug nicht zwingend Bestandteil von Online-Deliberation durch Online-Leserkommentare ist. In allen untersuchten Debatten wiesen die Monologe prozentual mehr Allgemeinwohlbezüge auf als die interaktiven Kommentare. In der Gesamtauswertung aller untersuchten Kommentare ergibt sich sogar ein (erneut sehr) geringer und knapp statistisch signifikanter Zusammenhang. Drittens korreliert nur diskursiver Protest als Indikator liberal individualistischer Partizipation statistisch signifikant in negativer Weise mit formaler Interaktivität. Hier setzt sich fort, was bereits die Analyse aller deliberativen Kommentare deutlich machte. Es zeigt aber auch, dass monologische Beteiligung an diskursiver Partizipation online wahrscheinlicher diskursiven Protest enthält als Interaktio-
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 255
nen. Ein kohärentes Modell liberal individualistischer Partizipation lässt sich hieraus nicht ableiten. Selbst-Expression und Partikularinteressen zeigen keine eindeutige Tendenz zu interaktiver oder monologischer Kommunikation. Hier bestätigt sich erneut der Trend der deliberativen Kommentare. Obgleich die vorgefundenen Zusammenhänge von vergleichsweise geringer Stärke sind, bestätigen die Ergebnisse somit die bereits zum Teil von Jakobs (2014, S. 206-207) und Coe et al. (2014, S. 672) beobachtete Tendenz, wonach interaktive Kommentare deliberativ hochwertiger ausfallen als nicht interaktive Kommentare. Tabelle 8.10: Einfluss formaler Interaktion Die
FAZ.net Focus
Welt
RP
Spiegel
Zeit
Online
Online
Online
Online
Gesamt
Interaktiv
47,3%
44,1%
53,3%
23,5%
36,2%
51,9%
45,0%
(=nI)
(95)
(49)
(96)
(4)
(108)
(84)
(436)
Begründung Phi
,111
,253**
,089
-
,205*** ,227**
,181***
Dem. Res-
,195**
,154
,122
-
,085
,079
,095**
-,058
-,081
-
-,077
-,028
-,064*
Phi
pekt Allgemein-
Phi -,133
wohl Disk. Protest Phi -,324*** -,457*** -,296*** -
-,220*** -,295*** -,270***
Partikularint. Phi -
-
,006
-
-
-
-,009
Selbst-Ex-
,036
-,082
-
,030
,093
-,005
Phi -,113
pression
Fazit Die Ergebnisse der verschiedenen Auswertungen, die zur Überprüfung der einzelnen Hypothesen innerhalb dieses Kapitels durchgeführt wurden, lassen einige, zum Teil überraschende Schlussfolgerungen zu. Die übergeordnete Hypothese, wonach diskursive Partizipation durch Online-Leserkommentare sowohl durch eine deliberative als auch eine liberal individualistische Handlungslogik geprägt ist, kann zur Hälfte als verifiziert angesehen werden. Während die Ergebnisse das Vorhandensein deliberativer Partizipation als durch mehrere Merkmale zu beschreibende Partizipationsform nahelegen, konnte ein solcher Zusammenhang für die Indikatoren liberal individualistischer Partizipation nicht aufgedeckt werden. Denn von den vier Indikatoren liberal individualistischer Partizipation lieferten nur zwei aussagekräftige Ergebnisse: Monolog und diskursiver Protest. Dies ist
256 | DIGITALE DISKUSSIONEN
zu wenig, um begründetermaßen auf eine liberal individualistische Form diskursiver Partizipation rückzuschließen. Somit widerspricht dieses Kapitel zwar zum Teil der zuvor getroffenen Ursprungsannahme (siehe Kapitel 5.2), erlaubt aber dennoch eine überzeugende Antwort auf Forschungsfrage 2, die theoretisch Sinn ergibt. Die verschiedenen Analysen legen schließlich in der Tat zwei diskursiv-partizipative Muster nahe, welche die Partizipation durch Online-Leserkommentare prägen: ein deliberatives und ein individuell-protestorientiertes. Die veränderte Bezeichnung von liberal individualistischer hin zu individuell-protestorientierter Partizipation beschreibt eine Veränderung des zentralen Leitmotivs dieses zweiten, diskursiven Partizipationsmusters. Während die Lektüre der aktuellen Forschung ergab, von einer auf Expressivität hin geprägten Partizipationsform auszugehen, offenbart die empirische Analyse eine Partizipationsform, welche in erster Linie die individuelle Artikulation von Protest beinhaltet. Dies widerspricht nicht zwingend den Implikationen der aktuellen Forschung. Zum einen hat die Protestartikulation in Monologform durchaus individuell-expressiven Charakter, nur dominiert dieser nicht, wie angenommen wurde. Zum anderen sind die hier formulierten Grundannahmen in Ermangelung ausreichend spezifischer Forschung einer breiten Online-Partizipations-Literatur entnommen. Diskursive Partizipation durch Online-Leserkommentare stellt aber einen spezifischen Fall hiervon dar, der eigene Besonderheiten aufweist. Im Folgenden werden die zwei Muster noch einmal pointiert erläutert und interpretiert sowie ein abschließendes Resümee zu den Ergebnissen der durchgeführten Analysen gezogen. Das deliberative Muster: Es wurde ersichtlich, dass die verschiedenen Indikatoren deliberativer Partizipation in diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare häufig anzutreffen sind. Zumeist finden sie sich in der Mehrheit aller untersuchten Kommentare. Einzig der Allgemeinwohlbezug fällt etwas ab und findet sich in allen Debatten nur in einer Minderheit der Kommentare. Obgleich auch andere Studien hohe Werte in puncto Begründungen (vgl. da Silva 2013, S. 103; Graham u. Wright 2015, S. 7; Manosevitch u. Walker 2009, S. 21; Ruiz et al. 2011, S. 477; Sampaio u. Barros 2012, S. 198; Strandberg u. Berg 2013, S. 141) und dem Einhalten grundlegenden Respekts (vgl. Graham u. Wright 2015, S. 1011; Ruiz et al. 2011, S. 477; Singer 2009, S. 490; Strandberg u. Berg 2013, S. 143144) ausweisen, fallen die hier vorliegenden Ergebnisse aus deliberativer Perspektive vergleichsweise positiv aus. Positiv ist ebenfalls die Erkenntnis, dass sich negative Äußerungen in Leserkommentaren nur in Ausnahmefällen auf andere Nutzer beziehen. In Ermangelung vergleichbarer Daten wäre es daher spannend zu beobachten, ob sich dieses Ergebnis auf andere Studien übertragen lässt.
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 257
Diese Studie hat in zwei weiteren wesentlichen Punkten Neuland bei der Analyse von Online-Leserkommentaren betreten und bestätigt hiermit sowohl die Ambivalenz (vgl. Jakobs 2014, S. 206-207; Ruiz et al. 2011, S. 482-484; Sampaio u. Barros 2012, S. 200; Strandberg u. Berg 2013, S. 144; Trice 2010, S. 196) als auch den verhaltenen Optimismus (da Silva 2013, S. 106; Graham u. Wright 2015, S. 17; Manosevitch u. Walker 2009, S. 21; Singer 2009, S. 491) der bisherigen Forschung. Erstens ließ sich gemäß der an dieser Stelle ausdifferenzierten Minimaldefinition der Anteil deliberativer Partizipation beziffern. Dabei zeigte sich in allen Debatten ein relevantes Ausmaß deliberativer Partizipation. Über 25% der Kommentare pro analysierter Debatte wurden auf diese Weise als deliberativ klassifiziert. Zweitens lassen die Analysen8 die Interpretation zu, dass sich auf dieser Basis von einem konsistenten deliberativen Partizipationsmuster sprechen lässt. Die Auswertungen ergaben, dass sich die deliberativen Indikatoren tendenziell negativ zu denen liberal individualistischer Partizipation verhalten (siehe die Tabellen 8.5, 8.6, 8.9 und 8.10). Mehrfache Partizipation (vgl. Dahlberg 2001b) und Interaktion (vgl. Coe et al. 2014, S. 673; Jakobs 2014, S. 204-205) bestätigten sich als Anzeichen von Deliberation (siehe die Tabellen 8.7 und 8.10). Das vorgefundene Muster der Indikatoren Begründung, Interaktivität sowie demokratischer Respekt ist theoretisch stimmig. Mehrfache Partizipation ist eine logische Voraussetzung für 8
Es soll an dieser Stelle exemplarisch darauf eingegangen werden, dass viele der vorgefundenen Zusammenhänge als von geringer Stärke zu interpretieren sind. Dies ist in der sozialwissenschaftlichen Forschung allerdings weder unüblich noch als ‚Schwäche’ oder ‚Fehler’ aufzufassen, wie Müller-Benedict (2007, S. 197-198) es überzeugend erklärt und auf den Punkt bringt. Nachdem er darauf verweist, dass schwache Zusammenhänge in der sozialwissenschaftlichen Empirie eher die Regel, denn die Ausnahme sind, argumentiert er, wie folgt: „Man kann sich umgekehrt überlegen, was es bedeuten würde, wenn zwei beliebige soziale Merkmale im Allgemeinen stark zusammenhängen würden. Was wäre das für eine Gesellschaft? Dann könnte man aus der Kenntnis weniger Merkmale auf viele andere Merkmale schließen, z.B. aus einigen wenigen Anzeichen das Verhalten und die Ansichten eines Menschen vorhersagen. Es wäre eine in großem Maße vorherbestimmte und festgelegte Gesellschaft, die sehr wenig Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten besäße. Deswegen sind die manchmal beklagten "schwachen" Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Empirie die Kehrseite der ganz und gar nicht beklagenswerten Tatsache, dass soziale Zusammenhänge nicht auf den ersten Blick durchschaubar sondern multidimensional, flexibel und vielfältig sind.“ Dies ist angesichts der Vielfalt digitaler Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten sowie der Komplexität diskursiver Partizipation online problemlos auf den Untersuchungsbereich dieser Studie zu übertragen.
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die Teilnahme an einer Diskussion und korreliert konsequenterweise vergleichsweise stark mit dem Indikator Interaktion (siehe Tabelle 8.7). Interaktive Kommentare sind im vorliegenden Datensatz statistisch hochsignifikant eher begründet als monologische Kommentare (siehe Tabelle 8.10). Begründete Kommentare wiederum sind statistisch hochsignifikant eher grundlegend respektvoll als nicht begründete Kommentare9. Obschon es deutlich stärkere Zusammenhänge im vorliegenden Datensatz gibt, sprechen die Ergebnisse eine eindeutige Sprache. Sie sind logisch konsistent und entsprechen den zuvor getroffenen theoretischen Annahmen. Einzig der Indikator Referenz zum Allgemeinwohl scherte aus und empfiehlt sich für eine Re-Interpretation. Damit verweist diese Studie nicht nur auf deliberatives Potential, sondern zeigt, dass deliberative Partizipation - wie hier definiert - in Leserkommentarbereichen stattfindet. Einzuschränken ist aber, dass trotz des niederschwelligen Charakters der Definition die deutliche Mehrheit der Kommentare ihren Anforderungen nicht entsprach. Die vorliegenden Online-Leserkommentare werden folglich zum Teil zu deliberativer Partizipation genutzt. Zu einem großen Teil aber auf andere Weise. Das protestorientierte Muster: Die vorliegende Analyse deutet darauf hin, dass nur zwei der Indikatoren liberal individualistischer Partizipation in einem Zusammenhang zueinander stehen. Während diskursiver Protest und Monolog einen statistisch hochsignifikanten Zusammenhang mittlerer Stärke aufweisen (siehe Tabelle 8.9), ergaben die durchgeführten Auswertungen für die Indikatoren Partikularinteressen und Selbst-Expression kein nennenswertes Ergebnis. Umso interessanter ist ein dritter, wenn auch sehr schwacher Zusammenhang, der sich zeigte. Monologe sowie protestorientierte Kommentare enthalten eher einen expliziten Verweis auf eine abstrakte Konstruktion des Allgemeinwohls als andere Kommentare (siehe Tabellen 8.9 sowie 8.10). Obgleich ein solcher Zusammenhang nicht erwartet worden war, lässt sich dieser logisch erklären, ohne eine voreilige und abschließende Schlussfolgerung ziehen zu wollen. Es ist neben der Häufigkeit des Indikators diskursiver Protest, die bereits an sich ein bemerkenswertes Ergebnis dieser Studie darstellt, vor allem sein vergleichsweise eindeutiges Verhältnis zu den übrigen Indikatoren, welches es sinnig erscheinen lässt, Protest als zweites Leitmotiv von Partizipation in den untersuchten Leserkommentaren zu begreifen. Die Analysen legen nicht nur einen Zusammenhang zwischen den Merkmalen diskursiver Protest und Monolog (sowie mit Abstrichen Referenz zum Allgemeinwohl) nahe, sondern zeigen für beide Indika-
9
Die entsprechende Auswertung war zur Beantwortung der einzelnen Hypothesen nicht vorgesehen und wurde deshalb zusätzlich durchgeführt. Die Gesamtergebnisse sind im Anhang zu finden (vgl. Tabelle 0.4).
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 259
toren einen hochsignifikanten Zusammenhang zu einmaliger Partizipation (one timer) in den untersuchten Kommentar-Threads (siehe Tabelle 8.7). Diskursiver Protest steht weiterhin in signifikanten negativen Zusammenhängen zu allen drei wesentlichen Indikatoren deliberativer Partizipation, wie es kein anderer Indikator aufwies (siehe Tabelle 8.9). Protest ist als partizipative Handlung nicht eindeutig definiert und wird selten als individuelle Handlung beschrieben, lässt sich aber dennoch als Bestandteil des individuellen politischen Handlungsrepertoires begreifen (vgl. Dalton 2014, S. Kapitel 4; Rucht 2007, S. 708-709). „Protest is another political method (like voting, campaign activity, or communal activity) that individuals may use in pursuing their goals“ (Dalton 2014, S. Kapitel 4). In Anbetracht der allgemeinen Definition von Della Porta (2011, S. 2432) scheint dies hier der Fall zu sein. Der negative Zusammenhang zwischen Protest und Interaktivität legt nahe, dass Protest durch Online-Leserkommentare eher als individuelle denn kollektive Aktivität verstanden werden muss. Online-Leserkommentare werden offenbar zum Ausdruck von Protest genutzt, in welchem die Verfasserinnen bewusst einen Gegensatz zwischen Politik und Bürgern herstellen. Sie stilisieren sich als Stimme einer politisch nicht angemessen vertretenen Allgemeinheit und artikulieren deren Missfallen mit der Politik. Da sie sich als Stimme der Allgemeinheit betrachten, ist Interaktion nicht notwendig. Wer wiederum kein Interesse an Interaktion hat, muss auch nicht zwingend mehrmals partizipieren, was den deutlichen Zusammenhang der Merkmale einmalige Partizipation und Monolog (siehe Tabelle 8.7) erklärt. Empirisch ist einzuschränken, dass die Anzahl an Kommentaren, in welchen ein Bezug zum Allgemeinwohl hergestellt wird, vergleichsweise gering ist und die vorgefundenen Zusammenhänge nur von sehr geringer Stärke sind. Diese Tendenz aber liefert ein entscheidendes Argument dafür, das vorgefundene Partizipationsverhalten überzeugend zu erklären. Auch wenn nichts darüber ausgesagt werden kann, ob die so Protestierenden ein aufrichtiges Interesse am Allgemeinwohl haben oder dieses aus taktischen Gründen vorschieben, erscheint der aufgedeckte Zusammenhang zwischen Monolog, diskursivem Protest und Referenz zum Allgemeinwohl schlüssig. Das Allgemeinwohl kann dem individuellen Protest Legitimation verleihen und verleiht der individuellen Handlung einen scheinbar kollektiven Charakter. Mit Blick auf die weitere Forschung wäre es interessant zu sehen, ob sich der Zusammenhang mit zunehmender Fallzahl bestätigen lässt. Es muss kein Widerspruch sein, auf Basis dieser Ergebnisse von einem individuell-protestorientierten Muster auszugehen, obwohl diskursiver Protest als Indikator liberal individualistischer Partizipation begründet wurde. Es erscheint vermessen, angesichts der beschriebenen Zusammenhänge sowie der mangelnden Aussagekraft der In-
260 | DIGITALE DISKUSSIONEN
dikatoren Partikularinteressen und Selbst-Expression auf ein liberal individualistisches Partizipationsmuster zu schließen. Die vergleichsweise sehr konstante Verteilung von Selbst-Expression und die Irrelevanz von Partikularinteressen sprechen eher gegen ein solches Muster, wie es im Anschluss an Dahlberg (2001a; 2011) und Freelon (2010) beschrieben worden ist. Theoretisch überzeugender erscheint es angesichts dieser Resultate und der Argumentation bis hierhin, von einem Muster individuell-protestorientierter Partizipation auszugehen. Dieses steht noch dazu im Einklang mit bisherigen Forschungsergebnissen und muss sowohl angesichts des Themas der analysierten Debatten und der öffentlichen Wahrnehmung von Leserkommentaren nicht überraschen, sondern erscheint vielmehr folgerichtig. Den vermeintlichen Widerspruch zwischen Argumentationsbereitschaft und Aggressionspotential bringen Ruiz et al. (2011: 484) auch ohne entsprechende Konzeptionalisierung auf den Punkt, indem ihrer Meinung nach Leserkommentare ein Medium für „the expression of the citizen frustrations with the ruling class“ dar, während „they also provide evidence that some users do engage […] in thoughtful discussions enjoying the exercise of trying to provide the most convincing argument.“ Obwohl Online-Leserkommentare als Kanal für politischen Protest noch kein größeres Interesse der Forschung erfahren haben, ist die Nutzung von Social Media zur Organisation und Mobilisierung von Protest bereits im Fokus der Protestforschung (vgl. Gil de Zúñiga et al. 2012; Rojas u. Puig-i-Abril 2009; Valenzuela 2013; Valenzuela et al. 2009; Zhang et al. 2010). Ohne die präsentierten Ergebnisse überbewerten zu wollen, liefern sie doch Indizien dafür, die Ausdifferenzierung eines Musters individuell-protestorientierter Partizipation im Rahmen dieser Studie als erfolgversprechenden Weg anzusehen, konzeptionelle Defizite der Online-Deliberationsforschung anzugehen (vgl. Coleman u. Moss 2012, S. 5-7) und es empfiehlt sich hierbei Erkenntnisse der Protestforschung miteinzubeziehen. Ziel dieser Arbeit ist es, die sich realisierende Partizipation möglichst genau zu beschreiben und zu interpretieren. Hierzu ist an dieser Stelle noch auf zwei zusätzliche Merkmale der analysierten Leserkommentare einzugehen. Erstens wurde deutlich, dass Selbst-Expression vergleichsweise konstant in mehr als jedem vierten Kommentar codiert wurde, was als überraschend hoher Wert eingeordnet werden muss. Der Online-Leserkommentar bietet im Vergleich zu anderen Plattformen, wie etwa sozialen Netzwerken (vgl. Conroy et al. 2012, S. 1538; Ellison u. Boyd 2008, S. 211; Vesnic-Alujevic 2012, S. 467), kaum strukturelle Anreize zur Identitätsentwicklung (anonymes Kommentieren, fehlende Netzwerkstruktur, kaum aussagekräftige Profile, wenn vorhanden). Nichtsdestotrotz verteilte sich Selbst-Expression unabhängig von Deliberation, Protest, Interaktion oder Monologen über die Kommentare. Dies bestätigt die Grundannahmen der
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 261
Hypothesenausdifferenzierung, wonach individueller Selbstdarstellung und -entwicklung zunehmend Bedeutung im Rahmen diskursiver Partizipation online zukommt. Es widerspricht aber dem Ansatz einer diskursiven Partizipationsform liberal individualistischer Natur. Ein solches Muster lässt sich auf dieser Basis kaum begründen, wohl aber implizieren die Resultate, dass diskursive Partizipation online nicht mehr ohne expressiven Charakter gedacht und interpretiert werden kann (vgl. Dahlgren 2014, S. 79; Gil de Zúñiga et al. 2014, S. 627; Kersting 2014, S. 76-79; Kersting 2015b, S. 4). Aus Perspektive der deliberativen Demokratietheorie ist dies indes keineswegs problematisch oder neu. Bereits Habermas (1995, S. 34-35) bezeichnete vor über zwanzig Jahren „expressive Selbstdarstellungen“ als rational. Zweitens ist schließlich bei der Bewertung der hier vorgestellten Ergebnisse einzuschränken, dass diejenigen Kommentare, welche keine Forderung enthielten, nicht Bestandteil dieser Analyse waren10. Jeder fünfte bis sechste Kommentar wurde nicht untersucht, weil keine Forderung erkennbar war. Während des Codierprozesses wurde auch ohne systematische Auswertung deutlich, dass diese Kommentare zumeist spontane und sehr kurze Bekundungen von Emotionen darstellen. Zum Teil sind auch Äußerungen darunter, deren Zusammenhang zum Thema des Artikels oder zur Debatte anderer Nutzerinnen nicht deutlich wird. Eine Auswertung11 der Anzahl der verwandten Worte pro Kommentar macht deutlich, dass diejenigen Kommentare ohne Forderung deutlich kürzer geraten als die mit Forderung. Tabelle 8.11 zeigt eine Übersicht über den Anteil an Kommentaren ohne Forderung und mit Forderung an den einzelnen Debatten sowie die durchschnittliche Länge der Leserkommentare nach Worten. Ohne hierzu ein abschließendes Urteil fällen zu wollen, sprechen diese Indizien dafür, die entsprechenden Kommentare als besonders niederschwellige Form diskursiver Partizipation zu verstehen. Der niederschwellige Charakter diskursiver Partizipation online wird von der Partizipationsforschung generell kritisch eingeschätzt, wie Kapitel 3.1 deutlich machen konnte. Daher macht es Sinn, an dieser Stelle auf eine andere Terminologie zurückzugreifen. Die Internetforschung bietet mit dem vage definierten Konzept des Slacktivism im dezidierten Gegensatz zu instrumenteller Beteiligung eine Oberkategorie für symbolische und expressive Ausdrucksformen 10 Wie in der Methodensektion im Anschluss an Steenbergen et al. (2003, S. 27) argumentiert wurde, wurden Kommentare ohne Forderung nicht codiert, da mit der Forderung auch die Notwendigkeit einer Begründung abhandenkommt. 11 Die Auswertung fand mithilfe des Statistikprogramms Excel statt. Die einzelnen Kommentare wurden jeweils manuell in ein Feld einer Exceltabelle kopiert. Mithilfe des Programms ist es möglich, die Anzahl der Leerzeichen je Kommentar automatisch auszuzählen und von diesem Wert auf die Anzahl der Worte rückzuschließen.
262 | DIGITALE DISKUSSIONEN
im Internet. Bislang werden als Slacktivism in erster Linie nicht-textliche Ausdrucksformen, wie das Teilen oder Liken von Inhalten oder auch der Austausch von Profilbildern in sozialen Netzwerken, verstanden (vgl. Christensen 2011; Skoric 2012, S. 78, 81, 87; Skoric u. Poor 2013, S. 357-360). Neben des Fehlens entscheidender Anzeichen instrumenteller Motivation, wie einer Forderung, und dem Eindruck während des Codiervorgangs spricht die nachweisliche Kürze der Nachrichten für die Interpretation etwa eines Sechstels der Kommentare als niederschwellige Symbolbeteiligung. Tabelle 8.11: Online-Leserkommentare mit/ ohne Forderung. Durchschnittliche Wortanzahl Die
FAZ.net
Focus Online
Online
Online
Online
244
144
219
19
403
212
(100%)
(100%)
(100%)
(100%)
(100%)
(100%)
45,3
51,5
61,6
38,9
56,3
78,5%
82,2%
89,5%
73,4%
77,4%
51,7
54,6
66,2
44,6
64,2
Anteil ohne Forderung 17,2%
21,5%
17,8%
10,5%
26,1%
22,6%
Durschnittliche Länge 21,4
22,9
37,4
23
22,8
30,1
Welt Anzahl Total
Durschnittliche Länge 43,1
RP
Spiegel
Zeit
in Worten Anteil mit Forderung
82,8%
Durschnittliche Länge 47,7 in Worten
in Worten
Dies führt zu vier wesentlichen Schlussfolgerungen. Erstens implizieren die Ergebnisse, dass deliberative Partizipation, obgleich von niedriger Qualität, ein wichtiges Element diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare ist. Das heißt für ein deliberativ-demokratisches Verständnis digitaler Öffentlichkeit, dass die argumentative Ausdifferenzierung öffentlicher Meinung mithilfe von Online-Leserkommentaren möglich ist und die Ergebnisse Hoffnungen deliberativer (Netz-)Theoretiker nicht (vollkommen) widersprechen. Zweitens geben die Ergebnisse Grund zu der Annahme, dass Online-Leserkommentare in relevantem Ausmaß zu individuell-protestorientierter diskursiver Partizipation genutzt werden. Protest ist keineswegs unvereinbar mit deliberativen Imperativen, es wurde aber im Rahmen der Argumentation offensichtlich, dass das hohe Maß an nichtdeliberativer, individuell-protestorientierter diskursiver Partizipation das deliberative Potential der untersuchten Online-Leserkommentardiskussionen be-
DELIBERATIVE UND LIBERAL INDIVIDUALISTISCHE PARTIZIPATION | 263
schränkt. Drittens zeigte sich in den Daten ein relevantes Maß an niederschwelliger Symbolpartizipation, was impliziert, dass die unmittelbare Expression von Zustimmung oder Ablehnung als Motiv von Online-Leserkommentaren nicht unterschätzt werden sollte. Viertens geben diese Überlegungen Anlass zu der Folgerung, dass Online-Leserkommentare (noch) weit davon entfernt scheinen, als deliberativer Debattensalon mit massenmedialer Reichweite gelten zu können.
264 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Tabelle 8.12: Zusammenfassung der zweiten empirischen Analyse nach Hypothesen Hypothese Bestätigt Teilweise bestätigt 2
Nicht
Ergebnis
bestätigt
x
2a1
x
Allein diskursiver Protest steht in negativem Zusammenhang zu deliberativer Partizipation.
2a2
x
Zwei von drei Indikatoren deliberativer Partizipation stehen in einem negativen Zusammenhang zu liberal individualistisch geprägten Leserkommentaren.
2b
x
Sogenannte one timer sind in signifikantem Maße seltener deliberativ und häufiger protestorientiert als Kommentare von Nutzerinnen, die mindestens zwei Kommentare pro Debatte beitragen.
2c1
x
Der negative Zusammenhang von diskursivem Protest bestätigt sich für alle drei konstitutiven Indikatoren deliberativer Partizipation. Der explizite Bezug zum Allgemeinwohl steht dagegen in einem positiven Zusammenhang zur Äußerung von Protest.
2c2
x
Von den Indikatoren liberal individualistischer Partizipation zeigt allein der Monolog einen positiven Zusammenhang zur Äußerung von Protest.
2d
x
Interaktivität erweist sich als angemessener Indikator deliberativer Partizipation, während der Monolog vor allem Protest befördert.
9. Der Einfluss struktureller und kontextueller Variablen auf Online-Leserkommentare
An dieser Stelle sollen Indizien dafür gesammelt werden, ob verschiedenen strukturellen und kontextuellen Variablen Erklärungsgehalt für Unterschiede in Bezug auf inhaltliche Merkmale diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare zukommen kann. Hiermit wird die empirische Analyse in drei Schritten abgeschlossen. Der Fallauswahl folgt die Überprüfung eines möglichen Einflusses technischer- und organisatorischer Strukturvariablen, bevor die in Kapitel 5.3 hergeleiteten Kontextvariablen überprüft werden. Die Forschung ist, wie bereits beschrieben, in diesem Kontext noch ganz am Anfang. Diese Arbeit entwickelt hierzu einen explorativen Ansatz, der empirisch wie theoretisch berechtigtermaßen Hinweise auf mögliche Erklärungsfaktoren liefern kann. Mit seiner vergleichsweise umfassenden Liste an zu überprüfenden Erklärungsfaktoren verspricht der Ansatz dieser Arbeit dazu beizutragen, die einschlägige Forschung weiterzuentwickeln. Es soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Auswahl der untersuchten Variablen dennoch beschränkt ist und somit Einflüsse bislang nicht in Betracht gezogener Variablen nicht ausgeschlossen werden können. Bei den vorliegenden Daten handelt es sich um alle Kommentare inklusive einer Forderung zu den ausgewählten Nachrichtenartikeln. Es ist keine präzise Grundgesamtheit aller Kommentare über diese hinaus ermittelbar. Aus diesem Grund scheint lediglich eine deskriptive Analyse zulässig. In dieser Arbeit kommen dennoch Signifikanztests zum Einsatz. Diese ermöglichen vorsichtigere Schlüsse über die aufgestellten Hypothesen (vgl. Broscheid u. Gschwend 2005)1. Ähnliche Ansätze konnten trotz derselben Herausforderungen bereits das Poten-
1
Für eine andere Position zur Anwendung von Signifikanztests vgl. Behnke 2005.
266 | DIGITALE DISKUSSIONEN
tial eines solchen Vorgehens aufzeigen, blieben hierbei zumeist aber auf die Bewertung einer wesentlichen Variable beschränkt (vgl. Freelon 2015; Halpern u. Gibbs 2013; Rowe 2014; Santana 2014).
F ALLAUSWAHL
UND
D ATENSATZ
Die Überprüfung dieses dritten und letzten Hypothesenbündels basiert auf nahezu demselben Datensatz der vorangegangenen Analyse. Der einzige Unterschied besteht darin, dass mit Bild Online eine allgemein als Boulevardmedium angesehene Seite in die Untersuchung integriert wurde. Insgesamt wurden somit 1.396 Kommentare untersucht und 1.065 Kommentare vollständig analysiert. Nichtsdestotrotz müssen die Daten an dieser Stelle erneut beschrieben werden, da für die Analyse von Hypothesenbündel 3 die kontextuellen und strukturellen Variablen der einzelnen Kommentarbereiche von Interesse sind. In Kapitel 4.1 wurden wesentliche technische und organisatorische Strukturvariablen ausdifferenziert. Im Folgenden soll nun untersucht werden, inwieweit den einzelnen Variablen Einfluss auf Indikatoren deliberativer Partizipation, dem Ausdruck von Protest und der deliberativen Qualität von Kommentaren zugeschrieben werden kann. Tabelle 9.1 zeigt die einzelnen Variablen in der Übersicht, welche den untersuchten Medien zugeschrieben werden können und somit den jeweiligen Leserkommentaren als Merkmalsausprägung zugewiesen wurden. Tabelle 9.1: Strukturelle Variablen Strukturelle Vari-
Bild
ablen
Online Welt
Nutzerregistrierung
x
Facebook-Registrie- x
Die
FAZ.net Focus x
x
RP
Spiegel
Online
Online Online
x
x
x
x x
rung Klarnamenpflicht Netiquette
x
x
x
x
x
x
x
x
x
x
x
x
x
x
x
Limitierung der Zei- x chenanzahl Apriori Moderation
x
Aktive Moderation Nutzermeldefunktion
x
x
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 267
Nutzerbewertungs-
x
x
x
x
x
x
x
x
funktion Inhaltliche Sortierung Forenstruktur
x
x=Merkmal liegt vor.
Die einzelnen Merkmale wurden auf Basis des per Screenshot dokumentierten Designs der jeweiligen Kommentarfunktionen erhoben. Dies geschah zum Zeitpunkt der Erhebung des hier zugrunde liegenden Datensatzes sowie mittels eines Internetarchivs2, welches die Begutachtung von Websites zu einem spezifischen Zeitpunkt ermöglicht. Da die Kommentarfunktionen immer wieder überarbeitet werden, ist es daher wichtig zu betonen, dass hier der Stand vom Frühjahr 2014 zugrunde liegt. Alle elf in Tabelle 9.1 aufgeführten Funktionen wurden im vierten Kapitel dieser Arbeit bereits besprochen. In der Übersicht von Tabelle 4.1, die den Anteil verschiedener Funktionen an 35 deutschen Online-Leserkommentarfunktionen nach drei Dimensionen wiedergibt, fehlen die Funktionen aktive Moderation und Forenstruktur. Während erstere nicht erhoben wurde, da diese mittels einfachem Selbsttest nicht erhoben werden konnte, ist die Forenstruktur in Deutschland kaum verbreitet und wurde deshalb nicht zusätzlich aufgeführt. Die meisten Kommentarfunktionen weisen eine chronologische Struktur auf, wovon Kommentarfunktionen, die in ein separates Forum eingebunden sind, zu unterscheiden sind. Unter den hier untersuchten Plattformen befindet sich mit Spiegel Online aber ein Betreibermedium, das seine Kommentare zusätzlich in ein Forum einbettet, sodass es sinnvoll erscheint, diese Variable zusätzlich aufzunehmen. Wie Tabelle 9.1 zeigt, ist die mangelnde Varianz ein Problem dieser Analyse bei einer Reihe an Strukturmerkmalen, was bei der Auswertung der Ergebnisse entsprechend zu reflektieren ist. Dies gilt auch für die Variable der aktiven Moderation. Inwieweit die einzelnen Redaktionen der hier ausgewählten Betreibermedien aktiv oder passiv moderieren, ist schwerer festzustellen und eine Frage der Operationalisierung 2
Die Website https://archive.org/web/ (gesehen: 19.01.2016) erlaubt es, zahlreiche Internetseiten zu einem früheren Zeitpunkt aufzurufen. Diese werden vielfach mit einigen Unterseiten aufgerufen, sodass es möglich wird, durch die Seite zu navigieren. In Ausnahmefällen war eine solche Dokumentation nicht möglich und es wurde auf eine glaubwürdige Beschreibung des Sachverhaltes weiterer Quellen, wie zum Beispiel der Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder eines journalistischen Artikels über die entsprechende Funktion zurückgegriffen.
268 | DIGITALE DISKUSSIONEN
der Variable. Deshalb wurden die vorliegenden Daten auf eindeutig zurechenbare Äußerungen durch die Moderationsteams hin geprüft. Im weitesten Sinne präsentierte sich Zeit Online als einzige Plattform mit einer relativ aktiven Moderation. Hier fanden sich Äußerungen der Moderation unter gekürzten oder gelöschten Kommentaren in relevantem Ausmaß. Kommentare wurden hier scheinbar nicht einfach gelöscht, sondern nur deren Inhalt. In jedem dieser Fälle fand sich eine prägnante Begründung des Moderationsteams mit zurechenbarem Kürzel der jeweiligen Mitarbeiterin für die Intervention. Vergleichbares zeigte sich bei keinem der anderen Medien, weshalb Zeit Online als aktiv moderiert und alle anderen Betreibermedien als passiv moderierend eingeordnet wurden. Dies erscheint sinnvoll vor dem Hintergrund, dass Leserkommentare allgemein als geringfügig moderierte, verhältnismäßig uneingeschränkte diskursive Online-Partizipationsmöglichkeit gelten (vgl. Manosevitch u. Walker 2009, S. 7; Singer 2009, S. 489-490; Strandberg u. Berg 2013, S. 134) und sich in allen anderen Fällen kein Hinweis auf aktive Moderation fand. Ursprünglich war es beabsichtigt, mittels fokussierten (Experten-)Interviews zusätzlich Variablen auszudifferenzieren und auf ihren Einfluss hin zu prüfen. Da der Großteil der Betreibermedien aber nicht für ein Interview zur Verfügung stand, musste hierauf verzichtet werden. Es gelang dank der zwei durchgeführten Interviews mit FAZ.net und Zeit Online den Befund der aktiven Moderation zu verifizieren. Es wurden zwei unterschiedliche Moderationsstrategien deutlich. FAZ.net prüft die Kommentare vor Veröffentlichung, kann somit alle eingehenden Kommentare kontrollieren und sicherstellen, dass nur Kommentare veröffentlicht werden, die den Ansprüchen von FAZ.net genügen. Auf eine spätere, aktive Moderation wird daher bewusst verzichtet. Demgegenüber werden die Kommentare auf Zeit Online direkt veröffentlicht. Ziel ist es, eine Selbstregulierung der Nutzer in Gang zu setzen. Hier kommt der Nutzermeldefunktion für unangemessene Kommentare naturgemäß besondere Bedeutung zu. Wenn die Moderatorinnen eingreifen, soll dies transparent und nachvollziehbar geschehen. Die hier gewonnen Informationen reichen nicht für einen Vergleich aller Betreibermedien und die Ausdifferenzierung neuer Variablen aus, aber sie liefern zusätzliche Indizien dafür, dass die hier eingeführte Unterscheidung aktiv und passiv moderierender Betreibermedien zulässig ist. Zusätzlich zu strukturellen Erklärungsfaktoren blickt diese Analyse auf kontextuelle Faktoren, um die vorgefundenen Resultate der Inhaltsanalyse zu erklären. Hierbei wurden mit der Qualität der journalistischen Berichterstattung sowie der politischen Ausrichtung des Betreibermediums zwei Variablen ausdifferenziert. Hiermit greift diese Arbeit zwar auf vergleichsweise allgemeine (oder grobe) Unterscheidungskriterien zurück, die aber in der Kommunikationswissenschaft
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 269
durchaus gebräuchlich sind. Daten zu Leserkommentarschreibern sind rar und für einen spezifischen Fall kaum methodisch verwertbar zu gewinnen. Somit bleiben die kontextuellen Faktoren als Erklärungsvariablen. Hierzu ist anzumerken, dass erste Forschungsarbeiten zeigen, dass die Leser- oder Nutzerschaft eines OnlineNachrichtenmediums von ihrer Zusammensetzung her nicht die der Kommentarschreiber widerspiegelt. Deshalb stellen Angaben zur Nutzerschaft einen solchen kontextuellen Faktor dar. Die Einordnung von Nachrichtenmedien auf einer politischen Links-RechtsSkala wurde durch die Kommunikationswissenschaft bereits hinlänglich untersucht und vorgenommen (vgl. Donsbach et al. 1996; Eilders 2002; Hagen 1993). Die politische Positionierung der Betreibermedien bietet sich daher als nachvollziehbare, kontextuelle Variable an. Dennoch sollten alle aufgedeckten Zusammenhänge maximal als Tendenzen interpretiert werden, denn als feststehende Wahrheiten. Trotz der Anschlussfähigkeit der Links-Rechts-Einstufung ist diese mit Vorsicht zu betrachten, schließlich sind verschiedene Einschränkungen denkbar. Mit wechselndem Personal etwa kann sich die politische Ausrichtung einer Redaktion verschieben. Darüber hinaus lässt sich die politische Ausrichtung kaum adäquat mit Begriffen, wie links und rechts, fassen. Manche Redaktionen, wie die der Zeit, verstehen sich traditionell eher als (links-) liberal. Darüber hinaus unterscheidet sich der Konservativismus einer FAZ von dem der Welt. Weiterhin beziehen sich vorliegende Auswertungen auf die Printausgaben der jeweiligen Medien. Die Online-Angebote verfügen zumeist über eigene Redaktionen und müssen sich von ihrer Berichterstattung her naturgemäß von der Printausgabe unterscheiden. Dazu führt bereits das Publikationsmedium. In dieser Arbeit wird ein weites Verständnis der Links-Rechts-Dichotomie verwandt, welches auch die Unterscheidung in liberal und/oder progressiv und konservativ integriert. Die vorliegenden Medien werden folglich als tendenziell links-/ liberal-/ progressiv oder rechts-/ konservativ eingeteilt. Da es hier um eine tendenzielle Einstufung geht, ist der Print-Online-Bias zwar zu berücksichtigen, kann an dieser Stelle aber vernachlässigt werden, da es unwahrscheinlich erscheint, dass die zumeist eindeutig zum selben Unternehmen zugehörigen Redaktionen widersprüchliche Blattlinien fahren. Donsbach et al. (1996, S. 348) haben auf Basis einer umfangreichen Befragung unter Journalisten fünf der hier untersuchten Betreibermedien verortet. Demnach lassen sich Spiegel Online und Zeit Online als eher links-/ liberal-/ progressive Nachrichtenmedien einschätzen, während die übrigen Medien als tendenziell rechts-/ konservativ eingestuft werden (vgl. auch für die jeweils untersuchten Medien: Eilders 2002, S. 29, 41; Hagen 1993, S. 328). Dies gilt auch für Focus Online und RP Online, die in den hier zitierten Publikationen nicht ausgewertet
270 | DIGITALE DISKUSSIONEN
werden, denen aber im Allgemeinen eine entsprechende Berichterstattung zugeschrieben wird. Die zweite Annahme geht davon aus, dass Medien mit einer Berichterstattung von geringerer journalistischer Qualität eher von Nutzern mit einem geringeren Bildungsniveau genutzt werden, als Angebote von höherer Qualität. Hierzu beruft sich diese Studie auf zwei differente Zugänge. Zum einen wird die in der Kommunikationswissenschaft gängige Unterscheidung von Boulevardzeitung (/-medium) und Qualitätsmedium bemüht. Mit Blick auf die hier untersuchten Medien lässt sich demnach Bild Online der Forschung entsprechend eindeutig als Boulevardmedium charakterisieren (vgl. Esser 1999, S. 398). An dieser Stelle wurde die Entscheidung getroffen, Focus Online zusätzlich als Boulevardmedium aufzufassen. Hierfür sprechen zwei wesentliche Gründe. Ohne an dieser Stelle eine systematische Auswertung leisten zu wollen, wird deutlich, dass der Aufbau und die Inhalte von Focus Online im Vergleich zu den anderen Websites stark an den Boulevard erinnern. Entsprechende, definitorische Kriterien,3 wie zum Beispiel ein plakativer Stil inklusive der Emotionalisierung und Skandalisierung von Inhalten sowie die Prominenz ‚leichterer’ Themen, wie Sport, Geschichten über Prominente oder alltägliche Interessen, sind hier stärker vertreten als auf den hier als Qualitätsmedien eingeordneten Portalen (vgl. Blum 2011, S. 10; Gripsrud 2000, S. 293; Raabe 2013, S. 33). Zwei Screenshots der Startseiten von Focus Online und Zeit Online vom 14. Februar 2014, die mithilfe des bereits thematisierten Internetarchivs (https://web.archive.org) gesichert wurden, verdeutlichen exemplarisch die hier begründete Einschätzung (vgl. Abbildung 9.1).
3
Eine pointierte Lexikon-Definition liefert Raabe (2013, S. 33). „Bezeichnung für einen Zeitungstyp, der in Aufmachung, Textteil und Gestaltung durch einen plakativen Stil, große Balkenüberschriften mit reißerischen Schlagzeilen, zahlreiche, oft großformatige Fotos sowie eine einfache, stark komprimierte Sprache gekennzeichnet ist.“
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 271
Abbildung 9.1: Startseiten von Focus Online (links) und Zeit Online (rechts) vom 14.02.14
Quellen: Focus Online (links), Zeit Online (rechts)
Zweitens zeigte eine Auswertung des Medienportals Meedia.de aus dem Jahr 2012, dass sich die Nutzerinnen von Focus Online in überdurchschnittlich hohem Maße für Boulevardinhalte interessierten, wie dies sonst nur bei Bild Online der Fall sei und zeigte ebenfalls, dass die sozio-demographische Zusammensetzung dieser Nutzer eher auf ein Boulevardmedium hindeute (vgl. Schröder 2012). Für diese Arbeit wurden Daten der Arbeitsgemeinschaft Online Forschung (AGOF) ausgewertet, die diese Einschätzung bestätigen. Die AGOF misst die Reichweite von Online-Angeboten im Internet für Werbeträger und bietet in begrenztem Maße auch Daten zum Bildungsgrad der Nutzer (vgl. AGOF 2015). Hierbei wurde deutlich, dass die Nutzerschaft von Focus Online neben der von Bild Online im Vergleich zu den anderen hier untersuchten Angeboten den höchsten Anteil an
272 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Nutzern ohne Schulabschluss oder mit Hauptschulabschluss aufweist. Passend hierzu sind die Anteile der Nutzer mit (Fach-)Abitur oder Hochschulabschluss im Vergleich die Niedrigsten. Die Werte der beiden Plattformen unterscheiden sich derweil kaum. Die AGOF-Daten bilden auch die Grundlage für Zugang 2. Zum Zeitpunkt der Auswertung war April 2015 der aktuellste Datensatz. Die AGOF legt monatliche Datensätze vor, welche die einzelnen Nutzer pro Website innerhalb der letzten drei Monate ermittelt und sozio-demographische Angaben zu diesen macht. Auf Basis dieses drei Monats-Turnus wurden vier Datensätze ausgewertet und somit ein virtuelles Jahr von April 2014 bis April 2015 zur Grundlage genommen. Aus den vier Datensätzen wurden Durchschnittsprozentewerte gebildet (siehe Tabelle 9.2), auf deren Basis sich drei Gruppen innerhalb der sieben untersuchten Betreibermedien ausdifferenzieren lassen. Tabelle 9.2: Nutzerinnen der Betreibermedien nach (Hoch-)Schulabschluss Betreibermedium
Ohne Schul- bzw. mit
Mindestens (Fach-)Abitur
Bild Online
28,8%
40,4%
Die Welt
25,8%
45,0%
FAZ.net
22,5%
51,4%
Focus Online
27,1%
42,8%
RP Online
26,3%
45,7%
Spiegel Online
23,6%
49,1%
Zeit Online
22,2%
50,9%
Hauptschulabschluss
Die niedrigsten Werte erzielten, wie bereits thematisiert, Bild Online und Focus Online. Eine Zwischengruppe bilden Die Welt und RP Online. Schließlich bilden FAZ.net, Spiegel Online und Zeit Online die Gruppe der Plattformen, deren Nutzer am ehesten über einen hohen Bildungsstand und nur selten über keinen Schulabschluss verfügen. Dabei liegen interessanterweise alle Plattformen laut AGOF über den Werten der Internetnutzer insgesamt (34,9% ohne Schul-, beziehungsweise mit Hauptschulabschluss zu 34,8% mit mindestens (Fach-)Abitur) und der Gesamtbevölkerung (43,1% zu 28,8%), wobei letzterer Bias in der Forschung hinlänglich bekannt ist. Eine Übersicht über die zugewiesenen Variablen je Betreibermedium bietet Tabelle 9.3.
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 273
Tabelle 9.3: Kontextuelle Variablen Betreiberme-
Politische Tendenz der Qualität der
dium
Berichterstattung
Berichterstattung
(Hoch-)Schulabschluss der Nutzer
Bild Online
Rechts/ konservativ
Boulevardmedium
Eher niedrig
Die Welt
Rechts/ konservativ
Kein Boulevardme-
Eher mittel
dium FAZ.net
Rechts/ konservativ
Kein Boulevardme-
Eher hoch
Focus Online
Rechts/ konservativ
Boulevardmedium
Eher niedrig
RP Online
Rechts/ konservativ
Kein Boulevardme-
Eher mittel
Spiegel Online
Links/ liberal/ progres- Kein Boulevardme-
dium
dium siv Zeit Online
Links/ liberal/ progres- Kein Boulevardmesiv
E INFLUSS
STRUKTURELLER
Eher hoch
dium Eher hoch
dium
V ARIABLEN
Um den Einfluss struktureller Variablen zu prüfen, wurde für jedes Betreibermedium geklärt, ob eine strukturelle Variable ausgeprägt ist oder nicht. Auf Basis der Zugehörigkeit zu einem Thread (zum Beispiel Bild Online, FAZ.net, Zeit Online) wurde somit jedem einzelnen Kommentar ein binärer Wert für jede Strukturvariable zugewiesen. Im Anschluss hieran wurden alle vollständig codierten Kommentare in einen gemeinsamen Datensatz überführt und es somit ermöglicht, die Ausprägung der codierten inhaltlichen Merkmale zu einzelnen Strukturvariablen in Bezug zu setzen. Ähnlich wie im vorangegangen Kapitel wurde ebenfalls ein Chi-Quadrat-Test durchgeführt. Somit ist es möglich, mögliche Zusammenhänge auf statistische Signifikanz zu prüfen sowie auf Basis eines sensiblen Zusammenhangskoeffizienten auf deren Stärke zu schließen. Anders als im vorangegangenen Kapitel reicht hierzu die Berechnung des Koeffizienten Phi nicht aus, da dieser nur für eine Vier-Felder-Tafel geeignet ist. In diesem Kapitel geht es darum, Erklärungsansätze für Unterschiede im diskursiven Partizipationsverhalten und dessen deliberativer Qualität zu entwickeln. Daher werden auch die Ergebnisse der DQI-Kategorien in die Untersuchung einbezogen. Da diese aber mit Ausnahme der Kategorie Rhetorik mehr als zwei Ausprägungen annehmen können, die aus deliberativer Perspektive eine Wertigkeit zum Ausdruck bringen, ist der Koeffi-
274 | DIGITALE DISKUSSIONEN
zient Phi ungeeignet. Für die ordinal skalierten Kategorien des DQI erfolgt deshalb eine Berechnung der Zusammenhangsstärke mithilfe des Koeffizienten Cramers V, der für Kreuztabellen von beliebiger Größe geeignet ist4. Damit orientiert sich diese Arbeit zum einen weiterhin an gängigen Empfehlungen der einschlägigen Methodenliteratur (vgl. Benninghaus 2007, S. 110-112, 116; Diaz-Bone 2013, S. 82-85; Kuckartz et al. 2013, S. 98-100, 219-222; Toutenburg et al. 2008, S. 114). Zum anderen wählt sie ein in der Forschung bereits bekanntes Vorgehen, indem sie statistische Zusammenhänge zwischen einzelnen inhaltlichen Ausprägungen und Strukturvariablen analysiert, um auf den Erklärungsgehalt der letzteren zu schließen. Halpern und Gibbs (2013, S. 1164) sowie Rowe (2014, S. 10) gehen ähnlich vor, indem sie Unterschiede bestimmter Merkmalsausprägungen diskursiver Partizipation auf unterschiedlichen sozialen Medien (Facebook gegenüber Youtube sowie Online-Leserkommentare gegenüber Facebook) mittels ChiQuadrat-Test auf statistische Signifikanz prüfen. Besonders ähnlich ist der Ansatz von Santana (2014, S. 26-27), der anonym abgegebene mit nicht-anonym veröffentlichten Online-Leserkommentaren vergleicht und einen Chi-Quadrat-Test anwendet. Es wurden Tests auf alle codierten Kategorien beider verwandten Codierschemata (erweiterter DQI sowie binäres Codierschema) sowie den eingangs von Kapitel 8 entwickelten Aggregatvariablen (deliberativ, ein Merkmal und zwei Merkmale liberal individualistischer Partizipation) hin durchgeführt. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werden ausschließlich die Werte der Korrelationskoeffizienten angegeben und signifikante Zusammenhänge mittels einem bis drei Sternchen kenntlich gemacht5. Die folgenden Tabellen sind entsprechend zu verstehen. Im Folgenden werden die Ergebnisse der einzelnen Variablen je funktionalem Schwerpunkt, wie in Kapitel 4 ausdifferenziert, nacheinander diskutiert und interpretiert, bevor die entsprechenden Hypothesen verifiziert oder falsifiziert werden. Die folgende Tabelle zeigt die hierbei deutlich gewordenen, statistisch
4
Zwar ist Cramers V ebenfalls wie Phi grundlegend für die Analyse von Zusammenhängen zwischen nominalen Variablen entwickelt worden, aber ist in diesem Fall ebenfalls anwendbar, wie etwa bei Kuckartz et al. (2013, S. 222) nachzulesen ist: „Um den Zusammenhang von einer höher und einer niedriger skalierten Variablen (z.B. von einer ordinalen und einer nominalen) zu bestimmen, ist es möglich, die höher skalierte Variable als niedriger skaliert aufzufassen und z.B. einen Korrelationskoeffizienten für nominal x nominal zu berechnen.“ Da es sich um eine Mehrfelder-Tabelle handelt, ist die Entscheidung für Cramers V folglich im Einklang mit den gängigen Einschätzungen der Methodenliteratur.
5
Eine tabellarische Übersicht der absoluten Zahlen aller codierten Kategorien je untersuchtem Medium findet sich im Anhang.
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 275
signifikanten Zusammenhänge (Tabelle 9.4) der zur Nutzeridentifikation dienenden Strukturmerkmale. Identifikation: Es wurden drei der Nutzerregistrierung und Identifizierung dienende Funktionen identifiziert. Die Analyse steht allerdings in allen drei Fällen vor Herausforderungen. Registrierung, Facebook-Registrierungsmöglichkeit und Klarnamenzwang können nur unter Vorbehalt und nicht auf dieselbe Weise interpretiert werden. Den drei Funktionen kommt zum einen ein unterschiedlicher Grad der Verbindlichkeit für die Nutzerinnen zu. Zum anderen ist die Varianz im Falle der Registrierung äußerst gering. Von den untersuchten Plattformen ließ es nur Die Welt zu, auch ohne Registrierung zu kommentieren. Dennoch wurde für das Absenden eines Kommentars die Angabe einer gültigen E-Mail-Adresse vorausgesetzt. Trotzdem wurde dies überaus häufig genutzt (circa 78% aller Kommentare auf Die Welt stammten von nicht registrierten Nutzerinnen), sodass eine Auswertung durchgeführt werden konnte. Da in allen anderen Fällen die Registrierung mit mindestens einer gültigen E-Mail-Adresse verbindlich ist, ist daher davon auszugehen, dass auf den entsprechenden Plattformen alle Verfasser von Leserkommentaren registriert sind. Dagegen kommt den anderen zwei Funktionen deutlich weniger Verbindlichkeit zu. Es stellt auf einigen Plattformen lediglich eine zusätzliche Möglichkeit für die Nutzer dar, sich an Stelle einer E-Mail-Adresse über ihr Facebook-Profil zu registrieren. Aus den Daten ist nicht zweifelsfrei zu schließen, ob und wie häufig dies genutzt wurde. Daher sind die entsprechenden Ergebnisse nur wenig aussagekräftig, der Vollständigkeit halber aber aufgeführt. Ähnlich verhält es sich mit dem Klarnamenzwang. Dieser ist zwar verbindlich, kann aber wie in Kapitel vier argumentiert wurde, von den Betreibermedien nicht nachgehalten werden. Es ist daher unklar, ob sich die Nutzerinnen tatsächlich mit ihrem korrekten Namen registriert haben. Dennoch ist in Bezug auf diese Variable zumindest festzuhalten, dass bei Implementation eines Klarnamenzwangs alle Nutzerinnen dazu aufgefordert werden, ihren echten Vor- und Nachnamen einzutragen. Möchten sie anonym bleiben, müssen sie sich zumindest einen authentisch klingenden Namen ausdenken, um eine Löschung ihres Profils durch die jeweilige Redaktion zu vermeiden.
276 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Tabelle 9.4: Einfluss identifizierender Strukturmerkmale Registrierung Facebook Klarnamen Anzahl Kommentare mit
907
773
293
Merkmalsausprägung Deliberativ
Phi
-,016
-,058
-,004
Ein Merkmal
Phi
,020
,041
,024
Zwei Merkmale
Phi
-,011
-,028
,068*
One Timer
Phi
-,115***
,084**
-,179***
Begründung
Phi
,005
-,008
,019
Demokratischer Respekt
Phi
,056
-,037
-,167***
Interaktiv
Phi
-,024
-,036
,068*
Referenz zum Allgemeinwohl Phi
,026
-,085**
,055
Diskursiver Protest
Phi
-,021
,028
,168***
Monolog
Phi
,024
,036
-,068*
Partikularinteressen
Phi
-,020
,007
,032
Selbst-Expression binär
Phi
,014
-,043
,037
Niveau der Begründung
Cramers V
,042
,036
,079
Respekt
Cramers V
Inhalt der Begründung
Cramers V
Respekt g. Gegenargumenten
-
,080
,204***
,049
,092*
,070
Cramers V
-
-
-
Rhetorik
Phi
-,037
-,050
,143***
Storytelling
Cramers V
,059
,074
,072
Selbst-Expression ordinal
Cramers V
,045
,063
,049
(n=1065)
Auf Basis der vorliegenden Auswertung kann die entsprechende Hypothese 3b nicht verifiziert werden und ist daher zurückzuweisen. Im Falle der Registrierung wurden die Kommentare auf der Plattform Die Welt, die von nicht registrierten Nutzern abgegeben wurden, allen übrigen Nutzern gegenübergestellt. Hieraus ergibt sich keine klare Aussage. Zusätzlich wurden ausschließlich die Kommentare von registrierten und nicht-registrierten Nutzern auf Die Welt gegenübergestellt. Da auch hier keine Tendenz deutlich wurde, ist die Auswertung nicht separat aufgeführt. Die Ergebnisse einer möglichen Facebook-Registrierung sind aufgrund oben genannter Probleme kaum aussagekräftig. Es liegt allerdings auch kein aussagekräftiges Ergebnis einer inhaltlichen Kategorie vor. Schließlich widerspricht das Ergebnis der Auswertung der Klarnamenpflicht der aufgestellten Hypothese, was vor dem Hintergrund der nicht vorhandenen
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 277
Nachhaltigkeit dieser Anforderung aber kaum überraschen kann. Innerhalb des vorliegenden Datensatzes fallen Kommentare, die mit einem (vermeintlichen) Klarnamen versehen sind, eher respektlos und protestorientiert aus als diejenigen, die anonym abgegeben wurden. Wenn einmal aus Tabelle 9.4 ein statistisch signifikanter Zusammenhang hervorgeht, ist dieser zumeist nur von geringer Stärke. Anders ist dies bei den Kategorien, die dezidiert die Tonalität der Beiträge bemessen. Die Kategorien demokratischer Respekt, Respekt sowie diskursiver Protest liefern bis hier hin die eindeutigsten Ergebnisse, die der aufgestellten Subhypothese widersprechen. Protest und Respektlosigkeiten sind signifikant häufiger unter Kommentaren, für deren Veröffentlichung die Angabe von Klarnamen vorausgesetzt wird. Es ist zu resümieren, dass die vorliegende Analyse aus methodischen wie empirischen Gründen keine Argumente dafür liefert, dass Identifizierungsbestrebungen, wie sie aktuell von deutschen Nachrichtenmedien eingesetzt werden, zu einer Verbesserung des Diskussionsklimas beitragen. Aufgrund der Spezifika der einzelnen Variablen ist dieses Ergebnis nicht auf die wissenschaftliche Diskussion zum Thema Anonymität im Internet zu übertragen. Annahmen, wie die von FAZ.net: „Wir [FAZ.net] glauben, dass die besten Beiträge von Mitgliedern erstellt werden, die für ihre Meinung mit ihrem Namen einstehen“ (FAZ.net 2016), scheinen angesichts der hiesigen Ergebnisse aber zumindest zweifelhaft. Auch mit Klarnamen protestieren die Nutzerinnen in hohem Maße anstatt sich zum Deliberieren bewegen zu lassen. Regulierung: Die regulierenden Strukturvariablen Netiquette, Begrenzung der zur Verfügung stehenden Zeichen, apriorische Moderation vor der Veröffentlichung sowie aktive Moderation sind weniger problematisch zu interpretieren. Dennoch ist auch hier einzuschränken, dass unklar ist, ob Nutzer eine Netiquette auch wirklich zur Kenntnis nehmen oder wie eine apriorische Moderation durchgeführt wird. Die zur Verfügung stehenden Zeichen variieren zwischen den Plattformen. Dennoch liefern die Ergebnisse interessante Implikationen (siehe Tabelle 9.5). Eine dem Kommentarbereich vorangestellte Netiquette sowie die Begrenzung der Zeichenanzahl scheinen sich im vorliegenden Datensatz nicht eindeutig positiv auszuwirken. Während die entsprechenden Threads insgesamt signifikant mehr Interaktion hervorgebracht haben, schnitten sie mit Blick auf die Respekthaftigkeit der Beiträge schlechter ab als die übrigen. Dieser vermeintliche Widerspruch lässt sich anhand zweier Argumente aufklären. Erstens wurde im vorherigen Kapitel erläutert, dass der überwiegende Teil der negativen Äußerungen nicht andere Nutzerinnen, sondern als Form diskursiven Protests politische Akteure adressiert. Dies passt dazu, dass die Betreibermedien Diskussion zwischen ihren Nutzern zulassen beziehungsweise fördern, Beschimpfungen und Streit aber nicht
278 | DIGITALE DISKUSSIONEN
tolerieren. Richtet sich die Aggressivität gegen Politiker, scheinen sie weniger restriktiv zu sein. Auch wenn die Netiquetten zumeist recht allgemein gehalten sind und somit theoretisch auch Politiker ‚schützen’, werden diese im Gegensatz zu anderen Nutzern in der Regel nicht explizit erwähnt, wie zum Beispiel bei Zeit Online (2015b) deutlich wird6. Demzufolge widersprechen negative Äußerungen und Protest womöglich deliberativen Anforderungen, aber weniger denen der Betreibermedien. Zweitens implizieren vor allem Studien zu Twitter (vgl. Tumasjan et al. 2011, S. 414; Yardi u. Boyd 2010, S. 325), die sich notwendigerweise mit der sehr restriktiven Zeichenbeschränkung beschäftigen, dass trotz enger Zeichenvorgaben politische Themen angesprochen und diskutiert werden können. Gleichzeitig wird die Kürze aber auch für die emotionale Ausdrucksweise verantwortlich gemacht. Überraschenderweise liefert die Analyse der apriorischen Moderation so gut wie keine verwertbaren Implikationen. Entgegen der hohen Wertschätzung deutscher Medienschaffenden gegenüber dieser Disziplinierungstechnik, welche Reichs (2011, S. 108-109) Interviews wiedergeben, kann kein entsprechender Effekt konstatiert werden. Es sprechen folglich keine Indizien dafür, das positive Ergebnis von Wright und Street (2007, S. 860) eins zu eins auf die untersuchten Leserkommentare zu übertragen. Unklarheit herrscht natürlich gegenüber dem Ausmaß der apriorischen Moderation. Es ist zum Beispiel denkbar, dass die Plattformen mit einer solchen Moderation insgesamt deutlich mehr aggressive und unbegründete Kommentare erhalten und diese bereits vorher aussortieren. Das heißt, dass die zugehörigen Hypothesen bislang nicht bestätigt werden konnten, auch, wenn sich einige Annahmen bestätigten. Die vorliegenden Daten deuten einen positiven Einfluss der Netiquette und der Regulierung der zur Verfügung stehenden Zeichen auf die Interaktivität der Beteiligung an, zeigen aber ebenso einen Zusammenhang zur Artikulation von Protest. Zwar zeigen die Berechnungen einige hochsignifikante Zusammenhänge, aber die Ergebnisse lassen keine eindeutigen Interpretationen zu und sind aus deliberativer Perspektive nicht 6
Zeit Online (2015b) veröffentlicht die folgenden als erste zwei von neun Kommentarregeln: „1. Beleidigungen haben in den Diskussionen keinen Platz. Wenn Sie einem Artikel oder Kommentar widersprechen, kritisieren Sie dessen Inhalte und greifen nicht den Verfasser an. 2. Diskriminierung und Diffamierung anderer Nutzer und sozialer Gruppen aufgrund ihrer Religion, Herkunft, Nationalität, Behinderung, Einkommensverhältnisse, sexuellen Orientierung, ihres Alters oder ihres Geschlechts sind ausdrücklich nicht gestattet.“ Explizit erwähnt werden andere Nutzer, die Journalisten als Verfasser von Artikeln sowie soziale Gruppen im Allgemeinen. Auch, wenn Politiker im weitesten Sinne auch hierzu gezählt werden können, fehlen sie in der Aufzählung wie auch die politische Einstellung nicht explizit erwähnt wird.
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 279
konsistent. Die Stärke der vorgefundenen Zusammenhänge ist überwiegend als gering einzustufen und kaum aussagekräftig. Tabelle 9.5: Einfluss regulierender Strukturmerkmale . Netiquette Zeichen- Moderation Aktive Anzahl Kommentare mit
anzahl
a priori
Moderation
674
565
793
162
Merkmalsausprägung Deliberativ
Phi
,052
-,012
,009
,084**
Ein Merkmal
Phi
-,023
,033
-,013
-,028
Zwei Merkmale
Phi
One Timer
Phi
Begründung
Phi
Demokratischer Respekt Interaktiv
,044
,072*
-,013
-,057
-,128***
-,169***
,011
-,043
,018
,023
-,006
,090**
Phi
-,149***
-,162***
,014
,065*
Phi
,122***
,065*
-,005
,067*
,093**
,122***
-,083**
,094**
Referenz zum Allgemein- Phi wohl Diskursiver Protest
Phi
,109***
,157***
-,008
-,090**
Monolog
Phi
-,122***
-,065*
,005
-,067*
Partikularinteressen
Phi
,022
,049
-,023
-,020
Selbst-Expression binär
Phi
,057
,030
,003
,025
Niveau der Begründung
Cramers V
,093*
,098*
,033
,093*
Respekt
Cramers V
,160***
,185***
,044
-
Inhalt der Begründung
Cramers V
,149***
,147***
,098*
,117**
Respekt g. Gegenargu-
Cramers V
-
-
-
-
,135***
-,008
-,040
menten Rhetorik
Phi
,163***
Storytelling
Cramers V
,130***
,057
,039
,033
,060
,032
,048
,090*
Selbst-Expression ordinal Cramers V (n=1065)
Ein konsistentes und somit verhältnismäßig aussagekräftiges Ergebnis liefert die Analyse der aktiven Moderation, obgleich erneut nur ein Fall allen anderen gegenüber gestellt wurde. Aus deliberativer Perspektive sind die Leserkommentare auf Zeit Online im Schnitt von höherer Qualität als die auf den übrigen Plattformen. Eine Erklärung hierfür mag in der aktiven Moderation des Teams von Zeit
280 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Online liegen. Dies würde sich mit grundsätzlichen Annahmen der bisherigen Forschung decken (vgl. Janssen u. Kies 2005, S. 321-322; Wright 2006, S. 555). Die statistischen Zusammenhänge sind allerdings allesamt nur sehr gering ausgeprägt, weshalb das Ergebnis trotz seiner Konsistenz kein starkes Argument für eine Bestätigung von Hypothese 3a liefert. Dies gilt umso mehr, als dass ein Einfluss von Drittvariablen nicht ausgeschlossen werden kann. Die Kontrolle kontextueller Variablen, die im folgenden Kapitel erfolgt, bestätigt zwar einige Zusammenhänge, aber nicht alle.7 Partizipation: Mit Blick auf die Strukturvariablen, die als partizipativ eingeordnet wurden, zeigt sich ein neues Problem. Mit Spiegel Online verfügte nur eine Plattform zum Zeitpunkt der Datenakquise weder über eine Meldefunktion für die Nutzerinnen noch über eine Nutzerbewertungsfunktion. Da Spiegel Online auch die einzige Plattform mit einer integrierten Forenstruktur ist, musste somit dreimal die gleiche Auswertung durchgeführt werden, welche schlicht die Stärken und Schwächen der Kommentare auf Spiegel Online im Vergleich zu denen der anderen Plattformen wiederspiegelt. Ein vergleichsweise hohes Maß an Respekt und die geringe Anzahl an Interaktionen auf Spiegel Online prägen denn auch die einzelnen Auswertungen (siehe Tabelle 9.6). Dies widerspricht der Subhypothese e-her, als dass es sie bestätigt. Die Auswertung der Möglichkeit für die Nutzer, die Kommentare nach inhaltlichen Gesichtspunkten (etwa dem Bewertungsergebnis) zu sortieren, lieferte keine nennenswerten Implikationen bezüglich eines möglichen Einflusses auf die deliberative Qualität der Leserkommentare. Wenn sich aus diesen drei Auswertungen eine Tendenz ablesen lässt, dann die, nach der Kommentare auf Seiten inklusive partizipativer Funktionen ein höheres Maß an Respektlosigkeiten aufweisen, als auf den Seiten ohne diese Funktionen. Entsprechende signifikante Zusammenhänge zeigen sich bei allen drei Variablen. Ein logischer Erklärungsansatz bestünde darin, dass Nutzerinnen emotionale, protestorientierte Aussagen zu honorieren scheinen. Bei aller Rücksicht auf die limitierte 7
Beim direkten Vergleich von Zeit Online mit dem einzigen anderen als links-/ liberal-/ progressiv eingestuften Betreibermedium Spiegel Online, die ebenfalls beide als Qualitätsmedien eingestuft wurden, bestätigen sich die Zusammenhänge der Kategorien Begründung (Phi: ,100*), Interaktivität (Phi: ,151***) und Allgemeinwohl (Phi: ,188***) zur Variable aktive Moderation. Darüber hinaus wurde nur noch ein weiterer signifikanter Zusammenhang deutlich, welcher dem Ergebnis in Tabelle 9.5 sogar widerspricht. Demokratischer Respekt steht nun in einem negativen Zusammenhang zu aktiver Moderation (Phi: -,118*). Auch hier aber gilt, dass der Einfluss von weiteren Drittvariablen nicht ausgeschlossen werden kann. Die Auswertung in diesem Kapitel zeigte bereits, dass sich Zeit Online und Spiegel Online zusätzlich anhand weiterer struktureller Variablen unterscheiden.
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 281
Aussagekraft dieser Analyse, implizieren die Ergebnisse doch, dass partizipative Funktionen im Hinblick auf das Diskussionsklima eher verstärkende denn regulierende Wirkung haben könnten, die aus deliberativer Perspektive nicht positiv sein muss. Dies passt zu den Ergebnissen der Forschung zu viralen Botschaften (vgl. Berger u. Milkman 2010, S. 33-34; Nahon et al. 2011, S. 20-21). Die Eigenschaften deliberativer Nachrichten scheinen es nicht zu sein, welche größtmögliche Beachtung nach sich ziehen. Tabelle 9.6: Einfluss partizipativer Strukturmerkmale Meldefunk- NutzerAnzahl Kommentare mit
Inhaltliche Foren-
tion
bewertung Sortierung struktur
767
767
570
298
Merkmalsausprägung Deliberativ
Phi
-,003
-,003
,024
,003
Ein Merkmal
Phi
,003
,003
-,048
-,003
Zwei Merkmale
Phi
,085**
,085**
,044
-,085**
One Timer
Phi
-,114***
-,114***
,014
,114***
Begründung
Phi
-,007
-,007
-,010
,007
Demokratischer Respekt Phi
-,222***
-,222***
-,057
,222***
Interaktiv
Phi
,098***
,098***
,038
-,098***
Referenz zum Allge-
Phi
,104***
,104***
,048
-,104***
Diskursiver Protest
Phi
,183***
,183***
,030
-,183***
Monolog
Phi
-,098***
-,098***
-,038
,098***
Partikularinteressen
Phi
,059
,059
,029
-,059
Selbst-Expression binär Phi
,030
,030
-,001
-,030
Niveau der Begründung Cramers V
,131***
,131***
,072
,131***
Respekt
Cramers V
,238***
,238***
,104**
,238***
Inhalt der Begründung
Cramers V
,160***
,160***
,068
,160***
Respekt g. Gegenargu-
Cramers V
-
-
-
-
meinwohl
menten Rhetorik
Phi
,202***
,202***
,106***
-,202***
Storytelling
Cramers V
,114**
,114**
,071
,114**
,045
,045
,003
,045
Selbst-Expression ordi- Cramers V nal (n=1065)
282 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Forenstruktur: Spiegel Online weist aus deliberativer Perspektive verhältnismäßig gute Ergebnisse auf, was sich mit den Ergebnissen der Untersuchung von Jakobs (2014, S. 202-203) deckt und auch zu den Ergebnissen Kerstings (2005b) früher Studie zu Webforen von Spiegel und Focus Online passt. Dies mag als Indiz dafür gelten, dass sich eine Forenstruktur zumindest nicht negativ auf die Qualität der eingehenden Leserkommentare auszuwirken scheint. Da Spiegel Online im Gegensatz zu Zeit Online auf eine aktive Moderation verzichtet, bietet sich an dieser Stelle die Forenstruktur der Kommentarfunktion als erklärende Strukturvariable am ehesten an. Dies passt auch zu der Einschätzung von Graham und Wright (2015, S. 6), wonach der britische Guardian seine Kommentarfunktion auf eine Forenstruktur umgestellt hat, um die Beitragsqualität zu optimieren. Ein weiteres Indiz hierfür liefert die Tatsache, dass in der hier durchgeführten Untersuchung der Anteil interaktiver Kommentare auf Spiegel Online deutlich geringer war als auf allen anderen Plattformen. Dies widerspricht der bereits zitierten Untersuchung von Jakobs, die genau das Gegenteil ausmachen konnte. Dies lässt sich aber logisch erklären. Spiegel Online hatte mit Abstand die meisten Kommentare im vorliegenden Datensatz. Dies spricht für das vergleichsweise hohe Interesse der Internetnutzer an diesem Artikel im Gegensatz zu denen der anderen Medien. Die ersten einhundert Kommentare gingen innerhalb von nur sieben Minuten ein. Es ist folgerichtig, dass sich unter diesen Kommentaren kaum interaktive Kommentare finden. Denn wie sollten die Nutzer auf einen anderen Kommentar reagieren, der fast zeitgleich geschrieben wird? In Anbetracht des Zusammenhangs von formaler Interaktion und anderen deliberativen Qualitätskriterien erscheint es daher logisch, dass das Ergebnis von Spiegel Online bei etwas geringerem Nutzeraufkommen noch sprichwörtlich ‚Luft nach oben’ hat. Die guten Ergebnisse des Webforums von Spiegel Online bei der Untersuchung von Kersting (2005b) vor etwa zehn Jahren mögen hierfür als zusätzliches Indiz dienen. Gegen einen größeren Einfluss der Forenstruktur spricht allerdings die bereits thematisierte Analyse eines Datensatzes, welcher ausschließlich die Leserkommentare von Spiegel Online und Zeit Online enthält und somit die im folgenden Kapitel diskutierten Kontextvariablen kontrolliert. Ein aussagekräftiges Ergebnis liefert hierbei nur noch das Merkmal demokratischer Respekt, während alle anderen positiven, signifikanten Zusammenhänge verschwinden. Es liegt folglich nahe, eine Erklärung für das vergleichsweise gute Ergebnis von Spiegel Online abseits struktureller Merkmale zu vermuten. In der Gesamtbetrachtung sind die aufgestellten Hypothesen, die eine positive Wirkung regulierender, identifizierender und partizipativer Funktionen auf die deliberative Qualität von Online-Leserkommentaren angenommen hatten, nicht zu
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 283
bestätigen. Zwar gab es einige Ergebnisse, die eine entsprechende Tendenz verheißen, vor allem der Einfluss aktiver Moderation, insgesamt aber ergab sich kein entsprechendes Gesamtbild. Es zeigten sich nur vereinzelt signifikante Zusammenhänge, die überwiegend nur von geringer Stärke sind. Nur selten ist das Ergebnis einer Variable in theoretischer Hinsicht konsistent und wenn doch, wie in den Fällen aktiver Moderation, Nutzerbewertungsfunktion, Nutzermeldefunktion und Forenstruktur, nur von geringer statistischer Aussagekraft. Dennoch sind die Ergebnisse aufschlussreich. Sie implizieren zum einen, dass die Möglichkeiten der Betreibermedien begrenzt sind, durch strukturelle Faktoren auf die Qualität von Online-Leserkommentaren einzuwirken. Dies entspricht nur zum Teil den wenigen Einschätzungen gegenüber dem Einfluss struktureller Designvariablen in der Forschung. Einschätzungen, nach denen Bestrebungen die Nutzeranonymität zu begrenzen, die Diskussionsqualität steigert, können auf Basis der vorliegenden Analyse zumindest nicht bestätigt werden (vgl. Coe et al. 2014, S. 675; Rowe 2014, S. 12; Santana 2014, S. 28). Die Ergebnisse deuten gar eher auf das Gegenteil hin. Dies impliziert, dass andere Faktoren aktuell einen deutlich höheren Einfluss ausüben. Demgegenüber bestätigte sich der überraschende Trend, demgemäß Post-Moderation der Moderation der Kommentare vor Veröffentlichung zumindest nicht unterlegen zu sein scheint (vgl. Ruiz et al. 2011, S. 482; Strandberg u. Berg 2013, S. 143; Weber 2014, S. 11). Das vergleichsweise gute Ergebnis von Zeit Online deutet dagegen darauf hin, dass beim Faktor aktiver Moderation Erklärungspotential vermutet werden kann. Dies deckt sich nicht nur mit einschlägigen Annahmen der Forschung (vgl. Janssen u. Kies 2005, S. 321322; Wright 2006, S. 555). Es entspricht scheinbar auch der Wahrnehmung der Journalisten untereinander, welche sich dem Beitrag der taz-Medienredakteurin Anne Fromm (2014) entnehmen lässt. „Zeit Online galt bisher zumindest unter den deutschen Nachrichtenseite[n] als das vorbildlichste Beispiel für die Moderation der Kommentare,“ schreibt sie. Widersprüchlich ist es aber, dass sie die Moderationspraxis von Spiegel Online wenig später explizit als „noch stiefmütterlicher“ (im Vergleich zur früheren Praxis der Süddeutschen) kritisiert. Das vergleichsweise gute Ergebnis von Spiegel Online, das angesichts der Ergebnisse von Jakobs (2014, S. 202-203) keine Ausnahme zu sein scheint, stellt zwar nicht zwingend einen Widerspruch dar, zeigt aber die Komplexität des Versuchs, die Qualität von Online-Leserkommentaren zu erklären. Es gibt eine solche Fülle an möglichen Einflussfaktoren, dass generalisierbare Aussagen kaum möglich scheinen. Die vorliegenden Ergebnisse lassen sich aber als Indiz dafür lesen, dass die aktive Moderation auf Zeit Online gewisse Früchte trägt. Die Drittvariablenkontrolle,
284 | DIGITALE DISKUSSIONEN
welche die Auswertung auf Leserkommentare der Betreibermedien Spiegel Online und Zeit Online beschränkte, bestätigte jedenfalls für einige wesentliche Merkmale deliberativer Qualität das gute Ergebnis von Zeit Online. Zum anderen implizieren die Ergebnisse, dass partizipative Funktionen aus deliberativer Perspektive ambivalente Konsequenzen nach ziehen können. Es ist anzunehmen, dass diese nur dort positive Auswirkungen auf die deliberative Qualität der Leserbeiträge haben, wo eine Mehrheit der Nutzerinnen beziehungsweise eine kritische Masse entsprechende Beiträge hervorbringen will und positiv bewertet. Die ambivalente Rolle der Nutzerbewertungsfunktion im Speziellen passt zu den Andeutungen, die der Community-Redaktion von Zeit Online zu entnehmen sind. Demnach basierten Leserempfehlungen nicht auf der Qualität des Kommentars, sondern darauf, ob der Nutzer der inhaltlich vertretenen Position zustimme, was letztlich sogar die Sachlichkeit negativ beeinflusse (vgl. Schmidt 2014). Eine Annahme, die sich mit den hier präsentierten Ergebnissen deckt. Zeit Online stellt gar überrascht fest, dass „das Prinzip der Leserempfehlungen nicht so klar [sei], wie wir dachten“ (Taube 2014). Präferieren die Nutzer die Leserkommentare folglich als Forum für diskursiven Protest zu nutzen, werden die Funktionen diesen wohl eher fördern, denn hemmen. Da Protest ein wichtiges Element des individuellen Partizipationsrepertoires in einer Demokratie darstellt, ist dies aus normativer beziehungsweise demokratietheoretischer Sicht kein per se negativ zu beurteilendes Ergebnis. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Funktionen dazu beitragen, dass diskursive Partizipation und Debatte nicht in negativer Weise ausarten. Die hohen Werte in der Kategorie demokratischer Respekt können hierfür als Indiz dienen. Sofern diskursiver Protest ein Mindestmaß an demokratischem Respekt wahrt, ist aus demokratietheoretischer Sicht nicht viel dagegen einzuwenden. Im Gegensatz zu sogenannter ‚Cyberkriminalität’, die auch zum Ausdruck von Protest genutzt werden kann (vgl. van Laer u. van Aelst 2010, S. 244), sind aggressive Äußerungen noch eine vergleichsweise harmlose Ausdrucksform. Eine weitere Folgerung bezüglich struktureller Variablen lässt sich indes ohne weitere Auswertung ziehen. Die Analyse im vorangegangenen Kapitel machte deutlich, dass interaktive Kommentare aus deliberativer Perspektive eher von höherer Qualität sind als nicht formal interaktive Kommentare. Zwar haben alle untersuchten Plattformen eine Funktion implementiert, die es technisch erleichtert, Interaktion herzustellen, aber die einzelnen Funktionen unterscheiden sich deutlich in ihrer Ausführung. Nur zwei Plattformen erreichen mit Blick auf die als formal interaktiv eingestuften Kommentare einen Wert von über 50%. Dies sind Focus Online und Zeit Online. Während die Kommentare auf letzterer Plattform normativ gesehen gut abschneiden, deuten die Ergebnisse bei Focus Online auf
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 285
ein aggressiv-emotionales Partizipationsverhalten hin. Dies ist aber nicht zwingend ein Widerspruch, sondern zeigt, dass Interaktion nicht gleich Interaktion ist. Die strukturellen Unterschiede zwischen den zwei Plattformen bieten hierfür eine nachvollziehbare Erklärung. Während der Aufbau der Kommentarfunktion auf Focus Online die Sichtbarkeit der interaktiven Kommentare eher behindert, wird diese auf Zeit Online gefördert. Hier wird eine Antwort sowohl dem beantworteten Kommentar zugeordnet als auch als eigenständiger Kommentar der chronologischen Kommentarfolge hinzugefügt8. Auf Focus Online dagegen sind alle Antworten nur durch explizites Anklicken sichtbar. Überraschenderweise scheint dies die Motivation zur Interaktion weniger zu beeinflussen als deren konkrete Ausgestaltung. Dies lässt sich folglich als Indiz dafür auffassen, dass nicht nur die aktive Moderation, sondern auch die spezifische Ausgestaltung der Antwortfunktion die deliberative Qualität der Leserkommentare auf Zeit Online fördert.
E INFLUSS
KONTEXTUELLER
V ARIABLEN
Es wurden zwei kontextuelle Faktoren ausdifferenziert, denen im Rahmen der Begründung des dritten Hypothesenbündels Erklärungsgehalt in Bezug auf die sich realisierende diskursive Partizipation in Online-Leserkommentaren unterstellt wurde. Im Gegensatz zu den bereits diskutierten strukturierten Eigenschaften sind die politische Ausrichtung der Berichterstattung und deren Qualität nicht objektiv zu bestimmen. Darüber hinaus kann über die daraus folgenden Kausalketten nur gemutmaßt werden. Auch wenn sich die entsprechenden Hypothesen bestätigen, kann mithilfe einer Inhaltsanalyse nichts über die Verfasser der entsprechenden Leserkommentare ausgesagt werden. Ebenso mag es naheliegen und den Ergebnissen der jüngeren Forschung entsprechen, wenn angenommen wird, dass die politische Ausrichtung der Berichterstattung Gleichgesinnte eher anzieht denn Andersdenkende (vgl. Habermas 2008, S. 162; Mitchelstein u. Boczkowski 2010, S. 1091; Sunstein 2009, S. 150). Dies heißt nicht, dass dem auch so ist.
8
Dies galt für die Kommentarfunktion auf Zeit Online zum Zeitpunkt der Auswertung. Im September 2015 wurde das Design von Zeit Online grundlegend überarbeitet, was sich auch auf die Kommentarfunktion auswirkte. Kommentare, die als Antworten veröffentlicht werden, werden nun ausschließlich dem ursprünglichen Kommentar zugeordnet und erscheinen nicht mehr als eigenständiger Kommentar in der chronologischen Folge der Kommentare. Gemäß obiger Argumentation ist anzunehmen, dass sich dies eher negativ auf die Qualität der Kommentare auswirken könnte.
286 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Es ist Ziel dieser Arbeit, trotz dieser Einschränkungen möglichst überzeugende Implikationen bezüglich des Erklärungsgehaltes dieser zwei kontextuellen Faktoren zu liefern; auch wenn klar sein sollte, dass hiermit eher eine Tendenz ausgedrückt werden kann als eine allgemeingültige Schlussfolgerung. Eine solche verbietet sich ebenfalls vor dem Hintergrund der Tatsache, dass dieser empirischen Analyse ein thematischer Fall zugrunde liegt, für den an dieser Stelle gültige Aussagen getroffen werden können. Allgemeingültige Aussagen in Bezug auf die gewaltige Summe der Leserkommentare auf den untersuchten Medien insgesamt verbieten sich hiermit. Gleichzeitig sind die gewonnen Implikationen aber natürlich interpretationsfähig. Politische Tendenz: Um den Einfluss der politischen Tendenz der Berichterstattung auf die diskursive Partizipation und deren deliberative Tendenz zu prüfen, wurden die untersuchten Medien in zwei Gruppen eingeteilt. In der Kommunikationswissenschaft werden die deutschen Nachrichtenmedien traditionell auf einem politischen Links-Rechts-Schema verortet. Grundsätzlich bietet es sich daher an, eine ordinale Abstufung der Betreibermedien von links nach rechts vorzunehmen. Aufgrund der geringen Fallzahl von sieben Medien aber wurden die Medien in zwei Gruppen zusammengefasst: Auf der einen Seite die tendenziell rechts-/ konservativen Medien Bild Online, Die Welt, FAZ.net, Focus Online und RP Online und auf der anderen Seite die eher links-/ liberalen-/ progressiven Medien Spiegel Online und Zeit Online. Ähnlich dem Vorgehen bei den strukturellen Variablen wurde jedem Kommentar ein Wert von null oder eins entsprechend dem Betreibermedium, auf welchem er veröffentlicht wurde, zugewiesen. Tabelle 9.7 zeigt die Ergebnisse in der Übersicht. Aufgeführt sind ausschließlich die Stärke der einzelnen Zusammenhänge sowie die statistische Signifikanz. In der letzten Spalte ist die Richtung des Zusammenhangs angegeben9.
9
Es wurde eine Berechnung durchgeführt, bei welcher der Zusammenhang zur Ausprägung des Merkmals Links-/ liberal-/ progressiv berechnet wurde. Daher enthält die Tabelle im Falle des Koeffizienten Phi auch negative Werte, die aber nichts anders aussagen, als dass ein Zusammenhang zur Ausprägung des Merkmals rechts-/ konservativ besteht.
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 287
Tabelle 9.7: Einfluss politischer Tendenz Zusammen-
Richtung des
hang
Zusammenhangs
Deliberativ
Phi
,064*
Links/ liberal/ progressiv
Ein Merkmal
Phi
-,023
Rechts/ konservativ
Zwei Merkmale
Phi
-,118***
Rechts/ konservativ
One Timer
Phi
,072*
Links/ liberal/ progressiv
Begründung
Phi
,071*
Links/ liberal/ progressiv
Demokratischer Respekt
Phi
,249***
Links/ liberal/ progressiv
Interaktiv
Phi
-,040
Rechts/ konservativ
Referenz z. Allgemeinwohl Phi
-,026
Rechts/ konservativ
Diskursiver Protest
-,231***
Rechts/ konservativ
Phi
Monolog
Phi
,040
Links/ liberal/ progressiv
Partikularinteressen
Phi
-,068*
Rechts/ konservativ
Selbst-Expression binär
Phi
-,009
Rechts/ konservativ
Niveau der Begründung
Cramers V
,146***
Links/ liberal/ progressiv
Respekt
Cramers V
,289***
Links/ liberal/ progressiv
Inhalt der Begründung
Cramers V
,087*
Respekt g. Gegenarg.
Cramers V -
-
Rhetorik
Phi
-,212***
Rechts/ konservativ
Storytelling
Cramers V
,115**
Links/ liberal/ progressiv
Selbst-Expression ordinal
Cramers V
,094**
Links/ liberal/ progressiv
Links/ liberal/ progressiv
(n=1065)
Die Ergebnisse sprechen eine eindeutige Sprache. In den vorliegenden Daten lässt sich ein eindeutiger und konsistenter Zusammenhang zwischen der zugewiesenen politischen Tendenz der Berichterstattung und den vorherrschenden Merkmalen der diskursiven Partizipation durch Online-Leserkommentare erkennen. Die als links-/ liberal-/ progressiv eingestuften Betreibermedien Spiegel Online und Zeit Online weisen statistisch signifikant höhere Werte in entscheidenden Messkategorien deliberativer Qualität auf. Interessant ist hierbei, dass dieser Zusammenhang bei der Analyse mithilfe der komplexen DQI-Kategorien deutlicher zu Tage tritt als auf Basis der binären Kategorien. Diese erlauben eine qualitative Bewertung von Begründungen (Niveau der Begründung) oder der Tonalität (Respekt). In den erhobenen Daten wiesen die Kommentare auf den zwei eher linken Medien aus deliberativer Perspektive signifikant bessere Ergebnisse in den Kategorien Niveau der Begründung und Respekt auf. Damit zeigen sich signifikante statistische Zusammenhänge bei zwei zentralen Indikatoren deliberativer Qualität
288 | DIGITALE DISKUSSIONEN
(vgl. Graham 2015; Kies 2010). Den Berechnungen zufolge sind Kommentare auf linken Betreibermedien eher rational, inhaltlich egalitär (respektvoll) und auch reziprok10 als auf rechts-/ konservativen Betreibermedien. Die Zusammenhänge sind aus statistischer Sicht nicht sonderlich stark, aber noch deutlicher als im Falle der Mehrzahl struktureller Variablen. Dieses Ergebnis impliziert einen Zusammenhang von Deliberation und linkem politischen Denken, was der bisherigen Tendenz der Internetforschung in diesem Kontext entspricht (vgl. Adamic u. Glance 2005, S. 14; Freelon 2015, S. 786; Lawrence et al. 2010, S. 151-152; Shaw u. Benkler 2012, S. 478-482). Vor dem Hintergrund des kritischen Deliberationsansatzes nach Habermas muss dieses Ergebnis indes nicht überraschen (vgl. Landwehr 2012, S. 358-359). Zusätzlich finden sich signifikante Zusammenhänge zur binären Kategorie demokratischer Respekt sowie zu den als deliberativ eingestuften Ausprägungen der dem DQI zusätzlich hinzugefügten Kommunikationsformen Storytelling und Selbst-Expression11, die in Anbetracht der anderen Ergebnisse folgerichtig erscheinen und sich in das Gesamtbild dieser Auswertung einpassen. Die Kommentare auf tendenziell rechts-/ konservativ geprägten oder berichtenden Medien scheinen dagegen statistisch signifikant eher zum Ausdruck von diskursivem Protest genutzt zu werden. Es zeigt sich ein vergleichsweise deutli-
10 Für die Kategorie Respekt gegenüber Gegenargumenten hatten 25% der Zellen die erwartete Anzahl von weniger als 5, womit eine Voraussetzung für einen Chi-QuadratTest nicht erfüllt war. In Tabelle 0.8, die im Anhang dieser Arbeit zu finden ist, zeigt sich aber auch hier ein eindeutig besseres Ergebnis der als links-/ liberal-/ progressiv eingestuften Betreibermedien. Während die dichotome Variable (formale) Interaktivität keine eindeutigen Ergebnisse liefert, setzt sich somit auch im Falle der Reziprozität der oben beschriebene Trend fort, wonach das bessere Abschneiden der als links-/ liberal-/ progressiv eingestuften Betreibermedien durch die komplexeren Analysekategorien des adaptierten DQI dieser Studie ersichtlich wird. 11 Die Unterschiede, welche der Chi-Quadrat-Test aufdeckt, beziehen sich nicht auf den reinen Anteil an Narrativen und Selbst-Expression in den Leserkommentaren. Hier sind nur marginale Unterschiede zwischen den tendenziell linken und rechten Medien zu sehen. Der Unterschied bezieht sich auf die Qualität des Storytellings und der SelbstExpression. Hier ist das Bild bei beiden Indikatoren gleich: Während auf den linken Betreibermedien die als deliberativ eingestufte Kategorien des ergänzenden Storytellings und der nebensächlichen Selbst-Expression deutlich stärker ausgeprägt sind, finden sich auf den tendenziell rechten Betreibermedien die aus deliberativer Perspektive als eher problematisch eingestuften Ausprägungen (vgl. Steiner 2012, S. 271) der jeweiligen Kategorien häufiger.
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 289
cher, hochsignifikanter Zusammenhang mittlerer Stärke zur entsprechenden Variable. Ebenfalls deutlich wird ein hochsignifikanter Zusammenhang zur Variable Rhetorik. Rhetorik ist ein nahezu konstantes Phänomen unter allen untersuchten Leserkommentaren und deutet auf die hohe Emotionalität diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare hin. Nichtsdestotrotz ist der Verzicht auf rhetorische Mittel und somit eine gezielt nüchterne Ausdrucksweise statistisch signifikant eher auf den tendenziell linken Betreibermedien zu finden, denn auf den Rechten. Auch dies passt in das bisherige Bild der Ergebnisse. Hypothese 3d kann aber trotz scheinbar eindeutiger Ergebnisse noch nicht als bestätigt angesehen werden. Da neben einer Auswirkung der politischen Einstufung des Betreibermediums auch ein Einfluss der Qualität der Berichterstattung vermutet wird, sind hier verzerrende Auswirkungen anzunehmen. Denn mit Bild Online und Focus Online zählen beide als Boulevardmedien eingestuften Betreiberplattformen zu den tendenziell rechts-/ konservativen Medien. Um einer entsprechenden Verzerrung der Ergebnisse vorzubeugen, wurde eine zusätzliche Auswertung durchgeführt. Der Datensatz, welcher der in Tabelle 9.8 dargestellten Auswertung zugrunde liegt, ist um die beiden oben genannten Medien bereinigt. Tabelle 9.8: Einfluss politischer Tendenz ohne Boulevardmedien Zusammen-
Richtung des
hang
Zusammenhangs
Deliberativ
Phi
,036
Links/ liberal/ progressiv
Ein Merkmal
Phi
,023
Links/ liberal/ progressiv
Zwei Merkmale
Phi
-,122***
Rechts/ konservativ
One Timer
Phi
,023
Links/ liberal/ progressiv
Begründung
Phi
,107**
Links/ liberal/ progressiv
Demokratischer Respekt
Phi
,194***
Links/ liberal/ progressiv
Interaktiv
Phi
-,028
Rechts/ konservativ
Referenz zum Allgemeinwohl Phi
,001
Links/ liberal/ progressiv
Diskursiver Protest
Phi
-,169***
Rechts/ konservativ
Monolog
Phi
,028
Links/ liberal/ progressiv
Partikularinteressen
Phi
-,053
Rechts/ konservativ
Selbst-Expression binär
Phi
-,019
Rechts/ konservativ
Niveau der Begründung
Cramers V
,150***
Links/ liberal/ progressiv
Respekt
Cramers V
,220***
Links/ liberal/ progressiv
Inhalt der Begründung
Cramers V
,067
Links/ liberal/ progressiv
Respekt g. Gegenargumenten
Cramers V -
-
Rhetorik
Phi
Rechts/ konservativ
-,199***
290 | DIGITALE DISKUSSIONEN Storytelling
Cramers V
,152***
Links/ liberal/ progressiv
Selbst-Expression ordinal
Cramers V
,103**
Links/ liberal/ progressiv
(n=792)
In Tabelle 9.8 spiegeln sich geringfügige Auswirkungen des veränderten Datensatzes wieder. Von einer eindeutigen Verzerrung der Ergebnisse durch die Boulevardmedien kann nicht die Rede sein. Es bleibt dabei, Kommentare auf Plattformen mit einer tendenziell links-/ liberal-/ progressiv geprägten Berichterstattung sind von höherer deliberativer Qualität als solche, die auf Plattformen mit tendenziell rechts-/ konservativer Berichterstattung veröffentlicht werden. Die Zusammenhänge werden schwächer, bleiben aber in den meisten Kategorien hochsignifikant (im Falle der Kategorien Begründung und Niveau der Begründung werden sie sogar in leichtem Maße stärker). Die tendenziell rechts-/ konservativen Betreibermedien zeigen dagegen stärker einen Hang zur Artikulation von Protest und emotional, expressiv geprägter Kommunikation. Die hier diskutierte Subhypothese unterstellt einen Einfluss der politischen Tendenz der Berichterstattung auf einem Betreibermedium auf die diskursive Partizipation durch Online-Leserkommentare. Für den vorliegenden Datensatz bestätigt sich die angenommene Hypothese 3d, wonach „ideologues may already be committed to particular ways of talking about politics“ (Freelon 2015, S. 786). Deliberation scheint demnach auch in deutschen Online-Leserkommentaren eher ein Mittel im politisch linken Kontext. Die Artikulation von Protest durch die analysierten Online-Leserkommentare dagegen scheint eher das Mittel der Wahl im politisch konservativen Umfeld. Eine Erkenntnis, die gut zu aktuellen politischen Protestbewegungen in der Bundesrepublik, wie den konservativ-bürgerlichen „Wutbürgern“ (vgl. Kersting 2013c; Kersting u. Woyke 2012), dem starken Zulauf zur Alternative für Deutschland oder der Dresdner PEGIDA zu passen scheint. Mit allen in diesem Kapitel benannten Einschränkungen und ohne eine allgemeingültige Aussage treffen zu wollen, scheint es so, als dass auf linken Betreibermeiden eher deliberativ partizipiert wird, während rechte Betreibermedien stärker zum Ausdruck individuell geprägten Protests genutzt werden. Ein Ergebnis, dass zu aktuellen, gesellschaftlichen Entwicklungen zu passen scheint. Qualität der Berichterstattung: In Bezug auf die erklärende Variable der Berichterstattungsqualität stellen sich dieser Arbeit ähnliche Herausforderungen wie in puncto politische Tendenz. Diese müssen folglich an dieser Stelle nicht noch einmal in aller Ausführlichkeit diskutiert werden. Diese Arbeit geht hier auf ähnliche Weise vor und unterteilt die Betreibermedien in tendenziell eher dem Boulevardjournalismus zugehörig und eher dem Qualitätsjournalismus zugehörig. Zur
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 291
ersten Gruppe zählt diese Arbeit Bild Online und Focus Online. Zur letzten Gruppe Die Welt, FAZ.net, RP Online, Spiegel Online und Zeit Online. Da bereits ein Einfluss der politischen Tendenz der Berichterstattung aufgezeigt wurde, erscheint es folgerichtig, anzunehmen, dass die Ergebnisse an dieser Stelle entsprechend beeinflusst werden. Deshalb wurden ebenso wie bei der vorangegangenen Auswertung (politische Tendenz) zwei verschiedene Auswertungen vorgenommen, die aufeinanderfolgend diskutiert werden. Zuerst wurde eine Auswertung auf Basis des gesamten Datensatzes vorgenommen. Im Anschluss hieran wurde die Bewertung einzig mit Blick auf die zuvor als rechts-/ konservativ eingestuften Betreibermedien vorgenommen, um den Einfluss der politischen Tendenz weitestgehend zu kontrollieren und zu minimieren12. Tabelle 9.9: Einfluss der Qualität der Berichterstattung Zusammen-
Richtung des
hang
Zusammenhangs
Phi
,072*
Qualitätsmedien
Ein Merkmal
Phi
-,079**
Boulevardmedien
Zwei Merkmale
Phi
-,054
Boulevardmedien
Deliberativ
One Timer
Phi
,107***
Qualitätsmedien
Begründung
Phi
-,017
Boulevardmedien
Demokratischer Respekt
Phi
,223***
Qualitätsmedien
Interaktiv
Boulevardmedien
Phi
-,038
Referenz zum Allgemeinwohl Phi
-,053
Boulevardmedien
Diskursiver Protest
-,208***
Boulevardmedien
Phi
Monolog
Phi
,038
Qualitätsmedien
Partikularinteressen
Phi
-,063*
Boulevardmedien
Selbst-Expression binär
Phi
,010
Qualitätsmedien
Niveau der Begründung
Cramers V
,087*
Qualitätsmedien
Respekt
Cramers V
,243***
Qualitätsmedien
Inhalt der Begründung
Cramers V
,092*
Boulevardmedien
Respekt g. Gegenargumenten
Cramers V -
-
12 Dies soll nicht heißen, dass die fünf übrigbleibenden Medien die gleiche politische Tendenz in ihrer Berichterstattung aufweisen. Darüber hinaus soll damit ebenso wenig ausgesagt werden, dass nicht noch andere Faktoren für entsprechende Unterschiede verantwortlich sein könnten. Mit diesem Vorgehen wird den Erkenntnissen dieser Arbeit Rechnung getragen. Die Interpretation der Ergebnisse ist nur vor dem Hintergrund der Komplexität der empirischen Realität möglich.
292 | DIGITALE DISKUSSIONEN Rhetorik
Phi
-,103***
Storytelling
Cramers V
,035
Boulevardmedien Qualitätsmedien
Selbst-Expression ordinal
Cramers V
,035
Qualitätsmedien
(n=1065)
Die Ergebnisse der Analyse des gesamten Datensatzes (siehe Tabelle 9.9) lassen zunächst auf eine Bestätigung der Subhypothese schließen und entsprechen gleichsam den bislang gewonnenen Erkenntnissen. Die analysierten Kommentare, welche auf den als Boulevardmedien eingestuften Plattformen veröffentlicht wurden, weisen häufiger die Artikulation von Protest auf und sind eher durch Rhetorik geprägt als die Kommentare auf den Plattformen der Qualitätsmedien. Demgegenüber sind die hier analysierten Online-Leserkommentare, welche auf einer Plattform, die als Qualitätsmedium eingeordnet wurde, veröffentlicht wurden, vor allem eher demokratisch respektvoll und erzielen aus deliberativer Perspektive bessere Ergebnisse in der Kategorie Respekt. Auffallend ist, dass kein nennenswerter Effekt bezüglich der Reziprozität der Kommentare zu erkennen ist. Ein Blick auf die Analyse der bereinigten Kommentare bestätigt diesen Eindruck weitestgehend. Tabelle 9.10 zeigt die Ergebnisse aller Kommentare ohne die der als politisch tendenziell links eingestuften Plattformen Spiegel Online und Zeit Online. Tabelle 9.10: Einfluss der Qualität der Berichterstattung ohne Spiegel Online und Zeit Online Zusammen-
Richtung des
hang
Zusammenhangs Qualitätsmedien
Deliberativ
Phi
,063
Ein Merkmal
Phi
-,106**
Boulevardmedien
Zwei Merkmale
Phi
,010
Boulevardmedien Qualitätsmedien
One Timer
Phi
,110**
Begründung
Phi
-,081*
Boulevardmedien
Demokratischer Respekt
Phi
,138***
Qualitätsmedien
Interaktiv
Boulevardmedien
Phi
-,027
Referenz zum Allgemeinwohl Phi
-,060
Boulevardmedien
Diskursiver Protest
Phi
-,142***
Boulevardmedien
Monolog
Phi
,027
Qualitätsmedien
Partikularinteressen
Phi
-,039
Boulevardmedien
Selbst-Expression binär
Phi
,022
Qualitätsmedien
Niveau der Begründung
Cramers V -
-
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 293
Respekt
Cramers V -
-
Inhalt der Begründung
Cramers V -
-
Respekt g. Gegenargumenten
Cramers V
,029
Qualitätsmedien
Rhetorik
Phi
,012
Qualitätsmedien
Storytelling
Cramers V
,083
Qualitätsmedien
Selbst-Expression ordinal
Cramers V
,030
Nicht eindeutig
(n=605)
Diese erneute Analyse bringt zwei wesentliche Ergebnisse hervor. Erstens gehen die statistischen Unterschiede sichtbar zurück. Als zweites Ergebnis aber wird deutlich, dass sich keineswegs alle Unterschiede auflösen. Die Unterschiede sind vergleichsweise gering, aber statistisch signifikant. Die konstant statistisch signifikanten Zusammenhänge beziehen sich auf die Tonalität der Leserbeiträge, welche durch die Kategorien demokratischer Respekt und diskursiver Protest operationalisiert wird. Somit bleibt der Grundtenor der Analyse gleich. Im Umfeld boulevardesker Berichterstattung werden Leserkommentare eher protestorientiert formuliert als im Kontext qualitativer Berichterstattung, auch wenn die Unterschiede eher gering sind. Zwar sind die Unterschiede mit Blick auf die Qualität der Berichterstattung weniger deutlich als jene mit Blick auf die politische Tendenz der Berichterstattung, aber dennoch aussagekräftig. Es ist daher auch hier tendenziell von einer Bestätigung der Hypothese 3e auszugehen. Die vorliegende Analyse impliziert einen aus deliberativer Perspektive bedeutsamen Zusammenhang zwischen der Qualität der Berichterstattung eines Betreibermediums von Online-Leserkommentaren und der sich durch diese manifestierenden diskursiven Partizipation. Interessant ist allerdings, dass die Daten keinen entscheidenden Einfluss auf die Rationalität der Leserkommentare implizieren. Eine durchaus überraschende Implikation, liegt es doch näher, Rationalität einer Diskussion auf die Rationalität ihres Kommunikationskontexts zurückzuführen als auf ihre politische Färbung. Zusätzlich zur Einstufung in Boulevard- und Nicht-Boulevardmedium bieten die AGOF-Daten über den erreichten Bildungsabschluss der Nutzer von Nachrichtenseiten eine weitere Möglichkeit des Hypothesentests. Dem hinterliegt die einfache Annahme, dass eine in höherem Maße gebildete Leserschaft ein Indiz für eine qualitativ hochwertigere Berichterstattung ist. Auf Basis der, wie oben beschrieben, ausgewerteten AGOF-Daten wurden die sieben Betreibermedien in drei Gruppen aufgeteilt. Tabelle 9.11 gibt nun Aufschluss über statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen der den einzelnen Kommentaren nach bekanntem Muster zugewiesenen Variable (Hoch-)Schulabschluss und den hier analysierten inhaltlichen Merkmalen. Da der (Hoch-)Schulabschluss der Nutzer eine ordinale
294 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Variable darstellt, werden die Zusammenhänge der dichotom operationalisierten Merkmale mit dem Zusammenhangskoeffizienten Cramers V angegeben, für die ordinalen DQI-Kategorien findet sich der Wert von Spearman’s Rho. Tabelle 9.11: Einfluss der Bildung der Nutzerinnen Zusammen-
Richtung des
hang
Zusammenhangs
,079*
Höhere Bildung
Deliberativ
Cramers V
Ein Merkmal
Cramers V
,079*
Niedrigere Bildung
Zwei Merkmale
Cramers V
,072
Niedrigere Bildung Nicht eindeutig
One Timer
Cramers V
,120***
Begründung
Cramers V
,079*
Nicht eindeutig
Demokratischer Respekt
Cramers V
,255***
Höhere Bildung
Interaktiv
Cramers V
,045
Niedrigere Bildung
Referenz zum Allgemeinwohl Cramers V
,055
Nicht eindeutig
Diskursiver Protest
Cramers V
,227***
Niedrigere Bildung
Monolog
Cramers V
,045
Höhere Bildung
Partikularinteressen
Cramers V
,069
Niedrigere Bildung
Selbst-Expression binär
Cramers V
,010
Nicht eindeutig
Niveau der Begründung
Spearman’s Rho
,075*
Höhere Bildung
Respekt
Spearman’s Rho
,270***
Höhere Bildung
Inhalt der Begründung
Spearman’s Rho -,007
Niedrigere Bildung
Respekt g. Gegenargumenten
Spearman’s Rho
,061*
Höhere Bildung
Rhetorik
Cramers V
,148***
Niedrigere Bildung
Storytelling
Spearman’s Rho
,037
Höhere Bildung
Selbst-Expression ordinal
Spearman’s Rho -,018
Niedrigere Bildung
(n=1065)
Die Ergebnisse des Zusammenhangtests bestätigen die bisherige Tendenz, die auf eine Bestätigung auch der zweiten Subhypothese hindeutet. Es zeigen sich (hoch-) signifikante Zusammenhänge zwischen der Variable (Hoch-)Schulabschluss und einigen inhaltlichen Merkmalen. Besonders deutlich sind erneut die Ergebnisse der die Tonalität der Beiträge operationalisierenden Kategorien demokratischer Respekt, diskursiver Protest sowie Respekt. Sie alle weisen einen hochsignifikanten Zusammenhang mittlerer Stärke zur Variable (Hoch-)Schulabschluss auf. Demnach finden sich auf den Betreibermedien, deren Leserschaft im Durchschnitt höhere Bildungsabschlüsse aufweist, eher respektvolle und neutrale Aussagen,
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 295
während respektlose und aggressive Äußerungen häufiger auf den Seiten der Betreibermedien zu finden sind, deren Leserschaft im Durchschnitt niedrigere Bildungsabschlüsse aufweist. Hier findet sich deshalb auch logischerweise ein höheres Maß an diskursivem Protest. Die übrigen Ergebnisse sind nicht in diesem Maße aussagekräftig, aber dennoch konsistent. Die Kategorien Niveau der Begründung und Respekt gegenüber Gegenargumenten weisen ebenfalls einen positiven, signifikanten Zusammenhang zur Variable (Hoch-)Schulabschluss auf. Die Zusammenhänge sind allerdings von nur sehr geringer Stärke. Einzuschränken ist bei dieser Analyse, dass die zwei links-/ liberal-/ progressiven Betreibermedien wieder Bestandteil der Analyse sind. Demzufolge ist ein vermischter Einfluss der tendenziellen politischen Ausrichtung des Betreibermediums sowie der (Aus-)Bildung der Nutzer anzunehmen. Die letzte diskutierte Subhypothese nimmt an, dass die deliberative Qualität von Online-Leserkommentaren mit der Qualität der Berichterstattung korreliert. Die entsprechende Analyse zeigte zwei Tendenzen ganz deutlich, die auf eine Bestätigung der Subhypothese schließen lassen. Ein Ergebnis, das der vor allem auf Umfragen basierenden Annahme widerspricht, wonach Online-Deliberation ein Partizipationskanal der politisch weniger Aktiven darstellen könnte (vgl. Baek et al. 2012, S. 378-379; Cook et al. 2007, S. 25-27; 31; Neblo et al. 2010, S. 33). Für diskursive Partizipation im Allgemeinen mag dies zutreffen, für deliberative Partizipation indes scheint sich zu bestätigen, dass es sich um eine fordernde Tätigkeit handelt, entsprechende Inhalte zu entwickeln (vgl. Blank 2013, S. 591; Elster 1998, S. 13). Dies betrifft interessanterweise aber deutlicher die Tonalität der Beiträge als ihre Rationalität. Die Notwendigkeit einer klaren definitorischen Grenzziehung wird erneut deutlich. Ob dieses Ergebnis damit ein weiteres Indiz für die Annahme darstellt, dass sich online die ohnehin vorhandene partizipative Ungleichheit eher zu verstärken denn aufzulösen scheint (vgl. Brundidge u. Rice 2009, S. 149, 154-155), kann hiermit nicht beantwortet werden. Stattdessen stellen die Ergebnisse ein Indiz dafür dar, dass die Form diskursiver Beteiligung online unter anderem von Bildung und Mediennutzung abhängt. Erstens korrelierte respektvolles Verhalten der Kommentarschreiberinnen mit der Qualität der Berichterstattung. Dies impliziert, dass die Tonalität der Leserkommentare auf eher qualitativeren Nachrichtenseiten nicht so negativ ausfällt wie auf Nachrichtenseiten von geringerer Nachrichtenqualität. Zweitens zeigte sich, dass Protest und Rhetorik auf den eher boulevardesken Nachrichtenseiten wahrscheinlicher anzutreffen waren als auf den qualitativ hochwertigeren Seiten. Dies impliziert, dass die Nutzung von Leserkommentaren zum Ausdruck von Protest eher ein Phänomen auf Boulevardmedien darstellt.
296 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Fazit Die Ergebnisse des dritten Hypothesentests können durchaus als durchwachsen, aber keineswegs als enttäuschend interpretiert werden. Das dritte Hypothesenbündel fokussierte auf strukturelle sowie auf kontextuelle Erklärungsansätze gegenüber der deliberativen Qualität diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare. Während die Analyse der strukturellen Faktoren, auf welche die aktuelle Forschung in besonderem Maße rekurriert, die Annahmen der entsprechenden Hypothesen kaum bestätigen konnte, deutet die Analyse auf eine Bestätigung der Hypothesen bezüglich der kontextuellen Faktoren hin. Die vorgestellten Ergebnisse implizieren folglich, dass deliberative Partizipation durch Online-Leserkommentare am ehesten auf tendenziell linksgerichteten, beziehungsweise liberal-/ progressiv berichtenden Betreibermedien erwartet werden kann. Sie sprechen weiterhin dafür, dass die Tonalität in den Kommentarspalten der Qualitätsmedien respektvoller ist als in denen der Boulevardmedien, wo im Gegensatz dazu die Kritik und negative Adressierung von politischen Akteuren (diskursiver Protest) dominiert. Sie deuten ferner nicht darauf hin, dass der Nutzeridentifikation, der Partizipationsregulierung sowie der Nutzereinbindung in die Leserkommentarorganisation dienende Funktionen einen zentralen Einfluss auf die sich realisierende diskursive Partizipation haben. Diese Befunde werden im Folgenden in der bekannten Reihenfolge noch einmal erläutert und zusammengefasst. Strukturelle Variablen: Die Analyse der strukturellen Variablen mag die aufgestellten Hypothesen kaum bestätigen, liefert aber dennoch interessante Implikationen. Es zeigt sich auf Basis des erhobenen Datensatzes kein Einfluss apriorischer Moderation der Leserkommentare auf die prägenden Merkmale diskursiver Partizipation, die überprüft wurden. Dies stellt die Effizienz dieser kostenintensiven und insbesondere in Deutschland populären Regulierungsmethode zumindest infrage. Es ist folglich nicht auszuschließen, dass sich die deutschen Medien dem von Reich (2011, S. 108-109) beschriebenen Trend anschließen und auf eine Moderation vor Veröffentlichung künftig verzichten. Es ist eine interessante Frage, auf welche Strategie die Medienhäuser in einem solchen Fall setzen werden. Sichtbar ist bereits der Trend dazu, die Nutzerinnen dezentral durch eine Meldefunktion in die Moderation miteinzubinden. Dies liegt im internationalen Trend. Einige Medien könnten dazu übergehen, die Kommentarfunktion gänzlich abzuschaffen, wie es die Süddeutsche Zeitung bereits getan hat. Andere könnten auf ein stärkeres ‚Community-Building’ durch Einführung einer forenähnlichen Struktur setzen, wie im Fall des britischen Guardian (vgl. Graham u. Wright 2015, S. 6). Diese Tendenz ist in Deutschland allerdings bislang nicht sichtbar. Eine andere
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 297
Möglichkeit besteht darin, die Kommentarfunktionen ganz auf soziale Netzwerke, wie zum Beispiel Facebook auszulagern, weil hier die Identifizierung der Nutzer bereits gegeben ist. Eine Umfrage unter Journalisten spricht jedoch dagegen. Sie zeigt, dass sich aus Sicht der Journalisten Leser deutlich lieber über Kommentarfunktionen einbringen denn über Kanäle der sozialen Medien (vgl. ECCO-Agenturnetz 2014, S. 6). Ob sich die Qualität diskursiver Partizipation durch eine Auslagerung auf Facebook tatsächlich erhöhen ließe, ist angesichts der aktuellen Debatte zu fremdenfeindlichen und volksverhetzenden Kommentaren auf Facebook allerdings mehr als fraglich (vgl. Abdi-Herrle 2015; Kühl 2015; Lobo 2012, 2015). Dass sich das amerikanische Unternehmen dabei schwer tut, rechtlich problematische Kommentare zu löschen, ist hierfür sicherlich nicht förderlich (vgl. Beuth 2015; Zeit Online 2015a). Auch wenn Facebook eine gänzlich andere Plattform mit eigenen strukturellen Stärken und Schwächen im Hinblick auf die deliberative Qualität von Diskussionsbeiträgen darstellt, konnte die vorliegende Analyse keinen positiven Einfluss struktureller Merkmale, welche der Identifizierung der Nutzer dienen, nachweisen. Dies erscheint vor dem Hintergrund der geringen Nachhaltigkeit der Identifizierungsbestrebungen, welche in Kapitel vier aufgedeckt wurde, logisch. Es zeigte sich, dass partizipative Funktionen auch protestorientierter Partizipation Vorschub leisten können. Entsprechende Zusammenhänge wurden deutlich, obgleich diese aufgrund der geringen Varianz der untersuchten Fälle nicht überinterpretiert werden sollten. Das Ergebnis hat aber die spannende Implikation, dass partizipative Funktionen nicht automatisch zur Selbstdisziplinierung der Nutzerinnen beitragen, sondern gegenüber Emotion und Protest auch verstärkend wirken könnten. Kontextuelle Variablen: Die Analyse der kontextuellen Variablen bleibt vor dem Hintergrund ihrer komplizierten Operationalisierung auf tendenzielle Implikationen beschränkt (Welche Medien sind als tendenziell linke Medien oder als Boulevardmedien einzuordnen? Und wie lässt sich ein Einfluss auf die Partizipation in einem einzelnen Kommentar-Thread kausal begründen, wo dieser doch potentiell eine Ausnahme von der Regel darstellen könnte?). Nichtsdestotrotz lieferten die Analysen Ergebnisse, die eine Bestätigung der zuvor begründeten Subhypothesen zulassen. Es scheint, als gestalte sich diskursive Partizipation in einem links-/ liberal-/ progressiv geprägten Umfeld deliberativer als in einem rechts-/ konservativen. Hieraus zu schließen, dass Deliberation ein tendenziell linkspolitisches Phänomen darstellt, wäre sicherlich übertrieben. Trotzdem reiht sich diese Studie damit ein in die Reihe von Studien, die entsprechende Implikationen liefern (vgl. Adamic u. Glance 2005, S. 14; Freelon 2015, S. 786; Lawrence et al. 2010, S. 151-152; Shaw u. Benkler 2012, S. 478-482). Eine ähnlich interessante Ten-
298 | DIGITALE DISKUSSIONEN
denz liefert die Analyse der Unterteilung der Medien in Boulevard- und Qualitätsmedien. Wie erwartet worden ist, ist deliberative Partizipation wahrscheinlicher in den Kommentarbereichen der Qualitätsmedien, während die Kommentare auf Seiten der Boulevardmedien stärker zu Protestpartizipation neigen. Trotz aller bereits angemerkter Einschränkungen der hier vorgestellten Ergebnisse, liefern sie eine neue Perspektive für die Analyse und das Verständnis von Online-Leserkommentaren und die Online-Deliberationsforschung im Allgemeinen. Sollten sich die hier deutlich gewordenen Tendenzen in größeren Studien, die verallgemeinernde Aussagen zulassen, bestätigen, wäre dies ein großer Fortschritt bei der Interpretation von diskursiver Partizipation online. Eine Übersicht über die dritte Hypothesenprüfung dieser Arbeit liefert die folgende Tabelle 9.12.
DER EINFLUSS STRUKTURELLER UND KONTEXTUELLER FAKTOREN | 299
Tabelle 9.12: Zusammenfassung der dritten empirischen Analyse nach Hypothesen Hypothese Bestätigt Teilweise bestätigt 3
x
3a
x
Nicht
Ergebnis
bestätigt Die Daten implizieren nur geringfügige Auswirkungen der einzelnen Regulierungsmechanismen und sind aus deliberativer Perspektive nur teils konsistent (aktive Moderation).
3b
x
Die Auswertungen lassen keine eindeutigen Aussagen zu. Die Forderung unter Klarnamen zu kommentieren, zeigte widersprüchliche Ergebnisse.
3c
x
Partizipative Funktionen haben im Falle der vorliegenden Daten nicht nachweislich zu einer Verbesserung deliberativer Qualität beigetragen.
3d
x
Es zeigte sich ein vergleichsweise deutlicher Zusammenhang zwischen der politischen Einstufung des Betreibermediums und den prägenden Merkmalen diskursiver Partizipation.
3e
x
Die Leserkommentare, die auf Nachrichtenmedien der Gruppe Qualitätsmedien veröffentlicht wurden, waren von höherer deliberativer Qualität, vor allem mit Blick auf ihre Tonalität, als die der Gruppe Boulevardmedien. Dies bestätigte sich auch für die Variable Bildung der Nutzerinnen.
10. Kategorisierung diskursiver Partizipation
Das zentrale Anliegen dieser Studie besteht darin, eine Einschätzung der Bedeutung von Online-Leserkommentaren für ein deliberativ-demokratisches Verständnis digitaler Öffentlichkeit zu begründen. Bis hierhin wurden drei wesentliche Implikationen deutlich. Erstens wurde im Vergleich mit dem klassischen Leserbrief ersichtlich, dass Online-Leserkommentare in der Tat dazu beitragen können, Interaktion, Diskussion und potentiell Deliberation mit massenmedialer Reichweite zu verbinden, wie es im Prä-Internetzeitalter kaum möglich war. Zweitens konnten bei der Untersuchung der prägenden Partizipationsmuster in den vorliegenden Online-Leserkommentaren zwei logisch konsistente Muster ausdifferenziert werden: ein deliberatives und ein individuell-protestorientiertes. Drittens schließlich konnten mittels der Überprüfung technischer und organisatorischer sowie kontextueller Variablen empirische Belege dafür präsentiert werden, dass die politische Tendenz und die Qualität der Berichterstattung eines Betreibermediums Erklärungsfaktoren für die deliberative Qualität von Online-Leserkommentaren darstellen. Trotz der beschriebenen Zusammenhänge inhaltlicher Merkmale in OnlineLeserkommentaren lassen sich die Kommentare kaum valide beschreiben, indem sie in zwei idealtypische Gruppen aufgeteilt werden. Es wurde hinlänglich deutlich, dass die diskursive Partizipation in den untersuchten Online-Leserkommentar-Threads sehr heterogen ausfiel. Auch wenn Muster sichtbar gemacht werden konnten, wäre eine solche Beschreibung der untersuchten Online-Leserkommentare zu simplifizierend, um die sich realisierende diskursive Partizipation überzeugend zu beschreiben und zu interpretieren. Um dem zentralen Anliegen dieser Studie gerecht zu werden, erscheint es deshalb sinnvoll und notwendig, eine weitere Differenzierung vorzunehmen. Die hier (weiter-)entwickelte Methodik bietet ein grundlegendes Instrumentarium, um einen ersten Differenzierungsansatz zu offerieren. Auf Basis der bisherigen Auswertungen und Argumentationen ergeben
302 | DIGITALE DISKUSSIONEN
sich drei Differenzierungen, welche eine Aufteilung der untersuchten Leserkommentare in sechs unterschiedlich zu interpretierende Kategorien zulassen. Die drei Differenzierungen sind die in deliberative und nicht-deliberative Kommentare, protestorientierte und nicht-protestorientierte Kommentare sowie in interaktive und nicht-interaktive (monologische) Kommentare. Hierbei mag auffallen, dass eine entsprechende Kategorisierung ein logisches Problem beinhaltet, da Interaktivität als definitorisches Merkmal deliberativer Kommentare festgelegt wurde. Es ist eine Schwäche der vorgelegten operativen Minimaldefinition deliberativer Partizipation, Monologe kategorisch als nicht-deliberativ zu disqualifizieren. Dem wird an dieser Stelle Abhilfe geschaffen, indem die Differenzierung in deliberativ, beziehungsweise nicht-deliberativ, nur für interaktive Kommentare angewandt und für Monologe um die Differenzierung in rational und nicht-rational ergänzt wird. Als rational können Monologe gemäß der Logik des bisherigen Vorgehens gelten, sofern sie eine Begründung enthalten und als (noch) demokratisch respektvoll codiert wurden. Tabelle 10.1 verdeutlicht die hier verwandten Differenzierungen in der Übersicht und zeigt die ihnen zugeordneten operationalisierten, inhaltlichen Merkmale des in Kapitel 6.4.2 erläuterten, binären Codierschemas. Tabelle 10.1: Definition inhaltlicher Differenzierungskategorien diskursiver Partizipation Differenzierungen Notwendige Codierungen Deliberativ
Begründung Interaktivität Demokratischer Respekt
Rational
Begründung Demokratischer Respekt
Interaktiv
Interaktivität
Protest
Diskursiver Protest
Auf Basis dieser drei Differenzierungen in deliberativ/ rational oder nicht-deliberativ/ nicht-rational, interaktiv oder nicht-interaktiv (monologisch) sowie protestorientiert oder nicht protestorientiert ergeben sich die folgenden sechs Typen diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare, die auf Basis der ihnen zugewiesenen inhaltlichen Merkmale eindeutig voneinander abgegrenzt werden können: Deliberative Partizipation, deliberativer Protest, rationaler Monolog, interaktiver Protest, rationaler Protest sowie individueller Protest. Abbildung 10.1 verdeutlicht die inhaltlichen Merkmale eines Online-Leserkommentares gemäß der ihm zugeordneten Kategorie.
KATEGORISIERUNG DISKURSIVER PARTIZIPATION | 303
Abbildung 10.1: Sechs Kategorien diskursiver Partizipation
(eigene Darstellung)
Tabelle 10.2 zeigt auf dieser Basis die sechs Kategorien in der Übersicht. Sie verdeutlicht die inhaltlichen Merkmale eines Online-Leserkommentars ihrer Kategorie auf Basis der drei oben eingeführten Differenzierungen sowie ihre Häufigkeit im vorliegenden Gesamtdatensatz aller sieben untersuchten Medien der Analysen zur dritten Forschungsfrage1. Tabelle 10.2: Kategorien diskursiver Partizipation Kategorien
Inhaltliche Differenzierung
Total mit Forderung n=1065 (100%)
Rational:
Nein
Protest:
Ja
Interaktivität:
Nein
Deliberative Partizi-
Deliberativ:
Ja
pation
Protest:
Nein
Interaktivität:
Ja
Rational:
Ja
Protest:
Nein
Interaktivität:
Nein
Rational:
Ja
Protest:
Ja
Interaktivität:
Nein
Deliberativ:
Nein
Protest:
Ja
Interaktivität:
Ja
Individueller Protest
Rationaler Monolog
Rationaler Protest
Interaktiver Protest
1
24,8% (264)
23,1% (246)
13,4% (143)
11,0% (117)
10,6% (113)
Eine ausführliche Beschreibung des Datensatzes findet sich in Kapitel 9.1.
304 | DIGITALE DISKUSSIONEN Deliberativer Protest Deliberativ:
Gesamt
Ja
Protest:
Ja
Interaktivität:
Ja
5,5% (59)
88,5% (942)
Hierbei wird deutlich, dass diese sechsteilige Kategorisierung unvollständig bleibt, da nicht alle untersuchten Kommentare von einer der sechs Kategorien beschrieben werden. Demzufolge ist (mindestens) eine siebte Kategorie notwendig, um alle untersuchten Leserkommentare abzubilden. Fasst man alle übrigen Leserkommentare zusammen, ergibt sich kein allgemeingültiges, inhaltliches Merkmal, welches die Charakterisierung erleichtern würde. Angesichts der bisherigen Differenzierung ergibt sich aber logischerweise, dass die Kommentare als nicht-rational eingeordnet werden können und keinen Protest, wie hier definiert, zum Ausdruck bringen. In Anbetracht der Argumentation zu den Kommentaren, bei welchen keine Forderung erkennbar war, erscheint es folgerichtig, diese Kommentare ebenfalls als Ausdruck wenig inhaltlich geprägter Symbolpartizipation zu verstehen. Dies soll keineswegs bedeuten, dass diese Kommentare nicht möglicherweise doch als Ausdruck eines normativen Partizipationskonzeptes interpretiert werden könnten oder dass ihnen kein relevanter Inhalt zu Eigen wäre. Das dieser Untersuchung zugrunde liegende Kategoriensystem aber hält kein prägendes inhaltliches Merkmal für diese bereit. Stattdessen zeichnen sich diese Kommentare eher durch die Abwesenheit spezifischer Merkmale aus. Hier könnte ein weiterer Ansatzpunkt zukünftiger Forschung bestehen, diese hier als Symbolpartizipation oder Slacktivism eingestuften Kommentare genauer zu untersuchen, charakteristische Merkmale auszudifferenzieren und eine entsprechend interpretierbare Beschreibung zu entwickeln. Angesichts des subjektiven Eindrucks von dieser Kommentargruppe erscheint der Vergleich mit einem Facebook-Like - ohne jede normative Wertung - allerdings nicht unangebracht. Die Aussage dieser Kommentare ist in der Regel auf die Artikulation einer Forderung beschränkt und enthält möglicherweise additive expressive Elemente. Eine ähnliche Aussage kommt dem Austausch eines Profilbildes als politische Aussage zu. Im Gegensatz zum maximal niederschwelligen Charakter eines Facebook-Likes dürfte sich bei einigen dieser Leserkommentare auch die Frage stellen, ob diese Form der Inhaltsproduktion tatsächlich aufwendiger ist, als der Tausch eines Profilbildes in einem sozialen Netzwerk, der immerhin mit der Aufnahme oder dem Erstellen sowie der Auswahl eines Bildes und mehreren Schritten, bis hin zu dessen Veröffentlichung, verbunden ist. Eine Forderung zu artikulieren, mag stärker instrumentellen Charakter haben, als auf eine
KATEGORISIERUNG DISKURSIVER PARTIZIPATION | 305
Forderung zu verzichten, aber trotzdem ist dies im Rahmen des Slacktivism-Verständnisses digitaler Partizipation nicht ausgeschlossen. Man denke nur an den beliebten „Atomkraft? Nein danke!“-Button, welcher zahlreiche Profilbilder in der deutschen Landschaft sozialer Netzwerke geschmückt hat und schmückt. Die hiermit verbundene Forderung ist offensichtlich. Hinzu kommt, dass die Vergleichbarkeit der hier diskutierten Kommentare mit denen ohne Forderung durch den Indikator der Kommentarlänge unterstrichen wird. Die Kommentare inklusive Forderung, welche in keine der sechs oben beschriebenen Typen passen wollen, sind im Schnitt deutlich kürzer als die übrigen Kommentare und gleichen von ihrer durchschnittlichen Länge her viel eher den Kommentaren ohne Forderung, als denen, die einem der sechs Typen zugeordnet werden konnten2. Aus diesem Grund stellt Tabelle 10.3 nun noch einmal sieben Typen diskursiver Partizipation inklusive diskursivem Slacktivism dar. Da in dieser Arbeit mittels der Bezeichnung diskursivem Slacktivisms nicht nur die oben thematisierten Online-Leserkommentare (mit Forderung) beschrieben werden, sondern auch die nicht vollständig codierten Leserbeiträge ohne Forderung, liegt dieser Auswertung ein anderer Datensatz zugrunde. Dieser umfasst nicht nur alle Online-Leserkommentare mit Forderung, sondern alle Online-Leserkommentare des Datensatzes (vgl. Kapitel 9.1). Tabelle 10.3: Kategorien diskursiver Partizipation inklusive diskursiver Slacktivism Kategorien
Total na=1396 (100%)
Diskursiver Slacktivism
32,5% (454)
Individueller Protest
18,9% (264)
Deliberative Partizipation 17,6% (246) Rationaler Monolog
10,2% (143)
Rationaler Protest
8,4% (117)
Interaktiver Protest
8,1% (113)
Deliberativer Protest
4,2% (59)
2
Alle 1.389 Online-Leserkommentare, die nicht gelöscht wurden, haben gemäß Excel eine durchschnittliche Länge von 44,4 Worten. Der Durchschnittswert aller 1.065 Leserkommentare, bei welchen eine Forderung codiert wurde, liegt bei 50,5 Worten. Der Durchschnittswert bei allen Leserkommentaren, bei welchen keine Forderung codiert wurde, liegt deutlich niedriger bei 24,3 Worten. Der Durchschnittswert aller 123 Leserkommentare, bei welchen eine Forderung codiert wurde, die aber keinem der oben genannten sechs Typen zugeordnet werden konnten und daher ebenfalls als Slacktivism begriffen werden, liegt nur unwesentlich höher bei 24,8 Worten.
306 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Im Folgenden schließt dieses Kapitel mit einer pointierten Interpretation der Ergebnisse dieser induktiv-/ deduktiven Kategorienbildung, indem die einzelnen Kategorien diskursiver Partizipation in der Reihenfolge ihrer empirischen Häufigkeit diskutiert werden und auf dieser Basis ein abschließendes Fazit gezogen wird. Diskursiver Slacktivism: Ein Anteil von etwa einem Drittel aller analysierten Online-Leserkommentare lässt sich als niederschwellige Symbolpartizipation begreifen. Dies zeigt, dass Online-Leserkommentare aus politikwissenschaftlicher Perspektive nicht ohne Rücksicht auf den direkten Charakter dieses Kommunikationskanals verstanden werden können. Zukünftige Analysen diskursiver Partizipation (durch Online-Leserkommentare) sollten dies bei der Interpretation ihrer Ergebnisse bedenken und sich durch die direkten und affektiven Beiträge mit verhältnismäßig wenig Inhalt und Aussagekraft nicht irritieren lassen, denn unter Vorbehalt einer zukünftigen, expliziten Evaluation diskursivem Slacktivisms, kann an dieser Stelle Christensens (2011) Evaluation zumindest nicht widersprochen werden: „Doubtless, all purported slacktivists will not become active off-line as well, and the majority of the virtual activists may never progress beyond effortless forms of Internet activism. Nonetheless, the effortless Internet activities are at worst harmless fun (or an annoyance, but nonetheless harmless) without any effect on real-life politics. At best, they may help raise awareness about political issues and even mobilize citizens to take other forms of action outside the virtual world.“
Dass diskursiver Slacktivism die quantitativ stärkste Kategorie darstellt, sollte nicht missverstanden werden. Der Anteil von 32,5% verdeutlicht in erster Linie, dass über zwei Drittel der untersuchten Online-Leserkommentare in dieser Untersuchung ein konkreteres Partizipationsmotiv offenbaren. Dies spricht für ein breites Partizipationsverständnis, welches diskursive Partizipation online als Teil des zunehmend heterogenen individuellen Partizipationsrepertoires versteht. Individueller Protest: Protest ist unwidersprochen ein integraler Bestandteil einer lebendigen Demokratie. Demzufolge ist es notwendig und ein Fortschritt gegenüber dem Prä-Internetzeitlalter, dass es Kanäle, wie den Online-Leserkommentar, gibt, die dem Ausdruck von Protest ohne große Hürden Raum bieten. Trotzdem ist es aus normativer Perspektive bedenklich, dass mit Blick auf die stattfindende, diskursive Protestpartizipation eine Form vorherrscht, die den Austausch mit anderen vermeidet und den vergleichsweise geringen Ansprüchen rationaler Partizipation, die hier formuliert wurden, nicht gerecht wird. Dass es eine solch destruktive Form des Protests ist, die in den untersuchten Online-Leserkommentaren dominiert, wirft nicht nur Fragen nach den Ursachen und Konsequenzen
KATEGORISIERUNG DISKURSIVER PARTIZIPATION | 307
auf, sondern auch die nach einer gesellschaftlichen Protestkultur. Welche Formen des (diskursiven) Protests sind gesellschaftlich wünschenswert und legitim und welche nicht? Und wie lassen sich erstere fördern und letztere eindämmen? Deliberative Partizipation: Dass insgesamt mehr als jeder fünfte untersuchte Leserkommentar (inklusive deliberativen Protests) den hier abgeleiteten Mindestanforderungen deliberativer Partizipation genügte, kann positiv überraschen und entspricht doch der Essenz der bisherigen Forschung. Das Ergebnis impliziert sowohl deliberatives Potential durch Online-Leserkommentare als auch dessen limitierte Realisierung. Der Anteil deliberativ partizipierender Teilnehmer an den Teilnehmerinnen insgesamt ist logischerweise merklich geringer als der deliberativer Kommentare am Gesamtkommentaraufkommen. Dies schränkt Hoffnungen auf eine stärker oder hauptsächlich deliberative Nutzung von Online-Leserkommentaren weiter ein. Die überwiegend begrenzte deliberative Qualität auch dieser Kommentare erscheint noch dazu folgerichtig, angesichts des Übergewichts nicht diskussionsförderlicher Kommentare. Die Kommentare, welche einem oftmals aggressiv vorgetragenen Protest Ausdruck verleihen oder kurze und expressive Meinungsäußerungen darstellen, haben insbesondere in den überwiegend chronologisch organisierten Kommentarspalten den Charakter von Unterbrechungen des Diskussionsflusses. Die von Habermas beschriebene Ausdifferenzierung des besten Arguments scheint somit nur schwer vorstellbar. Rationaler Monolog: Der rationale Monolog entspricht nicht der hier entwickelten Minimaldefinition deliberativer Partizipation. Rationale Monologe scheinen aber dazu geeignet, deliberative Diskussionen anzuregen. Ein geringer Anteil rationaler Monologe ist aus logischen Gesichtspunkten für die Entstehung deliberativer Diskussionen mittels Leserkommentaren gar unabdingbar. Darüber hinaus ist es zentraler Bestandteil des deliberativen Inklusivitätsverständnisses, dass jede Teilnehmerin auch neue Diskussionen anregen darf und soll. Dass etwa jeder zehnte Kommentar als rationaler Monolog eingeordnet wurde, kann vor dem Hintergrund der zahlreichen Unterbrechungen möglicher Diskussionen daher durchaus positiv interpretiert werden. Rationaler Protest: Diese Kommentare zeigen, dass es möglich ist, Protest in konstruktiver Form zu äußern, indem sowohl eine Begründung für eine aufgestellte Forderung entwickelt wird und dabei ein Mindestmaß an Respekt - auch für die kritisierten politischen Akteure - geachtet wird. Dass nur etwas weniger als ein Drittel aller protestorientierten Kommentare (inklusive deliberativen Protests) auf Basis der codierten inhaltlichen Merkmale als konstruktiv verstanden werden kann, ist aus demokratischer Perspektive ein kritisches Ergebnis. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der deutlichen bis drastischen Kritik an Politikerinnen, die in der Analyse sichtbar wurde. Dass es aber in immerhin einem Drittel
308 | DIGITALE DISKUSSIONEN
der protestorientierten Kommentare gelungen ist, Kritik in (relativ) konstruktiver Form zu formulieren, zeigt, dass dies kein utopisches Ideal ist. Interaktiver Protest: Auch wenn Protest in Online-Leserkommentaren vorwiegend in monologischer Form vorgetragen wird, werden auch Reaktionen auf andere Kommentatorinnen und Kommentare zum Ausdruck von Protest genutzt. Und auch unter den formal interaktiven Kommentaren ist die eher weniger konstruktive Variante der Protestformulierung fast doppelt so häufig wie ihre hier als rational beziehungsweise deliberativ bezeichnete Spielart. Dies hat die praktische Implikation, dass allein die strukturelle Begünstigung von Interaktion nicht ausreichen wird, um die digitale Debattenkultur zu verbessern. Wie bereits argumentiert, ist es keineswegs negativ zu bewerten, dass Online-Leserkommentare zum Ausdruck von Protest genutzt werden. Dass dies aber überwiegend in negativer und wenig konstruktiver Weise geschieht, dies sollte zum Nachdenken anregen. Deliberativer Protest: Deliberation und Protest schließen sich nicht grundsätzlich aus. Allzu wahrscheinlich scheint ihr Zusammenkommen angesichts der hiesigen Ergebnisse aber nicht. Dies war in den entsprechenden Auswertungen zur Beantwortung von Forschungsfrage 2 bereits deutlich geworden und kann als Argument dafür interpretiert werden, von zwei differenten Partizipationsmustern auszugehen. Obwohl mithilfe der hier dargestellten Kategorisierung eine tiefergehende Interpretation der analysierten Leserkommentare ermöglicht wurde, kann deren quantitative Auswertung irreführen. Während deliberative Partizipation und diskursiver Protest in verschiedene Subformen ausdifferenziert wurden, wurden alle restlichen Kommentare als niederschwellige Symbolpartizipation zusammengefasst. Fasst man die ähnlich ausgerichteten Typen zu einer deliberativen und einer protestorientierten Oberkategorie zusammen, zeigt sich, dass sich die drei prägenden Motive diskursiver Partizipation der analysierten Online-Leserkommentare in etwa die Waage halten, wie Tabelle 10.4 verdeutlicht. Deliberativer Protest entspricht nicht mehr und nicht weniger den Ansprüchen deliberativer Partizipation als die entsprechend eingeordneten Beiträge. Dass Deliberation andere Kommunikationsmodi integrieren kann, wurde hinlänglich argumentiert. Die kurze Argumentation zur Kategorie Rationaler Monolog hat gezeigt, dass die entsprechenden Leserkommentare ebenfalls eine wichtige Rolle für die Realisierung deliberativer Diskussionen spielen können. Deshalb erscheint es gerechtfertigt, diese drei Formen quantitativ zusammenzufassen. Dasselbe gilt für die Kategorien des individuellen Protests, des interaktiven Protests und des rationalen Protests, die in erster Linie verschiedene Formen diskursiver Protestpartizipation beschreiben.
KATEGORISIERUNG DISKURSIVER PARTIZIPATION | 309
Tabelle 10.4: Oberkategorien diskursiver Partizipation Oberkategorien diskursiver Partizipation Total na=1396 (100%) Protestorientierte Kategorie
35,39% (494)
Slacktivism
32,52% (454)
Deliberative Kategorie
32,09% (448)
Es wurde in dieser Arbeit hinlänglich argumentiert und durch empirische Evidenz unterfüttert, dass Online-Leserkommentare, gemäß der hier operationalisierten Minimaldefinition, durchaus als deliberativ bezeichnet werden können. Ebenso wurde aber deutlich, dass sich diskursive Partizipation in der digitalen Öffentlichkeit kaum ausschließlich mit deliberativen Konzepten beschreiben und interpretieren lässt. Um die Realität diskursiver Partizipation angemessen zu begreifen, bedarf es zusätzlicher Ansätze neben dem nichtsdestotrotz relevanten deliberativen Ansatz. Während die Auswertungen im Rahmen der Überprüfung von Hypothesenbündel 2 zwei vorherrschende Muster diskursiver Partizipation in den untersuchten Leserkommentaren nahelegten, ist es mithilfe der hier entwickelten Kategorisierung diskursiver Partizipation gelungen, die ermittelten Ergebnisse genauer zu beschreiben und somit deren Interpretation zu vereinfachen.
11. Fazit, Schlussbetrachtungen und Ausblick
Es konnten auf Basis der im ersten Teil dieser Arbeit entwickelten theoretischen und konzeptionellen Erkenntnisse und der Analyse des aktuellen Forschungsstandes drei Hypothesenbündel entwickelt werden. Die empirische Überprüfung der einzelnen Hypothesen im zweiten Teil der Arbeit sollte dazu dienen, die Leitfrage dieser Arbeit zu klären, welche Rolle Online-Leserkommentare für ein deliberativdemokratisches Verständnis digitaler Öffentlichkeit spielen und wie politische Partizipation durch Online-Leserkommentare angemessen beschrieben werden kann. Im Folgenden werden eingehend die Ergebnisse der drei durchgeführten empirischen Analysen zusammengefasst, die durchgeführt wurden, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass für die gesamte Ergebnisinterpretation im Rahmen dieser Arbeit gilt, was eingangs des dritten Hypothesentests formuliert wurde. Die große Vielfalt an Online-Leserkommentaren und ihrer Funktionen lässt es nicht ohne weiteres zu, verallgemeinerbare Aussagen zu treffen. Mit ihrem methodischen Ansatz folgt diese Studie dem Beispiel ähnlich gelagerter Studien, denen sich zwangsläufig ähnliche Herausforderungen stellen und geht in verschiedener Hinsicht über diese hinaus (vgl. Freelon 2015; Halpern u. Gibbs 2013; Rowe 2014; Santana 2014). Ziel dieser Studie ist es, Indizien zu sammeln, diese theoretisch valide und logisch zu erklären und somit der Forschung neue Perspektiven zu eröffnen oder neue Argumente für bereits erschlossene zu liefern.
312 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Z USAMMENFASSUNG DER E RGEBNISSE UND NORMATIVE I NTERPRETATION Aufgabe dieses Kapitels ist es, die Ergebnisse der einzelnen Untersuchungen dieser Arbeit prägnant zusammenzufassen und normativ einzuordnen. Dies geschieht sowohl vor dem Hintergrund der Theorie deliberativer Demokratie und ihrer Annahmen sowie einer breiteren, allgemeinen Bewertung aus politikwissenschaftlicher Perspektive. Dabei geht diese Zusammenfassung in der Reihenfolge der durchgeführten Untersuchungen vor und leitet am Ende zusammenfassende Elemente ab. Medial vermittelte diskursive Partizipation online und offline: Online-Leserkommentare und Leserbriefe. Im ersten empirischen Teil dieser Arbeit wurde ein Vergleich massenmedialer diskursiver Partizipation offline und online angestrengt. Hierzu wurde der klassische Leserbrief mit dem Online-Leserkommentar verglichen. Insgesamt wurden 381 Leserbriefe und 1.176 Online-Leserkommentare zu drei vergleichbaren lokalpolitischen Konfliktfällen inhaltsanalytisch ausgewertet. Hierbei ging es darum, die Frage zu klären, in welcher Weise sich das Internet auf das diskursive Partizipationsverhalten seiner Nutzer auswirkt, ob Online-Leserkommentare andere kommunikativ-partizipative Handlungsformen begünstigen als der klassische Leserbrief. Die Inhaltsanalyse wurde mithilfe der in Kapitel 6 begründeten und entwickelten Version eines erweiterten DQI durchgeführt. Die Verifizierung der einzelnen Subhypothesen war zwar nur zum Teil erfolgreich, aber die Ergebnisse der einzelnen Auswertungen liefern umso interessantere Implikationen, die eine in den Sozialwissenschaften nicht unübliche Antwort auf die erste Leitfrage dieser Arbeit zulassen. Teils zeigt sich ein medienabhängiger Unterschied in der Form diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare und durch Leserbriefe. Teils aber zeigen sich erstaunliche Ähnlichkeiten, die so nicht erwartet werden konnten. Die vorliegende Analyse lässt insgesamt vier zentrale Schlussfolgerungen zu. Erstens sind Online-Leserkommentare als interaktives Partizipationsmedium einzustufen, mit dessen Hilfe ihre Nutzer in einen zum Teil auch rationalen Dialog miteinander treten. Dies ist für Leserbriefe, wie im Hypothesenkapitel angenommen worden ist, nicht der Fall. Leserbriefe folgen der klassischen, massenmedialen one-to-many-Logik. Wechselseitige Bezüge zwischen Leserbriefen untereinander sind zwar nicht unmöglich, aber die Ausnahme. Dies passt zum Tenor der einschlägigen Literatur zum Partizipationsinstrument Leserbrief, die im Kontext der Hypothesenbildung zitiert wurde (vgl. Nielsen 2010, S. 32-34; Wahl-Jorgensen 2001, S. 314-318; 2007, S. 68-71). Online-Leserkommentare bieten folglich
FAZIT, SCHLUSSBETRACHTUNGEN UND AUSBLICK | 313
ein Forum, das „den Wiedereinzug interaktiver und [potentiell] deliberativer Elemente in einen unreglementierten Austausch zwischen Partnern zulässt, die virtuell, aber auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren“, wie von Habermas (2008, S. 161) beschrieben. Diese Erkenntnis sowie die ihr zugrunde liegenden Werte in den Kategorien Respekt gegenüber Gegenargumenten und Interaktivität stehen im Einklang mit der bisherigen Forschung zu Online-Leserkommentaren (vgl. da Silva 2013, S. 103; Graham u. Wright 2015, S. 8; Jakobs 2014, S. 202203; Manosevitch u. Walker 2009, S. 19; Ruiz et al. 2011, S. 478; Schuth et al. 2007, S. 2-4; Singer 2009, S. 487; Strandberg u. Berg 2013, S. 142). Dass etwas weniger als jeder zweite Online-Leserkommentar als formal interaktiv eingestuft werden konnte und bis zu jeder dritte einem höheren Anspruch an deliberative Interaktivität gerecht wurde, scheint folglich nicht auf diese Studie beschränkt zu sein. Dies spricht für ein vergleichsweise hohes Interaktionspotential und eine positive Beurteilung aus normativ-deliberativen Gesichtspunkten. Im Gegensatz zu dieser mehr oder weniger erwarteten Erkenntnis, überraschen die folgenden drei Ergebnisse. Denn, die zweitens oftmals angeprangerte, negative Tonalität in Leserkommentaren fand sich ebenso in den analysierten Leserbriefen, sodass hier von keinem relevanten Unterschied die Rede sein kann. Dies gilt ebenso für die zusätzlich analysierte Kategorie demokratischer Respekt, die deutlich macht, dass nur eine Minderheit der negativen Kommentare tatsächlich als problematisch eingestuft werden kann. Dies impliziert, dass Leserkommentare ein hohes Aggressionspotential aufweisen, nur wenige der letztlich publizierten Kommentare aber tatsächlich problematisch sind. Obgleich hier die Forschung stärker differiert, liegen auch diese Ergebnisse im Trend (vgl. Coe et al. 2014, S. 673; Graham u. Wright 2015, S. 10-11; Jakobs 2014, S. 204; Ruiz et al. 2011, S. 477; Singer 2009, S. 490; Strandberg u. Berg 2013, S. 143-144) und widersprechen allzu kritischen Evaluationen (vgl. Coe et al. 2014, S. 673; Díaz Noci et al. 2010, S. 18; Freelon 2015, S. 783; Santana 2014, S. 27). Auf eine neue Qualität an Negativität und Aggressivität durch das Online-Medium Leserkommentar lassen die Ergebnisse folglich nicht schließen. Passend zu diesem Ergebnis finden sich auch in der Forschungsliteratur zum Leserbrief Hinweise darauf, dass dieser als Kommunikationskanal für Kritik, aber auch Ärger und Frustration genutzt wird (vgl. Nielsen 2010, S. 32-34; Wahl-Jorgensen 2007, S. 68-69). Drittens zeigte sich mit Blick auf die argumentative Qualität der Lesermeinungen eine Tendenz zugunsten der Leserbriefe, wie sie auch erwartet worden ist. Diese fiel aber keineswegs so deutlich aus, dass hier von einer anderen Partizipationsform die Rede sein muss. Die entsprechende Subhypothese wurde demzufolge als teilweise bestätigt eingestuft. Die deutliche Mehrheit aller Beiträge enthielt zumindest eine indirekte Begründung. Auch dieses Ergebnis liegt auf einer
314 | DIGITALE DISKUSSIONEN
Linie mit einer Reihe von Studien zu Online-Leserkommentaren, die von einem hohen Maß an codierten Begründungen auf ein substantielles, rationales Potential von Leserkommentaren schließen (vgl. da Silva 2013, S. 103; Graham u. Wright 2015, S. 7; Manosevitch u. Walker 2009, S. 21; Ruiz et al. 2011, S. 476-478; Sampaio u. Barros 2012, S. 198; Strandberg u. Berg 2013, S. 141). Zu guter Letzt wurde deutlich, dass weder Online-Leserkommentare noch Leserbriefe sonderlich egalitär zur Partizipation genutzt werden. Während dies für die Leserkommentare so erwartet worden ist und sich mit entsprechenden Erhebungen deckt (vgl. Díaz Noci et al. 2010, S. 14; Graham u. Wright 2015, S. 9; Ruiz et al. 2011, S. 475476), überrascht das Ergebnis der Leserbriefe vor dem Hintergrund der in der Hypothesenfindung ausdifferenzierten Argumente. Wie ist dies zu beurteilen? Diese Studie liefert einem negativen Technikdeterminismus jedenfalls keine zusätzlichen Argumente. Man könnte stattdessen das deliberative Potential textbasierter Kommunikation als solche infrage stellen. Dies wäre aber kaum logisch zu begründen. Im Gegensatz zur verbalen Kommunikation ist textbasierte Kommunikation notwendigerweise um den Zeitraum der Eingabe oder Verschriftlichung verzögert und generiert somit ein Minimum an Reflektionspotential (vgl. Halpern u. Gibbs 2013, S. 1160; Janssen u. Kies 2005, S. 321; Kersting 2005b, S. 5; 2012c, S. 28). Dagegen spricht ebenso, dass in entsprechenden Vergleichen digitale Diskussionen klassischen Diskussionen von Angesicht zu Angesicht nicht entscheidend unterlegen sind (vgl. Baek et al. 2012; Min 2007; Monnoyer-Smith u. Wojcik 2012; Tucey 2010). Angesichts dieser Ausführungen scheint es zumindest nicht abwegig, anzunehmen, dass eine Debattenkulturkritik nicht auf das Schriftliche beschränkt werden kann. Es legt vielmehr die Mutmaßung nahe, dass es um die Debattenkultur an sich nicht allzu gut bestellt ist. Die aktuelle Debatte bezüglich der Flüchtlingspolitik im Jahr 2015 mag hierfür als drastisches Beispiel dienen1. Nimmt man diese Voraussetzung an, heißt das konsequenterweise, dass es den Aktiven entweder an der Fähigkeit oder der Bereitschaft zur fairen Diskussion 1
Der Philosoph und Herausgeber des Philosophie Magazins Wolfram Eilenberger charakterisiert die Debatte zur Flüchtlingssituation zu Anfang des Jahres 2016 wie folgt: „Schauen Sie sich an, was in den sozialen Netzwerken geschieht: Gerade die Flüchtlingsthematik wird von einer infantilen Diskurskultur beherrscht, von wechselseitigen Unterstellungen, Häme, Beschuldigung, naiver Besserwisserei und Verhärtung. Fast alles, was sachlich nötig wäre, gerät in diesen Sandkastenlogiken aus dem Blick. Es wäre ein erwachsener Anfang, sich zunächst eine grundlegende Perplexität einzugestehen. Wir bewegen uns derzeit alle auf schwankendem Grund. Das erfordert eine besondere Wachheit und Gelenkigkeit, gerade in Bezug auf eigene Überzeugungen. Es erfordert die Bereitschaft, Unrecht zu haben“ (Eilenberger u. Langer 2016).
FAZIT, SCHLUSSBETRACHTUNGEN UND AUSBLICK | 315
untereinander mangelt. Hierzu kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Individuelle Beweggründe sind sicherlich in jedem Fall relevant, aber die Verantwortung allein auf der Subjektebene zu verorten, wäre zumindest fragwürdig. Denn eine zu einem Mindestmaß institutionalisierte Debattenkultur ist logische Voraussetzung für eine entsprechend diskursive Öffentlichkeit. „[D]eliberative Politik [steht] […] in einem internen Zusammenhang mit den Kontexten einer entgegenkommenden, ihrerseits rationalisierten Lebenswelt. Gerade die deliberativ gefilterten politischen Kommunikationen sind auf Ressourcen aus der Lebenswelt - auf eine freiheitliche politische Kultur und eine aufgeklärte politische Sozialisation […] angewiesen“ (Habermas 1992, S. 366).
Ob die aktuell von zunehmender Individualisierung geprägte Gesellschaft hierfür förderlich ist, darf jedenfalls angezweifelt werden (vgl. Dahlberg 2011, S. 857859). Zentral für das Partizipationsrepertoires der deutschen Jugend sind (unter anderem laut aktuellster Shell Jugendstudie) primär individuelle und niederschwellige Beteiligungsformen, für welche das Internet besonders geeignet scheint (vgl. Kersting 2016, S. 258-259; Schlozman et al. 2012, S. 511; Schneekloth 2015, S. 199-200). Ein individueller Nutzenmaximierer, wie er ‚im liberalen Buche’ steht, ist jedenfalls kaum ein idealtypischer Diskutant, wie sich auch Habermas (1992, S. 359) Auseinandersetzung mit dem Liberalismus implizit entnehmen lässt. Zunehmende Betonung des und Druck auf das Individuum(s) dürften jedenfalls vor diesem Hintergrund kaum dazu beitragen, eine Debattenkultur zu institutionalisieren. Zur ersten Leitfrage dieser Arbeit lässt sich ein zweigeteiltes Resümee ziehen. Erstens wird online anders diskursiv partizipiert als offline; und zwar interaktiv. Dies spricht aus deliberativer Perspektive eindeutig für den Online-Leserkommentar. Zweitens widersprechen die vorliegenden Ergebnisse der These vom elaborierten Leserbrief gegenüber dem wenig durchdachten Leserkommentar, welche die Forschung dokumentiert gehörige Skepsis unter den handelnden Journalisten gegenüber der digitalen Partizipation ihrer Leser (vgl. Bakker u. Pantti 2009, S. 9; Chung 2007, S. 57-58; Diakopoulos u. Naaman 2011, S. 3-4; Hermida u. Thurman 2008, S. 12-13; Manosevitch 2011, S. 436-438; Reich 2011, S. 103-104; Skjerdal 2008, S. 70-71; Thurman 2008, S. 153-155), die sich auch in entsprechenden Schlagzeilen wie „Meine Tage im Hass“ (Diener 2014), „Gegen Argumente resistent“ (Taube u. Schattleitner 2015) oder „Studie: Leserkommentare sind schlecht fürs Image der Medien“ (Schade 2015) verschiedener Medien widerspiegelt. Auch wenn die Ergebnisse dieser ersten Auswertung sprichwörtlich
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noch viel ‚Luft nach oben’ haben, liefern sie eher den optimistischeren und aufgeschlosseneren Journalistenmeinungen (vgl. Diakopoulos u. Naaman 2011, S. 34; Reich 2011, S. 103; Singer 2010, S. 137-138; Williams et al. 2011, S. 94-95) zusätzliche Argumente. Die Ergebnisse spiegeln die Ambivalenz bisheriger Forschungsergebnisse zum Online-Leserkommentar (vgl. Freelon 2015; Graham u. Wright 2015; Jakobs 2014; Ruiz et al. 2011; Singer 2009; Strandberg u. Berg 2013; Trice 2010), legen aber angesichts seines schlechtes Rufs und dem bestandenen Vergleich mit dem klassischen Leserbrief eine durchaus positive Interpretation aus deliberativer Sicht nahe. Eine Position, die auch unter deutschen Medienschaffenden nicht gänzlich aus der Reihe zu fallen scheint, wenn Zeit Online etwa schreibt: „Freudige Botschaft für alle, die meinen, der Ton im Kommentarbereich sei unerträglich: Auf beleidigende Kommentare stoßen wir nur sehr selten“ (Ambrosi 2015). Der Freitag kommentiert. „Gerade in Zeiten, in denen zwischen den Medien und deren Konsumenten die Kluft bei der Berichterstattung […] größer ist denn je, ist es weder angebracht noch pädagogisch wertvoll, sich abzuwenden. Mehr Dialog ist notwendig, nicht weniger“ (Kosok 2014). Handlungslogiken von Online-Leserkommentaren: Im zweiten empirischen Abschnitt dieser Arbeit wurden insgesamt 1.248 Online-Leserkommentare auf den sechs Plattformen Die Welt, FAZ.net, Focus Online, RP Online, Spiegel Online und Zeit Online mithilfe eines eigens entwickelten, binären Codierschemas analysiert. Durch Operationalisierung acht indikativer Kriterien deliberativer und liberal individualistischer Partizipation sollte Leitfrage 2 beantwortet werden, welche Form politischer Aktivität in Online-Leserkommentaren vorwiegend ihren Ausdruck findet und genauer, ob Online-Leserkommentare in erster Linie ein Instrument deliberativer Partizipation oder anderer Formen diskursiver Partizipation sind. Hierzu wurde die Häufigkeit der indikativen Kriterien ausgewertet und überprüft, ob einzelne Kriterien miteinander in Zusammenhang stehen, um somit mögliche partizipative Muster sichtbar zu machen. Ziel war es, zu prüfen, ob sinnvollerweise von deliberativer und liberal individualistischer Partizipation durch Online-Leserkommentare die Rede sein kann. In der Summe sind die Ergebnisse aus deliberativer Perspektive durchaus erfreulich. Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass ein deliberativer Handlungszusammenhang aufgedeckt werden konnte. Die empirische Auswertung machte deutlich, dass die Operationalisierungen der deliberativen Kernkriterien Rationalität, Reziprozität, und (inhaltlicher) Egalität im vorliegenden Datensatz in einem statistisch signifikanten Zusammenhang zueinander stehen. Es wurde ein Muster deutlich, wonach Leserkommentare, die ein indikatives Kriterium deliberativer Partizipation aufweisen, wahrscheinlicher auch weitere Kriterien aufweisen. Dies lässt innerhalb der analysierten Daten den Rückschluss darauf zu, dass sich ein
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relevanter Anteil der Online-Leserkommentare als deliberative Partizipation beschreiben lässt. Deliberative Leserkommentare werden darüber hinaus eher von Nutzerinnen verfasst, die insgesamt mehr als einen Beitrag pro analysierten Thread verfasst haben. Die vorgefundenen Unterschiede und Zusammenhänge sind nicht stark, aber überwiegend hochsignifikant und bestätigen damit Tendenzen, die in Ansätzen in ersten Studien bereits deutlich wurden (vgl. Coe et al. 2014, S. 672-675; Jakobs 2014, S. 206-207). Somit können theoretisch wie empirisch begründet Aussagen über das Ausmaß von Deliberation als emergentes Phänomen getroffen werden. Dies ist ein erster Schritt, die konzeptionelle Selbstlimitierung der Online-Deliberationsforschung anzugehen (vgl. Coleman u. Moss 2012, S. 5-7), obgleich diese Ergebnisse nicht überbewertet werden sollten. Die gewählten Operationalisierungen und die ausdifferenzierte, operative Minimaldefinition deliberativer Partizipation sind bewusst äußerst niederschwellig gewählt. Wenn ein Kommentar als begründet codiert oder gar als deliberativ klassifiziert wurde, impliziert dies keineswegs auch hohe deliberative Qualität der Aussage. Auch wenn die gewählte Minimaldefinition operativen Charakter hat und deshalb nicht ohne logische Schwächen2 auskommt, bedeutet es, wenn etwa ein Viertel der Kommentare als deliberativ klassifiziert werden konnte, dass drei Viertel überwiegend weit von deliberativen Anforderungen entfernt waren. Wenn eine so deutliche Mehrheit bereits den minimalsten Anforderungen deliberativer Gütekriterien nicht gerecht wird, spricht dies gegen allzu großes deliberatives Potential in Online-Leserkommentaren. Da obige Schlussfolgerung bezüglich ähnlicher Forschungsergebnisse auch umgekehrt gelten muss, bestätigt dies, dass durchweg positive Interpretationen der Leserpartizipation durch Kommentare unter journalistischen Artikeln durch die Forschung eher die Ausnahme sind (vgl. Graham u. Wright 2015; Manosevitch u. Walker 2009). Trotz der begrenzten Aussagekraft dieser Studie liegt zumindest die Vermutung nahe, dass diese Erkenntnis nicht auf die hier analysierten Leserkommentare beschränkt ist. Auch wenn vergleichbare Ansätze bislang rar sind, ist deutlich geworden, dass die Ergebnisse der einzelnen Indikatoren keineswegs aus dem Rah-
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Problematisch an dieser Definition ist erstens, dass sie auf die zuvor ausdifferenzierten Operationalisierungen indikativer Merkmale deliberativer Partizipation angewiesen ist. Somit ergibt sich die logische Unvollkommenheit, dass nur interaktive Kommentare als deliberativ charakterisiert wurden. Selbst in einer perfekt deliberativen Diskussion muss es aber einen Kommentar geben, welcher die Diskussion initiiert und damit nicht interaktiv gemäß der hier gewählten - und in der Forschung üblichen - Operationalisierung sein kann.
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men fallen, sondern der Grundtendenz der Forschung zu Online-Leserkommentaren im Speziellen (vgl. da Silva 2013, S. 106; Graham u. Wright 2015, S. 17; Jakobs 2014, S. 206-207; Manosevitch u. Walker 2009, S. 21; Ruiz et al. 2011, S. 482-484; Sampaio u. Barros 2012, S. 200; Singer 2009, S. 491; Strandberg u. Berg 2013, S. 144; Trice 2010, S. 196) und auch der breiteren Online-Deliberationsforschung im Allgemeinen (vgl. Black et al. 2011b, S. 621-622; Graham 2010, S. 3039; Graham 2012, S. 35-39; Graham u. Witschge 2003, S. 190-198; Halpern u. Gibbs 2013, S. 1163; Jankowski u. van Os 2004, S. 188-191; Kies u. Wojcik 2010, S. 207-208; Linaa Jensen 2003, S. 355-366; Mummery u. Rodan 2013, S. 28-33; Strandberg 2008, S. 81-84; Stromer-Galley 2007, S. 15-18; Tumasjan et al. 2011, S. 407-408; Uldam u. Askanius 2013, S. 1198; Wilhelm 1998, S. 327-333; Wright u. Street 2007, S. 862-864) entsprechen. Im Vergleich zu den meisten der hier zitierten Studien fielen die hiesigen Ergebnisse aus deliberativer Perspektive eher besser denn schlechter aus, was sich als zusätzliches Argument für den Bedarf an zusätzlichen Konzepten lesen lässt (vgl. Coleman u. Moss 2012, S. 5-7). Denn die eindeutige Mehrheit der analysierten Online-Leserkommentare entsprach den aufgestellten Mindestanforderungen deliberativer Partizipation nicht. Dies galt für alle untersuchten Kommentar-Threads. Mit dem Ansatz liberal individualistischer Partizipation wurde ein sowohl theoretisch (vgl. Dahlberg 2001a, 2011) wie empirisch (vgl. Dahlgren 2014; Freelon 2015; Gibson u. Cantijoch 2013; Gil de Zúñiga et al. 2014; Kersting 2013b, 2013c, 2014, 2016; Papacharissi 2009, 2012; Schlozman et al. 2012) erfolgversprechendes Konzept empirisch getestet, um die konzeptionelle Expansion der Analyse diskursiver Partizipation online mit neuen empirischen Erkenntnissen voranzubringen. Dies ist gelungen, obwohl die Ergebnisse keinen Hinweis auf eine Form liberal individualistischer Partizipation liefern, wie noch in Kapitel 5.2 angenommen wurde. Auf partikulare Interessen verwiesen die Nutzer nur sehr selten, während sich Selbst-Expression unabhängig von den übrigen inhaltlichen Merkmalen über die Kommentare verteilte. Stattdessen kristallisierte sich im Rahmen der Auswertung immer stärker eine zweite, dominierende Partizipationsform heraus, die sich am ehesten als individuelle Protestartikulation beschreiben und verstehen lässt. Dies ist ein Ergebnis, das so in der bisherigen Forschung noch nicht vorzufinden ist. Es widerspricht bisherigen Ergebnissen aber keinesfalls, sondern liefert vielmehr einen Erklärungsansatz für als teils widersprüchlich oder ambivalent eingeordnete Ergebnisse der aktuellen Forschung. Zahlreiche Studien messen Verstöße gegen die deliberative Norm der Egalität durch die Operationalisierung von Negativität, Respektlosigkeit, Unhöflichkeit, Aggressivität oder ähnliche Handlungsformen (vgl. Coe et al. 2014; Díaz Noci et al. 2010; Freelon 2015; Jankowski u. van Os 2004; Kies 2010;
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Mummery u. Rodan 2013; Papacharissi 2004; Santana 2014; Singer 2009; Strandberg 2008; Wilhelm 1998). Dabei wird kaum spezifiziert, gegen wen sich diese Negativität richtet. In dieser Studie wurde differenziert vorgegangen und aufgedeckt, dass nur etwa jeder zehnte negativ konnotierte Kommentar gegen eine andere Nutzerin der Kommentarforen gerichtet war. Ein Ergebnis, das vor dem Hintergrund des bisherigen akademischen wie gesellschaftlichen Diskurses überrascht, aber angesichts einer hausinternen Auswertung von Zeit Online kein Einzelfall zu sein scheint. Dort heißt es, beleidigende Kommentare seien eine Seltenheit, was direkt auf die Moderationspraxis zurückgeführt wird. „Hart durchgegriffen wird, wenn sich Kommentatoren gegenseitig beleidigen, weil das erfahrungsgemäß in einem Pingpong aus wüsten Beleidigungen mündet […] Ist dagegen eine in der Öffentlichkeit stehende Persönlichkeit Gegenstand eines Übergriffs, sind die Moderatoren manchmal blind“ (Ambrosi 2015). Dieses Bild findet sich exakt in der hiesigen Analyse, die ein hohes Maß an diskursivem Protest aufweist. Weiterhin wurde ein in sich logischer Zusammenhang der Protestartikulation deutlich. Wenn sich Teilnehmer als sogenannte One Timer nur exakt einmal an den Debatten beteiligten, dann sehr wahrscheinlich in Monologform. In Monologen wiederum war diskursiver Protest eindeutig häufiger als in formal interaktiven Kommentaren. Schließlich fand sich auch ein sehr schwacher statistischer Zusammenhang zur expliziten Bezugnahme auf ein abstraktes Allgemeinwohl. Diese einzelnen Merkmale standen jeweils auch untereinander in positivem Zusammenhang. Dies kann als Indiz für ein entsprechendes, partizipatives Muster interpretiert werden, das sich logisch erklären lässt. Es scheint ganz so, dass protestierende Nutzerinnen Online-Leserkommentare nutzen, um für eine selten genauer spezifizierte Allgemeinheit zu sprechen und die Politik zu kritisieren. Da sich diese Nutzer als Vertreter der Bürger im Gegensatz zur politischen Elite stilisieren, erklärt sich ihr mangelndes Interesse an Interaktion, was sich in der überproportional hohen Zahl an Monologen und One Timern niederschlägt. Mit Blick auf die zum Teil hitzige Stimmung in Online-Foren allgemein findet sich eine passende Einschätzung von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der von der Süddeutschen Zeitung wie folgt zitiert wird: „Gerade im Internet […] glauben die Menschen dann auch noch, sie würden die Meinung einer schweigenden Mehrheit zum Ausdruck bringen, wenn sie gegen Ausländer hetzen oder Presse und Politik verteufeln“ (Sueddeutsche.de 2015). Auch wenn das Thema der analysierten Diskussionen mit dem Fehlverhalten eines oder mehrerer politischer Akteure mehr als andere Themen Anlass zur Artikulation von Protest geben könnte, liefert dieses Ergebnis spannende Implikationen für die Forschung. Mit dem Muster individuell-protestorientierter Partizipation ist es jedenfalls gelungen, empirisch begründet einen erfolgversprechenden Ansatz zu entwickeln, deliberative Konzepte bei
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der Analyse diskursiver Partizipation online zu ergänzen. Die umfangreiche Forschung zur Mobilisierung zu und Organisation von Protest durch Nutzung sozialer Medien zeigt, dass auf diesem Gebiet großes Forschungsinteresse und -potential zu verorten ist (vgl. Farrell 2012; Howard u. Hussain 2011; Norris 2012; Tufekci u. Wilson 2012; Wolfsfeld et al. 2013). Eine Symbiose zwischen Online-Protestforschung und Online-Deliberationsforschung scheint vor dem Hintergrund der hier präsentierten Ergebnisse für beide Forschungsstränge erfolgversprechend. Zusätzlich wurde deutlich, dass einem weiteren relevanten Anteil der Kommentare nur schwerlich eine partizipative Logik zugewiesen werden konnte. Diese wurden als maximal niederschwellige Form der diskursiven Partizipation durch Online-Leserkommentare aufgefasst. Für eine Beschreibung bietet sich deshalb das in den Internetstudien gebräuchliche Konzept des Slacktivism an, das somit sinnvollerweise auf diskursive Partizipation übertragen werden könnte. Eine dezidierte Auswertung dieser Kommentare wurde aber nicht vorgenommen. Hierzu ist erst noch konzeptionelle Grundlagenarbeit nötig. Diese Studie impliziert, dass Online-Leserkommentarfunktionen zwar als Diskussionsplattform genutzt werden, aber in weit höherem Maße nicht. Die Ergebnisse der Kategorisierung diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare, die in Kapitel 10 vorgenommen wurde, konnte dies zusätzlich verdeutlichen. Etwa zwei Drittel aller Online-Leserkommentare des in Kapitel 9.1 beschriebenen Datensatzes konnte nicht in die dort ausdifferenzierte Oberkategorie deliberativer Partizipation eingeordnet werden (vgl. Tabelle 10.4). Dies widerspricht den mit der deliberativen Öffentlichkeitskonzeption verbundenen Hoffnungen auf eine digitale Gegenöffentlichkeit im deliberativen Sinn (vgl. Bohman 2004; Castells 2008; Habermas 2006, 2008; Papacharissi 2002, 2009). Die Ergebnisse an dieser Stelle lassen vermuten, dass das Hauptaugenmerk der Verfasserinnen von OnlineLeserkommentaren nicht auf der gemeinschaftlichen Ausdifferenzierung einer rationalen öffentlichen Meinung liegt. Bevor dies aber nun negativ beurteilt werden sollte, ist die Frage zu klären, worauf das Hauptaugenmerk der Nutzer stattdessen liegt. Nur weil sich die Hoffnungen der deliberativen Theorieschule nicht (in erhofftem Maße) bewahrheiten, ist die sich realisierende diskursive Partizipation kaum automatisch als minderwertig, undemokratisch oder gar schädlich abzuqualifizieren. Hierauf verweist bereits Wright (2012, S. 249) in seiner Entwicklung einer neuen Agenda für die Online-Deliberationsforschung. Er argumentiert, dass unangemessen hohe theorieinspirierte Erwartungen zu unangemessen pessimistischen Interpretationen der Forschungsergebnisse verleiten könnten. Es war ein wesentliches Anliegen hinter dieser Studie, das deliberative Verständnis diskursiver Partizipation zu ergänzen und mittels empirischer Daten ein
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ergänzendes Verständnis zu untermauern, was mit der Kategorie diskursiven Protests auch gelungen ist, obwohl sich die Hypothesen, welche eine Partizipationsform liberal-individualistischer Natur annahmen somit nicht vollends bestätigt werden konnten. Dieses Ergebnis ist trotz des Mangelns entsprechender Forschungsergebnisse angesichts der strukturellen Eigenschaften des Online-Leserkommentars folgerichtig. Auch wenn dies Freelons (2015, S. 778-779) Einschätzung widerspricht, scheint der Online-Leserkommentar eher als Protestmedium geeignet zu sein als für expressiv geprägte liberal individualistische Partizipation. Die Argumentation dieser Arbeit stimmt mit der Freelons darin überein, dass der Online-Leserkommentar als verhältnismäßig niederschwelliges und gering reguliertes Partizipationsinstrument eingeschätzt werden kann (vgl. Kapitel 3). Freelon (2015, S. 778) argumentiert weiterhin, dass „pseudonymity is the rule in newspaper comment sections, with prolific authors being readily identifiable between articles. The resulting discourse architecture is highly compatible with liberal individualism.“ Dies gilt ebenso für die hier untersuchten Betreibermedien. Obgleich die Medienhäuser überwiegend eigene Communities aufgebaut haben, scheinen diese kaum mit den persönlichen Netzwerken der Nutzerinnen von Facebook oder Twitter vergleichbar zu sein. Sofern sich die Nutzerinnen einer Nachrichtenseite nicht persönlich kennen oder einander vorstellen, sind die öffentlichen Informationen kaum mit denen bei oben genannten Netzwerken vergleichbar. In der Regel ist über einen Nutzer nicht mehr als das gewählte Pseudonym sichtbar. Klarnamen sind kaum validierbar. Darüber hinaus ist das Entstehen von Netzwerkstrukturen, wie bei den oben genannten Plattformen kaum, vorstellbar. Die Möglichkeiten, mit anderen Nutzerinnen in Kontakt zu treten oder eine, wie auch immer realisierte Verbindung zwischen den Nutzerprofilen herzustellen und gar zu kommunizieren, wie bei sozialen Netzwerken üblich (vgl. Boyd 2008), sind kaum entwickelt. Eine Vernetzung mit anderen sozialen Medien ist erst im Entstehen begriffen. Deshalb ist davon auszugehen, dass sowohl die Nutzerinnen selbst als auch die Öffentlichkeit, von welcher die Kommentare rezipiert werden, weitestgehend unbekannt und unbestimmt bleiben. Daher macht es Sinn, dass bei dem Verfassen eines Leserkommentars die Entwicklung, Pflege und Kommunikation eines politischen Ichs eine eher untergeordnete Rolle spielt (vgl. Gil de Zúñiga et al. 2014; Papacharissi 2012). Wie bereits argumentiert wurde, spricht die Anbindung an die Nachrichtenmedien aber dafür, dass potentiell eine breite und heterogene Öffentlichkeit adressiert werden kann. Der hohe Anteil an sogenannten one timern spricht indes für eine Reproduktion der klassischen massenmedialen one-to-many-Kommunikation
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und scheint eine Folge hiervon. Dies entspricht eher dem Bedarf, Protest möglichst effizient zu artikulieren als die eigene Selbstdarstellung zu pflegen. Im Oxford Handbook of Political Behaviour schreibt Dieter Rucht (2007, S. 709) in seinem Artikel zur Verbreitung politischer Protestpartizipation grundlegend Folgendes: „As long as protest occurs in public, it should be conceptualized as a triangular communication process rather than a bipolar struggle. Besides the actors who protest and those who are targeted, third parties come into play, be they mediators or control agencies, be they physically present by standers or the general public, which learns about the protest activity only via mass media. The role of the audience of protest should not be underestimated. Quite often, protest groups invest more energy in attracting the attention and probably even support of the audience than in trying to have a direct impact on their opponent. In some cases, the very act of protest would not occur without the assumed presence of media.“ Dass die untersuchten Online-Leserkommentare in hohem Maße zur Artikulation von Protest genutzt werden, erscheint angesichts der Einfachheit des Zugangs zu diesem massenmedialen Kommunikationskanal somit folgerichtig. Dem widerspricht nicht, dass Rucht, wie in der Protestforschung üblich, von Protest als kollektiver Aktivität schreibt. Auch wenn die Ergebnisse dieser Studie gerade suggerieren, dass es Einzelpersonen - ohne Absicht mit anderen Nutzern gemeinschaftlich zu agieren - sind, die den Leserkommentar zur Protestkommunikation nutzen, scheint es logisch, anzunehmen, dass diese sich als Sprachrohr einer schweigenden Gruppe oder gar Mehrheit an Bürgern begreifen. Dies soll keineswegs heißen, dass expressive Motive hierbei keine Rolle spielen. Die durchgeführte Auswertung impliziert lediglich, dass Selbst-Expression nicht das dominierende Motiv darstellt. Aus normativer Perspektive ist dieses Ergebnis sicherlich ambivalent zu bewerten. Auf der einen Seite ist politischer Protest mittlerweile ein von Forschung und Gesellschaft akzeptierter und bedeutsamer Bestandteil des individuellen Partizipationsrepertoires in einer modernen Demokratie. Es ist daher erst einmal positiv, wenn sich diesem durch das Internet zusätzliche Kanäle bieten, wie eben durch den Online-Leserkommentar (vgl. Barnes u. Kaase 1979; Dalton 2014 Kapitel 4; Norris 2002, S. 194-200; Rucht 2007, S. 708-709; Valenzuela 2013, S. 927; van Laer u. van Aelst 2010, S. 232-236). Während die von der Forschung privilegiert untersuchten digitalen Protestbewegungen in autoritären und repressiven Regimen aus demokratietheoretischer Sicht grundlegend positiv konnotiert werden3, verhält es sich beim Leserkommentarprotest an dieser Stelle anders.
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Siehe zum Beispiel die Studien zum arabischen Frühling von Howard u. Hussain 2011, Tufekci u. Wilson 2012 oder Wolfsfeld et al. 2013.
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Der Protest, der in den analysierten Online-Leserkommentaren deutlich wurde, ist aus demokratischer Sicht vielfach problematisch. Oftmals zeugt er von Unkenntnis und/oder Ablehnung konstitutiver Elemente moderner, repräsentativer Demokratien. Darüber hinaus ist die Art und Weise des Protests oftmals bedenklich, wie die Kategorienbildung in Kapitel 10 zeigte. Während die aus normativer Perspektive zu bevorzugenden Kategorien des deliberativen (4,2%) und des rationalen Protests (8,4%) nur vergleichsweise kleine Gruppen an OnlineLeserkommentaren im ausgewerteten Datensatz adäquat beschreiben, können mit den Kategorien des individuellen (18,9%) und des interaktiven Protests (8,1%) über ein Viertel der Kommentare beschrieben werden. Wie die Argumentation hierzu deutlich machte, ist es mit Blick auf die gesellschaftliche Debatten- und Protestkultur ein kritischer Befund, dass eine solchermaßen beschriebene weniger konstruktive Form der Protestartikulation ihre konstruktiveren Pendants eindeutig dominiert (vgl. Tabelle 10.3). Während im Jahr 2015 eine notwendige gesellschaftliche Debatte über sogenannte ‚Hass-Mails’, offene Drohungen gegenüber Politikern, Journalisten und anderen Personen des öffentlichen Lebens und zahlreichen Fällen offener Volksverhetzung auf verschiedenen Internetplattformen geführt wird, ist die vorgefundene Form individueller Protestkommunikation keinesfalls unkritisch zu interpretieren (siehe beispielhaft für die aktuelle Debatte den Tagesthemen-Kommentar von Anja Reschke, Leiterin der Abteilung Innenpolitik beim NDR: Reschke 2015). Auch wenn die verantwortlichen Redaktionen der untersuchten Medien es geschafft haben, dass unter den analysierten Leserkommentaren keine offenen Drohungen oder strafrechtlich relevanten Inhalte zu finden waren, war ein Großteil der negativen Äußerungen gegenüber Politikern nicht durch Sachlichkeit und konstruktive Kritik geprägt. Die Meinungsfreiheit schützt auch unsachliche Meinungen, weshalb solche nicht zwangsläufig als Problem gelten dürfen. Insbesondere vor dem Hintergrund der kritischen Entwicklung der digitalen Streitkultur (siehe zum Beispiel einschlägige Berichte und Kommentare zur Streitkultur in sozialen Netzwerken: Abdi-Herrle 2015; Kühl 2015; Lobo 2012, 2015) erscheint es notwendig, zwischen konstruktiven und nicht konstruktiven Formen diskursiven Protests zu differenzieren. Die im vorangegangenen Kapitel entwickelte Kategorisierung diskursiver Partizipation, die eine Differenzierung zwischen konstruktiveren Formen protestorientierter diskursiver Partizipation und weniger konstruktiven beinhält, stellt eine Möglichkeit einer solchen Unterscheidung dar. Eine Implikation dieser Studie lässt sich somit an dieser Stelle bereits festhalten. Es erscheint notwendig, diskursiver Protestpartizipation online in der Zukunft weitere konzeptionelle und empirische Forschung zu widmen.
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Der Einfluss struktureller und kontextueller Faktoren auf diskursive Partizipation durch Online-Leserkommentare. Für die Analyse des dritten Hypothesenbündels und der Beantwortung der dritten Leitfrage, welchen Einfluss die Struktur der Kommentarfunktion und das Betreibermedium auf die deliberative Qualität von Online-Leserkommentaren haben, wurden zum einen dieselben Kommentare ausgewertet, wie bei der Überprüfung des zweiten Hypothesenbündels. Zum anderen wurde mit Bild Online ein zusätzliches Medium hinzugefügt, sodass insgesamt 1.396 Leserkommentare ausgewertet wurden. Zum Einsatz kamen beide in dieser Arbeit entwickelten Codierschemata, deren Ergebnisse mittels Chi-Quadrat-Test auf statistisch signifikante Zusammenhänge zu Struktur- und Kontextvariablen geprüft wurden. Somit wurde der Versuch unternommen, Erklärungsansätze für die konkrete Gestalt und deliberative Qualität diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare zu finden. Damit hat diese Arbeit kein unübliches Vorgehen gewählt, das sich bereits in aktuellen, ähnlich gelagerten Forschungsarbeiten findet (vgl. Halpern u. Gibbs 2013, S. 1164; Rowe 2014, S. 10; Santana 2014, S. 26-27). Die Auswertung struktureller Variablen konnte nicht auf einen hohen Erklärungsgehalt hindeuten. Die geringe Varianz in der Variablenausprägung verhindert aussagekräftigere Ergebnisse mit Blick auf die Variablen Registrierung und aktive Moderation, die tendenziell den aufgestellten Hypothesen und damit einschlägigen Forschungsergebnissen (vgl. Jankowski u. van Os 2004, S. 187-188; Janssen u. Kies 2005, S. 321-322; Linaa Jensen 2003, S. 371; Wright 2006, S. 555) entsprechen. Die übrigen Ergebnisse widersprachen den aufgestellten Hypothesen. Während erste Arbeiten zu Online-Leserkommentaren positive Effekte von Identifizierungsbestrebungen ausmachen konnten (vgl. Rowe 2014, S. 11; Santana 2014, S. 26-27) und andere entsprechende Effekte zumindest vermuten (vgl. Freelon 2015, S. 778-779; Graham u. Wright 2015, S. 18; Strandberg u. Berg 2013, S. 145), widersprachen die hier präsentierten Ergebnisse dieser Annahme. Ebenso konnte kein positiver Effekt der apriorischen Moderation festgestellt werden, was angesichts der hohen Erwartungen, insbesondere deutscher Journalisten (vgl. ECCO-Agenturnetz 2014, S. 7; Reich 2011, S. 108-109), ebenfalls überraschen kann. Die bislang weniger erforschten partizipativen Funktionen von Online-Leserkommentaren scheinen im Fall der vorliegenden Daten an Stelle des Austausches rationaler Argumente eher die Artikulation von Protest zu befördern. Ein interessantes Ergebnis, auch wenn es Hypothese 3c widerspricht. Besonders spannende, wie aussagekräftigere Ergebnisse lieferte die Überprüfung der kontextuellen Variablen. Die Daten lieferten Indizien dafür, die Hypothesen 3d und 3e als bestätigt anzusehen. Demnach finden sich deliberative Parti-
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zipation und Leserkommentare mit höherer deliberativer Qualität eher auf Nachrichtenseiten, deren Berichterstattung tendenziell links-/ liberal-/ progressiv geprägt ist (Spiegel Online, Zeit Online) sowie auf Betreibermedien, die als Qualitätsmedien einzustufen sind, beziehungsweise deren Leserschaft am ehesten über einen hohen Bildungsabschluss verfügt (plus FAZ.net). Boulevardmedien mit einer eher rechts-/ konservativ geprägten Berichterstattung scheinen stärker zur Artikulation von Protest genutzt zu werden. Pointiert heißt das, dass deliberative Partizipation eher das Mittel der Wahl in einem politisch links orientierten Bildungsbürgerumfeld zu sein scheint, während in einem boulevardesken und konservativ geprägten Medienumfeld Leserkommentare eher zum Ausdruck von Protest genutzt werden. Ein Ergebnis, dass den aufgestellten Hypothesen und somit der Tendenz bisheriger Forschungsergebnisse, vor allem zu Weblogs, entspricht (vgl. Adamic u. Glance 2005, S. 14; Lawrence et al. 2010, S. 151-152; Shaw u. Benkler 2012, S. 478-482). Die vorliegende Untersuchung impliziert somit, dass der Kontext stärkeren Einfluss auf die Gestalt diskursiver Partizipation online ausüben könnte als die technische und organisatorische Struktur der Diskussionsplattformen. Passend hierzu zeigten sich bereits in der Auswertung zuvor signifikante Zusammenhänge zwischen der Interaktivität eines Beitrages und anderen Indikatoren, vor allem für die drei Qualitätsmedien FAZ.net, Spiegel Online und Zeit Online mit der im Schnitt am höchsten gebildeten Leserschaft. Bei den anderen Medien waren die beschriebenen Zusammenhänge nicht so eindeutig. Damit bestätigen die präsentierten Ergebnisse die Tendenz der Auswertungen von Ruiz et al. (2011), die dem kulturellen Kontext entscheidenden Erklärungsgehalt gegenüber wesentlichen Strukturmerkmalen diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare zuschreiben. Sollte sich diese Tendenz in der zukünftigen Forschung weiter verfestigen, könnte dies essentielle Fragen für die Online-Deliberationsforschung aufwerfen. Wie inklusiv etwa könnte deliberative Partizipation noch gedacht werden? Oder ließen sich strukturelle Determinanten deliberativer Qualität auch unabhängig von kontextuellen Faktoren belegen, beziehungsweise diesen anpassen? Ohne ähnliche Überlegungen an dieser Stelle weiter vertiefen zu wollen, ist bis hierhin deutlich geworden, dass sich die Ergebnisse aller Betreibermedien, trotz der beschriebenen Unterschiede, tendenziell ähneln. Insbesondere mit Blick auf die DQI-Ergebnisse lassen sich stärker deliberativ geprägte Kommentarforen zwar von weniger deliberativen eindeutig abgrenzen, aber die Unterschiede sind wesentlich schwächer als die, die Ruiz et al. (2011) im internationalen Vergleich aufgedeckt haben.
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Es trifft folglich auf alle ausgewählten Plattformen zu, dass die untersuchten Leserkommentare in der Regel (unvollständige) Begründungen für vertretene Forderungen aufweisen, durch ein hohes Maß an negativen Äußerungen geprägt sind, seltener, aber in relevantem Maße konkrete Gegenargumente anderer Nutzer oder das Allgemeinwohl thematisieren und Gebrauch von Narrativen oder Pronomina der ersten Person Singular machen. Die vorliegenden Ergebnisse sprechen dafür, dass sich die Kommentarforen der untersuchten deutschen Nachrichtenmedien in der Summe eher punktuell denn grundsätzlich unterscheiden. Hierüber sollen auch die Schlussfolgerungen der dritten Auswertung mit Blick auf erklärende Variablen nicht hinwegtäuschen. Auch wenn es sich andeutet, dass ein links-intellektuell geprägtes Betreibermedium eher deliberativ hochwertige Kommentare anzuziehen scheint, gab es auch hier einen relevanten Anteil an Monologen und individuellprotestorientierter Partizipation. Zwei wesentliche normative Implikationen dieses Ergebnisses lassen sich ableiten. Erstens ist der Vorteil von Leserkommentaren auf den Seiten der Qualitätsmedien zwar keineswegs überraschend, bestätigt damit aber tendenziell die Einschätzung, nach der die digitalen Partizipationsmöglichkeiten die partizipatorische Spaltung innerhalb der Gesellschaft eher vergrößern denn verkleinern (vgl. Brundidge u. Rice 2009, S. 149; Hargittai 2002; Kersting 2014, S. 80; Krueger 2006, S. 771-772; Nam 2011, S. 95-96). Hierbei ist zu beachten, dass diese Studie nicht das quantitative Ausmaß diskursiver Partizipation in den Blick genommen hat. Es kann und soll keine Aussage darüber getroffen werden, ob auf den Seiten der Boulevardmedien weniger partizipiert wird als auf den Seiten der Qualitätsmedien. Weiterhin liegen dieser Studie keine Informationen zu den Verfasserinnen der untersuchten Leserkommentare vor. Die Forschung hat insgesamt kaum belastbare Erkenntnisse zu diesen und ihren sozio-demographischen Merkmalen (vgl. Freelon 2015, S. 787; Graham u. Wright 2015, S. 18; Rowe 2014, S. 14; Ruiz et al. 2011, S. 483). Dies ist bei der Interpretation der hier präsentierten Ergebnisse zu beachten. Es ist an dieser Stelle nicht das Ziel, und kann nicht Ziel dieser Studie sein, sich an der Debatte um partizipatorische und digitale Spaltung zu beteiligen. Das Forschungsdesign dieser Studie und ihr leitendes Erkenntnisinteresse fokussieren auf andere Schwerpunkte und haben in diesem Punkt daher unmöglich ähnliches Erkenntnispotential wie einschlägige Studien, die zumeist mit Surveydaten arbeiten. Auch soll in dieser Studie keine Entscheidung über ein ‚besser’ oder ‚schlechter’ verschiedener Partizipationsformen getroffen werden. Nichtsdestotrotz implizieren die vorgestellten Ergebnisse, dass sich die digitale Spaltung im analysierten Inhalt der Leserkommentare niederschlägt. Hierfür sprechen sowohl praktische wie theoretische Gründe.
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Erstens konnte hinreichend dargelegt werden, dass Online-Leserkommentare in den Medien mindestens kontrovers diskutiert werden und die Debattenkultur im Internet selbst derzeit stark in der Kritik steht (vgl. Abdi-Herrle 2015; Diener 2014; Kühl 2015; Lobo 2012, 2015; Lütkemeier u. Müller 2014; Schade 2015; Taube u. Schattleitner 2015). Es bedarf hierbei keiner ausführlichen Inhaltsanalyse, um festzustellen, dass sich die artikulierte Kritik eher auf die diskursive Partizipation individuell-protestorientierter Natur, die in dieser Studie beschrieben wird, bezieht, als auf Leserbeiträge, die hier als deliberative Partizipation eingestuft wurden. Beispielhaft lässt sich dies an einem appellativen Artikel auf Zeit Online veranschaulichen, dem eine ausführliche Leserkommentar-Analyse durch die Community-Redaktion zugrunde liegt. Während der Artikel zur Leserdebatte zum Thema Impfungen mit der Aussage „Gegen Argumente resistent“ (Taube u. Schattleitner 2015) betitelt ist, trägt das abschließende Resümee die Überschrift „Wege zu einer konstruktiven Debatte“ und beginnt mit dem folgenden Absatz: „Das Polarisierungsprinzip ist mächtig und verführerisch. Aber es ist sinnlos und langweilig. Denn wo liegt die Herausforderung, wo bleibt die Lust am argumentativen Kräftemessen, am Ausweis rhetorischer Geschicklichkeit, wenn alle Beteiligten ohnehin schon wissen, was sie sagen, wie sie sich verhalten, noch bevor sie den Kommentarbereich betreten?“ Auch wenn das Thema Impfungen nicht direkt mit dem hier analysierten Thema vergleichbar ist, wird deutlich, dass die Wünsche der Redaktion ziemlich genau dem entsprechen, was in dieser Studie als deliberative Partizipation beschrieben wird. Einmalige Partizipation zum Ausdruck oftmals emotional aufgeladenen Protests ohne Interesse an einer Debatte entspricht dagegen eher dem, was Zeit Online als „Polarisierungsprinzip“ bezeichnet. Dies soll nicht bedeuten, dass der Ausdruck von Protest per se gesellschaftlich abqualifiziert wird. Hier ist es notwendig zu differenzieren, wie oben bereits argumentiert wurde. Es entspricht aber der Wahrnehmung, dass es vor allem der teils raue Umgangston in den Kommentarspalten ist, welcher für deren teils skeptische Bewertung verantwortlich ist (vgl. Schade 2015). Unabhängig von der Frage der Berechtigung dieser Abstufung ist damit wertfrei festzustellen, dass eine Form der diskursiven Partizipation gesellschaftlich in geringerem Maße akzeptiert wird, legitimiert ist und ihr damit auch geringerer Einfluss unterstellt werden kann als einer anderen4. Wenn Habermas (1992, S. 369) argumentiert, dass „das diskursive
4
Natürlich wird an dieser Stelle nur ein besonders deutliches Beispiel einer journalistischen Stellungnahme diskutiert. Die Einlassungen des deutschen Presserates (vgl. Lütkemeier u. Müller 2014; Meedia.de 2015; Spiegel Online 2014) zum Thema implizieren aber, dass die Kritik an übertriebener Polarisierung durchaus geteilt wird. Dies gilt nicht
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Niveau der öffentlichen Debatten die wichtigste Variable“ deliberativer Politik darstellt, bedarf es keiner zusätzlichen Ausführungen an dieser Stelle, um festzuhalten, dass die Wirksamkeit diskursiver Partizipation und ihrer kommunikativen Macht von ebenjenem Niveau abhängt. In Anbetracht der bis hierhin vorgetragenen Argumente lässt sich der beschriebene Bias zwischen Qualitäts- und Boulevardmedien als Indiz inhaltlicher Auswirkungen der partizipatorischen Spaltung deuten. Nimmt man dies so an, deuten die Ergebnisse dieser Studie darauf hin, dass Online-Leserkommentare mittelbar nicht zur Egalisierung demokratischer Partizipation und Politik führen, sondern, dass die konkrete Nutzung, beziehungsweise die Nutzungsmuster bestehende Ungleichheiten eher vergrößern als verkleinern könnten und stimmen darin mit der allgemeinen Evaluation eines fortdauernden digital divide überein (vgl. Brundidge u. Rice 2009; Hargittai 2002; Krueger 2006; Schlozman et al. 2010; van Dijk 2006). Obwohl es aus demokratischer Perspektive positiv zu bewerten ist, dass Online-Leserkommentare mit dazu beitragen, die Zahl der Stimmen in der (Netz)Öffentlichkeit zu mehren (vgl. Baringhorst 2014, S. 94-96, 104-106; Emmer u. Wolling 2010, S. 39-40; Fung et al. 2013, S. 33; Kersting 2014, S. 79), wirft diese Interpretation die für Partizipationsforschung und Internet Studies klassischen Fragen nach den gesellschaftlichen und demokratischen Konsequenzen zunehmender Ungleichheit auf. Trotz dieser kohärenten Argumentationskette kann diese Folgerung aber natürlich nur als begründete Vermutung angesehen werden, da sie auf einer Reihe an Prämissen fußt, die sich an dieser Stelle nicht empirisch überprüfen lassen, auch wenn sie folgerichtig erscheinen. Hier könnte zukünftige Forschung sicherlich ansetzen, indem sie individuelle Persönlichkeitsmerkmale von Online-Leserkommentarschreiberinnen erhebt und zu Ergebnissen einer Inhaltsanalyse wie dieser hier in Bezug setzt. Zweitens bestätigten sich Tendenzen der Forschung, denen gemäß dem politischen Umfeld Einfluss auf Gestalt und Inhalt diskursiver Partizipation online unterstellt werden kann. Dies war keineswegs gesetzt, da sich bisherige Arbeiten auf die USA beschränken. Die vorgefundenen Ergebnisse mögen deshalb als Indiz
nur für Journalisten, sondern auch ihre Leser, wie Schade (2015) für das Portal Meedia.de darlegt. Trotz der zunehmenden Leserpartizipation an der massenmedialen Inhaltsgenerierung, bleiben Journalisten wichtige Gatekeeper, um ein breites Publikum zu erreichen, wie jüngst Thurman (2015) die Forschung der letzten zehn Jahre zusammenfasste. Dies erscheint nur folgerichtig angesichts der zentralen Stellung professioneller Nachrichtenseiten bei der Informationssuche im Internet (vgl. Mitchelstein u. Boczkowski 2010) und ist daher ein bedeutsamer Aspekt bei der Einordnung von diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare.
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dafür dienen, dass sich online bestimmte divergierende Partizipations- und Kommunikationsmuster niederschlagen, die abhängig von der politischen Zugehörigkeit zwischen links und rechts, beziehungsweise liberal/ progressiv und konservativ sind (vgl. Freelon 2015, S. 786; Shaw u. Benkler 2012, S. 480-481). Die Ergebnisse entsprechen erstaunlich deutlich der vergleichbaren Studie von Freelon (2015, S. 786) mit Blick auf Tweets und Online-Leserkommentare. Er erklärt, dass progressive Nutzerinnen in zwei von drei Kategorien deliberativer Qualität in signifikantem Maße besser abschnitten als konservative Nutzer. „For their part, conservatives contributed more monologues and insults than progressives.“ Die Auswertungen im Rahmen dieser Studie sprechen deshalb nicht dagegen, sich seinem Resümee anzuschließen. „The fact that these differences persist across platforms highlights the limits of discourse architecture in shifting normative behavior—strong ideologues may already be committed to particular ways of talking about politics“ (Freelon 2015, S. 786).
Auch in dieser Studie konnten keine vergleichbar überzeugenden Erklärungen für die inhaltliche Qualität von Leserkommentaren aus technischen oder organisatorischen Designvariablen abgeleitet werden. Die Tendenz der Auswertung partizipativer Funktionen, welche es den Nutzerinnen erlauben, auf die diskursive Partizipation durch positive (und teils negative) Anreize einzuwirken, spricht jedenfalls nicht gegen eine solche Schlussfolgerung. Es deutete sich dagegen an, dass die Nutzerinnen möglicherweise negative Äußerungen und Protest belohnen, während sich keinerlei Zusammenhang zum Beispiel zur Qualität einer Begründung zeigte. Obgleich die Auswertung struktureller Variablen eigene Herausforderungen mit sich brachte, ist zumindest festzuhalten, dass die vorgefundenen Zusammenhänge keine vergleichbar eindeutige Sprache sprechen, wie jene mit Blick auf die kontextuellen Variablen. Dies sind zwei weitere Folgerungen an dieser Stelle, weshalb auch die normative Bewertung zweigeteilt ausfallen muss. Zum einen deutet sich an, dass sich die (digitale) Debatten- und Expressionskultur kaum durch Implementation simpler (Selbst-)Regulierungs- und Identifizierungsmechanismen reformieren lassen wird. Wenn sich ein positiver Effekt andeutete, dann jener der aktiven Moderation, welche hohen personellen Aufwand und individuellen Einsatz fordert. Ein funktionaler Determinismus scheint jedenfalls fehl am Platze. Vielmehr scheint es logisch, an dieser Stelle auf die bereits thematisierten grundlegenden Werte und die hieraus folgende, institutionalisierte Kultur des gesellschaftlichen Miteinanders einzugehen und diese kritisch zu hinterfragen.
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Zum anderen spiegeln die Ergebnisse eine weitere aktuelle Entwicklung wieder, die aus demokratischer Perspektive kritisch zu beobachten und zu kommentieren ist. Bei der Analyse der Leserkommentare ist deutlich geworden - ohne, dass dies systematisch erhoben worden wäre -, dass sich zwei übergeordnete Gruppen rechts-/ konservativ argumentierender Nutzer auszudifferenzieren scheinen. Während bei einer Gruppe die Nähe zur CDU/CSU und den von Christdemokraten vertretenen Werten deutlich wurde, welche hierzulande gängigerweise als konservativ bezeichnet werden, setzte sich eine große Gruppe ebenfalls rechts/ konservativ argumentierender Nutzerinnen hiervon ab. Deutlich wurde dies durch teils drastische Kritik an CDU/CSU, den etablierten Parteien in ihrer Gesamtheit, der aktuellen Regierungspolitik und politische Forderungen rechts hiervon. Einige Nutzer artikulierten passend hierzu offen ihre Sympathie für die rechts-populistische AfD. In diesem Sinne können die vorgefundenen Ergebnisse als Spiegelbild des wachsenden bürgerlichen Protests rechts von CDU/CSU interpretiert werden. Entsprechende Kommentare zeichneten sich überwiegend durch die fundamentale Ablehnung nicht nur der aktuellen Regierungspolitik, sondern der (repräsentativen) Politik als solcher aus. Mangelndes Interesse an und Kenntnisse von politischer und demokratischer Praxis wurden in den entsprechenden Kommentaren nicht selten deutlich. Hierbei ist zu beachten, dass besonders destruktive und aggressive Inhalte durch die Betreibermedien bereits herausgefiltert wurden. Eine konstruktiv kritische Auseinandersetzung mit ihren Prozessen ist für eine lebendige Demokratie sicherlich unerlässlich. Mangelnde Akzeptanz gegenüber demokratisch legitimierter Politik aber ist für ein demokratisches Gemeinwesen nicht unproblematisch. Wenn sich diese Kritik dann noch in mit dem demokratischen Austausch von Argumenten unvereinbarer Form artikuliert, ist dies in doppelter Hinsicht problematisch und möglicherweise ein Vorgeschmack dessen, wie sich entsprechende Maximen in der Realität manifestieren können (vgl. Gensing 2015). Während die Kritik im vorliegenden Fall thematisch bedingt noch vergleichsweise harmlos daherkommt, kann dies in anderen Fällen deutlich dramatischer ausfallen. Nicht umsonst erlauben viele Nachrichtenseiten keine Kommentare mehr zu Artikeln über die aktuelle Flüchtlingssituation. Während die Forschung vielfach zu positiven Effekten partizipatorischer Mobilisierung durch Partizipation und Expression im Netz forscht, kann dies zu einer aus demokratischer und menschlicher Sicht sehr problematischen Form der Mobilisierung führen, wie der ARD-Rechtsextremismus-Experte Patrick Gensing (2015) jüngst erklärte. Er zeigt mit Blick auf das soziale Netzwerk Facebook, wie sich digital formierter Hass auf die Straße übertragen habe. „Rassistische Hetze hat sich im Netz fast
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ungehindert ausgebreitet - und aus den Schlagworten sind wieder Brandsätze geworden.“ Hier sieht sich die bundesdeutsche Politik einer großen Herausforderung gegenüber, die sich im Kleinen in dieser Studie spiegelt, auch, wenn die Moderationsteams besonders drastische Ausfälle oder strafrechtlich relevante Aussagen mit Blick auf die analysierten Online-Leserkommentare erfolgreich verhindern konnten. Es wurde bei der Lektüre diese Arbeit vielfach deutlich, dass es keine einfachen Antworten auf die leitenden Forschungsfragen gibt. Im Folgenden sollen die Ergebnisse pointiert formuliert werden, um die Tendenzen, welche die Ergebnisse dieser Studie implizieren, auf den Punkt zu bringen. Die vorliegenden Ergebnisse zeichnen zusammengefasst ein ambivalentes Bild diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare aus deliberativer Perspektive. Sie implizieren, dass Deliberation möglich ist und stattfindet, wenn auch auf überschaubarem Niveau. Sie geben Anlass dazu, der Digitalisierung eher positive denn negative Effekte auf die deliberative Öffentlichkeit zu unterstellen. Sie zeigen aber ebenso, dass Deliberation digital keine selbsterfüllende Prophezeiung ist und sein wird. Ohne dezidierte Förderung deliberativer Partizipation scheint sie sich nicht als dominierendes Partizipationsmotiv durchsetzen zu können und bei begrenzter Qualität zu bleiben. Die Möglichkeiten hierauf durch das Drehen der vorhandenen technischen und organisatorischen Stellschrauben einzuwirken, hält sich in Grenzen. Kontextuelle Faktoren scheinen starken Einfluss auszuüben. Es spricht daher einiges für die Argumentation, dass Potentiale digitaler Partizipationsinstrumente durchaus genutzt werden, aber in dem Maße und der Form, wie es die gesellschaftliche Entwicklung erwarten lässt. In einer zunehmend politisch polarisierten Gesellschaft ist es deshalb nicht überraschend, dass die Formulierung von Protest ein dominierendes Motiv in den analysierten Leserkommentaren war. Leserkommentare scheinen hierfür jedenfalls ein geeignetes Forum darzustellen. Aus normativer Sicht scheint es deshalb nicht nur geboten zu sein, die Diskussionskultur in den Blick zu nehmen, sondern auch die Protestkultur. Ein digitales Wiener Kaffeehaus oder Pariser Café werden Online-Leserkommentare in absehbarer Zeit jedenfalls nicht werden.
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G RENZEN
DIESER
S TUDIE
Zum Abschluss dieser Arbeit ist es unerlässlich, eine hinreichende Reflexion der Grenzen dieser Studie anzustrengen, um die präsentierten Ergebnisse kritisch einordnen zu können. Diese Studie ordnet sich der Online-Deliberationsforschung zu, in deren Rahmen sie an erste Arbeiten zum Online-Leserkommentar anknüpft. Ziel war es, zur Weiterentwicklung der Erforschung von Online-Leserkommentaren beizutragen. Deshalb ist es folgerichtig, dass sich dieser Studie ähnliche Herausforderungen und unüberwindbare Hindernisse stellen, die auch andere Arbeiten bereits prägten. Während dieses Kapitel sich auf die Grenzen konzentriert, zeigt das nächste, welche Ansätze entwickelt wurden, die Forschung voranzubringen und wie die zukünftige Forschung auf die hier skizzierten Grenzen reagieren könnte. Eine ganz zentrale Herausforderung ist eng mit der Methode der Inhaltsanalyse verbunden und stellt sich notwendigerweise ganz grundsätzlich der OnlineDeliberationsforschung. Eine Inhaltsanalyse, wie sie hier durchgeführt wurde, ist nicht mit einer objektiven Beobachtung zu verwechseln. Wie bereits im Rahmen der Methodendiskussion argumentiert wurde, enthält eine Inhaltsanalyse naturgemäß Elemente der quantitativen, wie auch der qualitativen Forschung. Es soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Online-Kommunikation das Aufspüren und Einordnen inhaltlicher Merkmale vor ganz besondere Herausforderungen stellt. Die Verfasser der untersuchten Online-Leserkommentare rekurrierten in hohem Maße auf implizites Wissen und fassten sich oftmals denkbar kurz. Der niederschwellige Charakter dieser Beteiligungsform drückt sich auch darin aus, dass die Sprache oftmals auf das Nötigste verknappt wurde, häufig mit Folgen für Rechtschreibung und Grammatik und die Verständlichkeit der kommunizierten Inhalte. Je stärker eine Kategorie folglich von formalen Merkmalen unabhängig analysiert werden muss, desto eher erschwert sich der Codiervorgang. Dies betrifft zum Beispiel die Codierung und Bewertung von Begründungen, da der Verknappung der Kommunikation vor allem Konjunktionen zum Opfer fallen und ohne eine kausale Konjunktion die Verbindung einer Forderung mit einem Argument oftmals nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist. Coe et al. (2014, S. 675) sowie auch Strandberg und Berg (2013, S. 144) beschreiben ähnliche Herausforderungen trotz intensiver Ausdifferenzierung des Untersuchungsdesigns. Die Diskussion der Ergebnisse des Reliabilitätstests zeigte, dass vergleichbare Studien trotz methodisch unproblematischer Werte weit von perfekter Reproduzierbarkeit ihrer Ergebnisse entfernt sind, wenn sie entsprechende Testergebnisse überhaupt publizieren. Der Literaturüberblick zur Erforschung diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare zeigte weiterhin, dass ein Rückzug auf
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stärker formalere Kategorien keine angemessene Reaktion sein kann, weil dies zu Lasten der Validität der Forschung geht. Dies zeigt, dass, obwohl die Online-Deliberationsforschung eine Fülle an validen und erfolgreich getesteten Untersuchungsdesigns hervorgebracht hat, der empirische Untersuchungsprozess eine Herausforderung für die Forscherin bleibt. Im Fall der DQI-Kategorie wurde im Rahmen dieser Studie entschieden, den Code 1 indirekte Begründung weit zu interpretieren, sodass alle Kommentare, die eine explizite oder implizite Forderung enthielten als indirekte Begründung codiert wurden, sofern zwei Bedingungen erfüllt waren: Es konnte ihnen weder ein Begründungsansatz eindeutig abgesprochen werden, noch wurde eindeutig ein vollständiges und falsifizierbares Argument deutlich. Dies hat nicht nur zur Folge, dass der Großteil aller vollständig untersuchten Kommentare als indirekt begründet bewertet wurde, sondern auch, dass innerhalb dieser Kategorie größere qualitative Unterschiede zwischen den einzelnen Kommentaren hervorstechen als bei anderen Kategorien. Eine Ideallösung für derartige Problemstellungen scheint derzeit nicht in Sicht. Deshalb ist es wichtig, dass jede Arbeit diese Herausforderungen erstens transparent macht und zweitens ihren Umgang hiermit maximal intersubjektiv nachvollziehbar erläutert. Auch wenn keine offensichtliche methodische Lösung für dieses Problem auf der Hand liegt, macht die rapide Entwicklung digitaler Kommunikation zumindest vage Hoffnung auf die Zukunft. Denn im Vergleich zur oralen Kommunikation, aber auch zur anderen Rahmenbedingungen unterliegenden schriftlichen Kommunikation, etwa durch Briefe, ist digitale Kommunikation ein extrem junges Phänomen. Möglicherweise ist unser wechselseitiges Verständnis digitaler Kommunikation erst am Anfang seiner Entwicklung. Eine zweite Einschränkung dieser Studie liegt in der begrenzten Verallgemeinerbarkeit der Forschungsergebnisse. Verschiedene andere Autoren reflektieren die limitierte Aussagekraft ihrer Ergebnisse angesichts der Vielfalt an Einflussfaktoren auf Online-Leserkommentare (vgl. Coe et al. 2014, S. 674-675; Graham u. Wright 2015, S. 18; Rowe 2014, S. 14; Ruiz et al. 2011, S. 483; Singer 2009, S. 492; Strandberg u. Berg 2013, S. 137). Dem kann man sich mit Blick auf diese Studie nur anschließen, obgleich sie bereits ein vergleichendes Design implementiert, was der Großteil vergleichbarer Arbeiten vermissen lässt. Angesichts dessen ist dies kein qualitativer Nachteil dieser Studie, da auch deutlich größer angelegte Projekte, wie die vom spanischen Bildungsministerium geförderte Studie von Ruiz et al. (2011), auf die Analyse spezifischer Fälle beschränkt sind und ihre Aussagekraft dahingehend einschränken müssen. Online-Leserkommentare sind eine sehr heterogene Plattform für diskursive Partizipation und Expression abseits des Politischen, die zudem häufig überarbeitet werden. Das technische Design und die Organisation der Leserkommentare kann von den Betreibermedien jederzeit
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grundlegend verändert werden. Zeit Online zum Beispiel hat seine komplette Internetseite grundlegend überarbeitet, noch während diese Arbeit entstand. Dies hat sich auch auf das Design und die Funktionen der Online-Leserkommentare ausgewirkt. Die strukturellen Rahmenbedingungen sind nicht mehr exakt dieselben, wie zum Zeitpunkt der hier durchgeführten Analysen. Generalisierende Aussagen sind deshalb nur mit äußerster Vorsicht zu treffen. Dies ist jedoch ein Problem der Forschung an sich und nicht ein spezifisches Problem dieser Studie. Dennoch ist es notwendig, diese Einschränkung bei der Ergebnisinterpretation zu reflektieren. Diese Studie hat einige interessante Indizien geliefert, die noch dazu im Einklang mit anderen Forschungsergebnissen stehen und somit Erklärungsansätze für bestehende Widersprüche liefern und ihr Puzzlestück zur Vervollständigung eines stetig wachsenden Gesamtbildes beitragen. Je länger dieses Gesamtbild weiter in diesem Tempo wächst und sich dabei stetig verändert, ist an abschließende Aussagen kaum zu denken. Umso wichtiger aber erscheint es, dazu beizutragen, den Forschungsstand stetig zu aktualisieren und zu optimieren, wie es diese Studie getan hat. Als dritte Einschränkung soll an dieser Stelle reflektiert werden, dass diese Studie notwendigerweise nicht nur auf die Anzahl der untersuchten Fälle, sondern auch auf die theoretischen Konzepte hin limitiert ist. Dass mit dem Ansatz liberal individualistischer Partizipation deliberative Konzepte ergänzt wurden, stellt einen Mehrwert gegenüber vielen anderen Studien dar. Mit dem Ansatz individuellprotestorientierter Partizipation konnte zusätzlich ein vielversprechender Konzeptualisierungsansatz abgeleitet werden, der zukünftige Arbeiten inspirieren kann. Deshalb kann sich diese Studie Freelon (2015, S. 787) anschließen, der sicher als Vorreiter bei dem Versuch eingeschätzt werden kann, die Selbstlimitierung der Online-Deliberationsforschung anzugehen und dessen Studie trotz deutlicher Unterschiede in ihrer Herangehensweise, Methodik und Zielsetzung mit Blick auf die Überprüfung des zweiten Hypothesenbündels eine wesentliche Inspiration darstellte. Er resümiert wie folgt: „However, given that it would be impossible to develop a typology of political norms broad enough to cover all possible modes of political behavior, the increased breadth of this study relative to its predecessors represents a fruitful step forward.“
Weiterhin soll an dieser Stelle Beachtung finden, dass im Rahmen dieser Studie nicht alle Leserkommentare des Samples vollständig analysiert wurden. Kommentare wurden mittels des von Steenbergen et al. (2003, S. 27) übernommenen Relevanzkriteriums einer expliziten oder impliziten Forderung vorausgewählt. Es wurde in dieser Arbeit vorgeschlagen, diese überwiegend kürzeren Kommentare
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ohne erkennbare Forderung als Ausdruck niederschwelliger Symbolpartizipation, ähnlich des Likens oder Teilens von Inhalten als Slacktivism (vgl. Christensen 2011) zu verstehen. Hier stoßen die vorgestellten und entwickelten Konzepte und Ansätze an ihre Grenzen der Interpretationsfähigkeit. Die konzeptionell kaum systematisch entwickelte Idee des Slacktivisms kann deshalb nicht mehr als ein auf Dauer unbefriedigender Platzhalter sein. Hier besteht Bedarf an überzeugenden Konzepten, welche diese Form der maximal niederschwelligen diskursiven Partizipation für die Politikwissenschaft erklärbar und verständlich machen können. An fünfter Stelle ist darauf einzugehen, dass dieser Studie kein Wissen über die Verfasserinnen der Online-Leserkommentare zugrunde liegt. Dies ist ebenfalls ein gängiges Defizit der Forschung, auf das verschiedene Studien verweisen (vgl. Freelon 2015, S. 787; Graham u. Wright 2015, S. 18; Rowe 2014, S. 14; Ruiz et al. 2011, S. 483). Da überwiegend anonymes Kommentieren möglich ist und die hier analysierten Betreibermedien nicht mehr als eine gültige E-Mail-Adresse tatsächlich nachhalten können, sind Informationen über die Verfasser der Kommentare nur schwer zugänglich und hängen letztlich davon ab, wie viel die Verfasserinnen gegenüber Forschern bereit sind, über sich preiszugeben. Der Mehrwert der Kenntnis über die Hintergründe der Teilnehmenden liegt auf der Hand. Deliberative Qualität und weitere inhaltliche Merkmale der Kommentare ließen sich auf Verbindungen zu bestimmten persönlichen Variablen hin überprüfen und somit individuelle zu kontextuellen Variablen ins Verhältnis gesetzt werden. Bezüglich letzterer hat diese Arbeit bereits einige Indizien sammeln und auswerten können. Dies führt zur sechsten Limitierung dieser Studie. Die Analyse im Rahmen der Überprüfung des dritten Hypothesenbündels ging über alle anderen hier angeführten Studien zum Online-Leserkommentar hinaus und lässt somit eine vergleichsweise umfassende Einschätzung des Einflusses struktureller und kontextueller Variablen auf die inhaltlichen Merkmale diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare zu. Dies ist sicherlich eine wesentliche Leistung dieser Arbeit. Dabei folgt diese Studie dem Muster erster Ansätze, die bereits einzelne Variablen, wie die Moderation (vgl. Ruiz et al. 2011) oder die Möglichkeit, anonym zu kommentieren (vgl. Rowe 2014), auf Einflüsse auf die Inhalte von Leserkommentaren hin ausgewertet haben. Nichtsdestotrotz ist der Charakter dieser Analysen oberflächlicher Natur. Es ist etwa unklar, wie viele Nutzer tatsächlich unter Klarnamen Kommentare verfassen und welche Strategien eingesetzt werden, dies nachzuhalten. Die konkrete Moderationspraxis unterscheidet sich von Medium zu Medium. Die Unterscheidungen zwischen apriorischer und Post-PublikationsModeration sowie aktiver und passiver Moderation greifen hiervon nur oberflächliche Aspekte auf. Natürlich konnte die Auswertung im Rahmen dieser Arbeit wichtige Hinweise darauf liefern, ob unter anderem der Moderationspraxis ein
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Einfluss zukommen könnte. Während aber über die Rollenperzeption der Journalisten und ihre Bewertung der Leserpartizipation verhältnismäßig viel geschrieben wurde, sind Routinen, Leitmotive und die alltägliche Praxis des Moderierens bislang kaum im wissenschaftlichen Fokus. Entsprechendes Wissen könnte zu einer valideren Variablenausdifferenzierung führen und dabei helfen, Determinanten diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare näherzukommen. Schließlich ist noch auf einen weiteren Aspekt der Inhaltsanalyse einzugehen, welcher in der bisherigen Forschung nicht in dem Maße reflektiert wird. Wie bereits angesprochen wurde, enthält eine Inhaltsanalyse immer auch subjektive Elemente. Wenn politische Diskussion und Expression inhaltsanalytisch untersucht und auf normativ-qualitative Merkmale hin ausgewertet werden, ist es nicht auszuschließen und erscheint sogar wahrscheinlich, dass der Forscher selbst, auch eine Meinung zum Diskussionsthema hat. Gerade bei besonders kontroversen und emotional aufgeladenen Themen kann ein Einfluss auf das Ergebnis der Codierung deshalb nicht ausgeschlossen werden. Es erscheint realistisch, dass ein Forscher ein Argument, dass er teilt, tendenziell besser bewertet, als ein Argument, welches er ablehnt. Es ist daher ein hohes Maß an Selbstreflexion auf Seiten des Forschers gefragt, um verzerrenden oder gar gegenteiligen Effekten vorzubeugen.
I MPLIKATIONEN FÜR
DIE ZUKÜNFTIGE
F ORSCHUNG
Diese Studie hatte zum Ziel, zur Weiterentwicklung und Systematisierung der Erforschung von Online-Leserkommentaren beizutragen und politikwissenschaftliche Grundlagenarbeit zu leisten. Erste Fallstudien, die dieser vorangingen und diese Studie in unterschiedlichem Maße inspiriert haben, haben ebenfalls Implikationen für die zukünftige Forschung formuliert, von denen diese Studie die Wesentlichen aufgreifen konnte. Diese Studie hat eine vergleichende Analyse verschiedener Kommentarfunktionen auf divergierenden Betreibermedien in einem nationalen Kontext angestrengt und damit auf eine zentrale Forderung verschiedener Forscher reagiert (vgl. Coe et al. 2014, S. 675; Rowe 2014, S. 30; Ruiz et al. 2011, S. 483; Strandberg u. Berg 2013, S. 145). Sie hat hierbei sowohl in dem ihr möglichen Maße auf den nationalen Nachrichtenmedienpluralismus reagiert, wie Ruiz et al. (2011, S. 483) es fordern und zum Beispiel “debates in other news formats, like the websites of the ‘popular press’“ in ihre Analyse integriert. Ebenso hat sie sich dem systematischen Vergleich struktureller Faktoren angenommen, wie von Coe et al. (2014, S. 675), Rowe (2014, S. 30) und Strandberg und Berg (2013, S. 145) empfohlen wurde. Hier konnte diese Studie interessante Ergebnisse
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vorlegen und somit an die bisherige Forschung anknüpfen und zu deren Weiterentwicklung beitragen. Nichtsdestotrotz wären größere Forschungsprojekte mit einer größeren Anzahl an untersuchten Kommentaren und Threads je Medium wünschenswert, um die Verallgemeinerbarkeit der präsentierten Ergebnisse zu prüfen. Panelstudien würden sich anbieten, um Entwicklungen über die Zeit deutlich zu machen und den Einfluss struktureller Veränderungen auf ein und demselben Betreibermedium zu überprüfen. Diese Studie hat ebenso an der normativen Konzeptentwicklung weitergearbeitet, wie es von Freelon (2015, S. 787) angeregt wurde und das auch von ihm operationalisierte Konzept liberal individualistischer diskursiver Partizipation dem empirischen Praxistest unterzogen. Auch wenn die Ergebnisse eine Weiterentwicklung dieses Modells nicht erlaubten, gaben sie Anstoß zur Entwicklung eines Konzepts individuell-protestorientierter Partizipation durch Online-Leserkommentare, das noch am Anfang seiner Entwicklung steht und weitergehender empirischer Überprüfung bedarf. Trotzdem konnte diese Studie einen Eindruck von dem möglichen erkenntnistheoretischen sowie -praktischen Mehrwert dieses Konzepts vermitteln. An dieser Stelle kann sich diese Studie der Forderung und dem Wunsch nach mehr Informationen bezüglich der Verfasserinnen von Online-Leserkommentaren nur anschließen (vgl. Coe et al. 2014, S. 675; Graham u. Wright 2015, S. 18). Auch wenn die Analyse struktureller und kontextueller Variablen interessante Erkenntnisse liefern konnte, ist es für die Zukunft der Forschung zu und ein vollständiges Verständnis von diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare unabdingbar, hinreichendes Wissen über ihre Verfasser, deren individuelle sozio-ökonomische Hintergründe und ihre Motivationen zu generieren. Hier befindet sich nach wie vor eine offene Flanke der Forschung. Eine erste Studie in dieser Richtung von Ziegele et al. (2013) zeigt einen Ansatz, wie dies aussehen könnte, auch wenn diese sich erstmal nur auf die Quantität der Partizipation und nicht deren Qualität, beziehungsweise Gestalt konzentriert. Die Probleme dieser Studie geben aber einen Eindruck von der Komplexität dieses inhaltlich anspruchsvolleren Anliegens. Mit der Frage nach den Nutzerinnen verbunden ist auch die Frage nach der Art der Nutzung und deren Konsequenzen. Konsequenzen der zunehmend mobilen Nutzung internetbasierter Informations- und Expressionsmöglichkeiten sind zumindest nicht auszuschließen (vgl. Eimeren u. Frees 2012, S. 362-369; Leven u. Schneekloth 2015, S. 123-124; Martin 2014, S. 182, 187). Ebenso anschließen kann sich diese Studie dem Wunsch nach einem integrativen Fallstudiendesign, welches die Praktiken in den Redaktionen mit den Ergebnissen einer quantitativen Inhaltsanalyse in Bezug setzt (vgl. Ruiz et al. 2011, S.
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483; Santana 2014, S. 30). Während die Analyse struktureller Faktoren auf Basis öffentlich nachvollziehbarer und publizierter Informationen notwendigerweise an der Oberfläche der praktischen Organisation und Moderation von Online-Leserkommentaren bleiben muss, verspräche eine Kooperation mit den Redaktionen ungleich tiefere Einblicke in die alltägliche Praxis und deren Konsequenzen für die Ausgestaltung diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare. Die Möglichkeiten experimenteller Forschung, die sich aus der Kooperationsbereitschaft verantwortlicher Redaktionen ergäben, gehen über alle Erkenntnismöglichkeiten hinaus, die auf anderen Wegen gewonnen werden können, um den Einfluss entsprechender Variablen zu prüfen (vgl. Freelon 2015, S. 787). Die wesentliche Prämisse hierfür ist allerdings die Kooperationsbereitschaft der jeweiligen Redaktionen. Die kommunikationswissenschaftliche Forschung hat mit der Auswertung von Interviews eindeutig gezeigt, dass ökonomische Motive nicht nur eine wesentliche Rolle bei der Implementation und Betreuung von Online-Leserkommentaren durch verschiedene Redaktionen spielen, sondern auch ein wesentlicher Grund für die Skepsis professioneller Journalisten gegenüber der Leserpartizipation darstellen, der sich darum dreht, ob die Redaktionen angesichts begrenzter Mittel dem zusätzlichen (Moderations- und Betreuungs-)Aufwand gewachsen sind. Dies stellt neben anderen möglichen Faktoren einen Grund dafür dar, dass die Kooperationsbereitschaft der Redaktionen für einen aufwendigen Forschungsprozess keinesfalls vorausgesetzt werden kann. Eine Erfahrung, die auch diese Studie machen musste, die für die Durchführung ergänzender qualitativer Interviews zum spezifischen Untersuchungszeitpunkt nicht hinreichend positive Rückmeldung aus den verschiedenen Redaktionen für ihr vergleichendes Design erzielen konnte. Mehr Ressourcen und Freiheiten für die verantwortlichen Redaktionen scheinen in diesem Zusammenhang sinnvoll, da der Mehrwert einer Kooperation von Forschung und Praxis nicht nur beiden Seiten zugutekäme, sondern im besten Fall positiven Einfluss auf die Debattenkultur haben könnte. Auch hier scheint die Initiierung eines größer angelegten Forschungsprogramms am vielversprechendsten zu sein, das die Aktivitäten verschiedener Forscher aus verschiedenen Forschungsbereichen integriert. Wie in der Einleitung dieser Arbeit bereits deutlich wurde, hat die Kommunikationswissenschaft Erfolge und Erfahrung in der Analyse von Mediennutzung und der Einordnung der Handlungsmaximen von Journalisten. Die Politikwissenschaft hat eine große Tradition in der Theoriebildung und der Erforschung politischer Partizipation. Deshalb scheint eine Verbindung kommunikationswissenschaftlicher Expertise mit politikwissenschaftlichen Ansätzen forschungskonzeptionell sinnvoll. Die empirische Analyse hat ein Konzept individuell-protestorientierter Partizipation angeregt, welches an dieser Stelle perspektivisch diskutiert werden soll.
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In der Forschung wurde die Zielrichtung negativer Äußerungen bislang kaum erhoben. Das Ergebnis von Rowe (2014, S. 11), welches zeigt, dass die Mehrheit negativer Aussagen sich nicht gegen direkte Teilnehmer der Diskussion richtete sowie die nicht systematisch nachgehaltene, resümierende Einschätzung von Ruiz et al. (2011, S. 484), dass die von ihnen untersuchten Leserkommentare einen Kanal für „the expression of the citizen frustrations with the ruling class“ darstellten, widersprechen der Annahme von diskursivem Protest als gewichtigem Motiv in Online-Leserkommentaren zumindest weniger, als dass sie diese bekräftigen. Ebenso passend erscheinen die Ergebnisse von Coe et al. (2014, S. 669-671), die sich dezidiert mit Negativität in Online-Leserkommentaren auseinandersetzen. In ihrem Sample zeigt sich zum einen, dass die Leserkommentare eher bei gewichtigen Themen, wie Politik und Wirtschaft, aggressiver formuliert sind als bei vergleichsweise weniger gewichtigen Themen, wie Gesundheit oder Lifestyle. Zum anderen zeigt sich, dass Leserkommentare, die Negativität enthielten, von anderen Nutzerinnen sogar leicht besser bewertet wurden als neutrale Kommentare. Dies passt ebenso zur Folgerung dieser Studie. Derartig partizipative Funktionen scheinen eher verstärkenden, denn regulierenden Einfluss auszuüben. Trotz dieser ersten Ansätze hat es noch keine tiefgehende Konzeptualisierung individuell-protestorientierter Partizipation in der hier zitierten Forschung zu Online-Leserkommentaren gegeben und auch die Online-Deliberationsforschung im Großen und Ganzen steht mit der Entwicklung alternativer und ergänzender Konzepte bislang noch ganz am Anfang. Einen vielversprechenden Ansatz mit Blick auf die hier präsentierten Ergebnisse scheint derzeit Kersting (2012c; 2013b; 2014; 2016) mit seinem Demokratierhombus zu bieten, mit welchem er politische Teilhabe vier konzeptionellen Bereichen zuordnet: Repräsentative Demokratie, direkte Demokratie, deliberative Demokratie sowie demonstrative Demokratie. Besonders interessant ist an dieser Stelle der Bereich der demonstrativen Demokratie, wie folgendes Zitat deutlich macht: „Diese umfasst nicht verfasste, unkonventionelle Partizipationsformen wie z.B. die Teilnahme an politischen Demonstrationen. Ebenso zählen hierzu eher konventionelle Beteiligungsformen wie das Schreiben von Leserbriefen. Neben diesen legitimen und legalen Formen zeigen sich auch nicht gesetzeskonforme Protestvarianten wie die Teilnahme an gewalttätigen Ausschreitungen und politische Gewalt gegen Sachen und Personen. Der Bereich der demonstrativen Demokratie [ist] stark auf Expressivität ausgerichtet. Hierbei geht es vorrangig darum, eigene politische Positionen und Zugehörigkeiten zu politischen Gruppen auszudrücken. Dabei spielen weniger Aspekte der Kommunikation oder der direkten Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle, auch wenn demonstrative Partizipationsformen
340 | DIGITALE DISKUSSIONEN in vielen Fällen darauf zielt, Kommunikation zu initiieren und Entscheidungen zu beeinflussen. Vielmehr scheint bei demonstrativen Beteiligungsinstrumenten der Aspekt der Identitätsfindung und der Gruppenzugehörigkeit von zentraler Bedeutung“ (Kersting 2014, S. 62-63).
Bei Kerstings Konzept demonstrativer Demokratie verschmelzen somit Protestund expressive Partizipation zu einer gemeinsamen Form politischer Teilhabe. Da die hier vorgefundene Form individueller Protestkommunikation nur scheinbar oder symbolisch kollektiv verstanden werden kann, scheint dem Konzept demonstrativer Demokratie Erklärungsgehalt hierfür innezuwohnen. Während die Online-Protestforschung Protest vorrangig als kollektive Handlung versteht, ist der hier deutlich gewordene Protest durch Online-Leserkommentare eine individuelle Handlung, die vorwiegend in Monologform zum Ausdruck gebracht wird und damit expressiven Charakter erhält (vgl. Freelon 2010, S. 1179). Der scheinkollektive Charakter, der durch vermehrte Bezüge auf ein abstraktes Allgemeinwohl deutlich wurde, versteht sich aus Kerstings (2014, S. 63) Perspektive noch dazu dadurch, dass somit eine Gruppenzugehörigkeit zum Ausdruck gebracht wird. Allein erscheint es wenig sinnvoll, ein Konzept (deliberative Partizipation) durch ein anderes zu ersetzen (demonstrative Demokratie). Der Erkenntnisgewinn mit Blick auf diskursive Partizipation durch Online-Leserkommentare scheint vielmehr in der Symbiose beider Konzepte zu bestehen, welche Kersting mit seinem Rhombus anbietet. Er setzt voraus, dass die vier Beteiligungsbereiche „grundsätzlich starke Überlappungstendenzen“ (Kersting 2014, S. 63) zeigen und lokalisiert diskursive Partizipation in sozialen Medien eher im Bereich demonstrativer als im Bereich deliberativer Demokratie. Er schreibt hierzu: „Bei ihnen zeigt sich, dass es sich vielfach nicht um diskursive-deliberative Kommunikation handelt, sondern vielmehr um Monologe mit dem Ziel der Präsentation der eigenen Präferenzen“ (Kersting 2014, S. 77).
Es wurde hinlänglich dargestellt und durch neue empirische Daten untermauert, dass sich diskursive Partizipation in der digitalen Öffentlichkeit kaum ausschließlich mit deliberativen Konzepten beschreiben und interpretieren lässt. Um die Realität diskursiver Partizipation angemessen zu begreifen, bedarf es folglich zusätzlicher Ansätze. Die vorliegende Arbeit baut auf ersten Ansätzen auf, ist aber weiterhin als Teil eines ersten Schrittes zu betrachten, der in dieser Richtung zu gehen ist. Mit den in Kapitel 10.2 entwickelten Kategorisierungen diskursiver Partizipation wurde neben der Analyse auf partizipative Muster hin, ein zweites Instrument
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vorgestellt, um auf die konzeptionelle Selbst-Limitierung der Online-Deliberationsforschung zu reagieren. Zentrales Ergebnis dieser von Theorie wie Empirie inspirierten Kategorisierung war, dass diese Untersuchung nicht nur übergeordnete Muster diskursiver Partizipation der untersuchten Online-Leserkommentare aufzeigt, sondern auch die Heterogenität diskursiver Partizipationsformen mittels ebenjener. Es konnte begründet werden, dass sich die hier analysierten Online-Leserkommentare zu fast gleichen Teilen als niederschwellige und expressive Symbolpartizipation sowie als verschiedenartig charakterisierte Spielarten deliberativ orientierter und protestorientierter diskursiver Partizipation verstehen lassen. Damit entsprechen die hier analysierten Online-Leserkommentare exakt jenen Überlappungstendenzen, von denen bei Kersting die Rede ist. Kerstings Demokratierhombus bietet folglich einen gewinnbringenden Zugang zum Verständnis und der Interpretation diskursiver Partizipation durch Online-Leserkommentare, auf dem aufgebaut werden kann. Wie eingangs dieses, diese Studie beschließenden, Kapitels bereits dargestellt wurde, wurde mit den zentralen Leitfragen auf wesentliche Forderungen der Forschung reagiert. Erstens wurden im Rahmen des medialen Online-Offline-Vergleichs auch Online-Leserkommentare auf lokalen Nachrichtenportalen analysiert und somit die bislang übersichtliche Forschung hierzu durch empirische Daten ergänzt. Wesentliches Ergebnis des Vergleichs diskursiver Partizipation durch den klassischen Leserbrief mit seinem Web 2.0-Pendant war, dass sich die Leserpartizipation in erster Linie durch die höhere Interaktivität der Online-Leserkommentare voneinander unterscheidet. Dies gab Anlass zu zwei Schlussfolgerungen. Zum einen scheinen Online-Leserkommentare tatsächlich dazu beizutragen, dass Diskussionen zwischen den aktivierten Leserinnen und somit deliberatives Potential mittlerweile Bestandteil der massenmedialen Realität sind. Zum anderen zeigte sich weder in den analysierten Leserbriefen noch in den Online-Leserkommentaren hohe argumentative Qualität. Stattdessen waren beide Kommunikationskanäle durch ein hohes Maß an Negativität und Kompetitivität geprägt. Dies führte aus deliberativer Perspektive zu einem ambivalenten Fazit, das der Einschätzung der bisherigen Forschung entspricht. Aus gesellschaftlicher Perspektive impliziert dieses Ergebnis, dass ein problematisches gesellschaftliches Diskussionsklima kein internetspezifisches Phänomen zu sein scheint. Zweitens wurde auf die konzeptionelle Selbst-Limitierung der Forschung reagiert, indem Online-Leserkommentare auf sechs der zehn bedeutendsten deutschen Online-Nachrichtenmedien auf indikative Merkmale deliberativer und liberal individualistischer Partizipation hin untersucht und Zusammenhängen zwischen einzelnen dieser Merkmale nachgespürt wurde. Darüber hinaus wurde mit
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der oben thematisierten Kategorisierung diskursiver Partizipation, hierauf aufbauend, das Verständnis diskursiver Partizipation durch die vorliegenden Online-Leserkommentare vertieft und ihre Interpretation auf eine breitere Basis gestellt. Als wesentliche Ergebnisse dieser Auswertungen lässt sich, wie bereits thematisiert, festhalten, dass diskursive Partizipation durch Online-Leserkommentare ein heterogenes Phänomen darzustellen scheint. Die Auswertungen wiesen auf ein deliberatives Partizipationsmuster hin und ergaben ein relevantes Maß deliberativ orientierter diskursiver Partizipation. Während dies Hoffnungen aus theoretischer Perspektive auf eine deliberative Ausbildung öffentlicher Meinung im Internet zumindest nicht widerspricht, scheint das ebenso deutlich gewordene Muster individuell-protestorientierter Partizipation darauf hinzudeuten, dass sich gesellschaftliche Spannungen online reproduzieren. Die analysierten Online-Leserkommentare dienten vielfach der Artikulation von Unzufriedenheit mit und Frust über Politik und politische Akteure. Obgleich der Ausdruck von Protest ein wichtiger Bestandteil des individuellen Partizipationsrepertoires in einer modernen Demokratie darstellt und als Kennzeichen diskursiver Partizipation keineswegs unvereinbar mit deliberativen Imperativen sein muss, wurde deutlich, dass sich diese Unzufriedenheit in der Mehrheit der Fälle in mit den Regeln deliberativer Diskussionen unvereinbarer Form Bahn brach. Hieraus wurde die Frage nach der gesellschaftlichen Diskussions- oder genauer Protestkultur abgeleitet. Drittens wurde ein vergleichendes Untersuchungsdesign entwickelt, welches die Überprüfung erklärender Variablen in Bezug auf die deliberative Qualität von Online-Leserkommentaren ermöglichte. Die durchgeführten Untersuchungen deuteten auf veritables Erklärungspotential der kontextuellen Faktoren der politischen Tendenz sowie der Qualität der Berichterstattung des Betreibermediums von Online-Leserkommentaren hin, während die Analyse technischer und organisatorischer Variablen der einzelnen Online-Leserkommentare keine eindeutigen Ergebnisse hervorbrachte. Demzufolge scheint sich deliberative Partizipation eher auf Nachrichtenseiten von Qualitätsmedien mit einer tendenziell links-/ liberal-/ progressiven Berichterstattung zu realisieren. Demgegenüber scheint individuellprotestorientiertes Verhalten häufiger in einem boulevardesken Kontext mit tendenziell rechts-/ konservativer Berichterstattung anzutreffen zu sein. Diese Untersuchung konnte somit deutlich machen, dass Online-Leserkommentare einen spannenden Untersuchungsgegenstand darstellen, dessen Verständnis nicht ‚nur’ akademisch, sondern auch gesellschaftlich von Interesse ist, scheinen die präsentierten Ergebnisse doch in engem Zusammenhang mit der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung zu stehen und somit eine weitere Perspektive auf diese zu eröffnen.
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Mit dieser Arbeit wurde somit ein Anfang gemacht, diskursive Partizipation durch Online-Leserkommentare tiefergehender zu verstehen als es bislang die Regel ist. An dieser Stelle wurde zusätzlich darauf verwiesen, wo zukünftige Forschung ansetzen und deren Verständnis weiter vorantreiben kann. Das analytische Potential der vorgestellten Instrumente wurde deutlich, ist aber noch nicht ausgeschöpft. Es ist deshalb ein zukünftiges Ziel, dieses Instrumentarium weiter zu optimieren, auszutesten und der weiteren technischen und sozialen Entwicklung sowie den Erkenntnissen der Forschung anzupassen. Die Vielfältigkeit menschlicher Kommunikation, die Variabilität und Entwicklungsdynamik digitaler Kommunikation und ihrer Kanäle sowie die Heterogenität menschlicher Partizipationsmaximen und -kontexte wird von der Forschung stetige Weiterentwicklung und Selbstevaluation verlangen, will sie die täglich in enormen quantitativen Ausmaßen stattfindende politische Expression und Partizipation in Teilen begreifen und erklären.
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