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German Pages 274 Year 2014
Alexander-Kenneth Nagel (Hg.) Diesseits der Parallelgesellschaft
Kultur und soziale Praxis
2012-11-08 09-17-54 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a4319755803536|(S.
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Alexander-Kenneth Nagel (Hg.)
Diesseits der Parallelgesellschaft Neuere Studien zu religiösen Migrantengemeinden in Deutschland
2012-11-08 09-17-55 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03a4319755803536|(S.
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Die Nachwuchsforschergruppe »Religion vernetzt. Zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Potentiale religiöser Vergemeinschaftung« wird gefördert vom Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Alexander-Kenneth Nagel und Katharina Tautz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2230-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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Inhalt
Vorwort
Alexander-Kenneth Nagel | 7 Diesseits der Parallelgesellschaft. Religion und Migration in relationaler Perspektive
Alexander-Kenneth Nagel | 11 Engagierte Muslime in Deutschland. Vernetzungs- und Legitimierungsdynamiken im Kontext sozialer und zivilgesellschaftlicher Arbeit
Karin Hitz | 37
Repräsentative Moscheen, Legitimität und kommunales Networking. Eine Untersuchung anhand der Al-Muhajirin Gemeinde in Bonn
Piotr Suder | 69
Religionsgemeinschaften als Integrationsagenten. Russlanddeutsche Gemeinden zwischen Binnenorientierung und Außenwirkung
Frederik Elwert | 97
¡Ven, ven Espiritu Santo ven! Zur religiösen Praxis lateinamerikanisch-brasilianischer Pfingstler in Deutschland
Eva-Maria Döring | 121
Gemeinschaft als Prozess: Koreanisch-christliche Gemeinden in Nordrhein-Westfalen als kommunikative Interaktionsräume
Sabrina Weiß | 147
Diaspora-Hinduismus 2.0: Christlich-hinduistische Kontaktmomente bei jungen Tamilen in Deutschland
Sandhya Marla | 175
„Gatekeeper“ und „Broker“ als Schnittstellen zwischen religiösen Organisationen
Nelly Caroline Schubert | 207
Vernetzte Vielfalt: Religionskontakt in interreligiösen Aktivitäten
Alexander-Kenneth Nagel | 241
Autorinnen und Autoren | 269
Vorwort A LEXANDER -K ENNETH N AGEL
Die Stadt Hamm wirbt mit ihrem Hindu-Tempel als Touristenattraktion, Salafisten verteilen den Koran in deutschen Fußgängerzonen, das St. JosefHospital in Bochum richtet einen interreligiösen Raum der Stille ein. Die Migrationsströme der vergangenen Jahrzehnte, Arbeitsmigration im Zuge zahlreicher Anwerbeabkommen, aber auch Fluchtmigration infolge blutiger Bürgerkriege, haben zu einer Zunahme religiöser Vielfalt in Deutschland geführt. Diese religiöse Pluralisierung blieb zunächst unsichtbar, solange religiöse Migrantengemeinden ihre Moscheen, Tempel und Kirchen im Abseits entlegener Industriebrachen und Gewerbegebiete betrieben. Dass sie nun augenfällig wird, liegt zum einen an der Errichtung repräsentativer Andachtsbauten an zentralen Standorten, z.B. die derzeit im Bau befindliche DITIB-Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld und zum anderen an den erweiterten Handlungsspielräumen einer gut etablierten zweiten Generation, die öffentlich für Ihre religiösen und kulturellen Belange eintritt. Hinzu kommt die allgemein gestiegenen Aufmerksamkeit bzw. Wachsamkeit gegenüber Religion und religiösen Minderheiten. Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Migration ist also allgegenwärtig – und bewegt die Gemüter: Bundespräsidenten machen sich öffentlich Gedanken, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nur die Muslime oder beide. Populistische Bürgerbewegungen präsentieren sich weniger abwägend, warnen vor dem „Untergang des Abendlandes“ und wollen „Islamisierung stoppen“. Wissenschaftler untersuchen die religiösen Zusammenschlüsse von Migranten als Parallelgesellschaften, die sich dauerhaft von der Aufnahmegesellschaft abschotten, als ethnische Kolonien, die sich mit der erfolgreichen Assimilation an die Mehrheitskultur in Wohlge-
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fallen auflösen, oder als ein Stück Heimat in der Fremde, als Raum kultureller Rekreation, der die strukturelle Integration in den Arbeitsmarkt und das Bildungssystem des Ankunftslandes erst ermöglicht. Bei aller Unterschiedlichkeit haben diese Ansätze eines gemeinsam: Sie betrachten religiöse Migrantengemeinden als abgeschlossene Einheiten, deren integrative oder desintegrative Wirkung sich gerade aus ihren Unterschieden zum (unterstellten) Mainstream der Aufnahmegesellschaft ergibt. In diesem Band wollen wir ganz bewusst einen anderen Akzent setzen und zu einer „relationalen“ Perspektive auf Religion und Migration einladen, die auf die Berührungspunkte und Schnittfelder zwischen religiösen Migrantengemeinden und dem Aufnahmeland hin ausgerichtet ist. Diese Berührungen können konfliktreich und irritierend sein, das ist der Stoff, aus dem die allfälligen Schlagzeilen und -worte sind. Sie können indes auch produktiv sein und dem viel beschworenen Gemeinwohl dienen, wenn etwa religiöse Überzeugungen und Gemeinschaften von Migranten ihr Engagement in der und für die Aufnahmegesellschaft befördern. Die hier versammelten Beiträge gehen empirisch den vielfältigen Netzwerken und Beziehungen nach, die religiöse Migrantengemeinden nach innen und nach außen hin stiften. Die Autorinnen und Autoren untersuchen das kommunale Networking repräsentativer Moscheen und christlich-hinduistische Kontaktmomente in der religiösen Sozialisation junger Tamilen. Sie öffnen eine Tür zu den charismatischen Gottesdiensten brasilianischer Pfingstler und beleuchten die Vielfalt interreligiöser Zusammenarbeit. Der vorliegende Band wäre nicht möglich gewesen ohne das Zutun und die Unterstützung vieler, denen ich als Herausgeber an dieser Stelle herzlich danken möchte: Er basiert ganz wesentlich auf der Arbeit der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“, die vom Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (MIWF), der Ruhr-Universität Bochum und dem dort angesiedelten Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) großzügig finanziert wird. Dank gebührt ferner den Kollegen Volkhard Krech und Ludger Pries für wichtige Anstöße aus Sicht der Religions- und Migrationsforschung. Für das kundige und konstruktive Fachlektorat habe ich Till Peters und Anke Drewitz zu danken, für die Aufbereitung des Manuskripts und wertvolle redaktionelle Unterstützung Katharina Tautz. Schließlich, aber nicht zuletzt, gilt mein
V ORWORT | 9
Dank allen Beiträgerinnen und Beiträgern. Wenn ihre Feldstudien ein wenig frischen Wind in eine verkopfte Debatte bringen können, dann haben wir unser Ziel erreicht. Bochum, im August 2012 Alexander-Kenneth Nagel
Diesseits der Parallelgesellschaft. Religion und Migration in relationaler Perspektive A LEXANDER -K ENNETH N AGEL
P ARALLELEN UND T ANGENTEN Was ist eigentlich parallel an der sogenannten Parallelgesellschaft? Die erste Bekanntschaft mit Parallelen machen die meisten von uns im GeometrieUnterricht in der Schule. Dort lernen wir, dass zwei Geraden parallel sind, wenn sie nebeneinander liegen und sich nie oder allenfalls „in der Unendlichkeit“ überschneiden. Die Metapher ist stark, auch ohne den transzendenten Ausblick. Sie suggeriert ein hermetisch abgeschlossenes Soziotop, das zwar innerhalb der territorialen, aber außerhalb der sozialen und kulturellen Ordnung eines Gemeinwesens existiert, ohne mit ihm in Beziehung zu treten. Sozialwissenschaftliche Versuche, aus der blumigen Metapher ein tragfähiges Analysekonzept zu machen, definieren Parallelgesellschaften im Wesentlichen über drei Kriterien: Homogenität im Inneren, (Selbst-) Segregation nach außen und die „nahezu komplette Verdopplung der mehrheitsgesellschaftlichen Institutionen“ (Halm/Sauer 2006: 18). Das aufklärerische Verdienst solcher Ansätze besteht darin, die Auseinandersetzung über Segregation und Integration zu versachlichen und Alltagserfahrungen von Fremdheit empirisch zu relativieren. Zugleich allerdings, und hier liegt die Crux, adeln sie ein Ressentiment mit akademischer Würde und drohen auf diese Weise zum Teil des Gefährdungsdiskurses zu werden. Grund genug also, die Debatte über Religion und Migration einmal von der anderen Seite her aufzurollen. Statt eine, wie auch immer geartete, Annahme von religiösen Parallelgesellschaften zu widerlegen, sind die Beiträ-
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ge in diesem Band darauf gerichtet, die zahlreichen Beziehungen und Bezugnahmen religiöser Migrantengemeinden zur Aufnahmegesellschaft herauszustellen. Was auf den ersten Blick wie ein sophistischer Winkelzug wirken mag, hat doch weitreichende heuristische und gesellschaftliche Konsequenzen: Wer nicht nach Schnittstellen und Verbindungen sucht, der wird auch keine finden und wer die Nullhypothese „Parallelgesellschaft“ wissenschaftlich falsifiziert hat, mag sie dennoch in der sozialen Wirklichkeit befördern. Es besteht ein eklatanter Unterschied zwischen der Erkenntnis, dass die Mehrheit der Muslime in Deutschland keine verfassungsfeindlichen Ansichten hegt und der Beobachtung, dass man zugleich in einem Moscheeverein und der SPD-Ortsgruppe engagiert sein kann. Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um einen erkenntnis- oder wissenschaftstheoretischen Disput zwischen Positivisten und Konstruktivisten, „Qualis“ oder „Quantis“. Unser gemeinsames Anliegen in diesem Band ist viel eher ein programmatisches als ein methodologisches. Ich möchte daher der polemischen Metapher der Parallelgesellschaft eine polemische Gegenmetapher aus dem semantischen Feld der Geometrie gegenüberstellen, nennen wir sie die „Tangentengesellschaft“. Im Unterschied zu einer Parallele sind Tangenten Geraden, die eine gegebene Kurve in einem bestimmten Punkt berühren. So krude die Bezeichnung sein mag, so offenkundig ist doch das Sprachbild und das damit verbundene Forschungsprogramm: Wer den Zusammenhang von Religion und Migration in modernen Einwanderungsgesellschaften verstehen will, der muss sich auf eine „relationale“ Perspektive einlassen, die auf die Berührungspunkte und Schnittfelder zwischen religiösen Migrantencommunities und der Aufnahmegesellschaft hin ausgerichtet ist. Diese Perspektive steht im Einklang mit multikulturalistischen Ideen moderner Gesellschaften und mit kommunitaristischen Vorstellungen einer Gesellschaft als „Gemeinschaft der Gemeinschaften“ (Etzioni 1997: 179), beinhaltet aber an sich kein normatives Bekenntnis. Berührungen zwischen unterschiedlichen Lebenswelten können durchaus konfliktreich und irritierend sein. Sie können aber eben auch produktiv sein und das viel beschworene Gemeinwohl befördern, wenn etwa religiöse Überzeugungen und Gemeinschaften von Migranten ihr Engagement in der und für die Aufnahmegesellschaft unterstützen. Der vorliegende Band greift diese Perspektive auf und versammelt Fallstudien, die im Rahmen der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt:
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Zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Potentiale religiöser Vergemeinschaftung“ entstanden sind. Die Gruppe ist am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum angesiedelt und wird vom Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung (MIFW) des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert. Im Zentrum des Forschungsprogramms steht eine relationale Perspektive auf Religion und Migration, aus der sich drei spezifische Forschungsstrategien ergeben: •
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Mesoperspektive auf Religion und Migration: Nachdem frühere Studien Religion in der Migration v.a. als Identitätsressource (Mikroebene) oder Integrationsfaktor (Makroebene) behandelt haben, liegt das Augenmerk der Nachwuchsgruppe auf religiösen Migrantenorganisationen bzw. -gemeinschaften (vgl. auch Pries/Zesgin 2010). Wir betrachten diese Gemeinden nicht als „ethnische Kolonien“ (Heckmann 1992: 97), sondern als Kontaktzonen, in denen religiöse Solidarethik und Vertrauensbeziehungen in Unterstützungsmaßnahmen und Verwirklichungschancen umgesetzt werden (vgl. Wilke 2012, im Erscheinen). Netzwerkansatz: Alle Teilprojekte beruhen konzeptionell und methodisch auf einem Netzwerkansatz. Sie betrachten religiöse Migrantengemeinschaften nicht als abgeschlossene Entitäten oder kollektive Akteure, sondern als soziale Räume, die gleichermaßen einbettend und eingebettet sind. Der empirische Fokus liegt daher auf den Beziehungen, die diese Gemeinden nach innen (z.B. Unterstützungsnetzwerke) und nach außen (z.B. Repräsentationsbeziehungen) unterhalten und ihren religiösen Bezügen (z.B. theologische Konzepte von Gemeinschaft, Brüderlichkeit, In-group und Out-group). Fallstudien und Religionsvergleich: Der kooperative Mehrwert der Nachwuchsgruppe besteht in einem religionsvergleichenden Fallstudiendesign. Im Rahmen von Qualifikationsarbeiten werden vertiefte Fallstudien erarbeitet, die unterschiedliche religiöse Traditionen (sunnitischer Islam, evangelikales und pfingstlerisches Christentum und hinduistische Strömungen) und Herkunftsregionen abbilden (Südeuropa, Nordafrika, Südasien, Naher Osten, Lateinamerika). Diese Fallstudien entstehen und stehen in fortlaufendem Austausch miteinander und ermöglichen komparative Aussagen zu den religiösen und integrationspolitischen Faktoren religiöser Netzwerkarbeit.
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Die hier versammelten Beiträge verstehen sich als eine Art Zwischenbilanz der gemeinsamen Arbeit und stellen unterschiedliche Variationen des oben beschriebenen Leitmotivs einer „Tangentengesellschaft“ dar. Im Folgenden werde ich in aller Kürze die gemeinsamen wissenschaftlichen Anknüpfungspunkte für unser Unterfangen darstellen. Dazu gehören zunächst die sozialwissenschaftliche Netzwerkforschung und kultursoziologische Debatten über eine „relationale“ Soziologie (Abschnitt 2), ferner religionswissenschaftliche Überlegungen zu einer Netzwerkperspektive auf religiöse Dynamik (Abschnitt 3) und schließlich kultur- und sozialanthropologische Beiträge zur religiösen Diaspora (Abschnitt 4). Im Anschluss an diese theoretische Tour d’Horizon ordne ich die einzelnen Beiträge in diesen Diskussionsrahmen ein (Abschnitt 5).
R ELIGION UND M IGRATION ALS T HEMA EINER „ RELATIONALEN “ S OZIOLOGIE 1 Im Jahr 1997 veröffentlichte der amerikanische Soziologe Mustafa Emirbayer im American Journal for Sociology sein „Manifesto for a Relational Sociology“, in dem er nicht weniger als einen Paradigmenwechsel des sozialwissenschaftlichen Denkens anmahnt (Emirbayer 1997). Gleich zu Beginn bestimmt er den Gegensatz von substantialistischen und relationalistischen Zugängen als Grundsatz- und Gretchenfrage der modernen Soziologie: „Sociologists today are faced with a fundamental dilemma: whether to conceive of the social world as consisting primarily in substances or in processes, in static ‚things‘ or in dynamic, unfolding relations.“ (Ebd.: 281) Für Emirbayer löst die Spannung zwischen der statisch-dinghaften und der dynamisch-relationalen Perspektive ältere soziologische LeitDualismen ab, etwa Individuum und Gesellschaft, Struktur und Handeln oder Materialismus und Idealismus (vgl. ebd.: 282). Sein Anliegen ist es, die Grundgedanken und den ideengeschichtlichen Vorlauf der Relationalen Soziologie zu rekonstruieren und soziologische Kernkonzepte wie Macht, Freiheit und soziales Handeln entsprechend zu reformulieren. Im Mittelpunkt steht dabei nicht etwa die Verbindung substantialistischer und relati-
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Zum Folgenden siehe auch Nagel 2012b.
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onalistischer Ansätze, sondern ganz dezidiert eine „reine Lehre“ des Relationalismus. Es ist Emirbayers erklärtes Ziel „to prevent the sort of eclecticism, the easy mixing together of substantialist and relational assumptions, that renders even many innovative studies today partially problematic“ (ebd.). Entsprechend lebt die Relationale Soziologie vor allem von der Abgrenzung gegenüber ihrem substantialistischen Counterpart. Ihre Analyseeinheiten sind nicht in sich geschlossene Entitäten als Träger von sozialem Handeln, sondern die Prozesse und Beziehungen, in denen sich Akteure erst als solche formieren. Dabei charakterisiert Emirbayer zwei Varianten substantialistischen Denkens durch unterschiedliche Aktionstypen: Die erste Variante ist gekennzeichnet durch das isolierte Handeln von Einzelakteuren („self-action“), ganz gleich, ob man diese als voluntaristische Freigeister im Sinne eines Homo Oeconomicus oder als normiert im Sinne eines Homo Sociologicus betrachtet. Dieser Aktionstyp umfasst neben individuellen Akteuren auch andere Entitäten, die man als Urheber sozialer Prozesse betrachten kann, etwa „groups, nations, cultures, and other reified substances“ (ebd.: 285). Ideengeschichtlich sind damit so unterschiedliche sozialwissenschaftliche Strömungen wie Gesellschaftsvertragstheorie, methodologischer Individualismus, Kritische Theorie, Strukturfunktionalismus und Systemtheorie abgedeckt. Aber Emirbayer geht noch weiter und bezeichnet auch die interaktionistische Soziologie als substantialistisch, insoweit sie Interaktion zwischen vorgegebenen, festen Subjekten betrachtet: „[A]ll of the relevant action takes place among them – they provide merely the empty settings within which causation occurs – rather than being generated by them.“ (ebd.: 286, Herv. i.O.). Damit ist das wesentliche Kennzeichen der Relationalen Soziologie angezeigt: Akteure oder Entitäten gelten nicht als Träger und Beweger sozialen Handelns, sondern erhalten ihre Bedeutung erst im Zuge wechselnder funktionaler Rollen im Rahmen einer „Transaktion“ (ebd.: 287). Im Unterschied zu Selbst- und Interaktion (s.o.) bezieht sich Transaktion auf soziales Handeln jenseits von Akteuren: „By contrast, the relational point of view sees agency as inseparable from the unfolding dynamics of situations, especially from the problematic features of those situations” (ebd.: 294). Als sozialphilosophische Vorläufer dieser Perspektive nennt Emirbayer Karl Marx, Georg Simmel und Emile Durkheim (vgl. ebd.: 288), betont aber, dass diese wie auch spätere Autoren substantialistische und re-
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lationalistische Annahmen auf verschiedenen Analyseebenen vermischt hätten (vgl. ebd.: 290). Für die Makroebene sozialwissenschaftlicher Analyse warnt Emirbayer vor einer Reifikation der Gesellschaft als autonomes und sich selbst genügendes System und generell vor methodologischem Nationalismus. Mit Michael Mann empfiehlt er stattdessen eine Konzeption von Gesellschaft als komplexes Geflecht von Machtnetzwerken (vgl. ebd.: 294-295). Auf der Mesoebene gelte es, mit Goffman eine Soziologie der Ereignisse zu etablieren, die weniger auf die Präsenz einzelner Akteure als vielmehr auf die „Kopräsenz“ und Konstruktion von Akteuren in einem gegebenen Ereignis gerichtet ist: „Not, then, men and their moments. Rather moments and their men.“ (Goffman zit. n. Emirbayer: 296). Auf der Mikroebene schließlich geht es Emirbayer um nicht weniger als die Dekonstruktion des Individuums. Ähnlich wie Simmel versteht er Individuation selbst als einen sozialen Prozess, in dessen Verlauf dem Einzelnen, z.B. durch Namensgebung, erst Individualität zuwächst: Individuelle Identitäten werden in „circles of recognition“ konstituiert, während Interessen sich aus unterschiedlichen Positionen in diesen Anerkennungszirkeln ergeben. Emirbayers „Manifesto“ ist ein gewichtiges, aber beileibe nicht das einzige Votum für einen Paradigmenwechsel hin zu einer Relationalen Soziologie. In den vergangenen Jahren hat sich die deutschsprachige Netzwerkforschung um ein paradigmatisches Gepräge bemüht und zahlreiche Überblicksbände und Handbücher herausgebracht (vgl. Stegbauer 2008; u.a. Stegbauer/Häußling 2010; für einen kritischen Überblick siehe Nagel 2012a; Schützeichel/Lau 2012). Sophie Mützel und Jan Fuhse unternehmen in der Einleitung ihres Einführungsbandes den Versuch, im Anschluss an White die Relationale Soziologie von klassisch strukturalistischen Ansätzen abzugrenzen. In der Tat ist die Dekonstruktion des Akteurs und seine Subsumtion unter strukturell verankerte Rollenmuster ein Gemeinplatz seit der soziologischen Gründerzeit. Für Mützel und Fuhse besteht indes die Besonderheit der Relationalen Soziologie darin, die „kulturelle Wende“ (Mützel/Fuhse 2010: 8) in den klassischen Strukturalismus hineinzutragen. Mit White verstehen sie „Netzwerke als fluide Strukturformen“ (ebd.: 13) und betonen die kulturelle Dimension sozialer Strukturen: „Das strukturalistische Bild der Netzwerkforschung von Beziehungen als ermittelbare und erfassbare Verbindungen ohne Ziel- und Inhaltsambiguitäten wird damit grundsätzlich in Frage gestellt. In den Blick rückt dafür, wie Bedeutungen im sozialen Kontext entstehen.“ (Ebd.: 13f.). White selbst hat diese fluiden
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Strukturformen auf einen prägnanten Begriff gebracht, indem er zwischen Netzwerken und „network domains“ unterschieden hat (White et al. 2007). Damit ist der Anspruch einer interpretativen Netzwerkforschung angezeigt, soziale Beziehungen und Strukturen in ihrem jeweiligen Sinnzusammenhang zu erfassen. Im Unterschied zu den angesprochenen Debatten über Relationale Soziologie und ihre Alleinstellungsmerkmale geht es mir an dieser Stelle nicht darum, eine substantialistische Betrachtung von Religion und Migration an sich zu problematisieren. Ich möchte vielmehr auf die Leerstellen hinweisen, die sich aus einem allzu einseitigen Blick auf religiöse Migrantengemeinden ergeben können. Daher möchte ich ausgehend von Emirbayer und White für die prinzipielle Angemessenheit einer relationalistischen Perspektive bei der Analyse von Migrationsprozessen votieren: Migration fordert bestehende Identitäten, Organisationen und gesellschaftliche Strukturen der Wandernden und der „Bewanderten“ gleichermaßen heraus und setzt einen Prozess der Neuverhandlung in Gang. Mir geht es weniger darum, wie hegemonial dieser Prozess (im Sinne einer „Leitkultur“) gestaltet ist oder sein darf. Vielmehr beschränke ich mich auf das Argument, dass der grundlegende Charakter der Migrationssituation ein relationaler ist – und eine relationalistische Perspektive daher viel versprechend und sachgemäß erscheint. Allgemein gesprochen, betrachtet eine solche Perspektive in erster Linie die Beziehungen, Verbindungen und Kontakte, die sich im Prozess des Auswanderns, Ankommens und Sich-Einrichtens wandeln und neu ergeben. Worin aber besteht der konkrete Mehrwert der Relationalen Soziologie für ein besseres Verständnis von Religion und Migration? Jenseits von ihrem paradigmatischen Anspruch kann eine relationalistische Perspektive als Heuristik für substantialistische Verzerrungen in der bestehenden Debatte dienen: Auf der Makroebene ist das die Stilisierung von migrierten und „autochthonen“ Religionen als verdinglichten Symbolsystemen oder Aktanten, egal ob sie als kulturelle Bereicherung oder als Antagonisten im Sinne eines „Clash of Civilizations“ verstanden werden. Auf der Mesoebene gilt das analog für die religiöse Selbstorganisation von Migranten: Aus Sicht der Relationalen Soziologie ist nicht so sehr die Funktionalität oder Dysfunktionalität dieser Organisationen als „Heimat in der Fremde“ oder „ethnische Kolonien“ interessant, sondern vielmehr der Prozess der Institutio-
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nalisierung und der Wandel von Beziehungen und Bezugnahmen nach innen und nach außen, die er mit sich bringt. Auf der Mikroebene schließlich könnte eine substantialistische Verzerrung darin bestehen, dass Religion im Migrationskontext vornehmlich als Identitätsressource verstanden wird, die in erster Linie psychohygienische oder stabilisierende Funktionen für einen vorgegebenen Akteur erfüllt. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass Migrationsprozesse durch eine prinzipielle relationale Dynamik zwischen Entbettung und Wiedereinbettung gekennzeichnet sind. Die Relationale Soziologie wäre dann besonders geeignet, den Wandel semantischer Bezugnahmen und struktureller Beziehungen in diesem Prozess zu verstehen. Schließlich, aber nicht zuletzt, entsprechen die Grundannahmen der Relationalen Soziologie einem kulturwissenschaftlichen Verständnis von Religion als sozialer Praxis und Prozess, das in der Religionsforschung seit langem an die Stelle kanonischer Fiktionen getreten ist (vgl. Kippenberg 1983; Kippenberg/von Stuckrad 2003). Zugleich bringt die relationalistische Perspektive auf Religion und Migration aber auch einige Herausforderungen mit sich. Das Grundproblem besteht meiner Ansicht nach darin, dass sich der erkenntnistheoretische Rigorismus der Relationalen Soziologie, etwa Emirbayers Warnung vor einer Vermischung relationalistischer und substantialistischer Ansätze, in der empirischen Netzwerkforschung kaum einlösen lässt. Interessanterweise sind es religionssoziologische Ansätze, die eine Mittlerrolle zwischen dem methodologischen Klein-Klein der angewandten Netzwerkanalyse und den epistemologischen Höhenflügen der Relationalen Soziologie einnehmen. Ich möchte daher im Folgenden exemplarisch auf die Überlegungen von Manuel Vásquez eingehen, der eine Netzwerkperspektive auf religiöse Dynamik empfiehlt.
R ELIGION IN B EWEGUNG : E INE N ETZWERKPERSPEKTIVE In seinem Beitrag „Studying Religion in Motion“ trägt der amerikanische Religionssoziologe Manuel Vásquez (2008) die angesprochenen Anliegen der Relationalen Soziologie ganz nah an den Gegenstandsbereich von Religion und Migration heran. Vásquez votiert für eine dynamische Perspektive auf Kultur und Religion, spricht sich aber anders als Emirbayer für eine
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Verbindung zwischen relationalistischen und substantialistischen Ansätzen aus: „Widespread flows of people, capital, goods, and ideas make it increasingly untenable to map the world according to the tidy logic of one nation, one culture, one language, one religion, one history, and one selfcontained social formation. These flows, however, have not produced a totally deterritorialized world.“ (Ebd.: 152) In diesem Sinne ist das relationale Element bei Vásquez die Spannung zwischen der Dynamik religiöser Symbolsysteme und ihrer Bindung an geografische, kulturelle oder politische Räume. Diese Spannung findet ihren Widerhall in der allgemeineren Frage, wie sich Religion in einem globalen Kontext überhaupt definieren lässt. Hier hebt Vásquez zum einen die „itinerancy“ und zum anderen die Materialität von Religion hervor. Der Ausdruck „itinerancy“ ist ebenso bildhaft wie schwer zu übersetzen. Gemeint ist die Neigung religiöser Ideen, Symbole, Praktiken und Objekte zum Umherwandern. Diese Wanderung vollzieht sich nicht körperlos und abstrakt, sondern ist ihrerseits beziehungsgesättigt: Sie beruht auf konkreten Trägergruppen, seien es Händler, Missionare oder Arbeitsmigranten, die den Raum durchmessen und Grenzen überschreiten (vgl. ebd.: 153). Zu den materiellen Aspekten von Religion gehören für Vásquez „embodied practices, emplaced institutions, and the sacralized artifacts that sustain complex relations with global commodity and financial flows“ (ebd.: 156). Träger religiöser Weltbilder – und Vehikel religiöser Dynamik – sind in diesem Verständnis nicht nur Akteure oder Gruppen, sondern auch Gegenstände und Institutionen. Dabei unterscheidet Vásquez zwischen drei Leitmetaphern, mit denen sich Religion in Bewegung analysieren lässt: Raummetaphern, hydraulische bzw. aquatische Metaphern und relationale Metaphern: „spatial metaphors, including terms such as landscapes, maps, territories, fields, geographies, cartographies, and place-making through the practices of dwelling and crossing; ‚hydraulic‘ tropes such as flows, fluxes, confluences, currents, and streams; and models of relationality and connectivity like networks, webs, and pathways“ (ebd.: 165). Laut Vásquez bergen Raummetaphern die Gefahr, religiöse Gemeinschaften und ihre Symbolsysteme zu verdinglichen (vgl. ebd.: 167). Das entspricht in etwa Emirbayers Verständnis von substantialistischen Zugängen. Interessanter sind hingegen seine Ausführungen zu den hydraulischen Metaphern. Diese verstellen den Blick auf die Verteilungs- und Machtstrukturen, in denen sich religiöser Wandel vollzieht. Gerade die Analyse globaler Wanderungsbewegungen mache indes
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deutlich, dass nationale Grenzen nicht einfach verschwinden oder durchlässig werden. Der Fokus auf religiöse Ströme oder „flows“ führe so zu einer idealistischen Entbettung von Religion, die den Blick auf Migrationsregime ebenso verstellt wie auf religiöse Institutionalisierung und Selbstorganisation in der Aufnahmegesellschaft. Auf einer forschungspraktischen Ebene stellt sich darüber hinaus die Frage, wie hydraulische Metaphern überhaupt empirisch eingelöst werden können: „In other words, if the world is an ever-changing sea of amorphous flows, how can we study it?“ (Ebd.: 179) Vásquez Antwort, und darin liegt die relationale Relevanz seiner Überlegungen, ist die Verbindung von Raum- und Flussmetaphern in einem Netzwerkkonzept: „Perhaps what we need then is the strategic combined use of the spatial, hydraulic, and connective metaphors, privileging each cluster of tropes to highlight certain saliences in the ‚data‘ at hand.“ (Ebd.: 178) Netzwerke sind hier definiert als „relatively stable but always contested differentials of power“ (ebd.: 169). Genauer handelt es sich um „sociopolitically, culturally, and ecologically embedded relational processes that constrain and enable practices as diverse as place-making and identityconstruction“ (ebd.). In der Theoriesprache der Relationalen Soziologie ausgedrückt, sind Netzwerke verdichtete und abgrenzbare Prozesse, die sich durch Kohärenz und kausale Autorität auszeichnen (vgl. Emirbayer 1997: 304). Ihre Kohärenz beruht auf habitualisierter Interaktion und Vertrauensbeziehungen. Ihre kausale Autorität beruht auf der Handlungssicherheit bzw. der normativen Ordnung, die religiöse Netzwerke als strukturierende Struktur stiften. Zugleich ist das Netzwerk eine strukturierte Struktur, insoweit es in gesellschaftliche, politische und kulturelle Umwelten eingebettet ist, die seine Gestalt und seine kollektive Identität entscheidend mitbestimmen können. Wie können empirische Analysen aus dieser Netzwerkperspektive einen Nutzen ziehen? Auch wenn Vásquez Entwurf in seiner equilibristischen Anlage zwischen Raum- und Flussmetaphern etwas vage bleibt, bietet er doch einige Ansatzpunkte, um den methodischen Herausforderungen der Relationalen Soziologie zu begegnen. Dazu gehört zunächst der diskursive Religionsbegriff. Vásquez empfiehlt, von einer A-priori-Definition Abstand zu nehmen und stattdessen verschiedene Religionskonzepte im Feld miteinander in Beziehung zu setzen: „[W]e must be attentive to ways in which local, grassroots, official, national, and transnational actors define and live
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religion. These multiple situated perspectives (which often lead to contested canons, traditions, and orthodoxies), in interplay with the researcher’s own unstable positionality, determine the object of study“ (Vasquez 2008: 156). Diese Strategie geht in zweifacher Hinsicht über die (sozial- und kulturanthropologisch durchaus verbreitete) schlichte Beschränkung auf die religiöse Selbstauskunft der Akteure hinaus: Zum einen gilt es, die Aushandlung des Religiösen durch wechselseitige Bezugnahmen zu rekonstruieren. Ein klassisches Beispiel dafür ist, wenn religiöse Migrantengemeinden sich aktiv ein (rechtlich oder durch öffentliche Meinung gesetztes) Religionsverständnis der Aufnahmegesellschaft aneignen. Zum anderen kann es aus einer relationalen Perspektive nicht um das religiöse Selbstverständnis gehen, das einzelne Akteure „haben“, sondern um agency, die im Namen einer religiösen Tradition reklamiert wird. So verstanden ist Religion nicht, was Einzelne dafür halten, sondern was intersubjektiv in einer gegebenen sozialen Beziehung als religiös anerkannt wird. Diese Beziehung kann unmittelbar und konkret sein, etwa im Rahmen einer interreligiösen Dialogveranstaltung oder abstrakt allgemein durch Compliance mit institutionellen Regeln von „guter“ oder „legitimer“ Religion. Einen wichtigen Beitrag zum Verständnis dieser Regeln können neoinstitutionalistische Ansätze leisten. In einem Aufsatz mit dem etwas sperrigen Titel „Ontologie und Rationalisierung im Zurechnungssystem der westlichen Kultur“ hat John Meyer sich mit der institutionellen Konstruktion von Akteuren befasst – und damit einen Grundgedanken der Relationalen Soziologie vorweggenommen (vgl. Meyer et al. 2005). Für Meyer sind Institutionen „kulturelle Regeln, die bestimmten Einheiten und Handlungen kollektiven Sinn und Wert verleihen und sie in einen größeren Rahmen integrieren“ (ebd.: 18). Aus dieser Warte ist „die ‚Existenz‘ und Beschaffenheit von Akteuren eine sozial konstruierte und hochgradig hinterfragbare Angelegenheit, und Handlung ist die Inszenierung übergreifender institutioneller Drehbücher“ (ebd.). Forschungspraktisch ergibt sich daraus ein Beobachtungsfokus auf die „institutionellen Mythen“, die im Zusammenhang von Religion und Migration wirksam werden sowie auf die Vorstellungen legitimer Akteure, die sich aus diesen Mythen ergeben (ebd.: 35). Auf der Makro- und Mesoebene lassen sich institutionelle Mythen in Migrationsoder Religionsregimen vom „Melting Pot“ bis zum Westfälischen Frieden identifizieren, auf der Mikroebene hingegen können sie als Techniken der Selbstlegitimierung greifbar werden. Empirische Anhaltspunkte dafür sind
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z.B. Sprechakte im Namen übergeordneter Werte (Nächstenliebe, Menschenrechte) oder höherer Ziele (Gemeinwohl, Gleichbehandlung). Es ist genau diese Verbindung aus einem Augenmerk auf die institutionellen Opportunitäten und Restriktionen und einem weiten, diskursiven Religionsbegriff, die für Vásquez Verständnis von Religion in Bewegung charakteristisch ist: dem ätherischen Fluidum religiöser Weltbilder und Ideen steht die strukturierende Kraft des Raums gegenüber. Eine besondere Rolle spielen hier grenzüberschreitende religiöse Transaktionen, wobei Vásquez eine starke Unterscheidung zwischen Transnationalismus und Diaspora als idealtypischen „Modalitäten“ mobiler Religion vorschlägt (Vasquez 2008: 159). Dabei grenzt er sich von früheren Versuchen ab, die Diaspora idealistisch als einen mentalen Zustand und Transnationalismus materialistisch als gelebte Austauschbeziehungen verstehen (ebd.: 163). Stattdessen verweist Vásquez auf die „präsentische“ Gestalt transnationaler Religion im Unterschied zur ätiologischen Natur der Diaspora: „Transnationalism entails a strategic presentism, a multiple embeddeness in the now, as the transmigrant seeks to creatively adjust to the rapidly changing demands of flexible production in contemporary capitalism. Diaspora, in contrast, retrieves or invents a common origin and tradition and commemorates idealized geographic spaces as a way to dwell in an inhospitable present and perhaps bring about a return to the future.” ( Ebd.: 162f., Hervorhebung A.-K.N.) Ich möchte im Folgenden an diese Überlegungen anknüpfen und auf dem Weg von der relationalistischen Programmatik zur angewandten relationalen Erforschung von Religion und Migration ein Stück weiter gehen. Dabei geht es weniger um die unterschiedlichen Modalitäten mobiler Religion als vielmehr um Diaspora als relationale Konstellation. In diesem Sinne können religiöse Diaspora-Gemeinschaften als prototypischer Fall einer „network domain“ verstanden werden (s.o.): Ihre soziale Kohäsion und semantische Kohärenz beruhen nicht nur auf schlichten sozialpsychologischen Mechanismen der Abgrenzung von In- und Outgroup gemäß Attributen wie religiöser Zugehörigkeit, sondern auf Vertrauens- und Unterstützungsnetzwerken, die in religiöse Narrative von Brüderlichkeit, Zusammenhalt und Erwählung eingebettet sind. Die Beiträge in diesem Band greifen Vásquez Netzwerkkonzept auf, indem sie die Verknüpfungen zwischen sozialen Beziehungen und religiösen Bezugnahmen untersuchen. Zugleich unterscheiden sie sich von seiner Herangehensweise, insoweit sie auf
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einem grundsätzlich anderen Diaspora-Verständnis aufbauen. Während Vásquez einen gegenwartsanalytischen Begriff von Diaspora aus biblischen Narrativen gewinnen will und dabei negative oder gar traumatische Erfahrungen von Vertreibung und Verstreuung zum Definitionsmerkmal macht (vgl. ebd.: 161), legen wir eine relationale Lesart von Diaspora als Kontaktzone zugrunde. Die Grundzüge dieser Perspektive werde ich im folgenden Abschnitt knapp skizzieren.
Z WISCHEN B OCHUM UND B ABYLON : D IASPORA RELATIONAL LESEN Der Begriff „Diaspora“ hat seinen Weg von der religiösen Ideengeschichte in akademische Debatten gefunden, ohne dass dieser Transfer vom religiösen zum wissenschaftlichen Gebrauch besonders gründlich thematisiert worden wäre (vgl. aber Cohen 2008: 21ff.). Als religionswissenschaftliches Konzept „bezeichnet Diaspora allgemein eine unter einer Mehrheit Andersgläubiger wohnende religiöse Minderheit“ (von Stuckrad 2006: 111), in sozialwissenschaftlicher Verwendung häufig auch andere kulturelle oder ethnische Minderheiten. An dieser Stelle kann es weder um eine umfassende Begriffsbestimmung gehen noch um eine erschöpfende Zusammenschau des Forschungsstandes. Ersteres ist verschiedentlich unternommen worden (vgl. Mayer 2005; Cohen 2008), letzteres aufgrund der Vielzahl und Verschiedenartigkeit von Diaspora-Studien inzwischen schlicht unmöglich. Ich möchte mich im Folgenden darauf beschränken aufzuzeigen, wie ein religiöses Deutungsmuster von Diaspora als Leidensgeschichte in der akademische Debatte wirksam wird, welche blinden Flecken sich daraus ergeben mögen und wo die Potenziale einer relationalen Lesart von Diaspora liegen könnten. Die religiöse Rede von der Diaspora geht auf die Deportation und Verstreuung des jüdischen Volkes nach der Eroberung durch die Babylonier im sechsten vorchristlichen Jahrhundert zurück. Als analytischer Begriff beschreibt Diaspora nunmehr eine Konstellation religiöser oder ethnischer Minderheiten, die gekennzeichnet ist durch i) die Entfernung einer Gruppe von ihrem ethnischen oder religiösen Zentrum, sei es durch Arbeitsmigration, Flucht oder Deportation, und ihre Ansiedlung an verschiedenen peripheren Orten, ii) die Wahrnehmung, in der Aufnahmegesell-
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schaft nicht voll akzeptiert zu sein und die Kultivierung einer kollektiven Identität über den gemeinsamen Ursprung sowie iii) die Pflege eines Heimatmythos, u.U. verbunden mit der Hoffnung auf Rückkehr und tätigem Engagement für diese Heimat, z.B. durch materielle Unterstützung Daheimgebliebener oder Widerstandskämpfer (vgl. Mayer 2005: 9-10). Der einseitige Fokus auf Verstreuung, Ausgrenzung und die Idealisierung der eigenen Herkunft macht deutlich, wie stark das akademische Verständnis von Diaspora an der religiösen Leidensgeschichte gebildet ist. Als zentrales Argument für eine solche eng am religionsgeschichtlichen Material orientierte Definition führt Vásquez ihren heuristischen Mehrwert an und warnt, dass eine Zerdehnung des Begriffes letztlich zulasten seiner analytischen Potenz gehe (vgl. Vasquez 2008: 160). Zugleich sieht er durchaus die Gefahr einer Verdinglichung der historischen Fälle und schlägt daher im Anschluss an James Clifford ein „polythetisches“ Verständnis vor, das auf die „Familienähnlichkeiten“ zwischen historischen und gegenwärtigen Erfahrungen von Diaspora abhebt (ebd.: 161). So einleuchtend diese Abschwächung auf den ersten Blick ist, so unklar bleibt einstweilen die Methodik zur Identifizierung und Interpretation derartiger Ähnlichkeiten. Im vorliegenden Band verfolgen wir daher eine andere Strategie: Wir benutzen Emirbayers rigorose Unterscheidung zwischen relationalistischen und substantialistischen Ansätzen, um die Konturen einer relationalen Lesart von Diaspora zu bestimmen. Anders als Emirbayer geht es uns dabei indes weder um eine pauschale Polemik gegen substantialistische Zugänge noch um die Vermeidung einer „eklektischen Vermischung“ relationalistischen und substantialistischen Denkens (s.o.), sondern um die Leerstellen, die sich aus der Übertragung eines religiösen Deutungsmusters in ein analytisches Konzept ergeben mögen. Im Folgenden greife ich vier charakteristische Topoi aus dem aktuellen Diaspora-Diskurs heraus (Verstreuung, Heimat, Abschottung und Integration) und erörtere daran die Möglichkeiten einer relationalen Perspektive.2 Ein wesentliches Merkmal des klassischen Diaspora-Verständnisses ist die Verstreuung einer religiösen oder ethnischen Gruppe an mehrere Orte (s.o.). Während sich die substantialistische Lesart auf eine Topografie der Verstreuung und der jeweils lokalen Strukturen richtet, konzentriert sich
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Zum Folgenden ausführlicher vgl. Nagel 2012c, im Erscheinen.
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der relationale Gebrauch auf die Verbindungen zwischen den einzelnen Standorten und ihre Beziehungen zum Herkunftsland. Beispiele dafür sind etwa religiös motivierte oder adressierte Transfers von Geld und Gütern (Remittances), aber auch Pilgerfahrten oder Reisen zu Übergangsritualen (Initiation, Hochzeit, Beerdigung). Umgekehrt können sich Missionare oder religiöse Experten vom Herkunfts- in das Aufnahmeland aufmachen. Diese Personenmobilität kann institutionalisiert und durch zwischenstaatliche Verträge abgesichert sein, wie im Fall von DiTiB, oder sich im Rahmen von Touristenvisa bewegen. So ist es durchaus möglich, dass unabhängige Moscheevereine in Deutschland im Dreimonatsrhythmus ihre Imame wechseln. Die Folge ist eine ausgeprägte Arbeitsteilung zwischen geistlichen Funktionären mit einer theologischen und seelsorgerischen Funktion und weltlichen Geschäftsführern, die sich um die organisatorischen Belange kümmern. Ein weiteres Merkmal ist der Bezug zu einem bestehenden oder imaginierten „Homeland“. Statt substantialistisch den Heimatmythos als Ressource kollektiver Identität zu betrachten, stellt die relationale Lesart stärker auf die anhaltende und mehrseitige Aushandlung und Konstruktion von Differenz in der Aufnahmegesellschaft ab. Ein Beispiel dafür ist die Studie zu religiösem „boundary work“ unter Jugendlichen von Janine Dahinden et al. (2011). Die Autorinnen gehen der Frage nach, wie religiöse Differenz in Schweizer Schulklassen diskursiv erzeugt und sozialpsychologisch bewirtschaftet wird. Sie stellen fest, dass die religiöse Unterscheidung muslimisch vs. christlich nationale oder ethnische Unterscheidungen überlagert. Dabei handelt es sich weder um diasporisch gepflegte Ursprungsmythen der islamischen Minderheit noch um einseitige Zuschreibungen der christlichen Mehrheit, vielmehr sind beide Seiten an der Reproduktion der religiösen Grenzlinie beteiligt. Es geht also nicht nur um die Zuweisung oder das Erdulden von religiösen Stereotypen, sondern auch um deren aktive Aneignung. Das religionsgeschichtliche Paradebeispiel für diesen Zusammenhang sind die christlichen Urgemeinden: Der griechische Ausdruck „christianoi“ war zunächst eine Fremdbezeichnung, eine Grenzziehung der antiken Mehrheitsgesellschaft, die dann identitätsbildend gewendet worden ist (vgl. Karrer 1991: 85). Ein drittes wesentliches Merkmal ist das substantialistische Verständnis der Diaspora-Gemeinschaft als abgeschlossener kultureller Enklave, ganz gleich, ob man sie als Parallelgesellschaft fürchtet, als eine Art Identitäts-
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quarantäne duldet oder als Schonraum landsmannschaftlicher Rekreation begrüßt. Aus relationaler Perspektive bildet die lokale DiasporaGemeinschaft keine abgeschlossene Einheit, sondern einen sozialen Kreis bzw. eine Netzwerkdomäne unter mehreren. Hier geht es weniger um Grenzziehungen als um Grenzüberschreitungen. Akteure, die eine solche Schnittstellenfunktion ausfüllen, indem sie z.B. im Moschee- oder Tempelverein und in einer Organisation der Aufnahmegesellschaft wichtige Ämter bekleiden, müssen sich nicht nur selbst immer wieder positionieren, sondern auch weitreichende Übersetzungsleistungen zwischen diesen sozialen Kreisen erbringen. Je stärker eine religiöse Migrantengemeinde aus der Unsichtbarkeit der Hinterhöfe und Gewerbegebiete heraustritt und sich im öffentlichen Raum manifestiert, desto herausgehobener und zahlreicher werden die sozialen Kreise (vgl. Simmel 1908b), in denen sich ihre Vertreter bewegen müssen. Auf diese Weise entsteht eine Schicht von Geschäftsführern und Jugendarbeitern, die man als Diaspora-Entrepreneure bezeichnen könnte. Sie sind polyglott, nicht nur im linguistischen, sondern auch im soziologischen Sinne und bekleiden zunehmend prominente Positionen in den politischen Organen der Aufnahmegesellschaft. Schließlich wird die Diaspora-Situation bisweilen substantialistisch durch ihren spezifischen Integrationsmodus bestimmt, nämlich die Kombination aus struktureller Integration und kultureller Bewahrung. Die Konservierung der Tradition, so scheint es, macht die selbstbewusste Teilhabe am Bildungs- und Erwerbssystem der Aufnahmegesellschaft erst möglich: Der Rückzug nach Feierabend in das bewährte und bewahrte Eigene ist essenziell, um die Zumutungen der Migrationssituation zu verdauen. Im Unterschied dazu betont die relationale Lesart die charakteristische Spannung zwischen dem Wunsch zur Bewahrung und dem Drang zu religiösem Wandel (vgl. Baumann 2000: 17). Diese Spannung tritt vornehmlich in der religiösen Erziehung zutage, insoweit religiöse Traditionen in der Diaspora erinnert oder (re-)konstruiert und über die unterschiedlichen Lebenswelten der Generationen hinweg vermittelt werden müssen. Die religiöse Erziehung war von Anfang an ein Hauptantrieb für die Institutionalisierung religiöser Migrantengemeinden und wird getragen von dem Wunsch, den Kindern ein ‚authentisches‘ Bild ihrer Herkunftskultur zu vermitteln. Hier greift, was Steven Vertovec als hybride kulturelle Reproduktion beschrieben hat (vgl. Vertovec 1999): Zunächst einmal muss die Elterngeneration sich über die wesentlichen Merkmale ihrer religiösen Lehre und Praxis ver-
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ständigen und dabei soziale, ethnische und kulturelle Grenzen überbrücken. Wissenssoziologisch gesprochen, muss der auf diese Weise gemeinsam externalisierte und mühsam objektivierte Kanon an die zweite Generation vermittelt und von ihr internalisiert werden (vgl. Berger/Luckmann 1990: 174ff.). Als Folge der verbreiteten religiösen Laisierung in der Diaspora wird der Religionsunterricht in der Regel von Gemeindeangehörigen übernommen, deren Sichtweisen und Erfahrungen ebenfalls durch die Migrationssituation geprägt sind. Kurzum: Die Aushandlung von religiöser Authentizität, ihre Auslegung durch die Lehrer und ihre Aneignung durch die Schüler im Migrationskontext bieten Gelegenheiten für religiösen Wandel im Sinne einer „invention of tradition“ (Hobsbawm/Ranger 1992). Ein Beispiel dafür sind die Beobachtungen von Hans-Ludwig Frese zur „Migrantenmoschee“ als neuartigem und hybridem Typus religiöser Vergemeinschaftung: Die von ihm befragten Jugendlichen begründen ihren Wunsch nach Gemeinschaftsräumen für Frauen und Männer im Stil eines Jugendtreffs, indem sie auf die ‚ursprünglichen‘ Moscheen zur Zeit des Propheten verweisen (vgl. Frese 2002: 290).
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Nach dieser Tour d’Horizon von den großen Fragen der Relationalen Soziologie über spezifischere Überlegungen zu einer Netzwerkperspektive auf Religion und Migration bis hin zu den konkreten Herausforderungen eines relationalen Verständnisses von Diaspora sollte deutlich geworden sein, dass die Beiträge in diesem Band nicht einfach ein vorgegebenes Forschungsprogramm ausführen können, sondern eigenständige Versuche in einem Such- (und Finde-)Prozess darstellen. Den Rahmen dafür steckt die eingangs erwähnte Ausrichtung der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ ab, namentlich der Fokus auf die Mesoebene religiöser Gemeinschaften, der Fallstudiencharakter und die Eröffnung einer religionsvergleichenden Betrachtungsweise sowie eine Netzwerkperspektive, die auf die „Wechselwirkung“ zwischen sozialen Beziehungen und religiösen Bezugnahmen abhebt (Simmel 1908a: 5). Innerhalb dieses Rahmens umfassen die hier versammelten Beiträge eine große Bandbreite von Phänomenen und Entwicklungen, die für das Themenfeld von Religion und Migration in Deutschland relevant sind: Mit islamischen, freikirchlichen und hinduisti-
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schen Traditionen sind die zahlenmäßig bedeutsamsten „Migrationsreligionen“ angesprochen. Darüber hinaus werden unterschiedliche Herkunftsländer berücksichtigt, um der kulturellen Formung von Religion Rechnung zu tragen. Der Beitrag von Karin Hitz beschäftigt sich mit Vernetzungsprozessen und Legitimierungsdynamiken von sozial und zivilgesellschaftlich engagierten Muslimen im Ruhrgebiet. Der Fokus liegt dabei auf den Leistungen und Ressourcen, die Muslime in der Diaspora für die Gesamtgesellschaft bereitstellen. Engagierte Muslime übernehmen inner- und außerhalb ihrer religiösen Gemeinschaft Verantwortung in verschiedenen sozialen und zivilgesellschaftlichen Bereichen, etwa in der Jugend- und Bildungsarbeit, in religiösen Angelegenheiten, aber auch gewerkschaftlichen oder politischen Kontexten. Die relationale Perspektive des Beitrags geht von Whites Überlegung aus, dass sich individuelle Identitäten erst durch Netzwerke konstituieren, und verbindet sie mit Simmels Vorstellung von Individuation durch die Überschneidung sozialer Kreise. Daraus ergibt sich die Frage, wie engagierte Muslime mit Doppelmitgliedschaften in islamischen Gemeinden und nichtreligiösen Organisationen der Aufnahmegesellschaft umgehen, welche Übersetzungsleistungen zwischen den sozialen Kreisen erbracht werden und inwieweit das Engagement in den verschiedenen Sphären religiös kodiert wird. Anhand von egozentrierten Netzwerkanalysen und narrativen Interviews unterscheidet die Autorin drei idealtypische Vermittlungsleistungen doppelt engagierter Muslime, die sie als Brokerage, Sozialkapital und Wissenstransfer bezeichnet. Der Beitrag von Piotr Suder beschäftigt sich ebenfalls mit muslimischen Gemeinden, allerdings liegt das Augenmerk hier nicht auf den Identitäten und Vermittlungsleistungen einzelner Akteure, sondern auf der kommunalen Vernetzung der Gemeinde als ganzer. Suder geht der Frage nach, wie sich die Errichtung repräsentativer Moscheen auf die Beziehungen der Gemeinde zur Aufnahmegesellschaft auswirkt. Anhand einer Fallstudie der arabisch geprägten Al-Muhajirin Gemeinde in Bonn wird untersucht, welche Argumente bei der Legitimierung des Bauvorhabens eine Rolle gespielt haben und zu welchen Interaktionsformen es zwischen Gemeinde und ihrer Umwelt im Rahmen des Moscheebauprojekts gekommen ist. Der Beitrag bereichert die gegenwärtige Diskussion über religiöse Repräsentationsbauten um eine relationale Perspektive, indem er über die bloße Kartierung von Moscheebaukonflikten hinaus auf die kommunalen Netzwerke eingeht, die
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Moscheegemeinden im Zuge des Bau- und Planungsprozesses entwickeln. Auf der Grundlage von Experteninterviews und Dokumentenanalysen stellt Suder heraus, wie islamische Gemeinden auf unterschiedlichen Ebenen für die Legitimität ihres Bauvorhabens werben (Legalität, pragmatische und moralische Legitimität) und welche Kontakte und Beziehungen auf diese Weise entstehen. Während die öffentliche Diskussion über Religion und Migration sich oft einseitig auf Muslime in Deutschland konzentriert, gerät leicht außer Acht, dass viele Zuwanderer einen christlichen Hintergrund haben. Dies ist umso interessanter, als die innerchristliche Migrationsgeschichte in Europa von den Hugenotten bis zu den polnischen Bergarbeitern im Ruhrgebiet ihre Spuren in Erfahrungen und Institutionen zum Umgang mit konfessioneller Vielfalt hinterlassen haben. Während Ethnologen und Sozialanthropologen sich schon seit Längerem mit evangelikalen Migranten aus Afrika und Asien auseinandersetzen, wurden christliche Denominationen in der religionswissenschaftlichen Debatte bislang tendenziell vernachlässigt. Um diesem Desiderat zu begegnen, beinhaltet unser Band drei Studien zu russlanddeutschen, lateinamerikanischen und koreanischen freikirchlichen Gemeinden. Frederik Elwert thematisiert in seinem Beitrag russlanddeutsche Christen als eine „vergessene Minderheit“. Seine These lautet, „dass nicht primär die Zugehörigkeit zu einer spezifischen religiösen Tradition und die damit unterstellte Nähe oder Distanz zur Mehrheitsgesellschaft für Integrationsprozesse ausschlaggebend ist, sondern die biografische Bearbeitung kultureller und normativer Differenzen mithilfe der Religion“. Damit ist zugleich eine relationale Perspektive benannt: Die o.a. Zurechnung einer Identität über eine religiöse Tradition und die Annahme einer generellen Übereinstimmung oder Abweichung dieser Tradition zur Aufnahmegesellschaft enthält gleich zwei substantialistische Fallstricke, indem sie Religion im Binnen- und Außenverhältnis als essentialistische Einheit begreift und auf einen binären Code reduziert: ganz oder gar nicht. Dem stellt Elwert eine Analyse der biografischen Aneignung und Transformation religiöser Zugehörigkeit gegenüber. Anhand von biografischen Interviews und narrationsanalytischen Auswertungsverfahren untersucht er religiöse Orientierungen als biografische Opportunitäten und Restriktionen. Seine Fallstudie weist auf eine Ausweitung der Optionen im Lebensverlauf durch eine freikirchli-
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che Anbindung hin, zeigt jedoch auch mögliche beschränkende Potenziale einer solchen Orientierung auf. Keine vergessene Minderheit, sondern schlicht unerforscht, sind in Deutschland die lateinamerikanischen Freikirchen, die Eva-Maria Döring untersucht. Während Migranten aus Lateinamerika in der USamerikanischen Debatte über Religion und Migration eine zentrale Rolle spielen, wurden sie in der deutschen Diskussion bisher komplett ausgeblendet. Der Beitrag von Döring leistet hier Pionierarbeit, indem er lateinamerikanische Pfingstgemeinden im Rhein-Ruhr-Gebiet erstmals empirisch untersucht. Dabei betont die Autorin, dass trotz der vergleichsweise geringen Anzahl und Größe der Gemeinden eine große Bandbreite an Organisationsund Praxisformen besteht. Die relationale Perspektive besteht in diesem Fall darin, die Wechselwirkung religiöser Bezüge und Praktiken im Anschluss an Bourdieu praxeologisch zu analysieren. Anhand von narrativen Interviews, teilnehmender Beobachtung und Predigtanalysen untersucht Döring zum einen die religiösen Sinnzusammenhänge und Begründungsmuster und zum anderen Praxisformen wie Reinigungsriten, Zungenreden, Predigt- und Lobpreis-Performanz. Auf dieser Grundlage unterscheidet sie zwei Gemeindetypen, die sie als „pfingstlich-charismatisch“ und „gemäßigt-charismatisch“ einordnet. Eine weitere, wenig bekannte Gruppe christlicher Migranten in Deutschland nimmt Sabrina Weiß in ihrem Beitrag zu christlichen koreanischen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen in den Blick. Während Elwert eher auf die biografische Relevanz freikirchlicher Anbindung abhebt und Doering Pfingstgemeinden als „Praxisgemeinschaften“ untersucht, geht Weiß der Frage nach, wie koreanische christliche Gemeinden als soziale Vermittlungs- und Begegnungsräume fungieren können. Die relationale Perspektive des Beitrags besteht darin, Grundannahmen der neueren Relationalen Soziologie, etwa Emirbayers Konzept der Transaktion oder Whites Verständnis der „network domain“ am konkreten Beispiel zu erproben. Daraus ergibt sich ein Beobachtungsfokus auf religiöse Vergemeinschaftung als fortlaufender Prozess und die Rollen und Positionen, in denen bzw. durch die dieser Prozess Gestalt annimmt. Aufgrund von teilnehmender Beobachtung und Leitfadeninterviews unterscheidet die Autorin idealtypisch drei Episoden der Transaktion, die sie als „Anpassung und Angleichung“, „Aushandlung und Annäherung“ und „Verstärkung“ bezeichnet.
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Ein Kontrastfall aus Sicht der Religions- und Migrationsforschung ist der Beitrag von Sandhya Marla zu tamilischen Hindus in Deutschland und ihren „Kontaktmomenten“ mit der christlichen Mehrheitsreligion. Im Zentrum steht dabei die religiöse Entwicklung der zweiten Generation, v.a. die Frage, wie religiöse Sozialisation unter den spezifischen Bedingungen der Migrationssituation (Mangel an religiösen Experten, religiöse Vielfalt, Dominanz der Mehrheitsreligion) gestaltet werden kann und welche Rolle religiöse Organisationen dabei spielen. Die relationale Perspektive besteht darin, dass religiöse Sozialisation als ein interaktiver Vorgang begriffen wird, in dem sich die Einflüsse der Eltern, Peers und verschiedener religiöser Spezialisten (Priester, Religionslehrer) auf die religiöse Identität überlagern. Von besonderem Interesse ist hier die Frage nach dem „religiösen Markt“ bzw. dem „christlichen Außenangebot“ und damit nach der Bedeutung von religiöser Vielfalt und Religionskontakt für die religiöse Sozialisation. Anhand von narrativen Interviews und dokumentarischer Methode illustriert Marla unterschiedliche Lösungen für religiöse Orientierungsdilemmata von der Vermischung hinduistischer und christlicher Einflüsse über reflektierendes Abwägen der verschiedenen Angebote bis hin zur deutlichen Affirmation des „eigenen“ hinduistischen Hintergrunds. Die letzten beiden Beiträge in diesem Band führen die bei Marla angesprochene Frage nach Migration und religiöser Pluralisierung noch ein Stück weiter. Hier stehen nicht einzelne religiöse Traditionen, sondern (mehr oder weniger) institutionalisierte Formen des Religionskontakts im Vordergrund. So untersucht Nelly Schubert, welche interreligiösen Beziehungskonstellationen sich im kommunalen Raum herausbilden und welche Rolle Einzelpersonen dabei spielen. Sie geht davon aus, dass interreligiöse Aktivitäten durch ein Spannungsfeld von Repräsentation und Individualität gekennzeichnet sind: Religionskontakt beruht zum einen auf persönlichen Begegnungen, zum anderen treten die Beteiligten aber als Vertreter einer religiösen Organisation oder Tradition auf. Daraus ergibt sich die Leitfrage des Beitrags: Wie prägen Einzelakteure als „Broker“ und „Gatekeeper“ das Beziehungsgefüge und den Sinnzusammenhang interreligiöser Kooperation? Die relationale Perspektive besteht ähnlich wie im Beitrag von Karin Hitz im Fokus auf die Einbettung und Strukturierungsleistung von Akteuren in bzw. zwischen religiösen Netzwerken sowie in der Analyse der Wechselwirkung von symbolischen und sozialen Grenzen religiöser Gruppen. Auf der Grundlage von Experteninterviews und einer kategorienbil-
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denden Inhaltsanalyse unterscheidet Schubert einige idealtypische Konstellationen interreligiöser Kooperation von selbstorganisierten Expertennetzwerken bis hin zum kommunalpolitischen Forum. Auch Alexander Nagel setzt sich mit interreligiösen Aktivitäten auseinander. Anders als bei Schubert liegt das Augenmerk dabei aber weniger auf den Beziehungskonstellationen als auf der Institutionalisierung des Religionskontakts in unterschiedlichen Formaten interreligiöser Arbeit. Die wesentliche Problemstellung des Beitrags besteht darin, den Formenreichtum interreligiöser Aktivitäten jenseits der „klassischen“ Dialogveranstaltung zu identifizieren und typologisch zu erfassen. Die Typenbildung beruht auf drei Analyserahmen, die gemeinsam das relationale Programm des Beitrags abstecken: Interreligiöse Aktivitäten werden als GovernanceStrukturen, Interaktionsrituale und Netzwerkdomänen unterschieden. Im ersten Fall liegt der Fokus auf dem Zusammenwirken staatlicher und gesellschaftlicher Akteure, im zweiten Fall stehen die rituelle Ausgestaltung und Absicherung des interreligiösen Ereignisses im Vordergrund, im dritten Fall hingegen der diskursive Kontext des Ereignisses. Anhand von teilnehmender Beobachtung, Leitfadeninterviews und einer kategorienbildenden Inhaltsanalyse identifiziert der Autor sechs Typen interreligiöser Formate: Nachbarschaftstreffs, Dialogveranstaltungen, Friedensgebete, Schulgottesdienste, Tage der offenen Tür und interreligiöse Events.
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Engagierte Muslime in Deutschland Vernetzungs- und Legitimierungsdynamiken im Kontext sozialer und zivilgesellschaftlicher Arbeit K ARIN H ITZ
E INLEITUNG : W ARUM GESAMTGESELLSCHAFTLICH ENGAGIERTE M USLIME IN D EUTSCHLAND ERFORSCHEN ? In Anbetracht der vieldiskutierten Rolle von Religion, insbesondere des Islam im Kontext von Integration, Identität und Partizipation, orientieren sich meine Ausführungen an einem ressourcenorientierten Ansatz, der das Augenmerk auf die Potenziale und Leistungen von Muslimen und muslimischen Gemeinschaften lenkt. Untersuchungsgegenstand meiner Ausführungen sind sozial und zivilgesellschaftlich aktive Muslime in Deutschland, die durch ihre (auch islamisch gestützte) Gemeinwohlorientierung einen Beitrag zur Verbesserung der sozialen Lage in Deutschland leisten und die Zivilgesellschaft stärken. Ich frage nach der Einbettung von engagierten Muslimen in verschiedene soziale und religiöse Kreise und nach der Wirkung, die diese Einbettung auf ihr Vernetzungshandeln bzw. auf ihre Vermittlerfunktion zwischen verschiedenen Kreisen ausübt. Diesen ressourcenorientierten Fokus auf Muslime habe ich gewählt, da in gesellschaftlichen wie politischen Auseinandersetzungen „der Islam“ vielfach als Ursache für die Bildung sogenannter Parallelgesellschaften herangezogen wird, was Muslime per se aus partizipativen und demokratischen Prozessen ausschließt
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und ihnen einen konstruktiven Beitrag zur Gesamtgesellschaft1 diskursiv abspricht (vgl. Schiffauer 2008). Aus diesem Grund untersuche ich gezielt Muslime, die sozusagen „doppelt engagiert“, also gleichzeitig in religiösen und sozialen bzw. zivilgesellschaftlichen Bereichen aktiv sind. Zum Sample meiner Studie gehören Personen, die sich selbst als religiös bezeichnen, zudem einerseits in eine muslimische Gemeinschaft2 eingebettet sind und sich andererseits im sozialen oder zivilgesellschaftlichen Feld der Mehrheitsgesellschaft3 engagieren. Unter Engagement verstehe ich das aktive Übernehmen von Verantwortung für eine Sache in einem Verein, einem Verband, einer NGO, einer Organisation oder einer Institution. Es spielt dabei keine Rolle, ob das Engagement ehrenamtlich geschieht oder gegen Entlohnung. In einzelnen Fällen kann das Engagement auch mit der täglichen Erwerbsarbeit von Akteuren zusammenfallen. Gesamtgesellschaftlich engagiert bedeutet, dass das Engagement allen Bedürftigen zukommt, egal welchen kulturellen, religiösen oder sozialen Hintergrund jemand mitbringt. Das Interesse am Engagement in sozialen, zivilgesellschaftlichen und politischen Bereichen grenzt sich von wirtschaftlichem Engagement ab und lenkt den Fokus auf die Rolle von Muslimen in der Zivilgesellschaft, welche ich in Anlehnung an Adloff (2005) wie folgt definiere:
1
Der Begriff Gesamtgesellschaft umfasst alle in Deutschland lebenden Menschen, ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Wurzeln.
2
Unter muslimischen Gemeinschaften verstehe ich alle sunnitischen und schiitischen Religionsgemeinschaften in Deutschland. Aleviten unterscheiden sich in ihren religiösen Vorstellungen und der Praxis erheblich von Sunniten und Schiiten, weswegen ich sie aus dem Sample ausklammere. Ob Aleviten zum Islam gehören oder nicht, ist zurzeit Gegenstand von inneralevitischen Diskussionen um Identität und Zugehörigkeit (vgl. Sökefeld 2008; vgl. Gorzewski 2010).
3
Die Bezeichnung Mehrheitsgesellschaft ist der gängigen Praxis der Migrationsforschung entnommen. Der Begriff zielt auf eine idealtypische Unterscheidung zwischen zugewanderter Migrationsbevölkerung und der in Deutschland ansässigen Bevölkerung sowie den jeweils damit verbundenen Vergemeinschaftungsformen ab. Trotz berechtigter Kritik an dieser Kategorisierung liegt sie der Studie zugrunde, nicht nur weil sie diskursiv, medial und politisch Relevanz besitzt, sondern auch, weil sie von den Akteuren selbst vorgenommen wird.
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„Unter civil society, also Zivil- oder Bürgergesellschaft wird in der Regel ein gesellschaftlicher Raum, nämlich die plurale Gesamtheit der öffentlichen Assoziationen, Vereinigungen und Zusammenkünfte verstanden, die auf freiwilligem Zusammenhandeln der Bürger und Bürgerinnen beruhen. Vereine, Verbände und soziale Bewegungen sind dabei typische Organisationsformen. Diese Vereinigungen sind unabhängig von einem staatlichen Apparat und in der Regel auch unabhängig von wirtschaftlichen Profitinteressen […]“ (Adloff 2005: 8).
Die meisten Autoren „grenzen diesen Raum darüber hinaus von der Privatsphäre, zum Beispiel der Familie, ab und betonen, dass zur Zivilgesellschaft Öffentlichkeit gehört“ (ebd.). Der Bereich Soziale Arbeit stellt einen Teil des weiten öffentlichen Feldes der Zivilgesellschaft dar. Und zwar denjenigen, der sich spezifisch mit sozialen Angelegenheiten beschäftigt und versucht, Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen zu lösen, zu lindern oder zu verhindern, den Menschen zu ermächtigen und sein Wohlbefinden zu heben. Politisches Engagement ist ideologiegebundener zu verstehen und hängt mit den Belangen der beiden anderen Bereiche eng zusammen. Es fokussiert vorwiegend Themen rund um die Anerkennung von Religionsgemeinschaften und islamischen Religionsunterricht. Ein weiteres meiner Anliegen ist die Schärfung des Blicks auf soziales, zivilgesellschaftliches und politisches Engagement, welches einen wichtigen Beitrag zur sozialen Wohlfahrt leistet und als zivilgesellschaftliche Kraft einen Grundpfeiler der Demokratie darstellt. Zu zivilgesellschaftlichem Engagement schreiben Gabriel/Trüdinger/Völkl: „Aktivitäten dieser Art spielen eine wichtige Rolle für die Integration einer Gesellschaft und für die Stabilität und Funktionsfähigkeit der Demokratie.“ (Gabriel/Trüdinger/Völkl 2004: 337)4 In diesem Bereich fehlen bisher einschlägige Studien, die spezifisch den muslimischen Beitrag zum Gemeinwohl in Deutschland untersuchen. Den diesbezüglichen Forschungsstand zeige ich im anschließenden Kapitel auf. Darauf folgend stelle ich einige theoretische Überlegungen zu relationalen Aspekten der Einbettung von Akteuren in verschiedene soziale Kreise und damit verbundene Grenzziehungsdynamiken vor. Es folgen Erläuterungen zum methodischen Vorgehen, zur Operationalisierung, zur Datener-
4
Vgl. zu Demokratie, Vertrauen und Sozialkapital auch Putnam (1993), der in seinem Werk „Making Democracy Work“ die These aufstellt, dass Sozialkapital den Schlüssel zur Funktionsfähigkeit moderner Demokratien darstellt.
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hebung und -auswertung. Die Ergebnispräsentation zeigt Beispiele von projekt- und strukturbezogenen Vermittlungsleistungen der Akteure sowie Handlungslegitimierungen5 im Zusammenhang mit ihrer Netzwerkeinbettung. Diese sind als vorläufige Ergebnisse zu verstehen, welche im Zuge meiner Forschung verdichtet werden und sich ggf. noch ändern können.
Z UM F ORSCHUNGSSTAND : E NGAGEMENT , SOZIALE N ETZWERKE
UND
R ELIGION
Relevante Erkenntnisse über engagierte Muslime lassen sich aus verschiedenen Forschungsrichtungen gewinnen. Einsichten in Motive, aufgrund derer Menschen einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten, stammen vor allem aus der sozialpsychologischen Motivations- und soziologischen und politikwissenschaftlichen Engagementforschung6. Die Einbettung in soziale Netzwerke im Zusammenhang mit Engagement wird in diesen Forschungsbereichen ebenfalls thematisiert. Zur Frage des Zusammenhangs zwischen Religion und Engagement ziehe ich Studien zu „faith-based volunteering“ und zu Sozialkapital heran. Laut Kosic (2007: 14-15) sind unter anderem soziale Ressourcen entscheidend für Engagement. Beispielsweise spiele es eine Rolle, ob man bereits jemanden kennt, der sich engagiert oder man die Erfahrung gemacht hat, dass man etwas erreichen kann, indem man sich mit anderen vernetzt. Engagement geht also mit sozialer Vernetzung einher, meist über gruppensoziales Verhalten und motivierende Bestätigung. Von sozialen Netzwerken können Akteure auch praktische und moralische Unterstützung bekommen oder sich mit Interessierten über migrations- oder herkunftslandbezogene Themen austauschen. „All this confirms as suggested by previous studies that motivation to be involved in civic activities is largely embedded in social network.” (Ebd.) Soziale Netzwerke haben laut Kosic (vgl.
5
Unter Legitimierung wird hier die Schaffung von Legitimität für Handlungen verstanden. Vgl. zu Legitimität und Legitimierung von Moscheebauprojekten, also eine etwas andere Art der Legitimierung, den Beitrag von Piotr Suder in diesem Band.
6
Vgl. zum aktuellen Forschungsstand der deutschen und internationalen Engagementforschung den Sammelband „Zivilengagement“ von Priller et al. (2011).
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ebd.: 20) zwei relevante Funktionen: Erstens als Motivation zur Aufnahme und Weiterführung von Engagement und zweitens als Solidaritätsnetzwerk. Netzwerke haben demnach genau wie Religion auf motivationaler wie auch auf gemeinschaftsstiftender Ebene besondere Relevanz. Des Weiteren können Netzwerke Aufstiegschancen im Job oder in der Politik (Prestige, soziale Anerkennung, Geld) generieren.7 Kosten und Nutzen eines Engagements werden von den Individuen genau abgewogen, was bedeutet, dass sich viele Menschen nur dann engagieren, wenn es ihnen einen wie auch immer verstandenen Vorteil bringt. Die häufigsten Gründe sich nicht zu engagieren sind der Mangel an Zeit und/oder Geld (vgl. ebd.: 21). Die gemeinschaftsfördernde Funktion von Netzwerken wird auch vom Freiwilligensurvey (vgl. Gensicke/Picot/Geiss 2006) konstatiert, gerade in Bezug auf religiöse Netzwerke. Für alle Befragten gelte, dass eine „Bindung an Konfession und Kirche […] häufig neben der Nähe zu Religion und Glauben die Einbindung in das soziale Geschehen innerhalb einer Gemeinde“ bedeute (ebd.: 228). Die Nähe zu Religion und religiös-kirchlichen Organisationen sei bei Migranten generell höher als bei Nichtmigranten (vgl. Gensicke/Geiss 2010: 52). Es liegt also nahe, zu fragen, ob auch bei Muslimen die Nähe zu Religion und religiösen Organisationen eine besondere Rolle für Engagement spielt. In Bezug auf Migration stellt der Freiwilligensurvey Zusammenhänge zwischen Netzwerkgröße und Engagement sowie zwischen religiöser Bindung und Engagement fest: „Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Migranten engagieren, war ähnlich wie bei Nicht-Migranten neben Strukturmerkmalen, wie z.B. der formalen Schulbildung oder der Aufenthaltsdauer, von sozial-integrativen bzw. kulturellen Merkmalen abhängig. […] Je größer der Freundes- und Bekanntenkreis, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Migranten freiwillig engagiert sind. Daneben hängen die Bindung an die Kirche bzw. eine Religionsgemeinschaft und die soziale Unterstützung für Personen außerhalb des Haushalts eng damit zusammen, dass sich Migranten engagieren.“ (Gensicke/Picot/Geiss 2006: 376)
7
Vgl. zu Opportunitäten und Restriktionen in sozialen Netzwerken weiterführend die Überlegungen zu „bridging and bonding social capital“ von Putnam (2000).
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Religion spielt in dieser Hinsicht eine zweifache Rolle, einerseits zur Vergemeinschaftung und andererseits als sozialethische Motivation, sich für andere einzusetzen. In einer qualitativen Studie zu „Faith and voluntary action: community, values and resources“ (Locke/Lukka/Soteri-Proctor 2003) wurde die religiöse Sozialethik (von Befragten mit verschiedenen religiösen Hintergründen) als eine Triebkraft für Handlungen genannt (vgl. ebd.: 3745). Die Studie identifiziert folgende fünf Gründe oder Motive für „faithbased volunteering“: Anderen finanziell oder physisch zu helfen, den Geist der Religion und die damit verbundenen Werte zu leben, selbstlos zu handeln und das Interesse für soziale Anliegen wie Ungerechtigkeit und Ungleichheit (vgl. ebd.: 8).8 Eine Studie zum Engagement muslimischer Jugendlicher in Australien zeigt ähnliche Gründe: die Würdigkeit einer Angelegenheit, der Wunsch, der Gemeinschaft zu helfen, persönliche Erfüllung und an vierter Stelle spirituelle Überzeugungen (vgl. Madhkul 2007: 6). Diese spirituellen Überzeugungen werden aus dem Koran und der Sunna hergeleitet: „Donating to charity, helping family and assisting others less fortunate than oneself is scripted in the verses of the Holy Book, the Quran, as well as in the exemplification of the revered Prophet Muhammad’s teachings and life stories: ‘One who tries to help the widow and the poor is like a warrior in the way of Allah’ [Source: Bukhari’s collection of Hadith]. Duties and obligations extend past family and parents, but also to neighbours, the needy, the elderly and orphans. Moreover among the qualities and social manners encouraged in Muslims are brother/sisterhood, cooperation, tolerance, justice, hard work and firmness against odds and evil.“ (Madhkul 2007: 16)
Eine weitere wichtige Quelle für die islamische Sozialethik stellt Zakat9 dar. Unter Zakat wird die offizielle Almosensteuer verstanden, die eine der fünf Säulen des Islam darstellt. Nach islamischen Regeln wird Zakat auf
8
Vgl. zum Glauben (faith) als Motivation für Freiwilligenarbeit auch Locke
9
Im Folgenden werden Ausdrücke aus dem Arabischen nicht nach den Regeln
(2007). der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft wiedergegeben, sondern aus Gründen der Lesbarkeit wird eine ans Deutsche angepasste Schreibweise vorgezogen.
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bestimmte Arten von Eigentum10 erhoben und muss demnach von jedem erwachsenen Muslim mit ausreichenden Mitteln bezahlt werden. Neben dem formellen (und sozialrechtlich verpflichtenden) Zakat als Maßgabe zur gesellschaftlichen Umverteilung von Reichtum gibt es auch die freiwillige Spende (Sadaqa) und die Gabe (Hiba). Es gibt unterschiedliche Annahmen darüber, ob Zakat oder Sadaqa auch für Nichtmuslime ausgegeben werden darf. Diese Frage führt unweigerlich zum Anliegen meiner Untersuchung, muslimisches Engagement über die muslimische Community hinaus zu thematisieren. Es geht mir um Solidaritätsnetzwerke unabhängig von religiöser oder kultureller Zugehörigkeit. Da für Deutschland weder qualitative noch quantitative Studien mit diesem Fokus vorliegen, werden im Folgenden zur Orientierung Zahlen aus der bereits zitierten australischen Studie herangeführt. Demnach leisten 61 % aller engagierten Muslime einen Dienst an der „broader mainstream community“ und 39 % arbeiten exklusiv für die eigene Community. Diese Verteilung bietet nach Madhkul (2007: 6) dem gesellschaftlichen Diskurs die Stirn, demnach sich Australier mit einem kulturell und sprachlich diversen Hintergrund vorwiegend für die eigene Community engagieren. Ein solch hoher Anteil von Engagierten, die sich für das Gemeinwohl aller einsetzen, fordert nicht nur australische Diskurse heraus, sondern auch deutsche. Für Deutschland gibt es jedoch keine vergleichbaren Zahlen und auch meine Studie ist nicht quantitativ angelegt.11 Viele Studien in der Engagementforschung legen den Fokus auf Engagierte mit Migrationshintergrund.12 Religion wird dabei meist nur am Ran-
10 Vgl. zu detaillierten rechtlichen Regelungen das Werk „Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart“ von Rohe (2009). Die Entwicklung eines muslimischen Minderheitenrechts in Europa wird in „Scharia im Westen“ von Schlabach (2009) thematisiert. 11 Allgemeine Erkenntnisse über muslimisches Leben in Deutschland können in der gleichnamigen Studie von Haug/Müssig/Stichs (2009) nachgelesen werden. 12 So untersucht beispielsweise das Zentrum für Türkeistudien in quantitativer Herangehensweise das freiwillige Engagement von Türkinnen und Türken in Deutschland (vgl. Halm/Sauer 2005). Sie thematisieren religiöse Aspekte aber nur am Rande. Ähnlich marginal wird Religion in der qualitativen Studie von Düsener (2010) behandelt, die sich der Frage widmet, wie Engagement und die Integration von Migrantinnen und Migranten zusammenhängen.
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de oder gar nicht berücksichtigt. Andere Studien wie die oben zitierte von Locke et al. (2003) beschäftigen sich mit engagierten Religiösen, greifen aber Muslime nicht gesondert heraus. Geschieht dies doch, dann ausschließlich im Zusammenhang mit Migration. Engagierte Konvertiten oder Muslime ohne Migrationshintergrund wie in meinen Fallbeispielen werden nicht berücksichtigt.13 Streng genommen lassen sich die Resultate aus Studien über muslimische Engagierte, Engagierte generell oder Engagierte mit Migrationshintergrund also nicht auf sozial und zivilgesellschaftlich engagierte Konvertiten übertragen. Allerdings gilt dies nicht in Bezug auf Religion als Engagementmotivation. Diesbezüglich kann man sogar vermuten, dass Konvertiten ihr Engagement äußerst bewusst mit religiösen Begründungen legitimieren.14 Der Forschungsstand hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Religion, Engagement und sozialen Netzwerken weist also an verschiedenen Stellen Lücken auf. In meinem Beitrag versuche ich, neue qualitative Erkenntnisse über in Deutschland lebende muslimische Engagierte zu generieren.
13 Ein Blick auf die Forschung zu Konvertiten zeigt, dass sich diesbezügliche Studien „überwiegend auf den Prozess der Konversion, die unterschiedlichen Motivlagen sowie die persönlichen Konsequenzen des Glaubensübertritts“ (Vardar/Müssig 2011: 31) konzentrieren. Untersuchungen zu Muslimen explizit ohne Migrationshintergrund sind mir bislang keine bekannt. Auch gibt es keine Statistik zur Anzahl Konvertierter oder Muslime ohne Migrationshintergrund in Deutschland. 14 Unterschiede zwischen Konvertiten, Muslimen ohne bzw. mit Migrationshintergrund sind in Bezug auf soziale Netzwerke zu vermuten. Beispielsweise erwarte ich, dass die Netzwerke von Konvertiten heterogener ausfallen als die Netzwerke von Engagierten mit Migrationshintergrund, da sie mit ihrer Konversion quasi aus ihrem ethnischen Netz ausgetreten sind und sich in einer ethnisch pluralen Welt der Muslime neu verortet haben. Weiter gehe ich davon aus, dass es auch Unterschiede bezüglich institutionellen Barrieren und Diskriminierungserfahrungen gibt. Diese vergleichende Fragestellung ist jedoch nicht Teil dieses Beitrags.
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R ELATIONALE P ERSPEKTIVE UND G RENZZIEHUNGSDYNAMIKEN : V ON ( RELIGIÖSER ) S INNGEBUNG ZUM PERSÖNLICHEN N ETZWERK UND ZURÜCK Das diesem Beitrag zugrunde liegende Netzwerkkonzept stützt sich auf den auf Harrison White (1992) zurückgehenden Grundgedanken, nach dem sich individuelle Identitäten erst durch soziale Strukturen oder Netzwerke konstituieren. Netzwerke formieren und kontrollieren nach White die Umgebung für Identität, deren Entstehen und deren Entwicklung. Die Emergenz von Identität unterliege einem ständigen Prozess der Formierung und Neuformierung und wirke ihrerseits durch Handlung auf Netzwerke und Strukturen ein. Ich gehe in diesem Sinne von einem dynamischen Verständnis von Identität, Agency und Netzwerkeinbettung aus. Für meinen Beitrag stellt sich darauf aufbauend die Frage, welche Rolle hierbei religiöse Strukturen und Überzeugungen spielen. Fuhse/Mützel (2010) gehen davon aus, dass „strukturelle und kulturelle Elemente als konstitutiv für die Schaffung und den Erhalt von sozialen Netzwerken“ (Fuhse/Mützel 2010: 7, Herv. i. O.) gelten. Im Anschluss daran verstehe ich die Netzwerke engagierter Muslime als sozio-religiöse Formationen.15 Solche sozio-religiösen Formationen „bestehen aus Narrativen (stories) zwischen Identitäten und sind somit nicht als ‚sinnfreie‘ Strukturen zu betrachten“ (ebd.: 8, Herv. i. O.). Sinnformen emergieren in einzelne Sozialbeziehungen als kleinste Einheiten der Netzwerke und variieren je nach Kontext, unterschiedlichen Positionen innerhalb von Netzwerken und historischen Prozessen. Für mein Forschungsinteresse bedeutet dies, dass der erkenntnistheoretische Zugang zu (religiöser) Sinngebung, zu Handlungslegitimierung und Abgrenzungsverhalten im Kontext des Engagements der Akteure über die Betrachtung ihrer sozialen Beziehungen führt. Konkret schaue ich mir an, wie und über wen 15 Der Begriff „sozio-religiöse Formationen“ wurde in Anlehnung an Fuhse und Mützels Begriff der „sozio-kulturellen Formationen“ (2010: 7) entwickelt. Er verlegt den Schwerpunkt von Kultur auf Religion, was zwar den Fokus etwas verlagert, aber am zugrundeliegenden Kerngedanken nichts ändert. Durch diese relationale Sichtweise wird ein starker Strukturalismus, wie er in der Netzwerkanalyse zum Teil verfolgt wird, überwunden und der Ansatz steht für die „kulturelle Wende“ (ebd.: 7) in der Netzwerkforschung.
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Kontakte oder Projekte zustande kommen und wie dieses Handeln in den einzelnen Fällen legitimiert wird. Diese Betrachtung schließt an die Untersuchungsperspektive von Höfer/Keupp/Straus (2006) zu Prozessen sozialer Verortung in Szenen und Organisationen an. Nach ihr werden sich engagierende Individuen „in ihrer strukturellen und interaktiven Einbettung wahrgenommen […] und ihre Handlungsfähigkeit […] als die jeweils gegebene Möglichkeit der Mobilisierung von formellen und informellen Netzwerkbeziehungen thematisiert“ (ebd.: 271). Diese relationale Perspektive auf die Verortung von engagierten Akteuren und ihren Legitimierungs- und Aushandlungsdynamiken impliziert einen verschärften Blick auf Grenzziehungsprozesse, denn Akteure legitimieren und positionieren sich durch die Abgrenzung von Anderen.16 Doppelt engagierte Muslime werden in verschiedenen sozialen Kreisen auf ihre Religion/Religiosität bzw. auf ihr Engagement angesprochen und so zu einer Selbstpositionierung angehalten. Abgrenzungsfragen ergeben sich beispielweise dann, wenn Muslime bei einem Treffen des Deutschen Gewerkschaftsbundes mit dem islamischen Verbot von Alkohol- oder Schweinefleischkonsum konfrontiert werden. Oder wenn in einem muslimischen Kontext die Frage gestellt wird, ob es islamisch vertretbar sei, sich auch für Nichtmuslime zu engagieren. Die Grenzziehungsperspektive steht für eine neuere theoretische Herangehensweise an Prozesse sozialer, kultureller und religiöser Verortung, welche
16 Simmel spricht in seinem Werk „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ über die „Kreuzung sozialer Kreise“ (1908), in dem es um soziale Zugehörigkeiten, den Kontakt und die individuelle Verortung in unterschiedlichen Gruppen geht. Die Kreuzung sozialer Kreise trägt einerseits zur Formierung von Individualität bei, kann andererseits aber auch zu „Zerreißung“ (Simmel 1908: 313) führen. Simmel meint damit, dass Individuen durch ihre Mitgliedschaft in verschiedenen sozialen Gruppen zum Schauplatz von Aushandlungsprozessen werden, die ihre Identitätsfindung entweder stützen oder untergraben können. Aus diesem Grund berücksichtige ich für meine Dissertation auch eine mikrosoziologische Ebene, auf der individuelle Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategien (unter Umständen auch religiöses „Coping“) und die Persönlichkeit der Akteure verhandelt werden.
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Verkürzungen durch essentialistische und „solitaristische“17 Religions- und Identitätskonzepte zu überwinden sucht. In diesem Kontext werden ethnokulturelle und religiöse Differenz als Produkt der Geschichte, als Ergebnis konkreter Handlungen von AkteurInnen, sowie auch immer im Kontext von Machtstrukturen verankert, betrachtet (vgl. Dahinden/Duemmler/Moret 2010: 1). Für meinen Betrag interessant ist, welche Grenzziehungen wann und wie gezogen werden, d.h. ob Grenzen religiös, sozial, auf das Engagement bezogen oder aufgrund anderer Motive gezogen werden und welche diskursiven Strukturen dabei wirksam sind. Lamont und Molnár (2002) unterscheiden zwischen symbolischen und sozialen Grenzziehungen: „Symbolic boundaries are conceptual distinctions made by social actors to categorize objects, people, practices, and even time and space. They are tools by which individuals and groups struggle over and come to agree upon definitions of reality. Examining them allows us to capture the dynamic dimensions of social relations […]. Symbolic boundaries also separate people into groups and generate feelings of similarity and group membership […]. Social boundaries are objectified forms of social differences manifested in unequal access to and unequal distribution of resources (material and nonmaterial) and social opportunities.” (Lamont/Molnár 2002: 168)
Von Interesse sind für mich vorwiegend die symbolischen Grenzziehungen. Denn in ihrer Arbeit wie auch in alltäglichen Situationen sind die Akteure unterschiedlichen Zuschreibungen und Klassifikationen ausgesetzt, welche durch Kontakt und Interaktion im Laufe der Zeit symbolische Grenzen verschieben, auflösen oder festigen können. Religion und Engagement werden in diesem Sinne als Ergebnisse von in Netzwerken stattfindenden Interaktionsprozessen verstanden. Soziale Grenzziehungen sind deshalb weniger relevant, da es mir nicht primär um Fragen des strukturellen Zugangs zu Ressourcen geht. Entscheidend sind die Verortungsprozesse, bei denen es um „feelings of similarity“ und Gruppenzugehörigkeiten geht. So wird ein spezifisches Islam-Verständnis innerhalb von muslimischen Kreisen genutzt, um sich von anderen Muslimen und auch von Nichtmuslimen abzugrenzen.
17 Sen (2007: 8) bezeichnete mit der „solitaristischen“ Illusion eine Herangehensweise an Diversität, die Identität grundsätzlich nur auf eine einzige und zwar ethno-kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit beschränkt.
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Das Kernanliegen meines Beitrags – also die Frage nach der Wirkungsmacht der Netzwerkeinbettung auf die Handlungs- und Verortungsdynamiken sowie auf religiöse Legitimierungen – lässt sich beantworten, indem untersucht wird, wie Akteure in einem Netzwerk interagieren und wann welche symbolischen Grenzen gezogen werden.
N ETZWERK MEETS N ARRATION : M ETHODISCHE Ü BERLEGUNGEN Für die Erforschung der genannten Fragen habe ich verschiedene methodische Zugänge – narratives Interview und egozentrierte Netzwerkanalyse – miteinander kombiniert.18 Die wichtigste Methode für meinen Beitrag ist die qualitative egozentrierte Netzwerkanalyse. Um auch solchen Lesern ein Verständnis meiner Arbeit zu ermöglichen, die mit der egozentrierten Netzwerkanalyse nicht vertraut sind, stelle ich sie im Folgenden detailliert vor. Hierbei werde ich insbesondere auf die Entstehung der egozentrierten Netzwerkkarten eingehen. Unter einem egozentrierten Netzwerk versteht Jansen (2006: 80) ein Netzwerk, das um ein Ego (die interviewte Person) herum verankert ist. Egozentrierte Netzwerkkarten sind visuelle Darstellungen vom persönlichen Netzwerk eines Akteurs.19 Durch die Erhebung sozialer Beziehungen – bzw. deren Zustandekommen und welche Beziehungsdimensionen sie umfassen – ist es mir möglich, Erkenntnisse über Vernetzungs- und Legitimierungsdynamiken zu gewinnen. Indem ich die
18 Die Datenerhebung für die Dissertation umfasst zusätzlich zwei Fragebögen zur persönlichen Religiosität und zu Persönlichkeitscharakteristiken. 19 Die egozentrierten Netzwerkkarten habe ich mit Hilfe der Software VennMaker gemeinsam mit den Interviewpartnerinnen am Laptop gezeichnet. Der VennMaker ist ein Instrument zur kommunikativen Erhebung und Validierung persönlicher Netzwerke, das im Rahmen des Exzellenzclusters „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke“ an der Universität Trier entwickelt wurde. Es zielt auf die Visualisierung von Netzwerkbeziehungen ab. Diese visuelle Erhebungsmethode bringt viele Vorteile mit sich. Einerseits ermöglicht sie im Interviewprozess eine ständige Korrektur und Ergänzung des Gezeichneten und begünstigt die Reflexionsebene während des Interviews, andererseits lassen sich die Karten bei der Auswertung gut miteinander vergleichen.
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Akteure frage, wie und warum es zu den engagementrelevanten Beziehungen kam, erfahre ich etwas über die Dynamik (wie) und die Legitimierung (warum) von vernetzungsbezogenem Handeln. Die Erstellung der Netzwerkkarten am Laptop lief folgendermaßen ab: Am Anfang zeigt der Bildschirm eine leere Netzwerkkarte. Auf der Karte habe ich nur die Hemisphärenteilung (Muslim/Nichtmuslim) und die konzentrischen Kreise (Wichtigkeitsgrad der genannten Personen/Institutionen) vorstrukturiert. Die einleitende personen- und institutionengenerierende Frage (Netzwerkgenerator) lautete „Wer oder was ist oder war für dein Engagement wichtig?“, woraufhin meine Interviewpartnerinnen anfangen verschiedene Personen/Institutionen auf der Netzwerkkarte zu platzieren. Entsprechend der jeweiligen Bedeutung werden diese näher oder weiter entfernt vom Ego und in der muslimischen bzw. nichtmuslimischen Hemisphäre eingezeichnet. Zu jeder Person (nicht zu den Institutionen) habe ich nach deren Nennung folgende Attributdaten erhoben: die ethnische Zugehörigkeit, das Alter und die Dauer der Bekanntschaft. Zu allen genannten Personen/Institutionen ließ ich die Interviewpartnerinnen die Relation, also die Beziehung zwischen ihnen als stark, mittel oder schwach eintragen. Besonders wichtig für meine Fragestellung sind die verschiedenen Beziehungsdimensionen sowie die zeitliche Entwicklung einer Beziehung. Unter Beziehungsdimensionen verstehe ich die verschiedenen Bereiche, in denen eine soziale Beziehung zwischen Ego und Alter besteht. In meinem Fall sind dies die Bereiche Religion, Engagement, Freunde, Familie und Arbeit/Schule. Die Abbildungen 1 und 2 weiter unten sind von mir nachbearbeitete Versionen der gemeinsam erstellten ursprünglichen Netzwerkkarten, die die Auffächerung der verschiedenen Beziehungsdimensionen farblich darstellen. Wenn mehrere Beziehungskontexte parallel bestehen, wird in der Netzwerkforschung von Multiplexität gesprochen. Die Verteilung der multiplexen Beziehungen erlaubt Rückschlüsse auf Vernetzungsdynamiken der Akteure in Bezug auf ihr gesamtgesellschaftliches Engagement. Der zeitliche Verlauf ermöglicht Erkenntnisse über die dynamische Entwicklung von Beziehungen. Einige Beziehungen waren in einer früheren Lebensphase prägend und sind es heute weniger, andere sind über lange Zeit stabil und wieder andere entwickeln sich gegenwärtig. Die Karten stellen demnach Momentaufnahmen dar, welche erst durch die Erzählungen über die Alteri mit Bedeutung und Sinn gefüllt werden.
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Bei der Auswertung stütze ich mich neben der Kommunikation während der Netzwerkerhebung auch auf Narrationen aus den Interviews. Aus den Narrationen lassen sich weitere Sinn- und Bedeutungszusammenhänge für vernetzungs- und legitimierungsbezogenes Handeln ableiten. Ich beziehe mich in der Ergebnispräsentation also auch auf Interviewpassagen, in denen über die Beziehungen und Auseinandersetzungen mit anderen berichtet wird. Auch Passagen, in denen sozialethisches (und religiöses) Handeln begründet oder beschrieben wird, sind relevant, da sie Erkenntnisse über die (religiöse) Motivlage zu vernetzungsbezogenem Handeln und deren Legitimierung ermöglichen. Die beiden Beispiele, die ich in diesem Beitrag vorstelle, stammen aus Kreisen ohne Migrationshintergrund. Britta Peters ist Konvertitin und Melissa Presler20 die Tochter einer Konvertitin. Die Interviews wurden zwischen Dezember 2010 und August 2011 geführt. Im Sample meiner gesamten Studie stellen diese beiden Fälle in Bezug auf Migration also Sonderfälle dar, was es im Folgenden zu bedenken gilt. Ausgewertet wird das erhobene Material durch eine in einen iterativen Prozess integrierte Inhaltsanalyse. Dabei orientiere ich mich am Vorgehen von Hopf/Schmidt (1993), nach welchem die Interviews mit Hilfe induktiver Kategorienentwicklung hinsichtlich einer skalierenden Analyse thematisch codiert werden.21 Mit Hilfe der Skalierung werden in einem weiteren Schritt typische wie auch atypische Fälle zur vertieften Analyse ausgewählt und weitere Fälle nach dem an der Grounded Theory angelehnten Prinzip des „theoretical samplings“ erhoben. In der Auswertung werden sich kontrastierende Fälle, die sich aus dem Textmaterial und dem systematischen Vergleich der Netzwerkkarten ergeben, einander gegenübergestellt. Die Erkenntnisse aus dem Religiositätsfragebogen, die Persönlichkeitscharakteristika und weitere sozioökonomische Merkmale fließen in die Codierung, die Skalierung und die Interpretation mit ein. Das Ergebnis ist eine Typologie
20 Die Namen beider Interviewpartnerinnen wurden geändert. 21 Die herausgearbeiteten vorläufigen Kategorien umfassen: Religiosität (hochreligiös, religiös, nichtreligiös), Engagement-Motivation, Engagement-Zugang, Sozialethik, Grenzziehung gegenüber anderen Muslimen, Grenzziehung gegenüber Nichtmuslimen (Gläubige, Nicht-Gläubige), Vernetzungsprozesse, Umgang mit Dissonanz, Medienkritik, religiöse Erziehung, Emanzipationsgrad (Eltern, Geschlecht, Kultur) und Genderbewusstsein.
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möglicher Zusammenhänge zwischen Engagement, Religion und Netzwerkbeziehungen (also Vernetzungs- und Legitimierungsdynamiken) von sozial und zivilgesellschaftlich engagierten Muslimen in Deutschland.
E RGEBNISSE : V ERNETZUNGS -
UND L EGITIMIERUNGSDYNAMIKEN VON ENGAGIERTEN M USLIMEN
In diesem Kapitel stelle ich im ersten Teil die beiden Akteurinnen vor und erkläre, wie die egozentrierten Netzwerkkarten zu verstehen sind. Dies ist die Voraussetzung für den im zweiten Teil folgenden systematisierenden Vergleich der beiden Fälle im Hinblick auf verschiedene Vernetzungs- und Legitimierungsdynamiken. Die Ergebnisse zeigen die Vermittlungsleistung der Akteure als Broker22 zwischen Projekten bzw. Strukturen und als Knotenpunkte für Wissenstransfer zwischen verschiedenen sozialen Kreisen. Neben solchen eher strukturbezogenen Funktionen bringt die Einbettung in Netzwerke auch individuelle Vorteile für die Akteure mit sich. So sind sie Profiteure in Bezug auf die eigene Jobsituation, die sich durch ihr Engagement verbessert hat. Des Weiteren wird die religiöse Legitimierung in Netzwerken gestützt, Motivation für weiteres Engagement durch positives Feedback gegeben sowie die Selbstverortung und das Selbstvertrauen durch die Anbindung an Institutionen gestärkt. Nicht zuletzt entstehen aus gemeinsamem Engagement auch Freundschaften, die von den Akteuren als Gewinn gewertet werden.
22 Unter Broker werden in Anlehnung an Burt (1992: 34) im Folgenden Menschen verstanden, die eine Vermittlerrolle zwischen verschiedenen sozialen und religiösen Kreisen einnehmen. Durch ihre Position haben sie die Möglichkeit, Ressourcen- und Informationsflüsse zwischen Gruppen zu beeinflussen. Vgl. dazu auch den Beitrag von Nelly Schubert in diesem Band.
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Dichte Beschreibung von Engagement und Einbettung anhand egozentrierter Netzwerkkarten Als erstes stelle ich die visualisierten egozentrierten Netzwerke von Britta Peters und Melissa Presler vor, auf die sich die nachfolgenden Ausführungen beziehen. Da ich im methodischen Teil bereits ausführlich auf den Erhebungsprozess und die Operationalisierung eingegangen bin, erkläre ich hier, wie man die Netzwerkkarten auswertet. Danach folgt eine dichte Beschreibung der beiden Fallbeispiele. Um die Anonymität zu gewährleisten, werde ich die Namen einiger Institutionen nicht nennen, sondern umschreibe in diesen Fällen die Tätigkeitsbereiche der Institutionen. Abbildung 1: Egozentriertes Netzwerk von Britta Peters
Im egozentrierten Netzwerk steht Ego, d.h. die interviewte Person (0), im Mittelpunkt. Um das Ego herum gruppieren sich die Alteri, also die von
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Ego genannten Personen (mit Kennzeichnung des Geschlechts; dargestellt als Kreis) und Institutionen (Sammelbezeichnung für Organisationen, Vereine, Gruppen; dargestellt als Quadrat). Die Abbildungen zeigen Ego, Britta Peters (Abb. 1) bzw. Melissa Presler (Abb. 2), mit ihren Alteri sowie die verschiedenen Beziehungsdimensionen zwischen Ego und den Alteri, die ich farblich dargestellt habe. Blau steht für Beziehungen mit direktem Bezug zum Engagement, rot für Beziehungen im Bereich Arbeit oder Schule, orange für freundschaftliche, lila für familiäre und grün für religiöse Beziehungen. Zu sehen sind teilweise multiplexe Beziehungen, wenn Alter und Ego beispielsweise nicht nur zusammen arbeiten, sondern sich auch gemeinsam engagieren und sich über ihre Religion verbunden fühlen und befreundet sind (Bsp. Alter 3 in Abb. 1). In der oberen Hemisphäre befinden sich alle Alteri, die selbst Muslime sind, und in der unteren solche aus nichtmuslimischen Kontexten. Diese Einteilung war nicht immer eindeutig23, beispielsweise ist Institution 11 eine lokal angebundene Initiative aus politisch linken Kreisen, die sich gegen Diskriminierung und antimuslimischen Rassismus einsetzt (im Folgenden lokale Demokratieinitiative genannt), in der sich neben Nichtmuslimen auch sehr viele Muslime engagieren. Aus diesem Grund befindet sich diese Organisation genau auf der Linie zwischen den Hemisphären. Nun stelle ich meine beiden Interviewpartnerinnen vor. Britta Peters bezeichne ich als religiöse Sozialunternehmerin. Sie ist eine deutsche Konvertitin, 45 Jahre alt und hat zwei Kinder: eine erwachsene nichtreligiöse Tochter und einen zwölfjährigen Sohn, der noch zur Schule geht und den sie nach eigenen Aussagen „religiös erzieht“. Sie lebt in einer großen Stadt im Ruhrgebiet, in der sie auch aufgewachsen ist. Sie ist verheiratet mit einem Briten marokkanischer Herkunft, der durch sie seinen Glauben wiederentdeckt habe. Sie hat ihren Weg zum Glauben gefunden, nachdem ihr die politisch linke Phase als „Punk-Girl“ während ihrer Jugend nicht mehr zugesagt hatte, sie in den Ferien in der Türkei den Muezzin hörte und fasziniert war von der tiefen, lebensnahen Religiosität dieser Men-
23 Die Problematik der Hemisphärenteilung wurde auch von Britta Peters angesprochen. Ihr kommt ihr Netz in der Realität „nicht so abgetrennt“ vor, oder ihr sei es „zumindest bisher noch nie aufgefallen“. Die Hemisphärenteilung stellt für sie also eine künstliche Trennung dar und entspricht ihrer Wahrnehmung nur bedingt.
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schen. Britta Peters bezeichnet sich selber als sehr religiös, kennt den Koran gut und reflektiert ihre Handlungen im „Spiegel der Religion“. Sie beschreibt sich als „Gutmensch“, der die Gesellschaft verändern wolle. Ihr Anglistik-Studium hat sie seinerzeit wegen der Geburt ihrer Tochter abgebrochen. Später machte sie eine Ausbildung zur Mediengestalterin und hat mehrere Jahre Erfahrung in diesem Beruf. Im Sommer 2011 schloss sie ihren Bachelor in Sozialer Arbeit im Fernstudium ab und absolvierte ein Praktikum beim Familienbildungswerk des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) (8), über das auch unser Kontakt zustande gekommen ist. Seit vielen Jahren engagiert sie sich in einem lokalen Integrationsverein (7), dessen Hauptzweck es ist, einerseits muslimischen Kindern die arabische Sprache beizubringen und andererseits unterstützende Arbeit im Integrationsbereich zu leisten. Des Weiteren bietet der Verein deutschsprachigen Religionsunterricht an, veranstaltet Vorträge, beteiligt sich im interreligiösen Dialog, möchte Jugendlichen „den Rücken stärken“, unterstützt Frauen und Mütter in Gesprächskreisen und bietet Freizeitangebote für Frauen und Mädchen an. Britta Peters Ziel ist es, diese Arbeit beim Integrationsverein zu professionalisieren24. Damit geht auch ihre Hoffnung auf größere finanzielle Ressourcen für den Verein einher. Zur Zeit des Interviews hegt sie den Wunsch, ein eigenes muslimisches Bildungs- und Begegnungszentrum zu gründen, was sie im Frühjahr 2012 auch getan hat. Dort soll ein geschützter Raum für Frauen und Mädchen geschaffen werden, in dem diese ihre Freizeit verbringen und Bildungs- und Beratungsangebote nutzen können. Ein wichtiges Anliegen ist ihr die Migrationsberatung für Menschen, die neu in Deutschland ankommen und die Strukturen noch nicht kennen. Sie kann sich auch vorstellen, diese Ideen in der Moschee (17) umzusetzen, die sie regelmäßig fürs Gebet besucht und in der sie ab und zu Vorträge hält. Des Weiteren pflegt sie Kontakt zu verschiedenen muslimischen Vereinen und Gruppen wie beispielsweise zum Aktionsbündnis muslimischer Frauen (AmF) (9), zum Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen (BFmF) (10) und zur lokalen Islamischen Studierenden Vereinigung (ISV) (13). Zudem sympathisiert sie mit einer nichtmuslimischen Initiative
24 Zum Aspekt der Weiterbildung von Akteuren um einen höheren Professionalisierungsgrad in den Vereinen zu erreichen vgl. den Beitrag von Frederik Elwert in diesem Band.
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gegen Nazis und engagiert sich gegen antimuslimische Hetze und Diskriminierung (11), was zugleich Thema ihrer Bachelorarbeit war. Abbildung 2: Egozentriertes Netzwerk von Melissa Presler
Melissa Presler bezeichne ich als religiöse Jugendaktivistin. Sie ist 18 Jahre alt, hat im Sommer 2011 ihr Abitur gemacht und wohnt noch zu Hause in einer mittelgroßen Stadt am Rande des Ruhrgebiets. Sie ist die Tochter einer Konvertitin, wurde sehr religiös erzogen, pflegt einen intensiven und innigen Kontakt zu ihrer Mutter und bezeichnet sich selbst als sehr religiös. Sie deutet die Welt religiös und reflektiert alle ihre Handlungen im Kontext der Religion. So ist sie beispielsweise sehr bemüht, möglichst nur nachhaltig produzierte und biologische Nahrungsmittel zu konsumieren. Dieses Verhalten leitet sie aus dem Hadith zur Statthalterschaft ab, welcher besagt, dass Gott alle Dinge und Wesen gefragt habe, wer die Statthalterschaft auf der Erde übernehmen wolle. Schlussendlich habe sich der Mensch bereit erklärt, diese Verantwortung zu übernehmen. Und aus dieser Verantwortung gegenüber allen Wesen und Dingen zieht Melissa Presler die Konse-
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quenz, möglichst in allen Bereichen nachhaltig zu leben. Sie will „die Welt wirklich verbessern“, möchte Verantwortung übernehmen und ihren Beitrag dazu leisten. Sie hat viele verschiedene Ideen, wie sie sich einbringen könnte. Sie stellt sich viele ethische und moralische Fragen, sucht bei Unsicherheiten Rat bei religiösen Autoritäten in ihrem Umfeld und handelt auch in alltäglichen Situationen möglichst nach islamischen Idealen. So hat sie beispielsweise einmal einen jungen Mann zurechtgewiesen, der beim Warten auf eine Bahn ein Plakat abriss und die Fetzen auf den Boden schmiss, dass er diese aufheben, in den Müll werfen und die Umwelt nicht verschmutzen solle. Melissa sucht auch nach fachlichem Rat, beispielsweise um ihre Filmideen voranzutreiben. Sie engagiert sich in ihrer Stadt in verschiedenen nichtmuslimischen Jugendprojekten (13, 19) und wurde für einen ihrer Filme mit einem Preis ausgezeichnet. Melissa ist gleichzeitig in muslimische Vereine und Gruppen involviert, wie beispielsweise im lokalen Ableger der Internationalen Muslimischen Schwestern (IMS) (12) oder dem Netzwerk Zahnräder25 (14), bei dem sie sich 2010 und 2011 mit einem Projekt beworben hat. Das diesjährige Projekt „Zusammen Tun“ hat sie gemeinsam mit ihrem Freund eingereicht, der Mitte August 2011 zum Islam konvertiert ist und den sie im November 2011 heiratete, wie es ihrer Meinung nach die Religion verlangt. Ziel des Projekts ist, dass sich Jung und Alt vernetzen und ein gegenseitiger Austausch entsteht: Jüngere sollen vom Wissen und den Erfahrungen der älteren Generationen profitieren, und umgekehrt bringen die Jüngeren Abwechslung und neue Perspektiven in eintönige Tagesabläufe von Älteren. Konkret stellt sich Melissa vor, dass gemeinsame Spaziergänge, Einkäufe oder Theaterbesuche gemacht und Gespräche geführt werden. Ihre weiteren Pläne zur Zeit des Interviews waren, im Dezember 2011 für ein halbes Jahr nach Südafrika zu fahren, wo sie schon einmal war, und sich dort an einer muslimischen Universität religiö-
25 Das Netzwerk Zahnräder ist ein im Jahr 2010 gegründetes deutschlandweites Netzwerk von aktiven Muslimen in Deutschland. Darin finden sich vorwiegend junge, gebildete und innovative Muslime, die jedes Jahr einen Kongress organisieren. Das Netzwerk bietet nach eigenen Angaben aktiven, engagierten Muslimen aus Wirtschaft, Politik, Medien, Wissenschaft und dem sozialen Sektor eine professionelle Plattform, um sich gegenseitig kennenzulernen und zu unterstützen. Über eine Person aus diesem Netzwerk kam der Kontakt zwischen uns zustande.
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sen Studien zu widmen und sich daneben in Medien- und Schreibprojekten zu engagieren. Dies hat sie zusammen mit ihrem Mann dann auch gemacht. Bis zur Abreise arbeitete sie als Journalistin bei einem unabhängigen, auf ihre Stadt fokussierten Internetmagazin für Jugendliche. Systematisierung: Vernetzungs- und Legitimierungsdynamiken im Vergleich Nachdem die beiden engagierten Musliminnen vorgestellt wurden, folgt die Darstellung einiger Ergebnisse, die sich aus den Netzwerkkarten ableiten lassen. Die Akteure übernehmen einerseits die Funktion von Vermittlern zwischen verschiedenen sozialen Kreisen und müssen andererseits ihr Tun auch legitimieren. Die Vermittlungsleistung der Akteure im Netzwerk besteht darin, dass durch ihre strukturellen Beziehungen Projekte konzipiert und realisiert werden können. Zudem ermöglichen die Akteure in ihrer Position als strukturelle und personelle Vermittler auch einen Wissenstransfer, beispielsweise im Bereich Rassismusprävention, über strukturelle und religiöse Grenzen hinweg. Die engagementbezogene Handlungslegitimierung erfolgt durch ihre religiösen und weltanschaulichen Ansichten, durch positives Feedback auf gelungene Projekte und dadurch wachsendes Selbstvertrauen, durch die ideelle Anbindung26 an Organisationen, deren Arbeit sie begeistert, und nicht zuletzt auch durch die Bildung von Freundschaften, die aus einem Engagement entstanden sind. Es lassen sich Verläufe beschreiben, bei denen die Realisation von Projekten mit bestehenden Netzwerken und/oder mit bestehendem Engagement zusammenhängt. In einigen Fällen bestehen bereits soziale Beziehungen, aus denen sich durch Gespräche und Diskussionen ein Engagement ergibt. Hier kann man davon sprechen, dass das Netzwerk zum Engagement führt. Beispielsweise ergab sich bei Britta Peters aus bereits bestehenden personellen Überschneidungen zwischen dem lokalem Integrationsverein (7) und den Lifemakers27 (12) die Idee eines gemeinsamen Jugendprojekts, das re-
26 Unter ideeller Anbindung verstehe ich die geistige Verbundenheit von Akteuren mit Organisationen oder Vereinen, die über geteilte „Ideologien“ oder Weltanschauungen zustande kommt. 27 Die Lifemakers sind ein sozialer Verein für die Verbesserung der Lebenssituation von sozial Schwächeren und Ausgegrenzten.
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gelmäßige Besuche im Krankenhaus vorsieht, um dort Kindern vorzulesen und mit ihnen zu spielen. In anderen Fällen besteht bereits ein Engagement oder eine Idee für ein solches und es werden dazu förderliche Kontakte gepflegt, intensiviert oder strategisch gesucht. Ein Beispiel dazu ist Britta Peters Idee, ein muslimisches Bildungs- und Begegnungszentrum aufzubauen. Sie hält dazu „ihre Fühler ständig ausgestreckt“ und bemüht sich um eine Intensivierung des Kontakts zur lokalen Demokratieinitiative (11), der ISV (13) und anderen in der Netzwerkkarte nicht aufgeführten Vereinen28. In solchen Fällen kann man davon sprechen, dass das Engagement zum Aufoder Ausbau eines sozialen Netzwerks führt. Es gilt aber zu bedenken, dass die Beschreibung des Verlaufs vom Netzwerk zum Engagement bzw. vom Engagement zum Netzwerk auf einer theoretischen Ebene als idealtypische Abstraktionen zu verstehen sind und empirisch eher ein zyklischer Verlauf rund um die Entstehung eines Projekts zu beobachten ist. So ist Britta Peters auch von einer Bekannten aus dem AmF (9) auf die lokale Demokratieinitiative aufmerksam gemacht worden. Zum AmF ist sie durch ihr Engagement beim BFmF (10) gekommen, das ihre erste Anlaufstelle nach der Konversion war. Die Konversion war bei ihr der Auslöser für den Kontakt mit muslimischen Netzwerken. Weil sie sich von Anfang an auch in diesen Kreisen engagiert hat, entspringt bei ihr streng genommen jedes Engagement dem Netzwerk. Im Folgenden stehen zwei Vermittlungsleistungen von Akteuren in Netzwerken im Fokus. Die erste ist die klassische Broker-Position der Akteure, in welcher sie zwischen Projekten und Strukturen vermitteln. Britta Peters hat beispielsweise ein Familienbildungsprojekt mit Migrantenfamilien des DRK (8) ermöglicht. Das DRK hatte zwar bereitstehende finanzielle Mittel, jedoch mangelte es an Kontakten zur Zielgruppe, die von Britta Peters erst vermittelt wurden. Durch ihr Engagement beim lokalen Integrationsverein (7) hatte sie über die Jahre viele Migrantenfamilien kennen gelernt. Sie hatte in diesem Fall also die Funktion eines Brokers inne, welche symbolische Grenzen des DRK zu Migranten aufzuheben vermochte. Ein zweites Beispiel ist der erwähnte Krankenhaus-Besuch als gemeinsames Projekt zwischen den Lifemakers (12) und dem lokalen Integrationsverein (7). Denn es
28 Diese sind nicht in die Karte eingezeichnet, da Britta Peters sie nicht als relevant genug einschätzte.
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war Britta Peters, über die diese beiden Organisationen miteinander vernetzt wurden. Britta Peters Funktion bestand darin, die beiden Gruppen einzuladen und gemeinsam die Idee weiter voranzutreiben. Sie war der Initiator und delegierte die Planung des Projekts. Im Folgenden lenke ich das Augenmerk auf die Frage, von welchem – muslimischen oder nichtmuslimischen – Netzwerk aus neue Kontakte, Potenziale und Vorteile in das jeweils andere Netzwerk generiert werden. Es zeigt sich, dass dies aus nichtmuslimischen wie auch aus muslimischen Netzwerken heraus geschieht. So zum Beispiel bei Britta Peters, deren Beziehungen zur lokalen Demokratieinitiative (11) zu ihrem Wunsch führen, dort vorhandenes antirassistisches Knowhow in ihre Moschee (17) und ihr geplantes muslimisches Bildungs- und Begegnungszentrum zu tragen. Hier lässt sich eine zweite Vermittlungsleistung der Akteure erkennen, und zwar der gegenseitige Austausch von Wissen zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Netzwerken. Es kommt also zu einem Knowhowtransfer über strukturelle und symbolische Grenzen hinweg. Weitere Beispiele für Wissenstransfer sind die Vorträge, die Britta Peters in muslimischen und nichtmuslimischen Organisationen hält und dass sie ihr Wissen als gelernte Mediengestalterin nutzt und Flyer für muslimische Vereine designt. Es gibt aber auch den Fall, dass durch das Engagement in muslimischen Organisationen vorteilbringende Kontakte zu nichtmuslimischen Organisationen entstehen. So ist Melissa Presler heute stark in ein lokales Projekt zur Förderung des sozialen Engagements von Jugendlichen (13) involviert. Dazu kam es, weil sie auf einer Veranstaltung des Netzwerks Zahnräder, also einer muslimischen Organisation, für einen sogenannten „Think & Do Tank“ nominiert wurde, dessen Ziel es war, lokale Jugendinitiativen zu unterstützen und zu fördern. Bei diesem „Think & Do Tank“ hat Melissa Presler die Leiterin (5) des nichtmuslimischen Projekts zur Förderung des sozialen Engagements von Jugendlichen (13) kennen gelernt. Die beiden sind mittlerweile gute Freundinnen geworden und haben bereits mehrere gemeinsame Projekte realisiert. Ein weiterer Aspekt der Vermittlungsbeziehungen ist das persönliche Profitieren der Akteure. Dies zeigt ein Blick auf deren Jobsituation, die sich durch das Engagement verbessert hat. So hat Britta Peters durch ihr Praktikum beim DRK (8) im Rahmen ihres Studiums und dem so entstandenen persönlichen Kontakt zu einer Verantwortlichen des DRK (4) eine Arbeitsstelle bei einem Verein gefunden, der sich für gesunde Ernährung und Bil-
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dung von Kindern und Jugendlichen (18) einsetzt. Melissa Presler hat durch ihr Engagement beim lokalen Medienprojekt (19) und ihren guten Kontakt zur Leiterin des Projekts (6), die sie wiederum von einem lokalen Projekt zur Förderung des sozialen Engagements von Jugendlichen (13) kennt, ihren journalistischen Zwischenjob bei einem städtischen Internetjournal für Jugendliche gefunden. Diese Beispiele zeigen, dass sich unbezahltes Engagement unter Umständen in bezahlte Arbeit umwandeln lässt. Die nötigen Beziehungen kamen über gute persönliche Kontakte zustande, welche ihrerseits weitere Kontakte zu anderen Institutionen ermöglichen.29 Dieser Aspekt ist keine eigentliche Vermittlungsleistung der Akteure, sondern das Resultat von solchen. Zusammenfassend halte ich fest, dass Akteure verschiedene strukturelle und symbolische Vermittlungsleistungen übernehmen. Einmal als klassischer Broker, um Kontakte zwischen Institutionen herzustellen, und einmal als Knowhow-Vermittler, indem die Akteure einen Wissenstransfer über strukturelle und symbolische Grenzen hinweg ermöglichen. Der Vermittlungsprozess kann dabei vom Engagement in beiden Netzwerken – nichtmuslimischen oder muslimischen – ausgehen und die Akteure bauen Brücken zum jeweils anderen Netzwerk auf. Der Aspekt der Jobvermittlung zeigt die Früchte solcher Vermittlungsbeziehungen, die den Akteuren persönlich zu Gute kommen. Im Folgenden fokussiere ich Aspekte der individuumsbezogenen Handlungslegitimierung, die jedoch mit der Einbettung von Akteuren in soziale Netzwerke zusammenhängen. Hier geht es weniger um die Frage der Vermittlung und Vernetzung, sondern darum, wodurch die Akteure ihr Handeln legitimieren und aufrechterhalten. Religiöse und weltanschauliche Ansichten prägen und mobilisieren das Engagement und die Arbeit der Akteure. Für Britta Peters ist der Islam ein „Glaube der Tat“, was sie bewog, ihre Überzeugungen aktiv zu leben und zu handeln. Sie tauscht sich mit Vertrauenspersonen in ihrem Netzwerk über ihren Glauben aus. So zum Beispiel mit ihrer Freundin (2), mit der sie über „fast alles“ spricht, die auch beim lokalen Integrationsverein (7) engagiert ist und mit der sie zusammen das muslimische Bildungs- und Begegnungszentrum gründen möchte. Einen weiteren intensiven Austausch führt
29 Vgl. hierzu die Studie „Getting a Job“ von Granovetter (1974).
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sie mit einer etwas entfernten Freundin (6), die ebenfalls Konvertitin und überaus engagiert ist. Diese Freundin publiziert in deutschlandweiten Zeitungen, hält viele Vorträge zu Themen rund um Fremden- und Muslimfeindlichkeit, institutionellen Rassismus und Rechtsextremismus und arbeitet als Ärztin und Psychologin. Britta Peters bezeichnet sie als „Hansdampf in allen Gassen“, sie sei voller Ideen und Humor. Weil die Freundin in Bayern wohnt, sehen sich die beiden aufgrund der großen Distanz nur sehr selten, telefonieren dafür aber wöchentlich mehrmals mindestens eine Stunde. Für Britta Peters ist sie eine „Inspirationsquelle“ für Projekte und Ideen, aber auch in Bezug auf religiöse Fragen. Die beiden diskutieren nicht nur über rechtliche und institutionelle Fragen zum Thema Muslime in Deutschland, sondern auch über ihren Glauben. Auch Melissa Presler tauscht sich oft und gerne mit anderen über ihren Glauben aus. Am häufigsten mit ihrer Mutter (2), die für sie der „Hauptmotivator eigentlich für alles“ ist. Dann auch mit der meist in Südafrika lebenden Freundin ihrer Mutter (7), die es schafft, „die Brücke zu schlagen zwischen meinen Tätigkeiten und der Religion“. Außerdem auch mit ihrer engen Freundin (1), mit der sie „über alles spricht“ sowie mit dem Jugendverantwortlichen ihrer Moschee (18). Melissa Presler reflektiert ihre Handlungen im Spiegel ihrer Religion und fragt sich oft, ob ihre Taten im „Sinne der Religion“ seien. Sie erzählt, dass ihre Mutter ihr beigebracht hätte, dass man sich um seine Umwelt kümmern müsse, um „die Menschen und das Umfeld“ und dass man die Mitmenschen mit „Respekt und Höflichkeit“ behandeln soll. Ihr Engagement begründet sie mit der Verantwortung des Menschen gegenüber den Lebewesen und Dingen und verweist auf den weiter oben erwähnten Hadith zur Statthalterschaft. Melissa sieht sich in der Pflicht, diese Verantwortung anzunehmen und mit Rücksicht auf die Umwelt zu leben. Ihr Umfeld bzw. ihr Netzwerk lässt sich als sozioreligiöse Formation bezeichnen, weil ihre Handlungen und die Strukturen keinesfalls „sinnfrei“ oder zufällig sind, sondern sich die Handlungs- und Legitimationsoptionen der Akteure an diesen Formationen orientieren. Wenn es Situationen gibt, in denen sich Melissa Presler unsicher ist, fragt sie nach Rat. Das Netzwerk hat für sie also eine Ratgeber- oder Mentoring-Funktion in Bezug auf religiöse Angelegenheiten. Aber auch bei nichtreligiösen Fragen greift Melissa Presler gerne auf die fachliche Kompetenz in ihrem Netzwerk zurück. So berät sie sich gerne mit einem Freund (20) über Fil mideen, der sich in solchen Angelegenheiten sehr gut auskenne.
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Eng damit verknüpft ist der zweite Aspekt, den ich hervorheben möchte, nämlich dass im Netzwerk positives Feedback für gelungene Projekte oder gute Ideen kommuniziert wird und dadurch die Motivation für weitere Projekte steigt sowie auch das fachliche wie religiöse Selbstvertrauen wächst. So haben Melissa Presler und ihr Filmpartner (20) für ihren ersten Film „Was glaubst du“ im Rahmen des städtischen Medienprojekts (19) einen Preis gewonnen und wurden daraufhin zur Zusammenarbeit für einen Film über Armut in der Türkei eingeladen. Nun überlegt sie, sich auch in Zukunft dem Medium Film zu widmen. Melissa lässt sich demnach von guter Kritik für ihre persönlichen Zukunftspläne inspirieren. Auch Britta Peters bekommt gerne positives Feedback, sie braucht es jedoch nicht, um neue Projekte in Angriff zu nehmen, wie sie selber sagt. Ihr Selbstvertrauen ist groß und sie sei „voller Energie“ für neue Herausforderungen. Wichtiger als die Stärkung ihres Selbstvertrauens scheint bei ihr die ideelle Anbindung an Institutionen zu sein, von deren Arbeit sie begeistert ist und von denen sie hofft, „dass etwas von deren Glanz auf uns abfärbt“. Durch ihre Vernetzung mit Institutionen auf dieser ideellen Ebene überbrückt sie symbolische Grenzen. Ein Beispiel hierfür ist die lokale Demokratieinitiative (11), von deren Arbeit sie überzeugt ist und mit der sie in Zukunft gerne enger zusammenarbeiten möchte. Bei der Erstellung der Netzwerkkarte erwähnt sie vergleichsweise wenige Personen, sondern mehr Institutionen. Dadurch sichert sie sich eine langfristige Zusammenarbeit (nicht nur auf ideeller Ebene), die auch das Ausscheiden einzelner Personen aus den Institutionen überdauert. Ein letzter Punkt ist die Bildung von Freundschaften, die aus einem Engagement entstanden sind, welche dann auch zu gemeinsamen Projekten geführt haben bzw. führen. So plant Melissa Presler mit ihrer Freundin (1), die sie seit langem kennt und die ebenfalls bei den IMS (12) aktiv ist, gemeinsam mit Islamic Relief Deutschland eine Bildungsveranstaltung für mehr Umweltbewusstsein und Nachhaltigkeit für Jugendliche. Eine weitere Freundschaft hat sich zur jungen Frau (5) ergeben, die das lokale städtische Jugendprojekt zur Förderung von Engagement leitet. In anderen Fällen bestehen die Kontakte seit der Schulzeit (3, 8, 20, 21), und intensivieren sich durch das gemeinsame Engagement. Auch bei Britta Peters intensivierten sich Freundschaften durch das Engagement, so vor allem zu ihrer jetzt „besten“ Freundin (3).
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Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass religiöse und weltanschauliche Ansichten das Engagement legitimieren, dass positives Feedback auf gelungene Projekte zu weiterem Engagement motiviert, dass das Selbstvertrauen wächst und dass im Netzwerk fachliche und religiöse Mentoringbedürfnisse befriedigt werden. Des Weiteren übernimmt die ideelle Anbindung an Organisationen, von deren Arbeit die Akteure begeistert sind, die Funktion eines ideellen Ankers und schließlich schafft die Bildung von Freundschaften Vertrauen, das weiteres Engagement begründen kann.
F AZIT
UND
AUSBLICK
Ausgehend von der Frage nach Interaktionen von Akteuren in unterschiedlichen sozialen und religiösen Kreisen bzw. ihren Vermittlungsleistungen und Legitimierungsprozessen griff ich in meinem Beitrag auf Überlegungen rund um engagementbedingte Netzwerkbildung, auf die religiöse Motivation für Engagement und auf Prozesse symbolischer Grenzziehung zurück. Als sozioreligiöse Formationen bilden Netzwerke nicht zufällig Strukturen aus, sondern entwickeln sich aus Interaktionen. Mein besonderer Fokus lag deshalb weder auf individuellen Handlungsstrategien noch auf strukturdeterminierten Verhaltensoptionen, sondern auf Interaktionen in Netzwerken, also auf den Beziehungen zwischen Individuen und Strukturen. Anhand einer Analyse der Prozesse, die zur Realisation eines Projektes oder Kontaktes führen, konnte ich zwei Vermittlungsleistungen von sozial und zivilgesellschaftlich engagierten Muslimen aufzeigen: Als klassische Broker sorgen sie erstens dafür, dass Strukturen und symbolische Grenzen überbrückt und Projekte mit geeignetem Personal und anderen notwendigen Ressourcen (Finanzen, Knowhow) realisiert werden können. Zweitens leisten die Akteure einen Wissenstransfer über strukturelle und symbolische Grenzen hinweg, beispielsweise wenn jugendlichen Muslimen Rassismusprävention nähergebracht wird. Als Folge der Vermittlungsdynamik eröffnet die Position im Schnittpunkt verschiedener sozialer und religiöser Kreise den Akteuren weitere Optionen in neuen Netzwerken, beispielsweise indem Akteuren finanzierte Arbeitsstellen vermittelt werden (Sozialkapital). Auf diese Weise profitieren sie von ihrem Engagement auf unmittelbar persönliche Art und Weise.
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Neben diesen Funktionen beinhaltet die Einbettung in Netzwerke auch individuumszentrierte Dynamiken, die sich positiv auf das persönliche Wohl wie auch das Engagement der Akteure auswirken. So wird die religiöse Legitimierung (von Engagement und Handeln) in GleichgesinntenNetzwerken gestützt und durch Abgrenzungen von anderen Muslimen oder Nichtmuslimen die eigene Identität gefestigt. Positives Feedback motiviert zu weiterem Engagement und stärkt das Selbstvertrauen. Es beeinflusst sogar die Zukunftspläne der Akteure. Netzwerkbeziehungen dienen des Weiteren als Quelle für fachliches und religiöses Mentoring, um eigene Unsicherheiten mit fachlicher (religiöser, filmischer etc.) Kompetenz zu kompensieren. Die ideelle Anbindung an Institutionen dient der Selbstverortung in einem unübersichtlichen sozioreligiösen Feld. Nicht zuletzt entstehen aus einem gemeinsamen Engagement persönliche Freundschaften, die von den Akteuren als Gewinn gewertet werden. Diese Vorteile beflügeln das Engagement und motivieren, weiterhin verschiedene Vermittlungsleistungen zu erbringen. Neben diesen individuellen Vorteilen stützt die religiöse Handlungslegitimierung die Motivation für Engagement. Es ist aber auch vorstellbar, dass sich Akteure aufgrund des großen Aufwands, lästiger Diskussionen über ihre religiöse Identität oder schlicht durch mangelnde finanzielle und zeitliche Ressourcen aus einem Engagement zurückziehen. Dies gilt es im weiteren Verlauf der Forschung zu prüfen, indem Interviewpartner gesucht werden, die sich früher engagierten und dann aufhörten. Ein weiterer Aspekt, den es im Verlauf der Forschung zu berücksichtigen und zu reflektieren gilt, ist die Frage nach der Rolle des Migrationshintergrunds der Akteure. Denn es stellt ein Spezifikum des vorliegenden Beitrags dar, dass es sich bei den gewählten Beispielen um zwei Frauen ohne Migrationshintergrund handelt. Sie sind zwar durch ihre muslimische Religiosität in durch Migranten geprägte Netzwerke eingebunden und kennen sich mit deren Migrationssituation in Deutschland aus. Es ist anzunehmen, dass sie im Gegensatz zu Migranten bürokratische Strukturen und soziale Gepflogenheiten besser kennen und dadurch weniger stark institutionellen oder sprachlichen Hürden ausgesetzt sind. Gleichzeitig aber werden sie durch das Tragen eines Kopftuchs zum Teil als Migranten wahrgenommen und auch diskriminiert. Britta Peters erzählt, dass sie sich durch das Kopftuch „aus der Gesellschaft herauskatapultiert“ habe und seitdem als fremd wahrgenommen werde. Dies habe sich zum Beispiel bei der Suche nach ei-
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ner Praktikumsstelle gezeigt. Die Konvertitin bzw. die Tochter einer Konvertitin sehen sich also verschiedenen Zuschreibungen aus unterschiedlichen sozialen und religiösen Kreisen ausgesetzt. Dies gilt es im weiteren Forschungsverlauf zu beobachten. Ein weiterer (Kreuz-)Vergleich mit engagierten christlichen Deutschen und Migranten würde erstens Aufschluss darüber geben, inwiefern muslimisch Engagierte im Vergleich zu anderen religiös Engagierten Spezifika aufweisen und zweitens Erkenntnisse über die durch die Migrationssituation bedingten Vermittlungs- und Handlungsoptionen ermöglichen. Auch bezieht sich mein Beitrag auf zwei Engagierte im Sozial- und Jugendbereich. Bei muslimisch Engagierten aus anderen Bereichen wie beispielsweise Gewerkschaften oder Politik erwarte ich weitere abweichende Vermittlungsleistungen vorzufinden. Des Weiteren verspricht die zunehmende Varianz der persönlichen Religiosität im Sample Erkenntnisse zur Handlungslegitimierung. Bisher kann festgehalten werden, dass die beiden sozial engagierten Musliminnen in Hinblick auf den Umgang mit religiöser und institutioneller Differenz in verschiedenen religiösen und sozialen Kreisen vielschichtige Vermittlerrollen einnehmen, die im Kontext sozio-religiöser Formationen zu verstehen sind.
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IN DEN ÖFFENTLICHEN
R AUM
Religiöse Pluralität in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern ist vor allem durch den „zugewanderten“ Islam geprägt. Mit ca. vier Millionen Muslimen1, davon die meisten türkeistämmig, ist der Islam die größte Minderheitenreligion in Deutschland. Die religiöse Vergemeinschaftung vollzieht sich bei den praktizierenden Muslimen in Form von Moscheevereinen, die entweder selbstständig, oder in verschiedenen Dachverbänden zusammengeschlossen sind (z.B. DITIB2, VIKZ3, IGMG4). Eine der wichtigsten Aufgaben der muslimischen Vereine ist die Bereitstellung und Unterhaltung von Moscheen. Dort finden neben der Verrichtung des Gebets
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Die hier lebenden Muslime unterscheiden sich häufig hinsichtlich ihrer Nationalität, dem Religiositätsgrad, der politischen und religiösen Ausrichtung und der Konfession. Unter den muslimischen Migranten bilden die Sunniten die Mehrheit (74%), gefolgt von den Aleviten (13%) und den Schiiten (7%) (vgl. BMI/DIK 2009: 3).
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Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.
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Verband der Islamischen Kulturzentren e.V.
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Islamische Gemeinschaft Millî Görüú.
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und religiöser Unterweisung diverse soziale Aktivitäten wie Feierlichkeiten und Hausaufgabenhilfe statt (vgl. Spielhaus/Färber 2006; vgl. Ceylan 2008). Moscheen als soziale und religiöse Zentren der Gemeinden waren in der Vergangenheit für die deutsche Gesellschaft weitgehend „unsichtbar“ und allenfalls an Eingangsschildern erkennbar. Doch seit den 90er Jahren errichten Moscheevereine zunehmend größere, multifunktionale, nach außen erkennbare – zum Teil sehr repräsentative – Moscheen und treten dadurch in die öffentliche Wahrnehmung. Die Errichtung neuer Moscheen kann zum einen durch den demografischen Wandel innerhalb der Gemeinde (Erreichen des Rentenalters, Nachwuchs im Jugendalter) und den damit verbundenen Wünschen nach angemessenen Aktivitäten und Räumlichkeiten in der Moschee erklärt werden. Als weitere Gründe können das gestiegene Selbstbewusstsein, die bessere Ressourcenausstattung und das nötige Know-how (Behördenwissen, Sprachkenntnisse) der zweiten Generation genannt werden, die mittlerweile Positionen in den Vorständen der Vereine besetzt. Zudem wird diese Entwicklung als Entscheidung der Muslime gewertet, dass sie in Deutschland bleiben werden und in ihrer muslimischen Identität von der Mehrheitsgesellschaft anerkannt werden wollen (vgl. Kapphan 2004; vgl. Ceylan 2008: 177). In vielen Fällen, in denen ein Antrag auf die Errichtung einer Moschee gestellt wird, kommt es zu Widerständen und Konflikten5 mit Teilen der Bevölkerung oder Vertretern der Stadt. Generelle Vorbehalte gegenüber dem Islam werden auf die Moschee projiziert, „Überfremdungsängste“ geweckt und „islamische Landnahme“ befürchtet (Leggewie 2009: 118; vgl. Schmitt 2003: 122f.). Deshalb sehen sich Moscheegemeinden vor der Herausforderung, Anerkennung für ihre Bauvorhaben erwerben zu müssen. Im Gegensatz zu anderen Debatten, die im Kontext der Etablierung des Islam in Deutschland geführt werden, wie beispielsweise über die Einführung des Islamunterrichts an Schulen oder das Kopftuchverbot, finden die Auseinandersetzungen um Moscheebauten lokal verdichtet statt. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags beschäftige ich mich mit ebensolchen Auseinandersetzungen und ihren Folgen für die Beziehungen zwi-
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Unter Konflikt wird im Folgenden eine Situation verstanden, in der unterschiedliche und nicht vollumfänglich vereinbare Interessen und Situationsdeutungen aufeinander treffen und öffentlich thematisiert werden.
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schen Moscheegemeinden und ihrer Umwelt. Im nächsten Abschnitt stelle ich zunächst die bisherigen Forschungsergebnisse zu diesem Thema6 vor und lege einige theoretische Überlegungen für die empirische Analyse dar.
F ORSCHUNGSTAND Ü BERLEGUNGEN
UND THEORETISCHE
Über die Errichtung und Unterhaltung von repräsentativen Moscheen sind in Deutschland und anderen europäischen Ländern in den letzten Jahren viele Arbeiten erschienen. Claus Leggewie (2009) ist in seinen Studien in erster Linie am Ablauf von Konflikten interessiert. Aus seinen Fallstudien zu Moscheebauprojekten7 folgert er, dass unter anderem die Unterstützung von lokalen Politikern und die „Führungskraft lokaler Autoritäten“ (Leggewie 2009: 179) für den reibungslosen Verlauf eines Moscheebauprojekts von großer Bedeutung sind. Dies scheint besonders wichtig, zumal Leggewie et al. (2002) in einer früheren Studie einen großen gesetzlichen Ermessensspielraum bei der Interpretation des Baurechts festgestellt haben. Diesen Ermessensspielraum versteht Jörg Hüttermann (2003, 2006) als ein Spannungsverhältnis zwischen Gastrecht und staatsrechtlichen Regelungen. In seiner „gegenstandsnahen Analyse“ (ebd. 2006: 9) betrachtet er die innere Dynamik und Verlaufsform von Konflikten um islamische Symbole und setzt diese mit einem „Inkorporationsritual“ (ebd.: 2006: 151) gleich, bei dem die Etablierten den Außenseitern Zugang zur Gemeinschaft durch die architektonische Repräsentanz gewähren. Die Gründe, aus denen es zu Widerständen gegen diese Repräsentanz kommt, werden von Thomas Schmitt (2003) in seiner umfassenden sozialgeografischen Arbeit systematisiert und in „raumbezogen-städtebauliche“, „ethnisch-kulturelle“ und „religionsbezogene“ Gründe kategorisiert. Demgegenüber geht es bei dem eher praxisorientierten Beitrag von Johanna Schoppengerd (2008) darum, Handlungsfelder beim Moscheebau für Kommunen zu identifizieren. Als
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Hier stelle ich nur die für mein Forschungsinteresse entscheidenden Studien dar. Ein umfassender Überblick über alle zu diesem Thema erschienenen Forschungsprojekte würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
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Im Folgenden werden unter dem Begriff „Moscheebauprojekt“ sowohl die Planung, Aushandlung wie auch der eigentliche Bauprozess gefasst.
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einen wichtigen Faktor für den Erfolg eines Moscheebauprojekts bzw. für einen konstruktiven Verlauf identifiziert sie die Schaffung von Transparenz und die Beteiligung der Öffentlichkeit möglichst am gesamten Prozess. Annähernd alle Studien in diesem Themenfeld teilen bestimmte konflikttheoretische Annahmen: So wird das Bestehen oder die Planung eines Gebäudes stets im Zusammenhang mit der Teilhabe am öffentlichen Raum betrachtet (vgl. Hüttermann 2006: 156). Das Betreten des öffentlichen Raums wird als ein Hinterfragen der bisherigen identitätsaffirmativen Rangordnung aufgefasst und als ein Anerkennungskonflikt für die Muslime gedeutet (vgl. Schmitt 2003; vgl. Hüttermann 2006; vgl. Hohmann 2003). Die Autoren stellen fest, dass es im Rahmen der Konflikte häufig zu intensiven und vielfältigen Interaktionen bzw. zu einer Vernetzung zwischen der Moscheegemeinde und ihrer Umwelt kommt (vgl. Schmitt 2003; vgl. Leggewie 2009; vgl. Hüttermann 2006). In der Konfliktsituation werden die Akteure dazu animiert, die eigene Perspektive für das Gegenüber zu präsentieren und sich gleichzeitig mit dessen Anliegen zu befassen. So wird in der Tradition Georg Simmels (1908) und Lewis Cosers (2009) den lokalen Auseinandersetzungen eine integrative Wirkung attestiert („Integration durch Konflikt“, vgl. Leggewie 2009: 123; vgl. Schmitt 2003: 34). Neben der Befolgung von Regeln und einer liberal-demokratisch verfassten Gesellschaft ist die Teilbarkeit von Konfliktgegenständen eine wichtige Grundlage für die Entfaltung einer integrativen Wirkung. Ein teilbarer Konfliktgegenstand macht es möglich, partiell auf die Forderungen anderer einzugehen (z.B. bezüglich der Lautstärke des Muezzinrufs oder der Minaretthöhe), Teile der eigenen Forderungen durchzusetzen und schließlich einen Konsens zu finden (vgl. Leggewie 2009: 122f.). Aus den genannten Studien wird ersichtlich, dass die Errichtung einer Moschee neben den üblichen stadtplanerischen und baurechtlichen Aufgaben auch Überzeugungsarbeit innerhalb der Stadtgesellschaft erfordert und der Moscheebauprozess Einfluss auf die Beziehungen zwischen dem Bauherren und seiner Umwelt haben kann. Bisher wurden primär die Verhandlungen bzw. Konflikte um Symbole untersucht. Moscheebau geht allerdings auch einher mit dem Entstehen zusätzlicher Infrastruktur innerhalb der Gemeinde wie beispielsweise Unterrichtsräume für Kinder oder Aufenthaltsräume, auf die in der Stadtgesellschaft sehr unterschiedlich reagiert wird. Insofern geht es bei den lokalen Auseinandersetzungen neben der Gewährung von Sichtbarkeit im öffentlichen Raum auch um die Erlangung
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einer (kulturellen) Autonomie. Diesen ebenso wichtigen wie vernachlässigten Aspekt8 nimmt mein Beitrag verstärkt in den Fokus. Dabei wird argumentiert, dass es im Kern der Moscheebaukonflikte um die Aushandlung von Legitimität der muslimischen Vorhaben bezüglich ihrer Sichtbarkeit und des Ausbaus einer eigenen Infrastruktur geht. Für diese theoretische Blickrichtung bieten sich insbesondere neo-institutionalistische Überlegungen zur Legitimität von Organisationen an. Hiernach werden Organisationen als sozial und politisch eingebettete Akteure verstanden (vgl. Powell 2007: 1). Besonderen Stellenwert im Neo-Institutionalismus hat die Legitimität9 von Akteuren. Laut Ludger Pries ist diese Perspektive vor allem für Erforschung von Migrantenorganisationen geeignet, da sie sich „in aller Regel in einem sehr komplexen Umfeld bewegen, in dem sie sich gegenüber vielfältigen Anspruchs- und Erwartungsgruppen legitimieren müssen“ (Pries 2010: 39). Die Schaffung und Erhaltung von Legitimität sind für das Fortbestehen und Funktionieren von Organisationen unverzichtbar (vgl. Suchman 1995; vgl. Meyer/Rowan 1997). Legitimität definiert Marc Suchman als eine “generalized perception or assumption that the actions of an entity are desirable, proper, or appropriate within some socially constructed system of norms, values, beliefs, and definitions” (Suchman 1995: 574). Das Konzept systematisiert er aus seiner Gesamtschau der Literatur, indem er diverse Aspekte der Legitimität herausarbeitet und Strategien zu ihrer Erlangung vorstellt. Für die Beschreibung des Moscheebaukonflikts und die Herausstellung der legitimationstheoretischen Implikationen greife ich auf das soeben dargestellte Konzept von Suchman zurück. Zur besseren empirischen Handhabbarkeit beziehe ich mich dabei auf die für mein Forschungsinteresse relevanten Aspekte. Zunächst weist Suchman darauf hin, dass jede Innovation aufgrund ihrer Unbekanntheit Akzeptanzprobleme hat („liability of newness“, ebd.: 586). Er identifiziert zwei unterschiedliche Forschungsrichtungen, die sich mit Legitimität bzw. Schaffung von Legitimität beschäfti-
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Eine Ausnahme in Bezug auf die Angebote innerhalb der Moscheen stellt
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Auf das Konzept der Legitimität sind in der Soziologie u.a. schon Weber (1980),
Thomas Schmitt (2003) dar. Parsons (1960) sowie Luhmann (2000) eingegangen. Neoinstitutionalistische Ansätze haben hingegen den Begriff der organisationalen Legitimität geprägt (vgl. z.B. Meyer/Rowan 1977; vgl. DiMaggio/Powell 1983).
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gen: Es gibt „strategic approaches“, die den Schwerpunkt auf die strategische Bedeutung von Legitimität legen und sie als eine Ressource unter vielen bei der Verfolgung von Zielen der Organisation betrachten (ebd.: 575f.). Im Unterschied dazu unterstreichen die „institutional approaches“ die Legitimität in Form von Glaubensinhalten der Umwelt, die auch die Ziele und Struktur der Organisationen durchdringen und über das individuelle strategische Handeln der Organisation hinaus ihre Wirkung entfalten (ebd.: 575). Legitimität wird so als ein sozial konstruierter bzw. – wenn man die dynamische Dimension hinzunimmt – sich konstruierender Zustand verstanden. Suchman versucht eine Zwischenperspektive einzunehmen, indem er auf der einen Seite „dilemmas that focal organizations may face in managing their symbolic relationships with demanding constituents“ (ebd.: 577) und auf der anderen Seite die Einflüsse des kulturellen Umfelds als konstitutiv für die Organisation betrachtet und die Gestaltungsmöglichkeit einzelner Organisationen hinterfragt. Weiterhin unterscheidet Suchman zwischen der Schaffung („gaining legitimacy“, ebd.: 587) und Erhaltung („maintaining legitimacy“, ebd.: 593) von Legitimität, was deutlich macht, dass Legitimität ein dynamisches Konzept ist und die Bewertung einer Organisation durch ihr Umfeld Veränderungen unterworfen sein kann. Dabei stellen sich für eine Organisation bei der Legitimierung entweder Konformität („conformity“, ebd.: 587), also die Erfüllung der von außen herangetragenen Erwartungen, oder aber eine aktive Intervention („manipulation“, ebd.: 591) als Optionen dar, im Rahmen derer der Umwelt „new explanations of social reality“ (ebd., Herv. i.O.) aufgezeigt werden. Zudem unterscheidet Suchman zwischen einer „pragmatischen“ („pragmatic legitimacy“ ebd.: 578) und einer „moralischen Legitimität“ („moral legitimacy“, ebd.: 579). Bei einer „pragmatischen Legitimität“ geht es in erster Linie um einen unmittelbaren Nutzen für die bewertenden Akteure aus der Umwelt der Organisation, der sich für sie aus dem Organisationshandeln ergibt. Bei der „moralischen Legitimität“ geht es um die Frage, ob die Organisation bestimmte moralische, übergeordnete Anforderungen (z.B. dem Allgemeinwohl zu dienen) erfüllt und dadurch mit den normativen Orientierungen der Akteure korrespondiert (ebd.: 579). Wendet man die Überlegungen von Suchman auf Moscheebaukonflikte an, ergeben sich zwei Fragestellungen:
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1. Wie wird Legitimität von einem anfangs umstrittenen Moscheebauprojekt in der Stadtgesellschaft sowohl auf der Handlungs- wie auch auf der semantischen Ebene hergestellt? 2. Welchen Einfluss haben die Aushandlungen der Legitimität auf die Vernetzung der muslimischen Gemeinde und vice versa? Gibt es eine Integration durch Konflikt? Der Schwerpunkt liegt also auf den Interaktionen und der Dynamik zwischen Akteuren. Im Folgenden werde ich auf die genannten Fragen eingehen und die konzeptionellen Überlegungen zur Legitimität anhand einer Fallstudie überprüfen. Zunächst stelle ich mein methodisches Vorgehen vor.
M ETHODISCHES V ORGEHEN Der hier vorliegende Beitrag ist Teil eines Dissertationsprojekts, das Moscheebauprojekte und ihre Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Moscheegemeinde und ihrer städtischen Umwelt in mehreren Städten der Ballungsregion Rhein/Ruhr untersucht. Die vorliegenden Ausführungen beziehen sich auf ein Moscheebauprojekt der arabischen Al-Muhajirin Gemeinde in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn. Im ersten Abschnitt habe ich dargelegt, dass muslimische Gemeinden aufgrund der Vorbehalte gegenüber dem Islam skeptisch betrachtet werden. Dies trifft insbesondere für Bonn zu, da dort eine Propagierung islamistischer Inhalte in der seit 1995 bestehenden Fahd Akademie und in einigen anderen Moscheen stattgefunden haben soll (vgl. Das Erste 02.10.03; vgl. Express 20.01.11). Das Moscheebauprojekt der Al-Muhajirin Gemeinde war nicht zuletzt aufgrund dieser Umstände besonders umstritten. Da es nach einer Phase des Widerstandes dennoch zu einer einvernehmlichen Lösung kam, ist es für das Ziel des Beitrags, den Prozess der Legitimierung nachzuvollziehen, besonders lohnenswert, genau diesen Fall zu vertiefen. Der primäre Zweck einer Fallstudie ist es, möglichst detailliert den sozialen Sachverhalt zu erfassen und die dahinter liegenden Mechanismen zu rekonstruieren. Für die Datenerhebung eignet sich insofern eine Kombination aus unterschiedlichen Erhebungsmethoden (vgl. Lamnek 2005: 299). Aus diesem Grund habe ich eine Zeitungs- und Dokumentenanalyse sowie drei Experteninterviews durchgeführt. Die Zeitungsanalyse umfasste die
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Berichterstattung des Bonner Generalanzeigers (GA), der Zeitung mit der höchsten Auflage vor Ort. Das Studium der Zeitungsartikel gab eine erste Orientierung über den Ablauf des Moscheebauprojekts und die daran beteiligten Akteure. Auf dieser Grundlage identifizierte ich potenzielle Interviewpartner und entwickelte einen Interviewleitfaden. Für die Kenntnis der Sachverhalte und die Analyse der Perspektiven beteiligter Akteure, habe ich zusätzlich auf Dokumente des Ratsinformationssystems10 zurückgegriffen. Darunter befinden sich Stellungnahmen von Fraktionsmitgliedern des Stadtrats, Beschlussvorlagen der Verwaltung im Zusammenhang mit dem Moschee-Genehmigungsverfahren sowie die damit verbundene Grundsatzerklärung der Moscheegemeinde. Beide Datenquellen (Zeitungsartikel und Dokumente) haben den Vorteil, dass die Entwicklung und mögliche Veränderungen der Positionen von Akteuren durch ihre „implizite Historizität“ (Nagel 2008: 7) nachvollzogen werden können. Als dritte Datengrundlage dienten drei Experteninterviews. Mein Verständnis von einem Experten und Experteninterview richtet sich nach Meuser/Nagel (2009). Demnach sind Experten beruflich oder ehrenamtlich in einer festgelegten Rolle im Rahmen eines Kollektivs tätig. In dieser Rolle befassen sie sich mit der Bearbeitung eines (den Forschenden) interessierenden Sachverhalts, hier mit dem Moscheebauprojekt, und erlangen somit spezifisches Wissen über Abläufe in diesem Themenfeld. Auf dieser Grundlage wurden für die Interviews Akteure ausfindig gemacht, die eine herausragende Rolle in dem Moscheebauprojekt gespielt haben bzw. immer noch spielen. In Experteninterviews werden im Gegensatz zu biografischen Interviews die Interviewpartner nicht als Gesamtperson, sondern in ihrer Rolle als Repräsentanten einer Organisation befragt (vgl. Meuser/Nagel 2009: 476). In der vorliegenden Studie handelt es sich bei den befragten Experten um den Rechtsbeistand des Moscheevereins, die Integrationsbeauftragte der Stadt Bonn und einen Pfarrer aus dem Stadtteil, in dem die Moschee entstehen soll. Es sind Personen, die Schlüsselpositionen zwischen Organisationen (Kirche, Verwaltung, Moscheegemeinde) und ihrer
10 Ein Ratsinformationssystem ist ein EDV-gestütztes Informations- und Dokumentenmanagementsystem, das in kommunalen Verwaltungen eingesetzt wird und mit dessen Hilfe unter anderem Sitzungstermine kommunaler Gremien sowie Ratsprotokolle veröffentlicht werden.
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städtischen Umwelt besetzen und die an den Aushandlungen um das Moscheebauprojekt beteiligt waren. Die Experteninterviews wurden mithilfe von halbstandardisierten Leitfäden durchgeführt, die sowohl die Möglichkeit bieten bestimmte vorher als relevant identifizierte Aspekte zu thematisieren als auch genügend Raum für neue Gesichtspunkte lassen. Die in Textform (Transkripte, Presseartikel, Ratsdokumente) vorliegenden Daten habe ich anschließend inhaltsanalytisch ausgewertet. Dabei standen thematische Einheiten und nicht die Sequenzialität der Aussagen im Vordergrund. Dementsprechend wurden auf der Grundlage des Forschungsstandes und eigener bisheriger Recherchen Codes erstellt, denen die jeweiligen Textpassagen zugeordnet wurden. Der gemeinsame institutionell-organisatorische Kontext der Experten und die leitfadenorientierte Interviewführung ermöglichten die thematische Vergleichbarkeit der Äußerungen und somit eine differenzierte Rekonstruktion des Falles (ebd.).
E MPIRISCHE B EFUNDE : D IE AL -M UHAJIRIN G EMEINDE
IN
B ONN
Bei der Darstellung des Moscheebauprojekts präsentiere ich zunächst eine chronologische Fallskizze, um dem Leser einen Gesamteindruck über den Verlauf zu vermitteln. Anschließend werde ich einige zentrale Aspekte herausgreifen und analysieren. Dabei gehe ich v.a. auf Gründe für den Widerstand und die Art der Konfliktbeilegung ein. Ausgangslage und Fallskizze Bonn zählt zu den multikulturellsten Städten Deutschlands. Offizielle Statistiken zeigen, dass annähernd 25 % der Bonner Bevölkerung einen Migrationshintergrund hat und sich aus insgesamt 179 Ländern zusammensetzt (vgl. Stadt Bonn 2009: 10). In der weitgehend katholisch geprägten Stadt leben ca. 29.000 Muslime (ca. 9,1 % der Bevölkerung), von denen die Praktizierenden die Möglichkeit nutzen, ihren Glauben in neun im Stadtgebiet verteilten Moscheen auszuüben. Ein Teil der Bonner Muslime ist seit 2006 im Rat der Muslime (RDM) 11 organisiert. Bis auf die in den 90er Jah-
11 Vgl. http://muslimrat-bonn.de/, Zugriff am 20.09.2011.
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ren gegründete arabische Akademie (siehe oben) sind die Bonner Moscheen eher klein und architektonisch unscheinbar. Im Jahr 2006 entschied sich die seit 1997 eingetragene sunnitische AlMuhajirin Gemeinde in eine größere Moschee umzuziehen. Im Gegensatz zu vielen anderen, v.a. türkischen Moscheegemeinden in Deutschland ist sie ethnisch sehr gemischt und gehört keinem Dachverband an. Der Großteil der rund 60 offiziellen Mitglieder und der ca. 300 bis 400 Besucher des Freitagsgebets stammt aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Das Zentrum der Gemeinde ist eine unauffällige Moschee in der Bonner Innenstadt. Dort werden Koranunterricht, Seelsorge, Familienberatung, Pilgerfahrten und Freitagsgebete für die Gläubigen angeboten. Im Laufe der Zeit ist die Gemeinde gewachsen und empfand die vorhandenen Räumlichkeiten – ein Gebetsraum für Männer, ein Gebetszimmer für Frauen und eine Wohnung für den Imam – zunehmend als zu klein. Motiviert durch eine große Spendenzusage eines im Ausland lebenden Katarers machte sich der Vorstand der Gemeinde auf die Suche nach geeigneten Grundstücken und meinte Anfang 2006 einen passenden Standort gefunden zu haben. Im stark durch Migranten geprägten Stadtteil Tannenbuch12 an der Hohen Straße befand sich eine alte Halle, die nach den Vorstellungen der Gemeinde zu einer Moschee umgebaut werden sollte. Die Gemeinde stellte daraufhin eine Bauvoranfrage13 an die Stadt und trat damit unversehens in einen langjährigen Aushandlungsprozess ein. Der Plan der Gemeinde sah den Bau einer Moschee mit zwei Minaretten und einem angegliederten Kulturzentrum vor, welches Schulungs- und Jugendräume sowie einen Festsaal beinhalten sollte (vgl. GA 15.02.2007). Anfang 2007 wurde die Anfrage mit dem Hinweis auf eine unerwünschte Verstärkung der ethnischen Segregation abgewiesen, was zu einem Streitpunkt zwischen der muslimischen Gemeinde und der Stadt geworden ist. Jedoch verpflichtete sich die Stadt zugleich, alternative Standorte für den Bau der Moschee zu finden. Zu Beginn des Jahres 2008 wurde
12 Der Stadtteil hat insgesamt 10.245 Einwohner, davon 5620 (54,9 %) Zuwanderer, 3329 von ihnen stammen aus muslimisch geprägten Ländern (vgl. Drucksache (DS) 0710354). 13 Im Rahmen einer Bauvoranfrage wird die grundsätzliche Zulässigkeit eines Bauvorhabens im Geltungsbereich eines Bebauungsplans entschieden.
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auch als Reaktion auf die Missverständnisse und Streitigkeiten im Rahmen des Moscheebauprojekts die Stelle einer Integrationsbeauftragten für die Stadt Bonn geschaffen. Die Integrationsbeauftragte hatte erheblichen Anteil daran, dass der Gemeinde im Mai 2008 sechs verschiedene Standorte vorgeschlagen wurden. Nachdem sich die Moscheegemeinde für das Grundstück an der Brühler Straße entschieden hatte, wurde die Phase der Vorbereitung des Grundstückverkaufs eingeleitet. Im September 2009 gelang es nach einigen Wochen der Aushandlungen über den Kaufvertrag zwischen Stadt und Moscheegemeinde, einen Kompromiss zu finden und den Bauprozess einzuleiten. Die Planung sieht die Fertigstellung der Moschee zum Ende des Jahres 2012 vor. Der Moscheebau als gesellschaftspolitische Problematik Die Fallskizze deutet bereits darauf hin, dass das Moscheebauprojekt in Bonn weit mehr als ein städtebauliches Problem darstellte. Insbesondere die Neuartigkeit des Phänomens Moscheebau für die Beteiligten wird an diesem Beispiel deutlich.14 Anfangs waren Politiker auf ein derartiges Vorhaben der Muslime nicht vorbereitet und die Stadtverwaltung bot zu dem Zeitpunkt keine geeigneten Strukturen, um das Verfahren entsprechend zu regeln bzw. zu steuern. Der Pfarrer einer evangelischen Kirchengemeinde in Tannenbusch fasst die Situation wie folgt zusammen: „Ich glaube, das sind mehrere Gründe, aber der Hauptgrund ist einfach der, dass es vom Verein so unvermittelt kam. Es war nicht vorbereitet. Auf einmal hieß es: Da will ein Moscheeverein ein Kulturzentrum im Tannenbusch bauen. So, da sind ganz schnell die ganzen Stadtverordneten hier auf die Barrikaden gegangen und haben gesagt, das kommt hier bei uns nicht hin.“ (Interview Pfarrer)
Korrespondierend mit den Aussagen von Suchman zur „liability of newness“ erfordern Innovationen bzw. Neuheiten zunächst die Schaffung von Legitimität. Hier sah sich die Al-Muhajirin Gemeinde einer Fülle von Erwartungen gegenüber. Zum einen gab es Bezirksvertreter und andere Be-
14 Das wird unter anderem an dieser prägnanten Aussage des Vertreters des Moscheevereins deutlich: „ Das kannte weder Verwaltung noch Politik, das Thema Moscheebau! Weil es hier in dem Sinne noch nie akut war!“
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wohner, die in der Nähe wohnten und Ruhestörungen sowie den Verfall der Bodenpreise15 befürchteten und deshalb einen Bürgerantrag gegen den Bau der Moschee eingebracht haben.16 Die Gemeinde hatte es hier mit Interessen von Einzelpersonen vor Ort zu tun, die nach Schmitt (2003) der „raumbezogenen-städtebaulichen Dimension“ zugerechnet werden können und die „pragmatische Legitimität“ des Vorhabens betreffen. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Fällen (z.B. Herten, Iserlohn) formierten sich von Seiten der Bevölkerung keine Bürgerinitiativen als Reaktion auf das Moscheebauprojekt. Der Protest beschränkte sich auf den Antrag (s.o.), in dem die Befürchtungen von Teilen der Bevölkerung artikuliert wurden. Vielmehr waren es Kommunalpolitiker, die den Kern des Widerstandes bildeten. In der Verwaltung und Kommunalpolitik löste das Projekt eine lebhafte integrationspolitische Debatte aus. Einige Vorschriften bezüglich der Gebäudegröße etc. wurden nicht exakt eingehalten, so dass eine Ablehnung mit dem Hinweis auf das Baurecht hätte begründet werden können. Bemerkenswerterweise waren jedoch nicht baurechtliche Gründe ausschlaggebend für die Ablehnung, sondern die Besorgnis, dass die Moschee zu einer Verstärkung einer ethnischen Segregation führen würde. Legalität, die häufig der Legitimität als formale Rechtmäßigkeit des Handelns gegenübergestellt wird, spielte also bei dem Verfahren eine nachgeordnete Rolle. Während die Nichteinhaltung baulicher Vorschriften im Rahmen des Ermessensspielraums nach Ansicht des Stadtrats noch hinnehmbar waren (vgl. DS 0710354), konnte wegen der vermeintlich negativen Folgen für die Integration der Muslime eine Änderung des Bebauungsplans für das Moscheebauprojekt nicht genehmigt werden. Der Begründung des Urteils ist Folgendes zu entnehmen:
15 Ruhestörung und der Verfall der Bodenpreise sind Argumente, welche im Rahmen von Moscheebaukonflikten sehr häufig festgestellt worden sind (vgl. Schmitt 2003; vgl. Leggewie 2009). 16 Ein von 18 Personen unterschriebener Bürgerantrag gegen die Errichtung des Moscheekomplexes, der im August 2006 bei der Stadt eingereicht wurde, drückte die Besorgnis über die Zunahme der Verkehrsdichte und Immissionsbelastung durch eine „nicht unerhebliche Anzahl Besucher“ und einen Muezzinruf aus. Als Folge wurden eine „Minderung der Wohnqualität“ und „Senkung der Immobilienpreise“ befürchtet. Dadurch sahen die Antragsteller das Vertrauen in die Gültigkeit des Bebauungsplans „eklatant verletzt“ (DS 0612248ED2).
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„Durch das Kulturzentrum wird ein zusätzliches Angebot für vorwiegend arabische Einwohner aus allen Stadtteilen, den Umlandgemeinden und auch über die Region hinaus geschaffen. Damit wird auch der Wohnstandort Neu-Tannenbusch zunehmend für Muslime attraktiver. Es ist davon auszugehen, dass sich die Konzentration von Muslimen in Neu-Tannenbusch vergrößern wird, da zusätzliche Migranten mit islamischem Hintergrund in den Stadtteil ziehen werden. In diesem Zusammenhang wird eine Verstärkung der bereits jetzt eingetretenen unerwünschten Tendenzen zur „Ghettobildung“ befürchtet. […] Für eine erfolgreiche Integration der Migrantinnen und Migranten ist aber eine ausgewogene Bevölkerungsstruktur im Bonner Stadtgebiet erforderlich. Einseitige Verdichtungen in einzelnen Stadtteilen erschweren hingegen den Integrationsprozess.“ (DS 0710354)
Diverse Ausschüsse waren an der Beschlussvorlage beteiligt und die damalige Oberbürgermeisterin unterzeichnete diese persönlich, was das Gewicht dieser Entscheidung unterstreicht. Der Bau einer Moschee mit diversen Einrichtungen in der geplanten Größe schien nicht nur dem Baurecht und dem Interesse einiger Einwohner zu widersprechen. Vielmehr sahen die verantwortlichen Politiker mit dem Projekt die „ausgewogene[n] Bevölkerungsstrukturen“ (DS 0710354ST3) und die Integration von Muslimen grundsätzlich gefährdet. Neben der Ablehnung des Standortes ging es im Kern der Debatte um diverse Angebote für Jugendliche, die in der geplanten Moschee zukünftig bereitgestellt werden sollten. Der grundsätzliche Anspruch auf einen größeren Gebetsraum wurde anerkannt, aber darüber hinaus sollte sich nach dem Willen vieler Stadträte möglichst nichts verändern. Die Stadt ließ verlauten, dass Integration „innerhalb der Einrichtungen in relativ homogenen ethnischen Gruppen“ (DS 0710354ST3) nicht gelingen könne. Das folgende Zitat der Integrationsbeauftragten veranschaulicht die Problematik des Plans, eine Moschee mit einem integrierten Kulturzentrum zu errichten: „Aber damals war es auch eine sehr hitzige Atmosphäre und es wurde unterstellt, dass die da nur lauter andere Sachen anbieten. Ich weiß nicht, ob Sie sich dran erinnern. Es gab ja mal ganz viel Kritik an Moscheevereinen, dass sie eben ja nicht, nicht genug sich um religiöse Dinge kümmern, sondern zu viele anderes machen. Kinder und Jugendliche beeinflussen und so. […] Da war die Debatte: Boah! Die machen alle Kulturzentrum, die machen da Parallelangebote. Was wird da sein? Wir
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werden es nicht wissen, wir wollen das nicht. Wir haben das nicht im Griff.“ (Interview Integrationsbeauftragte)
An den Ausführungen wird deutlich, wie aus einem Antrag für einen Moscheebau ein gesellschaftspolitisches Thema geworden ist. Dabei waren sowohl soziale Probleme („Ghettoisierung“) wie auch Sicherheitsprobleme (Radikalisierung von Jugendlichen) entscheidende Aspekte der kommunalen Debatte, die insgesamt durch einen ständigen Bezug auf die Integration von Muslimen in eine Integrationsdebatte eingebettet war. Hiermit wurde die „moralische Legitimität“ des Moscheebauprojekts hinterfragt. Da die Argumente sich stark auf das Verhältnis zwischen Aufnahmegesellschaft und Muslimen bezogen, kann hierbei von einer „ethnisch-kulturellen Dimension“ (Schmitt 2003) des Moscheekonflikts gesprochen werden.17 Im nächsten Abschnitt gehe ich auf den Aspekt der umstrittenen zusätzlichen Angebote ein, der den Schwerpunkt des Konflikts darstellt. Moschee ja, Kulturzentrum nein Der Tenor, vor allem der SPD und CDU im Stadtrat, lässt sich zusammenfassen als „Moschee ja, Kulturzentrum nein“. Im vorliegenden Fall wurde deutlich, dass es einen Widerspruch gibt zwischen dem Willen des Moscheevereins, seine Angebote über das Beten hinaus v.a. für Jugendliche zu erweitern, und den Kontroll- sowie Sicherheitsansprüchen der städtischen Behörden.18 Es ist anzunehmen, dass die omnipräsente Angst vor Radikalisierung über die bundesweite Islamdebatte hinaus durch die bisherigen Erfahrungen mit der oben genannten Fahd Akademie beeinflusst wurde. Hinzu kommt, dass in der letzten Zeit in einigen Gemeinden vor Ort gelegentlich als radikal geltende Sprecher wie beispielsweise Pierre Vogel zu Gast waren. Offensichtlich wurden die Ängste vor Radikalisierung auch auf andere Moscheegemeinden der Stadt projiziert. Die Al-Muhajirin Gemeinde, die sich von den Anschuldigungen betroffen zeigte, distanzierte sich von islamistischen Tendenzen und versuchte in
17 „Religionsbezogene Aspekte“ (Schmitt 2003), die die Unvereinbarkeit des Islams mit dem Westen thematisiert hätten, haben m.E. keine Rolle gespielt. 18 Eine ähnliche Ablehnung der zusätzlichen Angebote einer Moscheegemeinde ist auch in München vorzufinden (vgl. Lauterbach/Lottermoser 2009).
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diversen Presseerklärungen und Stellungnahmen klarzustellen, dass sie sich als zivilgesellschaftlicher Akteur versteht und ihre Zuständigkeiten über die Bereitstellung von Gebetsräumen hinaus sieht. So betonte der Vorsitzende des Moscheevereins die Notwendigkeit, etwas für die zahlreichen arbeitslosen Jugendlichen zu tun und stellte die Intentionen des Vereins gar in den Dienst der ganzen Stadt („Wir wollen doch was für Bonn tun“, GA 24.02.2007). Für diese Aufgaben sah sich die Gemeinde zum Teil besser geeignet als die städtischen Einrichtungen. Haluk Yildiz, der damalige Vorsitzende des Rates der Muslime, gab zu verstehen, dass es vor allem Moscheevereine seien, die muslimische Migranten effektiv erreichen könnten („Wer soll die Jugendlichen abholen, wenn nicht wir?“, IZ 25.02.07). Zudem wurde auf den integrationsfördernden Charakter der Angebote verwiesen, die auch Sprach- und Integrationskurse beinhalten sollen (vgl. GA 24.02.07). Darüber hinaus ging die Gemeinde auf die Angst der Politiker vor einem Kontrollverlust ein und bot einerseits eine Zusammenarbeit in der Gestaltung der Aktivitäten und andererseits auch die direkte Kontrolle durch die Stadt an (vgl. GA 24.02.07). Ein wichtiger Punkt war die Betonung der Komplementarität ihrer Angebote zu anderen städtischen und kirchlichen Trägern: „Aber wenn es sie gab [die Befürchtungen der Stadt, P.S.], haben wir von vornherein gesagt, passt mal auf Leute, das ist, wenn nur eine minimale Ergänzung zu dem Programm, das es sowieso schon gibt. Also, äh, ein Gebäude kann nicht die ganze Jugendarbeit übernehmen, woher denn? Es ist ja, schon fast äh abwegig so was auch nur anzunehmen, ne. Dass es natürlich auch äh vielleicht da Inhalte gibt, die die Stadt nicht bietet. Um zum Beispiel einfach mal den jungen Leuten zu sagen, Leute wie sieht es aus mit eurer Religion? Was wisst ihr eigentlich über Religion? Das sind doch Angebote, die die Stadt sich gar nicht leisten kann, ja.“ (Interview Moscheeverein)
Bei diversen Veranstaltungen wurden von der muslimischen Gemeinde und ihren Unterstützern bei der Erläuterung der neuen Pläne das Moscheegebäude mit einem Kirchengebäude und die geplanten Aktivitäten mit einem katholischen oder evangelischen Gemeindeleben verglichen. Der Vertreter der muslimischen Gemeinde erklärte mir, dass der Vergleich mit dem kirchlichen Gemeindeleben am besten wirke und Verständnis für das Projekt schaffe. Am Vorgehen der muslimischen Gemeinde wird deutlich, dass
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die Betonung der Gleichheit bzw. Ähnlichkeit mit dem für die Stadtgesellschaft Bekannten bei der Legitimierung entscheidend war und zur Überwindung der „laibility of newness“ beitragen sollte. Anders als in vielen Moscheebaukonflikten, bei denen die Errichtung von Kuppel und Minaretten umstritten war wie z.B. in Bobingen (vgl. Schmitt 2003), standen in diesem Fall die zusätzlichen Angebote der Gemeinde im Zentrum der Auseinandersetzungen. Die Symbole der Moschee, Kuppel und Minarett, und damit das Betreten des öffentlichen Raums durch Muslime spielte in den städtischen Auseinandersetzungen keine bedeutende Rolle wie die folgende Aussage des Vertreters der Moscheegemeinde deutlich macht: „Es ist und war von Anfang an Anliegen des Vereins, das nach außen sichtbar zu machen, dass es sich hier um eine Moschee handelt. Ähm, nicht um irgendwelche, um demonstrativ zu zeigen, hallo, hier sind wir und wir treten hier mit dem wirklich großen Fuß auf. Äh, im Gegenteil, der Verein hat also von Anfang bei den Planungen dem Architekten gesagt (-) keine übertriebenen Minarette, keine übertriebenen Kuppel, denn das sind die Nebenkriegsschauplätze. Wir wollen also nicht nachher streiten, ist das Minarett zehn Meter äh niedriger als der nächstgelegener Kirchturm oder ist er sogar einen Meter drüber. Das sind völlig überflüssige Debatten, für uns überflüssige Debatten. Die sollten von vornherein gemieden werden. Es ging halt nur darum, dass durch äh Stilelemente und die ja noch nicht mal im klassischen Sinne islamische sind. Das muss nicht sein! Moschee, wo man sich niederwirft zum Gebet, braucht kein Minarett, braucht keine Kuppel. Aber im Laufe der Zeit und der Jahrhunderte sind es die typischen Stilelemente einer Moschee und an diesen Elementen erkennt man eine Moschee […]. Zur Not macht man es ohne Minarett. Also, am Minarett soll es, darf so was nie scheitern oder eine große Diskussion sich entfachen.“ (Interview Moscheeverein)
Wie sich im Zitat zeigt, wird den Symbolen aufgrund der damit gegebenen Erkennbarkeit des Gebäudes als eine Moschee ein gewisser Stellenwert beigemessen. Im Vergleich zu den zusätzlichen Räumlichkeiten spielen sie jedoch eine untergeordnete Rolle. Zur Not könnten die Symbole auch eine Verhandlungsmasse darstellen, um die geplanten Räumlichkeiten zu realisieren. An dieser Stelle wird das Spannungsfeld bzw. der wahrgenommene Trade-off zwischen dem Bestreben, eine eigene soziale Infrastruktur zu er-
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richten und Sichtbarkeit zu erlangen, deutlich, wobei Letzteres weniger bedeutend zu sein scheint. Bearbeitung des Konflikts und der Aufbau von Beziehungen Das Antragsverfahren war zu Beginn von spärlicher Kommunikation zwischen der Al-Muhajirin Gemeinde und den politischen Entscheidungsträgern geprägt. Während innerhalb der Kommunalpolitik und der Verwaltung Gespräche geführt wurden, gab es zunächst wenige direkte Kontakte zwischen der muslimischen Gemeinde und den „Skeptikern“. Nach der ersten Ablehnung des Antrages Anfang 2007, die mit der Zusage der Stadt einherging, neue Grundstücke zu suchen, änderte sich die Situation grundlegend. Auffällig an dem Fall Bonn ist, dass die betroffene muslimische Gemeinde Unterstützung von anderen Muslimen in Gestalt des Rats der Muslime bekommen hat. Geschlossen wurde das Anliegen, eine Moschee zu errichten, in der Öffentlichkeit vertreten. Zwei Aspekte sind dabei besonders hervorzuheben: Zum einen wurde die muslimische Gemeinde schon vor der Errichtung der Moschee durch die öffentliche Austragung des Konflikts in der Stadt vernehmbar. Zum anderen bestand zum Teil eine Umkehrung der üblichen Etablierten-Außenseiter-Konfiguration, bei der es in erster Linie die Etablierten sind, die in der Öffentlichkeit den Konfliktpartner unter Druck setzen. Die Al-Muhajirin Gemeinde trug mit der Rückendeckung des Rates der Muslime nicht nur die eigenen Bedürfnisse in die Öffentlichkeit, sondern kritisierte auch das langsame Verfahren und die mangelnde Transparenz der Verwaltung (vgl. GA 15.12.07). Dass dies in dieser Form erfolgen konnte, ist darauf zurückzuführen, dass die Bonner Muslime in starkem Umfang organisiert sind und die Vertreter der Al-Muhajirin Gemeinde einen relativ hohen Bildungsgrad besitzen. Bei anderen Moscheebaukonflikten verfügten Vertreter der muslimischen Gemeinden nicht über genügende Deutschkenntnisse, um bei Bürgerversammlungen und anderen Treffen ihre Vorhaben verteidigen zu können (vgl. Schmitt 2003). Zudem erkannte die Al-Muhajirin Gemeinde nach einer gewissen Zeit, dass es nicht ausreichte, ausschließlich rechtliche Standards einzuhalten (Legalität), sondern darüber hinaus für soziale Anerkennung geworben werden musste (Legitimität). Bezugnehmend auf die gescheiterte erste Bauvoranfrage machte der Vertre-
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ter der Moscheegemeinde die Rolle des Rates der Muslime und die Einsicht in die Notwendigkeit von Kommunikation ihres Vorhabens deutlich: „Mmh (-), wobei man wahrscheinlich sagen muss, das ist der Verein nicht mit Schuld, aber er hätte da vielleicht geschickter agieren müssen, weil das ohne politische Kommunikation in die Wege geleitet wurde, dieses Projekt […]. Also, die Erfahrung hat man bitter machen müssen, dass das so einfach in Deutschland nicht funktioniert! Und aus dieser Erfahrung heraus hat man dann Kontakt gesucht auch über den Rat der Muslime, der zu dieser Zeit auch schon gegründet war, er ist 2006 gegründet worden, äh, der natürlich dann auch eine ganz andere Kommunikationsmöglichkeit dargestellt hat, weil über den Sprecher, hat die Stadt gesehen, aha, wir erreichen damit ne Menge Muslime in Bonn über dieses Gremium und die haben dann, der Sprecher bzw. der Rat selber hat dann auch versucht, diese Kontakte zu nutzen und sagen, passt mal auf Leute, das mit der Moschee muss aber irgendwie weiter gehen. Und daraus sind dann Gespräche entstanden.“ (Interview Moscheeverein)
Die muslimische Gemeinde lud Politiker in ihre Moschee ein, um ihr Vorhaben zu kommunizieren und sie auf die schlechten Bedingungen vor Ort aufmerksam zu machen. Außerdem zeigte sie sich sehr empfänglich für die Erwartungen aus der Umwelt. Deutlich wird das zum Beispiel an ihrer Grundsatzerklärung und dem Nutzungsplan, die exakt das enthielten, was die Politik und Verwaltung erwarteten: gemäßigte Inhalte lehren, die Moschee offenhalten für Nicht-Muslime und mit der Stadt kooperieren (vgl. DS 0912832ED3).19 Damit ist bereits ein weiterer Punkt angesprochen, der das Antragsverfahren stark geprägt hat: die Kontrollsicherung durch die Stadt. So wurde der Kaufvertrag für den zweiten Standort (Brühler Straße) auf Antrag der FDP und CDU an Bedingungen geknüpft. Demnach sollte der Verein auf den geplanten Lebensmittelladen verzichten und die Moschee für Nichtmuslime öffnen. In der Beschlussvorlage heißt es: „Der Rat der Stadt Bonn setzt voraus, dass der Moscheeverein Al-Muhajirin eine offene Moschee, deren Aktivitäten transparent gestaltet werden und die auch für Nichtmuslime zugänglich ist, verbindlich zusagt und die in der Grundsatzerklärung
19 Zu diesen Punkten siehe weiter unten.
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aufgeführten inhaltlichen Angebote der Gemeinde insbesondere für Kinder, Jugendliche und Frauen im ständigen Dialog mit der Stadt Bonn mit dem Ziel einer positiven Integrationsarbeit diskutiert und abstimmt.“ (DS 0912832EB6)
An dieser Textpassage wird deutlich, dass eine Kontrolle durch Kooperation von Seiten der Stadt angestrebt wird. Gleichzeitig hat aber auch ein Lernprozess stattgefunden. Mit der Zeit setzte sich bei den Politikern die Einsicht durch, dass eine Moschee nicht bloß ein Ort des Gebets, sondern auch ein soziales Zentrum einer Gemeinde ist. Das wird auch aus der Ende 2009 entstandenen gemeinsamen Beschlussvorlage der Stadt Bonn deutlich. Dort heißt es: „Der Rat der Stadt Bonn teilt die Einschätzung der Deutschen Islamkonferenz, der zufolge Moscheen nicht nur der Religionsausübung dienen, sondern immer auch Orte der Begegnung und der Gemeindearbeit sind.“ (DS 0912832NV4)
Im Zuge des Prozesses bildeten sich allmählich Strukturen zur Verarbeitung des Konflikts heraus, was ebenfalls ein entscheidender Faktor im Moscheebaukonflikt war und hier näher erläutert werden soll. Ein wichtiger Schritt ist die Schaffung der Stelle einer Integrationsbeauftragten Anfang 2008, die eine Schnittstelle („broker“, vgl. Burt 2005; vgl. Schubert in diesem Band) zwischen muslimischen Gemeinden und Stadt, wie auch zwischen den Gemeinden und der Stadtteilbevölkerung darstellte. Dies geht aus diversen Zeitungsartikeln (vgl. GA 28.11.08; vgl. GA 15.02.10) und folgendem Zitat hervor: „Und dann auch innerhalb der Stadtverwaltung dafür zu werben, Moscheevereine sind unterschiedlich, aber Moscheevereine sind auch in gewissen Dingen vergleichbar mit Kirchengemeinden, also es wird nicht nur gebetet es gibt auch Gemeindeaktivitäten. So etwas war wichtig […]. Sowohl mit dem Moscheeverein den auch zu überzeugen, dass er Öffentlichkeitsarbeit leisten muss, dass Transparenz hergestellt werden muss über das, was er vorhat, dass er sich immer wieder erklären musste zu Verdächtigungen, ob er mit Extremisten zusammenarbeitet oder nicht, zuletzt war es ja im letzten Jahr auch nochmal Thema, dem Moscheeverein auch immer wieder zu sagen, er muss sich dem stellen. Auf der anderen Seite Bürgerinnen und Bürger einzubinden im Sinne von Veranstaltungen vor Ort, sich vorstellen, Briefe beantworten,
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sich zur Verfügung stellen, dafür werben. Das hat es bei Stadt Bonn alles vorher so nicht gegeben.“ (Interview Integrationsbeauftragte)
In den vier Jahren des Genehmigungsverfahrens ist es zu diversen Zusammenkünften gekommen. Zu erwähnen sind z.B. Runde Tische, die in der Tannenbuscher Apostelkirche stattgefunden haben. Dort ging es in erster Linie darum, die Stadtteilbevölkerung über das Projekt zu informieren. Zusätzlich ist Anfang 2010 ein Rahmen für die arbeitstechnischen Zusammenkünfte der Vertreter verschiedener Konfliktparteien mit der Gründung des Arbeitskreises „Neue Moschee im Tannenbusch“ geschaffen worden und der Dialog wurde somit institutionalisiert. Der Arbeitskreis besteht aus Vertretern des Moscheevereins, der Stadtverwaltung, der Kommunalpolitik, der evangelischen und katholischen Gemeinde und des seit 2003 bestehenden Arbeitskreises „Muslime und Christen im Bonner Norden“ (MuChri) (vgl. GA 15.02.10). Neben den organisierten Zusammenkünften verschiedener Konfliktparteien stellte sich die Beteiligung Dritter für den Ablauf der Verhandlungen als konstruktiv heraus. Sie bemerkten die Schwierigkeiten, mit denen die Al-Muhajirin Gemeinde bei ihrem Projekt konfrontiert war, und sprachen sich öffentlich für das Projekt aus. Gleichzeitig nutzten sie die Chance, um in einen Dialog mit der muslimischen Gemeinde einzutreten. Diese legitimierende Unterstützung spielte nach Meinung aller drei Interviewpartner eine wichtige Rolle im Moscheebauprozess. Unter den prominenten Akteuren waren Politiker und Kirchenvertreter. Hier ist vor allem der Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Tannenbusch zu erwähnen, der die christlichen Räumlichkeiten für die Informationsveranstaltungen zur Verfügung stellte.20 Auch Vertreter des Arbeitskreises „Muslime und Christen im Bonner Norden“, an dem auch die Al-Muhajirin Gemeinde schon im Vorfeld beteiligt gewesen war, sprachen sich öffentlich für die Belange der Al-Muhajirin Gemeinde aus. Diese Art der Unterstützung stellte sich auch als hilfreich heraus, als Gerüchte über eine Verbindung zwischen der Al-Muhajirin Gemeinde und Islamisten aufkamen und die PRO-NRW eine Demonstration veranstaltete und versuchte, das Bauprojekt zu verhindern (vgl. GA 04.04.11). Außerdem wurden die bereits vor dem Antragsverfahren beste-
20 Der Pfarrer und der Vorstand der Al-Muhajirin Gemeinde lernten sich erst durch das Moscheebauprojekt kennen.
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henden Dialoginitiativen von den Entscheidungsträgern positiv ausgelegt und in den Beschlussvorlagen ausdrücklich erwähnt.21 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Moscheebau in Bonn sich zu einer gesellschaftspolitischen Problematik entwickelt hat und vor allem auf Seiten der politischen Entscheidungsträger Bedenken hinsichtlich Radikalisierung und ethnischer Segregation auslöste. Durch diverse Veranstaltungen und Begegnungen konnten die meisten Bedenken ausgeräumt werden. Außerdem ist es im Verlauf der Aushandlungen zu unterschiedlichen neuen Kontakten zwischen der muslimischen Gemeinde und anderen städtischen Akteuren gekommen.
F AZIT
UND
AUSBLICK
Vorausgegangene Studien zum Thema Moscheebau und die mediale Debatte haben gezeigt, dass Moscheebauprojekte in Deutschland zwar mittlerweile auf der kommunalen Tagesordnung stehen, jedoch immer noch sehr umstritten sind und mit innerstädtischen Konflikten einhergehen. Das Ziel meines Beitrags war es aufzuzeigen, wie ein anfangs höchst umstrittener Moscheebauplan in der Stadtgesellschaft verhandelt wurde und welche Mechanismen dazu geführt haben, dass der Bau der Moschee letztlich einvernehmlich beschlossen und in die Wege geleitet werden konnte. Für eine vertiefte und differenzierte Beschreibung der Abläufe habe ich das Konzept der Legitimität von Suchman zu Hilfe genommen, das Legitimität sowohl als Ressource von Organisationen wie auch als ein von Normen geprägtes, aber auch in der Interaktion zwischen Akteuren hergestelltes Konstrukt versteht. Die auf Grundlage von Experteninterviews und Zeitungs- sowie Dokumentenanalyse durchgeführte Fallstudie in Bonn zeigt die Vielfalt an Bedenken und Erwartungen, mit denen die Al-Muhajirin Gemeinde im Rahmen ihres Moscheebauprojekts konfrontiert war. Dabei reichte es für die
21 So heißt es in DS 09124440: „Der Moscheeverein Al-Muhajirin ist im christlich-muslimischen Dialog im Bonner Norden aktiv und organisiert zudem gemeinsam mit der Kath. Kirchengemeinde St. Thomas Morus und der Ev. Apostelkirchengemeinde einen Mittagstisch für bedürftige Menschen in Tannenbusch.“
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Moscheegemeinde nicht aus, baurechtliche Erfordernisse einzuhalten („Legalität“) oder nicht in Konflikt mit den Interessen einzelner Bürger zu geraten („pragmatische Legitimität“). Vielmehr ging es um die Erlangung einer allgemeinen Anerkennung ihrer religiösen, aber auch sozialen bzw. zivilgesellschaftlichen Rolle innerhalb der Stadtgesellschaft („moralische Legitimität“). Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Behörden und Entscheidungsträger in den Plänen der muslimischen Gemeinde sowohl ein Sicherheits- (Radikalisierung von Jugendlichen) als auch ein soziales Problem („Ghettoisierung“) sahen. Um ihr Projekt zu realisieren, hat die Al-Muhajirin Gemeinde ihr Handeln an den Erwartungen, allen voran der Entscheidungsträger aus dem Stadtrat, ausgerichtet. So hat sie beispielweise direkte Kontrollen angeboten und die Fläche in der neuen Moschee verkleinert sowie den Gemüseladen aus dem Nutzungskonzept gestrichen („conformity“). Die Seminarräume konnten hingegen durchgesetzt werden. Es wird deutlich, dass die Teilbarkeit des Konflikts es ermöglichte, auf die verschiedenen Erwartungen einzugehen, ohne komplett auf die eigenen Ziele zu verzichten. Im Gegensatz zu vielen bisher dokumentierten Moscheebaukonflikten ging es nicht um die Aushandlung der islamischen Symbole (z.B. Höhe des Minaretts), sondern primär um die Gestaltung der sozialen Angebote innerhalb der Moschee. Doch der Prozess war nicht nur durch die Empfänglichkeit der muslimischen Gemeinde für die Erwartungen der Umwelt geprägt. Durch den hohen Bildungsgrad des Gemeindevertreters und der Vernetzung unter den Bonner Muslimen konnte sich die Al-Muhajirin Gemeinde durch aktive Intervention („manipulation“) eine Stimme in der Öffentlichkeit verschaffen und dadurch den Interpretationsrahmen für die Legitimität ihres Vorhabens mitprägen sowie ihre eigenen Erwartungen an die Stadt artikulieren. Dadurch wurde die muslimische Gemeinde schon vor ihrem Erscheinen im öffentlichen Raum mit den Symbolen der repräsentativen Moschee vernehmbar und konnte somit die übliche Etablierten-AußenseiterKonfiguration zum Teil relativieren. Ein wichtiger Beitrag zur Schaffung von Legitimität und Ermöglichung von Verständigung war sowohl die Aussprache von Dritten für die Moscheegemeinde und ihr Projekt als auch die Vermittlung durch Dritte, die meist prominente Personen der Stadt waren (z.B. Kirchenvertreter, Integrationsbeauftragte). Des Weiteren waren diverse Dialogveranstaltungen ent-
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scheidend für die Schaffung von Legitimität. So wurde Transparenz und Vertrauen geschaffen sowie eine gewisse Kontrolle der muslimischen Gemeinde durch die Entscheidungsträger sichergestellt (Kontrolle durch Kooperation). Die sozialen Begegnungen ermöglichten einen Lernprozess sowohl bei dem Vorstand der Moscheegemeinde (Umgang mit externen Erwartungen) als auch bei der Politik und Verwaltung, die einsahen, dass eine Moschee weit mehr beinhalten kann als nur religiöse Angebote für die Gemeinde. Semantisch bewegt sich die Legitimierung des Projekts zwischen einer Abgrenzung von radikalen Muslimen und Analogieschlüssen zum christlichen Gemeindeleben. Zusätzlich unterstreicht die Moscheegemeinde ihre Rolle als ein zivilgesellschaftlicher Akteur, der mit seinen Angeboten in der neuen Moschee einen Beitrag für die ganze Stadt leisten möchte. Wie das Aufkommen von Gerüchten (Radikalisierung etc.) gezeigt hat, muss die Legitimität, korrespondierend mit den Ausführungen von Suchman, nicht nur erworben („gaining legitimacy“), sondern auch erhalten werden („maintaining legitimacy“). Dies geschah unter anderem durch Bemühung um Transparenz der eigenen Aktivitäten, eine aktive Partizipation der Moscheegemeinde in den Debatten der Stadtgesellschaft und die Intervention prominenter Personen. Das Konzept der Legitimität bzw. Legitimierung berücksichtigt sowohl die Dynamik der Aushandlungen wie auch die Tatsache, dass die Handlungsorientierung von muslimischen Gemeinden in einen konstitutiven Zusammenhang mit den kommunizierten Erwartungen der Aufnahmegesellschaft zu stellen ist. Am Fall Bonn wird deutlich, wie eng die soziale Vernetzung der Moscheegemeinde und Legitimität bzw. Legitimierung ihres Bauvorhabens miteinander verbunden sind: Bestehende Kontakt- und Dialogformen dienen als „Integrationsbonus“ und als ein Anzeichen für eine teilweise bereits bestehende Integration der Moscheegemeinde. Gleichzeitig stellen sich die bereits im Vorfeld mit der Al-Muhajirin Gemeinde in Kontakt stehenden Dialogpartner auf ihre Seite und demonstrieren die Zugehörigkeit der muslimischen Gemeinde zur Stadt. Die anfangs fehlende Legitimität des Vorhabens zwang die Moscheegemeinde dazu, auf andere Akteure zuzugehen, um ihnen im Rahmen verschiedener Begegnungen ihre Perspektive und Bedürfnisse aufzuzeigen und um Verständnis zu werben. Vor dem Hintergrund der hohen kommunalpolitischen Relevanz des Moscheebaukonflikts
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fühlten sich manche Akteure (Vertreter der Kirchen und der Politik) verpflichtet, sich aktiv an dem Prozess zu beteiligen und mit dem Bauherren in Kontakt zu treten. Es sind also neue Kontakte zwischen der Al-Muhajirin Gemeinde und anderen Akteuren aus der Stadt entstanden. Insofern kann von einer (zumindest kurzfristigen) Integration durch Konflikt gesprochen werden. Ob sich daraus nachhaltige Beziehungen im Sinne von verfestigten Interaktionsstrukturen herausbilden, kann an dieser Stelle noch nicht gesagt werden. Zudem muss einschränkend hinzugefügt werden, dass sich die Annäherungsprozesse auf der Ebene der Vorstände vollziehen und die Gemeindemitglieder (sowohl auf muslimischer als auch auf christlicher Seite) wenig in den Prozess involviert sind. Für die weitere Forschung wäre es aufschlussreich, die Beziehungsarten zu konzeptionalisieren und zu systematisieren, um einen möglichst detaillierten Blick auf die Vernetzungsstrukturen und deren Veränderungen durch die Repräsentativ-Werdung einer muslimischen Gemeinde zu bekommen. Zudem könnte eine vergleichende Perspektive die Mechanismen aufdecken, die zu einer besonders starken Integration durch Konflikt führen und somit auch verantwortlich für die Dynamik von sozialen Netzwerken sind. Inwieweit sich die vorliegenden Ergebnisse auf andere Fälle übertragen lassen, bleibt zu klären. Jedoch zeigt bereits die Analyse des Moscheebaukonfliktes in Bonn deutlich, dass die Betrachtung der kommunikativen Wechselbeziehung zwischen muslimischen Gemeinden und anderen Teilen der Stadtgesellschaft lohnenswert ist. Diese Perspektive macht den (schwierigen) Weg zur Anerkennung muslimischer Vorhaben und somit auch einen wichtigen Teil der Etablierung des Islams in Deutschland deutlich.
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Religionsgemeinschaften als Integrationsagenten Russlanddeutsche Gemeinden zwischen Binnenorientierung und Außenwirkung F REDERIK E LWERT
AUSGANGSPUNKT In einem Gastbeitrag für DerWesten.de unter dem Titel „Christliche Migranten – die vergessene Minderheit“ konstatierte die Bloggerin Cigdem Toprak: „Im politischen und medialen Diskurs über ‚Integration‘ und ‚Migration‘ in Deutschland stehen stets die muslimischen Migranten im Vordergrund. Es wird breit über den Islam selbst, die Lebensweise und Einstellung der muslimischen Migranten und ihre Forderungen an den deutschen Staat diskutiert. Und selbstverständlich wird oft die Frage gestellt, ob der Islam ein Integrationshindernis darstellt. […] Da stellt sich doch die Fragen [sic], ob nicht auch christliche Migranten in Deutschland Integrationsprobleme haben oder Fremdenfeindlichkeit spüren?“ (Toprak 2011)
Dieses Desiderat stellt auch den Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags dar. In der Literatur zum Verhältnis von Migration, Religion und Integration ist von verschiedener Seite eine „Religiosisierung“ der Debatte festgestellt worden. Wenn etwa Levent Tezcan bemerkt, dass „sich der Einwanderer mehr und mehr in einen Homo Islamicus verwandelt“ (Tezcan 2007: 51), wird deutlich, dass der Wandel des ethnischen Subjekts in ein religiö-
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ses einen Vorgang beschreibt, der sich vor allem in der Transformation „des Türken“ in „den Muslim“ im bundesdeutschen Integrationsdiskurs niederschlägt. Es kann viel weniger die Rede davon sein, dass etwa der Italiener zum Katholiken werde. Die Debatte um eine angenommene kulturelle Distanz zwischen muslimischen Migranten und der als christlich interpretierten Aufnahmegesellschaft lebt damit auch davon, den Islam als das gänzlich Andere zu imaginieren. In diesem Beitrag möchte ich dagegen den Blick auf eine andere Migrantengruppe lenken, die russlanddeutschen Aussiedler. Sie sind meines Erachtens ein interessantes Beispiel, um die Frage nach der „vergessenen Minderheit“ der christlichen Migranten zu beleuchten. Sie repräsentieren in gewisser Weise die Migranten, die idealtypisch die größtmögliche Differenz zu den türkischen Gastarbeitern aufweisen: Wo letztere ethnisch und rechtlich Ausländer sind, eine „fremde“ Religion mitbringen und für einen als vorübergehend angenommenen Aufenthalt nach Deutschland kommen, sind die Russlanddeutschen „deutsche Volkszugehörige“ (so die Formulierung im Bundesvertriebenengesetz), erhalten auf dieser Grundlage die deutsche Staatsangehörigkeit, sind in der überwiegenden Zahl der Fälle Christen und kehren – so zumindest das Narrativ – heim nach Deutschland. In der Betrachtung der russlanddeutschen Aussiedler vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um Religion und Integration möchte ich versuchen, einige Charakteristika dieses Verhältnisses besser in den Blick zu bekommen und von der Fokussierung auf den Islam zu lösen. Der übergeordneten Frage, welche spezifische Bedeutung religiöse Orientierungen und Gemeinschaftsformen für Integrationsprozesse von Migranten haben, soll daher durch die Auseinandersetzung mit dem Beispiel russlanddeutscher Aussiedler eine Perspektive hinzugefügt werden. Diesem Beitrag liegt dabei die These zugrunde, dass nicht primär die Zugehörigkeit zu einer spezifischen religiösen Tradition und die damit unterstellte Nähe oder Distanz zur Mehrheitsgesellschaft für Integrationsprozesse ausschlaggebend ist, sondern die biografische Bearbeitung kultureller und normativer Differenzen mithilfe der Religion. Dies öffnet den Blick für subtilere Mechanismen der Integration, in denen die religiöse Zugehörigkeit nicht a priori bestimmte Integrationsverläufe bestimmt, sondern erst in der biografischen Aktualisierung an Bedeutung gewinnt.
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H INTERGRUND : W ER SIND DIE RUSSLANDDEUTSCHEN AUSSIEDLER ? Der Begriff der „Aussiedler“ bezeichnet zunächst einmal diejenigen Migranten, die als „deutsche Volkszugehörige“ seit etwa 1950 in die Bundesre1 publik einwanderten. Nach dem im Grundgesetz verankerten Prinzip des ius sanguinis werden Personen deutscher Abstammung auch dann als Deutsche angesehen, wenn sie nicht im Gebiet der Bundesrepublik geboren wurden. Daher haben als Aussiedler einwandernde Migranten Anspruch auf die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft. Als „russlanddeutsche Aussiedler“ werden diejenigen Aussiedler bezeichnet, die aus dem Gebiet der ehemaligen UdSSR nach Deutschland einreisen. Sie kommen entgegen der Bezeichnung nicht unbedingt aus Russland, sondern vielfach aus den ehemals sowjetischen Staaten Zentralasiens, wie etwa Kasachstan oder 2 Kirgisien (vgl. Haug/Sauer 2007: 18-19). Diese spezifische Konstellation, insbesondere die Anerkennung als deutsche Staatsbürger, hat dazu geführt, dass russlanddeutsche Aussiedler mit einer großen Assimilationserwartung konfrontiert wurden. Der deutsche Staat investierte zunächst erhebliche finanzielle Mittel in integrationsfördernde Maßnahmen und eine umfassende staatliche Inklusion, im Gegenzug sollten die Aussiedler möglichst nahtlos in der Gesellschaft aufgehen (vgl. Bommes 2000). Aussagen über den Erfolg dieser Integrationsbemühungen sind mit der amtlichen Statistik schwierig zu treffen: Aussiedler sind als deutsche Staatsangehörige in der Ausländerstatistik gewissermaßen unsichtbar, sie sind statistisch nicht von Deutschen ohne Aussiedlerhintergrund zu unterscheiden.3 Lange Zeit wurden sie daher in statistischen Analysen zum Integrationserfolg verschiedener Bevölkerungsgruppen kaum berücksichtigt. In der öffentlichen Wahrnehmung lässt sich jedoch ein Wan-
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Vor 1950 Eingereiste werden den „allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen“ zugerechnet und als Vertriebene eingeordnet (Seifert 2008: 12).
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Während des Zweiten Weltkriegs wurden in Russland lebende Deutsche in großem Umfang nach Zentralasien deportiert, da man ihre Kollaboration mit den deutschen Truppen fürchtete.
3
Erst seit 2007 wird im Mikrozensus explizit nach dem Status als Spätaussiedler gefragt, eine repräsentative Erfassung der Aussiedler ist jedoch immer noch problematisch (vgl. Seifert 2008).
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del feststellen: Mit der starken Zunahme des Aussiedlerzuzugs seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre hat sich auch der Blick der Aufnahmegesellschaft auf die Aussiedler verändert. Sie wurden zunehmend als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen, staatliche Unterstützungsleistungen wurden als illegitime Bevorzugung empfunden. Die Aussiedler wurden zunehmend weniger als Deutsche wahrgenommen, sie wurden vielmehr als Russen und somit als Ausländer identifiziert (vgl. Herdegen 1989). Welche Bedeutung kommt der Religion für die Aussiedler zu und wie wirkt sie sich auf Integrationsprozesse aus? Angesichts der überwiegenden Zugehörigkeit zu christlichen Konfessionen, die in Deutschland den Status der Mehrheitsreligion haben, scheint die religiöse Zugehörigkeit zunächst einmal für die Integration eine untergeordnete Rolle zu spielen. Etwa die Hälfte der Aussiedler ist evangelisch, ein knappes Viertel katholisch. Daneben gibt es, wohl auch bedingt durch interethnische und interkonfessionelle Ehen in der Sowjetunion, eine kleine, aber wachsende russischorthodoxe Minderheit.4 Aber auch in Bezug auf die Partizipation entsprechen die Aussiedler in weiten Teilen den Bedingungen im Aufnahmeland: Die meisten formalen Kirchenmitglieder haben mit dem kirchlichen Leben in der Gemeinde wenig zu tun. Es mag eine Nachwirkung der antikirchlichen Politik der Sowjetunion und des atheistischen Milieus in den Großstädten sein, dass viele Russlanddeutsche keinerlei religiöse Sozialisation durchlaufen haben und teilweise nicht einmal wissen, ob sie getauft worden sind. Wenn sie bei der Einreise dennoch die Zugehörigkeit zu einer christlichen Konfession angeben, so liegt dies nicht selten an der gedachten Zusammengehörigkeit von deutscher Ethnie und deutscher (also evangelischer oder katholischer) Konfession (vgl. Ilyin 2006: 284). Diese Gleichsetzung erfolgt dabei von beiden Seiten, betrachtet man die übliche Vorgehensweise der deutschen Behörden, kirchliche Zugehörigkeit und Praxis als Kriterium für die gelebte deutsche Kultur bei der Bearbeitung der Anträge zu berücksichtigen (vgl. Westphal 2003: 136).
4
Offizielle Daten werden in den Jahresstatistiken des Bundesverwaltungsamts veröffentlicht. Diese Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu behandeln, da sie die Zugehörigkeit zur russisch-orthodoxen Kirche (und in realistischem Maße auch Konfessionslosigkeit) erst seit 1998 erfassen. Alternative Angaben basieren in der Regel auf kleineren Stichproben unterschiedlicher Erhebungen.
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Gerade in den landeskirchlichen Gemeinden führt dies dazu, dass viele der neuen Mitglieder selbst kaum über ein aktives Wissen zu religiösen Lehren und religiöser Praxis verfügen. Bestehen überhaupt Vorstellungen von kirchlicher Praxis wie etwa dem Ablauf von Gottesdiensten, so sind diese zumeist von einer stark pietistisch geprägten Form beeinflusst, wie sie sich in evangelischen Gemeinden in der Sowjetunion herausgebildet hat (vgl. Theis 2006: 134-145). In Teilen lassen sich hier Parallelen zur Situation in den jüdischen Gemeinden beobachten. Auch diese haben durch Zuwanderer aus der ehemaligen UdSSR einen großen Mitgliederzuwachs erfahren und merken nun, dass sie die religiöse Erstsozialisation der neu Angekommenen leisten müssen (vgl. Harris 2003: 259-260).5 Von dieser Mehrheit der religiös nur schwach gebundenen Russlanddeutschen unterscheiden sich die Mitglieder freikirchlicher christlicher Gruppen deutlich. Diese evangelikal ausgerichteten Aussiedler zeichnen sich durch eine starke Bindung an ihre Gemeinde aus. Im Gegensatz zu den lutherischen oder katholischen Aussiedlern, die in den in Deutschland bestehenden Gemeinden aufgingen, gründeten freikirchliche Aussiedler vielfach eigene Gemeinden – in einigen Fällen auch durch Abspaltungen von älteren freikirchlichen Gemeinden, denen sie sich in Deutschland zunächst anschlossen. Bei dieser Gruppe lassen sich also eine aktive Gemeindearbeit und eine ausgeprägte religiöse Praxis beobachten, die sich auch in der Herausbildung eigener Strukturen niederschlagen. Schätzungen zufolge gehören insgesamt etwa 15 Prozent der Aussiedler freikirchlichen Gemeinden an.6 Diese Gruppe steht im Fokus dieses Beitrags, insbesondere aus zwei Gründen: Aus religionswissenschaftlicher Perspektive zeichnen sich die Mitglieder der freien russlanddeutschen Gemeinden dadurch aus, dass sie eine vitale religiöse Praxis und ein umfassendes Gemeinschaftsleben an den Tag legen, im Gegensatz zur weitgehend säkularisierten Mehrheit der Aussiedler. Für die Untersuchung der Re-
5
Die jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion sind nicht als Aussiedler, sondern in der Regel über das Kontingentflüchtlingsgesetz nach Deutschland eingereist (vgl. Harris 2003: 247).
6
Innerhalb des evangelikalen Spektrums lässt sich eine große Bandbreite verschiedener Glaubensrichtungen finden, neben Mennoniten und Baptisten als größten Konfessionen sind unter ihnen auch Pfingstler, Neuapostolen oder Methodisten.
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ligion als Faktor in der Migrationssituation liegt es daher nahe, bei den Aussiedlern zu beginnen, die eine ausgeprägte Religiosität aufweisen.7 Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive reizt jedoch gerade das Unwahrscheinliche: Bei einer Migrantengruppe gleicher Ethnie, Religionszugehörigkeit und rechtlichem Status wie die Aufnahmegesellschaft erscheint die Gründung eigener religiöser Gemeinden unplausibel. Diese Gemeinden propagieren überdies divergierende Formen der Ethik und Lebensführung und tragen dadurch zu sozialer Segregation bei. Im Hinblick auf Lebensführung, moralische Autoritäten, Akzeptanz von der Mehrheitsgesellschaft vorausgesetzter Werte, Geschlechterordnung und soziale und räumliche Segregation wirft die Existenz evangelikaler russlanddeutscher Gemeinden Fragen hinsichtlich der Integration ihrer Mitglieder auf, die so bislang vor allem in Bezug auf den Islam diskutiert wurden. Die empirischen Befunde lassen sich als Hinweis lesen, dass religiöse Vergemeinschaftung nicht nur bei von der Mehrheitsgesellschaft unterschiedlicher ethnischer, religiöser oder nationaler Zugehörigkeit im Migrations- und Integrationsprozess eine bedeutende Rolle spielen. Entgegen der theoretisch postulierten Unwahrscheinlichkeit stellen russlanddeutsche, von den Institutionen der Aufnahmegesellschaft unabhängige Gemeinden trotz ethnischer, religiöser und rechtlicher Nähe eine Tatsache dar. In der näheren Betrachtung der empirischen Daten sind nun daher Erklärungsansätze für die Plausibilität und Funktion freier russlanddeutscher Gemeinden zu entwickeln. Die vorgestellten Überlegungen sollen als Ausgangspunkt dafür dienen.
Z UM B EGRIFF DER I NTEGRATION Spricht man über Fragen der Integration von Migranten, ist die Klärung des zugrunde gelegten Integrationskonzepts notwendig. Integration ist ein in der öffentlichen Debatte breit verwendeter Begriff, der jedoch in vielen Verwendungszusammenhängen nicht genauer definiert wird. Öffentliche
7
Auch bei der Debatte über die Rolle des Islams im Integrationsprozess ist festzustellen, dass die zentralen Fragen anhand der Lebenspraxis aktiv religiöser Muslime diskutiert werden, während die wenig religiöse Mehrheit der Migranten aus muslimisch geprägten Ländern weitaus weniger Beachtung findet.
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und politische Diskurse operieren oftmals mit einem diffusen, implizit bleibenden Integrationsbegriff. Dieser zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass er eine Erwartungshaltung an die Zugewanderten beinhaltet: Migranten sollen sich integrieren, indem sie sich in einer oft nicht näher spezifizierten Weise an die Aufnahmegesellschaft annähern. In diesem Zusammenhang ist dann häufig vom „Integrationswillen“ die Rede, wahrgenommene Integrationsdefizite werden auf mangelnde Bemühungen seitens der Migrierten zurückgeführt. In der sozialwissenschaftlichen Integrationsforschung ist dagegen herausgestellt worden, dass Integration ein zweiseitiger Prozess ist: Leistungen der Migranten auf der einen Seite stehen Leistungen der aufnehmenden Gesellschaft gegenüber. Rosemarie Sackmann (2004) unterscheidet diese beiden Komponenten als „Integration“, womit sie die insbesondere strukturellen Angebote der Aufnahmegesellschaft bezeichnet, und „Akkulturation“, womit die kulturelle Adaptionsleistung der Zuwanderer gemeint ist. Eine weitere Differenzierung des Integrationsbegriffs ist insbesondere durch Hartmut Esser etabliert worden. Esser unterscheidet verschiedene Dimensionen von Integration. Damit werden spezifische Aspekte der Sozialintegration konkretisiert, die unabhängig voneinander untersucht und bewertet werden können. Dies ermöglicht eine Operationalisierung von Integration, indem Indikatoren für die einzelnen Dimensionen bestimmt werden. Esser (1999) unterscheidet dabei die Dimensionen der kulturellen, sozialen, identifikativen und strukturellen Integration. Insbesondere die strukturelle Integration steht dabei im Fokus, umfasst diese doch die Eingliederung der Migranten in die gesellschaftlichen Institutionen in Bereichen wie Bildung oder Arbeit. Gerade diese ist nach Esser zentral für einen langfristigen Erfolg der Migranten im Aufnahmeland. In dieser Perspektive werden die strukturellen Resultate des Integrationsprozesses betont. Soziale Integration (etwa Häufigkeit und Intensität von Kontakten zwischen Migranten und Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft) und kulturelle Integration (etwa Beherrschung der Sprache des Aufnahmelandes) werden als der strukturellen Integration förderlich angesehen, aber nicht als erstrebenswertes Ziel an sich begriffen. Der Aufbau ethnischer Institutionen, also von Migranten errichteter Strukturen anstelle der Nutzung bestehender Institutionen der Aufnahmegesellschaft, wird in der Migrationsforschung kontrovers diskutiert. Wurde er lange vor allem aufgrund der angenommenen segregationsfördernden Wir-
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kung kritisch betrachtet, hat Georg Elwert (1982) eine neue Bewertung dieser Prozesse vorgenommen. Unter dem Begriff der „Binnenintegration“ beleuchtet Elwert die integrativen Potenziale ethnischer Institutionen. Nach seinem Konzept leisten diese Strukturen etwas für die Migranten, was die Integration in die Aufnahmegesellschaft eher befördert, als sie zu behindern. Darunter rechnet Elwert insbesondere psychologische Faktoren wie die Stärkung des Selbstbewusstseins in einer fremden Umgebung, die Selbsthilfe innerhalb der Gemeinschaft sowie die Vertretung von Interessen der Migranten gegenüber den Institutionen der Aufnahmegesellschaft. Mit Blick auf religiöse Gemeinschaften russlanddeutscher Aussiedler bedeutet dies zweierlei: Zum einen sollten bei der Bewertung des Stands der Integration der Aussiedler die strukturellen Resultate im Vordergrund stehen. Kulturelle Differenz ist nicht als solche ein Anzeichen für mangelnde Integration, sondern muss in ihrer Auswirkung auf die Chancen der strukturellen Integration betrachtet werden. Zum anderen sind russlanddeutsche Gemeinden als ethnische Institutionen daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie eine binnenintegrative oder eine segregierende Wirkung entfalten. Die bisherige Forschung zu freikirchlichen Aussiedlergemeinden weist in dieser Hinsicht einige Desiderata auf.
F ORSCHUNG
ÜBER FREIKIRCHLICHE
AUSSIEDLER
Aufgrund ihrer sichtbaren kulturellen Differenz drängt sich die Beschäftigung mit der Religiosität der Aussiedler oftmals auch in Forschungsprojekten auf, die ursprünglich keine dezidiert auf Religion bezogene Fragestellung hatten. Besonders prägnant beschreibt dies Waldemar Vogelgesang in Bezug auf eine Studie über russlanddeutsche Jugendliche: „Dabei sind wir, gleichsam als zusätzlichen Aspekt und nicht intendierte Folge unserer Forschungsfrage, auch auf eine ausgeprägte Form religiöser Distinktion und Segregation gestoßen.“ (Vogelgesang 2006: 151) In der weiteren Untersuchung werden aus religionswissenschaftlicher Perspektive einige Probleme deutlich, die aus dieser unvorbereiteten Beschäftigung mit der Aussiedlerreligiosität erwachsen. Die alltagspraktische Relevanz und die hohe normative Verbindlichkeit, die Religion für Mitglieder freikirchlicher Aussiedlergemeinden besitzt, evoziert bei den selten mit religiösen Orientierungen dieser Intensität befassten Sozialwissenschaftlern eine in erster Linie kriti-
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sche Haltung gegenüber den vorgefundenen Phänomenen, die sich in Formulierungen wie „religiös indoktrinierter Tugendhabitus“, „gegenmoderne Welten“ oder „konfessionelle Apartheid“ niederschlägt. Die religiöse Vergemeinschaftung erscheint aus dieser Perspektive als eine Abwehrbewegung gegen die Zumutungen der modernen Gesellschaft unter den Unsicherheiten der Migrationssituation. Das verständliche Bedürfnis nach Sicherheit und die daraus folgende Binnenintegration bringe gerade die Jugendlichen in eine Grenzsituation zwischen seitens der Elterngeneration erwarteter totaler Segregation und von der Aufnahmegesellschaft geforderter Akkulturation, die erhebliche Gefahren für ihre Entwicklung in sich berge. Andere Studien lenken ihren Blick stärker auf die Prozesse zwischen Aufnahmegesellschaft und Migrantengruppe. Die Abgrenzung erscheint dann nicht mehr als ein einseitiger Akt religiöser Fanatiker, sondern als wechselseitig verstärkter Prozess. In einer Fallstudie zeigt Friedrich Stallberg etwa, wie die religiöse Zurechnung seitens der Aufnahmegesellschaft zum prägenden Merkmal wird, indem alle in einer Kleinstadt ansässigen Aussiedler unterschiedslos als „die Baptisten“ bezeichnet werden. Die religiöse Teilgruppe steht pars pro toto für die konfliktträchtige Differenz zwischen Alteingesessenen und Hinzugezogenen. Die in diesem Konflikt vorgetragene Forderung nach Integration offenbart auch einen Kern des Perspektivunterschieds: Während für die Alteingesessenen Integration vor allem an sozialer Interaktion festgemacht wird, sehen die Russlanddeutschen in ihrer erfolgreichen beruflichen Positionierung den Beweis für ihre gelungene Integration.8 Diese Beschreibung der diskursiven Aushandlung von Integrationserwartungen ist theoretisch durchaus fruchtbar. In der Einschätzung der Rolle der (tatsächlichen) Baptisten in dieser Situation ähnelt Stallbergs Resümee jedoch dem Vogelgesangs: Die „Absonderung“ als „höchste Norm im mennonitisch-baptistischen Orientierungssystem“ (Stallberg 2008: 567) verhindere die soziale Integration. Einen dynamischeren Blick auf den Status evangelikaler Gemeinden ermöglicht die im letzten Jahr veröffentlichte Dissertation von Arne Schäfer (2010), in der er die Lebenswelten russlanddeutscher Jugendlicher in ei-
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Diese Differenz lässt sich in den Begriffen der Integrationstheorie Hartmut Essers als strukturelles versus sozio-kulturelles Verständnis von Integration beschreiben (s.o.).
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ner Aussiedlergemeinde erforscht hat. Aufbauend auf dem Forschungsstand zu Aussiedlergemeinden geht Schäfer dabei von einem Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne aus, in dem insbesondere die Jugend als Lebensphase verortet ist: Während die Gemeindeleitung bemüht sei, die Herausbildung eigenständiger jugendkultureller Muster zu verhindern und die Sozialisierung der Jugendlichen möglichst vollständig innerhalb der Gemeinde zu verorten, seien die Jugendlichen alltäglich mit anderen, konkurrierenden Formen der Jugendkultur außerhalb der Gemeinde konfrontiert. Insbesondere der Besuch weiterführender Bildungseinrichtungen und die damit verbundene Inklusion in gemeindeferne Institutionen seien hier für einen Wandel verantwortlich. Die Jugendlichen seien damit in „zwiespältige Lebenswelten“ (so der Titel von Schäfers Buch) eingebunden und müssen die widerstreitenden Anforderungen beider Sinnzusammenhänge bearbeiten, was ihnen jeweils in verschiedenem Maße gelänge. Die Leistung der Arbeit von Schäfer liegt darin, dass sie die Dynamisierung freikirchlicher Aussiedler-Lebenswelten beleuchtet. Durch das Heranwachsen einer neuen Generation kommt die traditionale Lebenswelt der Gemeinde in Kontakt mit modernen jugendkulturellen Formen, die durchaus in einem Lebensrahmen integriert werden können. Im Hinblick auf die Gemeinde und die religiösen Anforderungen an die Lebensführung bleibt jedoch der Fokus auf der religiösen Anbindung als restringierendem Moment: Die Gemeinde versuche, einen Kontakt mit der als sündhaft wahrgenommenen „Welt“ (im Sinne des theologischen Gegenbegriffs zur „Gemeinde“) zu verhindern, die Jugendlichen müssen mit dieser Restriktion ihrer jugendkulturellen Entfaltungsmöglichkeiten umgehen. Diese Beispiele zeigen, wie die bisherige Forschung zu freikirchlichen Aussiedlergemeinden von einer Perspektive auf Religion geprägt ist, die sie als traditional und vormodern identifiziert und sie damit der Moderne – in Gestalt der bundesdeutschen Gesellschaft – gegenüberstellt. Integration werde durch diese Form der Religion behindert oder gar unmöglich gemacht. Lediglich eine gewisse stabilisierende Funktion wird der Binnenintegration in den Gemeinden zugesprochen, jedoch auf Kosten sozialer Isolation. Fokussiert man in dieser Weise einzelne russlanddeutsche Gemeinden, ergibt sich leicht das Bild eines sich selbst erhaltenden Systems, welches die eigene Reproduktion gegen Diffusionserscheinungen durchsetzen muss. Fast zwangsläufig erwächst daraus die Vorstellung einer traditionalen Gemeinschaft, die ihre Ansprüche gegen die Moderne verteidigt. Bei
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einem Blick über die einzelne Gemeinde hinaus stellt sich dies jedoch in einem anderen Lichte dar: Betrachtet man die Gemeindelandschaft der russlanddeutschen Mennoniten und Baptisten in Deutschland, wird deutlich, dass Gemeindeneugründungen und -spaltungen durchaus übliche Prozesse sind (vgl. Klassen 2007). Die Landschaft ist in kontinuierlicher Veränderung begriffen, die auch Raum für sich ändernde Anforderungen der Gemeindemitglieder bietet. Ein Blick auf individuelle Biografien von Aussiedlern zeigt zudem, dass ein Wechsel zwischen Gemeinden, einschließlich solcher unterschiedlicher Konfession, durchaus üblich ist. Sowohl auf der Ebene der Gemeinden selbst als auch auf der Ebene der individuellen religiösen Biografie sind also permanente Veränderungen zu verzeichnen. Die Gemeinden stehen dabei durchaus in einer Form von Wettbewerb: Indem die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde oder die Existenz der Gemeinde selbst regelmäßig zur Disposition steht, müssen die Gemeinden auch Angebote bereitstellen, die für ihre Mitglieder attraktiv sind. Meines Erachtens stellt die Einbindung in die religiöse Gemeinde daher nicht zwangsläufig ein rückwärtsgewandtes, traditionelles Moment dar, welches von den Älteren gegen die scheinbar natürlichen Diffusionskräfte der Jugend aufrecht erhalten wird. Ich halte dagegen eine Perspektive für fruchtbarer, die die individuellen biografischen Handlungsmöglichkeiten in den Blick nimmt. Nicht die religiöse und kulturelle Differenz selbst, sondern deren strukturelle Bedeutung für die Lebensverläufe russlanddeutscher Aussiedler und ihre biografische Bearbeitung rücken dann in den Mittelpunkt. Die religiöse Orientierung, so meine These, kann ebenso Ressourcen für den eigenen Lebensweg bieten und stellt damit eine Option dar, die sich auch innerhalb einer modernen Gesellschaft als Bezugsrahmen anbietet. Damit ist auch eine Verschiebung von der Betrachtung der kollektiven Dimension der Religion hin zur individuellen Bedeutung religiöser Orientierungen verbunden. Erste Ergebnisse meiner eigenen Forschungsarbeit zeigen dabei an, dass die Mitgliedschaft und das Engagement in freikirchlichen Gemeinden eine individuelle und bewusste Entscheidung ist, die im Kontext der individuellen Biografie betrachtet werden muss. Es scheint mir dabei aufschlussreicher zu sein, auf die biografischen Entscheidungssituationen zu schauen und zu fragen, welche Rolle die religiöse Gemeinschaft an diesen Wendepunkten der Biografie einnimmt, als nach der Reproduktionslogik der Gemeinschaft als Kollektiv zu fragen. Anhand von Fallbeispielen aus meiner laufenden Forschungsarbeit möchte ich dies ausführen.
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D ATEN
UND
M ETHODEN
Die diesem Beitrag zugrunde liegenden Daten wurden im Rahmen meines laufenden Dissertationsprojekts erhoben. Den Kern der Erhebung bilden autobiografisch-narrative Interviews mit russlanddeutschen Aussiedlern, die als Kinder oder Jugendliche nach Deutschland eingereist sind. Darüber hinaus wurden leitfadengestützte Interviews mit Gemeindeleitern sowie mit weiteren Experten (z.B. Aussiedlerbeauftragten) geführt und teilnehmende Beobachtungen bei Gemeindeaktivitäten durchgeführt. Die biografischen Interviews wurden narrationsanalytisch ausgewertet. Für die Fragestellung nach der Relevanz religiöser Orientierungen als biografischer Ressource ist diese auf den Arbeiten von Fritz Schütze aufbauende Methode hervorragend geeignet. Schütze fragt in seiner Ausarbeitung der Methode vor allem nach den „Prozeßstrukturen des individuellen Lebenslaufs“ (Schütze 1983: 284). Biografische Erzählungen werden als Ausdruck einer Korrespondenz von Darstellungsstrukturen und handlungsleitenden Orientierungsstrukturen verstanden (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2009: 222). Gerade die Dialektik zwischen individueller Handlungsorientierung und den restringierenden Strukturen wird hierbei in den Blick genommen. Ausgehend von den theoretischen Überlegungen zur Interdependenz von Religion und Integrationsprozess über die biografische Verarbeitung von Ressourcen und Restriktion lassen sich diese Prozesse anhand des erhobenen Materials beschreiben und analysieren: „Das narrative Interview dokumentiert für die mit ihm erhobenen Handlungsprozesse sehr präzise die Konfrontation zwischen ursprünglichen Handlungsplänen von Individuen und den sie umgebenden heteronomen Rahmenbedingungen. Darüber hinaus werden auch die aus dieser Konfrontation resultierenden, unintendierten (oder: transintentionalen) Handlungsfolgen sowie die darauf reagierende Reorganisation der Handlungsabsichten des Individuums erfasst […]“ (Küsters 2009: 181).
Für die Erforschung biografischer Verläufe in einer Migrations- oder Minderheitensituation ist die Narrationsanalyse gut geeignet. Ihre Abhängigkeit von hinreichend ausführlichen narrativen Passagen stellt ihrer Anwendung in der Migrationsforschung jedoch auch Hürden entgegen. Küsters verweist auf die Schwierigkeiten bei der Durchführung und Auswertung von Interviews mit Nicht-Muttersprachlern, sowohl in Bezug auf die Möglichkeit
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ausführlicher Narrationen als auch auf die Interpretationsprobleme aufgrund kulturspezifischer Konnotationen (vgl. ebd.: 189). Bei der älteren Generation russlanddeutscher Aussiedler, die zumeist bereits im Erwachsenenalter nach Deutschland eingereist sind, stellen auf Deutsch geführte narrative Interviews in der Tat ein Problem dar. Mit den jüngeren Interviewpartnern, die in der Regel als Kinder nach Deutschland gekommen sind, ließen sich jedoch narrative Interviews gut durchführen, sie beherrschen die deutsche Sprache flüssig und mit nur leichtem Akzent. Dennoch ist bei der Feinanalyse der Interviews eine erhöhte Sensibilität für kulturell geprägte Begriffsbedeutungen erforderlich – auch wenn sich Fehlinterpretationen nicht vollständig ausschließen lassen.
D ER O RT DER R ELIGION Z WEI F ALLBEISPIELE
IN DER
B IOGRAFIE :
Anhand zweier Interviews möchte ich im Folgenden die biografische Relevanz religiöser Orientierungen für junge Russlanddeutsche darstellen. Die beiden Fälle zeigen unterschiedliche Möglichkeiten, auf welche Weise Religion im Lebensverlauf Bedeutung erhält. Lukas9 ist in der Gemeindearbeit einer russlanddeutschen Mennonitengemeinde in leitender Funktion aktiv. Sein Fall steht damit für die unmittelbare Orientierung biografischer Entscheidungen an den Möglichkeiten der Gemeinde als ethnischer Institution. Judith dagegen ist Mitglied der Gemeinde, hat daneben aber in ihrem Leben Bindungen zu verschiedenen evangelikalen Gemeinden und Organisationen gehabt, ohne eine leitende Stellung in einer religiösen Organisation anzustreben. Die Analyse der biografischen Erzählungen erlaubt einen Einblick in die Bedeutung der religiösen Orientierung an kritischen Stellen im Lebensverlauf und deckt damit Mechanismen auf, mittels derer Religion Einfluss auf Integrationsprozesse haben kann.
9
Alle Namen und Ortsangaben wurden anonymisiert.
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L UKAS : R ELIGION
ALS
B ERUF
Lukas ist Anfang der 1990er Jahre im Alter von zehn Jahren nach Deutschland gekommen. Die Familie hatte mehrere Aufnahmelager für Aussiedler durchlaufen, bevor sie in Ostdeutschland einen vorübergehenden Aufenthaltsort fand. Kurze Zeit später konnte die Familie nach Westdeutschland umziehen, da der Vater in einer „hiesigen“10 Baptistengemeinde Arbeit als Hausmeister fand. Bald schloss sich die Familie von Lukas einer russlanddeutschen Mennonitengemeinde in einer Nachbarstadt an, die deutlich mehr Angebote für Kinder und Jugendliche verschiedener Altersstufen bereitstellte. Im Anschluss an das Abitur entscheidet sich Lukas für ein Theologie- und Sport-Studium auf Lehramt. Im Studium erfährt er, dass seine eigenen religiösen Überzeugungen in der universitären Theologie randständig sind, seine Kommilitonen und teilweise seine Dozenten haben einen deutlich anderen Blick auf theologische Inhalte. Vor dem Staatsexamen entschließt er sich, das Lehramtsstudium nicht zu beenden, sondern stattdessen ein Studium an einem evangelikalen Bibelseminar aufzunehmen. Auch das Berufsziel ändert sich damit, die praktische Gemeindearbeit rückt stärker in den Mittelpunkt. Um sein neues Studium absolvieren zu können, erhält er finanzielle Unterstützung durch die Aussiedlergemeinde. Das Studium hat er inzwischen mit einem – staatlich nicht anerkannten – Bachelorabschluss beendet und strebt nun einen Masterabschluss in Theologie in einem evangelikalen Studienprogramm an. In Lukas’ Biografie ist die Zugehörigkeit zu einer Aussiedlergemeinde nicht von Anfang an vorgegeben. Zunächst gehört seine Familie einer „hiesigen“ Baptistengemeinde an. Der Wechsel zur Aussiedlergemeinde – und damit auch der Wechsel von einer Baptisten- zu einer Mennonitengemeinde – ist nicht seine individuelle Entscheidung, die Familie schließt sich als Ganze der neuen Gemeinde an. Lukas kennt nun aber beide Kontexte, der Vergleich beider Gemeinden verweist auf die Kontingenz der Gemeindepraxis. Die Charakterisierung beider Gemeinden drückt auch seine Vorstellung religiöser Praxis aus. In Hinblick auf die Baptistengemeinde zeichnet
10 Das Wort „hiesig“ wird bei von Russlanddeutschen häufig verwendet, um alteingesessene Deutsche ohne Migrationsgeschichte von den Aussiedlern zu unterscheiden. In Ermangelung einer treffenderen Bezeichnung übernehme ich diesen Begriff im Folgenden.
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Lukas das Bild einer alternden Gemeinde, die an Attraktivität für Jüngere und damit an Vitalität verloren hat: „Als wir kamen war die Gemeinde recht ähm, würde sagen für deutsche Verhältnisse eher durchschnittlich, so achtzig Mitglieder müssten die gehabt haben. Angesichts einiger Meinungsverschiedenheiten hat es dann von den Zahlen auch stark abgenommen, und vom Alter dementsprechend. Weil die Kinderarbeit nicht mehr geführt werden konnte sind dann einige abgesprungen zu Nachbargemeinden …“
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Benennung der „deutschen Verhältnisse“. Die Baptistengemeinde wird als „für deutsche Verhältnisse eher durchschnittlich“, also als „typisch deutsch“ charakterisiert. Damit wird implizit eine Unterscheidung in deutsche Gemeinden und Aussiedlergemeinden vorgenommen. Diese Unterscheidung verläuft nicht entlang religiöser (etwa konfessioneller) Grenzen, sondern eröffnet eine ethnische Differenz, die angesichts der „deutschen Volkszugehörigkeit“ der Aussiedler prekär ist. Nur an wenigen Stellen im Interview greift Lukas auf eine Unterscheidung von „Deutschen“ und „Russlanddeutschen“ zurück. Eine davon ist die Charakterisierung der Mennonitengemeinde: „Damals war die Meinung auch eben vom russlanddeutschen Kontext geprägt, sehr stark auf das Tun, das heißt, wenn Du in die Gemeinde kommst […], wird nicht erst mal irgendwie geistliches Training gemacht, ja? Wirklich ne Basis geschaffen, ’n Fundament, also ’n Sein geformt, sondern direkt: Möchtest du in der Kinderstunde arbeiten? Möchtest du predigen? Möchtest du äh, im Chor, Chor ist mit so das erste Angebot. Und das ist natürlich meiner Meinung nach höchst gefährlich.“
In dieser Passage beschreibt Lukas, was in seiner Wahrnehmung typisch für das Gemeindeleben in russlanddeutschen Gemeinden ist, und verhält sich dazu. Die von ihm formulierte Differenz zwischen „Tun“ und „Sein“, also zwischen praktischer, aber theologisch unreflektierter Gemeindearbeit und der geistlichen „Charakterbildung“ ist an vielen Stellen leitend für seine kritische Auseinandersetzung mit der religiösen Praxis in Aussiedlergemeinden. Einschneidend ist für ihn in dieser Hinsicht die eigene Erfahrung mit der in Aussiedlergemeinden üblichen Praxis der Laienpredigt:
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„Ich stand dann da und hatte einfach nichts, womit ich arbeiten konnte. […] Also wurde mir nachher gesagt, ähm das war wirklich gut, aber du hast, äh du hast also nicht auf die Bibel zurückverwiesen. Und ich dachte: Ja, das stimmt, das stimmt wirklich und macht auch Sinn, klar, aber dann hab ich gedacht: Warum hat mir das eigentlich keiner gesagt? […] Wenn du gewissermaßen alleine gelassen wirst nach dem Motto, äh komm wir holen dich ab, stell dich an die Haltestelle, und dann stehst du da alleine, ja, und es kommt äh seit Stunden kein Bus, das ist schon hart, ja?“
Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das für seine weitere biografische Entwicklung maßgeblich ist: Auf der einen Seite begrüßt er die akademische Theologie, der seinem Empfinden nach in russlanddeutschen Gemeinden zu wenig Bedeutung zugemessen wird, auf der anderen Seite nimmt er in der deutschen Schul- und Hochschullandschaft Defizite in der religiösen Überzeugung wahr. Seine Entscheidung für ein Theologiestudium auf Lehramt begründet Lukas mit einem Mangel an überzeugten Religionslehrern. An der Universität begegnet er dann aber einer liberalen Theologie, die einigen seiner zentralen Überzeugungen widerspricht. Auf der anderen Seite hält er eine theologische Ausbildung und eine wissenschaftliche Theologie für unerlässlich. Die Entscheidung, das Hochschulstudium aufzugeben und stattdessen einen Studiengang an einer evangelikalen Bibelschule zu absolvieren, ist für Lukas ein Ausweg aus diesem Dilemma. An der maßgeblich von amerikanischen Evangelikalen geleiteten Bibelschule lernt er eine Theologie kennen, die einerseits seinen Ansprüchen an wissenschaftliche Standards genügt, die andererseits aber auch für ihn unverzichtbare Glaubensfundamente teilt. Diese akademische Fundierung ist in Lukas’ Vorstellung auch Grundlage für die praktische Arbeit in seiner Gemeinde: „Grundsätzlich ging’s mir darum, wenn ich weiterhin Jugendarbeit, Kinderarbeit äh, oder: Arbeit mit Kindern, in der Gemeinde äh leitend irgendwo verantwortlich durchführen sollte, ist eine ähm wissenschaftliche Basis unverzichtbar.“
Der zentrale Stellenwert, den die Beschäftigung mit seiner Religion in Lukas’ Lebensverlauf einnimmt, ist in dieser Form gerade kein Ausdruck traditionaler Orientierung an den Vorgaben der russlanddeutschen Gemeinde. Die akademische Theologie und sein Ziel, die Gemeindearbeit auf eine wissenschaftlich-theologische Basis zu stellen, entspricht gerade nicht der
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in den freikirchlichen Gemeinden vorherrschenden Laientheologie. Auf der anderen Seite ist sein evangelikaler Hintergrund maßgeblich für seine Entscheidung, eine Laufbahn jenseits der etablierten deutschen Theologie einzuschlagen. In Anbetracht seiner bisherigen Biografie ist es daher nur konsequent, wenn er als mögliches Berufsziel eine Tätigkeit als hauptamtlicher Pfarrer in einer Aussiedlergemeinde in den Blick nimmt – auch wenn dies eine grundlegende Strukturveränderung in der Gemeinde voraussetzen würde. Damit ergibt sich aus Lukas’ intensiver Beschäftigung mit der Religion Reformpotenzial für die Gemeinde. Bezieht man Lukas’ biografische Entwicklung auf Fragen der Integration, so lassen sich ambivalente Konsequenzen beschreiben: Einerseits kann Lukas von der Einbettung in ein religiöses Netzwerk profitieren. Schon die Anstellung seines Vaters und der damit verbundene Umzug nach Westdeutschland sind mit der Einbindung in eine Gemeinde verbunden. Später erhält er selbst in seinem Studium direkte finanzielle Unterstützung durch die Gemeinde. Der Religion ist auch eine orientierende Funktion bei wichtigen biografischen Entscheidungen wie der Studienwahl zuzuschreiben. Seine intensive Beschäftigung mit der Religion führt in der Konsequenz jedoch zu einer Professionalisierung in einem Bereich, in dem eine Nachfrage nach hauptberuflichen Theologen kaum besteht. Die Initiierung eines reformatorischen Prozesses muss also ein Ziel seiner Bemühungen sein, will er sein berufliches Ziel realisieren. Hartmut Esser hat in der Diskussion um die potenziell positiven Effekte der Binnenintegration vor den unerwünschten negativen Seiteneffekten gewarnt. Dabei greift er das Bild von der „Mobilitätsfalle“ (mobility trap) auf, dass der US-amerikanische Soziologe Norbert F. Wiley entwickelt hat: „The trap consists in the increasing attractiveness of a safe alternative compared to a riskier, but potentially more fruitful one. Above all, once taken, the decision can hardly be revoked“ (Esser 2003: 25). Lukas’ Entscheidung für eine theologische Ausbildung jenseits des deutschen akademischen Mainstreams entspricht seiner religiösen Überzeugung und eröffnet ihm im Kontext seiner Herkunftsgemeinschaft (und dem weiteren evangelikalen Milieu) gewisse Optionen. Im Gegenzug bleiben ihm damit jedoch berufliche Laufbahnen in breiten Teilen der Aufnahmegesellschaft verschlossen.
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J UDITH : R ELIGIÖSE I NSTITUTIONEN
ALS
R EFUGIUM
Judith ist mit zwölf Jahren nach Deutschland gekommen. Sie hat in Kasachstan das Sowjetsystem und dessen Zusammenbruch miterlebt und wache Erinnerungen an die Diskriminierung von Deutschen/Christen (diese Kategorien trennt sie in der Retrospektive nicht, Christ-Sein und DeutschSein sind für sie miteinander verwoben). In Deutschland angekommen, wurde sie aufgrund ihrer schlechten Deutschkenntnisse zunächst in die Hauptschule eingeschult. Sie nimmt die Schulbildung dennoch primär als Chance wahr. Im Anschluss an ihren Hauptschulabschluss beginnt sie eine Ausbildung zur Krankenpflegerin, die sie jedoch abbricht. Nach einer Phase der Arbeitslosigkeit entschließt sie sich, als Aushilfe in einer evangelikalen Bibelschule zu arbeiten. In dieser Zeit fasst sie den Entschluss, erneut zur Schule zu gehen und das Abitur zu machen. Als sie sich nach dem Abschluss des Abiturs nicht für ein Studienfach entscheiden kann, kehrt sie zunächst an die Bibelschule zurück und absolviert dort ein dreijähriges Bibelstudium. Daran anschließend beginnt sie ein Germanistikstudium. Mit ihrer Einreise in Deutschland macht Judith unmittelbar eine Erfahrung der doppelten Deprivation, die für viele Russlanddeutsche prägend ist: In Kasachstan hat sie die Diskriminierung der Deutschen erlebt. In Deutschland erfährt sie nun eine Diskriminierung aufgrund ihrer Herkunft: Sozial, indem sie in der Schule als „Russin“ behandelt wird, und institutionell, indem ihre mangelhafte Beherrschung der deutschen Sprache ausschlaggebend für ihre Einschulung in einer Hauptschule ist. Beides kompensiert sie, indem sie sich primär auf ihre Bildung konzentriert. Für Judith ist die Schule in erster Linie ein Ausbildungsort, kein Ort für soziale Kontakte und Freundschaften. Gerade in der von ihr als chaotisch wahrgenommenen Hauptschulklasse hat sie, auch aufgrund ihrer sprachlichen Defizite, kaum Freundschaften mit autochthonen Mitschülern. Sie lehnt auch die ihrer Wahrnehmung nach ausgeprägte Haltung vieler Mitschüler ab, die wenig Ehrgeiz in Bezug auf die eigenen schulischen Leistungen an den Tag legen. In ihrer Erzählung spielt die Identität als Russlanddeutsche dabei eine ambivalente Rolle. Einerseits interpretiert sie die schulische Verweigerungshaltung an der Hauptschule als Eigenschaft der autochthonen Mitschüler, während die Russlanddeutschen hier eine andere Haltung an den Tag legen:
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„Ich wollte überhaupt nicht in diese Ich-hab-keinen-Bock-Schiene mich mich, ne, hineinzuziehen, ähm, hineinziehen zu lassen, sag ich’s mal so, weil ich – klar, in der Hauptschule, da gab’s auch solche: ‚Hausaufgaben? Nee, warum auch? Ich werd’ sowieso nichts anderes machen als nur arbeitslos sein.‘ Ähm, das wollte ich überhaupt nicht. Wir waren ein paar, ähm, Russen in der Klasse, sag ich mal, Russlanddeutsche gab’s ein paar, und die waren eigentlich so ziemlich alle durch die Reihe weg gut in der Schule.“
Auf der anderen Seite nimmt Judith auch russlanddeutsche Jugendliche als problematisch wahr, bringt sie mit Alkoholkonsum und kriminellem Verhalten in Verbindung. Während ihrer Zeit an der Hauptschule hat sie engere Kontakte zu diesen Jugendlichen, distanziert sich in der Retrospektive jedoch von ihnen. Diese Ambivalenz in der Einschätzung ihrer russlanddeutschen Mitschüler lässt sich anhand des Interviewmaterials nicht auflösen. Soziale Kontakte jenseits ihrer russlanddeutschen Peergroup knüpft Judith vor allem über Aktivitäten eines baptistischen Jugendwerks, zu dem sie über ihre Mitgliedschaft in einer deutschen Baptistengemeinde kommt. Jugendfreizeiten sind für sie die beste Gelegenheit, Freundschaften zu schließen. Diese sind weder in der russlanddeutschen Community verortet noch in der Schule; die baptistische Jugend bietet hier einen dritten Bezugsrahmen. „Es war so die erste Freizeit, wo ich plötzlich mal nicht unsichtbar war. Ich weiß nicht warum, aber die Leute haben mich einfach angenommen in der Gruppe. […] Ja, das war für mich so die erste wirklich positive Erfahrung mit Deutschen, sag ich’s mal so, ja? In der Schule, da wird man entweder ignoriert oder gemobbt, so ’ne? So du bist sowieso die Russin, du verstehst ja sowieso nichts. Ähm, und hier war’s plötzlich ganz anders.“
Die religiöse Gemeinschaft, die sich jenseits der eigenen russlanddeutschen Gemeinde anbietet, ist in kritischen Phasen ihrer Biografie immer wieder eine Art Rückzugsort, an dem sie akzeptiert wird, ohne über ihre Leistungen Rechenschaft ablegen zu müssen. Nachdem sie ihre Berufsausbildung abbricht, folgt eine Zeit der Arbeitslosigkeit, in der sie auch Selbstzweifel entwickelt. Sie entschließt sich in dieser Zeit, als Aushilfe in einer Bibelschule, die sie über ihre Gemeinde kennt, zu arbeiten. Sie erlebt diese Zeit
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als sehr hilfreich, um das zurückliegende Misserfolgserlebnis zu verarbeiten: „Also die Ausbildung, diese gescheiterte Ausbildung, die hat mein Selbstwertgefühl ziemlich in den Keller geschickt. Weil ich einfach dachte: Uah, was machst denn du? Du kannst es nicht, und du bist nicht so und, äh, das hat mich alles sehr sehr nach unten gedrückt, und dieses halbe Jahr, das ich halt da in A-Stadt verbracht habe, das war für mich total persönlich auch total, äh, aufbauend, sag ich’s mal so.“
Hier lernt Judith wichtige Bezugspersonen kennen, die sie auch in ihrer Entscheidung unterstützen, noch einmal zur Schule zu gehen und das Abitur zu machen. In der Retrospektive betont sie, dass die neuen Kontakte, die sich in der Bibelschule entwickelt haben, auch entscheidend für ihre Distanzierung von ihrer ehemaligen russlanddeutschen Clique waren: „Durch dieses halbe Jahr in der Bibelschule, da bin ich mehr raus aus diesem ganzen, so die Freunde die ich so hatte in der Schule, die sind alle nicht mehr da, die, die vermiss’ ich auch gar nicht. […] Wo ich einfach merke im Nachhinein, hätte ich noch länger was mit denen was zu tun gehabt, ich hätte wahrscheinlich mein Leben genauso gelebt und genauso ver- vergeudet und genauso – ja, einfach verschwendet und so, ne?“
Auch in ihrer zweiten Schulphase, am Gymnasium, stellt Judith das schulische Ziel über das Schließen neuer Freundschaften. Damit gewinnt sie jedoch in ihrer eigenen Wahrnehmung eine Unabhängigkeit vom Urteil anderer, die letztlich dazu führt, dass sie akzeptiert wird. Nach dem Abitur ist sie erneut unschlüssig, welchen weiteren Weg sie einschlagen soll. Sie beschreibt, wie sie in ihrem Entscheidungsprozess Hilfe durch Gebete und innere Zwiesprache mit Jesus findet. Sie entschließt sich dann, eine dreijährige theologische Ausbildung an einer Bibelschule zu machen. Sie verbindet hiermit keine beruflichen Ambitionen, die Zeit in der Bibelschule ermöglicht es ihr aber, sich persönlich in Bezug auf ihren Glauben weiterzuentwickeln. Vor allem erlebt sie die konfessionelle Heterogenität und die damit verbundene Pluralität religiöser Haltungen als positiv: „Das war für mich gut, so einfach so diese ganzen, ähm, anderen Sichtweisen des Glaubens kennenzulernen, ja weil ich einfach in diesem ganzen Russlanddeutschen
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ziemlich fest bin, na gut, damals war. Und plötzlich sagt jemand, wie? Einfach ein paar Grundsätze, die ich vorher für wahr gehalten hab’, wurden plötzlich einfach einmal umgekrempelt.“
Die Bibelschule, in der sich über Differenzen in Herkunft und Konfession eine Gemeinschaft herausbildet, erscheint als eine Art Refugium, das in prekären Phasen eine Rückzugsmöglichkeit bietet und neue Sicherheit für künftige Entscheidungen gibt. Dies hat Konsequenzen für ihre biografischen Entscheidungen und führt letztlich zu einer Aufstiegsgeschichte in Hinblick auf ihre Bildungskarriere. Die religiös konstituierte Gemeinschaft bietet eine Alternative zu zwei zur Verfügung stehenden ethnischen Bezugsrahmen, den sich über ihre russische Herkunft identifizierenden russlanddeutschen Jugendlichen und den konservativen russlanddeutschen Gemeinden. Die religiöse Orientierung hilft Judith so, zwei in der Integrationstheorie beschriebenen Gefahren zu begegnen: Die Inklusion von jugendlichen Migranten in perspektivlose oder kriminelle Jugendmilieus wird als „downward assimilation“ (Portes/Zhou 1993) bezeichnet. Hierfür ist Judith durch ihre über die Hauptschule vermittelten Kontakte anfällig. Sie selbst beschreibt retrospektiv, dass sie ihre Zeit in der Bibelschule für ausschlaggebend hält, nach dem Abbruch ihrer Ausbildung nicht wie ihre damaligen Freunde ihr Leben „vergeudet“ zu haben. Bei den konservativen russlanddeutschen Gemeinden kann man die Gefahr der Bildung hermetischer sozialer Systeme sehen, die als Risiko im Prozess der Binnenintegration beschrieben werden (vgl. Elwert 1982). Diese zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie gegenüber der Aufnahmegesellschaft nicht lernfähig bleiben. Die Kontakte in der Bibelschule und die dort vermittelte religiöse Pluralität beschreibt Judith als Gewinn an Freiheit gegenüber den festen Positionen, die sie aus ihrer Gemeinde kannte.
F AZIT Die Fallbeispiele zeigen, dass freikirchliche Gemeinden von Russlanddeutschen weniger hermetische Systeme sind, als die Forschung bislang vermuten lässt. Gerade die Orientierung auf die Religion ermöglicht Bezüge zu Teilsystemen der Aufnahmegesellschaft, ohne darüber die Herkunftsgemeinschaft verlassen zu müssen. In Lukas’ Fall ist es die akademische
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(evangelikale) Theologie, in Judiths die überkonfessionelle Gemeinschaft der Bibelschule. Beide finden darüber einen Bezugsrahmen jenseits der primären Angebote der Aufnahmegesellschaft (universitäre Theologie bzw. Schule) sowie der ethno-konfessionellen Gemeinschaft in der russlanddeutschen Gemeinde. Darüber erlangen sie eine Unabhängigkeit, die ihnen ermöglicht, sich in beiden Kontexten zu bewegen. Die konkrete Funktion der religiösen Ausbildung unterscheidet sich jedoch: Bei Lukas ist eine Professionalisierung festzustellen, die das religiöse Wissen zur Grundlage der eigenen beruflichen Pläne macht, und darüber auch das Potenzial und den Anspruch entwickelt, die Strukturen der russlanddeutschen Gemeinde selbst zu verändern. Bei Judith ist die Bibelschule dagegen eher ein Refugium, die Auseinandersetzung mit dem Glauben und anderen Christen eröffnet ihr neue Perspektiven auf das eigene Leben und erlaubt ihr, maßgebliche Entscheidungen in Bezug auf ihren weiteren Lebenslauf zu fällen. Die religiöse Orientierung stellt in diesen Fällen keine Beschränkung des Lebenslaufs auf eine religiöse Norm dar. Vielmehr bietet sie Möglichkeiten, neue Perspektiven für die eigene Lebensplanung zu entwickeln und zu verfolgen – die maßgebliche Orientierung biografischer Entscheidungen an der Religion kann aber auch Optionen einschränken.
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¡Ven, ven Espiritu Santo ven! Zur religiösen Praxis lateinamerikanisch-brasilianischer Pfingstler in Deutschland E VA -M ARIA D ÖRING
E INLEITUNG
UND
F ORSCHUNGSDESIDERAT
Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Migrationsprozesse im Zusammenhang mit der Frage nach der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung zum Forschungsthema (vgl. Diaz-Bone 2010: 11). In der sogenannten Chicago School of Sociology1 wurde dabei ein interpretativer Ansatz verfolgt, der sich für die Verarbeitung von Erfahrungen von Migranten interessierte und Wandlungsprozesse analysierte. Zentral war dabei ein den Untersuchungen zugrunde liegendes, flexibles Kulturverständnis. Ein Kulturverständnis, welches nicht von einer unmittelbaren, objektiven Wirklichkeit ausging und Handeln als das Befolgen von festgeschriebenen Regeln verstand, sondern zwischen Wirklichkeit und Handeln einen aktiven Prozess, den der Interpretation durch die Akteure, schob. Sowohl in den Sozialwissenschaften als auch in der breiten Öffentlichkeit trat dieses Kulturverständnis mit der Zeit wieder in den Hintergrund (vgl. Wimmer 1996). Statt eines flexiblen Kulturverständnisses, welches es erlaubt Dynamiken zu be1
Bedeutende Vertreter dieser Schule sind u.a. William I. Thomas (Thomas Theorem), George Herbert Mead (symbolischer Interaktionismus), Anselm Strauss & Barney Glaser (Grounded Theory), Goffman (Interaktionsordnung). Einen Überblick über die Theorien und Forschungsansätze der Chicago School of Sociology liefert z.B. Keller 2009.
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schreiben und zu erklären, wird in gegenwärtigen Globalisierungstheorien und in der Migrationssoziologie häufig ein essentialistischer Kulturbegriff verwendet, der Kulturen als Entitäten, und Differenzen als präexistent versteht. Menschen mit Migrationshintergrund werden dabei zu Gefangenen ihrer Herkunftskultur, denen die Fähigkeit abgesprochen wird, in dem sozialen Raum, in dem sie leben, situationsadäquat und flexibel zu handeln (vgl. Reckwitz 2005, Wimmer 2005, Bröskamp 2006). Was ich hier über das Kulturverständnis im Allgemeinen ausgeführt habe, gilt auch für Religion als einem Teil von Kultur. Auch Religion wird häufig als ein „kulturelles System“ (Geertz 1983) verstanden. Als eine geschlossene Sinnwelt, welche allenfalls auf die Umwelt einwirkt, umgekehrt aber von dieser unbeeinflusst bleibt. Dieser substantialistischen Herangehensweise setze ich in diesem Artikel eine relationale Perspektive auf Religion entgegen. Den theoretischen Rahmen liefert dabei die Praxistheorie Pierre Bourdieus (1976), die mit den Konzepten des sozialen Raumes und des Habitus mit einem stringent relationalen Begriffsinstrumentarium arbeitet (Fuhse/Mützel 2010: 18f., Emirbayer 1997: 292, Smutny o.J.: 6). Die relationale Analytik und Methode der Praxistheorie erprobe ich in diesem Artikel anhand empirischer Daten zu den religiösen Praktiken lateinamerikanischer Pfingstler in der Metropolregion Rhein-Ruhr. Damit komme ich zwei signifikanten Forschungsdesideraten nach: Ein Desiderat betrifft die Beantwortung der Frage, wie religiöse Vorstellungen abseits von objektivistischen (Mentalismus, Textualismus) und subjektivistischen (methodologischer Individualismus, Rational Choice) Erklärungsansätzen sozial verbindlich werden (vgl. Kippenberg 1991, Meier 2004, Reckwitz 2005). Des Weiteren fehlt es bislang an einer systematischen Untersuchung der hier gewählten Untersuchungseinheit. Neben einer Dissertation von Claudia Währisch-Oblau zum Selbstverständnis Pentekostaler Priester aus dem global south (vgl. Währisch-Oblau 2009) ist mir keine Arbeit bekannt, die sich der Erforschung lateinamerikanischer Pfingstler in Deutschland widmet. Dies kollidiert einerseits mit einem großen wissenschaftlichen Interesse an der Pfingstbewegung in den Ländern Lateinamerikas2, und missachtet andererseits das Wachstum dieser Gemeinden hierzulande.
2
Lateinamerika gilt neben Afrika und Asien als eines der drei Zentren dieses dynamischen Elementes des Christentums. Die Literatur zur Pfingstbewegung in Lateinamerika ist dementsprechend umfangreich und vielfältig. Hier seien
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Im Folgenden werde ich die für die Gläubigen relevanten religiösen Überzeugungen und Praktiken im Zusammenhang mit ihrer sozialen Position beziehungsweise ihrer räumlichen und zeitlichen Einbettung (vgl. Emirbayer 1997: 307) in den sozialen Raum3 und die Praxisgemeinschaft4 beschreiben und auswerten (vgl. Schäfer/Tovar 2009: 7). Ich hoffe dadurch der Beantwortung der übergeordneten Frage näherzukommen, wie religiöse Vorstellungen sozial verbindlich werden. Die relationale Perspektive erlaubt es, die hier bereits erwähnten Unterschiede innerhalb einer Glaubensrichtung zu erklären, ohne diese als substanziell gegeben zu beurteilen. Mit einer praxeologischen Forschungsperspektive kann Religion als eine menschliche Tätigkeit, als eine interaktive Sache des Tuns, begriffen und in ihrem jeweiligen Kontext beschrieben werden, ohne sie als ein Phänomen sui generis zu definieren (vgl. Hörning/Reuter 2004: 10). Einer Privilegierung von Symbolen und Glaubensinhalten gegenüber der gelebten Religion der Individuen (vgl. Vasquez 2008: 153f.) wird damit entgegengewirkt und die soziale Komponente von Religion in das Zentrum gerückt.
exemplarisch nur einige genannt: Emilio Willems (1967): Followers of the new faith. Cultural Change and rise of Protestantism in Brazil and Chile, David Martin (1993): Tongues of fire. The Explosion of Protestantism in Latin America, John Burdick (1993): Looking for God in Brazil, Andrew Chesnut (1997): Born again in Brazil. 3
Unter dem sozialen Raum verstehe ich in Anlehnung an Bourdieu eine „immanente Struktur der gesellschaftlichen Welt“ (Bourdieu 2005: 35). Er ist als historische Praxisform gesellschaftlich konstruiert und durch Sozialisation in den Habitus der Menschen eingeschrieben. Das verleiht ihm, zumal unter beständigen Umständen, eine Objektivität, die in gewisser Weise die Position des Einzelnen bzw. einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe vorgibt und zu deren ständiger Reproduktion führt.
4
Unter dem Begriff der Praxisgemeinschaft verstehe ich eine Gemeinschaft, in der, auch wenn nicht alle Mitglieder identische Erfahrungen gemacht haben, doch davon ausgegangen werden kann, dass „jedes Mitglied […] in seiner Eigenschaft als Akteur oder Zeuge mit den für die Mitglieder […] häufigsten Situationen konfrontiert“ ist (Bourdieu 1976: 187).
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T HEORIE
UND
M ETHODEN
Der praxeologische Ansatz erfährt in den letzten Jahren vor allem in den Sozial- und Kulturwissenschaften erneut einen Aufschwung (vgl. Reckwitz 2003; 2008, Hörning/Reuter 2004, Wimmer 2005, Hillebrandt 2010). Er lässt sich m.E. darüber hinaus auch für eine kulturwissenschaftlich arbeitende Religionswissenschaft fruchtbar machen.5 Im Zentrum des Ansatzes steht dabei nicht die Analyse von Ideen oder Zeichensystemen, sondern von Praktiken. Diese werden nicht als mechanisch oder rational und von einem Zweck angeleitet verstanden (vgl. Reckwitz 2007: 319, Kramer 2011: 27), sondern als eingebettet in zeitliche, räumliche und soziale Kontexte. D.h., sie werden als ein Produkt aus Situation und Habitus bzw. den objektiven Strukturen oder der sozialen Position der Akteure und ihren Dispositionen angesehen (vgl. Hillebrandt 2010). Die Dispositionen sind im Habitus, einer „Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix“ (Bourdieu 1976: 169), angelegt. Der Habitus wird durch Sozialisation erworben und fungiert als Erzeugungsprinzip von Praktiken und Vorstellungen.6 Er ist dementsprechend sowohl strukturierte als auch strukturierende Struktur (vgl. Bourdieu 1976: 165, 1987: 279). Strukturiert in dem Sinne, dass er „aus dem eigenen Lebenszusammenhang über Lernprozesse […] aufgebaut wird“ (Wimmer 2005: 33) und strukturierend, weil der Mensch seine Umwelt den Strukturen seines Habitus entsprechend im Handeln (re-)produziert. Der Habitus bringt mit anderen Worten eine praktische Logik7 hervor, die bewirkt, dass
5
An der Universität Bielefeld wird dies bereits vorangetrieben. Am Center for interdisciplinary research on religion and society (CIRRuS) wird in diversen, religionsbezogenen Projekten mit dem praxeologischen Ansatz von Bourdieu gearbeitet. Für nähere Informationen vgl.: http://www.uni-bielefeld.de/theologie /forschung/religionsforschung, Zugriff am 17.05.2012.
6
Damit ist die Praxistheorie anschlussfähig an die Tradition des amerikanischen Pragmatismus. Diese auch der Grounded Theory zugrundeliegenden Denkschule geht von einem „Prozess praktischer Problemlösung“ aus und interessiert sich für „Situationen des Problemlösens in ihrem Zusammenspiel mit den eingeübten [habituell hervorgebrachten, E.D.] Routinen des Handelns und Denkens“ (Strübing 2004: 41).
7
Die praktische Logik, so definiert es Bourdieu, ist keine formale Logik. Es muss vermieden werden „ihr mehr Logik abzuverlangen, als sie zu geben in der Lage
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Praktiken innerhalb einer Praxisgemeinschaft als unmittelbar verständlich und vorhersehbar wahrgenommen werden (vgl. Hörning/Reuter 2004: 13). Ich adaptiere dieses Habituskonzept von Bourdieu und spreche von einem spezifischen religiösen Habitus, der innerhalb der Pfingstgemeinden als Praxisgemeinschaften erworben und (re-)produziert wird. Religiöse Praktiken wie etwa das Zungenreden oder das Zeugnisablegen können dementsprechend in einigen Gemeinden zur Routine gehören, während sie in anderen Gemeinden mit einem anderen religiösen Habitus eher irritierend wirken und unverständlich sind. Der Habitus, das gilt es zu betonen, ist nicht als ein starres Konstrukt zu verstehen. Er ist nicht abgeschlossen, sondern flexibel. Er ist etwas Erworbenes, das sich in Abhängigkeit von neuen Situationen und Erfahrungen, wie sie z.B. durch Migration entstehen, unaufhörlich verändert und neue Praktiken und Vorstellungen hervorzubringen vermag. Nicht Situationen bringen also ein bestimmtes Handeln hervor, vielmehr fordert die Situation die mit einem bestimmten Habitus ausgestatteten Akteure heraus, auf sie zu reagieren und ihr zu begegnen. Der Habitus kann als „Orientierungs- oder Abstoßungspunkt“ (Hörning 2004: 33) fungieren und sich in der praktischen Anpassung an die neue Situation verändern. Dabei ist entscheidend, wie die Situation definiert wird und von wem die Definition vorgenommen wird.8 Um also zu verstehen, wie religiöse Vorstellungen sozial verbindlich werden, konzentriere ich mich auf die Analyse religiöser Praktiken in Relation zur sozialen Einbettung der Akteure und ihrem religiösen Habitus. Hierfür beginne ich bei der Beschreibung der objektiven Strukturen9. Daran anschließend versuche ich anhand einer Analy-
ist“ (Bourdieu 1976: 248). Die praktische Logik steht in Relation zu den Dispositionen der Akteure, sprich zu deren Habitus, und ist die eher subjektive Seite einer Praxis. Demgegenüber, aber nicht gänzlich von dieser zu trennen, steht die eher objektive Logik der Praxis (vgl. Schäfer 2009: 4). 8
Vgl. hierzu auch das von Thomas I. White geprägte sog. Thomas Theorem, welches besagt, dass die durch einen Akteur (individuell oder kollektiv) vorgenommene Situationsdefinition reale Konsequenzen hat, auch wenn sie nicht für jedermann nachvollziehbar ist (vgl. Keller 2009: 31).
9
Zu den objektiven Strukturen, unter denen Bourdieu die sozialen Positionen und ökonomische Grundlagen einer Gesellschaftsformation versteht, ist anzumerken, dass auch diese das Resultat von historischen Praxisformen sind und damit, in der Theorie, ebenfalls veränderbar sind (vgl. Bourdieu 1976: 183).
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se der Praktiken den religiösen Habitus, sprich den praktischen Operator der Praktiken, zu ergründen. Da es sich beim Habitus nicht um eine objektive, beschreibbare Größe handelt, werde ich diesen auf der Grundlage der Glaubensinhalte und praktischen Metaphern (vgl. Bourdieu 1987: 281) rekonstruieren. Für die Analyse der Praktiken und ihrer praktischen Logik greife ich auf qualitative Forschungsmethoden zurück. Dies ist zum einen die teilnehmende Beobachtung, die als die natürliche Methode der Praxeologie verstanden werden kann (vgl. Reckwitz 2008: 196). Sie ermöglicht es, den Untersuchungsgegenstand primär über das Auge zu erschließen, und ist daher auch prädestiniert, um „stumme Praktiken“ zu erfassen (ebd.: 196). Die teilnehmende Beobachtung habe ich während diverser Gottesdienste und Gebetstreffen in unterschiedlichen Migrantenpfingstgemeinden durchgeführt und durch Audioaufzeichnungen der Predigt- und Gebetsinhalte komplettiert. Des Weiteren habe ich informelle Gespräche mit einzelnen Mitgliedern, sowie narrative Interviews10 mit Mitgliedern und Pastoren einzelner Gemeinden geführt. Durch die Interviews konnte ich über die Beobachtung der Praktiken hinaus auch Einblick darin erhalten, welche religiösen Vorstellungen das Denken und Handeln der Akteure beeinflussen. Im weiteren Verlauf des Artikels widme ich mich zunächst der Beschreibung der sozialen Zusammensetzung und den lokalen Bedingungen der Migrantenpfingstgemeinden, um jene objektiven Strukturen aufzudecken, die für die Deutung der Situation und ihre Gestaltung konstituierend sind. In einem weiteren Teil erfolgt die Beschreibung der religiösen Praktiken in ihrem Verhältnis zur sozialen Position der Akteure. Schließlich wende ich mich der historischen Kontextualisierung des religiösen Habitus zu, um sein transformatives Potenzial herauszustellen.
10 Neben der teilnehmenden Beobachtung gehört die Datengewinnung mittels narrativer Interviews zu den genuinen Methoden der Praxeologie (vgl. Reckwitz 2008: 196).
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Z UM V ERHÄLTNIS VON OBJEKTIVEN S TRUKTUREN RELIGIÖSEN P RAKTIKEN
UND
Im Verlauf der Forschungen zu meiner Dissertation über die gelebte Religiosität lateinamerikanischer Pfingstler in der Rhein-Ruhr-Region ist es mir gelungen, insgesamt 14 brasilianische Migrantenpfingstgemeinden ausfindig zu machen. Diese Gemeinden verstehen sich allesamt als Pfingstgemeinden. Sie teilen den für Pfingstgemeinden charakteristischen Glauben an den Heiligen Geist sowie ein dualistisch geprägtes Weltbild. Darüber hinaus spielt die Konversion eine entscheidende Rolle für die Integration in die religiöse Gemeinschaft (vgl. Droogers 2001: 41-60). Überdies unterscheiden sich die einzelnen Gemeinden deutlich in ihrer sozialen Zusammensetzung, der Gemeindegröße und in ihren Möglichkeiten auf (materielle) Ressourcen zurückzugreifen. Diese aus der Außensicht erkennbaren Unterschiede decken sich mit der empirischen Beobachtung einer Differenz in den religiösen Praktiken. Dies erlaubt mir eine empirisch begründete – raum-zeitlich gebundene – Einteilung der Gemeinden in zwei Kategorien: die pfingstlich-charismatische und die gemäßigt-charismatische. Im Folgenden werde ich diese anhand zweier Gemeinden näher beschreiben. Der Fokus liegt dabei auf den objektiv beschreibbaren Faktoren (Größe, soziale Zusammensetzung), der Situation in der Aufnahmegesellschaft, und den religiösen Praktiken. Die pfingstlich-charismatischen Gemeinden: Die Gemeinde des Bundes Die erste Kategorie von Gemeinden, die sich vor allem durch ihre Monoethnizität und einen hohen Anteil an finanziell schwächer gestellten Mitgliedern auszeichnet, stelle ich exemplarisch anhand einer Gemeinde dar, die ich in Anlehnung an ihren portugiesischen Namen im Folgenden „Gemeinde des Bundes“ nenne.11 Die Gemeinde befindet sich in einer der Großstädte in der Metropolregion Rhein-Ruhr. Zum sonntäglichen Gottesdienst treffen sich die ca. 15 aktiven Mitglieder in einem kleinen, für weni11 Die Anlehnung an den brasilianischen Namen entspricht nicht einer Übersetzung des Namens ins Deutsche. Von einer Übersetzung wurde zur Wahrung der Identität der Gemeinden bewusst abgesehen.
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ge Stunden in der Woche angemieteten Raum im Gebäude einer Freikirche. Die Anwesenden sind neben der Pastorin, die diese Gemeinde mit Unterstützung eines Pastors leitet, überwiegend Frauen mit eher dunkler Hautfarbe. Sie gehören fast ausnahmslos zur ersten Generation von Migranten und sind zwischen 25 und 60 Jahre alt. Diese erste Generation von Migranten hat mit ganz spezifischen Problemen wie geringer Sprachkompetenz oder der Nichtanerkennung ihrer im Heimatland erworbenen beruflichen Qualifikationen zu kämpfen.12 Ein häufiger Grund für den Aufenthalt in Deutschland ist Heiratsmigration. Teilweise nahmen die Anwesenden auch die Gelegenheit wahr, Bekannte oder Verwandte als Anlaufstelle in Deutschland zu haben: Sie reisten mit einem Touristenvisum13 ein – und blieben.14 Heute sind viele der Frauen von ihren deutschen Partnern getrennt und leben allein bzw. gemeinsam mit ihren Kindern. Sie sprechen überwiegend nur gebrochen Deutsch. Das liegt vor allem daran, dass sich ihre sozialen Kontakte zu Deutschen häufig auf die Arbeitsstelle und einige wenige Bekanntschaften zu Mitgliedern deutscher Freikirchen beschränken.15 Die Frauen verdienen ihr Geld überwiegend als Hauswirtschafterin oder Reini-
12 „For example, many first-generation migrants lack the linguistic and other cultural skills important for finding one’s bearings in a host society. They can often make little or no use of their educational and professional qualifications; they are less well integrated into social networks or only integrated in a specific way.“ (AKI 2006: 60) 13 Für Brasilien und einige andere Länder Lateinamerikas existiert keine Visumspflicht, d.h., es besteht die Möglichkeit, für drei Monate legal als Tourist nach Deutschland einzureisen. 14 Der Pastor einer Gemeinde schildert in einem Interview: „Das ist so: Wenn einer erst mal einen Fuß gesetzt hat hier, dann fängt der an, die ganze Familie herzubringen. Wenn zum Beispiel eine Schwester geschafft hat, hierher zu kommen, zu heiraten, dann wird sie versuchen, die andere Schwester hierher zu bringen.” 15 Ein Umstand, der nicht pauschal den Migranten zugeschrieben werden darf. Es entspricht der Logik des sozialen Raumes, dass Menschen, die sich geografisch nahe sind, „auf der sozialen Ebene durch Welten getrennt“ sein können. (Bourdieu 1992: 36). Mit anderen Worten: Die Kontaktaufnahme und Kontakthäufigkeit ist hier auch durch den sozialen Raum determiniert und obliegt nicht allein der subjektiven Entscheidung des Individuums.
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gungskraft. Meist müssen sie diesen Beschäftigungen nachgehen, weil die im Herkunftsland erworbenen beruflichen Qualifikationen in Deutschland nicht anerkannt werden. Diese prekäre Situation der Mitglieder spiegelt sich auch in der finanziellen Ausstattung der Gemeinde wider. So ist der Raum für den Gottesdienst und die Gebetstreffen eher dürftig mit einigen Tüchern und Fahnen geschmückt und die musikalische Untermalung kommt von einer CD. Die Gottesdienste der Gemeinde sind sehr lebendig und interaktiv. Sie bieten den Mitgliedern viel Raum zur aktiven Beteiligung, z.B. in Form des Ablegens von Zeugnissen oder der Darbringung eines Liedes während des Lobpreises. Vor Beginn des Gottesdienstes bereiten die Anwesenden den Raum vor, indem sie ihn von Dämonen reinigen. Dazu durchstreifen sie den Raum, berühren Wände, Stühle und die übrigen Einrichtungsgegenstände und befehlen dem Satan, von diesen abzulassen. In einem Eröffnungsgebet wird Gott eingeladen in Form des Heiligen Geistes am Gottesdienst teilzunehmen. Es folgt eine Phase des Gebetes, d.h. des persönlichen Gesprächs mit Gott. In dieser Phase kommt es nicht selten dazu, dass einzelne Mitglieder in Zungen reden. Dieses Zungenreden wird häufig von körperlichen Erscheinungen, wie einem scheinbar unkontrollierten Zucken, oder verbal, durch affirmative Aussagen bekräftigt. In der so gewonnenen Gewissheit, dass der Heilige Geist anwesend ist, beginnt die Phase der Anbetung und des Lobpreises. Eine Lobpreisgruppe, bestehend aus üblicherweise zwei bis drei Frauen, den sog. Levitas16, übernimmt zunächst die aktive Gestaltung des Gottesdienstes. Sie tragen eine Reihe von Liedern zum Lob und Preis Gottes vor. Nicht selten wird der emotionale Gesang von Weinen begleitet. Auch die Gemeinde singt sehr engagiert und emotional mit. Es herrscht eine Ausgelassenheit, die kaum jemanden auf seinem Platz hält. Die Anwesenden laufen umher, tanzen, schlagen eine Rassel, blasen in ein Horn oder schwingen eine Fahne. Sie fallen dabei bisweilen zu Boden oder reden erneut in Zungen. Zwischen den Liedern treten einzelne Personen nach vorne. Sie legen vor der Gemeinde Zeugnis ab, d.h., sie berichten davon, wie der Heilige Geist in ihrem Leben wirkt. Andere tragen ein Lied, ein Gebet oder einen Bibelvers vor, der, wie sie es nennen, ihnen von Gott
16 Diese sind im Gottesdienst für den Lobpreis zuständig. Diese Aufgabe, so erklärt eine Levita mir im Interview, ist sehr wichtig, denn wenn sie singen, „singt der Heilige Geist und die anderen werden durch den Gesang befreit.“
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in ihr Herz gelegt wurde, um ihn mit den Geschwistern zu teilen. Am Ende der Phase des Lobpreises wird dazu aufgerufen den Zehnten zu geben. Über das Opfer wird ein Segen gesprochen, verbunden mit der Bitte nach Mehrung der gespendeten Gaben und danach, dass Gott es den Gebenden um ein Vielfaches vergüten möge. Im Anschluss folgt die Predigt. Diese wird in der Regel von der Pastorin persönlich und in freier Rede gesprochen. Sie ist auf den ersten Blick jedoch oftmals nur durch den zeitlichen Raum, den sie einnimmt, von den Beiträgen und freiformulierten Gebeten der einzelnen Mitglieder zu unterscheiden. Auch die Pastorin legt häufig zu Beginn der Predigt Zeugnis ab und geht dann anschließend dazu über, anhand zahlreicher Bibelstellen, die gemeinsam laut gelesen werden, die Mitglieder in der richtigen Lesart der Bibel zu unterweisen. Jede der anwesenden Personen führt ihre Bibel stets mit sich. Einige machen sich darüber hinaus Notizen zur Predigt. Die Predigt ist durch eine hohe Interaktivität zwischen der Pastorin und der Gemeinde gekennzeichnet. Laute Halleluja-Rufe bekräftigen die Ausführungen der Pastorin. Diese nimmt in der Predigt oft Bezug auf die während des Lobpreises vorgebrachten Zeugnisse und Beiträge der Gläubigen. Mit dem Ende der Predigt ist auch der offizielle Gottesdienst nach ca. drei Stunden beendet. Während die Pastorin den Mitgliedern nun noch für ganz persönliche Gebetsanliegen und bisweilen auch für die Austreibung von Dämonen zur Verfügung steht, wird in einem Nebenraum ein gemeinsames Abendessen bereitet und eingenommen. Dabei unterhält man sich über alltägliche Dinge, wie Rezepte oder Haarpflege. Aber auch das Sprechen über Gott hat hier weiterhin seinen Raum. Diese familiäre Atmosphäre wirkt augenscheinlich auch über den Gottesdienst hinaus und spielt für die Mitglieder dieser Gemeinden eine wichtige Rolle. Wie wichtig die untereinander bestehenden Beziehungen für die Mitglieder sind, wird an der Aussage einer Frau deutlich, die in einem Interview über ihre Gemeinde und deren Mitglieder äußert: „Die kümmern sich um mich, die denken an mich, die beten für mich. Ist wie eine Familie, die will das Beste für dich.“
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Die gemäßigt-charismatischen Gemeinden: Die Gemeinde der apostolischen Mission Parallel zum Gottesdienst der pfingstlich-charismatischen Gemeinde findet in einer anderen Großstadt in der Rhein-Ruhr-Region der Gottesdienst der brasilianischen Pfingstgemeinde der apostolischen Mission17 statt. Während bei der „Gemeinde des Bundes“ der Gottesdienst auf Portugiesisch stattfindet und nur bei der Anwesenheit von Deutschen eine teilweise Übersetzung erfolgt, ist die Übersetzung hier eine feste Einrichtung. Der Gottesdienst wird in einem großen Raum abgehalten, der modern gestaltet und technisch gut ausgestattet ist. An der Ausgestaltung der Räumlichkeiten lässt sich die gut situierte Lage der Mitglieder ablesen. Unter den Anwesenden sind neben den Migranten der ersten Generation auch deren Kinder, z.T. bereits Jugendliche, sowie eine Reihe deutscher Frauen und Männer. In der soziokulturellen Zusammensetzung unterscheidet sich diese Gemeinde demnach deutlich von der vorherigen. Während jene eher monoethnisch ist und die Frauen nur selten in Begleitung ihrer deutschen Ehemänner kommen, gehören diese in der „Gemeinde der apostolischen Mission“ zu den aktiven Mitgliedern. Der Gottesdienst wird von durchschnittlich ca. 60 Personen besucht, wobei die anwesenden Personen von Woche zu Woche zum Teil wechseln. Diese Fluktuation sorgt dafür, dass die Atmosphäre in dieser Gemeinde weniger familiär ist. Darüber hinaus ist die Gemeinde auch im Hinblick auf die Altersstruktur und die soziale Zusammensetzung heterogen. Während für die „Gemeinde des Bundes“ festgehalten wurde, dass sie beinahe ausschließlich aus Frauen der ersten Migrantengeneration besteht, die in der Regel im hauswirtschaftlichen Dienstleistungssektor arbeiten, beschreibt der Pastor die Zusammensetzung in der „Gemeinde der apostolischen Mission“ folgendermaßen: „Ich würde mal so vier Gruppen bezeichnen. Erstes, was ich glaube das ist die größte Gruppe, das sind eben die Frauen. Und dann würde ich die Künstler bezeichnen. Künstler sind Fußballer, Musiker und Tänzerinnen. [...] Und dann würde ich die Studenten noch als eine Gruppe nehmen. Und dann noch eine andere Gruppe von-,
17 Auch hier ist der deutsche Name nur als eine Anlehnung an den Originalnamen, nicht als Übersetzung zu verstehen.
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die keine Aufenthaltsgenehmigung haben […] und die wird wahrscheinlich auch groß sein.“
Zu der letzten Gruppe stellt der Pastor nur Mutmaßungen an. Dies entspricht der Beobachtung, dass die Beziehungen in dieser Gemeinde untereinander weniger familiär sind. Zwar wird in beiden Gemeinden von der Gemeinde als Familie gesprochen, die praktischen Konsequenzen sind dabei jedoch nicht identisch. In kleineren Gemeinden wie der „Gemeinde des Bundes“ äußern sich die engen Beziehungen untereinander darin, dass die Mitglieder sich umeinander kümmern und sich auch bei privaten Gebetstreffen außerhalb des Gottesdienstes gegenseitig unterstützen. In der „Gemeinde der apostolischen Mission“ hingegen sind solche privaten Zusammenkünfte unüblich und die Mitglieder kennen sich untereinander bisweilen nicht persönlich. Nicht zuletzt wird dies auch daran deutlich, dass ich, als teilnehmende Beobachterin, häufig nicht bemerkt werde. Ganz im Gegensatz zu der „Gemeinde des Bundes“, in der meine Anwesenheit stets wahrgenommen und registriert wird. Der Ablauf des Gottesdienstes, der durch vier Phasen Anbetung, Lobpreis, Opfer und Predigt gekennzeichnet ist, unterscheidet sich in den beiden Gemeinden nicht voneinander. Unterschiede treten jedoch in den diskursiven Praktiken zu Tage. So sind Praktiken wie das bereits erwähnte Zungenreden und das Zeugnisablegen keineswegs in beiden Gemeinden in gleicher Intensität anzutreffen. In der „Gemeinde der apostolischen Mission“ ist beispielsweise wenig von der zuvor für die „Gemeinde des Bundes“ beschriebenen Interaktivität zwischen Pastor und Gemeinde spürbar. Der Pastor führt nahezu allein durch den Gottesdienst. Dieser hat einen klaren zeitlichen Ablauf und bietet weniger Raum für individuelle Gebete, als dies in der „Gemeinde des Bundes“ der Fall ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Mitglieder der „Gemeinde der apostolischen Mission“ durch Arbeit oder Studium meist besser in die Aufnahmegesellschaft eingebettet sind. Ihr sozioökonomischer Status ist ein anderer als bei den Mitgliedern der kleineren „Gemeinde des Bundes“ und es wächst bereits in einem stärkeren Maße eine zweite Generation heran. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass, obwohl beide Gemeinden sich selbst explizit als Pfingstler bezeichnen, sich deutliche Unterschiede in den religiösen Praktiken manifestieren. Hierdurch wird die Beobachtung von Max Weber bestätigt, der einen Zusammenhang zwischen Konfession und
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sozialer Schichtung beschreibt (Weber 1920). Im Folgenden widme ich mich daher einer näheren Betrachtung dieses Zusammenhangs in den brasilianischen Migrantenpfingstgemeinden.
D ER RELIGIÖSE H ABITUS : G LAUBENSAUSSAGEN O PERATOREN EINER PRAKTISCHEN L OGIK
ALS
In diesem Abschnitt widme ich mich den beobachtbaren religiösen Praktiken und der Analyse der ihnen zugrunde liegenden Glaubensaussagen bzw. praktischen Metaphern. Ich stelle die Gemeinden dabei in Hinblick auf bestimmte religiöse Praktiken kontrastierend gegenüber. Ich beginne jeweils mit der „Gemeinde des Bundes“. In der „Gemeinde des Bundes“ nimmt das Sprechen über Gott und das Gespräch mit ihm einen großen Raum ein. Die vorgestellte Beziehung zu Gott ist ein zentraler Faktor im religiösen Habitus der Gemeinde und Ansporn, sowohl für religiöse Praktiken im Gottesdienst als auch für religiöse Praktiken im Alltag. Die persönliche Beziehung zu Gott wird in der Gemeinde als eine Vater-Kind-Beziehung verstanden. Gott wird als Vater angesehen, der seine Kinder beschützt und leitet. Diese Beziehung zu Gott ist jedoch nicht voraussetzungslos. Sie beruht auf einem Bekenntnis zu Gott, welches immer wieder, auch über Schwierigkeiten hinweg, bekräftigt werden muss. Sein Wort, das in der Bibel niedergeschrieben ist, dient dazu, seine Kinder zu erziehen und ihnen, wie sie selbst es in den Gottesdiensten formulieren, Autorität zu verleihen. Diese Autorität ermöglicht es ihnen, weltlichen Problemen, wie Anfeindungen oder Sucht, zu begegnen. Der Glaube an ein solches dualistisches Weltbild hilft beim Umgang mit Problemen und erklärt deren Ursprung. Entscheidend ist, dass Probleme hier nicht als gottgewirkt verstanden werden. Stattdessen nehmen die Gemeindemitglieder an, dass sie durch den Teufel verursacht werden, der die Menschen zerstören will und sie zur Sünde verführt. An Gott zu glauben heißt demnach nicht, sich keinen Schwierigkeiten und Problemen stellen zu müssen. Vielmehr birgt gerade das Bekenntnis zu Gott die Gefahr, Problemen und Versuchungen durch den Teufel in besonderem Maße ausgesetzt zu sein. Denn, so führt eine Frau im Interview aus:
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„Es gibt Teufel. Teufel und Gott gibt es. Der Teufel ist der große, der Nummer Eins Feind von Gott. Und deswegen, will uns Menschen zerstören, weil wir sind von Gott geschaffen. [...] Unser Leben ist nicht einfach. Weil ich kriege immer, ich kriege auch viele Attacken. Der Teufel attackiert uns. Mich und alle. Er will uns kaputt machen, er will uns vernichten.“
Die sozial diffizile Situation lässt die Mitglieder nicht an Gott zweifeln, sondern wirkt der Frage nach einer Theodizee vielmehr dadurch entgegen, dass sie die Probleme als Attacken des Teufels deuten, die sie ereilen, gerade weil sie gläubig sind. Etwas anders verhält sich dies in der „Gemeinde der apostolischen Mission“. Zwar zirkuliert auch hier ein dualistisches Weltbild, welches im Teufel den Widersacher Gottes sieht, der bemüht ist, die Menschen zu verführen. Die Annahme jedoch, dass die Attacken des Teufels zunehmen, wenn man sich zu Gott bekennt, gehört hier explizit nicht zum religiösen Habitus der Gemeinde. In einer Predigt zeigt sich dies deutlich. Der Pastor betont darin, dass der Teufel nur Einfluss auf jene Menschen hat, die „ihre Augen nicht auf Gott gerichtet haben und dem Kurs der Welt folgen“. Hierin spiegelt sich eine der sozialen Position entsprechende Wahrnehmungsdisposition der Praxisgemeinschaft wider. Die Probleme, die den gut situierten Gläubigen dennoch bisweilen begegnen, werden als gottgewollt und gottgewirkt interpretiert. Der Pastor versichert seiner Gemeinde den Beistand Gottes mit folgenden Worten: „Gott beschützt uns und passt auf uns auf. Jeder von uns hätte heute sterben können, aber Gott hat uns beschützt vor Unfällen oder Ähnlichem. Und wenn uns einmal etwas passiert, dann musste das passieren. Denn gewisse Dinge in unserem Leben lässt Gott zu. Und auch wenn wir es nicht verstehen, es wird schon gut für uns sein.“
Mitglieder der „Gemeinde des Bundes“ beschreiben, dass sie durch die religiöse Praktik des Gebets die Freude der Gegenwart Gottes spüren können. Sie legen im Gebet ihre Probleme dar, bitten um Vergebung für Verfehlungen im Alltag oder tragen ihre Anliegen vor. Sie verstehen das Gebet als ein Gespräch, als Eins-Sein mit Gott. Während des Gebetes wird häufig in Zungen gesprochen, was als Zeichen, als eine Bestätigung der Intimität mit Gott, gedeutet wird. In einem Interview wird mir dies folgendermaßen erklärt:
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„Das in Zungen, das kannst du nicht übersetzen, das ist, jeder seine eigene. Eine Zunge ist von Gott-, in Zungen reden ist, das steht in der Bibel drin. Zungen heißt: Gott und du. Kein Mensch, das ist allein für dich und Gott. Gibt kein Mensch, der kann übersetzen, was bedeutet.“
Darüber hinaus führt das Gebet nach Aussage der Mitglieder gelegentlich auch dazu, dass die Gläubigen zu Gottes Werkzeugen werden. Dann sprechen sie nicht für die anderen Anwesenden unverständlich in Zungen, sondern werden von Gott benutzt, um anderen eine Botschaft zukommen zu lassen. Eine Frau schildert diese Momente mit folgenden Worten: „Erst ganz normal betet. Und dann fängt-, ich weiß nicht, ob du schon gehört, wenn Jesus spricht durch den Mund von anderen Leuten. Hast du schon gesehen, wenn Gott spricht durch einen anderen? Du musst mal gucken in der Gemeinde. Die sitzen da und dann sprechen sie mit dir und sagen: Ich bin dein Gott, Tochter, fürchte dich nicht.“
Gott, der in ihrer Vorstellung nur mit Menschen arbeiten kann, die mit seinem Geist angefüllt sind, wird hier nicht nur selbstreferenziell spürbar wie in der Zungenrede, sondern auch für die angesprochene Person objektiv erfahrbar. Csordas spricht in diesem Zusammenhang von der Zungenrede als „embodied experience within a ritual system and as a cultural operator […] of the religious movement“ (Csordas 1988: 8). Derselben praktischen Logik folgend teilen die Mitglieder der „Gemeinde des Bundes“ in Zeugnissen mit, dass Gott mit ihnen gesprochen hat, ihnen Hilfe und Kraft gegeben und sie bisweilen sogar von Krankheiten geheilt hat. Das Zeugnisablegen vor der Gemeinde fungiert dabei ebenfalls als ein Mittel zur Objektivierung, d.h. zur Reproduktion des Habitus bzw. zur Aufrechterhaltung der gemeinsam geteilten Vorstellung, dass Gott seinen Kindern beisteht und sie beschützt. Dies wird an der folgenden Aussage einer Frau deutlich, in der sie explizit die große Bedeutung erwähnt, die das Zeugnisablegen hat: „Das Ablegen von Zeugnissen, das ist wichtig vor der Gemeinde, damit die sehen, wie Gott in deinem Leben wirkt.“ Indem die Gemeinde die Zeugnisse in gleicher Weise als wundersame Taten Gottes interpretiert, erfährt die Person, die das Zeugnis ablegt, eine Bestätigung. Die vorgestellte Beziehung zu Gott, die zum religiösen Habitus der Gemeinde gehört, wird aufrechterhalten bzw. reproduziert. Diesen
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intern ausgehandelten Bedeutungen entsprechend wird den Praktiken des Zeugnisablegens und des Gebetes in den Gottesdiensten der „Gemeinde des Bundes“ viel Raum geboten. Neben der spürbaren Existenz Gottes im Gebet ist auch die Existenz des Teufels im religiösen Weltbild dieser Gemeinde unangezweifelte Realität. In den Formulierungen während des Gottesdienstes finden sich dementsprechend immer wieder Hinweise darauf, dass die Mitglieder der Gemeinde sich in einem Kampf gegen die Mächte des Teufels befinden. Diese Kampfmetaphorik durchzieht weite Teile des religiösen wie gesellschaftlichen Lebens: In den Gottesdiensten und Gebetstreffen bereiten sich die Mitglieder gemeinsam auf den geistigen Kampf vor. Zu ihrem Rüstzeug gehören dabei die Waffen des Geistes: die Wahrheit, der Panzer der Gerechtigkeit, der Schuh der Bereitschaft, für den Glauben zu sterben und das Gebet (vgl. Epheser 6, 14-18). Um den Kampf gegen die Macht der Finsternis führen zu können, organisieren die Mitglieder der „Gemeinde des Bundes“ über den sonntäglichen Gottesdienst hinaus auch private Gebetsnächte. Diese Gebetstreffen sind notwendig, so erklärt es eine Frau im Interview, um Kräfte für den täglichen Kampf zu sammeln: „Wir hat nur einen Tag. Sonntag. Wir muss so lange warten, und das reicht nicht, weiß du? Für das, was wir gegen kämpfen. Gegen Teufel. Das reicht nicht, wir muss jeden Tag Kraft bekommen […] und deswegen wir treffen manchmal zusammen in der Wohnung oder macht wir Nachtgebet zusammen.“
Der Kampf wird nicht ausschließlich als etwas Negatives wahrgenommen. Kämpfen bedeutet für die Gläubigen auch das Überwinden von Hürden und Schwierigkeiten. Es zeichnet sie als wahre Christen aus und ist eine objektivierte Bestätigung ihrer Beziehung zu Gott. Gleichzeitig wird dadurch die Bedeutung ihrer Probleme positiv umgedeutet. Gerade die Tatsache, dass sie mit Problemen, oder wie es weiter oben in einem Interviewausschnitt heißt „Attacken“ konfrontiert sind, ist nun ein Zeichen dafür, dass sie in einer engen Beziehung zu Gott stehen. Die Vorstellung – dass Schwierigkeiten eine Bestätigung des Glaubens sind – erleichtert es den Gläubigen sich ihren Problemen zu stellen und nicht zu resignieren. Etwas anders stellt sich dies wiederum in Bezug in der „Gemeinde der apostolischen Mission“ dar. Auch hier spielt das Gebet als Kommunikation mit Gott eine zentrale Rolle. Die Kommunikation erfolgt jedoch zurückge-
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zogener und ist weniger der Beobachtung durch andere ausgesetzt. Ähnlich verhält es sich mit dem Zungenreden, welches als religiöse Praktik im Gottesdienst in der Regel nicht vorkommt. Beides hat seine jeweils eigene praktische Logik, die nur in Relation zur Situation verständlich wird: Für die Mitglieder der „Gemeinde des Bundes“, für die die Migrationssituation häufiger mit Einsamkeit und Machtlosigkeit einhergeht, sind Praktiken wie das Zungenreden oder das Zeugnisablegen Momente des empowerment. Ebenso sind die „Gemeinden Orte des empowerment“ (Währisch-Oblau 2006: 32; Herv. i.O.). Die Marginalisierten üben in den Praktiken spezifische, als geistgewirkt interpretierte Fähigkeiten aus, die ihnen, gemäß ihres religiösen Habitus allein deshalb von Gott verliehen wurden, weil sie sich als wahre Christen bewährt haben. Darüber hinaus erfahren sie in den Gottesdiensten auch unabhängig von den Geistgaben eine Aufwertung ihrer Person: Die Mitglieder der Gemeinde, die außerhalb des Gemeindelebens dazu gezwungen sind eher gering geschätzten Tätigkeiten nachzugehen, übernehmen in den Gottesdiensten bedeutungsvolle, tragende Rollen (vgl. Lorentzen/Mira 2005: 66). Ähnliches gilt auch für die Bewertung von Wundern. Auch sie folgt in den beiden Gemeinden jeweils einer unterschiedlichen praktischen Logik, die erst im Verhältnis zur Situation der Mitglieder nachvollziehbar wird. Die Mitglieder der „Gemeinde des Bundes“ attestieren durch das Ablegen von Zeugnissen, in denen sie fortwährend von kleinen und auch größeren Wundern berichten, ihre Festigkeit im Glauben vor sich selbst und vor anderen. In der „Gemeinde der apostolischen Mission“ hingegen, in der diese Praktik nicht verbreitet ist, wird kommuniziert, dass Wunder zwar geschehen können, dass sie aber nicht im Zentrum des Glaubens stehen. In einer Predigt wird den Gemeindemitgliedern vom Pastor erklärt: „Es gibt Gemeinden, die haben Zeichen und Wunder als ihre Mitte. Die ganze Gemeinde ist um diesen Punkt herum. Die geschehen immer wieder. Und wenn Gott keine Wunder mehr tut auf einmal, dann gehen die Leute weg und sagen: Oh, da geh ich nicht mehr hin, da sind keine Wunder mehr. Da ist Jesus nicht die Mitte der Gemeinde. Und wir wünschen uns, dass Jesus die Mitte der Gemeinde ist. Egal, ob viele oder wenige Wunder. Natürlich möchten wir viele Wunder, aber Jesus ist die Mitte der Gemeinde.“
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Stellt man diese Aussage der häufigen Bekundung von Wundern in der „Gemeinde des Bundes“ gegenüber und bezieht die soziale Position der Akteure mit ein, dann manifestieren sich hier zwei unterschiedliche religiöse Habitus als Ausdruck des „Verhältnisses zur Welt“ (Kramer 2011: 55): Wer der Wunder bedarf, und das ist im Fall der ersten Gemeinde aufgrund der sozioökonomischen Lage des Öfteren der Fall, der erfährt sie auch.
Z UR
HISTORISCHEN
K ONTEXTUALITÄT
DES
H ABITUS
Die vorangegangenen Darstellungen haben einen Einblick in den aktuellen religiösen Habitus unterschiedlicher Migrantenpfingstgemeinden in der Rhein-Ruhr-Region gegeben. Dieser Habitus ist jedoch, wie bereits anfangs erwähnt, flexibel und entwickelt sich im Verhältnis zur sozialen Position der ihn tragenden Akteure. Abschließend möchte ich daher den religiösen Habitus der beiden Gemeinden in seiner historischen Kontextualität erörtern und damit zugleich einen zukunftsorientierten Ausblick geben, in dem dafür geworben wird, Dynamiken als offene Prozesse des Aushandelns zu betrachten. Die Migranten, die aus Brasilien nach Deutschland kommen, haben bereits einen religiösen Habitus mit im Gepäck. Dieser dient ihnen bei der Neuanpassung an die gewandelten (Handlungs-)umstände in der Migrationssituation als Orientierungs- oder Abstoßungspunkt (vgl. Hörning 2004: 33, Schäfer 2004: 288). Dies sei am Beispiel einer Frau aus der „Gemeinde des Bundes“ verdeutlicht. Diese Frau äußert in einem Interview ihr Bedauern über den fehlenden Wunderglauben in der deutschen Gesellschaft: „In Brasilien wir lernen auch über Wunder und wir leben das auch. Und deswegen ist ein bisschen anders als hier. […] Weißt du, was ich bekommen habe, seit ich ein kleines Kind war bis jetzt, ich will das nicht verlieren.“
Für sie, die sie mit diesem Glauben aufgewachsen ist, gehört der Wunderglaube zu ihrem persönlichen Glauben. Er ist Teil ihres religiösen Habitus. An diesem Zitat wird deutlich, wie der in der Herkunftsregion durch Sozialisation erworbene religiöse Habitus auch in der Migrationssituation weiterwirkt. Vor allem nach der Trennung von ihrem deutschen Ehemann, die auch den Verlust der gemeinsamen Freunde zur Folge hatte, half dieser In-
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terviewpartnerin ihr, durch die Herkunft geprägter, Habitus die veränderte Situation zu deuten und zu gestalten. In einem Interview erzählt sie mir, welche Bedeutung ihr Glaube insbesondere in der Einsamkeit der Migrationssituation für sie hatte: „Ich hab viel erlebt hier in Deutschland. Mein Glaube ist stärker geworden hier. Als ich allein gewohnt habe, da habe ich mehr Zeit zum Beten und mehr Zeit gehabt, um Harmonie mit Gott zu haben und dann hab ich mehr erlebt. Neue Erfahrungen bekommen.“
Erst nach der Trennung von ihrem Mann wandte diese Frau sich der Gemeinde zu und begann erneut mit jenen Praktiken, die sie schon in ihrer Sozialisation als Tochter eines Pfingstlers in Brasilien kennengelernt hatte. Hier wird deutlich, wie der religiöse Habitus, jenes einverleibte System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als Orientierungspunkt fungiert. Berichte wie der soeben dargestellte, in denen der durch die Sozialisation im kulturellen Kontext Brasiliens geprägte religiöse Habitus als Orientierungspunkt in den durch Migration gewandelten Handlungsumständen dient, sind bei Mitgliedern der „Gemeinde des Bundes“ nicht selten. Die habituell hervorgebrachten Handlungen besitzen offenkundig weiterhin eine für die Migranten ganz praktische Logik, die sich in Verbindung mit der sozioökonomischen Lage und der sozialen Position der Gläubigen erklären lässt. Die Orientierung am religiösen Habitus ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer absoluten Fortschreibung dieses Habitus. Viele Praktiken, wie das Zungenreden oder Zeugnisablegen erscheinen zwar gleichbleibend, sie werden jedoch nur so lange und insofern aufrechterhalten, wie das Interesse am Befolgen dieser Regel höher ist, als das Interesse daran, sie nicht zu befolgen (vgl. Bourdieu 1976: 89). Dies lässt sich an Praktiken und Regeln wie dem Gebot, dass Frauen keine Hosen oder Schmuck tragen dürfen, damit die Männer im Gottesdienst nicht abgelenkt werden, belegen. Unter den veränderten Handlungsbedingungen verlieren diese Praktiken an Bedeutung. In Deutschland, wo die Gemeinden fast ausnahmslos aus Frauen bestehen, ist das Verbot weniger wichtig. Im Interview erklärt die Pastorin der „Gemeinde des Bundes“:
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„Wir zum Beispiel hier, wir finden das nicht. Das [Hosenverbot, E.D.] ist unwichtig für uns. Wichtig für uns ist es, den Menschen beizubringen, was in die Bibel steht. Für uns hier ist es wichtig, das den Leuten beizubringen. […] Klar, wir sagen in der Gemeinde zum Beispiel, wenn wir eine Frau sehen, die Klamotten trägt, die nicht dezent sind. Wir reden mit denen und sagen ihnen, dass sie sich ein bisschen anpassen sollen. Weil wir wollen nicht, dass die Männer, die verheiratet sind, Probleme haben in die Familie. Aber nicht so angestrengt, so dass die Leute sich auch gut fühlen und dabei sein wollen.“
Hier zeigt sich deutlich, was darunter zu verstehen ist, wenn von Praktiken als einem Produkt aus Situation und Habitus die Rede ist. Darüber hinaus wird in diesem Zitat auch die Flexibilität des Habitus angedeutet. Mit einem abschließenden Beispiel aus der „Gemeinde der apostolischen Mission“ möchte ich diesen Punkt noch etwas verdeutlichen. In dieser Gemeinde gehört die religiöse Praktik des Zungenredens nicht zu den routinierten Praktiken. Nichtsdestotrotz wird sich diskursiv mit dieser Praktik auseinandergesetzt. Das Zungenreden wird als Geistgabe nicht in Zweifel gezogen, es wird aber auch nicht als Merkmal verstanden, welches einen wahren Christen konstituiert und ausmacht. Die folgende Aussage eines Interviewpartners legt dies dar: „Diese ganzen Sachen auch mit den Geistessprachen und dem Zungenreden oder so. Manche Leute können nicht so sehr weise damit umgehen. Die Sache an sich ist ja nicht das Problem, sondern, wie schon vorhin so ein bisschen gesagt, dass die meinen, dass einige meinten: Du bist kein kompletter Christ, wenn du das nicht hast.“
Der Habitus hat sich hier offensichtlich gewandelt. Praktiken, die in Brasilien ihre Legitimität hatten, werden in der Migrationssituation, in der sich die Praxisgemeinschaft durch eine kulturelle Heterogenität auszeichnet, abgeändert bzw. angepasst. Der Habitus, so verdeutlichen es uns die beiden Beispiele, ist nicht abgeschlossen, sondern flexibel. Er ist etwas Erworbenes, das sich in Abhängigkeit von neuen Situationen, Beziehungen und Erfahrungen unaufhörlich verändert und neue Praktiken hervorbringt.
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F AZIT Schließen möchte ich den Artikel mit einer kurzen Zusammenfassung der Befunde und einer Bewertung des Potenzials eines praxistheoretischen Ansatzes in der Religionswissenschaft. Am Anfang meiner Ausführungen stand die Beobachtung, dass sich die lateinamerikanisch-brasilianischen Migrantenpfingstgemeinden in der Rhein-Ruhr-Region hinsichtlich ihrer soziokulturellen Zusammensetzung und den diskursiven Praktiken deutlich unterscheiden. Dem relationalen Paradigma folgend wurden diese Unterschiede von mir nicht als substantialistisch, sondern als von der zeitlichen und räumlichen Einbettung der Akteure abhängig begriffen und praxeologisch analysiert. Dementsprechend habe ich zunächst die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen die Gemeinden und ihre Mitglieder bestehen und agieren, beschrieben und zwei Kategorien von Gemeinden (pfingstlichcharismatisch und gemäßigt charismatisch) gebildet. Durch die anschließende Analyse der beobachtbaren religiösen Praktiken in ihrem Verhältnis zur sozialen Position der Gemeinden und ihrer Mitglieder habe ich herausgestellt, dass Praktiken nicht als das Befolgen festgeschriebener, objektiver Regeln verstanden werden sollten. Sie folgen einer eigenen, praktischen Logik, die auf die jeweilige Gemeinschaft beschränkt und innerhalb dieser (re-)produziert wird. Diese praktische Logik, so konnte gezeigt werden, ergibt sich aus der Situation und ihrer Deutung auf der Grundlage eines spezifischen Habitus. Sie ist, so verdeutlicht es beispielsweise die religiöse Praktik des Verbotes zum Tragen von Hosen, ebenso flexibel wie der religiöse Habitus, der sie hervorbringt. In dieser Erkenntnis liegt m.E. ein besonderer Mehrwert des praxeologischen Ansatzes für die Religionswissenschaft. Er ermöglicht es, Unterschiede zu beschreiben und zu erklären, ohne sie als „natürliche Unterschiede“ (Schäfer 2004: 288) zu konstatieren, und ist damit auch in der Lage, Transformationsprozesse zu erfassen. Durch die Betrachtung von Religion als einem Teil von Kultur ist es darüber hinaus möglich, den religiösen und den nicht-religiösen Lebensbereich zusammenhängend zu begreifen und zu analysieren (vgl. Schäfer 2004: 269). Auf diese Weise wird einer Reifizierung von Religion vorgebeugt und es können Aushandlungsprozesse analysiert werden, ohne dass die Richtung der Veränderung bereits im Vorfeld a priori festgelegt ist. Dies eröffnet gerade für multireligiöse moderne Gesellschaften ein besonderes Potenzial. Statt eine Heterogenisierung
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der Gesellschaft als einen Kampf der Kulturen (Huntington 1996) zu begreifen, kann die Analyse der Praktiken Aufschluss über die Bedürfnisse und Erfahrungen sowie das implizit habituelle Wissen der zugewanderten Christen geben. Diese Form des Verständnisses kann dabei helfen, in einen konstruktiven Austausch zu treten und Vorurteile abzubauen. Denn, so beschreibt es ein evangelischer Christ und Maya-Priester aus Guatemala: „Die [die] den Dialog führen, sind die Menschen, nicht die Wörter.“ (Zitiert nach Schäfer 2004: 261)
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Gemeinschaft als Prozess: Koreanisch-christliche Gemeinden in Nordrhein-Westfalen als kommunikative Interaktionsräume S ABRINA W EISS
E INLEITUNG : K OREANISCH - CHRISTLICHE G EMEINDEN ALS O RTE DER B EGEGNUNG UND DES AUSTAUSCHES Saint-Exupéry schrieb in seinem Werk „Die Stadt in der Wüste. Citadelle“, wenn man ein Schiff bauen will, dann solle man nicht nur Männer zusammentrommeln, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern man solle die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer lehren (vgl. de Saint-Exupéry 1948: 182). Der Spruch steht einerseits symbolisch für die komplexe Suche des Menschen nach sich selbst, und andererseits beschreibt er ein Gemeinschaftsgebilde, zu welchem jeder Einzelne eine Beziehung aufbaut, sich mit seinen Fähigkeiten einbringt und durch das er Sinnstiftung erfährt. Überträgt man SaintExupérys Spruch auf religiöse Gemeinschaften, dann stellt sich die Frage, auf welche Art und Weise in religiösen Gemeinschaften Sinn vermittelt wird und die Identifikation des Einzelnen mit der Gemeinschaft stattfindet. Damit Menschen sich in Beziehung zu einer Gemeinschaft setzen und in ihrem Sinne agieren, scheint es mehr als der Bereitstellung von attraktiven oder nützlichen Ressourcen und Strukturen seitens der Gemeinschaft zu bedürfen. Gemeinschaften können vielmehr als Gelegenheitsstrukturen für
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soziale Interaktionen1 und Handlungen verstanden werden. Die Migrationskirchen koreanischer Christen in Deutschland stellen solche Gelegenheitsstrukturen dar, in denen sich Menschen begegnen, austauschen und unterstützen können. Die Migrationskirchen sind auf die Bedürfnisse der Mitglieder zugeschnitten und orientieren sich an gemeinsamen kulturellen und religiösen Traditionen, sind überwiegend ethnisch homogen und kanalisieren die mit Herausforderungen verbundenen Migrationserfahrungen ihrer Mitglieder. Die Beziehung zwischen Korea und Deutschland hat sich insbesondere in den vergangenen 50 Jahren intensiviert.2 Beginnend mit der Einwanderung z.B. von Krankenschwestern Ende der 1950er Jahre und Bergarbeitern in den 1970er Jahren bis hin zu temporär anwesenden Auslandsstudenten und Geschäftsleuten, kam es zu einer bis heute anhaltenden Fluktuation von auf Dauer oder für einen definierten Zeitraum nach Deutschland einwandernden Koreanern. Gerade in der Anfangszeit waren sie mit den Herausforderungen der Migrationssituation häufig überfordert. Anschluss fanden sie zunächst in protestantischen oder katholischen Gemeinden, denn der überwiegende Teil der koreanischen Migranten hatte eine christliche Konfession.3 Die Entstehung von koreanischen Gemeinden verlief nicht zentral organisiert, sondern orientierte sich an der speziellen Bedürfnislage der eingewanderten Koreaner. Insbesondere koreanische Krankenschwestern
1
Unter Interaktion verstehe ich das wechselseitige Aufeinandereinwirken und - bezugnehmen von Individuen oder Systemen. Interaktion ist ein kommunikati-
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Eine ausführliche Zusammenfassung zur koreanischen Arbeitsmigration nach
ver Akt. Deutschland geben Sun-Ju Choi/You Jae Lee (2005): „Umgekehrte Entwicklungshilfe – Die koreanische Arbeitsmigration in Deutschland“, in: Projekt Migration, Köln: DuMont. 3
50-60 % der Koreaner in Deutschland gehören dem christlichen Glauben an (vgl. Yoo 1996). Viele der koreanischen Arbeitsmigranten waren bereits vor ihrer Einreise nach Deutschland Christen. Bereits 1784 setzte die Auseinandersetzung mit dem Christentum durch koreanische Intellektuelle in Korea ein und wurde nachfolgend durch katholische und evangelische Missionare vorangetrieben. Einige koreanische Arbeitsmigranten traten jedoch erst in Deutschland dem Christentum bei. Die koreanisch-christlichen Hauskreise und Gemeinden stellten eine wichtige Anlaufstelle für die Arbeitsmigranten dar.
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fanden sich zunächst in Hauskreisen zum Bibelstudium und Gebet zusammen. Aus diesen Treffen entwickelten sich die ersten Gemeindegründungen (vgl. Yoo 1996). Erst in der Folgezeit gründeten sich explizit koreanischchristliche Gemeinden und säkulare Organisationen (z.B. Kulturvereine, Wohlfahrtsvereine, Frauenvereine), um einerseits eine Anlaufstelle für Immigranten zu bilden, und andererseits den zwischenmenschlichen und religiösen Austausch zwischen koreanischen Migranten zu ermöglichen (vgl. Yoo 1996; Lee 1998; Jeong 2008). Koreanisch-christliche Gemeinden stellen ein bedeutendes Untersuchungsfeld dar, weil sie seit ihrer Etablierung in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland als eine der wichtigsten Kontaktstellen für koreanische Migranten gesehen werden können (vgl. Kim 1978; Hurh/Kim 1990). Gegenwärtig sprechen Gemeinden in Universitätsstädten oder in Städten mit vielen international agierenden Wirtschafts- und Finanzunternehmen (z.B. Frankfurt) mit ihren Angeboten vor allem Studenten und Geschäftsleute an, welche häufig nur temporär in Deutschland bleiben. Die zunehmende Fluktuation der Mitglieder, Aspekte des demografischen Wandels, ökonomische Herausforderungen, die religiös-plurale Landschaft NRWs, aber auch der Generationswechsel, sind nur einige Faktoren, die sich auf die Gemeinschaften koreanischer Christen auswirken. Religiöse Gemeinschaften als statisch oder isoliert zu begreifen und sie als Migrationskirchen unter funktionalen Gesichtspunkten zu analysieren, wird der Anpassungsfähigkeit an äußere Umstände und der inneren Dynamik dieser Gemeinschaften nicht gerecht. Aber woran lassen sich Dynamiken in den Gemeinschaften aufzeigen? In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass die Gemeinden einen prozessualen Charakter haben. Während Struktur- und Funktionsbeschreibungen von Gemeinschaften nur eine Momentaufnahme wiedergeben, kann anhand von Interaktionen und Rollen gezeigt werden, dass sich die Ordnung von Gemeinden in permanenter Entwicklung befinden. Es vollziehen sich interaktive Prozesse, die identitäts- und sinnstiftend sein können, aber zugleich mit Spannungen und Aushandlungen für die Mitglieder verbunden sind. Insbesondere kleinere Gemeinden, in denen die Laien einen hohen Anteil an der Organisation tragen und es keine klaren Kompetenzregelungen gibt, ist das Potenzial für Spannungen und Konflikte höher. Spannungen entstehen beispielsweise, sobald Interessen unterschiedlicher Generationen aufeinander treffen, neue Mitglieder Teil der Gemeinschaft werden oder Positionen neu besetzt werden. Welche Möglichkeiten zur Interaktion
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gibt es in den Gemeinschaften? Wie wird über Kommunikation nicht nur der Einzelne als Mitglied einer Gemeinschaft, sondern auch die Gemeinschaft als solche konstituiert? Anhand ausgewählter Beispiele wird aufgezeigt, wie Gemeinschaft als sozialer Raum als Gelegenheitsstruktur für Prozesse der Angleichung, Aushandlung und Rezeption für religiöse Akteure fungieren können. Es handelt sich dabei um kommunikative Prozesse, die die wechselseitige Perspektivverschränkung der Mitglieder untereinander ermöglichen. Aufgrund der Interaktionen und kultureller und sozialer Mechanismen entwickelt sich eine innere Struktur. Diese innere Struktur des sozialen Raumes findet ihren Ausdruck in konkreten Rollen, die Mitglieder einnehmen und die in ihren Funktionen auf das Miteinander einwirken. Zuvor wird jedoch kurz die Einwanderungsgeschichte und der Forschungsstand zu koreanischen Migranten4 vorgestellt. Im Folgenden werde ich kursorisch den Forschungsstand zu koreanischen Christen sowohl in Deutschland als auch in Amerika resümieren. Amerika blickt auf eine lange Einwanderungsgeschichte koreanischer Arbeitsmigranten zurück und weist einen umfangreicheren Forschungsstand auf, als es für Deutschland bisher zu verzeichnen ist. Dabei werde ich eine Schwerpunktverschiebung in der Betrachtung vornehmen, die weniger auf die Funktionalität der Gemeinschaften, sondern auf die Bedeutung von Interaktionen, Beziehungen und Rollen abzielt. Gemeinschaft verstehe ich als Gelegenheitsstruktur, welche in verschiedenen Prozessen den grundlegenden Wechsel zwischen Vermittlung von religiösem Wissen und der subjektiven Auseinandersetzung damit ermöglicht. Danach gehe ich auf das methodische Vorgehen und die Datenerhebung ein, präsentiere die empirischen Ergebnisse zu Interaktionsformen in koreanischen Gemeinden und ihre Auswirkungen auf Prozesse der Identitäts- und Sinnstiftung.
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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in der Regel die männliche Schreibweise verwendet. Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass sowohl die männliche als auch die weibliche Schreibweise für die entsprechenden Beiträge gemeint ist.
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F ORSCHUNGSSTAND UND THEORETISCHE V ORÜBERLEGUNGEN : E INE S CHWERPUNKTVERSCHIEBUNG FUNKTIONALER R ÄUME ZU KOMMUNIKATIVEN I NTERAKTIONSRÄUMEN Die bisherige Forschungslage in Deutschland zur Situation eingewanderter Koreaner und ihrer Selbstorganisationen weist seit den 1980er Jahren zum einen sozialwissenschaftlichen Arbeiten auf, welche sich mit Rückkehrperspektiven der Arbeitsmigranten und deren Integrationsherausforderungen beschäftigten (vgl. Kim 1986; Choᬯe 1986). Seit den 1990er Jahren kamen erziehungswissenschaftliche Untersuchungen zu Kindern koreanischer Einwanderer hinzu (vgl. Lee 1991; Pak 1996; Hwang 1999). Daran schlossen sich sozialwissenschaftliche Arbeiten zur koreanischen Selbstorganisation in Deutschland (vgl. Yoo 1996) oder zum deutsch-koreanischen Kulturkontakt an (vgl. Kim 1998; Han 2004). Aus einer theologischen Binnenperspektive wurden zudem überwiegend deskriptive Darstellungen der koreanisch-christlichen Gemeinden in Deutschland verfasst (vgl. An 1997; Jeong 2008). Weiter fortgeschritten ist die Forschung im angelsächsischen Raum. Dort wurden in den vergangenen Jahrzehnten koreanische Gemeinden zum Beispiel mit sozialwissenschaftlichen Fragestellungen hinsichtlich ihrer Funktion als Migrantenselbstorganisationen, ihrer Rolle als Kirche für die koreanische Diaspora, den Entwicklungsstufen der Institutionalisierung oder ihrer Bedeutung für die Integration ihrer Mitglieder in die Gesellschaft untersucht. Dabei wurden soziale Funktionen der Gemeinden thematisiert, wie beispielsweise die Vermittlung kultureller und traditioneller Werte, Spracherziehung oder auch emotionale und psychologische Unterstützungsfaktoren (vgl. Choy 1979; Kim 1981; Min 1989). Vor allem Hurh und Kim (1978, 1984, 1990) befassten sich über einen längeren Zeitraum mit den Motiven religiöser Partizipation von Koreanern in ihren Gemeinden. Ein hoher Anteil der amerikanischen Forschungsliteratur wird zudem durch koreanische Theologen getragen, welche oftmals aus einer Innenperspektive heraus beispielsweise Fragen zum Gemeindewachstum, der Gemeindeführung, Machtstrukturen oder theologische Reflexionen zu kulturellen Spannungen, koreanischer Identität und religiöser Lebensführung behandeln (vgl. Kwon/Kim/Warner 2001; Cho 1985; Hertig 1991; Kim 1985). Auch wenn viele dieser Studien dazu beitrugen, ein differenzierteres Bild koreanisch-christlicher Gemeinden zu zeichnen, so ist ihnen jedoch allen gemein,
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dass sie eine funktionalistische und strukturanalytische Perspektive einnehmen. Diese Perspektiven verwundern nicht angesichts der Art und Weise, wie in den letzten Jahren Diskussionen um religiöse Migrantenorganisationen geführt worden sind – nämlich vornehmlich in Hinblick auf ihre strukturellen Entwicklungen, ihre Positionierung in der Gesellschaft und hinsichtlich integrationsspezifischer Aspekte. So werden die Handlungen und Einstellungen von Migranten und ihren Selbstorganisationen in Form von Vereinen, Gemeinden, Verbänden oder Dachorganisationen vor dem Hintergrund vermeintlich fester Strukturen und klarer Motivlagen analysiert. Aus den bisherigen Forschungsarbeiten zu koreanischen Christen in Deutschland geht zwar hervor, dass die Gemeinden sich für die verschiedenen Bedürfnisse ihrer Mitglieder einsetzen. Ein Desiderat ergibt sich jedoch dann, wenn über den bisherigen Forschungsstand hinaus aus einer religionswissenschaftlichen Perspektive danach gefragt wird, wie die Gemeinden, wenn man sie als Gelegenheitsstrukturen begreift, soziale Räume darstellen können. Soziale Räume, in denen Normen und Werte des Miteinanders erst durch kommunikative Aushandlungen der Mitglieder determiniert werden, können identitäts- und sinnstiftende Erfahrungen ermöglichen. George Herbert Mead, welcher den Symbolischen Interaktionismus begründete, zeigte auf, „wie der Mensch durch die soziale Gemeinschaft, in der er entsteht, aufwächst und lebt, die Fähigkeit zur Kommunikation erwirbt und dadurch zu dem Menschen seiner Zeit und Kultur wird, der er ist und die er mitgestaltet“ (Krotz 2008: 35). Er beschrieb die Mechanismen, aufgrund derer sich Bewusstsein, Kompetenz, Erfahrung und Identität eines Menschen herausbildeten (vgl. Krotz 1969, 1973). Für religiöse Gemeinschaften wird von der Annahme ausgegangen, dass religiöse Werte und Normen eine Rahmung für das soziale Miteinander darstellen, aus denen aber auch Restriktionen erwachsen können, welche die kommunikativen Interaktionen beeinflussen. Sie stellen deshalb nur einen Rahmen dar, weil Mensch in Interaktionen auf der Grundlage handeln, welche Bedeutungen die „Dinge“ für sie haben. Religiöse Werte und Normen können im Widerspruch dazu stehen oder keine Relevanz für das Handeln haben. In Anlehnung an handlungstheoretische Ansätze nach Mead und Blumer (vgl. Mead 1969, 1973; Blumer 1973) soll die Analyse kommunikativer Interaktionen innerhalb koreanisch-christlicher Gemeinschaften aufzeigen, welche Bedeutung zum einen die Gemeinschaft als Gelegenheitsstruktur für Interakti-
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onen für ihre Mitglieder hat. Zum anderen soll untersucht werden, wie Rollen, welche sich in den Interaktionsprozessen ergeben, als symbolischer Ausdruck für einen sozialen Raum gesehen werden können, welche zum Erhalt und der Reproduktion der Gemeinschaft beitragen. Will man die Gemeinden unter diesen theoretischen Überlegungen untersuchen, muss zunächst bestimmt werden, an welchen Normen und Werten sie sich in ihrer Religiosität orientieren. Bezogen auf koreanischchristliche Gemeinden bedeutet das zum einen die unterschiedlichen Denominationen und zum anderen die hybriden religiösen Elemente zu berücksichtigen. Die Gemeinden, welche beispielsweise evangelikalkonservativen oder pfingstlerischen Strömungen angehören, legen ihr Verständnis von Normen und Werten und rechter Lebensführung sehr nah an der Bibel aus. Sie gilt als Heilige Schrift, welche durch den Heiligen Geist inspiriert wurde und Gottes Wort sei. Gottesdienste, Hauskreistreffen oder gemeinsame Gebete sind ritueller Ausdruck des Glaubens. Ethische Werte und Einstellungen speisen sich aus den Glaubensvorstellungen einer konfuzianischen Tradition, die bis heute in die religiöse und soziale Praxis wirkt.5 Bei Zusammenkünften werden oft Themen der Lebensführung mit den Gemeindemitgliedern besprochen – z.B. das Verbot von Alkohol, Zigaretten, Drogen und eine starke Orientierung an der Familie als ideale soziale Lebensform. Religiöse Normen und Werte wirken als semantische Rahmung auf Interaktionen und Rollenzuschreibungen ein. Zum einen handelt das Individuum auf Grundlage seiner Erfahrungen und vertritt somit eine bestimmte Perspektive. Dazu gehören auch Erfahrungen der religiösen Praxis und der intellektuellen Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten. Zum anderen agiert es nicht kontextfrei, sondern befindet sich in einer „Situation“, in der es in Bezug zu Menschen, Gegenständen oder Räumen steht. Krotz verdeutlicht den prozesshaften Charakter, den eine Situation hat:
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Als Beispiel für konfuzianische Werte können Selbstdisziplin, der Wille zu harter Arbeit und Fleiß genannt werden.
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„‚Situation‘ meint also die je aktuelle Interaktionsgrundlage und ist damit einerseits ein prozessuales Konzept, das von allen Beteiligten fortwährend ausgehandelt wird, andererseits aber der stets notwendige, Perspektiven setzende Rahmen mittels dessen abgegrenzt wird, was wie dazu gehört und was nicht.“ (Krotz 2008: 38)
Die Perspektive und die Situation, in der sich ein Mensch befindet, finden ihren Ausdruck in der Rolle, die sich aus kommunikativen Interaktionen ergibt. Die Rolle, welche nie den ganzen Menschen in seiner Komplexität widerspiegelt, ist ein Aspekt seiner Identität. In Interaktionen mit anderen Menschen versucht das Individuum sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen und sich auf dessen Perspektive und Rolle einzustellen. Das Ich konstituiert sich durch die Perspektive des Gegenübers und die Gemeinschaft konstituiert sich durch die wechselseitige Perspektiveinnahme und Rollenzuschreibung der Mitglieder. Es bildet sich ein gemeinsames Verständnis über die verwendete Sprache und Symbole. Wenn ein Individuum jedoch mit den sozialen, kulturellen und religiösen Normen nicht vertraut oder unsicher ist, hat dies Einfluss auf die Verständigung und das Miteinander. Unterschiedliche kulturelle oder ethnische Hintergründe, Generations- oder Genderunterschiede beeinflussen somit die Kommunikation, weil Interaktionen und die Verständigung über Rollen unter Umständen nicht reibungsfrei verlaufen. Koreanisch-christliche Gemeinden sind keine geschlossenen, sozialen Räume, in denen ihre Mitglieder isoliert von ihrer Umwelt handeln. Sowie jedes Mitglied z.B. durch seinen Beruf, die Bildungsinstitutionen, die Nachbarschaft oder seinen Freundeskreis in der Gesellschaft interagiert, so ist auch die Gemeinde als solche in sein Umfeld eingebettet. Die Gemeinden sind nicht nur Teil eines ethnisch-homogenen Netzwerkes, sondern treten durch ihre Präsenz auch mit anderen religiösen und säkularen Institutionen (z.B. Landeskirchen, Ämter, Universitäten) in Kontakt. Neue Mitglieder, seien es koreanische Studenten oder Geschäftsleute oder aber auch deutsche Ehepartner der Mitglieder, und der demografische Wandel begünstigen die Mitgliederdynamik in den Gemeinden. Diese Dynamiken stellen die Gemeinden vor Herausforderungen, die Spannungen erzeugen und sich auf das Gemeindeleben auswirken. Ein Schwerpunktwechsel, der nicht mehr die Funktionalität von koreanisch-christlichen Gemeinden als Migrationskirchen, sondern die Prozesshaftigkeit und Dynamiken in den Blick nimmt, kann zu einem besseren Verständnis von Sinn- und bedeutungsbasierten Handlungen der Mitglieder beitragen.
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Im Folgenden werde ich kurz auf das methodische Vorgehen und die Datenerhebung und -auswertung eingehen, um danach Interaktionsformen zu beschreiben, die in koreanischen Gemeinden stattfinden. Diese Interaktionsformen bilden ab, wie die Mitglieder in kommunikativen Interaktionen Rollen zuschreiben und ihre konstruierte Wirklichkeit in der Gemeinschaft als sinn- und identitätsstiftend erfahren.
M ETHODE
UND
D ATEN
Die Analyse in diesem Beitrag basiert auf Feldforschung in einem laufenden Dissertationsprojekt an der Ruhr-Universität Bochum, welche ich Anfang des Jahres 2011 begonnen habe. Der Untersuchungsraum ist auf Nordrhein-Westfalen festgelegt worden, da es sich um das zuwanderungsstärkste Bundesland (vgl. Hero/Krech/Zander 2008: 17) handelt und sich in den zahlreichen städtischen Ballungsräumen viele koreanische Gemeinden bildeten. Derzeit kann ich für Nordrhein-Westfalen über 37 Gemeinden identifizieren, jedoch ist die Anzahl stetigen Schwankungen durch Neugründungen oder Abspaltungen unterworfen. Die Gemeinden gehören unterschiedlichen Denominationen an und bilden gleichermaßen das plurale religiöse Feld Koreas ab (vgl. Yu 1996; Buswell/Lee 2006). Zu den christlichen Denominationen gehören vor allem presbyterianische, baptistische, methodistische und pfingstlerische Gemeinden. Als Datengrundlage dienen kontinuierliche, teilnehmende, unstrukturierte Beobachtungen bei Gottesdiensten und Festen, informelle Gespräche und leitfadengestützte, episodische Interviews mit Laien, Vikaren und Pastoren aus verschiedenen koreanischen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen. Die Teilnahme an wöchentlichen Gottesdiensten und jährlichen Gemeindefesten sollten einerseits Aufschluss über Interaktionsformen und Wertvorstellungen der Gemeindemitglieder geben, andererseits sollten organisationale Strukturen der Gemeindearbeit in Form von Aufgabenverteilungen an Mitglieder, thematisch organisierten Gruppen und Ausformungen der Hierarchieebenen erfasst und für eine wissenschaftliche Auswertung dokumentarisch festgehalten werden. Bei der Auswahl der Interviewpartner achtete ich darauf, eine heterogene Mischung anhand der Merkmale Alter, Geschlecht und Status in der Gemeinde zu erzielen. Die Strukturierung der Interviews orientierte sich an den methodischen Überlegungen von Flick und Lamnek zur episodischen Interviewfüh-
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rung (vgl. Flick 1999; Lamnek 2005: 362-363). Die Konzeption der Interviews sah vor, dass die Gesprächspartner zwei Formen von Wissen vermitteln konnten: Zum einen ließ ich in der Interviewführung Raum für narrativ-episodische Wissenserzählungen, welche sich aus unmittelbaren Erfahrungen und einer Sammlung von Erinnerungen speiste. Zum anderen zielten die Fragen auf semantisches Wissen ab. Hierbei handelt es sich um Wissen in Form von Generalisierungen und Abstraktionen, welches aus Erfahrungen abgeleitet wird. Prozessbeschreibungen dienten als assoziativer Ausgangspunkt für eine eigenständige Kategorisierung, welche vor allem auf konkrete Interaktionsformate abzielte.6 In der Analyse kristallisierten sich vor allem organisierte religiöse Praktiken heraus, welche die Interaktion der Mitglieder begünstigen. Im folgenden Abschnitt werde ich anhand der Darstellung von Gelegenheitsstrukturen wie Gottesdiensten, Hauskreistreffen oder Gebetsgruppen aufzeigen, wie in Interaktionen Prozesse der Angleichung, Aushandlung und des Sich-Einlassens stattfinden. Ich gehe davon aus, dass die Interaktionen zudem Auswirkungen auf die Rollenzuschreibung und Positionierung von Mitgliedern in Gemeinschaften haben, wobei diese immer dynamisch und wandelbar bleiben.
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Leopold von Wiese beschrieb bereits 1966 in „System der Allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Prozessen und den sozialen Gebilden der Menschen (Beziehungslehre)“ auf Seite 178 sozialrelationale Räume, in denen verschiedenen Prozesse ablaufen. Diese nennt er Prozesse der Annäherung, Anpassung, Angleichung, Vereinigung, Lockerung, Abhebung, Lösung und Brechung. Von Wieses Prozessbeschreibungen greife ich als Ausgangspunkt für die eigene Kategorienbildung auf.
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E MPIRISCHE E RGEBNISSE : I NTERAKTIONSFORMEN UND R OLLENZUSCHREIBUNG ALS PROZESSUALER A USDRUCK VON G EMEINSCHAFT Prozesse der Angleichung: Gemeinden als Orte der Reproduktion Ein wesentliches Element religiöser Praxis in koreanisch-christlichen Gemeinden ist der sonntägliche Gottesdienst, welcher überwiegend auf Koreanisch gehalten wird. In einigen Gemeinden wird zudem eine deutsche oder englische Übersetzung bereitgestellt. Je nach Größe und geografischer Lage der Gemeinden werden zusätzlich Frühgottesdienste oder spezielle Gottesdienste für Jugendliche der zweiten Generation oder Gläubige anderer ethnischer Herkunft, welche nicht über ausreichende Kenntnisse der koreanischen Sprache verfügen, angeboten. Meistens kann jedoch in den kleineren Gemeinden lediglich am Sonntag ein Gottesdienst angeboten werden. Häufig reisen die Gläubigen für die Teilnahme viele Kilometer mit den öffentlichen Verkehrsmitteln oder im Auto an. Der Gottesdienst und die gemeinsam verbrachte Zeit in der Gemeinschaft nehmen einen hohen Stellenwert für die Mitglieder ein. Mit Betreten des Gebäudes – sei es eine angemietete Kirche oder ein Saal – eröffnet sich ein sozialer Raum7, welcher verschiedene Interaktionen ermöglicht, dem aber auch ein ganz spezifisches „semantisches Sinngefüge“ (Häußling 2008: 67) innewohnt. Einerseits gehört dazu die Internalisierung geltender Normen, wie dem korrekten Begrüßen höherrangiger Gemeindemitglieder, andererseits die Wahrnehmung semantischer Sinngehalte materieller Anordnungen wie die Positionierung des Altars und des Kreuzes (zentral), der Sitzreihen (auf das Zentrum ausgerichtet), der Musikin7
Ein sozialer Raum ist nicht nur als ein konkret erfahrbarer, physischer Raum zu verstehen (z.B. Schule, Märkte oder Sportvereine), sondern kann als eine metaphorische Sphäre verstanden werden, in dem Personen oder Gruppen Phänomenen und Ereignissen Bedeutungen zuschreiben. Der soziale Raum ist dynamisch zu begreifen. Auf der Grundlage von Rechten, Pflichten, Ansprüchen, Einstellungen, Normen und Werten, die auch ungefestigt oder widersprüchlich sein können, interagieren Menschen miteinander. Dabei werden Bedeutungen und sprachliche Symbole ausgehandelt oder emotional diskutiert.
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strumente und des Chorbereiches (an den Seiten den Altarbereich umgebend). Gleichzeitig verweist die materielle Anordnung symbolhaft auf die Rollen von Personen, die in diesem Umfeld agieren. Insbesondere sind darunter die Hierarchien und Positionen zwischen religiösen Experten (Pastor), Laien mit Expertise (z.B. Presbyter8 und Chorleiter) und den Laien selbst zu verstehen. Die Angleichung an Normen und Werte spielt in den Predigten und in Gesprächen in den Gemeinden eine bedeutende Rolle, denn nur durch die aktive Anteilnahme der Mitglieder können in den Gemeinden der Gottesdienst und andere Angebote gewährleistet werden. Viele Gemeinden verfügen zwar über einen hauptamtlichen Pastor, aber die Mitglieder übernehmen wichtige Aufgaben, ohne die der Gottesdienst oder das anschließende gemeinsame Essen nicht durchführbar wären. Die Aufgaben werden in regelmäßigen Abständen neu zugewiesen. Ein Prozess der Angleichung oder des Sich-Einpassens findet nicht nur in Form einer Identifikation mit den religiösen Inhalten der Gemeinschaft statt, welche vor allem durch die Eintragung als Mitglied in der Gemeinde anerkannt wird, sondern ebenso über die Partizipation an religiösen Ritualen, Festen oder spezifischen Gruppenangeboten. Also Gelegenheiten, welche die Interaktion in der Gemeinschaft ermöglichen. Aber wie kann ein Mitglied eine bestimmte Rolle in einer Gemeinde einnehmen? Und wird diese Rolle als sinnstiftend erfahren? Zur Beantwortung dieser Fragen beginne ich einleitend mit der Darstellung von Wandlungsprozessen zweier koreanischer Gemeindemitglieder, welche einen Positionswechsel innerhalb der Gemeinschaft markieren. So berichtet ein Mann mittleren Alters, nachdem er jahrelang nur passives Mitglied war: „Daher als studierter G., ja, möchte ich also meine Fähigkeit also für meine Gemeinde einsetzen. Ja, das ist mein also (-) Motivation für den für das Engagement für unsere Gemeinde. Und das ist nicht nur für unsere Gemeinde, sondern für mich, für meine Familie. […] Daher war ich in der Anfangsphase etwas passiv, ja. Nur als einfacher (-) also Gemeindemitglied und Mitglied an Gottesdienst teilgenommen habe usw. Aber mit der Zeit also bin ich mittlerweile also mittlere Position sozusagen, ja. Vom Alter her und von Erfahrung her. Daher also habe ich angefangen also vor ((räuspert sich)) drei oder vier Jahren aktiv also die Gemeindearbeit mitzugestalten.“
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Inhaber einer kirchlichen Leitungsfunktion: „Ältester“.
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Mit der Kompetenz, die er durch sein Studium erworben hat, bringt er sich in der Gemeinde aktiv für die Öffentlichkeitsarbeit ein. Nicht jede Gemeinde verfügt über diesen Posten. Aber mit dem Erreichen eines Alters, welches innerhalb der Gemeinde mit Ansehen und Respekt verbunden ist, wird er in Interaktionen mit seinen Fähigkeiten anders wahrgenommen. Er empfindet seine Mitgliedschaft nun nicht nur innerhalb der Gemeinde als sinnvoll, welche durch einen Posten gewürdigt wird, sondern sieht dieses Engagement auch für sich und seine Familie als wertvoll an. Es zeigt sich, dass die Angleichung in Form der Identifikation mit der Gemeinde und ihren Werten, nicht nur innerhalb der Gemeinde wirksam in Form von Engagement werden kann. Sie kann zudem auf das alltägliche Leben außerhalb der Gemeinden übertragen und in den Beziehungen und Interaktionen mit anderen als sinnstiftend erfahren werden. Über die Identifikation, die aktive Teilnahme und das sich herausbildende Engagement werden religiöse Werte und Normen, die mit der Gemeinschaft in Verbindung gebracht werden, reproduziert. Prozesse der Angleichung geschehen vor allem dann, wenn die Gemeinden neue Mitglieder aufnehmen. Das neue Mitglied muss sich dabei in seiner Rolle als Neuling mit den gängigen Normen und Werten der Gemeinschaft vertraut machen und diese mit seinen eigenen abgleichen. In Interaktionen mit anderen Mitgliedern werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten schnell deutlich. Eine junge Koreanerin, welche für ihr Studium mit 17 Jahren nach Deutschland kam, beschreibt den Prozess der Angleichung wie folgt: „Aber als ich hierhergekommen bin, war also natürlich sehr hart. Wir haben normalerweise in Korea gibt’s auch so Gottesdienst für so Babys und so Kindergarten, Grundschule so für Alter, ne. Aber hier ist eigentlich eine Gemeinde und wir müssen alle zusammen Gottesdienst machen. Und dieses Inhaltliche war auch also damals vor sieben Jahren, war sehr schwer für mich. Aber daher habe ich auch ein bisschen so intensiv gelernt. Sag ich mal so. Und ja, also durch (-) diese ja Glauben (-) ja also, ich habe immer so Positives gekriegt für mein Leben. Sag ich mal. […] Aber hier war schon ziemlich lang über halbe Stunde, so vierzig oder dreiviertel Stunde. Und das war alles von Bibel und so und ja das war erst mal sehr hart für mich. ((lacht)) Trotzdem also ja (-) ich hatte auch nicht so viel Ahnung von Bibel und die meisten Leute kannten das schon die Geschichte. Und der Pfarrer erzählt immer so bisschen so (-) also ein manchmal so Schwierigkeit und ich konnte das erst gar nicht verste-
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hen. Und sollte ich erst mal Bibel selber lesen und danach, wenn ich das gehört habe, dann bestimmt habe ich verstanden. Aber damals habe ich so nicht so viele Ahnung von Bibel. Deswegen, das war schwer für mich. Ja aber danach kam, haben mir die anderen Leute viel geholfen durch Bibel lernen und so. Und daher habe ich auch ein bisschen gelernt und danach ich immer verbessert.“
Die Gemeinschaft reagiert auf ihre Unsicherheit und forciert eine Angleichung des neuen Mitgliedes, indem sowohl Beziehungen durch gemeinsames Bibelstudium verstärkt als auch religiöse Normen und Werte vermittelt werden. In ihrem Fall fand eine Kompetenzverstärkung statt, indem ihr einerseits die religiöse Praxis des Bibelstudiums in der Gemeinschaft näher gebracht wurde. Andererseits ging damit eine Anpassung an die Struktur der Gemeinde einher. Die regelmäßige Teilnahme und ihre Bemühungen eine der zentralen religiösen Praktiken, nämlich das Bibelstudium, zu internalisieren, beförderten den Prozess der Integration in die Gemeinschaft. Sie gleicht sich in ihrer religiösen Praxis und Kompetenz der Gemeinschaft an, um eine höhere Akzeptanz zu erreichen. Dieses Beispiel zeigt, dass das neue Gemeindemitglied ganz gezielt an relevante Kenntnisse herangeführt wurde, damit es sich in die Gemeinde einfügen und dadurch einen Platz in der Gemeinschaft einnehmen kann. Beide Beispiele zeigen, dass sowohl passiv als auch aktiv auf die Rolle eines Mitgliedes durch die Gemeinschaft eingewirkt wird. Durch Bezugnahme auf religiöse und kulturelle Kontextfaktoren in den Interaktionen der Mitglieder wird Homogenität im Miteinander angestrebt. Als ein kultureller Kontextfaktor wird im ersten Beispiel die Achtung vor dem Alter des Mitgliedes verstanden, welches mit einer Statusveränderung innerhalb der Gemeinschaft einhergeht, sobald eine höhere Altersstufe erreicht wird. Das religiöse Wissen eines Einzelnen kann der Maßstab dafür sein, welche Position er in der Gemeinschaft einnimmt. Während ein neues Mitglied zunächst zu einem vollwertigen Mitglied werden muss, kann ein Laie sich im Verlauf der Zeit professionalisieren und z.B. die Leitung eines Hauskreises übernehmen. Prozesse der Angleichung, welche sich in Rollenzuschreibungen manifestieren, finden vor allem im Umfeld von Gottesdiensten und Bibelkreisen statt, welche damit als Reproduktionsorte verstanden werden können. Dabei findet die Reproduktion auf zwei Ebenen statt. Einerseits geschieht sie auf der Ebene der Vermittlung von christlichen Normen und Werten wie z.B. der freiwilligen Arbeit für das Gemeinwohl der Gemeinschaft als Leiterin
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der Kindergruppe. Diese Vermittlung führt dazu, dass die Bindung zur Gemeinschaft verstärkt und der Fortbestand der christlichen Lehre gesichert wird. Andererseits findet Reproduktion in der Form statt, dass Gemeindemitglieder im Netzwerk der Gemeinschaft Rollenträger notwendiger Bereiche werden. Dies kann dazu führen, dass sich die Mitglieder entweder verstärkt für ihre Gemeinde einsetzen oder ihr Engagement auch außerhalb der Gemeinschaft durch sozialethisches Verhalten wirksam wird. Prozesse der Angleichung durch religiöse Werte- und Normenvermittlung stärken nicht nur den Fortbestand der Gemeinde, sondern entsprechen auch einem missionarischen Auftrag der Heilsverkündung, dem die Gemeinden folgen. Jedoch verlaufen die Interaktionen nicht ohne Differenzen. Im folgenden Abschnitt werden Aushandlungsprozesse beschrieben, die sich um Spannungen innerhalb der Gemeinschaft drehen. Aushandlungsprozesse: Hauskreise und Gruppentreffen als Diskursorte Neben den wöchentlichen Gottesdiensttreffen finden sich Gläubige zum gemeinsamen Bibelstudium und zum Gespräch in Hauskreisen zusammen. Diese können in unterschiedlichen Stadtteilen oder umliegenden Kleinstädten und Dörfern organisiert sein. Hauskreise stellen neben Gottesdiensten einen weiteren sozialen Raum dar, in welchem die Gläubigen über religiöse Inhalte zu bestimmten Themen diskutieren, gemeinsam essen, die Kinder zusammen spielen oder die neuesten Informationen und Ereignisse ausgetauscht werden können. Zumeist steht jedoch das intensive Bibelstudium oder Fragen zur religiösen Lebensführung im Vordergrund. Der ortszuständige Pastor gibt jede Woche ein Thema oder eine Bibelstelle vor, die dann gemeinschaftlich, entweder unter Anleitung des Pastors oder eines stellvertretenden Hauskreisleiters, besprochen werden. In diesen Hauskreisen treffen Menschen unterschiedlichen Alters aufeinander, tauschen nicht nur Informationen aus, sondern teilen auch Gefühle und Sorgen miteinander. Gefühlsbekundungen oder Problemdarstellungen nehmen einen hohen Stellenwert ein, weil die eigene Position auf diese Weise verdeutlicht wird, aber auch in Relation zur Norm gesetzt wird, wie bibeltreu oder fest man im Glauben steht. Die Frage danach, wie gefestigt der eigene Glaube ist, wird oft gestellt. Nur die regelmäßige Teilnahme und das Berichten über eigene Glaubenserfahrungen vor den anderen Gläubigen
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erzeugt Legitimation, Teil der Gemeinschaft zu sein. Durch die stete Annäherung der Gemeindemitglieder aneinander werden Beziehungen in der Gemeinschaft intensiviert.9 In den großen, städtischen Gemeinden werden oft Gruppen nach unterschiedlichen Lebensbereichen gebildet, z.B. die Gruppe der Ehepaare oder Singles. In den kleineren Gemeinden ist das nicht immer umsetzbar. Durch die vorgenommene Rollenzuschreibung „Ehemann“, „Ehefrau“, „Alleinstehende“, „Ältester“ oder „Jugendlicher“ und die dementsprechende Einteilung in Gruppen findet zwar eine Positions- und Statuszuteilung innerhalb der Gemeinschaft statt, aber damit geht nicht automatisch eine Konformität in Anschauungen und Überzeugungen einher, auch wenn diese Konformität angestrebt wird. Insbesondere zwischen der älteren und der jüngeren Generation finden Aushandlungsprozesse um die religiöse Lebensführung statt. Eine junge Koreanerin beschreibt eine Diskussion über die Bedeutung des Glaubens wie folgt: „Letzte Woche haben wir z.B. darüber gesprochen über Glauben. Wie tief wir im Glauben sind. Oder der Meinung sind, es zu sein. Oder wie viel wir riskieren, um vielleicht näher zu Gott zu kommen. Wie bereit wir sind, Dinge aufzugeben für Gott und was wir auf uns nehmen wollen für Gott. Und über solche Themen wird dann diskutiert. Da gab es verschiedene Ansichten. Manche sagen, ja weiß nicht, ab und zu hat man dann auch keine Lust zu beten oder ab und zu hat man keine Lust, Bibel zu lesen. Und das heißt aber nicht, dass wir Gott nicht lieben, sondern es ist menschlich. Da gab es, da Leute diese Ansicht hatten, aber wir hatten auch Pärchen, die gesagt haben, wenn du einmal Gottes Liebe gespürt hast, kannst du es gar nicht anders als Bibel zu lesen. Dass du es gerne tust oder dass du gerne betest, dass es das Natürlichste eigentlich ist, was du machst, wenn du einmal diese Liebe gespürt hast. Und
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Kwon, Kim und Warner sehen darin einer Verknüpfung sozialer und religiöser Rollen: „Korean immigrant churches generally state fellowship among members as one of their explicit goals (a major manifest function) and provide lunch/coffee hours after worship and district/cell meetings. As church members get together, keep close relationships, and perform the churchrelated responsibilities assigned to them, many opportunities to satisfy their primary and secondary group needs are created. Once again, religious and social roles are combined.“ (Kwon/Kim/Warner 2001: 89)
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wir sind nicht zum gemeinsamen Nenner gekommen und es ist so, die Meinungen wurden geäußert und dann haben wir darüber gesprochen.“
Die Gläubigen sind sich den normativen Vorgaben und Erwartungen, die an sie gestellt werden, bewusst. Jedoch müssen die Positionen oft neu ausgehandelt werden, weil in den Gemeinden und Hauskreisen eine stete Fluktuation herrscht. Die Fluktuation zeigt sich in verschiedenen Formen. Koreanische Christen – insbesondere der zweiten Generation –bleiben nicht ihr ganzes Leben einer Gemeinde treu, bedingt durch einen Berufswechsel, das Ende des Studiums oder einen langen Anfahrtsweg wechseln sie die Gemeinden. Zudem suchen einige Gläubige nach der für sie idealen Gemeinde. Dabei orientieren sie sich an den Fähigkeiten des Pastors oder der Zusammensetzung der Gemeinde. So bevorzugen Studenten Gemeinden, in denen ebenfalls andere Studenten anwesend sind und es vielleicht sogar auf diese Gruppe abgestimmte Angebote gibt. Weiterhin nehmen koreanische Austauschstudenten und Geschäftsleute vorübergehend am Gemeindeleben teil, die nur für eine bestimmte Zeit in Deutschland bleiben. Und zuletzt ist eine hohe Anzahl der koreanischen Pastoren ebenfalls nur vorübergehend in den Gemeinden tätig, weil sie beispielsweise in Deutschland einer theologischen Promotion nachgehen und anschließend nach Korea zurückkehren. Emotionale Stressäußerungen sind mögliche Nebeneffekte der Fluktuation, was im Dialog in einem Interview eines deutsch-koreanischen Ehepaares (sie ist Koreanerin), welche schon lange Mitglieder ihrer Gemeinde sind, zu dieser Thematik deutlich wird: Er: „Aber abschließend darf ich sagen, dass das ein wichtiger Aspekt ist, für die zwischenmenschliche Beziehung. Ich habe schon häufiger gesagt, ich lasse nicht mehr zu, so was zu verändern vielleicht. Ich lasse nicht mehr (-), ich denke, dass einzige was wir machen können ist, die Menschen nicht mehr so nahe kommen zu lassen. Damit die Enttäuschung nicht so groß ist, wenn sie wieder loslassen muss. […] Aber mittlerweile glaube ich, dass die Gemeinden hier jetzt so langsam sehen, oder die Generation sehen, die Fluktuation wird immer schneller. […] Die Älteren werden immer weniger, die Jüngeren ziehen nach. Aber es bleibt, es ist (-) wer, es ist vielleicht kein richtiger Vergleich, aber es ist vielleicht ein treffender Vergleich. Es ist mehr oder weniger eine Bahnhofsstation, eine Durchgangsstation.“ Sie: „Aber wenn man immer gibt und gibt, dass man dann ein bisschen ins Herz geschlossen hat und muss man wieder loslassen und so. Da gehört ne Menge (-) ja
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doch ein bisschen Bereitschaft, ne. Das ist halt so. Die müssen auch irgendwann einmal gehen und so. Ich denke trotzdem, dass es nicht gute Art, dass man jetzt Grenze setzt. So, sie gehen ja sowieso jetzt weg! Jetzt müssen wir ganz hart sein! Nicht unsere Liebe weitergeben und so! Unsere Gefühle haben überhaupt gar keine, wie soll ich denn sagen […] Nein, Priorität nicht. […] Jetzt mache ich mein Herz ganz hart und lasse nicht ran, ja. Das würde ich auch nicht machen. Das ist auch irgendwo, dann keine Jüngerschaft von Christen. Ich lasse sie jedenfalls auch ran. Gebe ich meine Liebe und auch diese ganze compassion und so, ja. Trotzdem ist schwierig damit umzugehen.“
Das Ehepaar versucht, diskursive und emotionale Strategien zu entwickeln, um mit der Belastung sich immer wieder auf neue Mitglieder einstellen zu müssen, die nach einer gewissen Zeit wieder die Gemeinde verlassen, umzugehen. Während er sich dazu entschließt, weitere Interaktionen mit den neuen Mitgliedern auch in Zukunft zu begrenzen, um sich selbst zu schützen, argumentiert sie im Sinne der Gemeinschaft. Ihrem Verständnis nach zeichnet sich die Gemeinde, welche sie als Jüngerschaft von Christen versteht, dadurch aus, dass ein Christ für die Gemeinschaft seine Liebe und sein Mitgefühl einbringt. Sie versucht sich in diesem stetigen Interpretationsprozess an religiösen Werten und Normen zu orientieren, die die Gemeinschaft kennzeichnen. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass das Erleben und Handeln eines Individuums von seiner eigenen symbolischen Perspektive auf eine Situation abhängt. Diese Situation stellt die Grundlage für Interaktionen dar und wird prozessual immer wieder durch die Beteiligten ausgehandelt. Ein weiteres Beispiel soll exemplarisch den Prozess der Aushandlung beschreiben, in dem eine zuvor austarierte Rollenzuschreibung wirksam wird, um Abweichungen innerhalb der Gemeinde auszugleichen. Es ist ebenfalls dem Interview mit dem eben erwähnten Ehepaar entnommen. Ihre Rolle in der Gemeinde ist mit einer Wächterfunktion vergleichbar. Diese Rolle kann fast in jeder Gemeinde identifiziert werden und wird nur an denjenigen vergeben, der die Interaktionen und Beziehungen der Gemeinschaft im Blick hat, die Gemeinschaft seit langem kennt und eine gewisse Autorität ausstrahlt. Die Ehefrau definiert ihre Position wie folgt: „Meine Funktion ist, so mütterliche Funktion in Kirche. Wenn jemand hungert oder wenn jemand gesetzmäßig auch so (-) ja nicht klarkommt im Leben. Da muss man
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auch ein bisschen Halt, ja aufpassen. Auch deren Problematik anhören. […] Aber ich mache glaube ich halb auch Presbyterarbeit ((lacht leise)) und halb auch diese Kirchenmutterarbeit. […] Aber jedenfalls, wenn jemand (-) so ’n bisschen, sag ich mal, abtrünnig wird und so. Da darf man auch ganz einfach so, jetzt du kommst jetzt in die Kirche und jetzt haben wir vergessen. Sondern meine Funktion ist auch (--) auch noch da, wir haben dich nicht vergessen, ne. Gerade ein bisschen Hilfestellung da anzubieten, ja. Unser seelisches Leben ist ja auch nicht immer gerade bahnig. Mal tief, mal runter und so. ((macht mit ihrer Hand Wellenbewegungen auf und ab)) Gerade solche Zeit muss man wirklich Glaubensbrüder wirklich (-) ja gut kontaktieren.“
Der Ehemann konkretisiert ihre Ausführungen, indem er eine Situation beschreibt, in der ein Gläubiger oder eine Familie nicht mehr im Gottesdienst erscheint. Dabei zieht er einen Vergleich zwischen koreanischen und deutschen Gemeinden. Während es in deutschen Gemeinden eher üblich sei, sich mit seinen Problemen an den Pastor oder eine andere Vertrauensperson zu wenden, verhält es sich seiner Ansicht nach in koreanischen Gemeinden so, dass Probleme und Konflikte nicht direkt angesprochen werden, sondern erwartet wird, dass das Umfeld die Problemlage erkennt und auf die jeweilige Person zukommt. Er unterstreicht seine Beobachtungen wie folgt: „Zum Beispiel wenn irgendwas nicht so rund läuft in den Gemeinden oder wenn eine Familie Schwierigkeiten hat mit der Gemeinde. Ja, dann bleibt die einfach ein zwei Wochen fern, des Gottesdienstes. Nicht wegen, das ist keine, darf man das nicht falsch verstehen, dass der Glaube verloren geht. Sondern einfach (-) man erwartet quasi dann, irgendjemand ruft dann auch mal an und kümmert sich um mich. Man erwartet, diese Aktion kommt von außen. Und das deshalb (-) ist dieses Gefühl aufzubringen, wer könnte, wer (-) wer könnte diese (-) wer wünscht diesen Kontakt? Das ist ein Feingefühl, was eben auch selbstverständlich die Frauen, die koreanischen Frauen, haben.“
Die angeführten Beispiele zeigen auf, dass die Hauskreis- und Gruppentreffen als soziale Räume fungieren, in denen Prozesse der Annäherung und Aushandlung der Mitglieder untereinander stattfinden. Dies geschieht wie genannt über den Diskurs entlang theologischer Fragestellungen zur religiösen Lebensführung, in denen die Mitglieder versuchen eine eigene Haltung zu den Inhalten zu entwickeln und diese mit ihrem Handeln in Ein-
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klang zu bringen. Zumindest soweit wie es von der Gemeinschaft erwartet wird, um als Teil dieser wahrgenommen zu werden. Sobald Abweichungen z.B. in Form von Konflikten stattfinden und Mitglieder Ereignisse in ihrer Gemeinschaft nicht mehr als sinnvoll oder unterstützend erfahren, können Mitglieder mit einer Schlüsselposition als Vermittler einschreiten, um die Spannungen zu lösen. Wenn sich jedoch Konflikte zuspitzen und sich Gruppen bilden, die unterschiedliche Positionen vertreten, oder gar der Pastor mit seiner zentralen Rolle für die Gemeinschaft infrage gestellt wird, dann können Brüche in symbolischen Interaktionen entstehen. Die Beteiligten sind in Interaktionen nicht mehr in der Lage, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen und eine andere Position einzunehmen. Da Konflikte selten offen ausgetragen werden und, wie im letzten Beispiel beschrieben, oftmals von Defensivität geprägt sind, kann die konkrete Rollenzuweisung in Gemeinden das soziale Miteinander erleichtern. Die Zuschreibung von Rollen und Positionen dient also nicht nur dazu, die Gemeinschaft zu strukturieren, sondern auch der sozialen Kontrolle, wie es am Beispiel der Wächterrolle deutlich wurde. Interaktionen und Interventionen können sowohl aktiv – in Form konkreter Wortbeiträge oder Handlungen – als auch rezeptiv – als Reaktion auf eine vorangegangene Interaktion – sein. Beide Formen sind nicht immer klar zu trennen und treten häufig im Wechselspiel auf. Dies entspricht der Dynamik, die ein Netzwerk kennzeichnet. Während in Kleingruppen vor allem religiöse Inhalte vermittelt werden und diese Gruppentreffen zudem soziale Räume darstellen, in denen die Mitglieder diskursiv Spannungen verarbeiten und Positionen innerhalb der Gemeinschaft aushandeln können, möchte ich im Folgenden auf das gemeinschaftliche Gebet als die religiöse Praxis eingehen, welche vor allem Prozesse des Sich-Einfühlens ermöglicht. Das gemeinschaftliche Gebet als rezeptiver Prozess Ich gehe an dieser Stelle noch einmal vertiefend auf das gemeinschaftliche Gebet als Aspekt religiöser Praxis ein. Zwar werden Gebete von den Mitgliedern als persönlicher Austausch mit Gott verstanden, welche vor allem im privaten Umfeld stattfinden. Jedoch zeigte sich in den Interviews und der teilnehmenden Beobachtung, dass auch das gemeinschaftliche Gebet eine zentrale Bedeutung in der religiösen Praxis in koreanisch-christlichen Gemeinden einnimmt. Diese religiöse Praxis kann Bestandteil eines Got-
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tesdienstes – insbesondere in Pfingstgemeinden – sein. Vor allem wird das gemeinschaftliche Gebet aber in Hauskreisen gepflegt. Wenn ein Gläubiger in einem laut gesprochenen Gebet andere Menschen an seinen Sorgen, Erlebnissen und Gefühlen teilhaben lässt, dann kann das mit körperlichen Äußerungen wie Weinen, Schluchzen, Zittern oder Wehklagen einhergehen. Das Geäußerte wird aufgegriffen und auf den Betenden mit besänftigenden Berührungen, wie einem Handauflegen oder beruhigenden Worten, eingewirkt. Das gemeinschaftliche Gebet ist somit eine der Interaktionsformen in der Gemeinde, durch welche intensiv das Hineinversetzen in das Gegenüber praktiziert wird. Die Beteiligten versuchen, unter Zuhilfenahme der Bibel und den Bezug auf christliche Normen und Werte, eine gemeinsame symbolische Sprache zu entwickeln, auf deren Grundlage auch zukünftige Ereignisse verarbeitet werden können. Durch regelmäßige Gebete in der Gemeinschaft und der Offenbarung privater Sorgen werden enge Beziehungen unter den Gläubigen geknüpft und zugleich etablieren sich Rollen wie beispielsweise der „guten Zuhörerin“, des „Helfers“ oder des „religiösen Experten“, welcher durch fundierte Kenntnisse der religiösen Schriften Beistand spenden kann. Die oben angeführte koreanische Ehefrau hat durch ihren Beruf als Krankenschwester Kompetenzen im Umgang mit psychisch labilen Menschen erlangt und gilt als besonders aufmerksam und einfühlsam. Sie hat ein Gespür für die Anliegen der Mitglieder entwickelt und eine Position inne, die sich stabilisierend auf die Gemeinschaft auswirkt. In einer gemeinschaftlichen Gebetssituation geht sie auf die Gefühlslage ihres Gegenübers ein und nimmt dessen Probleme ernst. Ihre Aufgabe besteht primär darin, dem Betenden das Gefühl zu vermitteln, dass er nicht alleine mit seinen Sorgen ist, sondern jemand anderes ihm zuhört, mitfühlt und für ihn betet. Durch das laut gesprochene Gebet können alle Beteiligten Anteil nehmen und das Gemeinschaftsgefühl wird durch die Rezeption gestärkt. Das gemeinschaftsstiftende Element ist also die Anteilnahme an den Sorgen des anderen. Ganz nach dem Sprichwort: Solamen est miseris socios habuisse molorum.10 Durch die Anteilnahme an einer schmerzlichen Erfahrung werden unter den Gebetsteilnehmern oft enge Bindungen hergestellt. Die Anteilnahme drückt sich beiderseitig durch Gefühlsäußerungen sowohl körperlich-motorischer als auch verbaler Art aus. Das gemein-
10 „Trost für die Unglücklichen ist es, Genossen des Unglücks zu haben.“ (Spinoza 1677: 208).
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schaftlich geteilte Gebet kann also als ritualisierte Kommunikation bezeichnet werden. Kommunikation und Interaktion sind in diesem Fall einerseits äußerlich wahrnehmbar und „zugleich durch intensive innere Aktivitäten aller Beteiligten gekennzeichnet“ (Krotz 2008: 39). Diese Interaktionen stärken nicht nur die Beziehungen der Mitglieder untereinander, sondern auch die Handlungsfähigkeit der gesamten Gemeinschaft. Religiöse Normen und rituelle Wiederholungen wirken durch die Interaktion der Mitglieder, sodass die Gemeinschaft lebendig und handlungsfähig bleibt. Fällt eine Position in einer Gemeinschaft aus, muss sich das Netzwerk entweder neu zusammenfügen oder es zerfällt in einzelne Bestandteile. Dies wird in einer Allegorie einer Interviewten deutlich: „Gerade ein Gebet, wenn man zusammen betet, hat enorme (-) so Zusammengehörigkeit, ja. Zum Beispiel hat jemand, unsere Gemeindeleben ist wie Korintherbrief, sagt ist Körperschaft. Einer hat Augenfunktion, Riechfunktion, Sprechfunktion, Hörfunktion und so. Und sag ich mal, einer vielleicht auch eine Händefunktion, das fällt weg. Das merken die, so eine kleine Gemeinde, ne. Und dann kann man auch nicht ganz einfach sagen, ach ja, die hat auch keinen Glauben dazu und so. Gerade solche Situationen muss man auch zusammenhalten. Also ich habe große Erfahrung gemacht, ganz einfach zusammen beten und das hat enorme Kraft. Das spüre ich häufig, dass Heiliger Geist wirklich anwesend ist, ne.“
Ihre Aussage zeigt, dass das Gebet für den Gläubigen nicht nur die Funktion erfüllt, sich mit Wünschen, Sorgen oder Leiderfahrungen an Gott zu wenden. Durch die regelmäßige religiöse Praxis wird zudem die Gemeinschaft gefestigt und die gemeinsame Bewältigung von Problemen möglich gemacht. Der Einzelne übernimmt eine Aufgabe innerhalb der Gemeinschaft, so wie es anhand der unterschiedlichen Funktionen eines Körpers verdeutlicht wurde. Die Betenden schöpfen im Gebet Kraft und die Anwesenheit des Heiligen Geistes wird kollektiv erfahren. Insbesondere in koreanischen Pfingstgemeinden ist die Anbetung des Heiligen Geistes und der Wunsch, er möge die gemeinsame Zusammenkunft oder Aufgaben und Ziele der Gemeinschaft unterstützen, zentraler Bestandteil religiöser Praxis. Der Heilige Geist als personifiziertes Kollektivbewusstsein stellt das verbindende Element der Gemeinschaft dar. Diese Beispiele beschreiben idealtypisch Interaktionen durch gemeinsame Gebete, welche auf den Prinzipien der Offenheit und des Vertrauens
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basieren. Jedoch wird das gemeinsame Gebet nur dann als gemeinschaftlich verbindend empfunden, wenn sich die Beteiligten seit langer Zeit kennen. Dies scheint vor allem in kleineren Gemeinden der Fall zu sein, die 30-40 Personen nicht übersteigen und die nicht von einer hohen Fluktuation ihrer Mitglieder betroffen sind. Diese Gemeinden werden als familiärer empfunden und alle Mitglieder kennen sich untereinander. In größeren und stärker hierarchisch organisierten Gemeinden zeigte sich in der teilnehmenden Beobachtung und in den Interviews zu diesem Thema, dass es vielen Mitgliedern aufgrund von Scham und Angst vor Ehrverlust schwer fällt oder gar ein Tabu ist, sich gegenüber anderen Mitgliedern zu öffnen. So fürchtete eine junge Koreanerin soziale Ächtung durch andere Mitglieder, wenn sie sich öffentlich zu ihrem Konsum von Zigaretten in ihrem Hauskreis bekennt. Ein junger Pastor der zweiten Generation, welcher liberalere theologische Positionen vertritt, ermutigte sie, offen und ehrlich zu sein, sodass sie für sie beten können. Zunächst reagierte ihr Umfeld empört. Jedoch wurde der Diskurs in dem Kreis durch den jungen Pastor begleitet, sodass sie ihr Bekenntnis als befreiend empfand. Sie sagt, dass durch die Arbeit des Pastors eine offenere und angenehmere Atmosphäre in dem Hauskreis entstanden ist, den sie und andere Mitglieder nun sehr gerne besuchen. Diese Entwicklung des Sich-öffnen-Könnens, ohne Angst davor haben zu müssen „sein Gesicht zu verlieren“, sei ein langsamer Prozess, der allgemein zur Verbesserung der Atmosphäre in der ganzen Gemeinde beitrage. Dieser Prozess deutet einen Wandel von Werten und Normen im sozialen Miteinander zwischen den Generationen in Gemeinden an.
F AZIT In diesem Beitrag wurde anhand von drei exemplarischen Prozessformen, die innerhalb von koreanisch-christlichen Gemeinden stattfinden können, aufgezeigt, dass eine Schwerpunktverschiebung in der Wahrnehmung religiöser Migrantenorganisationen von funktionalen Räumen hin zu kommunikativen Interaktionsräumen lohnenswert sein kann. In Anlehnung an sinnund bedeutungsbasierte handlungstheoretische Ansätze sollte vor allem der prozessuale Charakter dieser Gemeinschaften betont werden, um einer funktionalistischen Perspektive auf religiöse Migrantenorganisationen entgegenzuwirken.
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Die erste Prozessbeschreibung der Angleichung, welche Gemeinden als Orte der Reproduktion vorstellt, verdeutlicht, wie über die Vermittlung religiösen Wissens und der Bereitstellung von Gelegenheiten zur Interaktion in Form von Posten oder Ereignissen, die Mitglieder Sinnstiftung erfahren, Teil der Gemeinschaft zu sein. Über Interaktionen in Gottesdiensten oder Gruppentreffen wird das Sich-Einpassen (neuer) Mitglieder befördert. Rollen in der Gemeinde können als Ausdruck des sozialen, kommunikativen Interaktionsraumes verstanden werden. Die Mitglieder nehmen in der Übernahme dieser Rollen Perspektiven auf ihre Gemeinde ein. Als engagierter Christ (in der Rolle des PR-Beraters für die Gemeinde) kann dieser sich selbst als Teil der Jüngerschaft Jesu Christi sehen, welcher die Positionen der Gemeinde auch nach außen vertritt. Durch Prozesse der Angleichung wird eine Einigung auf eine gemeinsame Sprache und geteilte Bedeutungen erzeugt, wodurch religiöses Wissen reproduzierbar und der Bestand der Gemeinschaft gesichert wird. Die zweite Prozessbeschreibung von Aushandlungen in Form von Diskursen in Hauskreisen und Gruppentreffen thematisiert wie Mitglieder vor allem mit Spannungen und unterschiedlichen Ansichten in der Gemeinde umgehen. Kommunikative Prozesse des Sich-Einlassens stellen die Mitglieder vor die Herausforderung, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Das Beispiel des deutsch-koreanischen Ehepaares verdeutlicht, dass Spannungen zum einen zu Interaktionsverweigerungen führen können, aber auch wie internalisierte religiöse Normen und Werte dazu beitragen, weiterhin den Willen für das Sich-Einlassen aufzubringen, um die Gemeinschaft zu erhalten. Dies stützt die These, dass Gemeinschaften einen prozessualen Charakter haben. Die Rolle der „Wächterin“ steht exemplarisch für eine regulative Position innerhalb der Gemeinde, welche sowohl Interaktionen beobachtet als auch eine soziale Kontrollinstanz ist. Die dritte Prozessbeschreibung der Rezeption in gemeinschaftlichen Gebeten beschreibt neben den anderen beiden Prozessen, welche eher auf strukturelle Homogenität und Reproduktion in Form von Wissensvermittlung abzielen, eine Gelegenheit zur Interaktion, die vor allem die emotionale Ebene der Mitglieder berührt. Das gemeinschaftliche Gebet ermöglicht Interaktionen, die ganz besonders das Sich-Einfühlen der Mitglieder stärken. Anteilnahme und die Möglichkeit, sowohl Freude wie leidvolle Erfahrungen miteinander zu teilen, fördern die engen Beziehungen der Mitglie-
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der untereinander und stärken das kollektive Bewusstsein für die Gemeinschaft. Diese drei Prozessformen deuten vielfältige Möglichkeiten der Interaktion für Menschen in einer religiösen Gemeinschaft an. Sie zeigen, dass Interaktionen, wenn man sie als eine Form der Kommunikation betrachtet, nicht nur den Einzelnen als Mitglied einer Gemeinschaft, sondern auch die Gemeinschaft als Ganze konstituieren. Koreanische Gemeinden als sozialer Raum stellen Gelegenheitsstrukturen dar, in der über religiöse Rituale hinaus, soziales und religiöses Wissen vermittelt wird, welches sinnstiftend sein kann.
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Diaspora-Hinduismus 2.0: Christlich-hinduistische Kontaktmomente bei jungen Tamilen in Deutschland S ANDHYA M ARLA
E INLEITUNG : I DENTITÄT UND G RENZZIEHUNG PLURALEN R AUM
IM RELIGIÖS -
In diesem Artikel gehe ich der Frage nach, wie srilankisch-tamilische Hindus der zweiten Generation in Deutschland mit christlichen Angeboten umgehen, mit denen sie im Laufe ihres Lebens in Berührung gekommen sind. Bei den im Artikel thematisierten, diskursiven Kontaktmomenten handelt es sich sowohl um Erfahrungen der Zielgruppe mit nicht-tamilischen als auch mit christlich-tamilischen Strömungen. „Angebote“ bezeichnen in diesem Zusammenhang ‚Räume‘ interreligiöser Erfahrung wie religiöse Infrastruktur, schulischen Religionsunterricht und Wallfahrten. Das Leben in religiöser Vielfalt gehört auch auf Sri Lanka zur selbstverständlichen Umwelt. In ihrer Gesamtheit bilden christliche Angebote in Deutschland jedoch ein starkes Konkurrenzsystem zu den diasporabedingten Rahmenbedingungen hinduistischen Erlebens und fordern – so die im Artikel reflektierte These – traditionelle Formen der Religionstradierung heraus. Bei der Auswertung meines empirischen Materials zeigte sich beispielsweise, dass die Eltern in der Regel keine ‚theologischen Experten‘ (mehr) sind und den westlich geprägten, aufgeklärten Fragestellungen ihrer Kinder oftmals nicht gerecht werden können. Dadurch gewinnen religiöse Vermittlungsbeziehungen außerhalb der Familie an Gewicht, so zum Beispiel zu Peers oder
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religiösen Experten, wie Priestern. Diese Beziehungen sind oftmals kulturell und religiös divers und können Identifikationen mit anderen Religionen als den hinduistischen hervorrufen. Während die erste Generation auf Sri Lanka jedoch mit einem inklusivistischen Selbstverständnis aufgewachsen ist und die Einbeziehung nicht-hinduistischer Elemente der hinduistischen Loyalität keinesfalls widerspricht, kann die häufig religiös plural gelagerte Sozialisation der zweiten Generation zu Verwirrung bei der Konstruktion einer religiösen Identität führen. Durch drei Fallbeispiele, in denen junge hindu-tamilische Frauen in ihrer Pubertät ein Orientierungsdilemma hinsichtlich ihrer religiösen Identität durchlebten, werden interreligiöse Dynamiken rekonstruiert und zudem Einblicke in Vermittlungsformen des tamilischen Diaspora-Hinduismus gegeben. Bei meinen Interviewpartnerinnen handelt es sich um gebildete Frauen zwischen 17 und 22 Jahren, die in Deutschland geboren wurden. Sie repräsentieren drei markante Typen der migrationsbedingten Verortung im religiös-pluralen Raum und aus ihrer Analyse ergibt sich ein informativer Einblick in Entwicklungstendenzen des Diaspora-Hinduismus in Deutschland. In den vergangenen Jahren ist das wissenschaftliche und öffentliche Interesse an Migrations- und Integrationsprozessen unter der Annahme, Religion spiele dabei eine ausschlaggebende Rolle, gestiegen. Angaben zur religiösen Zugehörigkeit von Menschen mit Migrationshintergrund zählen jedoch nicht zum Standardrepertoire statistischer Datenbanken. Aus diesem Grund ist ein im Jahr 2001 durchgeführtes Projekt zur Religionszugehörigkeit von in Deutschland lebenden Tamilen1 aus Sri Lanka von großer Bedeutung. Martin Baumanns und Kurt Salentins empirische Studie ergab folgendes Ergebnis: Von den 874 befragten Personen bezeichneten sich 63,3 % als Hindus, 4,6 % als Katholiken und 3,9 % als Protestanten. 8,1 % beschrieben sich sowohl als hinduistisch als auch als katholisch, 0,7 % sowohl als hinduistisch als auch als protestantisch. Hinzu kamen 6,3 %, deren religiöse Zugehörigkeit Baumann und Salentin als „other combinations involving at least one strong affiliation“ (Baumann/Salentin 2006: 307) bezeichneten. 13 % gaben an, religiös nicht gebunden zu sein.2 Die Überlap-
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Mit der Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Artikel immer auch die weibliche Form mitgemeint.
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Zudem gibt es zahlreiche Tamilen, die evangelikalen Sekten, wie der Philadelphia Missionary Church (PMC), der Christlichen Gnaden Gemeinde, den Zeu-
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pung religiöser Zugehörigkeiten erinnert an eine 1911 in Indien durchgeführte Volkszählung, bei der sich nach Shamoon Lokhandawala 200.000 Inder als „Mohammedanische Hindus“ bezeichneten (Randeria 1996). Für Menschen aus einem abendländisch geprägten Kulturkreis, die bislang noch nicht mit hinduistischen Strömungen oder den Trendwenden zu „populärer Religion“ (Knoblauch 2009) in Berührung gekommen sind, mögen mehrfach ausgerichtete religiöse Identitäten erstaunlich sein. Für den indischen Subkontinent stellen sie jedoch keine Besonderheit dar. In ihrer Studie zu tamilischen Hindus in Deutschland fassen Baumann und Salentin zusammen: „The findings of our research underline the existence of double or even triple religious ‘membership’ and this needs to be taken into account“ (Baumann/Salentin 2006: 307). Religiöse Mehrfachidentitäten stellen in der Diaspora ein spannendes Forschungsfeld dar, das auch im intergenerationalen Wandel Fragen aufwirft. Was hat es grundsätzlich mit derartigen identifikatorischen Hybriditätsformen im südasiatischen Kontext auf sich? Was für ein Religionskonzept steckt dahinter und wie verhält sich die in Deutschland geborene hindu-tamilische Generation zu religiösen Mehrfachidentitäten? Knapp die Hälfte der von der Anthropologin Damaris Lüthi in der Schweiz befragten tamilischen Hindus besuchen regelmäßig neben Tempeln auch Kirchen und partizipieren an christlichen Festen und Wallfahrten (vgl. Lüthi 2003: 302). Dieses Phänomen trifft auch auf tamilische Hindus in Deutschland zu. Hierbei sticht die Marienwallfahrt nach Kevelaer heraus, an der seit 1987 jährlich Tamilen aus ganz Europa teilnehmen. Im Jahr 2012 kamen rund 17.000 Tamilen an den Niederrhein. Dabei handelt es sich bei einem Großteil der Besucher jedoch nicht um Christen, sondern um tamilische Hindus. Es ist auch nichts Ungewöhnliches, dass tamilische Familien regelmäßig Kirchen besuchen. Dies kann z.B. daran liegen, dass Tempel zu weit entfernt sind. Vor allem in den ersten Jahren nach der Einwanderung hatten viele tamilische Familien kein Auto. In der Regel fehlten die Mittel, um einen Führerschein zu machen oder ein Auto zu erwerben. Da beispielsweise viele der Tempel in Gewerbegebieten zu finden sind, ist eine Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln jedoch umständlich. Zudem ist es keine Seltenheit, dass tamilische Familien gerade in den ersten Jahren
gen Jehovas, der Heilsarmee oder Pfingstgemeinden angehören (vgl. Baumann/Luchesi/Wilke 2003: 303).
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nach der Migration, in denen es nur wenige oder keine Tempel und entsprechende binnenethnisch organisierte Hilfsstrukturen gab, christliche oder chiliastisch-christliche Unterstützungsleistungen annahmen.3 Dazu zählten beispielsweise Sprachkurse, kirchliche Wohnplätze, Spendenbasare oder Hilfe bei Behördengängen. Trotz hinduistischer Zugehörigkeit entwickelten sich so auch zeitweilige Einbindungen in christliche Gemeindestrukturen und es kam ebenfalls zu Konversionen. Ein Beispiel für die sichtbare Inklusion christlicher Bilderverehrung ist die Platzierung von Farbdrucken von Jesus Christus oder Maria neben traditionellen Devotionalien oder Figuren hinduistischer Götter und Fotos der Ahnen in den Gebetsräumen hindu-tamilischer Haushalte.4 Diese Phänomene sind, wie oben bereits erwähnt, keine migrationsbedingten Phänomene, sondern auch auf Sri Lanka oder in Indien üblich. Die in Deutschland aufgewachsene zweite Generation ist jedoch im Gegensatz zu den auf Sri Lanka sozialisierten Eltern mit einem tendenziell eher exklusivistischen, christlichen Religionsverständnis aufgewachsen, beispielsweise bedingt durch den schulischen Religionsunterricht. Hierbei handelt es sich um einen diasporabedingten Rahmen, der zu Spannungen in der religiösen Sozialisation und Generationskonflikten führen kann. Wie lassen sich für die Jugendlichen hinduistische Weltanschauungen und Handlungspraktiken mit den Erfahrungen in Deutschland vereinbaren? In Hinblick auf die Neuformulierung des Religiösen befinden sich die jungen tamilischen Hindus in einem relationalen Spannungsfeld zwischen der Entbettung aus elterlichen Denk- und Handlungsformen und der Einbettung
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Inzwischen existieren binnenethnische Unterstützungsnetzwerke mit zentralen Ansprechpartnern. Beispielsweise finden neue, aus Sri Lanka eintreffende Migranten in Tempeln, tamilischen Schulen und anderen Vereinen die nötigen Kontakte, um finanzielle Unterstützungsleistungen oder Hilfe bei Ämterbesuchen zu erhalten. Bei der in Deutschland aufgewachsenen zweiten Generation ist eine Prägung durch christliche Unterstützungsleistungen entsprechend wahrscheinlicher als bei der dritten Generation oder Menschen, die erst in den letzten Jahren nach Deutschland eingewandert sind.
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Maria wird von vielen Hindus weltweit, vor allem von den Shaktas, deren zentrale Gottheit weiblich ist, als eine Göttin anerkannt. Göttinnen stehen im hinduistischen Pantheon für eine erhöhte Wohlwollenskraft und werden als Mütter verehrt (vgl. Luchesi 2008: 89).
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traditioneller Konventionen in ihre individuellen Lebenswelten mit Peers. Stellen sie das Christentum mit dem Hinduismus gleich oder fungiert das Christentum als Gegenfolie mit Konkurrenzcharakter?
T HEORIE
UND
F ORSCHUNGSSTAND
„Migration ist ein mehrgenerationaler Prozess“ (Reuter/Villa 2009: 186). Mit dieser These betonen Julia Reuter und Paula-Irene Villa, dass Migration und ein damit verbundener Ritualtransfer nicht ausschließlich Themen der Auswanderungsgeneration sind und kein abgeschlossener Zustand von Migrationsprozessen erreicht wird. Vielmehr sei Migration immer als ein fortlaufender, sich über die Generationen erstreckender Prozess zu verstehen. In diesem Beitrag werde ich verdichtete Wissens- und Umgangsstrukturen der religiösen Identitätskonstruktion von tamilischen Hindus der zweiten Generation in Deutschland aus relationaler Perspektive beleuchten. Die relationale Perspektive (vgl. Emirbayer 1997) schlägt sich insofern nieder, als der Umgang mit den religiös-pluralen Angeboten stets vor dem Hintergrund der sozialen Einbettung reflektiert wird. An wen werden beispielsweise Fragen zu Religion adressiert und mit welchen Personen wird diskutiert? Der Psychologe John Berry unterscheidet drei Formen kultureller Transmissionsbeziehungen: eine horizontale, eine diagonale und eine vertikale (aufgearbeitet bei Stecher/Zinnecker 2007). Horizontale Transmissionsbeziehungen sind Vermittlungs- und Austauschprozesse innerhalb derselben Generation, beispielsweise innerhalb einer Peergroup. Bei der diagonalen Vermittlung werden Inhalte, Werte und rituelle Handlungsmuster von Erwachsenen, die nicht zur eigenen Familie gehören, an die jungen Leute herangetragen. Mit der vertikalen Transmission sind Vermittlungsbestrebungen der Eltern gemeint. Die Thematik der christlich-hinduistischen Kontaktdimensionen tangiert alle drei Ebenen. Meine Interviewpartner berichteten meist von ethnisch und religiös diversen Freundes- und Bekanntenkreisen und Religionslehrern aus der tamilischen und der deutschen Schule. Es dokumentierte sich, dass dies zur Infragestellung der elterlichen Erziehung führte. Zu fragen ist, wie die zweite Generation tamilischer Hindus mit den verschiedenen Eindrücken umgeht und welche Rückfragen oder Irritationen ausgelöst werden. Hinsichtlich religiöser Mehrfachidentitä-
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ten betonen Baumann und Salentin den kaleidoskopischen Zustand im subindischen Kontext. Sie stellen fest: „There are different degrees and forms of this overlap, leaving a puzzling complex picture“ (Baumann/Salentin 2006: 307). Die in meiner empirischen Forschung dokumentierten Umgangsweisen mit christlichen Semantiken und institutionellen Strukturen sowie deren Einbeziehung in die eigene religiöse Lebensführung fasse ich theoretisch – in Anlehnung an Axel Michaels (1998: 21ff.) – unter dem Begriff „identifikatorischer Habitus“ zusammen. Michaels betont die Zentralität der Vergleichsperspektive zur Selbstvergewisserung der eigenen Religiosität. Mit dem Begriff „identifikatorischer Habitus“ beschreibt er „die Festlegung einer Identität durch ihre Gleichsetzung mit etwas anderem“ (ebd.). Als Beispiel lässt sich die integrative Gleichstellung der Maria als eine von vielen Göttinnen des hinduistischen Pantheons nennen. Dadurch, dass Christen sie als „Mutter Gottes“ ansehen, wird sie aus Sicht vieler Hindus zur trostspendenden Muttergöttin erhoben (vgl. Luchesi 2008: 89f.). Dieses Beispiel ist exemplarisch für eine über Jahrtausende gewachsene Denkart der panhinduistischen Kultur, die Michaels mit diesem Begriff beschreibt. Ein vermeintliches „Gleichheitsprinzip“ spiegele sich bis heute im Zeitgeist des indischen Subkontinentes wider. Ein gelassener Umgang mit dem inneren und externen Religionspluralismus wird nach Michaels in diesem Zusammenhang nachvollziehbar: „Weil Hindu-Religionen von einem solchen identifikatorischen Gleichheitsprinzip ausgehen, ‚stören‘ sie auch weniger Oppositionen und Dichotomien. Sie haben gewissermaßen Ausgrenzung nicht nötig, weil das Andere immer schon das Eigene ist. Dass sie von der prinzipiellen Einheit ausgehen, kann für sie Trennung und Harmonie bedeuten: die Aufrechterhaltung einer Spannung, die im Grunde keine ist. Der andere Gott kann der andere Gott bleiben, weil er im Grunde auch der eigene ist.“ (Michaels 1998: 22)
Michaels identifikatorischer Habitus wird als religionsgebundenes Phänomen meist aus seinem spezifischen indischen Kontext erläutert. Es war ebenfalls das koloniale Grenzgebiet Britisch-Indiens, in dem indische Gelehrte vor dem Hintergrund europäischer Fremdzuschreibungen eines toleranten Hinduismus die neuhinduistische Prämisse von der Einheit aller Religionen erfanden (vgl. Hobsbawm/Ranger 1992). Dieser Aspekt ist wesent-
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lich für die Konstruktion des Neohinduismus und schlägt sich bis heute in einer modernen Programmatik religiöser Toleranz nieder. Auch wenn es wesentliche Unterschiede zwischen dem tamilischen Volkshinduismus Sri Lankas und dem modernen, in Indien geprägten „großen Hinduismus“ (Michaels 1998: 41-44) gibt, so lässt sich durch Migrationsströme zwischen Indien und Sri Lanka und gemeinsame koloniale Erfahrungsräume eine strukturgleiche inklusivistische Denkart feststellen. Zu fragen ist, ob und inwiefern sich diese Phänomene noch in der Diaspora zeigen. Neue Untersuchungen der Diasporaforschung haben gezeigt, dass religiöse Loyalitäten zur „diasporic imagined community“ (Brah 1996: 183) in der Migrationssituation einen wesentlichen identitätsstiftenden Faktor darstellen können (vgl. u.a. Baumann 1998: 97-102, Leonard et. al. 2005, Van der Veer 1994, Weißköppel 2004). Migration in eine säkular anmutende Umwelt kann sogar zu einer Intensivierung religiöser Loyalitäten bei Migranten führen (vgl. Van der Veer 1994: 119). Auch bei tamilischen Hindus in Deutschland werden die Sinndomänen Religion und Ethnizität als Ressource im notwendigen Prozess der Identitätsentwicklung im Migrationskontext mobilisiert. Tamilische Hindus, vor allem der ersten Generation, engagieren sich seit etwa drei Jahrzehnten für den Fortbestand ihrer kulturell-religiösen Traditionen in Deutschland. Sie haben sich so seit den ersten Einwanderungswellen in den ausgehenden 1970er Jahren zu einer bedeutenden Minderheit innerhalb des religiösen Feldes in Deutschland entwickelt und tragen nachhaltig zur Sichtbarkeit religiöser Vielfalt bei. Es entstand der Wunsch nach öffentlicher Repräsentation: bis heute wurden deutschlandweit bis zu 45 Tempel5 als Orte kollektiver religiöser Praxis etabliert. Eine religiöse Alltagskultur brach mit dem Verlust der aus der
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Ob eine Räumlichkeit von der Gemeinschaft als Tempel anerkannt wird, hängt nicht notwendigerweise davon ab, ob es sich um einen eingetragenen Verein handelt. Denn die Installation von Tempeln ist ein fließender Prozess. Deutschlandweit waren im Jahr 2003 25 Tempel als Vereine registriert (vgl. Baumann 2003: 66). In einer aufwendigen Bestandsaufnahme von Tempeln und anderen tamilischen Interessenverbänden, die 2011 unter der Leitung von Annette Wilke am Seminar für Allgemeine Religionswissenschaft (Münster) durchgeführt worden ist, wurde jedoch ermittelt, dass seit 2003 20 weitere Tempel eingeweiht worden sind. Die sakralen Verehrungsstätten verändern sich rasch, daher ist immer nur von Momentaufnahmen im religiösen Feld auszugehen.
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Sicht der ersten Migrantengeneration authentischen, heimatlichen Rahmenbedingungen also nicht weg, sondern migrierte als identitätskonstituierender Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses (vgl. Assmann 1999) der Tamilen mit in die Diaspora. In einem Spannungsfeld aus Rückbezügen auf das verlassene Heimatland und der Anpassung an das fremdkulturelle Umfeld startete so eine dynamische Neuverhandlung der Heimat fern der Heimat (vgl. Ballard 1994). In einem Band zu Hindu-Tamilen im deutschsprachigen und skandinavischen Raum (vgl. Baumann/Wilke/Luchesi: 2003) werden von der ersten Generation geformte „Medien zur Tradierung“ zum generationsübergreifenden Erhalt von religiösen Inhalten, Ritualen und Werten beschrieben (ebd.: 14). Die Vermittlung der tamilischen Sprache werde, so Baumann, intensiv thematisiert und durch die Etablierung von muttersprachlichen Schulklassen gehandhabt. Hinter den von Baumann/ Luchesi/Wilke lediglich peripher angesprochenen Klassen steht eine 1980 gegründete tamilische Bildungsvereinigung, die im Jahre 2012 Dachverband von deutschlandweit 134 tamilischen Schulen ist6. Der Unterricht wird von Kindern und Jugendlichen im Alter von 4-20 Jahren zusätzlich zum deutschen Schulsystem, meist an einem Wochenendtag, besucht. Auch wenn die Sprache hier im Vordergrund steht und der Religion eher eine untergeordnete Rolle zukommt, erachte ich die tamilischen Schulen als wichtige Instanz für die religiöse Identitätskonstruktion von Tamilen der zweiten Generation. Neben der Sprache nennen Baumann et al. nichtformalisierte Tradierungsmedien, die als „atmosphärisch-künstlerische Übermittlung“ beschrieben werden. Damit sind unter anderem „die Bereiche und Dimensionen religiöser Symbole, Ikonographie, Bilder, Musik, Tanz und Geschichten“ gemeint (ebd.: 15). An einschlägigen Fallstudien zur Transmission des Religiösen in südasiatischen Diasporagruppen sind vor allem die Beiträge von Eleanor Nesbitt zu indo-britischen Jugendlichen (1993) sowie Studien von Robert Ballard zu sikh-britischen Jugendlichen (1994) zu nennen. In diesen Beiträgen
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Zur Homepage des Vereins siehe http://www.tbvgermany.com, Zugriff am 22.05.2012. 67 der 134 tamilischen Schulen befinden sich, proportional zu einer auffälligen Ansiedlungsdichte, in NRW. Die im Artikel folgenden Ausführungen zu den tamilischen Schulen habe ich aus Informationen der Internetseite der tamilischen Bildungsvereinigung und zudem aus Schilderungen von Schülern und Direktoren dreier Schulen aus NRW gewonnen.
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wird die Relevanz der sozialen und institutionellen Einbettung der Akteure für die Konstruktion einer religiösen Identität betont. Vertiefende Fallstudien zur Vermittlung von Religion in einem religiös-pluralen Umfeld bilden im deutschsprachigen Raum ein Forschungsdesiderat. Insgesamt fanden Beiträge zur zweiten tamilischen Generation in Deutschland bislang nur wenig Beachtung.
S AMPLE
UND
M ETHODEN
Der vorliegende Beitrag stützt sich auf mein im Rahmen der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt – Religion und Migration in relationaler Perspektive“ laufendes Dissertationsprojekt zu kollektiven Identitäten junger Hindu-Tamilen in Deutschland. Idealtypische Tradierungs- und Aneignungsformen des Hinduismus in der Diaspora stehen dabei im Vordergrund. Das Material und seine Interpretation basiert auf der dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2003; Nohl 2008) und dem damit einhergehenden systematischen Vergleich von mehreren der 30 durchgeführten halb-strukturierten Leitfadeninterviews. Diese habe ich zum größten Teil in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Hinzu kommen teilnehmende Beobachtungen in der religiösen Lebenswelt (Tempel, interreligiöse Aktivitäten etc.) und nicht-religiösen tamilischen Szene (politisch motivierte Zusammenkünfte, tamilische Sportfeste etc.) sowie Gruppendiskussionen mit jungen Hindus (14-27 Jahre alt)7. Die Analyseergebnisse gründen auf diesem Material. Der Schwerpunkt bei der Datenerhebung liegt auf dem
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In der Studie werden männliche und weibliche Hindu-Tamilen berücksichtigt, die in Deutschland geboren wurden oder vor der Vollendung des sechsten Lebensjahres in NRW wohnhaft gewesen sind. Das Mindestalter der Befragten liegt bei 14 Jahren. Auf eine Altersbegrenzung nach oben wird verzichtet. Ich schätze das Alter der ältesten Mitglieder der zweiten Generation im Jahr 2012 auf circa 30 Jahre, da die erste Auswanderungswelle, die vorwiegend aus jungen Männern bestand, in den späten 1970er Jahren nach Deutschland kam und es erst im Laufe der 1980er Jahre zu Familienzusammenführungen und transnational arrangierten Eheschließungen kam. Diese Altersgrenze wurde aktuell von mehreren Interviewpartnern bestätigt. Das Durchschnittsalter der Befragten liegt bei 20,4 Jahren.
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spezifischen Erfahrungsraum NRW, da sich hier eine Ansiedlungshäufung tamilischer Hindus feststellen lässt. Etwa 40 % aller in Deutschland ansässigen Tamilen leben in dem bevölkerungsreichsten Bundesland und ca. 60 % aller Tempel sind dort zu verorten. Die im Rahmen meiner Dissertation erhobenen Daten ergeben zu diesem Zeitpunkt noch keine abschließende Analyse neuer religiöser Praktiken, jedoch lassen sich bereits aussagekräftige Zwischenergebnisse festhalten, welche ich im Ergebnisteil des vorliegenden Beitrags vorstelle. In den Interviews und Gruppendiskussionen lag ein übergeordneter Fokus auf der Erfassung qualitativer Netzwerkdaten, beispielsweise durch Fragen nach Ansprech- und Diskussionspartnern bei religiösen Fragen. Verfolgt wurde entsprechend ein qualitativer Netzwerkansatz, der im Gegensatz zur Handlungstheorie nicht nur den einzelnen Akteur mit seinen Handlungsmöglichkeiten betrachtet, sondern ebenfalls seine Einbettung in sein soziales Netzwerk (vgl. Mützel/Fuhse 2010: 10). Wie bei dem rekonstruktiven Verfahren der dokumentarischen Methode wird auch bei der qualitativen Netzwerkanalyse (vgl. Hollstein 2006) ein wissenssoziologischer Ansatz verfolgt: „Es interessiert nicht, ob die Darstellungen (faktisch) wahr oder richtig sind, sondern es interessiert, was sich in ihnen über die Darstellenden und deren Orientierung dokumentiert“ (Bohnsack 2003: 64, Herv. i.O.). Es wird also mit dem Ansatz einer qualitativen Netzwerkanalyse handlungspraktisch geteiltes Wissen hinsichtlich des Umgangs mit dem christlich geprägten Umfeld abgebildet und rekonstruiert. Die qualitative Netzwerkanalyse zielt auf jedwede geteilte Strukturen ab, die individuelle, biografische Gegebenheiten übersteigen. „Qualitative Verfahren sind Verfahren, die besonders ‚dicht‘ an den individuellen Akteuren, ihren Wahrnehmungen, Deutungen und Relevanzsetzungen ansetzen. Demgegenüber zeichnet sich die Netzwerkanalyse dadurch aus, dass sie als relationaler Ansatz gerade über die individuellen Akteure, singuläre Deutungen und einzelne Beziehungen hinausgeht – und die Struktur der Beziehungen zwischen mehreren Akteuren zu ihrem Gegenstand macht.“ (Hollstein 2006: 13)
Bei den reflektierenden Interpretationen von Gruppendiskussionen zeigte sich bereits in der Pre-Test-Phase, dass die Positionierung im christlich geprägten Umfeld ein wichtiges Thema für die religiöse Selbstverortung junger Hindus darstellt und Tradierungskonzepte hinduistische Traditionen
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herausfordert. Aufgrund dieser Einsicht habe ich das Thema Religionskontakt in den halb-strukturierten Leitfadeninterviews eingepflegt, sodass sich durch eine komparative Analyse neben fallimmanenten Vergleichshorizonten auch entsprechende Orientierungsrahmen zeigten. Im Folgenden werde ich die akteurszentrierte8 komparative Sequenzanalyse zu Orientierungsdilemmata mit dem Hinduismus und Christentum vorstellen, was bereits die Präsentation von Ergebnissen mit sich bringt. Dabei werden drei Akteurinnen berücksichtigt, welche sich zumindest zeitweise mit Elementen des Christentums identifizierten. Abschließend werden im Fazit die Ergebnisse in Hinblick auf die Tradierungsformen des Hinduismus in der Migration und die eingangs gestellte Frage nach einem inklusivistischen Religionskonzept reflektiert.
W AHRNEHMUNGS - UND B EWÄLTIGUNGSFORMEN DES CHRISTLICHEN AUSSENANGEBOTES : O RIENTIERUNGSDILEMMATA HINDU - TAMILISCHER J UGENDLICHER IN D EUTSCHLAND Die Weiterführung traditioneller religiöser Identitäten wird in hindutamilischen Familien meist als Selbstverständlichkeit angesehen, zumindest von den Eltern. Dies zeigen exemplarisch die Ausführungen der 19jährigen Interviewpartnerin Wamini, die nach eigenen Angaben im Alter von 14 Jahren, ausgelöst durch Erfahrungen im katholischen Religionsunterricht, ihre eigene Religionszugehörigkeit kritisch zu reflektieren begann. Sie konfrontierte die Eltern mit ihren Zweifeln und schilderte mir die vermeintlich harsche elterliche Reaktion auf ihre distanzierte Betrachtung zum Hindusein folgendermaßen: „Die haben das nicht böse gemeint, aber die meinten, wir sind Hindus und ähm, daran kannst Du nichts ändern und so.“ 8
In der dokumentarischen Methode gibt es grundsätzlich zwei Arten der Typenbildung, die durch komparative Sequenzanalysen rekonstruiert werden können. Bei akteurszentrierten Typen bildet ein Interviewpartner einen Fall und verschiedene Fälle werden miteinander verglichen. Neben dieser akteurszentrierten Lesart können ebenfalls Typiken „quer“ durch das Material erhoben werden. Für diesen Beitrag habe ich mich für die Darstellung von drei markanten Fallbeispielen entschieden, die typische Verdichtungen von Sinnstrukturen abbilden.
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Die junge Frau erzählte mir weiterhin, dass man in den Hinduismus hineingeboren werde und eine Infragestellung der Religionszugehörigkeit von den Eltern vor diesem argumentativen Hintergrund als Absurdität abgetan worden sei. Es kam zum Konflikt zwischen den Eltern und der Tochter, dem eine Zeit der intensiven religiösen Selbstvergewisserung Waminis folgte. Dabei fungierten zum Hinduismus alternative Glaubensformen als „signifikante Andere“ (Mead 1968) für die religiöse Identitätssuche. Neben dem schulisch-christlichen Religionsunterricht bilden Unterstützungsleistungen, die von vielen hindu-tamilischen Familien in Anspruch genommen wurden, ein weiteres Beispiel für einen möglichst intensiven Kontakt mit dem Christentum. Dies ist in der Familienbiografie des 18jährigen Alip der Fall. Seine Eltern wurden für mehrere Jahre nach der Ankunft in Deutschland von einer christlichen Gemeinde finanziell unterstützt. Es folgte eine Einbindung in die Gemeindestruktur, beispielsweise auch die aktive Teilnahme an Gottesdiensten. Im Falle von Alip führte die Einbindung in die christliche Gemeindestruktur so weit, dass seine Eltern ihn als Kind taufen ließen, um ihre Dankbarkeit zu zeigen, so der Interviewpartner. Später erklärten sie ihm jedoch, dass die Zeremonie keine tiefe Bedeutung gehabt habe, da er als Hindu geboren sei und die Hindu-Identität nicht verlieren könne: „Ich glaub die ersten Erfahrungen mit Religion waren (-) ja, mit der Kirche. Also ich bin ja hier geboren, in Deutschland. Und wurde dann auch getauft. Ähm aber ich bin halt nicht christlich, sondern Hindu. Ähm. (-) Ja. Es hat angefangen mit der Krabbelgruppe, glaube ich. Da haben wir manchmal so Ausflüge in die Kirche gemacht und dann saßen wir da halt so`n bisschen mit Kirchenchor, Gesang und das war halt auch irgendwie so keine Ahnung. Es war halt auch irgendwie so ich weiß nicht, so schön halt. Wenn man das zum ersten Mal halt mitbekommen hat. Und (-) ähm (-) ja dann ging`s halt weiter mit dem Kindergarten, dann gab`s auch immer diese Ausflüge halt zur Kirche. Dass das einem halt näher gebracht wurde. Ähm. Was noch? Ja es ging dann weiter mit Ausflügen in der Schule.“
Wie oben bereits erwähnt, steht die Wahrnehmung christlicher Angebote bei der ersten Generation nicht im Widerspruch zur hinduistischen Identität, sondern gilt als Selbstverständlichkeit. Auf die Frage an eine tamilische Mutter zweier Kinder, ob sie sich eine Konversion zum Christentum vorstellen könne, erwiderte diese:
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„Ich möchte bleiben. Warum, wechseln alle? Möchte und dann einmal besuchen ((die Kirche)), o.k., kein Problem. Warum wechseln? […] Alle Gott gleich. Möchte und dann besuchen, einmal besuchen, oder in dem Monat zweimal, dreimal besuchen, egal. Warum? Meine Familie sind Hindus und ich auch dann Hindus, warum 9
mein Vater Hindus, ich möchte Christus wechseln? Das ist nicht gut.“
Das Unverständnis über die von der Interviewerin aufgeworfene Option zum Christentum überzutreten (vier Mal die Rückfrage „warum?“) verdeutlicht das Selbstverständnis, mit dem die auf Sri Lanka aufgewachsene Hindu-Gläubige christliche Angebote wahrnimmt. Schließlich seien alle Götter gleich. Diese Haltung ist repräsentativ für den von der ersten Generation geteilten inklusivistischen Habitus. Nicht nur bei der Teilnahme an christlichen Messen, sondern auch bei der Marienverehrung zeigt sich für viele Hindus ein Identifikationspotenzial. Dir Vorstellung, dass Maria und die hinduistischen Göttinnen zwar verschiedenen Religionen entstammen, jedoch dasselbe bedeuten, schilderte eine weitere Hindu-Gläubige der ersten Generation: „Ja ich glaube so an die katholischen, also an Jesus. Jesus ist Leben ist tot und nach drei Tagen Leben. Ja ich glaube so. Früher war ich ja schon in der Kirche. [...] Das sind die gleichen Maria und bei uns Hindu ist das Amman, die leben das Gleiche.“
Die enormen Besucherzahlen von tamilischen Hindus bei der Marienwallfahrt nach Kevelaer und Schilderungen der zweiten Generation über ihre Eltern bestätigen diese Perspektive auf Maria, die nicht nur auf Sri Lanka, sondern auch in der Diaspora eingenommen und an die Kinder vermittelt wird. Im Folgenden werde ich anhand von drei Fallbeispielen zeigen, wie Tamilen, die gleichermaßen mit der hinduistischen und der christlichen Kultur aufgewachsen sind, in Orientierungsdilemmata geraten können. Abhängig von der sozialen Einbettung, sozialstrukturellen Kontexten (Alter,
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An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei Kristin Naujokat bedanken, die mir zwei verschriftlichte Interviews mit hinduistischen Tamilinnen der ersten Generation zur Verfügung stellte. Die beiden Frauen nehmen christliche soziale Angebote in Anspruch (Sprachkurse, Frauenfrühstück u.ä.), ohne jedoch ihre Hindu-Identität aufgegeben zu haben.
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Geschlecht, Bildungsstand etc.) und biografischen Verläufen werden diese Dilemmata unterschiedlich gelöst. Im ersten Fallbeispiel wird das Christentum inhaltlich anders gefüllt als der Hinduismus, wobei sich die hinduistische Religiosität als emotional verwurzelteres System durchsetzt. Es kommt zu einer soziodiversen Sphärentrennung10 religiöser Praxis, die inklusivistisch geprägt ist (Abschnitt a). Anhand des zweiten Fallbeispiels werde ich eine typische Wahrnehmungsform vorstellen, in welcher christliche Handlungsräume und Deutungssysteme eine überzeugendere Wirkung auf die Interviewpartnerin haben als der im Elternhaus vorgelebte Hinduismus (Abschnitt b). Während in diesem Fall eine kritische Reflexionsebene beim Christentum beispielsweise durch den Schulunterricht ermöglicht wird, fehlen beim Hinduismus inhaltliche Aufklärungen und direkte Lebensbezüge. Das dritte Fallbeispiel zeigt eine hindu-tamilische Familie, in der sowohl christliche als auch hinduistische Inhalte kritisch hinterfragt wurden und die Kinder letztlich stärker mit der „Familienreligion“ sympathisieren. In diesem Fallbeispiel steht den Kindern bei Fragen neben den Eltern auch ein vollzeitig beschäftigter Tempelpriester zur Verfügung. Dieser bot in einem Tempel einen regelmäßigen, kindgerechten Religionsunterricht an, welcher die elterlichen Tradierungsbestrebungen ergänzen sollte (Abschnitt c).
10 Mit „soziodiverser Sphärentrennung“ ist gemeint, dass sich je nach sozialem Kontext die religiöse Praxis verändern kann. Es gibt demnach keine starre religiöse Identität, sondern je nach Kontext unterschiedliche Ausformungen. Zudem werden der Hinduismus und das Christentum für verschiedene Bedürfnisse herangezogen. Kommt es zu einem spontanen Bedürfnis nach einem Rückzugsraum, wird beispielsweise aufgrund der räumlichen Nähe häufig eine Kirche aufgesucht und kein Tempel.
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Inklusivistische Sphärentrennung: hindu-christliche Synkretismen Beim ersten Fallbeispiel werden christliche Angebote, zumindest zeitweise, auf unterschiedlichen Ebenen als Alternative zur hinduistischen Familienreligion begriffen. Das Christentum wird bewusst als etwas Anderes beziehungsweise nicht Hinduistisches begriffen und die gelebte PatchworkReligiosität der Eltern stiftet Verwirrung. Der Hinduismus wird mit dem Christentum verglichen, das religiös-pluralistische Umfeld wird als Fülle an wählbaren Optionen wahrgenommen. Primordiale Zugehörigkeiten werden somit infrage gestellt. Die 17-jährige Gymnasiastin Nila durchlebte zwischen dem elften und vierzehnten Lebensjahr ein Orientierungsdilemma, in welchem sie „nicht wusste, wo man hingehört“. Wenn es bei der zweiten Generation zu Orientierungsdilemmata kommt, handelt es sich meistens um eine begrenzte Phase, welche in der Pubertät stattfindet, sehr wichtig für die weitere Entwicklung der religiösen Identität ist und vor dem Hintergrund der sozialen Einbettung betrachtet werden muss. Nilas Findungskrise wurde durch familiale Probleme ausgelöst und endete mit ihrer Loslösung von den Erwartungen ihrer Familie. Sie entfernte sich jedoch nicht vollständig von Religion, sondern wandte sich, zum Unmut ihrer Eltern, christlichen Glaubensvorstellungen zu. Dies fand statt in einem aktiven Prozess des Religionsvergleichens. Das Christentum wurde als alternativer Anbieter wahrgenommen, der ihre religiösen Bedürfnisse besser zu erfüllen versprach: „Ich weiß nicht, also ich hab ja ähm im Christentum, also ich hab ja evangelische Religion mitgemacht und so und dann hab ich halt gemerkt, dass zum Beispiel wenn ich jetzt so Unterschiede, wenn ich jetzt zum Tempel gehe und der Prophet was ähm sagt, das versteh ich das nicht. […] Und dann hab ich auch mal die Bibel gelesen. Das war aber als ich elf war. Da war es auch so stark, intensiv und ähm (---) ich bin mir nicht sicher irgendwie so (---) es müsste irgendwas passiert sein, so irgendwas Trauriges. Ich glaub mein Opa ist gestorben so. Dass man halt gedacht hat ja, es stimmt doch gar nicht und dann (-) hab ich halt so ne Weile ans Christentum geglaubt. […] Als ich halt die Bibel angefangen hab zu lesen, dass mir, dass halt einige Sachen so halt zum Leben gepasst haben, zum Beispiel das Gleichnis und so was.
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Und das Problem war auch, dass mit der Kirche ähm, hier in Ruhrstadt
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gibt es ja
ne Kirche, wo wenn`s mir nicht gut geht, kann ich direkt dahin gehen. Und beim Tempel muss ich nach Krefeld fahren. […] Und meine beste Freundin, die ist auch Christ- =also schon so Familienchristen und (-) und wenn die halt so erzählen, dass die Kommunion haben oder ich, wir sind ja auch manchmal zu Kommunionen gegangen und so. Und das fand ist halt (-) als ich klein war viel schöner, mit Kleid da zu stehen und so {hörbares Schmunzeln}.“
Nila erwähnt fünf wesentliche Aspekte, welche sie im Christentum als ansprechender wahrnimmt als in ihrer „Familienreligion“: Erstens schildert die junge Frau, dass hinduistische Gottesdienste (Sanskrit: pujas) oftmals recht lange dauerten und zumindest teilweise auf Sanskrit abgehalten würden. Die Gläubigen der zweiten Generation verstehen in der Regel Tamil, Sanskrit jedoch nicht. Häufig wird der in deutscher Sprache geführte christliche Gottesdienst von den jungen Hindus aufgrund der sprachlichen Verständlichkeit als „interessanter“ und „alltagsbezogener“ wahrgenommen.12 Nila entwickelte eine tiefere Bindung zum Pfarrer der Kirche, sie nennt ihn hier „Prophet“, als zum Tempelpriester. Zweitens führt Nila an, die Bibel gelesen zu haben. Da das Mädchen im Generationskonflikt zu den Eltern steht, ist die private religiöse Praxis besonders wichtig für sie. Der familiale Gebetsraum disqualifiziert sich als privater Rückzugsort durch die ständige Anwesenheit der Mutter oder anderer Familienmitglieder. Das Lesen der Bibel bietet ihr die Möglichkeit einer aktiven intellektuellen Auseinandersetzung im privaten Raum. Eine vergleichbare kanonische Schrift existiert im tamilischen Volkshinduismus nicht, sodass auch in dieser Hinsicht das Christentum für das Mädchen zunächst die attraktivere Option ist. Drittens erwähnt Nila eine durch einen Todesfall ausgelöste Krise. In dieser Schlüsselsituation dokumentiert sich, dass sie in der von ihr konstruierten Vorstel-
11 Sämtliche Städtenamen wurden zum Zwecke der Anonymisierung geändert und entweder durch nicht real existierende Städtenamen (z.B. „Ruhrstadt“) oder durch Namen von größenmäßig vergleichbaren Städten (z.B. Krefeld) ersetzt. 12 Auch die erste Generation versteht in der Regel kein Sanskrit, in mehreren Elterngesprächen wurde die Sprache der Gottesverehrung jedoch nicht von selbst problematisiert. Auf meine Frage hin, ob mangelnde Sanskritkenntnisse nicht störend für das Verständnis seien, wurde meist erwidert, dass Sanskrit eine heilige Sprache sei und bereits der der Klang „gut sei“.
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lung vom Christentum mehr Unterstützung vermutet als im hinduistischen, für sie inhaltslosen Bezugsraum. In der christlichen Kirche scheinen konkretere und intellektuell greifbarere Angebote zur Verfügung zu stehen als im häuslichen Gebetsraum. Viertens spricht die Jugendliche den räumlichen Vorteil der Kirchenlandschaft Deutschlands an. Als junge Frau sehnte sie sich oft nach einem zum Elternhaus alternativen Rückzugsort. Der Gebetsraum kam dafür vor allem dann nicht in Frage, wenn es zu problematischen Auseinandersetzungen mit ihren Eltern kam. Einen Tempel aufzusuchen wäre in akuten emotionalen Krisen zu aufwändig, sodass das Mädchen in spontanen Krisen bis heute eher die Kirche aufsucht als den Tempel. Der Grund dafür ist die räumliche Nähe. Fünftens kann die positive Wahrnehmung der Erstkommunion und des Kleides ihrer Freundin („viel schöner [bei der Kommunion], mit Kleid da zu stehen [als bei der Pubertätsfeier im Sari]“) genannt werden. Diese Empfindung muss vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass das hinduistische Pendant zur Erstkommunion – so mehrere Interviewpartnerinnen – für hinduistische Mädchen vor allem im südindischen und srilankischen Kontext eine Pubertätszeremonie ist, welche nach der ersten Periode in einem großen Rahmen gefeiert wird. Die Feier ist vielen jungen Mädchen in der Diaspora aufgrund der westlichen Tabuisierung der Periode sehr unangenehm.13 Letztlich besteht bei Nila jedoch ein stärkeres Identifikationspotenzial mit dem von den Eltern tradierten hinduistisch geprägten Bezugssystem. Sie begründet diese Entwicklung mit der Religiosität der Eltern, die letztlich das größte Gefühl von „Vertrautheit“ transportiere. Es dokumentiert sich im Material, dass sowohl die Auslöser für die Abwendung als auch die Auslöser für eine Rückwendung zum Hinduismus auf familienbiografische Brüche zurückzuführen sind. Die Ablösung geht Hand in Hand mit der von dem Mädchen als äußerst streng empfundenen Erziehung ihrer Eltern und einem negativen Erlebnis mit einem Onkel, der als religiöses Oberhaupt der Familie und moralische Instanz gesehen wird. Er verhält sich in den Augen von Nila bigott, wodurch sie seine Religiosität nicht mehr würdigen kann: „Mein Onkel versuchte halt immer in unser Leben einzumischen, also so und das passte mir einfach nicht, weil ich denk meine Eltern, ich hab Eltern dafür, die kön-
13 Zur autobiografischen Schilderung der Pubertätsfeier von einem hindutamilischen Mädchen in Bern vgl. Siegwart 2006.
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nen sich ja einmischen. Und ähm (-) das ist auch halt das (---) wieso ich so (-) halt diese Konfrontation (-) wo man nicht weiß, dass ich gedacht hab, ja im Christentum ist man viel lockerer. Mein Onkel war halt auch zum Teil Schuld, weil (-) der hat halt immer Probleme gemacht so. Ich also ich klein (-) als ich bei denen war, da war ich neun. Und da hat der seine Frau geschlagen und (-) ja. Und dann wurde halt, wurde das halt alles ausgeprägter, dass ich dachte, es kann nicht sein, dass man so ist, sondern. Hab ich das irgendwie alles mit (---) Gott verbunden halt.“
Symbolisch für die ersehnte Ablösung von familialen Erwartungen und Regeln entfernt sie sich von der hinduistischen Religiosität, äußert ihren Trotz und ihre Handlungsmacht durch den Rückzug vom in der Familie gelebten Hinduismus, so beispielsweise als ihre Eltern versuchten, sie zum Beten zu zwingen: „Ich stand dann da einfach so, weil ich- =hab halt so mich so Hand halt so gehalten, als würde ich so beten, obwohl ich nicht wirklich gebetet habe.“ Erst als sich im Laufe der folgenden Jahre das Verhältnis zu den Eltern wieder reguliert, diese die religiöse Mündigkeit Nilas respektieren und sie nicht mehr versuchen dazu zu zwingen, die Wünsche ihres Onkels umzusetzen, beginnt Nilas Wiederannäherung an den Hinduismus. Der Prozess führt zu einer Art ‚Rekonversion‘, die Neujahr im familialen Gebetsraum stattfindet: „Und dann (-) ähm, hab ich halt überlegt, ob ich halt wirklich jetzt weiterhin so sein soll, oder wirklich mal für- =ob ich wirklich beten soll und so. Dann hab ich halt am ersten Januar 2010 um null Uhr, standen wir halt wieder mit der Familie da vorne und dann hab ich auch wieder angefangen zu beten mit meiner Mutter. Dann haben wir halt, hat meine Mama Milch gemacht, hat die dann hochgebracht. Dann haben wir halt alle in diesem Gebetsraum das getrunken. Und dann hat es halt angefangen.“
Seit diesem Moment, der zum Zeitpunkt des Interviews etwa ein Jahr her ist, bezeichnet sich Nila wieder als Hindu und betrachtet ihre Krise als „überwunden“. Auch wenn sich das Mädchen inzwischen stärker dem Hinduismus zugehörig fühlt, besucht sie noch immer gelegentlich die Kirche. Es kommt zu einer Sphärentrennung ihrer Religiosität: Während der Hinduismus für die Sphären Familie und Tradition steht, steht die christliche Kirche vor allem für die Sphäre spontane Bedürfniserfüllung und der nichtfamilialen Lebenswelt. Nach dem durchlebten Orientierungsdilemma legt
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sie demnach eine inklusivistische Denk- und Handlungsweise an den Tag, die sich in der gelebten religiösen Praxis niederschlägt: „Ich glaub zwar auch an`s Chris- =Christentum und so, aber (-) ähm ich geh auch manchmal noch zur Kirche, wenn`s mir nicht gut geht. Ich war letztes Jahr irgendwann in den Herbstferien mit Anisha [ihrer Cousine] auch in der Kirche und so und (-) das ist schon so beides, aber ich denk es ist jetzt nicht mehr so, dass ich- =ich gehör nur dem Christentum und nicht mehr zum Chr- =ähm Hinduismus.“
Letztlich wird das Orientierungsdilemma einerseits durch soziale Verortungsprozesse wie dem gelungenen Emanzipationsprozess aus familialen Strukturen gelöst. Zudem bewältigt Nila ihre Krise pragmatisch: zum Hinduismus pflegt sie einen affektiven Zugang, der durch von der Mutter durchgeführte Familienrituale gestützt wird. Die Mutter übernimmt eine Vorbildfunktion für die Tochter und wird im Laufe des Gesprächs mehrmals als religiöse Expertin eingeschätzt. Das Christentum gibt Nila jedoch nicht vollständig auf, sondern integriert Kirchenbesuche und den „Glauben an das Christentum“ in ihre private religiöse Praxis, ohne die hinduistische Zugehörigkeit in Frage zu stellen. Entscheidungsorientiertes Abwägen: „Seneca beats Karma“ Während Nila den Zugehörigkeitskonflikt durch eine langwierige Auseinandersetzung und intensive emotionale Beteiligung bewältigt, steht bei dem folgenden Fallbeispiel die intellektuelle Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten im Vordergrund. Diese Auseinandersetzung führt bei der 18-jährigen Tharsini zu einer Wahrnehmung christlicher und hinduistischer Strukturen als religiösem Markt. Im Ergebnis ist sie überzeugter vom Christentum und hat im Laufe ihrer Auseinandersetzung eine ablehnende Haltung gegenüber dem Hinduismus entwickelt, welche, wie auch bei Nila, durch das Christentum als Vergleichsfolie hervorgerufen wurde: „Und dann wurd=ich so zwölf und hab halt echt angefangen, Hinduismus zu kritisieren. […] Also diese Götzenbilder, man verehrt halt diese Statuen, und ich hab halt in der katholischen Schule schon im Religionsunterricht gelernt, dass Jesus gesagt hat ja, man darf keine Abbilder von Gott machen und anbeten. Und da hab ich gedacht
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ja, aber genau das machen wir doch! Ich mein also MAMA, das kann doch nicht sein! Sie so neenee, das ist unsere Religion, wir haben ja ganz viele Götter und damit wir uns das vorstellen können:: gibt=s dann also diese Bilder. Hab ich alles aber nicht so verstanden. […] Ich bin ja auch schon sehr beeinflusst vom Christentum, weil ich bin auf ner katholischen Schule und war bis zur zehnten Klasse jede Woche in der Messe. Und:: das hatte für mich dann (-) ne ganz andere Nuance. Da gab`s Predigten, da hat man was für den Alltag draus gelernt. Man ist so zur Ruhe gekommen und da hat man wirklich über sich selbst nachgedacht. Und:: das hat mir viel besser gefallen und dadurch, dass ich halt diese Seite kennengelernt habe, war für meine Religion ah:: konnte ich nicht so viel mit anfangen. Und, das ist, denk ich, bis heute so.“
Ein entscheidendes Moment, das zur Entfremdung von Tharsini vom Hinduismus führt, liegt in der bildlichen Darstellung hinduistischer Gottheiten. Sie projiziert die im katholischen Religionsunterricht aufgeworfenen Problemstellungen auf die Religion der Eltern. Neben dem Beispiel der Bilderverehrung zieht die Jugendliche beispielsweise auch Parallelen zu Gelübdepraktiken und konfrontiert die Mutter mit in der Schule und im Freundeskreis diskutierten Inhalten zu „würdevollen“ Verehrungsformen. Die Mutter, die bisher die wichtigste Bezugsperson für die religiöse Identitätsentwicklung darstellt, ist nicht dazu in der Lage, die Irritationen der Tochter aufzulösen. So entwickelt sich aus der spontanen Irritation eine kritische Haltung gegenüber den von den Eltern gelebten hinduistischen Praktiken. Diese würden ihren eigenen religiösen Bedürfnissen nicht entsprechen. Neben Inhalten aus dem Religionsunterricht und der christlichen Messe empfindet das Mädchen zudem Inhalte aus dem Lateinunterricht als sinnstiftend. Auf meine Frage nach ihrer Vorstellung von einem Leben nach dem Tod erwähnt Tharsini nicht die Karma-Lehre oder Samsara, den Kreislauf der Wiedergeburten, sondern bezieht sich auf den Stoiker Seneca, dessen Ideen sie im Lateinunterricht kennengelernt hat: „Ja also, das ist, das ist echt ne schwere Frage, die hab ich mir aber auch schon öfter gestellt, wir machen im Moment in Latein Seneca und er hat sich ja auch zum Tod geäußert und (-) hat er gesagt ähm (-) ja also, nach dem Tod wird es genau so sein wie vor dem also wie bevor du gelebt hast, also ähm, ich mein, kannst du dich dran erinnern, wie es war, bevor du geboren bist? Neenee, natürlich nicht. Und so wird es dann auch sein nach dem Tod, also es wird einfach nichts mehr sein. (-) Also das
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war so=ne Vorstellung {hörbares Ausatmen} ich weiß nicht, das kann man sich natürlich nicht vorstellen.“
Der Bezug auf die Denkschrift Senecas verdeutlicht das intellektuelle Niveau Tharsinis, auf dem sie über Religion und Sinnfragen reflektiert. Sie berichtet im Interview davon, dass sie mit Schulkameraden und ihrem Freund bereits über Seneca diskutiert habe. Zudem habe sie ihrem Lateinlehrer kritische Fragen gestellt. Bezüglich Samsara und der Karma-Lehre hingegen erinnere sie sich an keinen tieferen Gedankenaustausch mit jemandem aus ihrem sozialen Umfeld. Trotz ihrer geistigen Identifikation mit der abendländischen Philosophie und Religion bezeichnet Tharsini jedoch nicht das Christentum, sondern den Hinduismus als ihre Religion. Dass sie eine Grenze zum Christentum zieht, zeigt sich auch darin, dass Tharsini weder konvertieren noch das Abendmahl einnehmen möchte. Andererseits zeigt sie in dem Nicht-Einnehmen des Abendmahls eine immense Wertschätzung des Rituals. Sie erkennt und respektiert die besondere Bedeutung. „Nee, also das (-) ich weiß nicht, ob ich`s darf oder nicht [das Abendmahl einnehmen], ich mach es einfach nicht, also für mi- das ist für mich dann doch vielleicht äh:. Da denke ich mir so nee, so gehöre ich da jetzt doch nicht zu, dass ich das mitmachen kann. Und ähm, nee, das mach ich nicht.“
Tharsini nimmt die Grenzen zwischen den Religionen bewusst wahr und hat ein eher exklusivistisch geprägtes Konzept von Religiosität verinnerlicht. Sie lebt jedoch trotz ihrer inklusivistisch geprägten religiösen Praxis ein exklusivistisches Religionsverständnis. Ihre Teilnahme an hinduistischen Ritualen, beispielsweise Tempelbesuche im Rahmen der Familie, führt Tharsini auf ihren Respekt vor ihren Eltern und nicht auf innere Beteiligung oder Sinnsuche zurück. Das Konzept des Christentums entspricht eher ihrer idealen Vorstellung davon, was Religion leisten sollte. Tharsini gefällt der christliche Religionsunterricht auf der Privatschule, die sie besucht, sehr. Gleichzeitig partizipiert die Jugendliche ebenfalls am hinduistischen Religionsunterricht in ihrer tamilischen Schule. Häufig entsprich die Gestaltung des Unterrichts, wenn er überhaupt stattfindet, jedoch nicht den intellektuellen Ansprüchen der Jugendlichen. Tamilen, die christliche Glaubenslehren letztlich als sinnstiftender erachten als die der elterli-
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chen Traditionen, haben meist den christlichen Schulunterricht besucht und negative Erfahrungen im traditionellen Kontext gesammelt. Die von Tharsini in der Familie gelebten hinduistischen Traditionen beschreibt sie als Kulturelemente und Teil der tamilischen Identität, nicht als Teil ihrer Religion. Ein entscheidender Grund für die rationalen Abwägungen liegt im unterschiedlichen Bildungshintergrund der ersten und zweiten Generation. Die jungen Hindus zeichnen sich durch eine massive Aufwärtsmobilität aus, was eine aufgeklärte Denkweise beziehungsweise kritisches Hinterfragen fördert. Bei den Jugendlichen der zweiten Generation findet zudem häufiger ein Prozess von Entbettung aus der von den Eltern vorgelebten Religiosität statt, sodass bei diesem Typus von einer europäisierten Weltanschauung auszugehen ist. Dies schlägt sich ebenfalls in der sozialen Einbettung nieder: Während Nila vor allem mit anderen Tamilen enge Kontakte pflegt, verfügt Tharsini über einen kulturell gemischten Freundeskreis. Gelungene Religionsvermittlung: „Hinduismus ist korrekt“ Während Nila und Tharsini ihre religiöse Erziehung als nicht ihren intellektuellen oder persönlichen Bedürfnissen entsprechend kritisierten, gibt es auch eine ganze Reihe an Beispielen, in denen die traditionelle Religionstradierung von den Kindern positiv wahrgenommen wurde. Im Falle der 22-jährigen Mahani kam es beim Thema Religion, wie bei den vorigen Beispielen, ebenfalls zu identitären Grenzziehungsprozessen. Wie Nila und Tharsini besuchte Mahani in ihrer Kindheit regelmäßig die Kirche. Aus ihrer Irritation heraus, als Hindu die Kirche zu besuchen, motivierte sie als Kind die Eltern zu Tempelbesuchen im Hamm-Uentroper Tempel, was ein grundlegendes Interesse an Religion und dem Hinduismus deutlich macht: „ Also bei mir war das jetzt so (-) boa heftig. Das ist jetzt schon (-) fünfzehn Jahre her, dass wir da zu diesem Tempel gehen. Am Anfang sind wir immer Neujahr zur evangelischen Kirche bei uns an der Straße gewesen. Und irgendwann, da war ich ähm irgendwie acht Jahre oder so, da hab ich gefragt, Mama, wir sind keine Hindus=ähm wir SIND Hindus, aber wir gehen in christliche Kirche oder evangelische Kirche, warum ist das? Da meinte meine Mama so ja. Tempel ist zu weit weg. Und dann wir so ja lass nächstes Neujahr doch mal nach Hamm.“
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Dadurch, dass Mahani als Kind bereits in eine christliche Gemeinde integriert war und Kirchenbesuche sehr mochte, ist der Tempel, welcher sich zunächst im Keller eines Miethauses befand, etwas vollkommen Neues. Sie bezeichnet den Tempel selbst als „Kabuff“. Zu der Zeit, als die jetzigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen der zweiten Generation Kinder waren, befanden sich alle Tempel in Deutschland noch im unsichtbaren Raum. Es lag nahe, die neuen Erfahrungen im Tempel mit den kirchlichen Erlebnissen zu vergleichen. Wie bei Tharsini wird in einer Situation der Irritation an die Mutter appelliert, welche auch hier zu keiner dauerhaften Lösung beiträgt: „Ja dann waren wir da, war ich erst mal überhaupt nicht begeistert {hörbares Schmunzeln}. Weil die Kirche ist schön groß, du kannst sitzen und sonst was. Und dann sitzt du in nem Tempel und das ist so ne kleine Garage, so ein kleines Kabuff. Da sind dann fünfzig Menschen und du kennst die nicht. Und dann dachte ich mir immer so {hörbares Einatmen}, ich will wieder in dir Kirche {Lachen}. Meinte meine Mama irgendwie so- =keine Ahnung. Jetzt sind wir hier.“
Des Weiteren schildert Mahani ihre ersten Wahrnehmungen im Tempel und mit dem Tempelpriester, die positiv sind. Nachdem sie in der Kirche von dem „unpersönlichen Feeling“ und der Tatsache, dass sie nach jahrelangem Kirchenbesuchen nie das Abendmahl angeboten bekam, enttäuscht ist, genießt sie die große Aufmerksamkeit, die ihr vom Tempelpriester entgegengebracht wird. Die Kirche verkörpert für Mahani trotz negativer Erfahrungen einen gewohnten Ort, zu dem sie einen starken emotionalen Bezug aufgebaut hatte. Sie nutzt die Erfahrungen mit der Kirche als Gegenfolie für die Auseinandersetzung mit dem Thema Religion. Im folgenden Zitat zeigt sich, wie der hinduistische Priester auf das Mädchen einging und ihre Interessen wahrnahm, sodass sie sich noch viele Jahre später daran erinnern kann, wie sie sich dem Hinduismus angenähert hat: „Und dann haben wir halt da rumgesessen. Und ich fand die Götter aber einfach toll. Ich mag den Elefantengott, das ist mein Lieblingsgott. Und dann, dann bin ich dahingegangen und wir durften den ja nicht anfassen. Dann hat der Priester halt so geguckt, dann meinte der so, gefällt der dir? Ich so *ja. Meinte der so, den darfst du aber nicht anfassen. Dann dachte ich mir erst mal so boa, sind die scheiße. So nach dem Motto, warum darf man das nicht. Jesus Kreuz darfst du ja auch am Fuß anfas-
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sen. […] Und dann waren wir einen ganzen Nachmittag dort und dann hat der Priester uns wirklich ALLES erzählt. Wie das mit den Geschichten zustande kam, wie das mit den Göttern zustande kam. Und das einzig Faszinierende war, du hattest echt ne Auswahl an Göttern […] tausend Geschichten um sie herum. […] Und dann kam ja der große Tempel, die Einweihung. Und wir haben das ja alles gebaut. […] Wir sind wirklich jeden Monat hingefahren und haben diese Auferstehung sozusagen mitangeschaut. Und bei der großen Einweihungsfeier war es dann ja so, dass du dann die Götter anfassen durftest. […] Und das war dann sozusagen so der Punkt, wo ich sagte, das ist krass, Hinduismus ist korrekt.“
Mahani nennt hier drei wesentliche Aspekte, die ihre Verbundenheit zu hinduistischen Glaubensvorstellungen bedingen und die im Laufe des Interviews mehrfach zur Sprache kamen. Erstens schätzt sie die vielfältigen Hintergründe religiöser Glaubensvorstellungen wie beispielsweise zu den Reittieren von verschiedenen Göttern. Während Tharsini in unserem Interview die Fülle an biblischen Gleichnissen lobt, kritisiert Mahani, dass es im Christentum im Gegensatz zum Hinduismus nur wenige Geschichten gebe. Im Hinduismus, so Mahani, lerne man hingegen niemals aus. Die diversen Hintergründe, welche sogar der Priester nicht alle kenne, fasziniere und schätze sie bis heute. Zweitens fällt ihr Engagement und der Einsatz ihrer Eltern im Tempelgeschehen auf. Nachdem die ursprüngliche Initiative, zukünftig auch Tempel zu besuchen, eher von den Kindern ausging, motivieren die Eltern Mahani und ihre Geschwister im Laufe der Zeit dazu, sich aktiv am Tempelgeschehen zu beteiligen, und förderten so die Aufgeschlossenheit und Neugier des Mädchens. Dadurch, dass die Mitglieder ihrer Familie zumindest phasenweise vegetarisch lebten, genossen sie laut Mahani zudem eine als positiv und prestigeträchtig empfundene Sonderposition unter den Engagierten. Der dritte Identifikationspunkt, den Mahani mit einigen Mitgliedern der zweiten Generation teilt, ist das Miterleben der Entstehung öffentlich sichtbarer Tempel. Tamilen der zweiten Generation, besonders in NRW, haben oftmals verschiedene Stufen der Etablierung hindu-tamilischer Religiosität im öffentlichen Raum begleitet. Dieser Prozess wird von Mahani als „Auferstehung“ bezeichnet. Sie beschreibt also mit einem zentralen Begriff des Christentums die Entwicklung eines Hindu-Tempels. In ihrem Fall ist die Entwicklungsgeschichte besonders interessant, denn aus dem von ihr als „Kabuff“ bezeichneten Kellertempel, beziehungsweise der an es gebundenen Gemeinde, entstand der heute größte
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Tempel Kontinentaleuropas. Bei den Aussagen des Mädchens schwingt der Stolz mit, an dem Entwicklungsprozess aktiv beteiligt gewesen zu sein. In Hinblick auf Mahanis heutige Sichtweise auf den Umgang mit anderen Religionen in Deutschland und den Nutzen, den das Christentum weiterhin für sie erfüllt, benennt sie ähnliche Vorteile wie Nila. Auch wenn sie überzeugte Hindu ist, ist es bis heute unproblematisch, die Kirche für alltägliche Bedürfnisse zu nutzen. Zudem führt auch sie den Kirchenbezug darauf zurück, dass der nächstgelegene Tempel zu weit weg sei, während eine Kirche sich in ihrer Straße befände. Dieser Aspekt ist migrationsspezifisch: Obwohl es in Deutschland inzwischen einige Tempel gibt, ist die Situation nicht mit der in Sri Lanka vergleichbar, wo es sehr viel mehr Tempel gibt. Deutlich wird bei Mahani jedoch, dass die Kirche lediglich die zweite Wahl ist. Es sind die organisatorischen Schwierigkeiten, die Mahani vom Tempelbesuch abhalten. Dennoch zeigt sich, dass sie Jesus als transzendente Größe anerkennt, und auch als Hindu Hilfe von ihm erwartet. Sie inkludiert christliche Angebote in ihre religiöse Praxis. Dabei fühle sie sich ausgeglichen und privilegiert, da sie eine Fülle an Religionen kennenlernen und leben könne.14
F AZIT Mahani ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie die Tradierung des elterlichen Glaubenssystems in der Diasporasituation gelingen kann. Während die Vermittlung hinduistischer Glaubenslehren und Handlungspraxis bei den anderen Fallbeispielen vor allem auf der vertikalen (Übertragung durch
14 Neben den drei vorgestellten Fallbeispielen sind noch zwei weitere Umgangsformen im christlich-hinduistischen Erfahrungsraum möglich, auf die an dieser Stelle zumindest hingewiesen werden soll. Erstens, dass eine intensive Auseinandersetzung mit mehreren Religionen möglich ist, ohne dass dies kritisch reflektiert würde. Die ist der Fall bei dem oben erwähnten Alip. Trotz christlicher Taufe kam es bei ihm zu keiner Abwägung, ob das Christentum eine Alternative für ihn sein könnte. Zweitens kommt es in Deutschland auch bei der zweiten Generation zu Konversionen zum Christentum. Ein Zentrum für Menschen, die zu christlichen Freikirchen konvertiert sind, ist nach Angaben meiner Informanten beispielsweise die Halleluja-Gemeinde in Bottrop.
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die Eltern) und horizontalen (Transmission durch Peers) Ebene geleistet wird, ist Mahani in einer Sondersituation, was die Rolle von Erwachsenen angeht: Während Nila und Tharsini sich mehr von christlichen Religionslehrern, Priestern und Pastoren, im Falle von Tharsini, dem Latein- und Philosophielehrer, inspiriert fühlten, pflegt Mahani eine enge Beziehung zu dem hinduistischen Geistlichen. Dies hängt mit einem überdurchschnittlichen Engagement der Eltern im Tempelgeschehen, dem Vegetarismus der Familie und der Tatsache zusammen, dass sie in NRW aufgewachsen und noch immer wohnhaft ist.15 Vegetarismus bildet einen wichtigen Aspekt hinduistischer Reinheitsnormen und ist Quelle für die Anerkennung in der Gemeinde. So konnte die Familie nach Aussage Mahanis intensiver in das Tempelleben einbezogen werden, als es sonst der Fall gewesen wäre. Es ist also zu bedenken, dass Mahanis Situation in Deutschland eine Ausnahme darstellt. Im Zuge teilnehmender Beobachtung fiel mir auf, dass der ihr bekannte Tempelpriester ein außergewöhnlich einfühlsamer religiöser Lehrer ist, der sehr gut mit Kindern umgehen kann. Hinzu kommt, dass der Kontakt zu ihm prestigeträchtig ist und daher einen besonderen Reiz in der hindu-tamilischen Gemeinschaft darstellt. Letztlich wird der religiöse Pluralismus in allen Fallbeispielen, zumindest vorübergehend, als Markt der Religionen (vgl. Zinser 1997) wahrgenommen und ein Aushandlungsfeld zwischen Inklusivismus, populärer Sinnsuche und Zwang zur Häresie (vgl. Berger 1992) erzeugt. Viele Tamilen der zweiten Generation zeigen wie Tharsini ein Interesse an den Unterschieden zwischen Hinduismus und Christentum. Die Auseinandersetzung bildet eine verdichtete Sinnform im Forschungsfeld von Religion im Generationenverlauf. Durch meist unstrukturierte und inkonstante Netzwerke für den Religionstransfer – angesprochen wurde von Interviewpartnern beispielsweise der unregelmäßige und diffuse hinduistische Religionsunterricht in tamilischen Schulen – intensivieren sich oftmals Ressentiments gegenüber der von den Eltern vorgelebten hinduistischen Religionsausübung. Zudem erschwert ein weiterer migrationsbedingter Aspekt die traditionelle Religionsvermittlung hinduistischer Konventionen: der im Herkunftsland übliche Großfamilienverbund ist in der Diaspora oftmals nicht mehr gegeben oder ist transnational verstreut. Beispielsweise die
15 NRW ist wegen der im Ländervergleich überdurchschnittlichen hinduistischen Infrastruktur als spezifischer Erfahrungsraum zu sehen.
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Großeltern, welche im hinduistischen Kontext eine essenzielle Rolle für die Religionsvermittlung spielen, sind meist nicht mit nach Deutschland ausgewandert. Die ohnehin für die religiöse Erziehung sehr wichtige Rolle der Mutter wird in der Migrationssituation dadurch stark belastet. Anders als im srilankischen Regelfall sind in Deutschland viele Mütter berufstätig, sodass diese sich häufig aus zeitlichen Gründen nicht ausgiebig der religiösen Erziehung ihrer Kinder widmen können. Dieser Umstand wiederum erfordert eine Umverteilung der traditionellen Enkulturationsbestrebungen von einer auf mehrere Personen. Tendenziell gewinnt in der Religionsvermittlung vor allem der Vater, der Tempelpriester, der kulturell und religiös gemischte Freundeskreis und die (deutsche) Schule an Bedeutung, so mein Ergebnis. Auch gewinnt die Eigeninitiative der zweiten Generation an Gewicht. Auch wenn vor allem die Mütter in der Diaspora wichtigstes Vorbild und primäre Ansprechpersonen sind, dies bekunden Studien in der Tamilenforschung, verlieren sie meiner Einschätzung nach durch die Erstarkung anderer Vermittlungsinstanzen, die in Deutschland trotz einer populär-religiösen Entwicklung nach wie vor christlich dominiert sind, an Einfluss. Eine entsprechende Steigerung des väterlichen und priesterlichen Engagements zur Vermittlung heimatgebundener Traditionen bleibt jedoch meinen Ergebnissen zufolge meist aus. Das Fallbeispiel Mahani bildet eine Ausnahme. Insgesamt nimmt die Hingabe der religiösen Erziehung durch Zeitmangel der Eltern, Mangel an Tempelpriestern und kundigen Religionslehrern ab, verliert an Struktur und führt zu diasporabedingten Veränderungsprozessen der Religiosität tamilischer Hindus in der Generationenfolge, die weiter zu beobachten sind. Der Fall von Mahani veranschaulicht exemplarisch das Potenzial der Tempel und Tempelpriester zur Unterstützung der elterlichen religiösen Erziehung. Die Tempellandschaft differenziert sich zusehends aus und ist zentraler Schauplatz für Kontinuitäten und Transformationsprozesse des tamilischen Diaspora-Hinduismus16. Die Tempel fungieren zudem als Brü-
16 Als markantes Beispiel ist hier ein Kulturzentrum zu nennen, dessen Bau aktuell auf dem Gelände des Hamm-Uentroper Tempels vorbereitet und u.a. über ein Großplakat angekündigt wird. Neben kulturellen Lehrangeboten zu Tanz- und Instrumentalunterricht soll es ebenfalls zu gezieltem hinduistischen Religionsunterricht für Interessierte kommen. Um einen qualitativ hochwertigen Unterricht gewährleisten zu können, sollen die Lehrer extra aus Indien eingeflogen
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ckenorte für das Verständnis zwischen den Generationen und zwischen der tamilischen Kultur und der Mehrheitskultur und bieten daher ein beträchtliches integratives Potenzial (siehe dazu detailliert Wilke 2003). Im Zuge meiner Auswertungen zeigte sich zudem, dass die familiale Tradierung in Relation zur institutionellen und der gesamten sozialen Integration zu betrachten ist und Religionstradierung keine ausschließlich binnenfamiliale Angelegenheit darstellt. Das christliche Außenangebot liefert dabei entscheidende Impulse für Aufnahme- und Aneignungsformen des Hinduismus seitens der zweiten Generation. Die Tradierung von Religion ist somit nur in ihrer Reziprozität, also unter Einbeziehung der Perspektive der jungen Hindus und ihrer Einflusskraft auf traditionelle Vermittlungsformen zu verstehen.
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„Gatekeeper“ und „Broker“ als Schnittstellen zwischen religiösen Organisationen N ELLY C AROLINE S CHUBERT
E INLEITUNG
UND
F RAGESTELLUNG
In dem religiös pluralen Deutschland1 hat sich in den letzten circa zehn Jahren eine intensive öffentliche Debatte etabliert, in deren Zentrum die Frage steht, ob ein Konflikt oder Dialog zwischen Kulturen herrscht. Diese Debatte zielt auf identifikative Gemeinschaften2 ab, deren askriptives Erkennungsmerkmal distinkte Kulturen sind. Was abstrakt unter dem Oberbegriff Kultur verhandelt wird, „verdichtet“ sich in konkreten Auseinandersetzungen und Beispielen an verschiedenen Aspekten von Religion.3 Religiöse Gemeinschaften und deren sichtbare Räumlichkeiten sind Dreh- und Angelpunkte in einem religiös orientierten, vermeintlichen Kulturkonflikt. Sie 1
Vgl. Bertelsmann Stiftung 2007; 2008; vgl. für Nordrhein-Westfalen Hero/Krech/Zander 2008.
2
Wenn im Folgenden von identifikativen Gemeinschaften die Rede ist, soll damit hervorgehoben werden, dass die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft primär auf der gleichen Identifikation aller Mitglieder beruht. Dadurch besteht eine Verbundenheit zwischen einander teilweise unbekannten Angehörigen dieser Gemeinschaft. Beispielsweise können sich Angehörige derselben Glaubensgemeinschaft über ihren Glauben als Kollektiv angesprochen fühlen, obwohl sie ansonsten keine Verbindung zueinander haben.
3
Zu den möglichen Gründen für diese Verdichtung vgl. Tezcan 2006: 26.
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sind einerseits Projektionsplattformen für gesellschaftliche Vorurteile oder Erwartungen und andererseits Anlaufstellen bei der Suche nach Ansprechpartnern und Repräsentanten für Politik, Medien und Forschung. Durch diese öffentliche Auseinandersetzung mit religiösen Migrantenorganisationen werden religiöse Vereine, Gemeinden und Kirchen in Deutschland folglich zunehmend als relevant für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft wahrgenommen. Hinzu kommt, dass von Zugewanderten gegründete religiöse Gemeinschaften zunehmend herausgefordert werden, sich formell zu organisieren. Ein Grund dafür ist häufig der Wunsch der Politik nach repräsentativen Ansprechpartnern. Über jene scheint man ein besseres Verständnis der Interessen von ansonsten schwer zugänglichen Mitgliedern der Gemeinschaften und die Möglichkeit einer Einflussnahme erreichen zu wollen. In der Folge bildet sich eine vielfältige, religiöse Organisationslandschaft heraus. Mit dieser zunehmenden Formalisierung werden auch die Beziehungen zwischen religiösen Organisationen für die religionssoziologische Forschung interessanter. Auf der Mesoebene interreligiöser Beziehungen stellen diese korporativen Akteure, sogenannte „identities“4, (mehr oder weniger stabile) Ordnungszusammenhänge dar, die auch miteinander soziale Beziehungen eingehen können.5 Im Kontext interreligiöser Beziehungen ist diese Analyseebene besonders spannend, weil dort die schon im Kleinen schwierige Auseinandersetzung über religiöse Grenzen hinweg stellvertretend für und im Namen von ganzen religiösen Gemeinschaften erfolgt. Interreligiöse Konstellationen wie beispielsweise theologische Aushandlungs-, Verortungs-, Einbindungs- und Abgrenzungsprozesse finden nicht länger nur
4
Darunter sind Handlungseinheiten mit einer von außen als unproblematisch wahrgenommenen Kontinuität zu verstehen (vgl. White 1992: 6).
5
Gemäß netzwerkanalytischer Theorieansätze können nicht nur individuelle Akteure, sondern auch Institutionen, Organisationen, Gruppen oder Ereignisse miteinander in Beziehung stehen. White (1992: 16) bezeichnet die in Netzwerken interagierenden Akteure als „identities“. Diese Bezeichnung deutet auf seine Annahme einer kontextabhängigen, situationsspezifischen Herausbildung von Akteuren hin (vgl. White 1992: 8). Grenzen und Stabilität kollektiver Akteure oder Ordnungszusammenhänge sind damit grundsätzlich fragwürdig, wie ich weiter unten bei der Einführung in den paradigmatischen Relationalismus erläutere.
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zwischen Personen (religiöse Experten) und imaginierten Gemeinschaften (globale Umma oder „der Islam“ gegen „das Christentum“) statt. Sie werden heute verstärkt auch durch formal definierte Organisationen (beispielsweise Moscheevereine und deren übergeordnete Zusammenschlüsse wie der Koordinationsrat der Muslime) ausgetragen. Die tatsächlichen Handlungen bei der Aufnahme von Beziehungen zwischen den abstrakten, aggregierten Identitäten und deren Aufrechterhaltung werden jedoch nur durch Beziehungen zwischen Individuen realisiert. So fungieren Positionsträger wie ambitionierte Ehrenamtliche, kirchliche Amtsträger oder städtisch finanzierte Integrationsbeauftragte als Kommunikationskanäle und Schnittstellen der (interreligiösen) Vernetzung. In ihren Sonderpositionen verkörpern sie sowohl soziale Bindeglieder, Repräsentanten und interkulturelle Agenten als auch personalisierte Zugangshürden und Informationsfilter. Vertreter eines strukturalistischen Netzwerkansatzes bezeichnen diese Akteure ihren Sonderpositionen entsprechend als Broker oder Gatekeeper (vgl. exemplarisch hierzu Burt 1992: 2746; Allen/Cohen 1969). Damit weisen sie auf die besondere Bedeutung hin, die diesen Akteuren durch ihre Position in einem Netzwerk zukommt. Sie kontrollieren Beziehungen zwischen Gruppen. Sie können sowohl anderenfalls unverbundene soziale Gruppen miteinander verbinden als auch derartige Verbindungen verhindern (vgl. Hitz in diesem Band).7 Broker und Gatekeeper treffen aber nicht nur als Repräsentanten und Positionsträger, sondern auch als Individuen aufeinander, mit unterschiedlichen Eigenarten, Einstellungen, Wahrnehmungen, Orientierungen und kulturellen Einbettun-
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Wie unter anderem Haug (1997: 14f.) ausführt, stellt Burts Ansatz eine Erweiterung des Weak-Tie-Argumentes von Granovetter (1973) dar. Dieser hatte bereits durch seinen Verweis auf die Vorteile schwacher Bindungen einen Fokus auf soziale Brückenfunktionen gelegt. Burt konzentriert sich dagegen auf die NichtRedundanz der Beziehungen von Brokern. Zentral für die Vorteilhaftigkeit ihrer Position sei, dass sie die einzige Verbindung zwischen zwei Gruppen darstellten.
7
Durch ihre intermediäre Position beeinflussen sie die Ressourcen- und Informationsflüsse zwischen diesen Gruppen (vgl. Burt 1992: 34; Granovetter 1973). Sie können also sowohl zwischen den Gruppen Verbindungen herstellen und vermitteln als auch Ressourcenflüsse zwischen den Gruppen selektieren und Zugänge zu den Gruppen steuern.
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gen. Auf der Ebene der Individuen können diese Aspekte kurzfristige Interaktionen8 und langfristige Beziehungen maßgeblich beeinflussen. Versucht man aus den Beziehungen auf der Mikroebene Rückschlüsse auf die Mesoebene interorganisationaler Beziehungen zu ziehen, stellt sich zwangsläufig folgende Frage: Wie prägen Broker und Gatekeeper das Beziehungsgefüge religiöse Grenzen überschreitender interorganisationaler Vernetzung?
F ORSCHUNGSSTAND Ü BERLEGUNGEN
UND THEORETISCHE
In diesem Abschnitt binde ich zunächst meine Ausgangsfrage in bisherige Forschungen zu interreligiösen Beziehungen und Vernetzungen zwischen Organisationen ein. Ein Blick auf den aktuellen Forschungsstand offenbart, dass empirische Analysen die interreligiöse und die interorganisationale Dimension bislang weitgehend getrennt betrachtet haben und damit den Zusammenhang zwischen Kultur und Struktur vernachlässigen haben.9 Im Anschluss an die Auseinandersetzung mit dem aktuellen Forschungsstand zeige ich auf, inwiefern aktuelle theoretische Ansätze die analytische Trennung bereits konzeptionell überwunden haben. Daran anknüpfend erläutere ich, wie die entscheidenden theoretischen Überlegungen des BoundaryKonzeptes von Lamont und Molnár sowie des soziologischen Relationalismus für die folgende empirische Analyse genutzt werden können. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit interreligiösen Interaktionen hat in den letzten Jahren stark zugenommen.10 Analysiert wurden in
8
Mit dem Begriff Interaktion beziehe ich mich auf Begegnungen und Handlungen zwischen Akteuren, die sowohl einseitig als auch gegenseitig sein können. Dazu zählen z.B. einseitige Kontaktaufnahmen wie das Versenden von Einladungen per E-Mail aber auch wechselseitige Kommunikation am Telefon oder persönliche Treffen zum Organisieren von Veranstaltungen.
9
Meines Erachtens bildet die einzige Ausnahme Heckmann 2011.
10 Vgl. hierzu exemplarisch Klinkhammer et al. 2011: 1 und http://www.dialogosprojekt.de/index.php?title=Interreligi%C3%B6se_und_interkulturelle_Dialogini tiativen_in_Deutschland, Zugriff am 15.05.2012. Christlich-islamische Dialogforen existieren in Deutschland jedoch teilweise bereits seit mehr als 30 Jahren
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diesem Rahmen hauptsächlich interreligiöse Dialoge, in denen unterschiedliche Symbolsysteme, Semantiken und Kulturelemente aufeinander treffen. Innerhalb der Literatur zu Interreligiosität lassen sich zwei analytische Schwerpunktsetzungen ausmachen, einerseits interreligiöse Dialoge als Handlungsform und andererseits interkulturelle oder interreligiöse Dialoginitiativen als Organisationsform. Veröffentlichungen mit der Schwerpunktsetzung auf interreligiöse Dialoge als Handlungsform beleuchten häufig entweder performative Prozesse (vgl. Nagel in diesem Band) oder schlagen normative Leitlinien für interreligiöse Begegnungen zwischen Individuen vor. Eine solche Veröffentlichung ist beispielsweise die von Thomas Lemmen und Melanie Miehl aus dem Jahr 2001. Lemmen und Miehl schlüsseln darin vor dem Hintergrund langjähriger Dialogerfahrungen zwischen Christen und Muslimen die Schwierigkeiten und Besonderheiten des interreligiösen Dialogs aus der Sicht religiöser Experten auf. Dabei beschreiben sie vor allem habituelle Besonderheiten, die es bei Face-to-Face-Interaktionen zwischen christlichen und muslimischen Dialogpartnern zu berücksichtigen gilt. Derartige Veröffentlichungen stammen insbesondere aus den christlichen Theologien und blicken auf eine lange Geschichte zurück (vgl. exemplarisch Vöcking 2010). Die Untersuchung interkultureller und interreligiöser Dialoginitiativen ist in Deutschland ein recht neues Forschungsgebiet.11 Sie zeichnet sich insbesondere durch eine evaluative Herangehensweise aus. Ein Beispiel für Studien mit einer solchen Ausrichtung ist das Bremer Dialogos-Projekt.12 In einer gleichzeitig qualitativen und quantitativen Annäherung an interre-
(vgl. Internetseite des Koordinierungsrates des christlich-islamischen Dialogs http://www.kcid.de/prodia/landkarte.php, Zugriff am 15.05.2012). 11 Interreligiöse und interkulturelle Initiativen werden in diesen Analysen tendenziell zusammengefasst. Das ist einerseits auf die eingangs angeschnittene Problematik einer Vermischung der Ausprägungen von Religion und Kultur im Zusammenhang mit einer migrationsbedingten gleichzeitigen Pluralisierung beider Faktoren zurückzuführen. Andererseits ist es dem Umstand geschuldet, dass viele migrantische Vereinigungen gleichzeitig religiös ausgerichtet sind und umgekehrt. 12 Nagel (in diesem Band) beschreibt verschiedene Studien aus den Bereichen soziale Arbeit und Ehrenamt ebenfalls als evaluativ ausgerichtet.
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ligiöse Dialoginitiativen zwischen Muslimen, Christen und anderen Religionsvertretern in Deutschland liefert die Studie eine umfassende religionswissenschaftliche Beschreibung von individuellen Motivationen für die Beteiligung an und die Funktionen von derartigen Dialoginitiativen (vgl. Klinkhammer et al. 2011). Schirin Amir-Moazami (2011) hingegen konzentriert sich in einer aktuellen Publikation auf die Evaluation der Deutschen Islam Konferenz (DIK). Sie hinterfragt vor dem Hintergrund des konsensorientierten, liberal-demokratischen Dialogmodells von Jürgen Habermas, inwiefern die DIK, die man als prominenteste christlichmuslimische Dialoginitiative bezeichnen kann, zu dem Ziel einer diskursiven Inklusion von Muslimen in Deutschland beitragen konnte. Im Gegensatz zu den beschriebenen Publikationen über interreligiöse Dialoge fokussieren Studien zu interorganisationalen Netzwerken strukturelle Analyseaspekte wie die Beschaffenheit von Netzwerken. In ihnen werden entweder die überregionalen Vernetzungen innerhalb von Gemeinschaften, die auf gleichen Identifikationen und Zuordnungen beruhen (transnationale Vernetzung religiöser Gemeinschaften), untersucht oder diejenigen, die über strukturelle Grenzen hinweg (interorganisational) stattfinden. Einschlägige Forschungen und Theorien zu interorganisationalen Grenzüberschreitungen stammen insbesondere aus der Politikwissenschaft sowie der Organisations- und Migrationssoziologie. Strukturzentrierte Theorieansätze und Vorgehensweisen werden als ein zentrales Element der politikwissenschaftlichen Analyse beschrieben (vgl. Schneider/Janning 2006: 84ff.). Im Mittelpunkt stehen dabei Politiken beeinflussende und von Politiken beeinflusste Beziehungen zwischen klar eingegrenzten Entitäten in Form von korporativen Handlungseinheiten wie Organisationen (vgl. Schneider/Janning 2006). Betrachtet werden vor allem strukturelle Anordnungen dieser Einheiten (z.B. Positionen, Macht) und Ressourcenflüsse (z.B. Informationen) zwischen ihnen (vgl. ebd.: 86-96). Damit rekurrieren sie auf die zentralen Aspekte von Strukturen (vgl. ebd.: 117-134). Ein klassisches Beispiel für diese strukturalistische Perspektive in politikwissenschaftlichen Studien zu interorganisationalen Beziehungen ist eine Studie von Edward Laumann und David Knoke (1987). In dieser untersuchen derartige Studien Kommunikationsstrukturen und Ressourcenflüsse in Politiknetzwerken bei den Themenfeldern Energie und Gesundheit. Einbettungen werden in der Studie als strukturell erfassbare Hand-
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lungskontexte aufgefasst. Handlungsleitend innerhalb der Strukturen sind die Interessen korporativer Akteure. Diese werden zwar in Abhängigkeit von bestimmten Ereignissen betrachtet, in die sie eingebettet sind. Situative, kulturelle oder semantische Einbettungen von Interaktionen wie die Ausstattung von Interaktionsumgebungen, Vorurteile und ideelle Prägungen spielen für Laumanns und Knokes Analyse der Interaktionen und Beziehungen allerdings keine Rolle. Stattdessen stehen die Identifizierung von Handlungsstrukturen anhand von Informationsflüssen sowie von Überschreitungen organisationaler Grenzen durch Einzelpersonen im Mittelpunkt. In der Politikwissenschaft scheint die Erforschung von Strukturen bei gleichzeitiger Vernachlässigung von Semantik und Kultur nicht ungewöhnlich zu sein, wie der Verweis auf eine weitere Veröffentlichung verdeutlicht. In seiner Studie über Politikfeldentwicklungen im Chemiesektor offenbart Schneider diesen Analysefokus auf Strukturen ohne die Einbeziehung von Semantik und Kultur dadurch, „daß eine gegebene Politik aus den interessengeleiteten und strukturell restringierten Interaktionen der beteiligten Akteure erklärt“ (Schneider 1988: 17) wird. Auch in der organisations- und migrationssoziologischen Literatur zu korporativen Vernetzungen stehen Betrachtungen von Beziehungsstrukturen und deren Einbettung in politische Kontexte im Vordergrund. Im Rahmen des Forschungsprojektes „Verbreitung und Kontextbedingungen transnationaler Migrantenorganisationen in Europa“ (TRAMO) wurden beispielsweise ländervergleichend die strukturellen Einbindungen von Migrantenorganisationen in transnationale Interaktions- und Entscheidungsprozesse auf politischer und gesellschaftlicher Ebene untersucht (vgl. Pries/Sezgin 2010; Ziegler 2009; http://www.ruhr-uni-bochum.de/tramo/de/index.shtml, Zugriff am 06.10.2011). Als Ergebnis präsentiert die Studie sechs Idealtypen struktureller Einbettung13 (vgl. Ziegler 2009). Diese Typen basieren ausschließlich auf strukturbezogenen Kategorien, nämlich auf der Ausrichtung beziehungsweise Zentralisierung (Ankunftsland/Herkunftsland/beides) verschiedener Aktivitäten der Migrantenorganisationen, auf Richtungen von Ressourcenflüssen, Verortungen von Ressourcenbeständen und dem
13 Die sechs Typen sind: 1. global ausgerichtete und ankunftslandorientierte, 2. global ausgerichtete und herkunftslandorientierte, 3. fokal ausgerichtete und ankunftslandorientierte, 4. fokal ausgerichtete und herkunftslandorientierte, 5. multinationale sowie 6. transnationale Migrantenorganisationen.
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Ausmaß der Koordination interner Aktivitäten. Für den Typ transnational vernetzter Migrantenorganisationen ist beispielsweise charakteristisch, dass sowohl Ressourcenmobilisierung und -verteilung, Hauptthemen und -forderungen, sowie Ausrichtungen der Außenaktivitäten gleichzeitig herkunfts- und ankunftslandorientiert sind als auch eine starke Koordination der organisationsinternen Aktivitäten stattfindet (vgl. ebd.: 39). Ebenso wie in den erwähnten politikwissenschaftlichen Studien werden folglich auch in diesem Bereich Semantik und Kultur in interorganisationalen Beziehungen ausgeblendet. Ein Ansatz Semantik und Kultur in die Forschung mit einzubeziehen, findet sich bei Michèle Lamont und Virág Molnár (2002). Sie plädieren für eine kombinierte Analyse sozialer und symbolischer Gruppengrenzen. Ihnen zufolge konstituieren sich soziale Gruppen über soziale Beziehungen zwischen Akteuren, wohingegen symbolische Gruppen auf kollektiven Identifikationen, askriptiven Zugehörigkeiten und Semantiken basieren. Symbolische Grenzen und Grenzziehungen sind demnach sozialen Grenzen und Grenzziehungen vorgelagert. Sie stehen in enger Verbindung zu Letzteren, lassen sich aber analytisch separat identifizieren. Lamonts und Molnárs Definition nach sind symbolische Grenzen konzeptuelle Trennlinien zwischen symbolischen Gruppen, die auf kollektiven Identifikationen, askriptiven Zugehörigkeiten und Semantiken beruhen. Kultur im Sinne von Religion wird damit als Distinktionskriterium verstanden.14 Organisierte Gemeinden und religiöse Vereine sind gemäß der Definition von Lamont und Molnár durch soziale Grenzen determiniert, denn sie „manifest themselves as groupings of individuals“ (Lamont/Molnár 2002: 169). Interessant sei vor dem Hintergrund dieser analytischen Unterscheidung insbesondere die Untersuchung der Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen beiden Distinktionsebenen (vgl. ebd.: 186ff.). Friedrich Heckmanns (2011) Ausführungen in dem aktuellen Arbeitspapier zu einer laufenden Studie des Europäischen Forums für Migrationsstudien lassen sich analog auf das Grenzkonzept von Lamont und Molnár übertragen. In der von Heckmann beschriebenen Studie greift er den weiter oben beschriebenen Analysefokus auf interreligiöse Dialoge auf. Er über-
14 In Anlehnung an Lamont und Molnár definiere ich religiöse Unterscheidungen im Sinne von Konfessionen oder religiösen Selbsteinstufungen als symbolische Grenzen.
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trägt ihn jedoch anders als bisherige Studien auf die Mesoebene der Intergruppen-Beziehungen. Dabei unterscheidet er zwischen „realen“ Gruppen, die wie soziale Grenzen bei Lamont und Molnár auf sozialen Interaktionen basieren, und Kategorien von Gruppen, die in erster Linie auf kollektiven Stereotypen basieren und folglich mit symbolischen Grenzen vergleichbar sind (vgl. Heckmann 2011: 4). In Intergruppen-Beziehungen seien ihm zufolge beide Beziehungsebenen relevant. Ganz im Sinne von Lamont und Molnár vermutet Heckmann in der Empirie eine Verbindung von semantischen, identifikativen und/oder kulturellen Aspekten mit Strukturen in Sozialbeziehungen. Der soziologische Relationalismus (vgl. Emirbayer 1997) beansprucht ebenfalls, die theoretische Trennung von Struktur und Semantik aufzubrechen. Er geht jedoch über den Hinweis hinaus, dass Strukturen Semantiken vorgelagert sind, und beschreibt eine komplexe Verbindung der beiden Vergemeinschaftungs-Dimensionen. Soziale Beziehungen werden als dynamisch verstanden. Das bedeutet, dass sich einzelne Wirkgrößen in sozialen Beziehungen (Akteur, Struktur, Kultur und Situation) permanent wechselseitig aufeinander beziehen. Diese Beziehungen folgen somit einer Logik, die sich nur bei der Berücksichtigung ihrer Entwicklung und der gleichzeitigen Einordnung in übergeordnete Sinnzusammenhänge erschließt. Kontextuelle Einflussfaktoren stellen daher eine entscheidende analytische Kategorie dar. Einer der Begründer des Relationalismus, Harrison White, beschrieb dezidiert die Relevanz kontextueller und dynamischer Betrachtung (vgl. White 1992). Er erweiterte beispielsweise den Akteursbegriff auf Entitäten, die sich erst in der Interaktion selbst als solche herausbilden (vgl. ebd.: 8f.). Die Berücksichtigung von Kontexten kann auf verschiedene Weise erfolgen. Beispielsweise stellt Kultur einen kontextuellen Einflussfaktor dar. Wie in der deutschsprachigen Diskussion Mützel und Fuhse (2010: 8) hervorheben, räumt der soziologische Relationalismus dem vielfältig beobachtbaren Einfluss von Kultur einen besonderen Platz bei der Betrachtung sozialer Strukturen und Prozesse ein. Im Folgenden soll die Trennung zwischen Struktur und Kultur im Rahmen der Erforschung interreligiöser Beziehungen auf organisationaler Ebene aufgehoben werden. Der in diesem Beitrag gewählte Fokus auf Broker und Gatekeeper offenbart am deutlichsten meine Zielsetzung einer analytischen Verbindung zwischen Struktur und Kultur. Die Definition dieser spezifischen intermediären Akteure basiert auf deren struktureller Einbettung.
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Erst ihre Vermittlerrolle zwischen verschiedenen Akteuren oder Gruppen definiert das Wesen eines Brokers oder Gatekeepers. Die begriffliche Unterscheidung zwischen Brokern und Gatekeepern soll unterschiedliche strukturelle Einbettungsvoraussetzungen hervorheben. Als Broker bezeichne ich im Folgenden diejenigen intermediären Akteure, die selbst keiner der religiösen Organisationen angehören, zwischen denen sie vermitteln. Unter dem Begriff Gatekeeper sollen hingegen diejenigen Akteure gefasst werden, die als Vermittler zwischen Organisationen fungieren und zugleich Mitglieder einer der Organisationen sind. Damit steht im Vordergrund, dass sie Externen die Verbindung zu der von ihnen vertretenen Organisation verwehren können, also gewissermaßen Wächter eines Tores sind. Das Handeln und Wirken dieser intermediären Akteure lässt sich nicht adäquat betrachten, wenn man vorgelagerte symbolische Grenzziehungen und kulturelle Einbettungen ausklammert. Wie ich im empirischen Teil dieses Beitrages zeigen werde, bilden sie gleichzeitig den Rahmen und die Konsequenz des Handelns der Akteure im interorganisationalen Beziehungsverlauf. Neben der bisherigen Missachtung der analytischen Verbindung zwischen Struktur und Kultur bei der Untersuchung interreligiöser interorganisationaler Beziehungen (s.o.) lassen sich zwei weitere, wesentliche Forschungslücken im aktuellen Forschungsstand ausmachen. Trotz der großen Vielfalt der religiösen Landschaft in Deutschland und insbesondere Nordrhein-Westfalen (vgl. Bertelsmann Stiftung 2007, 2008; für NordrheinWestfalen Hero/Krech/Zander 2008) konzentriert sich die Auseinandersetzung mit interreligiösen Beziehungen zunächst hauptsächlich auf Muslime. Kontaktmöglichkeiten bestehen jedoch zwischen allen ansässigen religiösen Gemeinschaften. Um der religiösen Pluralität hierzulande Rechnung zu tragen, müssten alle im Feld identifizierbaren religiösen Richtungen einbezogen und auf Beziehungen untereinander überprüft werden. Ferner fanden Untersuchungen von interreligiösen Interaktionen stets auf Bundesebene oder losgelöst von ihrer räumlichen Einbettung statt, obwohl sich zeigt, dass die Kommune stärker in den Analysefokus rücken sollte. Klinkhammer et al. (2011: 22) weisen zum Beispiel darauf hin, dass lokale Besonderheiten die von ihnen untersuchten interreligiösen Dialoginitiativen entscheidend prägen. Diese Forschungslücken versuche ich durch meinen Analysefokus auf eine Mittelstadt im Ruhrgebiet zu füllen. Bei meiner Er-
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hebung innerhalb dieser Stadt habe ich versucht, alle religiösen Organisationen zu berücksichtigen, die interreligiöse Beziehungen unterhalten.
D ATEN
UND
M ETHODEN
Die folgenden Ergebnisse stammen aus der qualitativen Vorstudie meines laufenden Dissertationsprojektes, in dessen Rahmen ich die kommunale interreligiöse Zusammenarbeit zwischen Vereinen und Gemeinden im Ruhrgebiet untersuche. Die Vorstudie konzentrierte sich auf die Erfassung verschiedener Beziehungen zwischen religiösen Organisationen in einer mittelgroßen Stadt im Ruhrgebiet mit einem verhältnismäßig hohen religiösen Diversitätsgrad auf Grundlage des Herfindahl-Hirschmann-Indexes von ca. 0,7 laut Hero, Krech und Zander (2008).15 Außerdem habe ich Einflussfaktoren auf diese interorganisationalen Beziehungen und Entwicklungen im Zeitverlauf berücksichtigt. Insgesamt ist die Auswertung auf 13 Interviewtranskripte gestützt. Diese basieren auf leitfadengestützten Experteninterviews mit interreligiös engagierten Einzelpersonen, Vertretern interreligiös vernetzter Gemeinden und/oder Personen, die sich auf kommunaler Ebene beruflich mit interreligiöser Vernetzung befassen. Auf Seiten der religiösen Gemeinschaften waren dies insbesondere Personen, die auf organisationaler Ebene über Entscheidungsmacht und Repräsentativität verfügen. Damit ist gemeint, dass sie einerseits Entscheidungen, welche den gesamten Verein oder die gesamte Gruppe betreffen, treffen, und andererseits öffentlich im Namen des Vereins beziehungsweise der Gruppe agieren können.16 Die Auswahl der Inter-
15 Zur Berechnung und Interpretation des Herfindahl-Hirschmann-Indexes vgl. Hero/Krech/Zander 2008: 36. 16 Dazu zählen insbesondere die Vorstandsvorsitzenden oder deren Stellvertreter sowie allgemein Dialogbeauftragte und Öffentlichkeitsvertreter. Diese Ämter werden in der Regel nicht von hauptberuflichen Theologen, sondern von ehrenamtlichen Vereinsmitgliedern ausgefüllt. In den nicht als e.V., sondern als Teil einer Körperschaft des öffentlichen Rechts organisierten Gemeinden, stellten hingegen religiöse Experten gleichzeitig auch zentrale Repräsentanten und formelle Ansprechpartner für diese Gemeinden dar. Als berufsbedingt interreligiös
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viewpartner erfolgte in einer Kombination aus theoretischem Sampling und Schneeballsystem. Zunächst befragte ich offizielle Experten (Mitarbeiter des Integrationsbüros, Kommunalpolitiker, Organisatoren von interreligiösen Initiativen) bezüglich ihrer Kenntnisse über Beziehungen zwischen verschiedenen religiösen Gruppierungen, die ich anschließend in direkten Befragungen überprüfte. Von diesen Experten erhielt ich sowohl allgemeine Informationen über die Erreichbarkeit von religiösen Gemeinschaften als auch Kontaktdaten von Ansprechpartnern religiöser Organisationen. Zudem gibt die Stadt eine Informationsbroschüre mit einer Liste aller religiösen Migrantenorganisationen heraus, die ebenfalls Kontaktdaten enthält. Darüber hinaus konnte ich über den Besuch interreligiöser Veranstaltungen Kontakte zu engagierten Vertretern und Einzelpersonen knüpfen und aus Veranstaltungsflyern oder offiziellen Mitgliederinformationen interreligiöser Initiativen (Broschüren zur Selbstdarstellung, Internetseiten) zusätzliche Ansprechpartner gewinnen. Schließlich griff ich auf eigene Protokolle von Teilnahmen an interreligiösen Aktivitäten17 als wichtige Quelle für Hintergrundinformationen zu der Systematisierung und dem Verständnis der Interviewdaten zurück. Die Interviews dienen als Grundlage für die Rekonstruktion idealtypischer interorganisationaler Beziehungsverläufe, die religiöse Grenzen überschreiten. Dabei soll ein besonderes Augenmerk auf der Verknüpfung kultureller und semantischer mit strukturellen Aspekten liegen. Kultur findet über verschiedene Kanäle Eingang in die Beziehungsprozesse. Einerseits verstehe ich darunter kulturelle Kategorien, zum Beispiel in Form religiöser Zugehörigkeit von Organisationen und ihren Mitgliedern. Andererseits fließen situationsimmanente kulturelle Manifestationen, wie Semantiken und subjektive Relevanzen von Kultur, wie religiöse Deutungen und Begründungen für Handeln, in die Analyse ein. Semantiken spielen vor allem bei
ausgerichtete Interviewpartner sind Mitarbeiter des Integrationsbüros der Stadt und Kommunalpolitiker mit Integrationsauftrag zu verstehen. 17 Als interreligiöse Aktivitäten verstehe ich in Anlehnung an Nagel (i.E.) Veranstaltungen, die programmatisch interreligiöse Unterschiede thematisieren und plausible Gelegenheiten für interreligiöse Begegnungen darstellen. In der Regel weisen dabei Veranstalter (z.B. in Form eines Arbeitskreises, Gremiums oder Vereins) und/oder die Veranstaltung selbst eine namentliche oder offensichtliche inhaltliche interreligiöse beziehungsweise interkulturelle Ausrichtung auf.
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der Herausarbeitung symbolischer Grenzen, wie der diskursiven Zuordnung zu einer ethnisch oder anders begründeten Kategorie, eine wichtige Rolle für Auswertung und Typenbildung. Die Auswertung der Interviewmitschnitte erfolgte auf Grundlage einer kategorienbildenden qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2002: 114). Dafür habe ich das Interview- und Protokollmaterial anhand theoretisch hergeleiteter Kategorien systematisiert. Diese Kategorien sind an eine relationale Betrachtung von Beziehungen und Interaktionen angelehnt. Sie erfassen kontextuelle und kulturelle Einbettungen sowie strukturelle und symbolische Beziehungsaspekte. Symbolische Grenzen bilden die erste Kategorie.18 Diese werden über semantische Gruppen-Klassifikationen durch die Befragten sowie durch von ihnen wahrgenommene Distanzen in einer Kategorie gruppiert. In der zweiten Kategorie sind unterschiedliche beteiligte Interakteure zusammengefasst, die Interaktionen und Kommunikationen ausführen.19 Über die Identifikation konkreter Interakteure und ihrer jeweiligen Handlungen und Funktionen für den Vernetzungsprozess wird die soziale Struktur der interorganisationalen Vernetzung deutlich.20 Die symbolischen Grenzen können extern zugeschrieben sein, werden jedoch zum Teil von den Interakteuren selbst gezogen. Daher sind die Kategorien „Interakteure“ und „symbolische Grenzen“ bei der Analyse und Typenbildung eng miteinander verbunden. Die dritte Kategorie unterscheidet zwischen verschiedenen Kontexten interreligiöser interorganisationaler Begegnung. Begegnungskontexte stellen räumlich und zeitlich eingegrenzte Bereiche dar, innerhalb derer interreligiöse Interaktionen stattfinden und sich interreligiöse interorganisationale Beziehungen herausbilden (können). Als vierte Kategorie unterscheide ich verschiedene Beziehungsarten zwischen Brokern, Gatekeepern und den von letzteren vertretenen Organisationen. Damit definiere ich die Art der Verbindung zwischen Interakteuren. Diese Beziehungsarten sind weiter in konkrete Beziehungsinhalte, das heißt Handlungen, auf denen Verbindungen basieren, unterteilt. Im Gegensatz zu
18 Die Kategorien sind hier nach absteigender Hierarchie innerhalb des Typenbildungsverfahrens aufgeführt. 19 Der Begriff Interakteur verweist auf die im Relationalismus zentrale intermediäre Beziehungs- und Handlungsebene und ist angelehnt an Häußling (2008: 65). 20 Das ist insofern naheliegend, als Lamont und Molnár (2002:169) darauf hinweisen, dass sozialen Grenzen symbolische Grenzen zugrunde liegen.
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den abstrakten Beziehungsarten, wie zum Beispiel Freundschaft oder Zusammenarbeit, sind Beziehungsinhalte sehr konkret und definieren, was in Interaktionen zwischen Akteuren genau passiert. Ein solcher Beziehungsinhalt ist etwa das gemeinsame Planen und Durchführen von JugendSpielkreisen. Um der Dynamik interreligiöser Beziehungen zwischen Organisationen methodisch gerecht zu werden, habe ich mit meinen Interviewpartnern versucht, die Entstehung und Entwicklung der Beziehungen im Zeitverlauf nachzuzeichnen.21 Die daraus gewonnenen Erkenntnisse über verschiedene Verlaufsmuster flossen mit in die Idealtypenbildung ein. Sie tragen insbesondere zu einem besseren Verständnis des Einflusses der Vermittler auf die interorganisationalen Beziehungen bei. Zur besseren Darstellung der Vermittlerfunktion fließen zudem teilweise Charakteristika der Akteure in die Auswertung ein, welche ich in Protokollen zu den Interviews festgehalten habe.
E RGEBNISSE – I DEALTYPEN VON B EZIEHUNGSKONSTELLATIONEN Als Ergebnis der Auswertung konnte ich vier idealtypische Verläufe interreligiös interorganisationaler Beziehungskonstellationen identifizieren: das selbstorganisierte Expertennetzwerk, die verbandliche GemeindenZusammenführung, die kommunalpolitische Migrantenvernetzung und die nachbarschaftliche Vernetzung. Diese Idealtypen basieren auf den unter 3. beschriebenen inhaltsanalytisch herausgearbeiteten Kategorien unter Einbeziehung der Befunde zu dynamischen Beziehungsverläufen. Die folgende Übersicht fasst die wesentlichen Aspekte der idealtypischen Beziehungskonstellationen zusammen, bevor die vier Typen in den nächsten Abschnitten unter explizierender Heranziehung von Interviewauszügen detailliert erklärt werden.
21 Hierfür habe ich gezielt nach Ereignissen und Eckdaten gefragt, die (entweder nach Meinung meiner Interviewpartner oder aufgrund meiner recherchebasierten Vorannahmen) einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Beziehungen ausgeübt haben könnten.
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Tabelle 1: Übersicht idealtypischer Beziehungskonstellationen und zugrunde liegende analytische Kategorien
Typ 1 Selbstorganisiertes Expertennetzwerk
Typ 2 Verbandliche GemeindenZusammenführung
Typ 3 Kommunalpolitische Migrantenvernetzung
Typ 4 Nachbarschaftliche Vernetzung
Begegnungskontext
Persönlich bewegende Ereignisse
Verbandliche Veranstaltungen
Integrationsprojekte Informationsveranstaltungen der Stadt
Nachbarschaft Stadtteil
Interakteure
Religiöse Experten und Vorstandsmitglieder
Organisatorische Leiter religiöser Gemeinschaften Verbandsvertreter
Politiker Externe Vermittler Vertreter von Migrantenorganisationen
Alle Organisationsmitglieder
Beziehung
Interindividuell Eng Multiplex
Extern formalisiert Intern teilweise sehr eng
Professionell Strategisch
Langfristig Eng Multiplex Direkt
Symbolische Grenzen
Theologische Anerkennung
Theologische Anerkennung Sympathie
Migrationshintergrund Verbandliche Zugehörigkeit
Nachbarschaft StadtteilZugehörigkeit
Typ 1: Selbstorganisiertes Expertennetzwerk Unter dem ersten Beziehungskonstellationstyp selbstorganisiertes Expertennetzwerk sind interreligiöse Vernetzungen zwischen Einzelpersonen mit und ohne organisationale Anbindung subsummiert. Diese Einzelpersonen zeichnen sich durch ein großes Ausmaß an religiösem Wissen und Intellek-
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tualität sowie ein relativ hohes Durchschnittsalter aus. Die meisten von ihnen sind oder waren Theologen in religiösen Organisationen. Aufgrund der besonderen Zusammensetzung der Interakteure sind die Vernetzungskonstellationen dieses Beziehungskonstellationstyps ziemlich exklusiv. Der Begegnungskontext, in dem bei einem selbstorganisierten Expertennetzwerk Beziehungen entstehen und Interaktionen stattfinden, ist relativ variabel. Er reicht im Einzelfall von der Nachbarschaft der räumlichen Zentren von Gemeinden bis zu den Grenzen eines Kirchenkreises. Interaktionen zwischen religiösen Organisationen entstehen vor allem in Reaktion auf dramatische Ereignisse und Erfahrungen wie humanitäre Krisen. Bekannteste Beispiele sind die als Reaktion auf den Holocaust gegründeten Initiativen zur christlich-jüdischen Zusammenarbeit, von denen es in Deutschland mittlerweile über 80 gibt (vgl. http://www.deutscherkoordinierungsrat.de, Zugriff am 07.10.2011). Der langfristige Sinn von Interaktionen im Rahmen dieser Beziehungskonstellation ist laut meinen Interviewpartnern konstruktiver interreligiöser Austausch. Dieser ist grundsätzlich an den Problemlagen und Einstellungen religiöser Gemeinden oder größerer religiöser Gemeinschaften ausgerichtet. Einbezogen werden daher gezielt solche Interakteure, die sowohl über eine gewisse religiöse Repräsentationsfähigkeit als auch über theologische Kompetenz verfügen. Dabei werden zwar Organisationen und Einzelpersonen mit einem gemeinsamen regionalen Bezugsrahmen (Ansässigkeit in derselben Nachbarschaft oder demselben Stadtteil) gewählt. Wichtiger ist jedoch die repräsentative sowie theologische Eignung der Interakteure. Eine interreligiöse Initiative rekurrierte beispielsweise auf den abrahamitischen Bezug von Judentum, Christentum und Islam als Bindeglied. Die Beteiligung des Repräsentanten einer jüdischen Gemeinde an der Initiative war entscheidend für deren Programmatik. Da allerdings in der Stadt, in der die Initiative ihren Sitz hat, keine Synagoge existiert, wurde der gemeinsame örtliche Bezugsrahmen vernachlässigt beziehungsweise erweitert und ein Vorbeter aus der nächstgelegenen Synagoge in die Interaktionen einbezogen. Derselbe Vorbeter beteiligte sich auch an interreligiösen Aktionen einer Dialoginitiative aus einer weiteren Stadt, in der sich ebenfalls keine Synagoge befindet. Auf diese Weise erweiterten jüdische Interaktionspartner den örtlichen Rahmen dieser Beziehungskonstellation. Die Interakteure in dieser Beziehungskonstellation sind vorwiegend protestantische, katholische und jüdische Geistliche, Vorstandsmitglieder
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muslimischer Vereine mit unterschiedlicher verbandlicher Zugehörigkeit und religiöse Experten, die keine Funktion (mehr) in einer religiösen Organisation bekleiden. In der untersuchten Stadt sind die Interakteure vorwiegend ältere, intellektuelle Herren. Interaktionen und Aktivitäten sind in der Regel so gestaltet, dass sie keine aktive Teilnahme von Kindern oder Jugendlichen anvisieren. Während die jüdische Gemeinde bei geschlossenen Veranstaltungen stets alle Altersgruppen einbindet, bleibt die interreligiöse Beziehung auf einen kleinen Kreis älterer Experten beschränkt. In ihm findet ein Austausch zwischen Intellektuellen statt, der wenig anschlussfähig für die religiösen Organisationen als Ganze bzw. für ein breiteres Spektrum der Mitglieder der Organisationen ist. Deutlich wird das unter anderem bei den ersten Versuchen, regelmäßige theologisch-inhaltliche Treffen zu etablieren. Seit Anfang des Jahres findet ein Bibel-Koran-Lesekreis in Zusammenarbeit einer Moscheegemeinde mit den Mitgliedern einer nahegelegenen christlichen Gemeinde statt. Teilnehmer sind auch hier lediglich eine Handvoll älterer Personen mit umfangreichem religiösem Wissen. Der Kreis ist bewusst auf eine kleine und sehr erlesene Auswahl von Gemeindemitgliedern beschränkt und trifft sich ohne öffentliche Ankündigung. Gemeindemitglieder, die nicht zum Kreis der religiösen Experten gehören, haben lediglich die Möglichkeit, den gelegentlich stattfindenden öffentlichen theologischen Diskussionen und Auslegungen dieser Experten als Publikum beizuwohnen. Des Weiteren entscheiden in diesem Typ symbolische Grenzziehungsstrategien der religiösen Interakteure über die soziale Abgrenzung nach außen. Für die Auswahl von organisationalen Interaktionspartnern ist die Anerkennung der jeweiligen religiösen Tradition entscheidend. Während in einem Fall von einem katholischen Vertreter Freikirchen als Sekten angesehen werden, akzeptieren die überwiegend sunnitischen Muslime alevitische und Ahmadiyya-Gruppierungen nicht als Muslime. Vertreter dieser drei Richtungen werden daher als Interaktionspartner abgelehnt. Beziehungen werden nur zu Organisationen aus denjenigen religiösen Traditionen unterhalten, deren Mitglieder auch als Vertreter einer anerkannten Religion gelten. Diese Grenzziehungsstrategie spiegelt sich auch in individuellen Motivationen zur interreligiösen interorganisationalen Interaktion wider. Einer der Interakteure verdeutlicht dies durch die Beschreibung einer kollektiven Identifikation als Gläubige: „Wir verstehen uns, Juden, Christen, Muslime, als Gläubige und wir wollen das auch gemeinsam zum Ausdruck
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bringen“. Die christlichen Broker bezwecken in diesem Beispiel vorwiegend den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses mit den Vertretern anderer abrahamitischer Religionen. Es soll als Grundlage für einen langfristig angestrebten theologischen Austausch und den Abbau von Diskriminierung und Vorurteilen dienen. Da theologischer Austausch ein mittelbares Ziel dieser Vernetzungsform darstellt, sind von vornherein theologisch unvereinbare Interaktionskonstellationen ausgeschlossen. Ein identifikatives Bindeglied zwischen Organisationsvertretern stellt der abrahamitische Bezug ihrer religiösen Offenbarungen dar. Er fungiert als Minimalkonsens im Glauben (vgl. hierzu auch Nagel in diesem Band). Beispielsweise ist für christliche und muslimische Vertreter das Lernen von der offenbarungsgeschichtlich chronologisch vorgelagerten Tradition Judentum relevant. Das gemeinsame historische Erbe wird als einigkeitsstiftender kollektiver Bezugsrahmen anerkannt, der eine gemeinsame Identifikation rechtfertigt. Strukturell zeichnet sich diese Beziehungskonstellation durch eine Intensivierung der Beziehungen zwischen den Akteuren im Zeitverlauf aus. Ursprünglich schwache, einseitig gerichtete Beziehungen entwickeln sich zu engen und teilweise multiplexen Beziehungen. Multiplexität von Beziehungen bedeutet, dass sich verschiedene Inhalte in den Beziehungen zwischen Organisationsvertretern überlagern. Während am Anfang einer für diesen Beziehungskonstellationstyp charakteristischen Vernetzungskonstellation beispielsweise das Mitgefühl von Christen gegenüber Muslimen oder moralisch motivierte, gemeinsame Initiativen-Gründungen durch Juden und Christen stehen, kommen allmählich zu diesen Verbindungen weitere hinzu. Die Mitglieder der Initiativen freunden sich nach und nach an und organisieren gemeinsame Veranstaltungen. Außerdem entwickeln sich konkrete Unterstützungsleistungen wie Hilfe im Umgang mit kommunalen Behörden oder öffentliche Fürsprache. Diese Dynamik der Beziehungskonstellation wird vor allem durch die Veränderung der Beziehungsinhalte im Zeitverlauf deutlich. Die Initiatoren der Vernetzung verfolgen dabei zunächst bewusst konkrete Ziele. Sie beabsichtigen etwa, mit der interreligiösen Auseinandersetzung Vertrauensverhältnisse zu etablieren, um sowohl den sozialen Zusammenhalt zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen vor Ort zu stärken als auch eine Grundlage für theologischen Austausch zu schaffen. Jüdische und christliche Gläubige und Organisationsvertreter gründeten beispielsweise als Reaktion auf den Holocaust gemeinsame Dialoginitiativen zur Etablierung einer sozialethischen Opposition zu religiös
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fundierten, gesellschaftlichen Spaltungstendenzen. Demnach stehen in jüdisch-christlichen Interaktionen positiv konnotierte Aktivitäten im Vordergrund, die eine Einheit nach außen vermitteln. Dazu zählt die gemeinsame Ausrichtung von Aufklärungs- und Kulturveranstaltungen sowie Festen. Die Vernetzung mit muslimischen Organisationen resultiert aus Interaktionsbemühungen christlicher Organisationsvertreter. Erste Kontakte zu muslimischen Gläubigen im institutionellen und diakonischen Kontext führen zu einer Wahrnehmung der Anwesenheit und der Bedürfnisse muslimischer Gläubiger im Alltag. Verschiedene Schlüsselereignisse führen in der Folge zu einer Kontaktaufnahme mit den muslimischen Organisationen vor Ort. Beispielsweise setzte sich ein katholischer Geistlicher angeregt durch die päpstliche Initiierung der interreligiösen Gebete von Assisi für die Organisierung eines interreligiösen Gottesdienstes in seinem Ort ein. Ein weiteres Beispiel ist eine in Reaktion auf ausländerfeindliche Anschläge in Hoyerswerda, Mölln und Solingen Anfang der 90er Jahre von einem protestantischen Geistlichen mit verschiedenen Gemeindemitgliedern über religiöse und organisationale Grenzen hinweg organisierte Telefonkette. Diese sollte eine gemeinsame Bewältigung dieser schrecklichen Ereignisse ermöglichen. Im Laufe der Zeit erwiderten die adressierten muslimischen Organisationsvertreter die Kontaktaufnahme, zunächst ebenfalls mit instrumentellen Beziehungen. Sie nahmen das Angebot der christlichen Geistlichen an, ihre Interessen öffentlich zu unterstützen und eine Schnittstelle zu den kommunalen Institutionen darzustellen. Anerkennungsforderungen und religiös begründete Probleme im institutionellen Kontext rücken so ins Zentrum der Interaktionen zwischen Organisationen über religiöse Grenzen hinweg. Die Unvereinbarkeit muslimischer Feiertage mit schulischen Verpflichtungen und Schwierigkeiten mit behördlichen Vorgaben zu den Bauvorhaben von Moscheegemeinden sind Beispiele für Problemlagen, die lange Zeit die interreligiösen Interaktionen inhaltlich bestimmen (vgl. Suder in diesem Band). Ein katholischer Pfarrer beschreibt die dabei geleistete Hilfe als Unterstützung der religiösen Praxis von Muslimen: „Wir [die christlichen Geistlichen, N.S.] waren so die Befürworter dafür, und das ist mir ja auch ein persönliches Anliegen, dass die muslimischen Menschen ihren Glauben auch hier leben können.“ Diese problemlösungsorientierte Vernetzung findet tendenziell in christlich-muslimischen Initiativen statt. Jüdische Interakteure nehmen in diesen Fällen eine Randstellung ein.
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Aus der institutionalisierten Beziehung zwischen einer jüdischen und verschiedenen christlichen Gemeinden im Rahmen einer christlichjüdischen Dialoginitiative hat sich über Jahre eine Beziehungskonstellation entwickelt, die vorwiegend auf die gemeinsame Planung und Organisation von Kulturveranstaltungen ausgerichtet ist. Im Falle christlichmuslimischer Beziehungen führen hohe persönliche Motivation und großes Engagement der Geistlichen über Jahre zu einer Intensivierung und wachsenden Vielfalt der interreligiösen Beziehungen zwischen Organisationen der beiden Religionen. Sie entwickeln sich von primär instrumentellen zu freundschaftlichen und teilweise sehr multiplexen Beziehungen. Ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis sehen alle Interakteure überwiegend als realisiert an. Die Gatekeeper bezeichnen sich gegenseitig als Freunde und begegnen sich sowohl im institutionellen und organisationalen Rahmen als auch im Alltag. Regelmäßig werden gemeinsame Aktivitäten wie interreligiöse Gottesdienste und Feste, Bildungsreisen in die Türkei, gegenseitige Besuche zu religiösen Feiertagen und Treffen im Rahmen von interreligiösen Dialoginitiativen gemeinsam geplant und durchgeführt. Darüber hinaus erfolgen private Besuche, z.B. zu Geburtstagen oder Hochzeiten, und Begegnungen im Berufsalltag, z.B. beim Einkaufen im Lebensmittelgeschäft des Vertreters der muslimischen Organisation. Typ 2: Verbandliche Gemeinden-Zusammenführung Der im Folgenden vorgestellte Beziehungskonstellationstyp verbandliche Gemeinden-Zusammenführung beschreibt interorganisationale Vernetzung in Abhängigkeit von verbandlichen Zugehörigkeiten der vernetzten Organisationen. Beziehungen bestehen entweder innerhalb verbandlicher Grenzen, d.h. unter Mitgliedsorganisationen desselben Verbandes bzw. derselben Dachorganisation, oder sind das Resultat der Zusammenführungsbemühungen von Dachorganisationen. Es werden demnach in den interorganisationalen Beziehungen zwar konfessionelle, nicht aber übergeordnete religiöse Grenzen überwunden. Darunter fallen also beispielsweise Interaktionen zwischen verschiedenen christlichen Konfessionen (Freikirchen, Methodisten, Protestanten, Katholiken), nicht jedoch Interaktionen zwischen muslimischen und christlichen oder mennonitischen und jüdischen Organisationen.
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Typbildender Begegnungskontext sind hier Interaktionsräume. Interaktionsräume sind entweder an eine gemeinsame Mitgliedschaft verschiedener religiöser Gemeinschaften in derselben Dachorganisation (muslimischer Verband, eine der als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannten Großkirchen oder als Vereine organisierte Dachorganisationen wie die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen) oder an theologisch-inhaltliche Ähnlichkeiten verschiedener Organisationen und Dachverbände gekoppelt. Die Interaktionen resultieren unter anderem aus Inklusionsbemühungen durch eine Dachorganisation oder Großkirche und werden von religiösen Verbänden geschaffen, z.B. zu ökumenischen Zwecken. In der Regel fungiert eine religiöse Dachorganisation als Bindeglied und Vermittler zwischen lokalen religiösen Organisationen. Sie organisiert beispielsweise regelmäßige inhaltliche Treffen, bietet Fortbildungen für Mitglieder an und unterstützt die Entstehung und Vernetzung lokaler Untergruppierungen, die ebenfalls mehrere Organisationen in sich vereinen. Interakteure sind ausschließlich Funktionsträger religiöser Gemeinschaften. Sie stellen interorganisationale Verbindungen her, indem sie in persönlichen Treffen die Grundlage für gemeinsame Aktivitäten ihrer Organisationen legen oder theologische Gemeinsamkeiten definieren. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass Interakteure durch ihre Funktion als gleichzeitige Vertreter mehrerer Organisationen personalisierte interorganisationale Bindeglieder darstellen. Im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) und ihrer Unterorganisationen werden beide Möglichkeiten der interorganisationalen Vernetzung realisiert. Gemeindeleiter und Pastoren von christlichen, katholischen, orthodoxen und freikirchlichen Gemeinden treffen sich im Rahmen von ACKMitgliederversammlungen. Bei diesen werden vorwiegend theologische Informationen ausgetauscht und gemeinsame Standpunkte ausgehandelt. Darüber hinaus wählen die Mitglieder der Untergruppierungen auf Kommunal- und Landesebene Vorsitzende, die in Kontakt zu allen Mitgliedsgemeinden stehen und versuchen, deren Interessen zu bündeln und zu vertreten.22
22 Vgl. hierzu die Homepage der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Nordrhein-Westfalen: http://www.ack-nrw.de/index.php?cat_id=8103, Zugriff am 15.05.2012.
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Über die auf dieser Beziehungskonstellation beruhenden Beziehungsarten, deren Dynamik und symbolische Grenzziehungen ist mir aus meiner bisherigen Forschung wenig bekannt. Das liegt insbesondere daran, dass die Teilnahme an den Interaktivitäten im Rahmen dieses Beziehungskonstellationstyps Mitglieder-Vertretern vorbehalten ist. Die Aussagen meiner Interviewpartner lassen daher nur einige erste Vermutungen über die Ausprägungen innerhalb dieser Kategorien zu. Die symbolischen Grenzziehungen in diesem Beziehungskonstellationstyp orientieren sich dem Anschein nach wie beim ersten Typ primär an kollektiven theologischen Anerkennungen. Im Beziehungskonstellationstyp verbandliche GemeindenZusammenführung geben sich die Interakteure jedoch mit einem theologischen Minimalkonsens als kollektiv identitätsstiftendem Kompromiss zufrieden. Der Minimalkonsens im Glauben ist Voraussetzung für die Möglichkeit zur Interaktion. Die Vereinbarkeit unterschiedlicher theologischer und teilweise auch politischer Standpunkte wird jedoch immer wieder neu ausgehandelt, weshalb interorganisationale Beziehungen im Zeitverlauf ständigen Schwankungen in Nähe und Intensität unterliegen. Das Zustandekommen von interorganisationalen Aktivitäten auf Gemeindeebene hängt von Sympathien, theologischer und politischer Einigkeit zwischen den Gatekeepern sowie von deren genereller Toleranz und Offenheit ab. Dies belegt unter anderem die Gastpredigt des Mitgliedes einer Baptisten-Gemeinde bei einer Mennoniten-Gemeinde. Die Predigt kam nur zustande, da sich der Baptist und der Leiter der Mennonitengemeinde bei regelmäßigen Treffen im Rahmen der Evangelischen Allianz, einem Zusammenschluss von überwiegend freikirchlichen Gemeinden in Deutschland, und Gebetstreffen einiger Mitglieder kennengelernt und angefreundet hatten.
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Typ 3: Kommunalpolitische Migrantenvernetzung Der in diesem Abschnitt dargestellte Beziehungskonstellationstyp kommunalpolitische Migrantenvernetzung ist im Wesentlichen durch den Migrationsbezug der vernetzten religiösen Organisationen und den politischen Rahmen geprägt, in dem Interaktionen zustande kommen. Die in diesem Typ zusammengefassten interreligiösen Beziehungen zwischen Vertretern von Organisationen mit eindeutigem Migrationsbezug sind stark durch externe politische Broker geprägt. Beziehungen zwischen religiösen Organisationen können nicht nur durch religiöse Experten oder religiöse Verbände hergestellt, sondern auch kommunalpolitisch initiiert werden, zum Beispiel durch Mitglieder des Integrationsbüros oder einzelne Kommunalpolitiker. Interaktionen kommen in Sitzungen des Integrationsrates der Stadt (früher Ausländerbeirat), bei vom Integrationsbüro initiierten Vernetzungs- und Informationsveranstaltungen oder Zusammenkünften im Rahmen der Planung und Durchführung von befristeten Integrationsprojekten zustande. Interaktionen im Rahmen dieser Beziehungskonstellation finden dementsprechend vorwiegend in den Räumlichkeiten von kommunalen Institutionen statt. Der zentrale Begegnungskontext ist folglich die Kommune, in der eine Organisation ihren Sitz hat oder ein Großteil der Mitglieder wohnt. Die Interakteure sind sowohl gewählte und nicht gewählte Vertreter von Migrantenorganisationen als auch städtische Angestellte, z.B. Mitarbeiter des kommunalen Integrationsbüros, Kommunalpolitiker und interkulturelle Mediatoren. Obwohl in diesem Interaktionsrahmen religiöse Zugehörigkeit keine Teilnamevoraussetzung darstellt, treffen ausschließlich Vertreter verschiedener religiöser Organisationen aufeinander. Das hängt damit zusammen, dass ethnische und religiöse Vergemeinschaftung häufig zusammenfallen. Türkisch-muslimische Vertreter bilden in diesen Interaktionen aufgrund der hohen Anzahl von türkisch-muslimischen Organisationen ein quantitatives Übergewicht. Symbolische Grenzziehungen in diesem Beziehungskonstellationstyp orientieren sich an dem Migrationsstatus und der verbandlichen Zugehörigkeit der Interakteure. Die Anerkennung eines kollektiven Migrationshintergrundes von Organisationsmitgliedern ist entscheidend für die Einbeziehung der Organisationen an Interaktionen. Dafür ist maßgeblich, dass der Großteil der Mitglieder einer Organisation den gleichen Migrationsbezug
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(z.B. russischstämmig oder türkischstämmig) aufweist. Es ist jedoch unerheblich, wie viele Generationen die Zuwanderung bereits zurückliegt. Die sich herausbildenden interorganisationalen Beziehungen sind in diesem Fall nicht nur von der symbolischen Grenzziehung der Gatekeeper, d.h. derjenigen Organisationsmitglieder, die Außenkontakte von Organisationen ermöglichen oder verhindern, beeinflusst. Auch die symbolischen Grenzziehungsstrategien der Broker, d.h. in diesem Fall Initiatoren und Schirmherren dieser Interaktionen, beeinflussen die einzelnen Beziehungen zwischen den Interakteuren. Die Broker kategorisieren die Organisationsvertreter primär in Abhängigkeit von deren verbandlicher Zugehörigkeit. So sprach beispielsweise ein Kommunalpolitiker im Interview immer von „Verbänden“ anstelle von Gemeinden oder (Migranten-)Organisationen. Auf diese Weise gruppierte er die Beziehungspartner nicht primär in Abhängigkeit von ihrer religiösen Einstufung, sondern im Sinne einer politischen Logik entlang von übergeordneten Interessenvertretungen. In diesem Typ variieren Beziehungsinhalte weniger im Zeitverlauf als vielmehr in Abhängigkeit von der jeweiligen Interaktionssituation, genauer gesagt von der Ausrichtung konkreter Interaktionen. Einerseits konkurrieren alle Organisationen untereinander um die Vergabe öffentlicher Gelder, beispielsweise um finanzielle Unterstützungen für Kulturveranstaltungen, für die es oft kleine kommunale Jahresbudgets gibt. Andererseits bilden Vertreter türkisch geprägter Organisationen identifikative Allianzen, wenn es beispielsweise um die Einführung muttersprachlichen Unterrichts an öffentlichen Schulen geht. In diesem Zusammenhang berichtet eine Vertreterin des Integrationsbüros: „[W]ir streiten uns über muttersprachlichen Unterricht […] und der türkische Vorsitzende der türkischstämmige sagt, ja ich bin aber nur dafür, wenn eben wenig Geld da ist, dass wir es für Türkisch machen. Wir sind die Meisten.“ In diesem Beispiel werden innerhalb der Minderheitengemeinschaft Mehrheitsargumente herangezogen, um sich gegen eine Konkurrenz innerhalb der Minderheitengemeinschaft durchzusetzen. Der Einbindung von Brokern (wie Kommunalpolitikern, Mediatoren und Angestellten des Integrationsbüros) ist es zu verdanken, dass auch solche Organisationen miteinander in Kontakt treten, die ansonsten keine Beziehungen zueinander hätten. Nahezu alle befragten Organisationen nannten das kommunale Integrationsbüro als einen sehr wichtigen Beziehungspartner. Außerhalb des öffentlichkeitswirksamen Raumes besteht für man-
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che Organisationen anscheinend keine intrinsische Motivation für Interaktionen. Dies ist vermutlich ein Grund, weshalb aus diesen Interaktionen kaum darüber hinausgehende interorganisationale Beziehungen entstehen. Die Beziehungen sind oberflächlich, bestehen eher kurzfristig oder nur nominell und betreffen oft nur einen kleinen Teil der Organisationsmitglieder. In einer kommunalen Integrationsvereinbarung wurde beispielsweise eine Organisation offiziell als Kooperationspartner ausgewiesen, der an der Entstehung der Vereinbarung beteiligt gewesen sei. Tatsächlich hatte sich jedoch einzig die Frauengruppe dieser Organisation in den Entstehungsprozess eingebracht, wohingegen die männlichen Vereinsmitglieder diese Vereinbarung sogar abgelehnt hatten. Andere Organisationen beteiligten sich lediglich an den öffentlichkeitswirksamen Auftritten zur Präsentation der Vereinbarung und nicht an den eigentlichen Interaktionen zwischen den Organisationsvertretern in deren Entstehungsprozess. Dennoch wurden sie ebenfalls als Kooperationspartner in der Vereinbarung genannt. Neben der Chance eines Zugangs zu einflussreichen kommunalpolitischen Institutionen und Informationen ist demnach die Möglichkeit zur positiven Außendarstellung einer Organisation und einer ganzen Migrantengemeinschaft ein weiterer möglicher Grund für eine Begegnung ansonsten nicht interagierender Organisationen und ihrer Vertreter. Typ 4: Nachbarschaftliche Vernetzung Unter dem Beziehungskonstellationstyp nachbarschaftliche Vernetzung fasse ich interreligiöse Beziehungen zwischen Organisationen zusammen, die auf der Nachbarschaft ihrer räumlichen Zentren (Gebäude oder Räume, in denen gemeinschaftlich religiös praktiziert wird) und der Wohnorte der Organisationsmitglieder basieren. Die gleichzeitige Nachbarschaft von Zentren und Organisationsmitgliedern geht einher mit besonders engen und multiplexen interorganisationalen Beziehungen. Religiöse Unterschiede verlieren nahezu vollständig ihre identifikative Bedeutung zu Gunsten der kollektiven Zuordnung zu demselben Einzugsgebiet. Im Vergleich zu den vorherigen Typen ist dieser durch besonders intensive multiplexe Beziehungen zwischen wenigen Organisationen gekennzeichnet. Deren räumliche Zentren (z.B. Kirche, Vereinsraum oder Moschee) weisen eine relativ geringe geografische Distanz zueinander auf. In einem konkreten Fall beträgt die Entfernung zwischen ihnen weniger als
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einen Kilometer. Die räumliche Nähe stiftet eine Verbindung zwischen den Organisationen. Sie bietet nicht nur Begegnungsmöglichkeiten. Die Befragten bezeichneten teilweise die Nachbarschaft selbst als identifikative Verbindung zu einer anderen religiösen Organisation. Diese Nachbarschaft stellt an sich einen Begegnungskontext dar, der vielfältigen Raum für Interaktionen bietet. Nachbarschaftliche Vernetzung kann entweder extern vermittelt oder von Seiten der Organisationen initiiert sein. Im Fall einer jüdischen und einer methodistischen Gemeinde wurde die Zusammenarbeit durch eine städtische Beamtin vermittelt. Als der methodistische Pfarrer bei der Stadt um finanzielle Förderung für die eigene Jugendarbeit bat, gab sie zur Antwort, man könne keine religiösen, wohl aber integrative Projekte fördern. Deshalb empfahl sie, dass sich die methodistische Gemeinde mit der jüdischen Gemeinde, die ja auch gleich um die Ecke sei, zusammentun solle. Denn deren Mitglieder stammten fast alle aus der ehemaligen Sowjetunion und man könne die Kooperation daher als Integrationsprojekt verkaufen. Man begann mit einer gemeinsamen Jugendarbeit. In der Folge weiteten sich die Beziehungen aus und es wurden zunehmend auch ältere Gemeindemitglieder in diese einbezogen. Zudem wurden die Beziehungsinhalte insgesamt vielfältiger. Ein Beispiel für eine nicht von externer Seite initiierte Beziehungsentwicklung ist die Einrichtung einer Telefonkette zwischen verschiedenen Mitgliedern aus einer muslimischen und einer protestantischen Organisation als Reaktion auf die ausländerfeindlichen Übergriffe in Solingen, Hoyerswerda und Mölln Anfang der 90er Jahre. Der Pfarrer der protestantischen Kirche nahm mit der nächstgelegenen türkisch geprägten Moschee Kontakt auf, um zukünftig bei ähnlichen Übergriffen sofort Hilfe anbieten zu können. Während die Beziehungen also zunächst eher einseitig gerichtet sind, vervielfältigen sie sich im Zeitverlauf und weiten sich auf größere Teile der beteiligten Organisationen aus. Konkrete Beispiele für interorganisationale Beziehungsinhalte sind die gemeinsame Planung und Durchführung von Nachbarschaftsfesten, Musik- und Tanzveranstaltungen, religiösen Bildungsreisen wie die zu einem interreligiösen Museumsdorf in Holland sowie regelmäßigen Frauen- und Jugendtreffs. Langfristig in Beziehung stehende Interakteure sind Organisationsvertreter, wie Pfarrer oder Vereinsvorsitzende, und Vertreter von Teilgruppen, wie Frauen- und Jugendgruppenleiter. Interaktionen finden dementspre-
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chend auf verschiedenen organisationalen Ebenen und in unterschiedlichem Rahmen statt. Kurz- und mittelfristig sind teilweise auch organisationsexterne Broker, wie städtische Angestellte oder Mitglieder einer lokalen interreligiösen Arbeitsgemeinschaft, in die Interaktionen eingebunden. Die interorganisationale symbolische Grenzziehung der Broker und Gatekeeper steht in engem Zusammenhang mit der Entscheidung, Beziehungen zu anderen religiösen Organisationen aufzunehmen. Die Identifikation als Teil einer Nachbarschaft oder eines Stadtteils trägt beispielsweise dazu bei, dass die Akteure es für sinnvoll erachten, bevorzugt Organisationen aus dieser Nachbarschaft oder diesem Stadtteil miteinander zu vernetzen und dafür Organisationen außerhalb dieser identifikativen Gemeinschaft zu vernachlässigen. So betonte beispielsweise ein Vorstandsmitglied einer Moscheegemeinde in einem Interview: „Aber natürlich, das ist so häufig geworden, sagen wir mal mit unseren Kirchen wie mit der katholischen, St. Michael23, oder evangelischen Kirchen, man kann sich ja nicht überall verteilen. Man kann ja nicht immer mitmachen. Deswegen, weil wir in der Südstadt sind, eher lieber intern in der Südstadt.“ Die Beschreibung der Zusammenarbeit als eine „interne“ ist ein Indikator dafür, dass der Moscheevertreter die Südstadt als soziale Gemeinschaft und die Moschee als einen integrativen Teil dieser Gemeinschaft begreift. Die Auswahl der Beziehungspartner wird also durch Broker und Gatekeeper gesteuert, die nicht selten im Laufe der Zusammenarbeit Freundschaftsbeziehungen zueinander aufbauen. Langfristig weiten sich die interorganisationalen Beziehungen auch auf große Teile der Gemeinden aus, werden vielfältiger und unabhängig von der Steuerung durch Broker und Gatekeeper. Im Vergleich zu den anderen Beziehungskonstellationen ist diese durch eine besonders umfassende und vielfältige Vernetzung der Organisationen gekennzeichnet.
F AZIT In diesem Beitrag ging es mir darum, zu zeigen, dass sich strukturelle und kulturelle Kontexte in der wissenschaftlichen Betrachtung der Realität nicht trennen lassen. Sie beeinflussen sich nicht nur gegenseitig, sondern fallen
23 Name anonymisiert.
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teilweise sogar zusammen. Während empirische Studien diese Verbindung bisher vernachlässigen, legt das Grenzkonzept von Lamont und Molnár deren Erforschung über den Hinweis, dass soziale symbolische Grenzen vorgelagert sind, nahe. Ein umfassendes theoretisches Instrumentarium zur Berücksichtigung dieser Verbindung liefert der soziologische Relationalismus. Er verbindet Struktur mit Semantik und Kultur in einer dynamisch und situativ eingebetteten Betrachtungsweise. Um diese Verbindung empirisch zu zeigen, habe ich vier idealtypische Beziehungskonstellationen interreligiöser Vernetzung zwischen Organisationen identifiziert, die einer Körperschaft des öffentlichen Rechts untergliedert sind, sich selbst als religiös bezeichnen oder von außen als religiös eingestuft werden. Wie Broker und Gatekeeper in diese dynamischen Konstellationen eingeflochten sind, bekräftigt die hohe Relevanz der Kombination aus strukturellen, semantischkulturellen und situativen Einflüssen in interreligiösen Beziehungen. Die vier Typen verdeutlichen die Besonderheiten unterschiedlicher Wechselwirkungen struktureller und semantisch-kultureller Einflüsse für die Beziehungen zwischen verschiedenen religiösen Organisationen auf kommunaler Ebene. Damit zeigen sie exemplarisch auf, wie unterschiedliche situative Kopplungen zwischen Semantik, Kultur und Struktur sich in mittelfristigen Sozialbeziehungen manifestieren. Zusammenfassend lassen sich diese Typen und der jeweilige Einfluss von Brokern und Gatekeepern folgendermaßen beschreiben: Unter einem Selbstorganisierten Expertennetzwerk verstehe ich eine Beziehungskonstellation, die auf der Gründung, Formalisierung und Grenzkontrolle religiöser Experten basiert. Sie zeichnet sich durch eine kontinuierliche Intensivierung und Vervielfältigung interpersoneller Beziehungen aus. Als Gründe für eine derartige Beziehungsentwicklung kommen insbesondere das starke persönliche Engagement und Interesse der interagierenden Einzelpersonen sowie deren langfristige Einbettung in diese Beziehungskonstellation in Frage. Die Intensität der Beziehungen zwischen den Gatekeepern spiegelt sich jedoch nicht auf interorganisationaler Ebene wider. Von den Gatekeepern organisierte Interaktionsmöglichkeiten bieten vor allem einen Rahmen, um sich zu informieren oder intellektuell auszutauschen. Begegnungen zwischen Gemeindemitgliedern finden eher in einem exklusiven Kreis aus theologisch interessierten Einzelpersonen mittleren bis höheren Alters statt.
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Verbandliche Gemeinden-Zusammenführungen stellen eine Beziehungskonstellation dar, die auf der Zugehörigkeit verschiedener religiöser Gemeinden zu derselben Dachorganisation beruht. Da Verbände tendenziell großes Interesse an der Zusammenarbeit ihrer Mitgliedsgemeinden haben, findet eine kontinuierliche externe Mediation statt. Verbandliche Broker fördern die formelle und kulturelle Homogenisierung zwischen untergliederten Organisationen. Diese ist Grundlage für weitreichende Kooperationen, die im Fall einer zusätzlichen Sympathie und EinstellungsÜbereinstimmung zwischen involvierten Gatekeepern die Entstehung von besonders engen und multiplexen Beziehungen zwischen religiösen Organisationen vermuten lassen. Allerdings können die Wirkmechanismen auf der Mikroebene interindividuellen Handelns und der Mesoebene verbandlichen Wirkens auch miteinander konkurrieren. Kommunalpolitische Migrantenvernetzung ist als ein symbolischer Akt zu betrachten. Beteiligte Organisationen (beziehungsweise deren Vertreter), Broker und Gatekeeper finden auf Grundlage eines inhaltlichen Minimalkonsenses zusammen, um ein Zeichen für die Öffentlichkeit zu setzen. Die öffentlich dargestellte Verbundenheit der Organisationen ist enger als die tatsächlichen interreligiösen interorganisationalen Beziehungen. Letztere existieren in manchen Fällen nur auf dem Papier. Nachbarschaftliche Vernetzung zeichnet sich durch eine besonders enge und multiplexe Verbundenheit von Organisationen aus, deren räumliche Zentren nah beieinander liegen. Das Besondere an diesem Typ ist, dass die Mitglieder benachbarter religiöser Organisationen durch räumliche Nähe über vielfältige Begegnungsmöglichkeiten in unterschiedlichsten Kontexten (Freizeit, religiöse Praxis, ehrenamtliches Engagement, Beruf) verfügen. Wohnen die Mitglieder in der Nähe des Gemeindegebäudes, steigert dies zusätzlich die Begegnungsmöglichkeiten. Die Chancen einer alltäglichen Begegnung bieten Raum für langfristige Beziehungsentwicklungen und intensivierungen mit verhältnismäßig geringem Zeitaufwand. Für den Aufbau und die Aufrechterhaltung von multiplexen Beziehungen müssen die Organisationsmitglieder beispielsweise keine langen Anfahrten auf sich nehmen. Hinzu kommt, dass die Gemeindemitglieder mit der Nachbarschaft einen gemeinsamen identifikativen Bezugsrahmen teilen. Religiöse Unterschiede rücken teilweise in den Hintergrund, indem sie von dem gemeinsamen Zugehörigkeitsgefühl und gleichen sozialen Verantwortungsbereich überlagert werden. In diesem Typ spielen Broker und Gatekeeper im
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Zeitverlauf eine eher untergeordnete Rolle. Sie sind eher Stein des Anstoßes, indem sie einen ersten Kontakt zwischen den Organisationen herstellen. Das Organisieren erster gemeinsamer Veranstaltungen von verschiedenen Organisationen kann beispielsweise eine Initialzündung für weitere selbstinitiierte und -gesteuerte Beziehungen sein. Letztere gehen dann in ihrer Vielfalt und ihrem Ausmaß deutlich über die interorganisationalen Beziehungen anderer Beziehungskonstellationen hinaus. Mit dieser Untersuchung ist ein erster Schritt in der empirischen Erforschung des Zusammenhangs zwischen Struktur und Kultur beziehungsweise sozialen und symbolischen Grenzen getan. Die identifizierten Typen beleuchten die Bedeutung von strukturell eingebetteten Einzelakteuren, Semantiken und kontextueller Einbettung für interorganisationale Beziehungen. Dadurch tragen sie dazu bei, interreligiöse Beziehungen zwischen Organisationen auf kommunaler Ebene besser zu verstehen. Um die Typen auch für andere empirische Zusammenhänge nutzbar zu machen und damit ein weitergehendes Verständnis interreligiöser interorganisationaler Beziehungen in Gang zu setzen, muss vor allem die Hürde der unzureichenden qualitativen Datenlage überwunden werden. Da Semantiken, Identifikationen, Dynamik und sonstige kulturelle Einflussfaktoren ausschließlich qualitativ adäquat erhoben werden können, sind für Vergleiche und Verallgemeinerungen umfangreiche qualitative Erhebungen und ausgefeilte Techniken der qualitativ inhaltsanalytischen Kategorienbildung nötig. Derzeit könnten derartige Erhebungen vermutlich nur mit Hilfe von enorm großen Forschungsgruppen realisiert werden. Zudem wären in Zukunft umfangreiche Methoden des Vergleichs von Strukturen mit verschiedenen symbolischen Grenzziehungsstrategien und kulturellen Kontexten für größere Analyserahmen erforderlich. Was der soziologische Relationalismus theoretisch vorbereitet hat, bedarf noch eines geeigneten methodischen Instrumentariums zur empirischen Überprüfung.
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Vernetzte Vielfalt: Religionskontakt in interreligiösen Aktivitäten A LEXANDER -K ENNETH N AGEL
R ELIGIÖSE P LURALISIERUNG ZWISCHEN T OPOGRAPHIE UND V ERNETZUNG „Zukunft braucht Herkunft. Bei uns kommt sie aus 170 Nationen“, mit diesem Wahlspruch präsentierte sich das Ruhrgebiet im Rahmen einer großen Image-Kampagne als „Kulturmetropole Ruhr“. Der Slogan zierte ein Plakat, das eine Prozession tamilischer Hindus im Gewerbegebiet HammUentrop zeigte, und kommuniziert kulturelle bzw. religiöse Vielfalt als regionalen Standortfaktor. Die Werbeaktion ist in mehrfacher Hinsicht exemplarisch für aktuelle Debatten über religiöse Pluralisierung: Das Oberthema ist soziale Kohäsion. Die Pflege der eigenen Herkunft, so die These, ist eine notwendige Bedingung für eine gedeihliche Zukunft in der Aufnahmegesellschaft. Ein weiteres typisches Merkmal ist, dass Ethnizität über Religion zugerechnet wird, religiöse Vielfalt wird so zum Synonym für Multikultur. Besonders auffällig ist indes die isolierte und exotistische Darstellung religiöser Pluralisierung. Die tamilischen Hindus auf dem Plakat bilden eine homogene Gruppe, die Prozession findet auf einer einsamen Landstraße statt und auch die werbende Bildunterschrift bleibt auf eine unbeholfene Weise distanziert: „Wo das geht, geht alles“. So anekdotisch das Beispiel sein mag, es führt doch mitten in die Problemstellung dieses Beitrags hinein: Die öffentliche Wahrnehmung, aber auch die akademische Diskussion über religiöse Pluralisierung schwanken im Wesentlichen zwischen drei Perspektiven: Die problemorientierte Per-
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spektive analysiert religiöse Vielfalt als Herausforderung für den sozialen Zusammenhalt. Die Kernfrage ist dabei: „Wie viele Religionen verträgt eine Gesellschaft“ (Kippenberg 2001) bzw. wie ist Konvivenz in einem multireligiösen Gemeinwesen möglich? Im Unterschied dazu beschränkt sich die deskriptive Perspektive auf die Dokumentation und topographische Erfassung religiöser Vielfalt (vgl. Baumann/Stolz 2007, vgl. Hero/Krech/Zander 2007). Die religionssoziologische Perspektive schließlich konzentriert sich auf die Auswirkungen religiöser Pluralisierung auf das religiöse Feld selbst: Führt religiöse Vielfalt zu Relativismus und Indifferenz (vgl. Berger 1973) oder belebt Konkurrenz das Geschäft und führt zu einem Bedeutungsgewinn von Religion im Allgemeinen (vgl. Chaves/Gorski 2001, vgl. Stolz 2005)? Das besondere Verdienst der genannten Zugänge besteht darin, religiöse Pluralisierung als Realität moderner Einwanderungsgesellschaften wahr- und ernstzunehmen. Was dabei zu kurz kommt, ist die Frage, wie abstrakte religiöse Vielfalt in konkreten Religionskontakt übersetzt wird und wie die interreligiöse Begegnung institutionalisiert wird. Diesen Fragen möchte ich im Folgenden konzeptionell und empirisch nachgehen, indem ich interreligiöse Aktivitäten als gesellschaftliche Antworten auf religiöse Pluralisierung analysiere. Zunächst lassen sich (mindestens) zwei Mechanismen unterscheiden, wie abstrakte religiöse Vielfalt in konkreten Religionskontakt übersetzt wird. Der erste Mechanismus sind „Kontaktzonen“ an den Rändern (vgl. Wilke 2012, im Erscheinen): Die frühen Phasen des Migrationsverlaufes sind häufig gekennzeichnet durch eine starke Orientierung auf das Herkunftsland und sozioökonomische Restriktionen in der Aufnahmegesellschaft. Daher werden Andachtsorte dort gegründet, wo günstig und einfach Räumlichkeiten anzumieten sind, also in Vororten und Gewerbegebieten an den Rändern größerer Städte (vgl. Baumann 2004: 21). Auch wenn diese Orte in der Regel von der Aufnahmegesellschaft unbeachtet bleiben, begründen sie doch Zonen des Kontakts und der interreligiösen Begegnung. Ein gutes Beispiel dafür ist die wechselvolle Geschichte der Herz-JesuKirche im Gewerbegebiet Dortmund-Kley: Die Kirche wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut, um den überwiegend katholischen Arbeitsmigranten aus Polen eine religiöse Heimat zu bieten. Angesichts von Mitgliederschwund und Konsolidierungsbemühungen wurde sie in den 70er Jahren einer serbisch-orthodoxen Gemeinde zur freien Nutzung überlassen, die das Kirchengebäude nebst einem eingeschossigen Anbau im Jahr 1996 erwarb.
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Die Kirche wurde umgeweiht und der Anbau als Kindergarten genutzt. Bis zu diesem Punkt handelt es sich um eine rein innerchristliche Kontaktgeschichte. Im Jahr 2007 allerdings verkaufte die serbisch-orthodoxe Gemeinde den als Kindergarten genutzten Anbau an eine Gruppe thailändischer Buddhisten, die darin den Dhammabharami-Tempel eröffneten. Das Beispiel zeigt, wie religiöse und demografische Transformationsprozesse in der Aufnahmegesellschaft im Zusammenspiel mit den beschränkten Ressourcen religiöser Migrantengemeinden zur Entstehung interreligiöser Kontaktzonen an den Rändern führen können. Den zweiten Mechanismus, wie religiöse Vielfalt in Religionskontakt übersetzt werden kann, hat die Religionswissenschaftlerin Brigitte Luchesi treffend mit dem Ausdruck „Wege aus der Unsichtbarkeit“ bezeichnet (Luchesi 2003). Gemeint ist das Bestreben religiöser Migrantengemeinden, die geografische und gesellschaftspolitische Peripherie der Aufnahmeländer hinter sich zu lassen und nunmehr an zentraler Stelle Sichtbarkeit zu beanspruchen. Der augenfälligste Ausdruck dieses Claims Making im öffentlichen Raum ist die Errichtung repräsentativer religiöser Gebäude. Wie Martin Baumann herausgestellt hat, verkörpern diese Bauten eine Herausforderung an hegemoniale nationale Konstruktionen legitimer Öffentlichkeit (vgl. Baumann 2000: 184ff.). Sie markieren damit nicht nur religiöse Unterschiede, sondern werden geradezu zu Symbolen religiöser Differenz. Beispiele dafür sind insbesondere Moscheebaukonflikte wie im Fall der in Köln-Ehrenfeld entstehenden DøTøB-Zentralmoschee. Charakteristisch für diese Konflikte ist, dass der Bauplanungsprozess die Beteiligung gesellschaftlicher Akteure ermöglicht. Dadurch ergeben sich einerseits Interventions- und Mobilisierungschancen für islamophobe Bürgerbewegungen wie Pro-Köln, aber auch Räume interreligiöser Begegnung, etwa runde Tische im Rahmen des Planungsverfahrens oder die Einrichtung und Unterhaltung von Begegnungsstätten als Ergebnis des Prozesses (Leggewie/Joost/Rech 2002: 63 und 68). Damit ist der Bogen geschlagen zur Institutionalisierung des Religionskontakts in interreligiösen Aktivitäten. Anders als das o.a. Beispiel nahelegt, beruht das Gros interreligiöser Aktivitäten in Deutschland nicht auf staatlichen Anreizen oder Interventionen, sondern auf zivilgesellschaftlichen Initiativen (vgl. Klinkhammer et al. 2011: 371ff.). Im Zentrum der akademischen Aufmerksamkeit standen bislang interreligiöse Dialoge, vielleicht weil die Form einer wissensbasierten theologischen Verständigung
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der akademischen Herangehensweise am stärksten entspricht. Darüber hinaus hat sich allerdings eine Vielzahl weiterer Formate herausgebildet, die stärker auf religiöse Performanz, gemeinsame Feste oder nachbarschaftlichen Gemeinsinn abheben und die sich kaum als Dialoge, wohl aber als interreligiöse Aktivitäten charakterisieren und unterscheiden lassen. Um dieses Desiderat zu präzisieren, unternehme ich im Folgenden eine (notwendig kursorische) Tour d’Horizon durch die disparate Debatte über interreligiöse Dialoge und Initiativen und stecke den konzeptionellen und methodischen Rahmen für die empirische Analyse ab.
F ORSCHUNGSSTAND
UND
ANALYSERAHMEN
Zwar haben interreligiöse Aktivitäten in so unterschiedlichen Disziplinen wie Theologie, Religionswissenschaft, Soziologie und Sozialarbeitswissenschaft einige Aufmerksamkeit gefunden, von einer echten interdisziplinären Debatte kann dabei indes nicht die Rede sein. Vielmehr haben die verschiedenen Fachrichtungen jeweils spezifische Akzente gesetzt und dabei andere Perspektiven auf den gleichen Gegenstand weitgehend ausgeblendet: So haben sich Vertreter der systematischen Theologie bisher v.a. auf dogmatische und normative Fragen interreligiöser Dialoge konzentriert. Ihr Ziel ist es, durch religionsphilosophische und exegetische Bemühungen christliche Strategien zum Umgang mit religiöser Vielfalt und dem religiösen „anderen“ zu finden oder aber eine pluralistische Religionstheologie zu entwickeln (vgl. Hick 1980, vgl. Schmidt-Leukel 2005). Andere theologische Zugänge setzen sich stärker mit den praktischen Herausforderungen religiöser Begegnung und Kommunikation auseinander: Wie können interreligiöse Verständigung – und Einvernehmen – erreicht werden, ohne den eigenen religiösen Standpunkt aufzugeben? Wie lassen sich Prozesse interreligiösen Lernens im konfessionellen Religionsunterricht verankern? (vgl. Lienemann-Perrin 1999, vgl. Tautz 2007). Parallel dazu haben sich Sozialarbeitswissenschaftler in Evaluationsstudien mit den Resultaten bestimmter Projekte und Aktivitäten auseinandergesetzt. Ihr vordringliches Anliegen dabei ist, Bedingungen für den Erfolg oder Misserfolg interreligiöser Aktivitäten zu ermitteln (vgl. Harris/Young 2009, vgl. Herrera/Pepper 2003). Einen praxisnahen, optimierenden Ansatz verfolgen auch neuere religionswissenschaftliche Studien
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zum christlich-islamischen Dialog in Deutschland. Ihr Ziel ist es, aus der empirischen Forschung „Kriterien und Standards für die interkulturelle und interreligiöse Kommunikation“ abzuleiten (Klinkhammer/Satilmis 2008). Gritt Klinkhammer und andere verstehen interreligiöse Dialoge als „kooperatives Problemlösungshandeln“, also als ein Mittel, „Problemlagen bezüglich der Integration zu diskutieren und konkrete Maßnahmen zur gesellschaftlichen Partizipation zu planen“ (Klinkhammer et al. 2011: 24). Dabei sehen die Autoren neben den „Spannungen“, die aus der Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche am interreligiösen Dialog hervorgehen, v.a. auch „ein erhebliches Potenzial durch unterschiedliche Perspektiven neue Einsichten zu gewinnen“ (ebd.: 59). Im Unterschied zu dieser optimistischen Beurteilung haben soziologische Autoren teilweise sehr grundsätzliche Kritik an der integrationspolitischen Indienstnahme interreligiöser Dialogveranstaltungen angemeldet. So vermerkt Levent Tezcan: „Religion avanciert zum Vehikel, mit dem die multikulturelle Gesellschaft regierbar gemacht werden soll. Diese wird gegenwärtig, gekoppelt an die Integrationspolitik, in zunehmendem Maße über den interreligiösen Dialog kommuniziert“ (Teczan 2006: 26). Dabei betont Tezcan das prinzipielle Spannungsverhältnis zwischen den theologischen und den gesellschaftspolitischen Anliegen des Dialogs. Er argumentiert, dass die Entdeckung ihrer politischen Relevanz, verbunden mit einer erhöhten Wachsamkeit gegenüber religiösen Unterschieden, interreligiöse Initiativen gesellschaftlich aufgewertet und aus ihrem Nischendasein befreit haben. Daher seien religiöse Akteure gern bereit, die daraus entstehende Zielunschärfe in Kauf zu nehmen (vgl. ebd.: 29). In der Praxis führe die Vermischung theologischer und politischer Aspekte allerdings zu massiven Verständigungsproblemen, wenn etwa christliche Vertreter monieren, die muslimischen Teilnehmer würden nur „handfeste Interessen“ verfolgen und hätten kein darüber hinausgehendes Interesse an „ehrlichem Dialog“ (vgl. ebd.). Damit ist für Tezcan die politische Instrumentalisierung interreligiöser Dialoge nicht nur normativ fragwürdig, sondern sie untergräbt auch die Leistung bzw. Wirkung der interreligiösen Verständigung. Die vorgenannten Beiträge beschränken sich auf interreligiöse (bzw. christlich-islamische) Dialoge und nehmen damit (aus guten Gründen) nur einen Ausschnitt der interreligiösen Arbeit in Deutschland in den Blick. Der Fokus liegt dabei entweder auf der gesamtgesellschaftlichen Rolle dieses Dialogs, auf Dialoginitiativen als kollektiven Akteuren oder aber auf
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den Strategien und Erwartungen der Dialogteilnehmer. Ausgehend von der allgemeinen konzeptionellen Problemstellung dieses Bandes möchte ich im Folgenden die Eckpunkte einer relationalen Perspektive auf interreligiöse Aktivitäten erörtern. Dabei geht es nicht um Netzwerkforschung als Selbstzweck, sondern um einen ergänzenden Blickwinkel auf den Ereignischarakter interreligiöser Aktivitäten und die damit verbundenen Inter- bzw. „Transaktionen“ (vgl. Emirbayer 1997: 286f.). Die Herausforderung besteht nun darin, das abstrakte Bekenntnis für eine relationale Perspektive in ein konkretes, empirisch handhabbares Instrumentarium zu übersetzen. Anders als in den vorgenannten Studien sind meine Untersuchungseinheiten nicht Dialoginitiativen oder Dialogakteure (Klinkhammer et al. 2011: 6), sondern interreligiöse Ereignisse wie Friedensgebete, Nachbarschaftstreffs, Schulgottesdienste oder eben Dialogveranstaltungen. Ich nutze im Folgenden drei verschiedene Analyserahmen, um unterschiedliche Facetten interreligiöser Aktivitäten (IRA) zu erhellen und betrachte sie als Governance-Strukturen, Interaktionsrituale und Netzwerkdomänen. Im ersten Fall liegt der Fokus auf dem Zusammenwirken staatlicher und gesellschaftlicher Akteure, im zweiten Fall stehen die Ausgestaltung und der Schutz des Ereignisses an sich im Vordergrund, während im dritten Fall die diskursive Einbettung interreligiöser Aktivitäten sowie die Verschiebung und Konstruktion von Identitäten zum Thema werden. IRA als Governance-Struktur: Ganz gleich, ob man interreligiöse Aktivitäten positiv als „kooperatives Problemlösungshandeln“ oder herrschaftskritisch als „Vehikel“ staatlicher Integrationspolitik beurteilt (s.o.), so geht man doch in beiden Fällen davon aus, dass diese Aktivitäten nicht nur der Entfaltung oder Beschreibung, sondern auch der Moderation oder „Behandlung“ religiöser Vielfalt dienen. Klinkhammer und andere haben auf der Grundlage einer der wenigen quantitativen Erhebungen zu interreligiösen Dialoginitiativen in Deutschland (n = 132) darauf hingewiesen, dass in fast jeder zweiten Initiative „Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung“ mitwirken, dabei allerdings nie die Mehrheit der Beteiligten stellen (ebd.: 58). Jenseits der normativen Beurteilung als Vereinnahmung und Empowerment liegt es also nahe, interreligiöse Aktivitäten ergebnisoffen als Governance-Strukturen zu verstehen, in denen gesellschaftliche und staatliche Akteure zusammenwirken (vgl. Mayntz/Scharpf 1995). Während akteurszentrierte Ansätze v.a. auf die Interessen und Strategien der Teilneh-
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mer (z.B. Vertreter von Kirchen- und Moscheegemeinden und verschiedene Behörden) abstellen, sind aus einer relationalen Perspektive die Interaktion und die Austauschbeziehungen zwischen religiösen Veranstaltern und staatlichen Akteuren interessant. Dabei ist davon auszugehen, dass der Perspektivwechsel von interreligiösen Initiativen als Organisationsform zu interreligiösen Aktivitäten als Handlungsfeld sich auch in den Befunden zum Ausmaß staatlicher Beteiligung widerspiegelt. So bildet der vergleichsweise hohe Anteil staatlicher Entscheidungsträger bei Klinkhammer und anderen (s.o.) vermutlich auch abstrakte Mitgliedschaften oder Schirmherrschaften ab, die aber im konkreten interreligiösen „Vollzug“ nicht eingelöst werden. Mein methodischer Zugang zur tätigen Mitwirkung staatlicher Akteure in interreligiösen Aktivitäten beruht daher weniger auf Befragung als auf teilnehmender Beobachtung. Das Augenmerk liegt hier v.a. auf den Sprechakten städtischer Vertreter (Bürgermeister, Polizeipräsident) und ihrer Rolle im interreligiösen Gesamtereignis. IRA als Interaktionsritual: Mit dem Begriff der Rolle ist bereits der Bogen zum zweiten Analyserahmen geschlagen, der Betrachtung von interreligiösen Aktivitäten als Interaktionsritualen. Bei Tezcan findet sich der Hinweis, „dass der Dialog für Muslime tendenziell pragmatisch orientiert bleibt und stark rituelle Züge aufweist“ (Teczan 2006: 29, Hervorhebung A.-K.N.). Dabei geht es ihm in erster Linie um den Unterschied zwischen muslimischen und christlichen Erwartungen an interreligiöse Dialoge. Aus einer relationalen Perspektive erscheint es indes lohnend, die rituelle Komponente interreligiöser Aktivitäten als eigenständigen Analyserahmen aufzunehmen. Hier geht es weniger um die Betrachtung von religiösen Ritualen oder Liturgien innerhalb dieser Aktivitäten als um eine ritualtheoretische Perspektive auf die interreligiöse Begegnung selbst. Den Rahmen für eine solche Analyse hat Erving Goffman in seiner Aufsatzsammlung „Interaktionsrituale“ abgesteckt (vgl. Goffman 1986): Seine zentrale Annahme lautet, dass soziale Interaktionen jeweils so ausgestaltet werden, dass das „Image“ der Beteiligten gewahrt bleibt. Ähnlich wie die Rolle bezeichnet der Begriff „Image“ zum einen das Bild, das ein Interaktionsteilnehmer von sich entwerfen will, und hat zum anderen ein identifikatives Element. Wichtig für die Analyse von interreligiösen Aktivitäten sind Goffmans Überlegungen zu Techniken der Imagepflege, die in stillschweigender Kooperation zur Absicherung des Interaktionszusammenhangs ausgeübt werden:
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„Eine gebräuchliche Art stillschweigender Kooperation bei der Wahrung des Images ist der in Bezug auf die Techniken der Imagepflege selbst ausgeübte Takt. Man verteidigt nicht nur sein eigenes Image und schützt das Image anderer, sondern handelt so, um es den anderen möglich und sogar leicht zu machen, Techniken der Imagepflege für alle Anwesenden anzuwenden“ (ebd.: 35-36).
So verstanden, stellen interreligiöse Aktivitäten geradezu prototypische Fälle von Interaktionsritualen dar: Es gilt, das eigene religiöse Selbstbild zu portraitieren und zu anderen religiösen Selbstentwürfen selbstbewusst in Beziehung zu setzen und dabei die religiöse Würde des Gegenübers nicht nur nicht zu beschädigen, sondern aktiv zu wahren. Auf der empirischen Ebene ergibt sich aus Goffmans Verständnis ritueller Interaktion ein Beobachtungsfokus auf die „Zwischenfälle“ im rituellen Ablauf sowie v.a. auf die „Ausgleichshandlungen“, die zum Schutz des Interaktionsrituals unternommen werden (ebd.: 25). Neben dieser Perspektive auf die akute Aufrechterhaltung des rituellen Rahmens gilt es, den „rituellen Kodex“ zu berücksichtigen, also jene institutionalisierten Regeln, die der Vermeidung von Zwischenfällen im Vorfeld dienen (ebd.: 38) und auf spezifischen rituellen Vorgaben beruhen: Während Dialogveranstaltungen ein gewisses Maß an Konfrontation vorsehen und geradezu erfordern, ist bei Friedensgebeten die Reihenfolge und Dauer der Beiträge minutiös geregelt, um Zwischenfälle und Superioritätsansprüche auszuschließen. IRA als network domain: Während die vorgenannten Analyserahmen sich v.a. auf die Interaktion im Rahmen von interreligiösen Aktivitäten beziehen, geht es hier um die diskursive Einbettung dieser Aktivitäten. In losem Anschluss an Harrison White lassen sich interreligiöse Ereignisse als network domains verstehen, als Amalgam zwischen sozialen Beziehungen und Narrationen („stories“) oder Symbolen (vgl. Mützel/Fuhse 2010: 14, vgl. White et al. 2007: 549). Das Augenmerk liegt dabei auf dem übergeordneten Sinnzusammenhang bzw. den „institutionellen Mythen“ interreligiöser Begegnung (Meyer/Boli/Thomas 2005: 35) sowie auf den Vorstellungen legitimer Akteure, die sich aus diesen Mythen ergeben. Auf der empirischen Ebene ergibt sich daraus zunächst ein Beobachtungsfokus auf die Repräsentationsfunktion der Teilnehmer. Dieses Verständnis von Repräsentation erschöpft sich nicht in einer schlichten Zuordnung von Personen zu Organisationen im Sinne von Affiliation oder Vertreterschaft, sondern be-
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zieht sich allgemeiner auf Techniken der Selbstlegitimierung. Für Meyer ist „Legitimität […] eine etablierte und gut ausgearbeitete Theorie über den Zusammenhang von Situationen und Strukturen mit kollektiven Zwecken“ (ebd.: 44). Empirische Anhaltspunkte dafür sind z.B. Sprechakte im Namen übergeordneter Werte („es ist schließlich ein Gebot der Menschenwürde, dass wir […]“) oder die Begründung interreligiöser Aktivitäten mit höheren Zielen von nachbarschaftlichem Zusammenhalt über das Gemeinwohl bis hin zum Weltfrieden. Mit diesen Techniken der Selbstlegitimierung eng verknüpft ist ein weiterer Fokus auf die Grenzarbeit im interreligiösen Feld: Der erste Schritt besteht darin, das Feld der Teilnehmer an interreligiösen Aktivitäten als Ergebnis einer vorgelagerten Grenzziehung zwischen legitimen und nicht-legitimen Akteuren zu betrachten. Aus dieser Perspektive sind die Abwesenden mindestens ebenso interessant wie die Anwesenden. Es ist davon auszugehen, dass in Deutschland die christliche Mehrheitsreligion die „Benchmark“ für einen legitimen interreligiösen Akteur absteckt. Der „ideale“ Teilnehmer müsste dann zu einer monotheistischen (besser: abrahamitischen) Glaubensrichtung gehören, die innerweltlich orientiert ist, auf eine längere Tradition zurückblicken kann, formal (z.B. als Verein) organisiert ist und eng mit staatlichen Behörden zusammenarbeitet. Umgekehrt ist zu erwarten, dass neue religiöse Bewegungen, poly- oder atheistische Traditionen oder Religionsgemeinschaften wie Millî Görüú, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, kaum oder selten als legitime Akteure an interreligiösen Aktivitäten teilnehmen. Der zweite Schritt betrifft die Grenzarbeit im Zuge der interreligiösen Begegnung selbst, die zwischen Selbstbehauptung und Selbsttranszendierung changiert. Zum einen qualifizieren sich die Teilnehmer an interreligiösen Aktivitäten gerade dadurch, dass sie religiös (im Unterschied zu nicht-religiös) und einer bestimmten Tradition zugehörig sind (im Unterschied zu allen anderen Traditionen), zum anderen drängt die Einbettung dieser Veranstaltungen in Diskurse von sozialem Zusammenhalt und Gemeinwohlorientierung immer wieder zum Hinterfragen, Aufbrechen und Überschreiten dieser Grenzen. Tezcan geht soweit, diese Ambivalenz zwischen klaren und verwischten Grenzen1 als grundlegendes „Paradoxon“ des interreligiösen Dialogs zu bezeichnen (Teczan 2006: 32). Ich möchte die Grenzarbeit der Teilnehmer
1
Für die Unterscheidung zwischen „bright“ und „blurred“ boundaries vgl. Alba 2005: 15.
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indes nicht als eine prinzipielle, sondern als eine empirische Herausforderung verstehen. Im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung habe ich daher ein besonderes Augenmerk auf Prozesse der Grenzziehung auf der einen und der Grenzüberschreitung auf der anderen Seite gelegt. Im Folgenden werde ich diese drei Analyserahmen nutzen, um idealtypisch verschiedene Formate von interreligiösen Aktivitäten zu unterscheiden. Die Typologie beruht auf empirischem Material, das wir in den vergangenen zwei Jahren im Rahmen der NRW-Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ erhoben haben. Im Teilprojekt „Interreligiöse Aktivitäten und Religionskontakt im Ruhrgebiet“ konnten wir bei insgesamt 25 interreligiösen Aktivitäten teilnehmende Beobachtungen und ergänzend 21 Leitfaden-Interviews mit religiösen Organisatoren durchführen. Bei der Auswahl von Veranstaltungen und Gesprächspartnern haben wir gezielt darauf geachtet, die religiöse Vielfalt im Ruhrgebiet über die klassische Konstellation des christlich-islamischen Dialogs hinaus abzubilden. Das Material liegt in Form von Interviewtranskripten und Feldprotokollen vor, die Auswertung basiert auf einer kategorienbildenden Inhaltsanalyse, die neben den o.a. Analyserahmen auch die Kommunikationsstruktur sowie die religiöse und sozialstrukturelle Zusammensetzung interreligiöser Ereignisse umfasst.
E RGEBNISSE : D IE V IELFALT AKTIVITÄTEN
INTERRELIGIÖSER
Im Folgenden stelle ich sechs Typen interreligiöser Aktivitäten vor: interreligiöse Nachbarschaftsinitiativen, Dialogveranstaltungen, Friedensgebete, Schulgottesdienste, Tage der offenen Tür und interreligiöse Feste. Sie unterscheiden sich systematisch im Hinblick auf die drei Analyserahmen (Governance-Struktur, Interaktionsritual, network domain), die Abbildung religiöser Vielfalt und die Kommunikations- bzw. Interaktionsstruktur. Die folgende Tabelle stellt die einzelnen Typen überblicksartig dar:
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Tabelle 1: Typen interreligiöser Aktivitäten Typus/ Analyserahmen
Interreligiöser Nachbarschaftstreff
GovernanceStruktur
Interaktionsritual
Network domain
Zusammenwirken von staatlichen und religiösen Akteuren Keine staatliche Beteiligung; Selbstorganisation
Zwischenfälle und Ausgleichshandlungen
Rahmendiskurse und Grenzarbeit
Kaum Zwischenfälle, Vertrauensbasis durch langjährigen Kontakt
„Religion stiftet nachbarschaftlichen Zusammenhalt.“
Zahlreiche Zwischenfälle durch konfrontative Anlage und agents provocateurs; Ausgleichshandlung i.d.R. durch Moderation Klarer ritueller Kodex verhindert Zwischenfälle: Sortierung religiöser Traditionen nach Alter; gemeinsames Gebet als „Krisenexperiment“ Übergangsritual, klarer ritueller Kodex, Lehrer sorgen für Ruhe; Risiko: Abstimmungsprobleme zwischen den Geistlichen Vereinzelte Zwischenfälle durch kritische Nachfragen der Besucher oder Fauxpas der Veranstalter
„Wir kultivieren unsere Unterschiede und entdecken Gemeinsamkeiten.“
Ritualisierung des Konflikts (Turnier oder Mahlgemeinschaft), extensive und dezentrale Interaktion verhindert Zwischenfälle
„Wir gehen fair mit Konflikten um und setzen uns an einen Tisch.“
Interreligiöser Dialog
Kaum staatliche Beteiligung, aber mehr intermediäre Organisationen
Interreligiöses Friedensgebet
Umfassende staatliche Beteiligung (Räume, Eröffnung, Teilnahme)
Interreligiöser Schulgottesdienst
Im Rahmen der staatlichen Schulhoheit; Arbeitsteilung zwischen Geistlichen und Lehrern Staatliche Initiative und Beteiligung; Top-downGovernance
Tag der offenen Tür
Interreligiöses Event (Sportereignis, Fest)
Umfassende staatliche Beteiligung (Grußwort, Sponsoring)
„Gemeinsame Rituale und religiöse Erfahrungen schweißen zusammen.“
„Die Kleinen brauchen alle Hilfe, die sie kriegen können.“
„Wer nichts zu verbergen hat, kann die anderen auch mal einladen.“
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Interreligiöse Nachbarschaftsinitiativen Interreligiöse Nachbarschaftsinitiativen sind dichte lokale Netzwerke von religiösen Laien und Repräsentanten unterschiedlicher Religionsgemeinschaften, die sich für Verständigung und Zusammenhalt innerhalb einer Nachbarschaft oder eines Stadtteils einsetzen. Diese Initiativen können in der Regel auf eine längere Geschichte der Zusammenarbeit zurückblicken und sind eher auf allgemeine Fragen des nachbarschaftlichen Miteinanders als auf religiösen Austausch i.e.S. gerichtet. Aufgrund der räumlichen Nähe und der gemeinsamen Vorgeschichte kennen sich die Teilnehmer meist persönlich. Dabei ist sowohl die inter- als auch die intrareligiöse Vielfalt häufig höher als in klassischen Dialogveranstaltungen, da Nachbarschaftsinitiativen alle Religionsgemeinschaften innerhalb eines Stadtviertels ansprechen, ohne dabei auf ein bestimmtes Quorum achten zu müssen (s.u.). In unserem Sample waren Nachbarschaftsinitiativen das einzige Format, das auch kleinere christliche Gemeinschaften wie Altkatholiken und Neuapostolen miteinschloss.2 Eine besondere Variante des Nachbarschaftstreffs sind lokale Get-Togethers, die in Gemeindehäusern oder in Privatwohnungen stattfinden. Nachbarschaft wird hier von einer ganz persönlichen Ebene aus gedacht, religiöse Vielfalt wird greifbar durch einzelne religiöse Biografien. Gute Beispiele dafür sind die Veranstaltungsreihe „Perlen der Religionen“ des Wittener Ablegers von Religions for Peace und das Programm „ZusammenSetzen“ in Wuppertal. Während das Wittener Get-Together v.a. auf moderiertem autobiografischen Erzählen beruht, holt das Wuppertaler Projekt die interreligiöse Begegnung ins heimische Wohnzimmer. Was die Governance religiöser Vielfalt anbelangt, stehen Nachbarschaftstreffs und Get-Togethers idealtypisch für einen informellen zivilgesellschaftlichen Zugang auf der Ebene der sprichwörtlichen Graswurzeln im Quartier. Entsprechend nehmen an den Vorbereitungstreffen und Veranstaltungen in der Regel keine staatlichen Vertreter teil, sondern sie liegen in der Hand lokaler Kirchengemeinden oder engagierter Einzelpersonen. Trotz ihrer eher allgemeinen Perspektive auf den nachbarschaftlichen Zusam-
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Freikirchliche Gruppen sind ansonsten in IRA im Ruhrgebiet unterrepräsentiert, da es in den entsprechenden Gemeinden z.T. erhebliche innere Widerstände gegen eine Zusammenarbeit mit nichtchristlichen Gemeinden gibt, wie der neuapostolische Vertreter im Interview bemerkte.
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menhalt hatten die Nachbarschaftsinitiativen in unserem Sample einen klaren religiösen Rahmen: Sie trafen sich in religiösen Räumlichkeiten wie Gemeindehäusern und grenzten sich deutlich von nicht-religiösen Akteuren und Herangehensweisen ab. So wurde in einem Nachbarschaftstreff im nordwestlichen Ruhrgebiet während eines Vorbereitungstreffens kritisch die „Anfeindung“ diskutiert, Religion gefährde den sozialen Frieden. Dabei bemerkte ein Teilnehmer: „In dieser Sache haben wir sozusagen einen gemeinsamen Feind, ich meine: ein Gegenüber, nämlich alle, die nicht glauben“. Indem eine klare Trennlinie zwischen Gläubigen und Ungläubigen gezogen wird, wird die religiöse Konnotation der Initiative hier sehr deutlich. Betrachtet man Nachbarschaftstreffs und Get-Togethers als Interaktionsrituale, so fällt auf, dass sich trotz des offenen Kommunikationsmodells praktisch keine Zwischenfälle ereignen. Ein wesentlicher Grund dafür liegt in dem überschaubaren Teilnehmerkreis und der engen persönlichen Bekanntschaft der Teilnehmer. Das bedeutet nicht, dass es keine Differenzen oder Vorbehalte gäbe. Vielmehr besteht (in der Terminologie Goffmans) ein kollektives Vertrauen auf den „Takt“ und die stillschweigende Kooperation zum Schutz der beteiligten Images. Eine Herausforderung ist dabei die Fluktuation muslimischer Teilnehmer, etwa durch die Rotation von Imamen oder personelle Wechsel im Vorstand der Moscheevereine. In dem o.a. Beispielfall bildeten „die Muslime“ ganz klar eine Subgruppe, deren Teilnahme stets von Neuem prekär und ungewiss war. Als network domain zeichnen sich Nachbarschaftstreffs und GetTogethers durch einen starken Rahmendiskurs nachbarschaftlichen Zusammenhalts aus: Dabei wird Nachbarschaft nicht nur durch die räumliche Nähe definiert, sondern als emphatischer Sozialraum, als Gemeinschaft, die auf persönlichen Vertrauensbeziehungen basiert. Diese Gemeinschaft überwölbt die religiösen Grenzen, ist aber selbst ganz klar religiös konnotiert. Die Grenzarbeit beruht also darauf, dass Traditionsgrenzen verwischt werden, meist durch einen universalistischen Bezug auf die gemeinsamen abrahamitischen Wurzeln. Zugleich werden indes neue, klare Grenzen zu Nicht-Nachbarn und Nicht-Religiösen gezogen.
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Interreligiöse Dialogveranstaltungen Dialogveranstaltungen sind regelmäßige Gesprächskreise, die in einem bestimmten Turnus stattfinden, um theologisch-dogmatische oder sozialethische Fragen in interreligiöser Perspektive zu diskutieren. Die Sozialstruktur dieser Dialoggruppen ist gekennzeichnet durch einen harten Kern von Aktiven, zumeist religiöse Spezialisten (Geistliche oder Religionslehrer), die sich häufig schon lange kennen, und einer losen Peripherie gelegentlicher Besucher mit themenspezifischen Interessen. Dialogveranstaltungen finden üblicherweise als Gruppen- oder Paneldiskussion statt. Inhaltlich deckten sie in unserem Sample eine große Bandbreite von Themen ab, vom theologischen Austausch über „Abraham – Vater des Glaubens“ und „starke Frauen in den Weltreligionen“ bis hin zu allgemeineren ethischen Fragen, etwa „soziale Menschenrechte“ und „wie gehen wir mit unseren Alten um?“. Der Umgang mit religiöser Vielfalt beruht auf einem klaren abrahamitischen Konsens, d.h. Judentum, Christentum und Islam gelten als die bedeutenden Weltreligionen und lassen sich, bei allen Unterschieden, auf denselben Ursprung zurückführen. Die Teilnehmer verstehen sich dabei als Vertreter einer dieser Traditionen, die innerreligiöse Vielfalt tritt dagegen in den Hintergrund. Ähnlich wie Nachbarschaftsinitiativen finden Dialogveranstaltungen oft in religiösen Räumen statt (häufig alternierend in Kirchen, Moscheen und Synagogen). Abweichend von den Ergebnissen von Klinkhammer und anderen waren in unserem Sample keine Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung zugegen (s.o.). Aus einer Governance-Perspektive interessant ist jedoch, dass Dialogtreffen durch die kontroverse Anlage einiger Themen („Die Sharia – wandelbar“) und das konfrontative Format selbst als Plattform für eine Vielzahl gesellschaftlicher Stakeholder dienen, darunter auch Sympathisanten antiislamischer Bürgerbewegungen wie PRO-NRW. Im Zuge unserer Feldforschung konnten wir immer wieder beobachten, wie ein oder mehrere Agents Provocateurs mit polemischen Äußerungen die Grenzen der Dialogsituation ausloteten. So rief ein Teilnehmer am Ende einer hitzigen Diskussion zur Sharia in einem islamischen Kulturzentrum aus: „Man wird doch wohl in einer freiheitlichen Demokratie noch einen Koran verbrennen dürfen!“. Er bezog sich dabei auf die Aktion des US-Pastors Terry Jones, der zuvor mit seinem „Burn a Quran Day“ weltweit Schlagzeilen gemacht hatte. Die Veranstalter betonten in ihrem Schlussstatement, die streitbare
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Debatte sei letztlich ein gutes Zeichen dafür, dass man einen „echten“ und nicht nur einen „Kuscheldialog“ geführt hätte. Damit ist der Bogen geschlagen zu Dialogveranstaltungen als Interaktionsritualen: Der polemische Ausruf begründet ganz klar einen Zwischenfall, der über die im Rahmen des rituellen Kodex zulässigen Kontroverse hinausgeht. Die Provokation war wohlkalkuliert und offensichtlich als Angriff auf die muslimischen Gastgeber zu erkennen, taktvolles Übergehen oder die Bereinigung des „Missverständnisses“ schieden daher als Ausgleichshandlungen aus, aber auch auf eine ausdrückliche Ermahnung und einen Aufruf zur Ordnung wurde verzichtet. Vielmehr bestand in diesem Fall die diskursive Technik des Moderators darin, den Zwischenfall in ein Erfolgsmerkmal umzudeuten und dadurch wieder in den Rahmen der rituell zulässigen Auseinandersetzung hineinzuholen. Diese Strategie der Ritualisierung des Konflikts ist eng verbunden mit dem diskursiven Rahmen von Dialogveranstaltungen als network domain. Der institutionelle Mythos des Dialogs beruht auf einer charakteristischen Spannung zwischen dem Ausloten von Grenzen, der Kultivierung von Unterschieden und der Entdeckung von Gemeinsamkeiten. Daraus ergibt sich die Konfrontation als legitimes Mittel, insoweit sie zu einer Klärung des eigenen religiösen Standpunkts sowie zu Verständnis und Anerkennung für andere religiöse Standpunkte führt. Im Fokus der interreligiösen Grenzarbeit stehen indes meist die Gemeinsamkeiten und nicht die Unterschiede. Gängige Mechanismen der Überschreitung religiöser Grenzen sind der Bezug auf gemeinsame religionsgeschichtliche Wurzeln und systematische Ähnlichkeiten, etwa im Bereich der Sozialethik, sowie die Relativierung von Unterschieden durch historische, politische oder soziokulturelle Kontextualisierung. Interreligiöse Friedensgebete Interreligiöse Friedensgebete sind traditionsübergreifende Gebetsveranstaltungen, die Lesungen und liturgische Elemente aus unterschiedlichen religiösen Traditionen einbeziehen. Der typische Ablauf sieht vor, dass zunächst Vertreter der verschiedenen Religionsgemeinschaften nacheinander einen religiösen Text rezitieren und dann alle Teilnehmer zusammen ein gemeinsames Gebet für Einmütigkeit und Verständigung sprechen. Im Unterschied zu den vorgenannten Formaten beruhen Friedensgebete nicht auf
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kognitiver religiöser Verständigung, sondern auf gemeinsamer ritueller Performanz und geteilten religiösen Erfahrungen. Ähnlich wie Nachbarschaftsinitiativen sprechen sie eine große Bandbreite religiöser Gemeinschaften an, in unserem Sample waren interreligiöse Friedensgebete das einzige Format, in dem auch Vertreter von polytheistischen und nicht-theistischen Traditionen zugegen waren. Verglichen mit Nachbarschaftstreffs und Dialogveranstaltungen haben Friedensgebete in der Regel mehr Teilnehmer, die sich untereinander kaum kennen und sich im Hinblick auf ihr Alter und ihren Migrationshintergrund stärker unterscheiden. Als Governance-Struktur bieten Friedensgebete staatlichen Akteuren zahlreiche Möglichkeiten der Beteiligung: Eine Veranstaltung in unserem Sample wurde in Kooperation zwischen dem Büro des Oberbürgermeisters und dem Dortmunder Islamseminar organisiert. Die Veranstaltung fand im Foyer des Rathauses statt und wurde vom Oberbürgermeister feierlich eröffnet. In seinem Grußwort nutzte er die Gelegenheit, die integrationspolitischen Erfolge seiner Regierung herauszustellen.3 Dabei birgt das hohe Maß religiöser Vielfalt in diesem Format auch Herausforderungen: Religiöse Organisationen wie die Millî Görüú, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden, kommen für „staatstragende“ Friedensgebete nicht in Frage, ebenso wenig „neue“ religiöse Gruppen wie die Zeugen Jehovas. Für Friedensgebete als Interaktionsrituale ergibt sich aus der Vielzahl der religiösen Traditionen zudem eine protokollarische Herausforderung, nämlich wer, wann, wie lange und in wessen Namen liturgisch tätig werden darf. Eine gängige Antwort darauf ist die „Sortierung“ der einzelnen Traditionen nach ihrem angenommenen Alter. So einigte man sich bei einem Friedensgebet in Witten auf die folgende „historische“ Reihenfolge: Hinduismus, Judentum, Buddhismus, Christentum, Islam, Sikhismus und Bahai. Ähnlich wie in interreligiösen Dialogveranstaltungen wird hier die innerreligiöse Vielfalt weitgehend ausgeblendet, zur Datierung werden die jeweiligen Gründungsschriften herangezogen. Das Beispiel macht deutlich, wie Zwischenfälle im Rahmen von Friedensgebeten durch einen strengen und
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Dieses Governance-Arrangement beruht auf einem unausgesprochenen, aber lohnenden „Handel“ zwischen staatlichen und religiösen Akteuren: Offizielle Anerkennung (der Dialoginitiative und der beteiligten Religionsgemeinschaften) und konkrete Unterstützung (Räumlichkeiten, Organisation) werden gegen politische Legitimation getauscht.
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„objektiv“ begründeten rituellen Kodex vermieden werden sollen. Trotz des normierten Ablaufs und der konsequenten Moderation bleibt das Interaktionsritual allerdings störanfällig, sei es durch Interventionen von außen oder durch Fauxpas im Rahmen der Lesungen, etwa wenn Bahai den Islam als äußerlich und ritualistisch darstellen. Betrachtet man interreligiöse Friedensgebete als network domain, so ist der diskursive Rahmen deutlich stärker durch Gemeinschaft und Gemeinsamkeit bestimmt als bei interreligiösen Dialogveranstaltungen. Diese Gemeinschaft beruht auf gemeinsamer religiöser Praxis und geteilten religiösen Erfahrungen; sie ist interreligiös, insoweit man an der rituellen Performanz der anderen Teilnehmer Anteil hat, und transreligiös, insoweit man zum Schluss ein gemeinsames Gebet spricht. Die Selbstlegitimation der Beteiligten kreist dabei um Konzepte wie Frieden, Freiheit und Menschenwürde. Die Grenzarbeit ist bestimmt durch einen klaren abrahamitischen Konsens, der in einem merkwürdigen Kontrast zum breiten Teilnehmerkreis steht. Dies zeigt sich in den liturgischen Formen (Lesung, Gebet) ebenso wie in der Hochschätzung „heiliger Schriften“ und insbesondere in der Struktur und inhaltlichen Gestaltung des Abschlussgebetes.4 Interreligiöse Schulgottesdienste Ebenso wie Friedensgebete sind auch interreligiöse Schulgottesdienste auf die gemeinsame religiöse Praxis ausgerichtet. Sie werden an religiösen und staatlichen Schulen als klassische Übergangsriten abgehalten, um einen Jahrgang auf weiterführende Schulen oder in das Berufsleben zu verabschieden. Interreligiöse Schulgottesdienste finden typischerweise in Stadtteilen mit einem hohen Anteil von Zuwanderern statt und richten sich an die Schüler ebenso wie an ihre Familien. Im Unterschied zu Friedensgebeten ist die abgebildete religiöse Vielfalt vergleichsweise gering. In unserem Sample waren neben den evangelischen Organisatoren noch ein Repräsentant der katholischen Kirche und ein Imam des türkisch-islamischen Dachverbandes DøTøB zugegen. Insgesamt war das interreligiöse Setting stark von der christlichen (v.a. protestantischen) Liturgie geprägt und schloss ne-
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Beispiele dafür sind klare theistische Bezüge in allen Friedensgebeten in unserem Sample sowie der aaronitische Segen, der zum Abschluss eines Friedensgebetes im Islamischen Kulturzentrum in Bochum gesprochen wurde.
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ben Lesungen und Gebeten der einzelnen Vertreter auch Lieder und Theateraufführungen mit ein, die zuvor im Rahmen des Unterrichts eingeübt worden waren. Aus einer Governance-Perspektive ist bemerkenswert, dass interreligiöse Schulgottesdienste Lehrer als Staatsbeamte und Geistliche als gesellschaftliche Vertreter in einer interessanten Arbeitsteilung zusammenführt: Während die religiösen Repräsentanten den Gottesdienst leiten, bereiten die Lehrer das Ereignis im Unterricht vor und sorgen während der Zeremonie für Ruhe. Darüber hinaus finden Schulgottesdienste an Schultagen und in Schulgebäuden und mithin im Rahmen der staatlichen Schulhoheit statt. Als Interaktionsrituale sind interreligiöse Schulgottesdienste arm an Zwischenfällen, da sie zum einen umfassend vorbereitet werden und zum anderen die Lehrer als Ordnungshüter fungieren (s.o.). Ein größeres Risiko für Zwischenfälle birgt die schwierige und kursorische Abstimmung zwischen den beteiligten Geistlichen. Wir konnten in zwei Schulgottesdiensten in Bottrop beobachten, wie sich die christlichen Pastoren um altersgerechte Formen bemühten, während die beteiligten Imame eine längere Denkschrift der DøTøB zum Thema Islam und Bildung verlasen und damit den liturgischen Rahmen durchbrachen. Expressive Ausgleichshandlungen für diese Brüche blieben indes aus, der Zwischenfall wurde übergangen und der nächste Programmpunkt aufgerufen. Der diskursive Rahmen von interreligiösen Schulgebeten als network domain lässt sich als multikulturalistisch und defizitorientiert beschreiben. Zum einen soll durch Einbeziehung verschiedener Traditionen die multireligiöse Konstellation im Stadtteil angemessen abgebildet werden (s.o.), wobei die muslimischen Geistlichen de facto „die Migranten“ repräsentieren. Zum anderen möchte man den Kindern und Jugendlichen ein dezidiert religiöses Geleit geben, da sie, pointiert gesagt, jede Hilfe brauchen, die sie kriegen können. Die Selbstlegitimation der Teilnehmer beruht, ähnlich wie bei den interreligiösen Nachbarschaftstreffs, v.a. auf der Schul- und Stadtteilgemeinschaft. Die Grenzarbeit ist eher multi- als interreligiös: Es soll der vorhandenen religiösen Vielfalt Rechnung getragen werden, die interreligiöse Verständigung tritt dagegen in den Hintergrund.
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Tage der offenen Tür Ein neueres, aber sehr verbreitetes Format interreligiöser Aktivitäten sind Tage der offenen Tür, etwa der vom Koordinationsrat der Muslime (KRM) durchgeführte Tag der offenen Moschee. Tage der offenen Tür sind interreligiös, insoweit religiöse Minderheiten der (christlich konnotierten) Mehrheitsgesellschaft Einblicke in ihr Gemeindeleben verschaffen. Besucher werden in den Räumlichkeiten herumgeführt und mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft vertraut gemacht. Dahinter steht weniger ein missionarischer Impuls als der Wunsch, Offenheit und Transparenz zu kommunizieren. Eine besondere Variante sind Einladungen zum gemeinsamen Fastenbrechen (Iftar). Während Tage der offenen Tür ähnlich wie Dialogveranstaltungen auf die kognitive Auseinandersetzung mit dem religiösen Anderen setzen, basieren gemeinsame Iftar-Feiern ähnlich wie Friedensgebete auf der gemeinsamen rituellen Praxis. Das Governance-Arrangement wirkt klar: Auf den ersten Blick sind Tage der offenen Tür Veranstaltungen von der Zivilgesellschaft für die Zivilgesellschaft. Allerdings findet der Tag der offenen Moschee nicht zufällig am Tag der Deutschen Einheit statt, sondern der Termin enthält ein nationales Bekenntnis und einen Anspruch auf Zugehörigkeit. Auch geht die Gründung des KRM auf die Deutsche Islamkonferenz und mithin auf eine staatliche Initiative zur Governance religiöser Vielfalt zurück. Konkreter zeigt sich das Zusammenwirken gesellschaftlicher und staatlicher Akteure bei Iftar-Feiern, zu denen regelmäßig Repräsentanten anderer Religionsgemeinschaften und Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung eingeladen werden. Je nach Vernetzung und Prominenz der einladenden Moscheegemeinde nehmen am gemeinsamen Fastenbrechen städtische Offizielle vom Quartiersmanager über Integrationsbeauftragte bis hin zum Bürgermeister teil. Durch ihre Anwesenheit oder durch ein kurzes Grußwort bringen sie die öffentliche Wertschätzung der Gemeinde und ihrer Aktivitäten zum Ausdruck. Als Interaktionsrituale unterscheiden sich Tage der offenen Tür und interreligiöse Iftar-Feiern erheblich: Tage der offenen Tür beruhen in der Regel auf Führungen durch ein Andachtshaus, verbunden mit allgemeineren Erläuterungen zu religiösen Gebräuchen und Überzeugungen. Der rituelle Kodex sieht für die Besucher eine Rolle als Gast und Lernender vor, während die Vertreter der einladenden Gemeinde als Gastgeber und Experten
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für ihre Religion fungieren. Zwischenfälle treten auf, wenn dieses Rollengefüge aufgebrochen wird, sei es, weil sich ein Besucher als Experte profiliert oder durch provokative Nachfragen das Image des Gastgebers angreift, oder sei es, weil die Experten (oft selbst religiöse Laien) die ihnen zugedachte Rolle nicht ausfüllen können. Im ersten Fall können Ausgleichshandlungen darin bestehen, die Expertise des Gastes als Geste des Interesses anzuerkennen bzw. Provokationen lediglich auf der Sachebene zu beantworten, im zweiten Fall können die Besucher das Image des Gastgebers dadurch wahren, dass sie ihre Frage als unangebracht zurückziehen oder vorgeben, mit der Erläuterung zufrieden zu sein. Als network domains sind Tage der offenen Tür und v.a. der Tag der offenen Moschee in einen mächtigen Rahmendiskurs von Transparenz und Öffnung gegenüber der Aufnahmegesellschaft eingebettet. In einer Informationsbroschüre des KRM zum Tag der offenen Moschee heißt es: „Dem steigenden Interesse am Islam und den Muslimen, aber auch dem in vielen Bereichen der Gesellschaft vorhandene [sic] Misstrauen, begegnen die Muslime mit einer offenen Moscheegemeinde“ (KRM 2011: 3). Man zeigt sich als religiöse Gemeinschaft, die zwar anders ist, aber nichts zu verbergen hat. Entsprechend basieren Tage der offenen Tür auf klaren religiösen Grenzziehungen. Ähnlich wie bei Dialogveranstaltungen geht es um die Kultivierung und Anerkennung religiöser Differenzen. Besucher werden dabei i.d.R. über die Mehrheitsreligion der Aufnahmegesellschaft als Christen definiert. Interreligiöse Feste Schließlich, aber nicht zuletzt, lassen sich interreligiöse Feste wie Sportereignisse oder Stadtteilfeste als Format eigener Art unterscheiden. Diese Veranstaltungen zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass religiöse Vielfalt zwar den Ausgangspunkt, aber nicht den Gegenstand der gemeinsamen Betätigung darstellt. So schließt unser Sample auch ein interreligiöses Fußballturnier im nördlichen Ruhrgebiet mit ein, in dem christliche und muslimische Geistliche gegeneinander antraten und ein jüdischer Vertreter das Schiedsrichteramt innehatte. Auch wenn religiöse Unterschiede bei diesem Ereignis offenkundig konstitutiv waren, traten sie im eigentlichen Verlauf kaum zutage, es herrschte vielmehr eine Art Volksfeststimmung. Im Unterschied zu den anderen Formaten zeichnen sich interreligiöse Feste durch
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einen großen, unverbundenen Teilnehmerkreis und hohe Fluktuation aus. Der Umgang mit religiöser Vielfalt beruht im Wesentlichen darauf, ein positives Gemeinschaftserlebnis jenseits religiöser Grenzlinien zu stiften. Liturgische Handlungen wie Gebete oder Rezitationen spielen dabei in der Regel keine Rolle, Aufklärung über religiöse Vielfalt findet eher en passant statt. Ein Beispiel dafür ist ein interreligiöses Quiz für Kinder, das im Rahmen des o.a. Fußballturniers angeboten wurde, um sie mit den Vorstellungen anderer Religionen vertraut zu machen. Als Governance-Struktur sind interreligiöse Events interessant, da sie aufgrund ihrer öffentlichkeitswirksamen Anlage Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung ebenso anziehen wie lokale Medien. Im Falle des interreligiösen Fußballturniers hatte ein lokaler Radiosender die Moderation übernommen. Ferner traten der Bürgermeister und der Polizeipräsident auf und zogen in kurzen Grußworten eine Parallele zwischen sportlicher und interkultureller Fairness als Grundbedingung sozialen Zusammenhalts. Als Interaktionsrituale sind interreligiöse Feste durch gemeinsame, nicht notwendigerweise religiöse, Performanz gekennzeichnet. Das o.a. Fußballturnier bildet spielerisch einen religiösen Konflikt nach, verlagert ihn und macht ihn dadurch handhabbar. Aus dieser Konstellation können sich indes auch Zwischenfälle ergeben, wenn jedes Foulspiel den Charakter eines religiösen Übergriffs bekommt. Dabei sieht der rituelle Kodex eine Art Gewaltmonopol vor, insofern Ausgleichshandlungen an bestimmte Spezialisten (Radiomoderator, Schiedsrichter) übertragen werden. Als network domain sind interreligiöse Feste eingebettet in Diskurse von Gemeinschaft und städtischem Zusammenhalt. Religiöse Grenzen werden dabei nicht nur nicht verwischt, sondern bilden vielmehr die Grundlage des Events. Ein gutes Beispiel ist neben dem erwähnten Fußballspiel eine Veranstaltung zu rituellen Speisen in Mülheim an der Ruhr. Dort wurde – nach einer kurzen Einführung – in erster Linie zusammen gegessen, die religiösen Grenzen sind zwar sichtbar, werden aber durch neue Grenzen der Mahlgemeinschaft oder der Sportsfreundschaft überlagert.
S CHLUSSFOLGERUNGEN
UND
AUSBLICK
In diesem Beitrag ging es mir darum, eine relationale Perspektive auf Religionskontakt in interreligiösen Aktivitäten zu erproben und dadurch eine
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religionssoziologische Debatte über die Vielfalt und den Formenreichtum interreligiöser Arbeit anzustoßen. Anders als bisherige Ansätze, die sich v.a. auf interreligiöse Dialoginitiativen als Gruppen oder auf die abstrakte Integrationsleistung „des“ interreligiösen Dialogs konzentriert haben, bin ich von interreligiösen Aktivitäten als Handlungsfeld und Ereignis ausgegangen. Während die bisherigen Debatten zum Teil stark durch evaluative Zugänge und normative (z.B. herrschaftskritische) Positionierungen gekennzeichnet waren, habe ich mich um die systematische Beschreibung des interreligiösen Handlungsfeldes in Form einer theoretisch informierten Typenbildung bemüht. Dabei bestand die konzeptionelle Herausforderung darin, die ebenso eingängige wie inhaltsleere Programmatik der relationalen Soziologie auf der Ebene von Theorien mittlerer Reichweite zu konkretisieren und empirisch handhabbar zu machen. Zu diesem Zweck habe ich drei Analyserahmen unterschieden, die jeweils unterschiedliche Aspekte interreligiöser Aktivitäten akzentuieren: Governance (Zusammenwirken von staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren), Interaktionsrituale (Techniken der Imagepflege) sowie network domains (Rahmendiskurse und Grenzarbeit) im Rahmen von interreligiösen Aktivitäten. Die Analyse von interreligiösen Aktivitäten als Governance-Struktur greift Überlegungen und Befunde früherer Studien auf, die auf den integrationspolitischen Rahmen interreligiöser Aktivitäten bzw. die Präsenz von Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung hingewiesen haben. Dabei enthält sich die Governance-Perspektive einer normativen Bewertung dieser Konstellation als politische „Operationalisierung“ (Teczan 2006: 26) bzw. „Empowerment“ (Klinkhammer et al. 2011: 26f.) und zielt darauf ab, das Zusammenwirken gesellschaftlicher und staatlicher Kräfte als Austauschverhältnis zu untersuchen. Hier hat sich gezeigt, dass sich die verschiedenen Formate interreligiöser Arbeit nach Art und Umfang staatlicher Mitwirkung stark unterscheiden: Während Nachbarschaftstreffs und GetTogethers an den sprichwörtlichen Graswurzeln der Zivilgesellschaft angesiedelt sind, auf Stadtteilebene oder in privaten Wohnzimmern, beinhalten interreligiöse Feste, Friedensgebete und Iftar-Feiern regelmäßig Grußworte, Ansprachen, Moderationsleistungen oder Sponsoring durch staatliche Vertreter. Interreligiöse Schulgottesdienste finden im Rahmen der staatlichen Schulhoheit und in Schulgebäuden statt, die Lehrer sind als Staatsbeamte sowohl an der Vorbereitung als auch an der Durchführung beteiligt. Tage der offenen Tür sind nicht selten eingebettet in integrationspolitische Maß-
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nahmen, so geht der Tag der offenen Moschee auf die Arbeit der Deutschen Islamkonferenz zurück. Was klassische Dialogveranstaltungen anbelangt, so spielten Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung in unserem Sample keine Rolle. Auf den ersten Blick steht diese Beobachtung im Widerspruch zu den Ergebnissen von Klinkhammer und anderen, die einen vergleichsweise hohen Grad staatlicher Beteiligung festgestellt haben. Auf den zweiten Blick bildet diese vermeintliche Diskrepanz indes v.a. den Perspektivwechsel von interreligiösen Initiativen als Gruppen (ebd.: 6) zu interreligiösen Aktivitäten als Handlungsfeld ab: Dass staatliche Akteure als Mitglieder in Dialoginitiativen firmieren, bedeutet offenbar noch lange nicht, dass sie auch am tatsächlichen Dialoghandeln beteiligt sind. Der zweite Analyserahmen bezog sich auf interreligiöse Aktivitäten als Interaktionsrituale. Der Ausgangspunkt war eine verbreitete, aber selten explizit gemachte Intuition in der bisherigen Debatte, dass interreligiöse Begegnung Rituale nicht nur zum Gegenstand macht, sondern selbst rituelle Züge aufweist. Für eine relationale Perspektive ist dieser Zugang bedeutsam, weil er das Augenmerk von den Interessen, Strategien und Motivationen einzelner Akteure abzieht und stattdessen die symbolische Interaktion, das Ereignis und die Situation in den Blick rückt. Der Beobachtungsfokus liegt hier auf der rituellen Performanz interreligiöser Aktivitäten, insbesondere auf den Zwischenfällen und Ausgleichshandlungen sowie den rituellen Kodizes, die für unterschiedliche Formate typisch sind. Hier lassen sich zunächst Aktivitäten mit mehr oder weniger ausgeprägtem rituellen Kodex unterscheiden: Friedensgebete und Dialogveranstaltungen beruhen häufig auf einem minutiös gestalteten Programm, das die Gleichbehandlung der beteiligten Traditionen protokollarisch gewährleisten soll. Während der rituelle Kodex des Dialogs indes Kontroversen geradezu vorsieht, steht bei interreligiösen Friedensgebeten die Einmütigkeit im Vordergrund. Ebenso verschieden wie die rituellen Kodizes sind die Zwischenfälle und Ausgleichshandlungen in den unterschiedlichen Formaten: Das Problematisieren religiöser Unterschiede mag bei einem Get-Together als massiver Zwischenfall interpretiert werden, während es bei einer Dialogveranstaltung zum regulären Umgangston gehört. Weitere typische Zwischenfälle sind religiöse Superioritätsansprüche bzw. die Anmaßung von Expertise über andere Traditionen. Eine gebräuchliche Ausgleichshandlung ist das Ignorieren oder Übergehen solcher Zwischenfälle. Daneben steht aber auch ein Repertoire an expliziteren Ausgleichshandlungen zur Verfügung, die meist im
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Rahmen der Moderation ausgeübt werden. Sie umfassen Richtigstellungen und Relativierungen ebenso wie mehr oder weniger ausdrückliche Ermahnungen. Schließlich lassen sich interreligiöse Aktivitäten als sogenannte network domains betrachten. Damit ist der Anspruch verbunden, interreligiöse Ereignisse nicht nur von innen heraus als Interaktionszusammenhang zu erschließen, sondern darüber hinaus ihre diskursive Einbettung zu berücksichtigen. Auf diese Weise lässt sich der Anspruch der neueren Netzwerkforschung einlösen, Netzwerke nicht nur als soziale Strukturen, sondern auch als Sinnzusammenhänge zu analysieren und Akteure als Ergebnis und nicht als Voraussetzung einer solchen Netzwerkdomäne zu verstehen (vgl. Emirbayer 1997: 287). Entsprechend lag mein Beobachtungsfokus zum einen auf den Rahmendiskursen unterschiedlicher interreligiöser Formate und zum anderen auf der Abgrenzung legitimer Akteure, die sich aus diesen Diskursen ergeben. Die Rahmendiskurse interreligiöser Begegnung reichen von Gemeinwohlorientierung und lokalem Zusammenhalt, etwa im Fall von Nachbarschaftstreffs, Schulgebeten und Stadtfesten, bis zu eher defizitorientierten Narrationen von Transparenz und Öffnung gegenüber der Aufnahmegesellschaft bei Tagen der offenen Tür und manchen Dialogveranstaltungen. Dabei besteht eine Grundspannung zwischen erwünschter bzw. zulässiger religiöser Vielfalt auf der einen Seite und der Notwendigkeit eines Common Sense auf der anderen. So stehen klassische Dialogveranstaltungen und Schulgottesdienste in einem multikulturalistischen Diskurszusammenhang, insoweit sie auf die Kultivierung und Anerkennung religiöser Unterschiede setzen, während Friedensgebete ihrer Anlage nach stärker auf die Aufhebung dieser Unterschiede durch gemeinsame religiöse Praxis und Erfahrung abzielen. Interreligiöse Nachbarschaftstreffs und Stadtfeste hingegen gehen zwar von der religiösen Differenz aus, ordnen sie aber gezielt der lokal definierten Gemeinschaft unter. Diese unterschiedlichen Rahmendiskurse oder institutionellen Mythen schlagen sich auch in der Definition legitimer Akteure nieder: In Dialogveranstaltungen berufen sich die Teilnehmer in der Regel auf eine (meist monolithisch gedachte) religiöse Tradition, in Nachbarschaftstreffs handelt man im Namen des Stadtteils, während in Friedensgebeten und Get-Togethers eine allgemeinere Sachwalterschaft für Humanismus und globalen Frieden reklamiert wird. Hinter diesen Techniken der Selbstlegitimierung zeichnet sich indes ein allgemeineres Modell interreligiös tauglicher Religion ab, das sich deutlich
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an der christlichen Mehrheitsreligion orientiert. Monotheismus, Tradition, Sozialethik und innerweltliche Orientierung, formale Organisation und Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden, das sind die Kennzeichen der idealen interreligiösen Religionsgemeinschaft. Poly- oder nicht-theistische Traditionen, neureligiöse Gruppen, lose Netzwerke, weltabgewandte Zirkel und vermeintliche „Verfassungsfeinde“ kommen im Umkehrschluss kaum als legitime Akteure in interreligiösen Aktivitäten in Betracht. Die Unterscheidung unterschiedlicher Formate interreligiöser Aktivitäten, die ich in diesem Beitrag vorgeschlagen habe, ist weder abschließend noch als Selbstzweck zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um eine Einladung, den Facettenreichtum interreligiöser Arbeit in modernen Einwanderungsgesellschaften anzuerkennen und daraus neue und genauere Forschungsfragen zu generieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Diskussion über staatliche Beteiligung an interreligiösen Aktivitäten. Statt allgemein über politische Vereinnahmung zu klagen, erscheint es sinnvoll, nach den Rollen staatlicher Vertreter in verschiedenen interreligiösen Formaten zu fragen. An dieser Stelle sind ethnographische Längsschnittanalysen mehr gefragt als herrschaftskritisches Grundsatzräsonnement: Was erhoffen sich religiöse Veranstalter von Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung? Verändern Public-Private Partnerships die Vorstellung von legitimen Akteuren und damit den Teilnehmerkreis? Wie verstehen und begründen unterschiedliche städtische Autoritäten vom Oberbürgermeister über den Polizeivertreter bis hin zum Quartiersmanager ihre Mitwirkung oder ihre Nicht-Mitwirkung an interreligiösen Aktivitäten? Ein weiteres Beispiel ist die Frage nach der Wirkung verschiedener interreligiöser Formate. Die Analyse der rituellen Dimension interreligiöser Arbeit und ihrer diskursiven Einbettung hat eine Vielzahl von Zielsetzungen und Wirkungsweisen erbracht. Aus dieser Warte betrachtet erscheint die Frage nach dem Erfolg bzw. nach der „gesellschaftspolitischen Relevanz“ interreligiöser Aktivitäten und die allfällige Klage über die mangelnde „Multiplikation“ der Ergebnisse ein wenig holzschnittartig (Micksch 2008: 99, Satilmis 2008: 128). Dieser Ansatz geht davon aus, dass im Zuge des interreligiösen Austauschs ein Wissensvorrat erzeugt wird, über den die beteiligten Vertreter verfügen und den sie verbreiten können. Das mag für einige Dialogveranstaltungen zutreffen, mindestens ebenso häufig erzeugen interreligiöse Aktivitäten allerdings ein informelles Erfahrungswissen und persönliche Vertrauensnetzwerke, die nicht ohne Weiteres fungibel und
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übertragbar sind. Hier sind neue Forschungsansätze gefragt, z.B. qualitative Netzwerkanalysen und die religionsästhetische Untersuchung interreligiöser Performanz. Auf diese Weise kann die angewandte Analyse interreligiöser Aktivitäten und vernetzter Vielfalt zum Experimentierfeld für neuere religionssoziologische und religionswissenschaftliche Verfahren werden.
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Autorinnen und Autoren
Eva-Maria Döring, Dipl. Rel.-Wiss., promoviert in der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ zum Thema religiöse Praxis bei brasilianischen Pfingstlern in Nordrhein-Westfalen. Weitere Interessengebiete sind Religion in praxistheoretischer Perspektive sowie die Pfingstbewegung in Lateinamerika. Frederik Elwert, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum und Koordinator des Projekts „Semantisch-soziale Netzwerkanalyse als Instrument zur Erforschung von Religionskontakten“ (SENEREKO). Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Religion und Integration bei evangelikalen Aussiedlern sowie Methoden der „digital humanities“ in der Religionswissenschaft. Karin Hitz, lic. rer. soc., promoviert in der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ zum Thema sozial, zivilgesellschaftlich und politisch engagierte Muslime in Deutschland. Weitere Interessengebiete sind die alevitische Identitätsbewegung in Europa und (religiöse) soziale Ethikvorstellungen. Sandhya Marla, M.A., promoviert in der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ zur Religiosität der zweiten Generation tamilischer Hindus aus Sri Lanka in NRW. Weitere Interessengebiete sind Diaspora- und Hinduismusforschung, Methoden qualitativer und rekonstruktiver Sozialforschung sowie postkoloniale Theorie.
270 | A UTORINNEN UND A UTOREN
Alexander-Kenneth Nagel, Dr. rer. pol., ist Juniorprofessor für Sozialwissenschaftliche Religionsforschung am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) und Leiter der Nachwuchsforschergruppe "Religion vernetzt". Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind interreligiöse Aktivitäten und die Steuerung religiöser Vielfalt. Weitere Interessengebiete sind Religion und Sozialpolitik sowie moderne Endzeitvorstellungen. Nelly Caroline Schubert, Dipl. Soz.-Wiss., promoviert in der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ zur Zusammenarbeit religiöser Migrantenorganisationen auf kommunaler Ebene. Weitere Interessengebiete sind soziale und symbolische Grenzziehungsprozesse sowie kultur- und organisationssoziologische Theorien. Piotr Suder, Dipl. Soz.-Wiss., promoviert in der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ zum Thema repräsentative Moscheen und kommunale Netzwerke. Weitere Interessengebiete sind deutsche Integrationspolitik und die Etablierung von ethnischen und religiösen Minderheiten im städtischen Raum. Sabrina Weiß, M.A., promoviert in der Nachwuchsforschergruppe „Religion vernetzt“ zu Transformationsprozessen und Generationswechsel bei Koreanisch-Christlichen Gemeinden in Nordrhein-Westfalen. Weitere Interessengebiete sind religiöse Sozialformen und religiöser Pluralismus in der postmodernen Gesellschaft.
Kultur und soziale Praxis Isolde Charim, Gertraud Auer Borea (Hg.) Lebensmodell Diaspora Über moderne Nomaden März 2012, 280 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1872-3
Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Urbane Jugendbewegungen Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt März 2013, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2130-3
Monica Rüthers Juden und Zigeuner im europäischen Geschichtstheater »Jewish Spaces«/»Gypsy Spaces« – Kazimierz und Saintes-Maries-de-la-Mer in der neuen Folklore Europas August 2012, 252 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2062-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus März 2013, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2089-4
Stefan Wellgraf Hauptschüler Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung April 2012, 334 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2053-5
Erol Yildiz Die weltoffene Stadt Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht Februar 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1674-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Anil Al-Rebholz Das Ringen um die Zivilgesellschaft in der Türkei Intellektuelle Diskurse, oppositionelle Gruppen und Soziale Bewegungen seit 1980 Dezember 2012, ca. 408 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1770-2
Ayla Güler Saied Rap in Deutschland Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen Januar 2013, ca. 340 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2251-5
Eran Gündüz Multikulturalismus auf Türkisch? Debatten um Staatsbürgerschaft, Nation und Minderheiten im Europäisierungsprozess September 2012, 262 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2109-9
Matthias Lahr-Kurten Deutsch sprechen in Frankreich Praktiken der Förderung der deutschen Sprache im französischen Bildungssystem August 2012, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2017-7
Andrea Nachtigall Gendering 9/11 Medien, Macht und Geschlecht im Kontext des »War on Terror« Juli 2012, 478 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2111-2
Ewa Palenga-Möllenbeck Pendelmigration aus Oberschlesien Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas Februar 2013, ca. 390 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2133-4
Johanna Rolshoven, Maria Maierhofer (Hg.) Das Figurativ der Vagabondage Kulturanalysen mobiler Lebensweisen Oktober 2012, 280 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2057-3
Ariane Sadjed »Shopping for Freedom« in der Islamischen Republik Widerstand und Konformismus im Konsumverhalten der iranischen Mittelschicht Juli 2012, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1982-9
Adelheid Schumann (Hg.) Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz Juli 2012, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1925-6
Irini Siouti Transnationale Biographien Eine biographieanalytische Studie über Transmigrationsprozesse bei der Nachfolgegeneration griechischer Arbeitsmigranten Februar 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2006-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de