»Dieses verfluchte Land«: Europäische Körper in Brieferzählungen aus der Karibik, 1744-1826 9783839442340

A place of threat or a space for new possibilities - how did Europeans of the 18th century experience the French Caribbe

188 104 2MB

German Pages 322 Year 2019

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Table of contents :
Editorial
Inhalt
Danksagung
Vorbemerkungen
Einleitung
Das Material: Die HCA-Briefe
Orte, von denen es kein Entrinnen gibt? Körper im 18. Jahrhundert
Die französische Karibik, ca. 1635-1800
Die Karibik von zu Hause betrachtet
Die Ankunft in der Karibik
Das karibische Klima
Gesundheitspflege in der Karibik
Ernährung und Gesundheit
„Sich Wohlfühlen“ in der Karibik
Körperliches Wohlbefinden und Gesellschaft
„Lebhafte Leidenschaften“
Krankheitserfahrung, Krankheitsbehandlung, Krankheitserzählung
Berichte von Sterben und Tod
Fazit und Ausblick: Sagbares, Unsagbares und unaussprechliche Gewalt
Untersuchungsmaterial
Literatur
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»Dieses verfluchte Land«: Europäische Körper in Brieferzählungen aus der Karibik, 1744-1826
 9783839442340

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Annika Raapke »Dieses verfluchte Land«

Praktiken der Subjektivierung  | Band 12

Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen ZeitRäumen entstehen. Post-structuralism and practice theories have shaken the Cartesian universal notion of the self-reflecting subject to its core. No longer is the subject viewed as the autonomous point of origin for initiative, but rather is analysed in the context of its respective social identity constructed by discourse and produced by social practices. This perspective has proven itself to be of exceptional utility for cultural and social analysis. The analytical value of the ensuing concept of subjectivation is the potential of supplementing related terms such as individualisation, disciplinary power, or habitualization by bringing new aspects of self-making to the fore. In this context, the analyses of the DFG Research Training Group »Self-Making. Practices of Subjectivation in Historical and Interdisciplinary Perspective« aim to contribute to the development of a revised understanding of the subject. They still take the fundamental dimensions of subjectivity such as agency and reflexivity into account, but do not overlook or lose sight of the historicity and sociality of the subject. Thus, the ultimate aim is to reach a deeper understanding of the interplay of doing subject and doing culture in various spaces of (and in) time. Die Reihe wird herausgegeben von Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Thomas Etzemüller, Dagmar Freist, Rudolf Holbach, Johann Kreuzer, Sabine Kyora, Gesa Lindemann, Ulrike Link-Wieczorek, Norbert Ricken, Reinhard Schulz und Silke Wenk.

Für meine Großeltern

Annika Raapke, geb. 1985, ist Post-Doc und ehemalige Kollegiatin im DFG-Graduiertenkolleg »Selbstbildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« sowie Mitarbeiterin im Akademienprogramm »Prize Papers« an der Universität Oldenburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Körper- und Medizingeschichte, Konsumgeschichte sowie die französischen Karibikkolonien des 18. Jahrhunderts.

Annika Raapke

»Dieses verfluchte Land« Europäische Körper in Brieferzählungen aus der Karibik, 1744–1826

Die vorliegende Arbeit wurde im englischen Original von der Fakultät IV – Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4234-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4234-0 https://doi.org/10.14361/9783839442340 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 9 Vorbemerkungen | 13 Einleitung | 15

Vorweg: Sklaverei | 22 Das Material: Die HCA-Briefe | 27

Methodisch-theoretisches Vorgehen | 32 Unsicherheit | 51 Körper in Briefen | 56 Orte, von denen es kein Entrinnen gibt? Körper im 18. Jahrhundert | 63

Was ist ein frühneuzeitlicher Körper? | 71 Innen und Außen: Der Körper in seinem Umfeld | 78 Der Einfluss von Luft, Wasser und Ortsverhältnissen | 81 Männer- und Frauenkörper | 86 Die französische Karibik, ca. 1635-1800 | 89

Französische Kolonialaktivitäten in den Westindischen Inseln | 93 Die Kolonie Saint Domingue | 96 Die Kolonien der Kleinen Antillen | 99 Sklaverei in der französischen Karibik: Die Konstruktion „des Sklaven“ | 103 Die freie Bevölkerung der französischen Karibik | 112 Die Karibik von zu Hause betrachtet | 123

Die Ankunft in der Karibik | 129

Im Reich des „père tropique“ | 134 Das karibische Klima | 151 Gesundheitspflege in der Karibik | 161 Ernährung und Gesundheit | 171 „Sich Wohlfühlen“ in der Karibik | 183 Körperliches Wohlbefinden und Gesellschaft | 191 „Lebhafte Leidenschaften“ | 197

Tanzen und Kleidung | 204 Libertinage | 215 Krankheitserfahrung, Krankheitsbehandlung, Krankheitserzählung | 241 Berichte von Sterben und Tod | 281 Fazit und Ausblick: Sagbares, Unsagbares und unaussprechliche Gewalt | 289 Untersuchungsmaterial | 303

Archive | 303 Gedrucktes Quellenmaterial | 304 Literatur | 307

Bibliographische Angaben | 307 Onlinequellen | 319

Danksagung

Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft, sowie stellvertretend für das gesamte Auswahlgremium den SprecherInnen des DFG-Graduiertenkollegs 1608-1/2 „Selbstbildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, für die Förderung der vorliegenden Forschungsarbeit. Besonderer Dank gilt dem SprecherInnenteam auch für die großzügige Ermöglichung der Archivaufenthalte in London und auf Martinique. Dem Personal in den Archives Départementales de la Martinique in Fort de France danke ich für die freundliche Aufnahme und Betreuung. In den UK National Archives, die mir in den letzten Jahren geradezu zur zweiten Heimat geworden sind, danke ich vor allem Amanda Bevan und Randolph Cock, die mit ihrer unglaublichen Expertise und Hilfsbereitschaft immer wieder die erstaunlichsten Hinweise für mich parat hatten. Ich freue mich sehr auf unsere zukünftige Zusammenarbeit und viele weitere Gespräche über Jeeves & Wooster. Den Mitgliedern des DFG-Graduiertenkollegs, besonders aber David Adler, Bianca Pick, Jörn Eiben und Kristina Brümmer, danke ich für den jahrelangen intensiven Austausch, viele hilfreiche Anregungen und vor allem die zahlreichen Momente kollegialen und freundschaftlichen „Zusammenseins“ – es war mir eine Ehre und ein Vergnügen, mit Euch zusammenarbeiten zu dürfen. Viele KollegInnen haben mit wichtigen Hinweisen und Anregungen, Fragen und Kommentaren Beiträge zu dieser Arbeit geleistet. Ich danke hier vor allem Malte Thießen, Jens Gründler und dem Institutskolloquium zur Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Thomas Truxes, Alex Taylor und Kate Davison. Angesichts der gelegentlichen Unsicherheitsmomente, welche die Dissertationsphase unweigerlich mit sich bringt, war die kontinuierliche und persönliche Unterstützung einiger FachkollegInnen von unschätzbarem Wert für mich. Ganz herzlichen Dank möchte ich Hans Medick aussprechen, dessen Zuspruch und Interesse mir immer wieder ein besonderer Ansporn waren. Das gleiche gilt

10 | „Dieses verfluchte Land“

für Margaret Hunt! Jan-Friedrich Missfelder sende ich großen und sehr vergnügten Dank für viele hervorragende Empfehlungen, Gelegenheitseröffnungen und Ananasmomente. Phil Withington, meinem Zweitbetreuer, danke ich für zahllose exzellente Ratschläge, Kritik und Ermutigung, viele zurückgelegte Kilometer und investierte Stunden, vor allem aber für seine Freundschaft – eindeutig eines der besten Ergebnisse der Promotionszeit. Dagmar Freist, meiner Doktormutter, danke ich für ihr großes Vertrauen in die Fähigkeiten ihres wissenschaftlichen Nachwuchses und für ihre beständige Bereitschaft, jungen WissenschaftlerInnen Möglichkeiten zu geben, sich auszuprobieren. Dafür, dass Einwände wie „zu jung“ oder „zu unerfahren“ oder „noch nicht ‚weit‘ genug“ für sie stets komplett irrelevant waren, so lange ich mir nur selbst zutraute, die jeweilige Herausforderung anzugehen. Dafür, dass sie mich immer darin bestärkt hat, eine eigene wissenschaftliche „Stimme“ zu entwickeln, und es stets verstanden hat, zu beraten ohne einzugreifen. Dafür, dass in ihrer Abteilung Platz ist für weniger konventionelle Forschung und Lehre, für Experimente und Kreativität. Und dafür, dass sie das geradezu Unmögliche geschafft hat, nämlich die Zusammenstellung eines wissenschaftlichen Nachwuchsteams, das seit mittlerweile beinahe zehn Jahren hervorragend und ohne Konkurrenzdruck zusammenarbeitet. Und so zu den KollegInnen aus der Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit: Ich danke Annett Meiners, Frank Marquardt und Gerd Steinwascher für gemeinsame Archivaufenthalte und Karibikfachsimpeleien – vor allem aber danke ich der Prize Papers Crew der ersten Stunde, Christina Beckers und Jessica Cronshagen, den besten Kolleginnen weit und breit; sowie Frank Schmekel und Constantin Rieske. Lucas Haasis, meinem jahrelangen Kompagnon und Komplizen in Forschung, Lehre und akademischem Unwesen aller Art: Ich danke Dir für all die hervorragenden Zeiten! Es warten noch so viele Kostüme auf uns. In diesem Zusammenhang danke ich auch Hanne Robben für die großzügige Ermöglichung der o.g. Aktivitäten. Der unvergleichlichen Marta Mazur danke ich für ihren ausdauernden Einsatz dafür, dass aus einem Text tatsächlich ein Buch werden konnte, und verneige mich vor ihren erstaunlichen Fähigkeiten. Ich danke Lara Brünjes, Hannah Dasecke, Viktoria Darenberg und Britta Lammers für offene Ohren, Geduld, Nachsicht und höchstwillkommene Ablenkungen, das gleiche gilt für Kerstin von der Lieth, die sich zudem als Korrekturheldin erwiesen hat, und für Alexandra Janetzko, die mich mit gewohnter Brillanz und Souveränität durch meine Disputation bugsiert hat. Meinen Großeltern Karl-Heinz und Monika Beutler danke ich für ihren Enthusiasmus angesichts meiner Arbeit, der mir viel bedeutet hat; ebenso danke ich

Danksagung | 11

meinem verstorbenen Großvater Hans-Dietrich Raapke, Ela Eckert, sowie Helge und Uwe Köster. Meinem Vater danke ich für seine Begeisterung für Geschichte, die er mir so großzügig weitergegeben hat. Meiner Mutter Stefanie Raapke danke ich für ihre unerschöpfliche Unterstützung, ihr gutes Gespür für das, was wichtig ist, und ihren extrem wertvollen Rat in allen Belangen. Patrick Ficus ist maßgeblich verantwortlich dafür, dass diese Arbeit überhaupt entstanden ist. Als Manager, Trainer, Forschungsassistent und Seelsorger in Personalunion hat er drei Jahre lang unermüdlich angefeuert, gelobt, geschimpft, hinterfragt, formatiert, fotografiert und getröstet, bis die letzte Seite geschrieben war. Danke. Oldenburg, im Oktober 2018

Vorbemerkungen

Im Folgenden werden Quellen zitiert, in denen das Wort „nègre“ benutzt wird. Nègre ist ein Quellenbegriff mit wichtigen Konnotationen, bezeichnet er doch im französischen Kontext der Zeit SklavInnen und nicht Menschen afrikanischer Herkunft. Schwarze Menschen wurden schlicht als „Noirs“ bezeichnet, People of Colour als „Gens de Couleur“. Im Sinne von Andrew S. Currans „The Anatomy of Blackness“ werden Worte wie nègre oder „gens de couleur“ hier nicht übersetzt. Im Fließtext wird für Menschen gemischter afrikanischer und europäischer Abkunft das zwar holperige, aber konsensuelle – of colour benutzt. Irritationen des Leseflusses werden in Kauf genommen. Die Abkürzungen „M.“, „Mme“ und „Dlle“ stehen entsprechend französischer Handhabung für „Monsieur“, „Madame“ und „Demoiselle“.

Einleitung

„Da ich hier keine Möglichkeiten habe, Ihnen zu schreiben, meine liebe Schwester, nutze ich die Gelegenheit des lieben Boisclair, der nach Neuengland reist, um Ihnen das grausamste Unglück mitzuteilen, das uns ereilt hat, ich zittere, meine zärtliche Freundin, es Ihnen auszusprechen, es kostet mein Herz so viel! Ah! Meine liebe Freundin, es ist der Verlust Ihres Sohnes, Ah! Arme Mutter, wie sehr ich Sie bedaure, und wie sehr ich selbst zu bemitleiden bin; ich hätte alles auf der Welt gegeben dafür, ihn nicht gekannt zu haben, dann hätte ich ihn nicht ins Herz geschlossen wie ich es getan habe; trotz all meiner Pflege, der seines Onkels und der Herren Ärzte, wir haben ihn nicht für einen Moment alleine gelassen, weder bei Tag noch bei Nacht, unsere Pflege war fruchtlos; er ist am 31. März an einem bösartigen und putriden Fieber gestorben, wir fühlen so sehr, meine liebe Freundin, den grausamen Verlust den wir erlitten haben; Sie waren nicht glücklich, ihn nach St Domingue ziehen zu sehen; ich warne Sie, meine zärtliche Freundin, sich nicht dem Kummer hinzugeben, und Ihren Schmerz Gott anzuvertrauen…“1

1

HCA 30/381, Mme Charmeau Fournon an Mme Monnier de Chambrian, 21.05.1793: „Nayans aucune occasion chere sœur ici, pour vous écrire je profite de l’occasion du cher boisclair, qui vas faire un tour a la nouvelle angleterre; pour vous anoncer le malheur le plus cruelle, qui nous est arrivé je tremble, ma tendre amie De vous le prononcer il en coute tant à mon cœur ! ah ! ma chere amie, c’est la perte de votre fils, ah ! pauvre mere que je vous plaind, et que je suis moi-même a plaindre; j’aurois donné atout au monde, pour ne lavoir pas connu, alors je me serais pas attaché a lui comme je l’ais fait, malgrés tous mes soins, ceux de son oncle, et des messieurs médecin, nous ne l’avons pas abandonné un instant, ni nuits ni jours nos soins ont été inutile; il a perit d’une fievre maligne et putride le 31 mars, nous sentons bien ma chere amie, la cruelle perte que nous avons fait; vous netiez pas contente de le voir passer a st Domingue; je vous exorte ma tendre amies a ne pas vous abandonner au chagrin, d’offrir vos peines a Dieu…“.

16 | „Dieses verfluchte Land“

Dieser Brief, geschrieben am 21. Mai 1793 in Saint Domingue, hat sein Ziel nie erreicht – er wurde unterwegs von englischen Kaperern abgefangen. Doch was, wenn er tatsächlich angekommen wäre? Die Adressatin, Madame Monnier de Chambrian, würde ihn wahrscheinlich an der Tür ihres Hauses in Nantes in Empfang genommen haben. Sie hätte bezahlt (der Empfänger oder Adressat eines Briefes hatte für dessen Transport aufzukommen): den Preis für den ersten Brief seit langem, der sie aus den Antillen erreicht hätte. Saint Domingue war zu diesem Zeitpunkt geschüttelt von der Revolution seiner SklavInnen, und die Transportwege des Atlantiks waren unsicher aufgrund der Kriege, die Frankreichs eigene Revolution nach sich gezogen hatte. Vermutlich hätte Mme Monnier de Chambrian mit einiger Aufregung den Brief geöffnet, der ihr endlich Neuigkeiten von ihrem Sohn und ihrer Familie bringen sollte. Was sie jedoch vorgefunden hätte, war die Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtungen: Der Sohn, um dessen Wohlergehen in der Karibik sie sich so gesorgt hatte, war tot. Weder die Pflege seines Onkels und seiner Tante, noch die Fürsorge der Ärzte hatten ihn von jenem „bösartigen und putriden“ Fieber retten können, das ihn ereilt hatte – eine der Krankheiten, die der Karibik die zweifelhafte Ehre verschafft hatten, in die Reihe der „European’s Graveyards“2 aufgenommen zu werden. Und dieser Ruf war wahrscheinlich auch der Grund dafür gewesen, dass Mme de Chambrian ihren Sohn nie nach Saint Domingue hatte reisen lassen wollen, wie ihre Schwester im Brief einräumte. In die Karibik zu reisen hieß buchstäblich, eine Grenze zu übertreten; den Wendekreis des Krebses zur überqueren, hinter dem die „Tropen“ begannen. Für viele EuropäerInnen des 18. Jahrhunderts war dies eine grundsätzlich gefährliche Unternehmung, war es doch keinesfalls sicher, dass man jemals wieder zurückkehren würde. Jeder Zeit konnte man von einem der allgegenwärtigen Fieber dahingerafft werden, wie der junge Monsieur Monnier; vom ‚Ténesme‘ (einer Erkrankung des Darmtraktes), oder von einer der diversen anderen exotischen Krankheiten, die die Tropen für europäische Neuankömmlinge bereithielten. Selbst wenn man nicht gleich starb, wurde man doch zumindest stark geschwächt. Die ungesunde Luft der Karibik verwandelte die stärksten, robustesten europäischen Körper in schwächliche Schatten ihres einstigen Ruhms. Zudem kamen ungewohnte Lebensmittel, Erdbeben und Hurricanes. Die kolonialen Arrangements der Karibik des 18. Jahrhunderts lebten in zuvor kaum gekanntem Ausmaß von menschlichen Körpern und ihrer Ausbeutung. Menschliche Körper waren der Rohstoff, auf dem ihr Reichtum basierte. Hun2

Siehe z.B. Pols, Hans: Notes from Batavia, the European’s Graveyard: The nineteenth-century debate on Acclimatization in the Dutch East Indies, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 67/1, 2012, S. 120-148.

Einleitung | 17

derttausende SklavInnen wurden unter Zwang in die Karibik „geliefert“ und dort von Aufsehern, Verwaltern und PflanzerInnen brutal benutzt, ausgebeutet und gequält, um diesen Reichtum zu erwirtschaften. Armeen von Soldaten, deren Rekrutierung bereits ihren möglichen, sogar wahrscheinlichen Tod während der Stationierung einkalkulierte, mussten diesen Reichtum schützen.3 Boris Lesueur hat den vielsagenden Umstand aufgezeigt, dass die französische Armee für die kolonialen Truppen ihre Rekrutierungsstandards senkte. Um in die französische Kontinentalarmee aufgenommen zu werden, musste ein Rekrut die Mindestkörpergröße von „5 pieds 1 pouce“, „fünf Fuß, einen Daumen“, bzw. 167 cm, erreichen4. Laut Lesueur erfüllten jedich nur 38% der Rekruten der Kolonialarmee diese Bedingung.5 Angesichts der hohen Mortalität, für die die Tropen bekannt waren, war das Militär wenig geneigt, besonders wählerisch zu sein bei der Auswahl der Soldaten, die dorthin geschickt wurden. Laut Lesueur galt dies anscheinend auch für die Offiziere der kolonialen Regimenter, deren Karrieren in Frankreich oftmals eine unerfreuliche Wendung genommen hatten. Er zitiert den folgenden, recht harschen Kommentar, der zu Beginn der Französischen Revolution vor der Nationalversammlung über die Kolonialarmeen abgegeben wurde: „Diese Regimenter sind nichts als eine Art Rinnstein, in dem all die Abwässer Frankreichs sedimentieren…“6 Auch wenn etwa die Kolonie Saint Domingue das „Juwel“ in der französischen Krone war und auch die anderen Inseln massiv zum Wohlstand (einiger) seiner Bewohner beitrugen, war Frankreich nicht bereit, seine besten Soldaten an den Schutz der Kolonien zu verschwenden. Zeitgenossen besprachen die Karibik – als „typische“ Tropenregion – oft als ein „körperfressendes“ Konzept. Die Vorstellung einer grundsätzlichen Gefährlichkeit der Tropen kann im europäischen Raum seit mindestens dem 16. Jahrhundert nachvollzogen werden, wie z.B. David Arnold für medizinische und wissenschaftliche Literatur aufgezeigt hat: „Authors warned of a often malevolent climate, and all manner of roaring, biting, gnawing creatures that harassed 3

Dasselbe galt für die Crews, die auf den Schiffen der großen Handelskompanien in Richtung Karibik reisten; häufig setzten sie sich aus Vertretern der ärmsten, tagelöhnernden Schichten europäischer Gesellschaften zusammen, denen sich wenige Alternativen boten. Siehe etwa Van Heinigen, Willem Teunis: La situation sanitaire à bord des vaisseaux de la „VOC“ au Cap de Bonne-Espérance et à Batavia entre 1750 et 1800, in: Histoire des Sciences Médicales, XLI/3, 2007, S. 303-313.

4

Lesueur, Boris: Les Troupes Coloniales aux Antilles sous l’Ancien Régime, in: Histoire, Économie & Société 28/4, 2009, S. 3-19, S. 16.

5

Ebd.

6

Ebd.: „ces régiments ne sont guère que des sortes d’égouts où vont se déposer toutes les immondices de France…“.

18 | „Dieses verfluchte Land“

human life by land and sea. In so seemingly hostile an environment, it was not surprising that disease, too, raged with particular violence in the tropics“.7 Diejenigen die aus freien Stücken dorthin reisten, besprachen ihre körperlichen Leiden bisweilen als „ein Tribut, von dem kaum jemand ausgenommen ist“8, als wäre die Region eine Art mythischer Kreatur, die durch das Opfer der Gesundheit beschwichtigt werden musste, erschreckend und faszinierend zugleich. Denn seit den frühesten Anfängen der Europäischen Kolonialunternehmungen in der Karibik wurde die Karibik diskursiv stets auch als ein Raum konstruiert, in dem physische und moralische Grenzen aufgelöst werden konnten, und wo eine Neuerfindung des Selbst möglich war, insbesondere für Männer – ein Aspekt, der im Ritual der Linientaufe9 (bei der Erstüberquerung des Wendekreises des Krebses) seinen symbolischen Ausdruck fand. Legenden von Europäern, die als Abenteurer oder Piraten in der Karibik gelebt hatten, die alle denkbaren körperlichen Exzesse ausgelebt hatten und dann entweder reich und mächtig geworden oder eines glamourösen (wenn auch höchst despektierlichen) Todes gestorben waren, gehörten ebenso zur diskursiven Konzeption der Karibik wie Gelbfieber und das gefährliche Klima. Studien wie Doris Garraways „The Libertine Colony“ zeigen, wie Texte im 17. und 18. Jahrhundert die karibischen Kolonien als Orte erzählten, wo unterschiedliche Praktiken von „Corruption“10 oder „Débauche“ vollzogen und innerhalb der soziomateriellen Arrangements intelligibel sein konnten, die andernorts nicht akzeptabel gewesen wären. Der europäischstämmigen (bzw. weißen) Bevölkerung etwa war ein Verwischen sozialer Grenzen möglich insofern als sie ungeachtet ihrer sozialen Zugehörigkeit oder Herkunft in Luxus schwelgen konnten, sofern sie es sich leisten konnten. Als der Bruder von Mme Lambert 1792 in Les Cayes, Saint Domingue, anlandete, ging er in zerrissenen Lumpen und komplett ohne Besitz von Bord. Er erwartete allerdings, in kürzes-

7

Arnold, David: The Place of ‚the tropics‘, in: Western medical ideas since 1750, in: Tropical Medicine and International Health, 2/4, 1997, S. 303-313, S. 307.

8

HCA 30/260, 201, De Vande, Grande Rivière, Saint Domingue, an Monsieur de Vande, Chevalier de l’ordre Royal millitaire de St. Louis, ingenieur en chef au Chateau trompette a Bordeaux, 08.03.1756.

9

Der Begriff der Linientaufe wird im Deutschen oft synonym zu dem der Äquatortaufe benutzt. In der Tat ist die Äquatortaufe auch eine Linientaufe, jedoch bezieht sie sich – offensichtlich – auf die Überquerung des Äquators, während „Linientaufe“ auch die Überquerung der Wendekreise des Krebses und des Steinbocks einschließt.

10 Kürzlich auch für die spanische Karibik: Smith, Casey S.: Virtue in Corruption. Privateers, Smugglers, and the Shape of Empire in the Eighteenth-century Caribbean, in: Early American Studies, 13/1, 2015, S. 80-110.

Einleitung | 19

ter Zeit mit allen Accoutrements eines „petit caigneur“11 ausgestattet zu sein, was besonders seine Schwester verärgerte, an die er sich für die Bereitstellung dieses neuen Lebensstils wandte – dieser Konflikt wird später genauer beleuchtet. Es genügt hier jedoch dieser kurze Einblick, um aufzuzeigen, dass Mme Lamberts Bruder mit spezifischen Erwartungen bezüglich der Möglichkeiten, die das Leben in der Kolonie für ihn bereithalten würde, in die Karibik gereist war. In dieser Arbeit wird untersucht, wie EuropäerInnen des 18. Jahrhunderts (sowohl Neuankömmlinge als auch Langzeit-Siedler) aus den unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten die sozialen und geophysischen Bedingungen der Karibik durch ihre Körper erfuhren und darstellten – als Bedrohung für Gesundheit und Leben, als Chance zur Veränderung und Neuerfindung, oder als Grenzgang zwischen beiden Seiten. Es soll untersucht werden, welche Praktiken diejenigen Menschen, die fern der Verwaltungseliten der Metropolen die koloniale Gesellschaft konstituierten und somit „den Kolonialismus“ in der französischen Karibik verkörperten und praktizierten, zum alltäglichen Umgang mit der Gefahr entwickelten; ebenso wie die Praktiken, die zur Auslotung und Ausnutzung neuentdeckter sozialer „Maneuverräume“ entstanden; und es soll unter die Lupe genommen werden, wie die EuropäerInnen Grauzonen zwischen Vorsicht und „Débauche“ navigierten. Als Forschungsgrundlage hierfür dient eine Auswahl von 150 Briefen, die aus den französischen Karibikkolonien nach Europa oder aus Europa in die Kolonien versandt wurden. Angesichts dieser Quellengrundlage muss bei der Annäherung an die genannten Aspekte berücksichtigt werden, dass es sich bei den einzelnen Briefen um sorgsam verfasste und auf AdressatInnen zugeschnittene Erzählungen handelte. Der relativ offene Begriff der „Erzählung“ – später noch gründlicher definiert – wird hier verwendet, weil er sich hervorragend eignet, um sowohl den konversationellen Charakter eines Briefaustauschs als auch die sorgfältige Kompositionsleistung in Antizipation spezifischer AdressatInnen zu erfassen, die jeder Brief bedeutete. Beide Aspekte stellen gleichzeitig zentrale Grundpositionen für die hier erfolgende Analyse historischer Briefe dar, denn Briefe dienten (fast) immer auch dazu, Zugehörigkeiten zur europäischen Heimat zu bewahren und zu sichern. Familienbande, Freundschaften und Geschäftsbeziehungen mussten beständig aufrechterhalten und bestärkt werden, da wirtschaftliche und soziale Existenzen in vielen Fällen von deren Rückhalt und Unterstützung abhingen; dies war ein maßgeblicher Faktor bei der Komposition von Briefen in die Heimat. 12 Somit wird einerseits untersucht 11 HCA 30/394, Mme Lambert, Saint Domingue, an ihre Schwester Dlle Fauque in Nantes, 12.01.1793. 12 Siehe etwa Pearsall, Sarah: Atlantic Families. Lives and Letters in the Later 18th century, New York 2008; Powers, Anne M.: A Parcel of Ribbons. The letters of an 18th

20 | „Dieses verfluchte Land“

werden, wie die Angst vor Krankheit und Tod, oder auch eine generelle Sorge um das körperliche Wohl, ebenso wie „tatsächliche“ Erfahrungen von Krankheit, Verletzung oder Todesfällen in den Kolonien in Briefen diskutiert wurden, und wie die BriefschreiberInnen innerhalb ihrer Erzählungen Zusammenhänge zwischen diesen Erfahrungen und der karibischen Umgebung herstellten. Welche Gesundheits- und Präventionspraktiken, welche Praktiken der medizinischen (Selbst-)Versorgung wurden in Briefen berichtet? Erlebten Europäer die sozialen und physischen Bedingungen der Karibik als körperliche Irritationen, und somit als Bedrohungen für ihre Gesundheit, und wenn ja, wie erzählten sie dieses in Briefen? Versuchten sie, diesen Irritationen mit Veränderungen ihrer eigenen Praktiken zu begegnen? Wie wurde somit das Verhältnis des Lebensraums Karibik und der dort lebenden Europäer konstruiert? Andererseits soll aber auch erfragt werden, welche neuen Praktiken der „Ausstellung“ und Sichtbarmachung des Körpers (etwa durch veränderte Kleidung, oder auch durch das Teilen neuer oder anderer sozialer und physischer Räume); des Sorgens für den Körper und des Umganges mit ihm (in den Bereichen Arbeit, Sexualität, Gesundheitspflege), aber auch des Erfahrens des Körpers (etwa in der Feststellung neuer oder anderer Bedürfnisse und Möglichkeiten) in Briefen zur Sprache kamen, und inwiefern diese Rückschlüsse auf veränderte körperliche Selbstkonzepte zulassen, auf Verschiebungen gültiger Systeme der Akzeptanz und Anerkennung. Hier liegt der Fokus darauf, ob und wie die Karibik, das Gebiet jenseits der Grenzlinie des Wendekreises, als ein „Möglichkeitsraum“ konstruiert wurde, der EuropäerInnen die Möglichkeit bot, sowohl sich selbst als auch die eigenen Vorstellungen von sozial akzeptiertem bzw. erwünschtem Benehmen neu zu definieren. Dieser Ansatz verspricht eine neue Annäherung an die Etablierung der Kolonialgesellschaften „von unten“. Hier sei allerdings vorangestellt, dass koloniale „Möglichkeitsräume“ sich für Männer deutlich anders darstellten als für Frauen, denen auch in der körperlichen Entgrenzung deutliche Grenzen gesetzt waren. 13 Das century family in London & Jamaica, London 2012; Dierks, Konstantin: In My Power. Letter Writing and Communication in Early America, Philadelphia 2009. 13 Selbstverständlich ist es ebenso denkbar, dass BriefschreiberInnen eventuelle Momente der Transgression in ihren Briefen ausließen, da sie wussten, dass ihre Leserschaften sie nicht akzeptieren oder verstehen würden. Dennoch beinhalteten diskursdominierende Berichte und Legenden auch so beeindruckende Figuren wie die Piratinnen Mary Read und Anne Bonny, deren Geschichten Leserschaften im 18. Jahrhundert faszinierten, und die vermuten lassen könnten, dass die Idee weiblicher Grenzübertretungen in der Karibik in Europa in gewissem Maße vertraut war. Allerdings gingen sowohl Read als auch Bonny ihren alltäglichen Piratengeschäften in Männerkleidung nach und gaben sich im Allgemeinen nicht als Frauen zu erkennen. Insofern sind sie

Einleitung | 21

Verhältnis von drohender Gefahr und lockender „Freiheit“ wurde von den ZeitgenossInnen in verwickelten Zusammenhängen gesehen: Einerseits sorgte die ständige Bedrohung des Körpers durch Krankheit, Klima und Krieg für eine schnelllebige, hedonistische, todesverachtende Kultur, in der der allgegenwärtige frühneuzeitliche Leitsatz des maßvollen Lebens an Relevanz verlor. Andererseits war es die Verlockung, eben dieser Dekadenz anheim zu fallen, die den Körper besonders bedrohte, denn das maßvolle Leben wurde in der gefährlichen Umgebung umso wichtiger. Aber was in der Karibik als maßvoll galt, konnte und musste im Interesse der Erhaltung des Körpers bisweilen neu ausgehandelt werden, denn was in Europa gesund war, konnte in der Karibik fatal sein. Zwischen Disziplin und Ausschweifung, Angst und Risikobereitschaft wurden in der Praxis Grauzonen eröffnet und abgesteckt, was auch die Entwicklung flexibler und intelligibler Rechtfertigungsstrategien für die Bezugspersonen in der Heimat beinhaltete. Die Karibik war nicht nur ein Ort des Todes und der Gefahr, sondern auch der Neuerfindung und Neudefinition dessen, was/wer man war. Neuerfindung und Neudefinition ereigneten sich jedoch nicht über Nacht, sondern innermehr als Teil einer ‚deeply rooted underground tradition‘in Europa zu verstehen und weniger als ein seltsames neues karibisches Phänomen. Marcus Redikers Artikel „When Women Pirates sailed the Seas“ bespricht sowohl die relativ bekannte Praktik weiblichen Cross-Dressings in den Armeen und Schiffscrews der Frühen Neuzeit, als auch die Popularität von Liedern und Geschichten, die von den Abenteuern solcher Frauen berichteten.Rediker betont die dauerhafte Wirkmächtigkeit dieser Narrative, welche „undercut the gender stereotypes of their time and offered a powerful alternative image of womanhood for the future“. Dies mag auf die Narrative zutreffen – und doch weist der Umstand, dass selbst in den „Libertine Colonies“ Frauen sich als Männer verkleideten, wenn sie an den ultimativen Formen gesellschaftlicher Transgression teilnehmen wollten, darauf hin, dass die Grenzen, die weiblichen Körpern gesetzt waren, sich auch jenseits des Wendekreises nicht zu sehr von denen Europas unterschieden. In diesem Kontext möchte ich darauf hinweisen, dass die Geschichten der Piratinnen, der Soldatinnen und Seglerinnen zwar faszinierend für zeitgenössische LeserInnen waren und sich auch bestens eignen, die Bedürfnisse der Leserschaft von 2017 nach Geschichten von wehrhaften, „starken“ Frauen zu befriedigen. Nichtsdestotrotz sind es Geschichten von Frauen, die Möglichkeitsräume für sich selbst eroberten, die zuvor von Männern belegt und definiert worden waren – letztlich sind es Geschichten von Frauen, die Männerleben lebten. Hier soll nicht auf den Piratinnen-Chronisten Captain Johnson Bezug genommen werden (der im übrigen möglicherweise Daniel Defoe war), sondern auf den deutlich harmloseren Moreau de Saint-Méry. Dies bedeutet einen Verlust an Piratigkeit, erlaubt allerdings im Gegenzug hoffentlich etwas allgemeingültigere Einblicke in weibliche Möglichkeitsräume in der Karibik.

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halb langwieriger Transformationsprozesse, die in körperlichen Vollzügen und deren Kontextualisierungen ereigneten. Europäer, oder eher europäische Körper, erfanden sich als KolonialbewohnerInnen durch ihre Art zu essen, trinken und schlafen; in der Ausübung von Arbeit, Sexualität, Gesundheitspflege, körperlicher Aktivität oder auch Sklaverei und Gewalt. Es wird für die Untersuchung nicht als notwendig erachtet, dass die BriefschreiberInnen, deren schriftliche Zeugnisse untersucht werden, ihre eigenen veränderten Praktiken oder Erfahrungen schildern. Angst und Sorge, aber auch „Grenzüberschreitungen“ können – wie im oben kurz angesprochenen Fall des Bruders von Mme Lambert – auch durch die Augen, bzw. die Feder einer anderen Person geschildert werden, was dann in der hier vorgenommenen Interpretation entsprechend berücksichtigt wird. Das Briefmaterial wird durch zusätzliche Quellen, etwa Reise- und Regionsbeschreibungen, ein Ärztejournal oder auch Akten der französischen Militärund Kolonialverwaltung ergänzt. Beschreibungen wie Médéric Louis Élie Moreau de Saint-Merys berühmte „Déscription Topographique, Physique, Civile, Politique, et Historique de la Partie Francaise de L’Isle de Saint-Domingue“14, welche die karibischen Kolonialgesellschaften als luxusverliebt, extravagant, verwegen, irrational, gewalttätig und promiskuitiv portraitierten und ihren Beitrag dazu leisteten, Erwartungen wie die von Mme Lamberts Bruder zu formen, werden kontextbildend hinzugezogen.

VORWEG: SKLAVEREI Alle hier untersuchten oder hinzugezogenen historischen Materialien bewegen sich im Kontext der atlantischen, bzw. karibischen Sklaverei. Hierfür spielt es keine Rolle, ob das fragliche Dokument sich explizit mit SklavInnen oder Sklavereipraktiken beschäftigt oder nicht. Alle hier besprochenen Dokumente entstanden entweder in einem Alltagszusammenhang, der von Sklaverei geprägt war, oder richteten sich an Menschen, die in solchen Alltagszusammenhängen lebten. Sklaverei war eines der charakteristischen Elemente des Lebens in der Karibik. Angesichts des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit mag sich die Frage stellen, ob Neuankömmlinge, die in Europa niemanden als Sklaven gehalten hatten, sich nicht vielleicht auch mit dieser fremdartigen Erfahrung brieflich auseinandersetzten. Um hier ausnahmsweise dem Analyseteil und den sonstigen Er-

14 M.L.E. Moreau de Saint-Méry: Description Topographique, Physique, Civile, Politique, et Historique de la Partie Francaise de L’Isle de Saint-Domingue, Philadelphia/Paris/Hamburg 1789.

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kenntnissen der Arbeit vorzugreifen: Weder die Sichtung, noch die intensive Analyse haben derartige Quellenbeispiele zu Tage gefördert. Auch aus anderen kolonialhistoriographischen Zusammenhängen vertraute Inhalte15 finden sich nicht in den Briefen wieder, was möglicherweise Lese-Erwartungen zuwiderläuft. So betrieben viele BriefschreiberInnen zwar in zahllosen Kontexten deutlich etwas, was analytisch als ein „Othering“ des versklavten oder freien schwarzen Körper gefasst werden kann, der Soldat Milcent etwa schrieb im August 1778 aus Martinique über die SklavInnen, die er gesehen hatte: „Sie sind alle nègres, die so dumm sind wie Pferde, und man führt sie mit großen Peitschenhieben und kann nicht verstehen, was sie sagen“.16 Was das Untersuchungsmaterial jedoch so gut wie gar nicht zeigt, ist das Othering des (versklavten) schwarzen Körpers durch Bezug auf den weißen bzw. kolonialistischen Körper. Die Auswirkungen oder Möglichkeiten der Karibik auf bzw. für weiße Körper wurden in den hier vorliegenden Briefen nicht etabliert, verstärkt, verdeutlicht etc. durch einen Einbezug schwarzer Körper; der Körper fungiert hier nicht als prominenter „Othering“-Kontext. Das einzige Briefexemplar, das im Laufe dieser Untersuchung gesichtet wurde, in dem (indirekt) ein Vergleich von versklavten und freien Körperlichkeiten vorgenommen wurde, stammt aus der Zeit der Revolution von Saint Domingue. Am 15. Januar 1793 beschrieb ein M. Mathelot aus Les Cayes einem M. de la Milletiche in Chantillon seine Einschätzung der Kräfteverhältnisse: „Sie [Frankreich] weiß, dass unter den achtzigtausend Individuen, die weiß, de couleur & freie nègres sind, kaum dreißigtausend in der Lage sind, Waffen zu tragen; sie weiß, dass es ungefähr sechshunderttausend Sklaven in der Kolonie gibt, von denen einhundertfünfzigtausend robuste Männer sind, die kräftig und abgehärtet sind“.17 15 Dies betrifft vor allem Elemente aus Gelehrtendiskursen, etwa die Akklimatisationsproblematik und das Argument, das Weiße in den Tropen nicht arbeiten/leben könnten. Für eine längere Auseinadersetzung dieses Punktes: Raapke, Annika: Zusammen sind wir schwach? Kranke Körper und Vergemeinschaftung in der französischen Karibik des 18. Jahrhunderts, in: Werkstatt Geschichte, Themenheft „Krank“, 2018. 16 HCA 30/287, Milcent, Fort Royal, Martinique, an seine (Groß-)Mutter (?) in Paris, 03.08.1778: „Ce sont tous naigres qui sont aussy bêttes que des chevaux, et on les mènent à grand coups de fouéts, et on ne peut distinguer ce qu’ils disent“. 17 HCA 30/395, Mathelot, Les Cayes, Saint Domingue, an M. de la Milletiche, Chantillon. 15.01.1793: „Elle sait que dans les quatre vingt mille individus tant blancs que de couleur & negres libres, il y en a a peine trente mille dans le cas de porter les armes, elle sait qu’il y a environ six cent mille esclaves, dans la colonie, dont cent cinquante mile son des males robustes, vigoureux & faits à la dure“.

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Diese (zahlenmäßig fragwürdige) Darstellung sollte eher die Forderung der Kolonialisten nach mehr militärischer Unterstützung von Seiten der französischen Revolutionsregierung unterfüttern als weiße Hegemonialansprüche erheben, welche dieser Forderung ohnehin zugrunde lagen. Für andere Briefbestände aus derselben Archivsammlung stellt sich die Situation anders dar (man siehe etwa die Arbeiten von Jessica Cronshagen zur Herrnhutermission in Surinam). Hier muss allerdings die Quellenlage so akzeptiert werden, wie sie sich darstellt. Die Sklaverei sorgte dafür, dass ein riesiger Teil der kolonialen Bevölkerung sich aus gewaltsam verschleppten und ins Land gebrachten Menschen zusammensetzte, die aus einer Vielzahl afrikanischer Länder und Kulturen stammten. Zu dem Zeitpunkt, an dem diese Untersuchung ansetzt, waren diese Menschen mit unvorstellbar drastischerer Fremdheit konfrontiert als die EuropäerInnen 18. Sie waren gezwungen, neue Sprachen, Kulturen und Handlungsspielräume zu erschaffen, während die Profiteure des Sklavereisystems mithilfe extremster Gewalt und Unterdrückung versuchten, sie eben davon abzubringen. Die EuropäerInnen, als zweite zentrale Bevölkerungsgruppe, waren einerseits beständig untereinander in Kriege um die wertvollen karibischen Kolonien verwickelt und versuchten, soviel wirtschaftlichen und kulturellen Profit wie möglich aus der Region zu ziehen. Überall und nirgends in diesem Spektrum rangierten jene Menschen, die in der Karibik geboren waren. Entweder Menschen gemischter afrikanischer und europäischer Abkunft, deren soziale und rechtliche Position bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts stark verhandelbar war; oder „Kreolen“, ein Wort, das Menschen aller drei genannten Abstammungen bezeichnen konnte, sofern sie in der Karibik geboren waren, meistens aber Weiße meinte. Die soziale und rechtliche Zugehörigkeit von Kreolen war stark von situativer Interpretation abhängig, wie im Kapitel zur Karibik noch detaillierter erklärt wird. In den französischen Kolonialgefügen des 18. Jahrhunderts waren all diese Menschen potentielle BriefschreiberInnen. Theoretisch konnten jederzeit alle Akteure innerhalb der kolonialen Arrangements Briefe schreiben, egal ob frei oder versklavt. Die Briefe des Sklaven Philipeau an die Plantagenbesitzerin Mme de Mauger, die von Gabriel Debien bearbeitet wurden, sind ein gutes Beispiel dafür, wie auch versklavte Personen briefliche Aktionsräume innerhalb der Kolonialstruktur nutzen konnten, wenn sie mit ihnen vertraut waren. 19 Auch in dem hier zugrundeliegenden Archivbestand sind einige, sehr vereinzelte Briefe zu finden, die von SklavInnen geschrieben wurden; während der Sichtung für diese Arbeit wurde ein Brief identifiziert, der vermutlich von einer Sklavin 18 Siehe auch Susan Dwyer Amussen, Caribbean Exchanges: Slavery and the Transformation of English Society, 1640-1700, Chapel Hill 2007, S. 74. 19 Siehe Dubois, Les Vengeurs Du Nouveau Monde, S. 65.

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stammt, allerdings leider thematisch gänzlich am Interesse dieser Arbeit vorbeigeht. Sofern sie keine gebürtigen EuropäerInnen waren, identifizierten BriefschreiberInnen zumeist entweder sich selbst oder die AdressatInnen in ihren Briefen und Anschriften. So adressierte eine junge Frau of colour ihre Mutter auf dem Umschlag ihres Briefes als négresse libre; in der Karibik geborene Männer und Frauen wurden als „Créole“ oder „Américain“ bzw. „Américaine“ angeschrieben. Somit ist es im Allgemeinen möglich, EuropäerInnen oder Kreolen von anderen Kolonialbewohnern zu unterscheiden. Was leider mit der vorhandenen Information nicht möglich sein wird, ist, zu unterscheiden, ob es sich bei den Kreolen um People of Colour handelt oder um europäischstämmige Kolonialisten. Dies ist bedauerlich, da diese Zuordnung im Laufe des 18. Jahrhunderts in der Karibik immer bedeutsamer wurde. Es besteht somit für jede kreolische Briefschreiberin und jeden kreolischen Briefschreiber die Möglichkeit, dass es sich um eine Person of colour handelt, sofern keine anderweitigen Angaben gemacht werden. Mit Blick auf die weiteren sozialen Hintergründe der Personen, die hier zu Wort kommen werden, liegt der Fokus weitgehend auf Mitgliedern unterer und mittlerer Bevölkerungsschichten; Angehörige ökonomischer, intellektueller oder politischer Eliten tauchen vergleichsweise selten auf, werden aber in der Analyse nicht systematisch abgegrenzt. Genauso wenig werden Männerund Frauenbriefe „getrennt“ untersucht, denn, wie Natalie Zemon Davis erklärt: „history is always relational: the history of women involves men, the history of peasants involves proprietors; the history of workers involves employers. But even while describing all the parties, the decentering historian may let the subalterns and their practices and beliefs carry the narrative“.20 In der Erforschung von Lebenswelten, die zu einem entscheidenden Teil von Sklaverei geprägt werden, können diejenigen Menschen, deren Geschichten hier untersucht werden, keinesfalls die hauptsächlichen „Subalternen“ sein. Doch die komplexen Sozialgefüge der Karibikkolonien setzten sich nicht nur aus reichen SklavenhalterInnen und ihren SklavInnen zusammen. Sie umfassten Menschen, die aktiv an der Erhaltung und Durchsetzung von Sklaverei beteiligt waren, indem sie Sklaven besaßen oder verkauften und Sklavenarbeit nutzten oder verwalteten; aber auch Menschen, die keine direkten geschäftlichen Verbindungen zum Sklavenhandel und zur Sklaverei besaßen und die doch sozial und ökonomisch davon profitierten, wie etwa kleinere Handwerker und Händler oder die Menschen, die ihren Familienangehörigen in die Karibik nachzogen. Sie umfassten insbesondere eine Vielzahl von Menschen, die nur eine relativ kurze Zeitspanne in der Karibik verbrachten, etwa Schiffsmannschaften, Kapitäne und 20 Zemon Davis, Natalie: Decentering History: Local Stories and Cultural Crossings in A Global World, in: History and Theory 50/2011, S. 188-202, S. 190.

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Soldaten. Diese vielfältige, breite gesellschaftliche Zusammensetzung wird in der vorliegenden Arbeit abgebildet – zumindest soweit möglich, denn gemäß der Paradoxie der historischen – oder eher der archivarischen – Gegebenheiten wird der zahlenmäßig größte Bevölkerungsanteil, die Sklaven, am wenigsten direkte Repräsentation erfahren.

Das Material: Die HCA-Briefe

Der größte Teil dieser Untersuchung wird sich auf Briefe stützen. Obwohl auch diverse andere Quellen, etwa Reiseberichte, ein Tagebuch, Inventare, Verwaltungs- und Militärdokumente oder Medizinratgeber hinzugezogen werden, liegt der Fokus auf Briefen, die zwischen 1744 und 1803 zwischen BewohnerInnen der französischen Karibikkolonien und des kontinentalen Frankreichs gewechselt1 wurden. Ein einziges Briefexemplar fällt zeitlich aus dem Rahmen, es wurde nämlich erst 1826 versandt. Dieser eine „Nachzügler“ liegt in den Archives Départmentales de la Martinique in Fort-de-France, alle anderen hier untersuchten Briefe sind Teil der High Court of Admirality Sammlung, die im Public Record Office der britischen National Archives in Kew gelagert ist. Die High Court of Admirality (HCA) Sammlung ist das Ergebnis der spezifischen institutionellen Organisation frühneuzeitlicher Seekriegsführung. Zwischen den 1650er und den 1850er Jahren war die Kaperung feindlicher Schiffe auf See – oder bisweilen sogar im Hafen – ein verbreitetes und effizientes Kriegsmittel. Kaperungen blockierten wichtige Wirtschaftsadern oder legten sie trocken, was die ökonomische und militärische Macht des Feindes schwächte. Genauso verbreitet wie die Praxis des Kaperns waren jedoch Bemühungen von Schiffseignern, Kapitänen und anderen interessierten Gruppen und Individuen, Kaperungen (die erhebliche Zeit- und Geldverluste bedeuteten) zu umgehen oder im Falle einer Kaperung wenigstens die Wiederbeschaffung des verlorenen Eigentums zu ermöglichen.

1

Der Begriff „gewechselt“ ist hier etwas irreführend: Da die hier verwendeten Briefe ihr Ziel nicht erreicht haben, wurden sie streng genommen auch nie beantwortet. Allerdings wurden sehr viele Briefe in mehrfacher Kopie versandt, so dass häufig zumindest ein Exemplar desselben Briefes sein Ziel erreichte. Somit konnte der Inhalt durchaus oftmals beantwortet werden, wenn die Antwort sich auch nicht auf das hier zitierte physische Exemplar bezog.

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Schiffsflaggen wurden gewechselt, um „nationale“2 Zugehörigkeiten zu verschleiern; Warentransporte aus bzw. an Feindeshand – ein ausreichender Kapergrund – wurden verschleiert; Scheinverkäufe wurden organisiert, deren Verträge beweisen sollten, dass das betreffende Schiff in keiner Weise zu einer der involvierten Kriegsparteien gehörte. Diese mannigfaltigen Maßnahmen bedeuteten, dass die kapernde Partei rechtskräftig sicherstellen musste, dass eine Kaperung legitim war und dass die gekaperten Schiffe, sowie die darauf befindlichen Güter, rechtmäßig einbehalten werden durften. Ausgefeilte administrative und rechtliche Prozeduren wurden entwickelt, die so gut wie jeden Moment einer Kaperung regulierten. Einer der wichtigsten Punkte war die Sicherstellung allen Schriftguts, das sich auf dem zu kapernden bzw. gekaperten Schiff befand. Als das britische Schiff Greyhound 1778 das französisch-amerikanische Handelsschiff La Fidélité kaperte, versicherte Richard John, der Master der Greyhound, per Eid: „that the papers hereunto annexed marked, one, two, three, four, five, six, seven, Eight, nine, Ten, Eleven, Twelve, Thirteen, Fourteen, are all the papers Sea briefs Charter Parties bills of Lading Cochets, letter and other Documents and Writings which were delivered up or otherwise found on board the said Ship La Fidelité whereof Pierre Daufresne was master and lately taken by the said letter of marque or private ship of War Greyhound at which Capture the deponent was present and further maketh oath that the said papers and writing are brought and delivered in as they were received or taken without any fraud addition subduction or embezzlement saving the Numbring thereof – Richd. John“.3

Das Dokument wurde zudem von zwei Commissioners, sowie von einem Notar unterzeichnet. Die kapernde Partei musste sicherstellen, dass keine Papiere, die die wahre Identität eines Schiffes hätten beweisen können, über Bord geworfen oder anderweitig zerstört wurden; und sie mussten auch glaubhaft versichern, dass sie keine Dokumente unterschlagen oder manipuliert hatten. Jedes noch so kleine Stück Papier, von den Schiffspapieren und Logbüchern über die persönlichen Korrespondenzen des Kapitäns, der Crew und der Passagiere bis hin zu Kritzeleien und Spielkarten wurde konfisziert und sicher für die Inspektion und Bearbeitung durch das Gericht eingelagert. Auch die großen Mengen an persönlicher, administrativer und geschäftlicher Korrespondenz, die über die Meere transportiert wurden, landeten im Kaperungsfall in den Händen der Admiralitätsgerichte. Manche Briefe wurden als Beweismaterial vom Gerichtspersonal 2

Hier anachronistisch benutzt.

3

HCA 32/331/1, Attestation made by Captain Richard John, master of the ship Greyhound, on the Capture of the Fidélité, Falmouth, Cornwall, November 1778.

Das Material: Die HCA-Briefe | 29

gelesen und übersetzt, wenn der Kaperung ein längerer Prozess folgte, weil ein Schiff – oder Ladungseigner sein Eigentum von der Admiralität zurückforderte. Die meisten Briefe wurden jedoch einfach ungeöffnet eingelagert, erst in den Gerichtsarchiven und später im Tower of London. Dank dieser Verfahren hat eine riesige Anzahl von Briefen (ca. 160.000) in unterschiedlichsten Sprachen und aus beinahe allen Teilen der Erde in den Admiralitätsarchiven, die später als High Court of Admirality Collection (HCA) die Sammlungen der National Archives aufgenommen wurden, überdauert. Diese Überlieferung ist einer Kette von Zufällen geschuldet. Die Briefe sind jeder Form der Selektion durch Nachfahren, ChronistInnen, ArchivarInnen oder HistorikerInnen entgangen, viele von ihnen sind nach wie vor ungeöffnet und, abgesehen von den Spuren einiger Jahrhunderte, nach wie vor in dem Zustand, in dem sie ihre Reise begannen. All dies bedeutet, dass die HCA Sammlung historische Briefe enthält, die in dieser Vielzahl kaum je in historischen Briefsammlungen zu finden sind. Sie enthält Briefe, die von Leuten versandt wurden, die kaum schreiben konnten; Briefe von Männern, Frauen und Kindern aus nahezu allen sozialen Schichten; Briefe von Seglern und Soldaten und HändlerInnen und DienstbotInnen und sogar eine Handvoll Briefe von SklavInnen. Wie bereits erläutert, liegt der Fokus dieser Untersuchung auf Briefen und Dokumenten aus der Französischen Karibik. Dieser Teil der Sammlung war zwar vereinzelt Gegenstand historischer Forschung – so nutzte etwa Carolyn E. Fick einige HCA-Boxen für ihre Arbeiten zur Revolution von Saint Domingue4-, wurde jedoch nie in vollem Umfang erforscht oder organisiert. Dies kann auch in dieser Arbeit unmöglich geleistet werden, da zum aktuellen Zeitpunkt nicht geklärt ist, wie viele Boxen überhaupt Dokumente aus der Französischen Karibik enthalten. Viele Boxen enthalten nach wie vor Dokumente unterschiedlichster räumlicher und zeitlicher Herkunft, und ein Großteil des Materials ist bis dato ungeordnet und restaurationsbedürftig. Seit 2012 hat es sich ein internationales Team von ForscherInnen und MitarbeiterInnen der National Archives zur Aufgabe gemacht, die HCA Sammlung neu zu organisieren, bei Bedarf zu restaurieren und neu zu archivieren. Zwischen 2013 und 2015 wurden diverse Teile der HCA Sammlung für diese Untersuchung beforscht. In dieser Zeit haben die National Archives viel Energie in die Restauration und Neu-Organisierung der Sammlung investiert. Boxen, die im Jahr 2013 noch chaotische Papierhaufen enthielten, sind nun säuberlich geordnet und der Inhalt bisweilen auf neue Boxen verteilt. Somit hat die Archivarbeit an vielen Stellen die hiesige Forschungsarbeit überholt. Es ist daher nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich, dass viele der Briefe, die ursprünglich nur durch 4

Fick, Carolyn E.: The Making of Haiti. The Saint Domingue Revolution from below, Knoxville 1999.

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die Signatur der gesamten Box identifiziert werden konnten, nun ihre eigenen Signaturen erhalten haben. Für diese Untersuchung wurden ca. 3000-4000 Briefe gesichtet, aus denen dann die für diese Arbeit relevanten Briefe aussortiert wurden. Für die detailliertere Besprechung bzw. Zitierung in der hier vorliegenden, endgültigen Version wurden aus diesen ca. 600 Briefen 150 Briefe aufgrund ihrer besonderen Aussagekraft ausgewählt. Angesichts dieses Auswahlprozesses und der parallel laufenden archivarischen Bearbeitung ist es schlicht unmöglich, zu versuchen, die neuen Signaturen nachträglich zu identifizieren. Aus diesem Grund werden einige der im Folgenden verwendeten Briefe unter Angabe einer individuellen Signatur zitiert (z.B. HCA 30/278,40) während andere lediglich unter Angabe der Box-Signatur zitiert werden (z.B. HCA 30/345). Wie bereits oben erwähnt, hat die HCA Sammlung keinerlei archivarische Selektion erfahren – sie enthält alle nach historischem Maßstab erdenklichen Arten von Korrespondenz. Diese Untersuchung, mit ihrem Fokus auf der Erzählung und Verhandlung von Körpern in Briefen, wird sich vor allem auf Briefe stützen, die von solchen Leuten geschrieben wurden, die die „Durchschnittsbevölkerung“ der französischen Karibikkolonien konstituierten – etwa Soldaten, Verwaltungspersonal, HändlerInnen, Handwerker und PflanzerInnen. Von den 150 hier vorgestellten Briefen stammen 22 von Frauen bzw. Mädchen; ein Brief wurde von einem Ehepaar gemeinsam verfasst. Für einen einzigen Brief kann keine Geschlechtszuordnung vorgenommen werden. Die restlichen Briefe wurden von Männern bzw. Jungen verfasst. Unter ihnen befinden sich Briefe von ca. 30 Soldaten, die somit die größte hier vertretene soziale „Gruppe“ darstellen. Ansonsten ist gerade bei den PflanzerInnen das soziale und ökonomische Spektrum sehr breit, es reicht von vergleichsweise kleinen Plantagen, deren BesitzerInnen keine oder nur sehr wenige SklavInnen besaßen, bis zu den EignerInnen riesiger Anwesen, die von einigen Hundert versklavten Männern und Frauen bewirtschaftet werden mussten. Für die Frauen, deren Briefe hier untersucht werden, ist anzumerken, dass sie kaum jemals alleine in der Karibik waren; die meisten begleiteten ihre Ehemänner, Brüder oder Väter. Es war keine Seltenheit, dass diese Ehefrauen, Schwestern oder Töchter sich aktiv im Kolonialhandel oder auch im Plantagenwesen engagierten. Manche Frauen führten die Geschäfte verstorbener männlicher Verwandter weiter, andere bauten sich eigene Geschäfte auf. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist das von Manon Ruste de Rezeville und ihrer Schwester, die gemeinsam mit zwei anderen jungen Frauen ein scheinbar florierendes Geschäft auf Martinique betrieben, in dem sie eine breite Auswahl „schicker“ Waren aus Frankreich verkauften.5 5

HCA 30/345, Manon Ruste de Rezevilles Schwester, St. Pierre, Martinique, an Manon Ruste de Rezeville, St. Eustache, 31.01.1781.

Das Material: Die HCA-Briefe | 31

Die meisten Briefe, die im „Französische Karibik“-Teil der HCA Sammlung lagern, sind „alleinstehend“, denn die vorhergegangene und nachfolgende Korrespondenz ist nicht erhalten. Gelegentlich finden sich Paare oder kleine Gruppen von Briefen eines einzigen Verfassers. Es gibt auch größere Bündel insbesondere geschäftlicher oder militärischer Korrespondenz, die gemeinsam verschickt wurden. Diese wurden jedoch im Rahmen der Sichtung als irrelevant für das Forschungsinteresse der vorliegenden Untersuchung befunden und werden somit nicht berücksichtigt. Somit sind die meisten Briefe, die im Folgenden untersucht werden, isolierte Botschaften, die aus den Kontexten der Lebenswelten ihrer Verfasser und intendierten Empfänger herausgelöst sind. Sie können nur einen kleinen Einblick in die Existenzen der beteiligten Personen verschaffen. Die meisten, wenn nicht gar alle Briefe sind Teil fortlaufender brieflicher Unterhaltungen, die sich oft über mehrere Jahre erstreckten, und so stellt der überlieferte Brief lediglich einen einzigen Moment innerhalb eines wesentlich längeren Austauschs dar. Versuche einer wenigstens annähernden Rekonstruktion dieser Kontexte werden dadurch verkompliziert, dass eine erhebliche Anzahl von Briefen im Laufe der Jahrhunderte von ihren Umschlägen (sofern sie Umschläge hatten) getrennt wurde, sodass weder der Name, noch der Adressort des Rezipienten bestimmt werden können. Zudem tragen viele Briefe keine Unterschrift, was es wiederum beinahe unmöglich macht, zusätzliche Informationen über das Leben der Verfasser zu suchen – weshalb in vielen Fällen nur der Briefinhalt selbst Aufschluss über die Identität und nähere Lebenszusammenhänge der involvierten Personen geben kann. Im nachfolgenden Kapitel sollen die Koordinaten abgesteckt werden, welche die generelle Konstitution, Fähigkeiten und Grenzen der Körper, die in den Briefen auftauchen, definieren. Relevante zeitgenössische Medikalkonzepte europäischer Körper in der Karibik werden vorgestellt, um in den Folgekapiteln die Identifikation und Kontextualisierung der unterschiedlichen Praktiken und Diskurse zu erlauben, auf die in den Briefen Bezug genommen wird. Der Schwerpunkt auf medizinischen Konzepten mag hier dominant erscheinen, doch ist er historisch angemessen: Im Europa des 18. Jahrhunderts hatten unzählige Aspekte des Alltagslebens, etwa Kleiderwahl oder Sozialverhalten, offensichtliche und bedeutsame Implikationen für das körperliche Wohlbefinden. Die meisten BriefschreiberInnen, die den Zustand bzw. Gesundheit ihrer Körper in Briefen verhandelten, waren medizinische Laien, die sich bei der Beschreibung ihrer Körperempfindungen auf eine Vielzahl unterschiedlicher Erfahrungs- und Wissensquellen stützten. Der generelle Schwerpunkt wird auf Beschreibungen und Erzählungen individueller Körper liegen (siehe „Körper in Briefen“). Wenn jedoch zusätzliche Kontextualisierung notwendig sein sollte, werden bisweilen medizi-

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nische Berichte und Traktate hinzugezogen, da im Rahmen europäischer Medikalkulturen des 18. Jahrhunderts auch ein nicht-professionelles Publikum breite Kenntnisse medizinischer Pamphlete, Handbücher und verbal verbreiteten medizinischen Wissens besaß, worauf die Briefe der HCA-Sammlung eindeutig hinweisen. Auch englischsprachige historische Medikalpublikationen werden zur Kontextualisierung des französischen Untersuchungsmaterials hinzugezogen, da trotz einiger regionaler Unterschiede starke Überschneidungen zwischen englischen und französischen Medikalkulturen bestanden. Wie Lisa Wynne Smith erklärt „[...] England and France had similar medical worlds. Medical historians have found extensive similarities in medical corporations, consumerism, practice, and theory across early modern Europe, particularly between England and France“.6

METHODISCH-THEORETISCHES VORGEHEN Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine historische Briefanalyse unter einem spezifischen Fokus, nämlich den in Briefen dargestellten oder auch nur erwähnten Körpern. Die oben beschriebene Selektion des Briefmaterials erfolgte zunächst grob: Wurde in einem Brief der Körper, die Gesundheit, das Befinden; oder aber ein direkt in einem körperlichen Zusammenhang stehender Aspekt (Sexualität, Nahrung, körperliche Arbeit etc.) erwähnt, wurde der Brief für relevant befunden. Enthielt ein Brief lediglich die Standardfloskel, in der die eigene Gesundheit bestätigt und sich nach dem Wohlergehen der AdressatInnen erkundigt wurde, und keine darüber hinausgehenden Kommentare zum Körper oder körperbezogenen Aspekten, wurde der betreffende Brief nicht gesondert berücksichtigt. Darstellungen von Körpern in Briefen sind selten „vollständig“, wie im Verlauf noch ausführlicher besprochen werden soll. Oftmals beschäftigt sich nur ein einziger Satz innerhalb eines Briefes mit dem/einem Körper, was bedeutet, das Aussagen über Körper häufig auf Kommentare zu einzelnen körperlichen Aktivitäten oder Erfahrungen beschränkt sind. Um auch die kleinsten körperlichen Ereignisse und banalsten Betätigungen (wie essen, schlafen, sich waschen, sich bekleiden etc.) analytisch einfangen und auswerten zu

6

Smith, Lisa Wynne: „An Account of an Unaccountable Distemper“: The Experience of Pain in Early Eighteenth-Century England and France, in: Eighteenth-Century Studies 41/4, 2008, S. 459-480, S. 461 f.

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können, wird hier eine praxeologische Perspektive gewählt. 7 Dieser Ansatz ist besonders vielversprechend in Kombination mit der spezifischen Quellenlage. Wie bereits erwähnt, ist es in den meisten Fällen kaum möglich, verlässliche Kontextinformationen zu den BriefautorInnen einzuholen. Doch eine praxeologische Forschung benötigt keinen breiten „Ich-Kontext“, es geht vielmehr um die Beobachtung des situativen Vollzugs einer Praktik, um die Beobachtung und Untersuchung eines spezifischen Moments. Genau dies kann das Material bieten. Es gibt eine Vielzahl von Definitionen für den Begriff „Praktik“8. Für das historische Arbeiten ist Theodore Schatzkis Konzept von Praktiken als „openended, spatially-temporally dispersed nexus of doings and sayings“9 besonders geeignet, da es den Wechsel zwischen Mikro- und Makroperspektiven erlaubt, der viele historische Forschungen charakterisiert. Laut Schatzki werden die „doings and sayings“ (inklusive schriftlicher sayings bzw. „writings“) durch ein praktisches Verständnis, ein „set of rules“, sowie eine teleoaffektive Struktur organisiert.10 Dies bedeutet, dass Menschen, die Praktiken vollziehen, nicht nur eine Vorstellung davon oder Wissen darüber besitzen, wie diese Praktiken zu vollziehen sind, sondern auch wissen, aus welchem Grund sie sie vollziehen. In den kontextuellen Einbindungen der Briefanalysen wird zudem gelegentlich der Diskursbegriff fallen. In dieser Arbeit sind damit im Sinne des „frühen Foucault“ Aussagenformationen gemeint, die gesellschaftliche (Wissens-)räume, Wirklichkeitsverständnisse und „Normalitäten“ herstellen, bzw. strukturieren.11 Historische Briefforschung ist kein besonders neues Forschungsfeld. In den 2000er und 2010er Jahren hat das Thema jedoch breite Aufmerksamkeit unter diversen neuen theoretischen und methodologischen Gesichtspunkten erhalten. 12 Einige in dieser Zeit erschienene Werke haben historische Briefe aus praxeologi7

Haasis, Lucas/Rieske, Constantin: Einleitung, in: Ebd. (Hg.): Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns, Paderborn 2015, S. 16.

8

Für einen guten Überblick, siehe Ebd., S. 14.

9

Theodore Schatzki, A Primer on Practices, in: Joy Higgs et al. (Hg.), Practice-based Education: Perspectives and Strategies, Rotterdam, 2012, S. 13-26, S. 14.

10 Ebd., S. 3. 11 Dieses Konzept basiert auf Foucaults Diskursüberlegungen in „Archäologie des Wissens“. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M. (1973) 1981, S. 43 ff. 12 Siehe z.B. Dierks, In My Power; Daybell, James: The Material Letter in Early Modern England. Manuscript Letters and the Culture and Practices of Letter-Writing, 15121635, Basingstoke 2012. Whyman, Susan E.: The Pen and the People. English letter writers 1660-1800, Oxford 2009; Barton, David/Hall, Nigel (Hg.): Letter Writing as a Social Practice, Amsterdam/Philadelphia 2000.

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scher Perspektive in den Blick genommen, etwa Mareike Böths 2015 erschienene Arbeit zu Körperpraktiken in den Briefen Lieselottes von der Pfalz.13 Praxeologische Briefforschung betrachtet Briefschreiben als eine Praktik für sich, die wiederum unterschiedliche Bündel von Praktiken involviert. Diese umfassen die gesamte Genese bzw. Erstellung eines Briefes, vom Platznehmen am Schreibtisch oder einer anderen jeweilig vorhandenen, schreibgeeigneten Oberfläche über die Vorbereitung von Feder, Tinte und Papier – z.B. durch Falten, oder auch durch das Abfassen von Notizen und Entwürfen – ; bis hin zur Fertigstellung des Brieftextes, zur Bestreuung mit Löschsand, dem Hinzufügen von kleinen Geschenken oder anderen „Einlegungen“ und der finalen Faltung und Siegelung, sowie der Übergabe an die zustellende Institution bzw. Mittelsmänner, man siehe etwa die Arbeiten von Lucas Haasis.14 Hier soll es vor allem um die Komposition von Briefinhalt gehen. Für eine praxeologische Untersuchung bedeutet dies, dass zwei Dimensionen oder Kategorien von Praktiken in den Blick genommen werden müssen: Die erste Kategorie sind solche Praktiken, die im Rahmen der Brieferzählung wiedergegeben wurden bzw. von denen berichtet wurde. Die zweite Kategorie sind die narrativen Praktiken, mithilfe derer die Brieferzählung vorgenommen wurde. Die erste Kategorie – Praktiken, die außerhalb der Schreibsituation vollzogen, aber innerhalb der Brieferzählung berichtet wurden – hat Daniel Teysseire als „pratiques théorisées“15 bezeichnet, wobei die „Theoretisierung“ in der Beschreibung, Rekapitulierung oder Antizipation eines Doings oder Sayings mithilfe des geschriebenen Wortes liegt. Für diese Arbeit ist es nicht relevant, ob diese „pratiques théorisées“ jemals tatsächlich in einer physischen Situation von einem Körper durchgeführt wurden oder nicht, denn ihr Vollzug geschieht (erneut, oder auch zum ersten Mal) auf der „theoretisierten“ Ebene. Durch das Medium Papier 13 Böth, Mareike: Erzählweisen des Selbst. Körperpraktiken in den Briefen Lieselottes von der Pfalz, Köln/Wien/Weimar 2015. 14 Lucas Haasis: „Papier, das nötigt und Zeit, die drängt übereilt. Zur Materialität und Zeitlichkeit von Briefpraxis im 18. Jahrhundert und ihrer Handhabe“, in: Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 305-319; „‚Noch bleibt mir ein Augenblick Zeit um mich mit Euch zu unterhalten.‘ Praxeologische Einsichten zu kaufmännischen Briefschaften des 18. Jahrhunderts“, in: Dagmar Freist (Hg.): Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, Bielefeld 2015, S. 87-113. 15 Teysseire, Daniel: Qu’est-ce qu’un médecin des lumières? Portraits et discours croisés de quelques contemporains de Tissot, in: Barras, Vincent/Louis-Courvoisier, Micheline (Hg.): La Médecine des Lumières: Tout autour de Tissot, Genf 2001, S. 223-244, S. 224.

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werden diese Praktiken in zwei Lebenswelten gleichzeitig zum Vollzug gebracht. Ihr Setting, bzw. ihre Vollzugssituation, ist die Beschreibung der Karibik durch den Schreibenden, welche in Antizipation des Wissens und der Erwartungen erfolgt, die der Empfänger über die Karibik hat. Ihr Referenzrahmen, der Kontext, in dem die Praktiken intelligible sein müssen, um als Praktiken erkannt zu werden, ist derjenige, den Briefschreiber und Empfänger teilen. Je nachdem, wie vertraut der oder die EmpfängerInnen mit den kolonialen Arrangements ist oder sind, bedeutet das, dass die erzählten Praktiken sich mehr oder weniger mit den Praktiken decken müssen, die in der Lebenswelt der Leserschaft vollzogen werden. So wurden die Praktiken zwar innerhalb der im Brief erzählten karibischen Arrangements vollzogen – „finalisiert“ werden konnte dieser Vollzug jedoch nur dadurch, dass die Leserschaft sie las, erkannte und anerkannte. Wie bedeutsam dieses Erkennen und Anerkennen durch die Empfänger war, zeigen Fälle, in denen die Leser nicht in der Lage waren, die in den Briefen erzählten Praktiken zu verstehen. Wenn es den Briefschreibern nicht gelang, das KaribikWissen ihrer Leserschaft korrekt einzuschätzen, oder wenn die Erwartungen der Leserschaft sich nicht mit dem deckten, was in den Briefen erzählt wurde, konnte es zu Konflikten kommen, die wertvolle und wichtige Beziehungen gefährdeten. Somit mussten erzählte Praktiken innerhalb der erzählten karibischen Arrangements vollzogen werden, jedoch nur in einem Ausmaß, das für die Leserschaften daheim noch anschlussfähig war. Dieser Balanceakt verlangte den Briefschreibenden Geschick und bisweilen Schneid ab. Hier kommt die zweite Dimension oder Kategorie ins Spiel: die erzählerischen Praktiken, in denen die „pratiques théorisées“ festgehalten wurden. Geschickten BrieferzählerInnen gelang es, auch die schockierendsten Momente kolonialer Débauche so darzustellen, dass sie für französische Leserschaften akzeptabel waren. Auch in diesen Fällen hing das Geschicklichkeitsniveau einer Erzählung weitaus mehr von deren Verstehbarkeit für die antizipierten Lesenden ab, als von dem „objektiven“ Literarizitätsniveau des Schreibenden. Die Analyse dieser zweiten Dimension erfordert eine detaillierte Untersuchung der Sprache, etwa Sequenzierung und Wortwahl bzw. Auswahl spezifischer Briefformeln, Metaphern und spezifischer diskursiver Elemente. Genau dieser Aspekt jedoch, die genaue Untersuchung einer „Briefsprache“, ist einer der meistdiskutierten Aspekte innerhalb der historischen Briefforschung. Dieses liegt darin begründet, dass die Analyse von Sprache und Inhalt unweigerlich verknüpft sind, und dass für viele HistorikerInnen die Sprache eines Briefes darüber entscheidet, wie der entsprechende Brief zu kategorisieren und zu behandeln ist. Generell fallen Briefe in die extensive und nach wie vor kontroverse Kategorie der „Egodokumente“, ein Begriff, der unterschiedlichste Genres autobiogra-

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phischer Dokumente bezeichnet. Im deutschsprachigen Forschungsdiskurs wurde der Begriff, den Kaspar von Greyerz als „a particularly unfortunate term in dealing with autobiographical texts from earlier than the twentieth century“16 bezeichnet hat – aufgrund der unterliegenden, essentialistischen Vorannahme eines individuellen „Ego“, welches für frühere Texte hochproblematisch sein kann – mittlerweile weitgehend durch den Terminus „Selbstzeugnis“ ersetzt, welcher in seiner Bedeutung eher zurückgenommener ist. Anstelle eines gesetzten „Ego“, welches sich selbst dokumentiert, bieten die überlieferten Quellen Zeugnisse von Selbsten, oder „at least individual aspects of the self, whereas they shed no light at all on the inner workings of an ego“.17 In englischsprachigen Publikationen arbeiten die eminenten deutschen und schweizerischen SelbstzeugnisforscherInnen, wie etwa von Greyerz, Claudia Ulbrich, Benigna von Krusenstjern, Hans Medick, Gudrun Piller und andere, mit dem Begriff „self-narrative“. Für die hier anstehende Untersuchung von Briefen ist diese Übersetzung der „SelbstErzählung“ noch geeigneter als der ursprüngliche Begriff, denn Briefe sind mehr oder weniger fiktionalisierte Erzählungen von Selbsten. Als „klassische“ autobiographische Dokumente fallen Briefe unter jene Kategorie von historischen Texten, die HistorikerInnen selbst nach Jahrzehnten ausgiebiger Quellenkritik noch suggerieren, dass man durch sie „die Vergangenheit berühren“18 oder durch ein „special windo[w] into the past“19 schauen könnte, oder dass sie „a particularly direct access to history“ bieten würden.20 „Self-narratives, as sources that sup-

16 Greyerz, Kaspar von: Ego-Documents: The Last Word? in: German History Vol. 28/3, 2012, S. 273-282, S. 275. On Selbstzeugnisse, see the still-programmatic text by Benigna von Krusenstjern: Die Tränen des Jungen über ein vertrunkenes Pferd. Ausdrucksformen von Emotionalität in Selbstzeugnissen des späten 16. und des 17. Jahrhunderts, in: Greyerz, Kaspar von/Medick, Hans/Veit, Patrice (Hg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1800), Köln et al. 2001, S. 157-168. Also: Krusenstjern, Benigna von: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie. KulturGesellschaft-Alltag, 2/1994, S. 462-471. 17 Von Greyerz 2012, S. 280. 18 Van der Waal, Marijke/Rutten, Gisbert: Ego-documents in a historical-sociolinguistic perspective, in: Van der Waal/Rutten: Touching the Past: Studies in the historical sociolinguistics of Ego-documents, Amsterdam/Philadelphia 2013, S. 1-19, S. 1 f. 19 Dierks, In my Power, S. XI. 20 Piller, Gudrun: What Do Self-Narratives Bring to the History of the Body? in: Ulbrich, Claudia/Greyerz, Kaspar von/Heiligensetzer, Lorenz (Hg.): Mapping the ‚I‘.

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posedly depict actual experience“, so Gudrun Piller, „become authentic and direct“.21 Mit dieser problematischen Annahme setzt sich die Selbstzeugnisforschung nach wie vor auseinander, weshalb sie später in diesem Kapitel kurz diskutiert werden soll. Aus der spezifischen disziplinären Perspektive der historischen Linguisten Marijke van der Waal und Gijsbert Rutten liegt die vermeintliche Unmittelbarkeit von Briefen und anderen historischen Selbstzeugnissen darin, dass sie für „as close to speech as non-fictional historical texts can possibly be“22 gehalten werden. Dieser linguistische Blickwinkel ist hier besonders interessant, da er sich deutlich von den gängigen historiographischen Zugängen unterscheidet, die oftmals sehr auf Formelhaftigkeit von Briefsprache ausgelegt sind und Briefe ausdrücklich von „normalen“ oder gar „authentischen“ Sprachsituationen abgrenzen. Mit Blick auf Briefe stützen sich Van der Waal und Rutten auf Schneider, demzufolge ein „writer records potential, conceived utterances by himself which, for lack of the presence of the addressee, need to be written down rather than said; but he remains in a near-speech mode“.23 Van der Waal und Rutten selbst schlussfolgern, dass „private“ Briefe, „with their interactive purpose [...] are clearly on the side of the language of immediacy, even more so than diaries and travelogues are“.24 Deutschsprachige HistorikerInnen, die zur Geschichte des Briefschreibens arbeiten, konzentrieren sich häufig und notwendigerweise auf Briefsteller, die im 17.und 18. Jahrhundert in enormer Zahl veröffentlicht und konsultiert wurden.25 Für die deutschsprachige Schreibkultur spielte der überförmliche, manierierte Stil, den die Briefsteller zum Standard machten, eine so große Rolle, dass die linguistische Annahme einer besonderen Nähe des Briefs zur Alltagssprache problematisch ist. Für die hier untersuchten französischen Briefe sieht die Situation jedoch anders aus. Carmen Furger beschreibt, dass der Briefstellerautor Jean Research on Self-Narratives in Germany and Switzerland, Leiden 2014, S. 76-96, S. 76. 21 Ebd. 22 Van der Waal/Rutten: Ego-documents in a historical-sociolinguistic perspective, S. 1 f. 23 Schneider, Edgar W.: Investigating variation and change in written documents, in: J.K. Chambers, Peter Trudgill & Natalie Schilling-Estes (Hg.): The Handbook of Language Variation and Change, 2002, here quoted after Van der Waal/Rutten Egodocuments in a historical-sociolinguistic perspective, S. 2. 24 Ebd. 25 Furger, Carmen: Briefsteller. Das Medium „Brief“ im 17. Und frühen 18. Jahrhundert, Köln/Wien/Weimar 2010.

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Puget de la Serre bereits 1654 in seinem „Sécrétaire de la cour“ betonte, dass der Brief hat the „den Geschmack der Nachlässigkeit tragen & sich in keiner Weise von gewöhnlicher Sprache unterscheiden“ sollte, denn „[d]ie Kunstgriffe der Redner, insbesondere Ausrufe, Apostrophen [...] & Ähnliches passen nicht im Geringsten [in einen Brief]“.26 Laut de la Serre musste Briefsprache einfach und leicht verständlich sein: „Man muss [...] die Sachen so erzählen, wie sie verlaufen & auf dieselbe Art, wie man sie mit dem Munde sagen würde“.27 Diese Arbeit konzentriert sich auf Erzählungen und ist nicht besonders daran interessiert, ob Teile dieser Erzählungen formelhaft waren oder nicht, da hier nur wichtig ist, dass die jeweilige Formulierung gewählt wurde (und keine andere) um das Gewünschte auszudrücken. Dennoch muss berücksichtigt werden, dass trotz de la Serres Ideale des freien epistolären Diskurses einige Formalia im französischen Brief gültig waren, die hier kurz vorgestellt werden. Französische Briefsteller empfehlen die einfache Begrüßung „Monsieur“. Eine volle Titulatur inklusive des Berufs war nur in der Anschrift des Briefes enthalten. Wenn die Beziehungen zwischen Briefschreibern und Adressaten enger oder intimer waren, beginnt die Begrüßung üblicherweise mit Zuneigungsbekundungen, etwa „ma chère maman“‚ „ma très chère mère“, oder „mon cher époux“. Briefe an Kinder begannen gelegentlich mit Kosenamen, etwa „ma chère petite poule“, „mein liebes kleines Hühnchen“. Im Brieftext wurde diese Adressierung üblicherweise mehrfach wiederholt. In den moisten Briefen war die Ansprache formal, „vous“ wurde auch unter engsten Verwandten benutzt. Die Verwendung des „tu“ kann laut Laurence Brockliss als ein Zeichen der Intimität und der Freundschaft gewertet werden.28 Normalerweise folgte auf die Begrüßung eine kurze Bezugnahme auf den letzten Brief, den der oder die Verfasser/in vom Adressaten erhalten hatte, gefolgt von guten Wünschen für die Gesundheit des oder der Letzteren und einem kurzen Kommentar zur Gesundheit des/der Verfassenden. Danach begann der „unregulierte“ Mittelteil des Briefs, in dem die Schreibenden ihre zentralen Anliegen mitteilten. Der letzte, stilistisch regulierte Teil des französischen „Standardbriefs“ ist die sogenannte Courtoisie am Ende. Die Standardformel lautet „votre très humble et très obeissant(e) serviteur/servant X“, „Ihr/e sehr demütige/r und pflichtbewusste/r Diener/in“. Ehepartner schrieben häufig „Ihr“ bzw. „Dein/e getreue/r Ehemann/Ehefrau“, bisweilen mit Zusätzen wie „in alle 26 Furger 2010, S. 162. Übersetzt aus dem Französischen von AR: „doit sentir sa négligence, & ne differer guere du langage ordinaire. Les figures des orateurs, sur tout les exclamations, apostrophes [...] & semblables, n’y conviennent point“. 27 Furger 2010, S. 163. „il faut [...] raconter les choses comme elles vont, & de mesme façon qu’on les diroit de la bouche“. 28 Brockliss 2002, S. 99.

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Ewigkeit“.Unter Familienmitgliedern und Freunden versandten viele Schreibende auch Umarmungen und Küsse – üblicherweise schrieben sie entweder „je vous embrasse mille fois“, „Ich küsse/umarme Dich tausendmal“ (embrasser bedeutet sowohl küssen als auch umarmen)oder „je vous embrasse de tout mon Coeur’/[...] du plus profound de mon Coeur“, „Ich küsse/umarme Dich von ganzem Herzen/ [...] aus tiefstem Herzen“. Diese relativ lockeren Prinzipien dominierten die französische Briefkultur während des gesamten 18. Jahrhunderts. Vorausgesetzt, dass die Schreibenden sich diese Prinzipien tatsächlich zu Herzen nahmen, würde dies die LinguistenHypothese unterstützen. Doch unter HistorikerInnen herrscht nach wie vor Zurückhaltung gegenüber der „language of immediacy“-Annahme, die Van der Waal und Rutten unterstützen. Trotz oft expliziter Ablehnung von Ansätzen, die sich auf das Formelhafte, das Künstliche und das Künstlerische in Briefen des 18. Jahrhunderts konzentrieren, kommen viele ForscherInnen nicht umhin, diese Ansätze und ihre Argumente implizit zu „recyclen“, indem sie immer wieder den zeitgenössischen Briefroman in den Fokus rücken und zu Vorsicht bei der Interpretation von Gefühls- oder „Selbst“-Ausdrücken mahnen.29 Doch der Fokus auf Formelhaftigkeit und „Schreibkunst“ geht oft über den simplen Umstand hinweg, dass Briefe das einzelne Medium darstellten, das den Menschen der Vergangenheit erlaubte, ihre Alltagsbelange und -geschäfte durchzuführen und zu regeln, sobald sie durch vergleichsweise kurze Distanzen getrennt waren. Die große Mehrheit der Briefe übermittelte klare und oft dringende Anliegen oder Absichten, nur ein sehr kleiner Teil der Briefe als epistoläre Kunstwerke angedacht waren. Dass ausgerechnet diese Minorität so viel Aufmerksamkeit erhalten hat, sollte nicht von der Tatsache ablenken, dass, wie Baron und Hall festhalten, „Letter writing and letter reading are clearly anything but narrow, autonomous literacy accomplishments. In everyday life, and probably in commerce and industry, they have consequences: they evoke discussion and negotiation of their meanings, and they often result in responses“.30 Im Kontext Europäischer Expansion wurden Kommunikation und Briefschreiben zu „‚modern‘ solutions to

29 Anderegg, Johannes (Hg.): Schreibe mir oft! Das Medium Brief von 1750 bis 1803, Göttingen 2001. In Fällen, wo die erforschten Personen tief in literarische Aktivitäten und Gruppen involviert waren, ist dieser Ansatz sehr fruchtbar. Bigold, Melanie: Women of Letters, Manuscript Circulation, and Print Afterlives in the Eighteenth Century. Elizabeth Rowe, Catharine Cockburn, and Elizabeth Carter, Basingstoke 2013. 30 Barton, David/Hall, Nigel: Introduction, in: Barton, David/Hall, Nigel (Hg.): Letter Writing as a Social Practice, Amsterdam/Philadelphia 2000, S. 4.

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‚modern‘ problems“31, was für Konstantin Dierks konkret bedeutet „to withstand the turbulence caused by a massive expansion of imperialism and capitalism in the eighteenth century“.32 Dies schließt den Schutz und die Stabilisation von Sphären und Räumen etwa sozialer Zugehörigkeit über große geographische Distanzen hinweg ein. Laut Martin Stuber, Stefan Hächler and Luc Lienhard hat man es im historischen Brief nie mit poetischer Fiktion, sondern in „letzter Konsequenz mit der empirischen Person“ des Autors zu tun,33 egal, wie strikt ein Brief zeitgenössischen Briefstellern folgt. Briefe mussten eine solche empirische Person repräsentieren können. Sie mussten Autorität vermitteln, was im frühneuzeitlichen Kolonialgefüge besonders für Familien wichtig war, denn Eltern und Kinder fanden sich häufig auf unterschiedlichen Seiten des Atlantiks wieder. 34Je nach Situation mussten Briefe „im Auftrag“ des Schreibenden Unterschiedlichstes vermitteln können: Liebe, den fühlenden Körper, Wut, Hoffnung, Vertrauenswürdigkeit, Kompetenz und so weiter. Stuber, Hächler und Lienhard empfehlen eine interdisziplinäre Perspektive, um mit historischen Briefen in ihren unterschiedlichen Formen und Funktionen umzugehen. Sie kombinieren Elemente pragmatischer und historischer Linguistik, Kommunikations- und Literaturwissenschaft und erklären: „Der Brieftext stellt erstens eine Folge von Sprachhandlungen dar, die in spezifischer textueller Relation zueinander stehen, hat zweitens eine thematische Basis, die in über-, unter- und nebengeordnete Themen aufgeteilt sein kann, und ist drittens ‚Beziehungsträger‘“.35 Die Analyse eines Briefes ist somit nie auf die Untersuchung von Sprechakten und Stilmitteln allein beschränkt, sondern muss die raumzeitlichen Kontexte berücksichtigen, in denen der Brief verfasst wurde, genauso wie die Beziehungen, die er demonstriert, manipuliert, festigt oder in jegliche Richtung verändert“.36 Wie bereits oben angemerkt, ist die „language of immediacy“ – Hypothese von großem Interesse für eine praxeologische Untersuchung, da sie suggeriert, dass der Brief die Beobachtung direkter alltäglicher Sprachpraktiken beobachtbar macht – nicht etwa ein gefiltertes, maniriertes Bündel rein schriftgebundener Sprachpraktiken, die für die meisten Akteure eher Ausnahme als Teil der alltäglichen Routinevollzüge dargestellt hätte. Und doch wird hier postuliert, dass ein zentrales Problem der Hypothese von den Briefen selbst aufgeworfen wird. Die 31 Dierks, In My Power, S. 2. 32 Ebd. 33 Stuber, Martin/Hächler, Stefan/Lienhard, Luc (Hg.): Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung, Basel 2005, S. 10. 34 Siehe z.B. Pearsall, Atlantic Families. 35 Ebd. 36 Ebd.

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Linguisten Schneider und Elspaß nehmen beide an, dass insbesondere die Briefe und Tagebücher, die von halb-literaten SchreiberInnen verfasst wurden, „may reflect many features of their speech“.37 Basierend auf der Vielzahl von Briefen von semi-literaten SchreiberInnen, die hier untersucht wurden, kann leicht bestätigt werden, dass einige von ihnen sich in der Tat mit Blick auf Grammatik und Vokabular von „gebildeteren“ Briefen unterscheiden; was die These bestätigen könnte. Doch dieses sind Briefe, die einen relevanten „Mittelteil“ enthalten, jenen Teil zwischen Begrüßung und einleitenden Bemerkungen und der abschließenden Courtoisie am Briefende. In diesem Teil ist der „tatsächliche Inhalt“ des Briefes zu finden, in dem SchreiberInnen ihre spezifischen Anliegen, Meinungen und Erfahrungen für ihre Leserschaft darlegten und wo „empirische Personen“ aufgespürt werden können. Ein großer Teil der Briefe von semi-literaten Schreibenden besitzt jedoch keinen „Mittelteil“. Diese Briefe enthalten formelhafte Begrüßungen, einleitende Bemerkungen (ebenfalls formelhaft) und die Courtoisie. Dies führt zu der Annahme, dass ein/e Schreiber/in bereits ein gewisses Maß an Erfahrung und Können besitzen musste, um sich in einem Brief überhaupt der „language of immediacy“ bedienen zu können. Denjenigen, die sich im Schreiben ohnehin nicht zu Hause fühlten, mag der Aplomb gefehlt haben, um teure Papierbögen mit ihren eigenen Ansichten, Erfahrungen und Empfindungen zu füllen. Andererseits zeigen Briefe, die ein sehr hohes Literarizitätsniveau aufweisen, oft diverse rhetorische Finessen und Stilmittel, die wiederum die „language of immediacy“ infrage stellen könnten. Dies würde jedoch unterstellen, dass die hochgebildeten VerfasserInnen dieser Briefe nicht „wirklich“ in den eleganten, blumigen Wendungen dachten und sprachen, die ihre Schriftsprache prägten. Diese Überlegungen führen zurück zu der problematischen Annahme, dass ein Brief in irgendeiner Weise an „Wahrheit“ oder „Authentizität“ einbüßt, je mehr er sich aus Formalia und Stilmitteln zusammensetzt. Diese Annahme soll hier an ihrer Basis adressiert werden, nämlich – wie bereits kurz im Zusammenhang mit dem Begriff „Ego-Dokument“ erwähnt – der Voraussetzung eines existierenden, essentialistischen „Selbst“ des schreibenden Individuums38, das getreu seiner Natur ausgedrückt werden kann, was dann als authentisch beurteilt wird. Innerhalb dieser Logik gibt es ein „Anderes“ zu dieser Authentizität, nämlich das Verschleiern, Verzerren, Übertreiben oder schlicht Verändern des Selbst im 37 Zitiert nach Van der Waal/Rutten, Touching the Past, S. 2. 38 Siehe auch Claudia Ulbrich: Europäische Selbstzeugnisse in historischer Perspektive – Neue Zugänge, Paper presented at the conference ‚Searching for Tradition and Modernity through Diary‘ in Seoul. Zugriff über Freie Universität Berlin, http://www. geschkult.fu-berlin.de/e/fmi/arbeitsbereiche/ab_ulbrich/media/UlbrichEurop__ische_ Selbstzeugnisse.pdf?1350899276, Zugang 23.06.2016, S. 4.

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Dienste des Selbstschutzes, der Mode, der sozialen Akzeptanz, des Aufstiegs etc. Das „authentische“ Selbst hat Reaktionen, Impulse, Emotionen etc. die dann entweder wahrheitsgemäß – also authentisch – kommuniziert werden können, oder verzerrt, oder gar nicht, was dann den Verlust der Authentizität bedeutet. Diese Annahmen, die aus so vielen Untersuchungen von Selbst-Erzählungen sprechen (bisweilen vor allem zwischen den Zeilen) sind fragwürdig auf mehreren Ebenen. Zum einen sind da die Forschenden, die auf Basis von Kriterien, die sie selbst oder ihre Zeitgenossen im 20./21. Jahrhundert entwickelt haben, versuchen, die Gegenwart oder Abwesenheit von „Authentizität“ in den Worten von Personen zu identifizieren, deren lang vergangene Erfahrungskontexte sie nicht teilen. Zum anderen ist das „Selbst“, das den Kern dieses Konzeptes ausmacht, für die Frühe Neuzeit schon vor Jahrzehnten effektiv dekonstruiert worden (s.u.). Zweifelsohne gibt es Fälle von Selbsterzählungen, die selbst widersprüchliche oder „unzutreffende“ Darstellungen von Gefühlen, Empfindungen, Meinungen und Beziehungen enthalten, wie im Analysepart mehrfach gezeigt wird. Es folgt jedoch nicht notwendigerweise, dass eine Version „authentisch“ sein muss und die andere eine elaborierte Täuschung im Dienste eines wie auch immer gearteten sozialen Gewinns. Derartige Interpretationen, so Gudrun Piller, „overestimate the referential content and the text’s verisimilitude, and [they tend] to ignore the character of their construction“.39 In der Tat ist zu fragen, ob „Authentizität“ überhaupt durch Sprache, ob gesprochen oder geschrieben, auszudrücken ist;40 und ob es nutzbringend ist, Authentizität als Kategorie auf solche Ausdrücke anzuwenden, die als ein Ergebnis bewusster Denkprozesse stattfinden. Denn Sprache befreit und ermöglicht nicht nur den Ausdruck, sie begrenzt und bestimmt ihn auch. Jeder bewusste Gedanke wurde in Konzepten gedacht, die durch die Sprache geformt und gerahmt sind, in der der entsprechende Gedankendenker denkt. Paul Valéry fasste die folgenden Überlegungen in Worte: „Die Rückwirkung der Sprache auf das Denken wurde bisher weit weniger bedacht als die Wirkung des mit der Sprache vermengten Denkens. Ich meine, und habe das auch schon vorgetragen, daß in der Mehrzahl der Fälle die Präexistenz der Wörter und Formen einer gegebenen Sprache, die wir von klein auf so innig in uns aufgenommen haben, daß wir sie von unserem organisierten Denken nicht unterscheiden – eben weil sie, sobald das Denken sich organisiert, schon mit im Spiele ist, schon im Keim unsere mentale Produktion einengt, sie auf Begrifflichkeiten einstellt, die uns in der Illusion wiegen, wir seien überaus klar oder überaus stark – dieses Denken mehr gestaltet, als daß sie es ausdrückt – und es 39 Piller, Private Body, S. 76. 40 Siehe etwa Lowenthal, Cynthia: Lady Mary Wortley Montagu and the eighteenthcentury familiar letter, Athens/Georgia (1994) 2010, S. 21.

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sogar in eine andere Richtung entwickelt als die, die es zu Beginn eigentlich nehmen wollte“.41

Von diesem Standpunkt her ist die Idee, dass „Authentizität“ als etwas Reines, Unverdorbenes und Unverzerrtes, worin sich die „Substanz“ oder „Wahrheit“ einer Person ausdrückt (sofern eine solche Substanz angenommen wird) aus den sprachbasierten Äußerungen dieser Person destilliert werden könnte, höchst fragwürdig. Zudem argumentieren HistorikerInnen seit Jahrzehnten, dass selbst die am konstantesten und extrem unmittelbar erscheinenden Momente menschlicher Empfindung, wie etwa Schmerz oder das grundlegendste Spüren der eigenen Körperteile, weder transhistorisch noch transkulturell wiedererkennbar sein müssen. Somit wäre selbst der plötzliche, präkognitive Moment des Spürens, der Innbegriff der Authentizität, eine Authentizität die innerhalb ihrer eigenen raumzeitlichen Bedingungen erfolgt. Da wir aber nur aus schriftlichen – und damit sprachlichen – Darstellungen von diesen Empfindungsunterschieden erfahren, beißt sich diese Argumentation in den Schwanz: Authentizität der Empfindung kann nicht durch Sprache erfasst werden, sondern nur Repräsentationen der Empfindung, die entsprechend ihrer eigenen Historizität und der unzähligen Variablen der historischen Situation, der sie entsprang, geprägt sind. Die Sprache eines Briefes muss in ihren historischen und situativen Kontext eingeordnet werden, ansonsten ist das Potential für Missinterpretation immens, insbesondere hinsichtlich des Ausdrucks von „authentischen“ Emotionen und Empfindungen. Für Romanerzählungen des 18. Jahrhunderts stellt Christine Roulston mit Blick auf das Konzept der Authentizität fest: „The concept of the authentic is interpretable in several ways; in the eighteenth century it was tied to the idea of legal validity, and still encompassed earlier meanings such as ‚real, actual, genuine‘ but also that which was proper to the ‚true‘ self“.42 Im Zuge derartiger großer Fragen über die Authentizität von Gefühl gegenüber unterdrückter Emotion und steifer Formalität entwickelte sich unter den europäischen Eliten des 18. Jahrhunderts die vielbesprochene „Mode“ der Empfindsamkeit, in der eine demonstrative, performative „Gefühlsauthentizität“ für Mitglieder höherer Gesellschaftsschichten zur eingeforderten Etikette wurde – und wo z.B. Trauer oder Rührung ohne ausbleibende Tränenflut kaum akzeptabel vollzogen werden konnten. Angesichts einer derartig herausfordernden Be41 Valéry, Paul (2011). Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers. Die andere Bibliothek. Frankfurt a.M.: Eichborn, S. 146. Ich danke Eugene Epstein, Manfred Wiesner und Lothar Duda für die Anregung. 42 Roulston, Christine: Virtue, Gender, and the Authentic Self in Eighteenth-Century Fiction. Richardson, Rousseau, and Laclos, Gainesville 1998, S. XI.

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weislage ist es verständlich, dass Momente expliziter Subjektivität und Ausdrücke von Gefühl und Empfindung in historischen Texten von HistorikerInnen oft vorsichtig, sogar harsch behandelt werden. Die Befürchtung, in der konkreten Forschungssituation einen Ausdruck historischen Selbstseins in eine möglicherweise bedeutungslose Formel, eine modische oder höfliche Phrase hineinzulesen, spricht aus vielen Werken, die es sich explizit zum Ziel machen, persönliche, individuelle Gefühle und Aussagen zu untersuchen. Laut Lisa Wynne Smith, „Historians are wary about the extent to which the written word can possibly express the interior world“43, stattdessen wird eine „tendency to dismiss subjectivity“44 kultiviert45. Die Historiographie empfindender, wahrnehmender Selbste scheint nach wie vor mit dem schmalen Grat zwischen Wissenschaft und Romantisierung zu kämpfen.46 Folgt man jedoch z.B. Dror Wahrman, der in seiner Forschung zum modernen Selbst die Ontologie des essentialistischen individuellen Selbst eliminiert hat47, dann können Briefe als Gesprächssituationen betrachtet werden, in denen die Schreibenden – als Sprecher – ihre eigenen Selbste im Bezug auf die Addressierten erschaffen und positionieren. Ausdrücke von „Subjektivität“ oder „inneren Welten“ sind nicht an die Grundbedingung einer essentiellen Individualität gekoppelt. Stattdessen werden sie als soziale Situationen, Aktivitäten und Produkte betrachtet. Ein schreibendes/sprechendes Selbst wird in der Schreibsituation konstruiert, je nachdem, wie es in Ko-Konstruktion mit dem Adressaten ausgeformt werden will, kann, oder muss. Aus dieser Perspektive zählt nur der Umstand, dass der Briefinhalt genauso verfasst wurde, wie er verfasst wurde – und nicht anders. Wenn die Formulierung einer Briefstellerformel entspricht, zählt nur, dass diese bestimmte Formel gewählt wurde und keine andere. Kaspar von Greyerz hat auf Gabriele Janckes Arbeiten zu autobiographischem Schreiben als soziale Aktivität verwiesen: „[N]ot so much as a witness to the rise of Western individualism and the increasing autonomy of the self, but rather as texts documenting, strengthening and constructing social relationships“.48 43 Wynne Smith, Lisa: „An Account of an Unaccountable Distemper“: The Experience of Pain in Early Eighteenth-Century England and France, in: Eighteenth-Century Studies, 41/4, 2008, S. 459-480, S. 460. 44 Ebd. 45 Siehe auch Pollock, Linda: Anger and the Negotiation of Relationships in Early Modern England, in: The Historical Journal 47/3, 2004, S. 567-590, S. 572, S. 573. 46 Siehe auch Raapke, Annika: The Pain of Senses Escaping. 47 Wahrman, Drohr: The Making of the Modern Self. Identity and Culture in EighteenthCentury England, Yale University Press 2004. 48 Von Greyerz, 2012, S. 277.

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Das Verfassen einer Selbsterzählung ist somit eine soziale Aktivität oder Handlung. Für die folgende Untersuchung wird somit angenommen, dass langfristige Briefwechsel über weite Distanzen hinweg auf beidseitigen, unausgesprochenen Vereinbarungen basierten, die brieflichen Selbsterzählungen als funktionale Repräsentationen der beteiligten Selbste zu behandeln. Mithilfe dieser Repräsentationen konnten beide Seiten im Rahmen der in der Brieferzählung abgesteckten Koordinaten auch an den Lebenswelten jenseits des Atlantiks teilnehmen. Methodologisch wird hier eine interdisziplinäre Strategie verfolgt, die Analyse- und Interpretationsmethoden aus der Literaturwissenschaft (etwa Close Reading) mit Methodikelementen der Linguistik, der Konversationsanalyse und der Ethnologie kombiniert49 und mit der historiographischen Perspektive vereint. Diese Strategie begründet sich in der Natur des Materials und der – möglicherweise kontraintuitiven – Annahme, dass die Zugänge der Mikrogeschichte hilfreich zur Bewältigung der besonderen Herausforderungen des Materials sein könnten, besteht es doch vor allem aus „Schnappschüssen“ in Form einzelner Briefe, die aus ihrem Kontext hinausgerissen, oft sogar anonym sind. Für den größten Teil der Briefe wird keine zusätzliche Information über Verfasser und Empfänger zur Verfügung stehen (was eine klassisch-mikrohistorische „Tiefenstudie“ unmöglich macht). Jegliche Form einer sehr materialnahen Analyse kann sich nur auf die Briefe selbst stützen, nicht auf ein großes Konvolut verwandten Archivmaterials. Die Frage ist nun, wie eine solche Analyse vorgenommen werden kann. In seinem noch immer bahnbrechenden, programmatischen Aufsatz „Missionare im Ruderboot? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte“50 von 1984 hat Hans Medick das Potential der ethnographischen Methode der „Dichten Beschreibung“ (bekannt vor allem dank Clifford Geertz) für die Sozial- und Kulturgeschichte diskutiert. „Dichte Beschreibung“ unterstreicht die Interpretationsleistung des beschreibenden Beobachters, der nicht versucht, den ontologischen Status des Beobachteten zu de-

49 Hier wird auf die Grundlagen der Konversationsanalyse zurückgegriffen in Form von Harvey Sack’s „Lectures on Conversation“, Volumes I & II, Edited by Gail Jefferson. Oxford [1992] 1995, ebenso wie andere Arbeiten zum Erzählen, etwa Neil R. Norrick’s „Conversational Narrative: Storytelling in Everyday Talk“, Amsterdam/Philadelphia 2000; und Charles Goodwin’s und Alessandro Duranti’s „Rethinking Context. Language as an Interactive Phenomenon“, Cambridge 1992. 50 Medick, Hans: „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10, 1984, S. 295-319.

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finieren, sondern dessen mögliche kulturelle Bedeutungen und Botschaften zu erkunden. Geertz formuliert: „The thing to ask about a burlesqued wink or a mock sheep raid is not what their ontological status is. It is the same as that of rocks on the one hand and dreams on the other- they are things of this world. The thing to ask is what their import is: What it is, ridicule or challenge, irony or anger, snobbery or pride that, in their occurrence, and through their agency, is being said“.51

„Ontologisierungen“ von doings oder sayings bestimmter kultureller Arrangements, die diese an ganz bestimmte soziokulturelle Bedeutungen und Funktionen anbinden, werden epistemisch als unprofitabel betrachtet, da sie die Vielfalt an Bedeutungen außer Acht lassen, die diese doings oder sayings in unterschiedlichen Kontexten oder Situationen oder für unterschiedliche Akteure haben können. Sich diesen Bedeutungen anzunähern erfordert jedoch die Interpretation durch den Beobachtenden. Hans Medick hat Geertz‘ Ansatz auf die Arbeit der Historikerin an Schriftmaterial übertragen und darauf hingewiesen, dass selbst scheinbar „objektive“ und „eindeutige“ Dokumente, wie etwa Haushaltsinventare, großes Potential für Interpretation jenseits der offensichtlichen Information über Haushaltsausstattung in sich tragen.52 Tatsächlich haben HistorikerInnen wie Amanda Vickery erstaunliche Bedeutungswelten aus schlichten Listen von Besitztümern erschlossen.53 Mit Blick auf Methodologie schlug Medick vor, dass HistorikerInnen Wege finden, die ethnographische „Dichte Beschreibung“ für sich zu adaptieren, z.B. durch die Mikroanalyse von kleineren Sozialeinheiten wie etwa Dörfern.54 Medick selbst nutzte einen solchen Ansatz in seiner beeindruckenden, 700 Seiten starken Untersuchung der Weber von Laichingen55, betonte jedoch, dass dies bei weitem nicht die einzige Möglichkeit für HistorikerInnen sei, das Prinzip der „Dichten Beschreibung“ umzusetzen.56 Wie bereits deutlich geworden ist, bietet sich ein derartiger Ansatz für diese Arbeit in der Tat 51 Geertz, Clifford: Thick Description. Toward and Interpretative Theory of Culture, in: (Ebd.): The Interpretation of Cultures. Selected Essays by Clifford Geertz, New York 1973, S. 3-32, S. 10. 52 Medick, Ruderboot, S. 313. 53 Siehe Vickery, The Gentleman’s daughter, Vickery, Lancashire Consumer, Vickery, Behind Closed Doors. 54 Medick, Ruderboot, S. 314. 55 Medick, Hans: Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900: Lokalgeschichte als allgemeine Geschichte, Göttingen 1997. 56 Medick, Ruderboot, S. 314.

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nicht an. Die Untersuchung des Teils zusammenhängenden, teils völlig unzusammenhängenden Materials benötigt eine andere Form der „Dichten Beschreibung“, die trotz des Mangels an Informationen die Nähe der Mikroperspektive wahren kann. Die erste Grundannahme hierfür ist, dass jeder einzelne Brief eine Zwei-Ebenen-Situation darstellt. Erstens ist es eine physische Situation, in der eine Person entweder sich selbst hinsetzt und mit der eigenen Hand einen Brief abfasst, oder ihn einer anderen Person in die Feder diktiert. Ob diese Situation überhaupt zu Stande kommt; wann und wie sie sich abspielt: All dies hängt von diversen Kontingenzen ab (Der Aspekt der Unsicherheit wird in diesem Kapitel noch mehr Aufmerksamkeit erhalten). Der nahezu unvorhersagbare Moment der Ankunft und Abfahrt eines Schiffs, die Verfügbarkeit von Schreibmaterial und ausreichender Zeit, um einen Brief zu verfassen, die notwendige Bildung, Übung und körperliche Fähigkeit, tatsächlich zu schreiben – ein Problem, das häufig auftrat – oder die Verfügbarkeit von Personen, die in der Lage waren, stellvertretend zu schreiben, ganz abgesehen von den notwendigen Mitteln, sie hierfür zu bezahlen: Dies sind nur einige der Umstände, die entscheiden konnten, ob, wann, wie, und unter Beteiligung wie vieler Personen eine Schreibsituation zu Stande kam. Die zweite Ebene ist die des Briefes selbst, seines Timings und seiner Position in Bezug auf den vorhergegangenen Kommunikationsverlauf; auf die beteiligten Schreibenden/AdressatInnen und natürlich auf seinen Inhalt. Wenn wir einen Brief als eine schriftliche Unterhaltung verstehen – das Ideal, das französische BriefschreiberInnen des 18. Jahrhunderts anzustreben gelernt hatten –, dann ist ein Briefwechsel ein zeitlich verzögerter Dialog zwischen zwei oder mehr Sprechern, die physisch voneinander getrennt sind.57 Jeder darin ausgetauschte Brief ist eine Situation innerhalb dieses Dialogs. Er wird vor allem mit Bezug auf den vorangegangenen Brief und in Antizipation der wiederum ausstehenden Reaktion produziert. Das Fehlen physischer Nähe bedeutet, dass die Beteiligten über keine der diversen nicht-verbalen Komponenten, die in der Etablierung und Erhaltung einer Face-to-Face Unterhaltung zu Gebote stehen, verfügen können. Somit wird die spezifische Situation eines Briefes vor allem von der Verfasserin oder dem Verfasser geschaffen, die oder der wahrscheinlich auf die vorangegangene Botschaft reagiert und antwortet, aber anders als in einem face-to-face Gespräch auswählen kann, was adressiert und was ignoriert wird, ohne dass die AdressatInnen eine Möglichkeit hätten, zu intervenieren. Beide Seiten antizipieren die Reaktion ihres Gegenparts, können aber trotzdem ihren Teil der Konversation ungehindert durchführen, ohne zu 57 Für deutschsprachige Briefkultur, siehe Vellusig, Robert: Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, Cologne/Vienna/Weimar 2000.

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wissen, ob sie in ihrer Einschätzung des brieflichen Gegenübers richtig lagen – bis wiederum der Antwortbrief eintrifft. Im Schreiben antizipiert der oder die Verfasserin den Lesemoment auf Basis dessen, was er oder sie von den Adressaten weiß oder über sie glaubt. Somit ist jede Briefsituation praktisch eingefroren, verhaftet in ihrem Entstehungsmoment und gleichzeitig in Erwartung einer unsicheren Zukunft, in der die Adressaten lesen und bestätigen oder bestreiten. Auf diesen zwei Situationsebenen finden Briefunterhaltungen statt, und dies ist, was für die vorliegende Analyse zur Verfügung steht. Der größte Teil der hier stattfindenden Untersuchung wird sich auf die Komposition des Briefs als epistoläre Erzählung konzentrieren, auf die Wortwahl und Formulierung, die Motive und Topoi, die verwendet werden, und natürlich den von dem oder der Schreibenden ausgewählten Inhalt. Die literaturwissenschaftliche Grundlagentechnik des Close Reading erlaubt die Dekonstruktion der Brieferzählung; Elemente der linguistischen Konversationsanalyse werden verwendet, um zu ermitteln, wie Brieferzählungen als Teil fortlaufender Unterhaltungen funktionieren, und das Sammeln und Hinzuziehen von Kontext-„Spuren“ (mit Bezug auf Ginzburg58) wird dabei helfen, mögliche Interpretationen mit Blick auf Briefziele und „Briefabsichten“ zu erschließen. Angesichts der Tatsache, dass es kaum zusätzliche Informationen zu den „objektiveren“ Lebensumständen der BriefschreiberInnen und AdressatInnen gibt, muss erneut betont werden, dass hier nur Interpretationsmöglichkeiten angeboten werden können – daher der Rückbezug auf „Dichte Beschreibung“, wo explizites Interpretieren als epistemischer Schlüssel betrachtet wird. In dieser Untersuchung wird versucht, „Dichte Beschreibungen“ durch das Close Reading und die Dekonstruktion von Briefsprache (manchmal bis auf die semantischen und grammatikalischen „Knochen“ eines Briefes) herzustellen, und den Briefinhalt so gut wie möglich mit seinem historischen Kontext zu verknüpfen, um die plausiblen Bedeutungsmöglichkeiten innerhalb der Erzählung einzugrenzen. Um zu einer nutzbaren, nicht zu engen Definition von „Erzählung“ zu gelangen, wurden Teile von Neil R. Norricks Definition für mündliche Erzählungen verwendet, der zufolge „narrative as a coherent set of two or more narrative elements“59 verstanden wird. Diese Arbeit bedarf eines Konzeptes von „Erzählung“, das minimalistisch genug ist, um die Briefe sowohl sehr geübter und gebildeter, sogar publizierter SchreiberInnen untersuchen zu können, deren Brieferzählungen sorgfältig gewählte rhetorische und manchmal poetische Stilmittel enthielten; als auch Briefe von SchreiberInnen, die kaum schreiben konnten, und die ihre Briefe doch mit viel (möglicherweise sogar deutlich mehr) 58 Ginzburg, Carlo: Clues, Myths and the Historical Method, Baltimore, 1989. 59 Norrick, Conversation, S. 28.

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Sorgfalt abfassten. Hier gilt daher die folgende Definition: Im Rahmen dieser Studie ist eine (Brief-)Erzählung ein kohärentes Set von zwei oder mehr narrativen Elementen, die von einem oder mehreren Sender/n in einer spezifischen Situation geschaffen wurden, um einen oder mehrere spezifische Inhalte an einen oder mehrere Rezipienten in deren respektiver Situation zu kommunizieren. Diese Definition ist flexibel genug, um sowohl Briefe, als auch unterschiedliche Genres nichtbrieflicher Texte unterzubringen. Ansonsten spricht bei der Briefuntersuchung vieles dafür, die Gänze eines Briefes zu berücksichtigen. Allerdings ist in vielen Fällen nicht mehr als ein Bruchteil einer einzelnen Brieferzählung von Relevanz für die hier gestellten Forschungsfragen. In solchen Fällen, wo die Passage, die sich auf (den) Körper bezieht, nicht in direktem inhaltlichem Zusammenhang mit dem Rest des Briefes steht, wird nur der relevante Part untersucht. Wenn aber körperliche Erfahrungen ein zentraler Teil der Gesamtbrieferzählung sind, wird auch der Gesamtbrief berücksichtigt. Ein weiterer Punkt, der mit Blick auf die Analyse der Erzählungen nochmals aufgegriffen werden muss, ist der der Authentizität – diesmal allerdings aufgrund eines sehr spezifischen, materialbedingten Problems, nämlich der Praxis des Verschlüsselns und Kodierens. BriefschreiberInnen des 18. Jahrhunderts waren selbstverständlich vertraut mit den Gefahren, denen ein reisender Brief ausgesetzt war (so wie das Abfangen durch Feinde oder andere Dritte), da dies auch in Europa ein bekanntes Problem war. Der vielversprechendste Weg, eine vertrauliche Kommunikation zu schützen, war die Verschlüsselung der Botschaft, und Schmuggler und andere, illegal operierende UnternehmerInnen nutzten Verschlüsselungen en masse. Eine beliebte Form der Verschlüsselung bestand im Abfassen eines „Standardbriefes“, der einem Nichteingeweihten nichts Ungewöhnliches mitteilen und so keinen Verdacht erwecken würde. Der High Court of Admiralty war mit dieser Praxis vertraut und stellte seinen Mitarbeitern Richtlinien für das Erkennen und die Entzifferung solcher Briefe bereit. Die Richtlinien beinhalten auch ein Beispiel eines typischen kodierten Schmugglerbriefs, und seine Formulierung zeigt, wie viel Potential für Schwierigkeiten die Praxis für die vorliegende Untersuchung bereithält. Der Beispielbrief enthält z.B. den folgenden Satz: „am sorry to tell you that by Unhealthfulness of the Country, I had a Sickness from the ---of a great Ague; but God be thanked, I am now on the recovering hand, as the Weather at present is favourable or passable; hope to be well in a short Time, and am of Opinion to go in ___ Weeks, in my Employ on the Plantations of Leogan [Léogane, St. Domingue].“ Laut den Entschlüsselungsrichtlinien, die erste Lücke für „the Date, when grew sick = is

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the Arrival”, “The Word favourable Weather = is a good Trade”, “The Time for to go to the Plantation = is the Time when shall sail“.60

Die Formulierung dieses Briefs ist extrem „normal“, weshalb sie sich auch so hervorragend für Enkodierung eignet. Gleichzeitig zeigt sie die Wichtigkeit und Allgegenwärtigkeit der Themen Gesundheit und körperliches Wohlbefinden auf, was den hier gewählten Fokus rechtfertigt. Die Situation bedeutet aber auch, dass jeder hier verwendete Brief, der dieser Standardformulierung folgt, mit zusätzlicher Vorsicht untersucht werden muss. Obwohl diese Verschlüsselungsmethode dem High Court of Admiralty gut bekannt war, war sie doch bei weitem nicht die Einzige. Und so wird die Möglichkeit bestehen bleiben, dass die Briefinterpretationen, die hier vorgestellt werden, zwar gut gemeint und wohlüberlegt sind, aber völlig fehlgeleitet. Zwar ist im Laufe der mehrjährigen Untersuchung ein eigenes „Archiv“ (hier in einem New Historicism-Verständnis61) entstanden, das intertextuelle Abgleiche erlaubt. Doch das Problem der Verschlüsselung kondensiert die meisten Schwierigkeiten, mit denen sich diese Untersuchung konfrontiert sieht: Genau das Thema, das hier aufgrund seiner Relevanz im Fokus steht – Gesundheit und körperliches Wohlbefinden – wurde dank ebenjener Relevanz als Code benutzt. Und trotz aller Entscheidungsmacht, die den BriefschreiberInnen bei der Abfassung ihrer Erzählung zu Gebote stand, drückten sie sich doch unweigerlich im Rahmen zeitgenössischer linguistischer und stilistischer Konventionen aus, die uns zum Teil nach wie vor unbekannt sein können. Neben Verschlüsselung und Kodierung gab es vermutlich „insider“-Witze zwischen Schreibenden, möglicherweise auch Redewendungen und Slang-Worte, die nicht überliefert wurden, ganz abgesehen von Problemen der Lesbarkeit. All diese Faktoren bedeuten, dass in dieser Untersuchung stets ein Grad der Unsicherheit, des möglichen Missverständnisses und der Kontingenz vorherrschen muss.

60 HCA 45/1, f. 237. Ich danke Amanda Bevan und Caroline Kimbell für diesen Hinweis. 61 Siehe etwa Baßler, Moritz: Die Kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Bonn 2005. Für diesen Hinweis danke ich Christina Beckers.

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UNSICHERHEIT Diese latente Unsicherheit und Unkalkulierbarkeit sind insofern passend, als dass sie sich mit der Situation der historischen AkteurInnen decken. Im Sommer 1778 schrieb ein junger Mann namens Chabans aus Martinique an seinen Vater. Er war besorgt, „dass dieser Brief nicht bei Ihnen ankommt, ich habe ihn an Du Pauly adressiert, der in Le Havre ist, und heute den 16. gibt es eins [ein Schiff] nach Le Havre“.62 Dieser Brief beleuchtet mehrere Grundbedingungen des Briefverkehrs zwischen Frankreich und den Kolonien im 18. Jahrhundert. Erstens mussten Briefe oftmals mithilfe von Dritten transportiert werden. Zweitens war das Versenden eines Briefes ein Unterfangen, das gänzlich an Gelegenheiten gebunden war. Wenn keine Schiffe nach Europa fuhren, dann konnte man schlicht keine Briefe versenden. Dies erklärt, weshalb Briefe manchmal Monate vor dem Versenden abgefasst wurden und weshalb ein Postskriptum oft vergleichsweise lange nach Vollendung des Briefes angefügt wurde. Gleichzeitig bedeutet es aber auch, dass Briefe oft in großer Eile geschrieben werden mussten. De Chabans könnte ein solcher Fall gewesen sein, falls die Gelegenheit des abfahrenden Schiffes sich unerwartet ergeben hatte. Allerdings könnte de Chabans sich auch im Datum geirrt haben, oder das Schiff konnte doch nicht auslaufen – laut den Daten der anderen Briefe, die mit de Chabans Brief gereist waren, muss das Schiff nach dem 20. August 1778 ausgelaufen sein, nicht am 16. August (oder dem 16. eines anderen Monats). Oder aber die Information diente lediglich als Rechtfertigung dafür, den Brief zu schließen, was wiederum im Einklang mit zeitgenössischen Stilpraktiken gewesen wäre.63 Doch selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, so hätte es nur funktioniert, weil alle Beteiligten wussten, dass Briefe oft unter Zeitdruck abgefasst werden mussten, um ja keine wertvolle Gelegenheit zum Briefversenden verstreichen zu lassen. Obwohl das Versenden eines Briefes aus der Karibik von Gelegenheiten abhängig war, war es doch vergleichsweise gut kontrollierbar im Vergleich zu dem, was dann folgte, nämlich die Reise des Briefs an sein Ziel. Selbst wenn eine Reise glatt verlief, konnte sie sehr lange dauern, was bedeutete, dass zwischen dem Versand und dem Empfang einer Information eine massive Zeitverzögerung liegen konnte. Diese Zeitverzögerung hat, wenig erstaunlich, die Aufmerksam-

62 HCA 30/287, de Chabanes, Martinique, an seinen Vater in Le Havre, Sommer 1778: „jai bien peur que cette letter ne vous parvenne je la dresse a Du Pauly qui est au havre et il y a un au havre aujourdhuy le 16“. 63 Siehe Haasis, Zeit, die drängt.

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keit der Briefforschung auf sich gezogen64, denn der Umgang der Schreibenden in ihren spezifischen Schreibsituationen mit dieser Verzögerung spielte eine wichtige Rolle für die Sozialfunktionen, die der Brief übernehmen sollte. Konstantin Dierks hat den Aspekt der zeitlichen, aber auch inhaltlichen Situierung eines Briefes innerhalb eines Austauschs zwischen zwei oder mehr BriefParteien betont, welche zu Beginn eines jeden Briefes stattfinden musste. Da, wie Dierks schreibt, „letters at this pace might cross paths somewhere in the middle of the ocean it was important to establish a letter’s place in the sequence of outgoing and incoming letters, so as to pinpoint exactly what information it was responding to, and what information it was following upon. Attending to this convention at the start of every letter was meant to preclude any misunderstanding that might accrue from the potential lag in transatlantic time – and from the fact that the most recent letter for the writer might not be the most recent letter for the recipient“.65

Tatsächlich zeigen viele Briefe, dass Missverständnisse trotz dieser Vorkehrungen auftraten, oftmals in Zeiten, in denen Briefverkehr eingeschränkt oder erschwert war, etwa in Kriegszeiten – was auf alle Briefe zutrifft, die in der HCASammlung lagern. Wie die Sammlung selbst belegt, wurden hunderttausende Briefe abgefangen und/oder gingen verloren, was bedeutete, dass Lücken in Briefaustauschen entstanden, die erst identifiziert und dann mühevoll durch weitere Briefe geschlossen werden mussten. Dies sorgte häufig für Angst und Unfrieden. Obwohl die Beteiligten wussten, dass es sehr wahrscheinlich war, dass ihre Briefe von den Engländern abgefangen worden waren, bezichtigten sie doch häufig ihre Briefpartner der Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit. Ein typisches Beispiel ist der Brief des Friseurs und Perückenmachers Bertin aus St. Anne, Guadeloupe, an die Demoiselle La Magnée in Saintes, dessen eigentliches Anliegen darin bestand, das Fräulein zu bitten, Bertin zu heiraten und zu ihm in die Karibik zu ziehen. Bevor Bertin jedoch Dlle La Magnée seiner ewiglichen Zuneigung versicherte, informierte er sie ausgiebig darüber, wie erbost und enttäuscht er war, weil er noch keinen Brief von ihr erhalten hatte – nur um in der nächsten Passage einzuräumen, dass sie wahrscheinlich keinerlei Schuld daran traf:

64 Siehe z.B. Pearsall, Sarah: Atlantic Families. Lives and Letters in the Later 18th century, New York 2008. Powers, Anne M.: A Parcel of Ribbons. The letters of an 18th century family in London & Jamaica, London 2012; Dierks, In My Power. 65 Dierks, In my Power, S. 83.

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„Mademoiselle und gute Freundin, Es ist also nutzlos, Ihnen zu schreiben, da Sie mir keine Antwort senden wollen, ich habe Ihnen mehrmals geschrieben, es ist unmöglich für mich, Neuigkeiten von Ihnen zu erhalten, außer über eine Person, bei der ich mich erkundigt hatte, ich hätte niemals geglaubt, dass die Abwesenheit Sie mich würde vergessen lassen, Sie schienen mir immer so zugeneigt [...] Vielleicht urteile ich wie ein Narr, vielleicht haben Sie mir geantwortet und die Briefe haben mich nicht erreicht, da es schwierig ist, Briefe zu senden, selbst wenn sie von einer Person geschrieben wurden, die gut schreibt [Kaum lesbare Passage] Denken Sie nicht, dass ich hiermit meine, dass Sie schlecht schreiben“.66

Dieses Muster – bittere Beschuldigungen, gefolgt vom versöhnlichen Einräumen politischer und infrastruktureller Hindernisse – tritt sehr häufig in zeitgenössischen französischen Briefen auf. Trotz expliziten Wissens über die strukturellen Unsicherheiten des Briefverkehrs ging der Äußerung dieses Wissens oft eine Erklärung tiefer persönlicher Kränkung angesichts des scheinbaren brieflichen Schweigens des Gegenübers voran. Der Grund hierfür mag in zeitgenössischen Konzepten von Höflichkeit und Wertschätzung, aber auch in den recht strikten Regeln des Briefverkehrs liegen, die z.B. Dana Goodman in ihrer Arbeit zur République des Lettres untersucht hat.67 Obgleich Briefe, in denen Frisöre ihren Damen Heiratsanträge machten, oder Soldaten sich darüber beklagten, dass sie von Flöhen in die Füße gebissen wurden, sicherlich nicht Teil dieses elitären kulturellen Phänomens waren, scheint es doch logisch, dass die Regeln des „normalen“ Briefverkehrs Ähnlichkeiten zu denen der Gelehrtenrepublik aufwiesen, und dass Lücken im Briefaustausch zwischen Freunden und Verwandten zumindest angesprochen und kommentiert wurden. Sich über Vernachlässigung zu beklagen, war in sich selbst eine Demonstration von Treue und Zuneigung; es zeigte, dass das Fehlen der Nachrichten nicht unbemerkt geblieben war. Einige der Briefe, die historisch und stilistisch eher der Kategorie „Empfindsamkeit“ zuzuordnen wären, enthalten kunstvolle Selbstbeschreibungen von SchreiberInnen, die sich nach ihren epistolär verstummten FreundInnen oder Geliebten jenseits des Ozeans verzehren; andere Briefe zeigen lediglich einige wenige, standardmäßige Bemerkungen; in jedem Fall konnten Verzögerungen und Unterbrechungen im Briefaustausch zu deutlichen Belastungen von Beziehungen führen. Madame de Borquillon etwa, die einen vorwurfsvollen Brief von ihrem Bruder in Martinique erhalten hatte, welcher sie beschuldigte, ihm nicht oft genug ge66 HCA 32/313, Bertin, St. Anne, Guadeloupe, an Demoiselle La Magnée in Saintes, 15.06.1778. 67 Goodman, Dena: The Republic of Letters. A cultural history of the French enlightenment, New York 1994, S. 140.

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schrieben zu haben, schrieb gekränkt zurück, sie sei nicht „Herrin über die Winde“68 und sei nicht in der Lage, die Ankunft ihrer Briefe zu kontrollieren. Das Ehepaar de Boiredon stritt sich geradezu in ihren Briefen (was aus einem überlebenden, sehr ärgerlichen Brief des Ehemanns entnommen werden kann).69 Die Zankäpfel in solchen „Streitbriefen“ zwischen den Ehepartnern waren üblicherweise Geld, Abwesenheit, Krankheit und die gemeinsame Verantwortung für Kinder, andere Familienmitglieder oder auch ein Geschäft. In der Tat folgten viele Briefe vertrauten Narrativen von Unglück und Elend, um Angehörige und Freunde zur Hilfeleistung zu verpflichten. Angesichts der Tatsache, dass viele Familien in der Tat von ihren Angehörigen in Übersee abhängig waren und mit existentiellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, wenn diese Verbindungen in irgendeiner Weise unterbrochen wurden, war die Möglichkeit eines Kontaktabbruchs jedoch oftmals eine als sehr real empfundene Bedrohung, und so sollte der Kummer, der aus vielen Briefen spricht, nicht zu leicht abgetan werden. Judith Brouwers HCA-basierte Forschung zum niederländischen „Katastrophenjahr“ 1672 hat hierzu wertvolle Erkenntnisse geliefert.70 Die Unsicherheit der Ankunft eines Briefes und die Zeitverzögerung führten zu einem weiteren interessanten Aspekt kolonialen Briefaustauschs: wechselnde Zeitdimensionen innerhalb eines Briefes. Als Monsieur Laplace aus Martinique 1778 an seine Mutter in Bayonne schrieb, wünschte er ihr ein frohes Weihnachtsfest – am 24. Juni. Laplace ging davon aus, dass der Brief seine Mutter ungefähr an Weihnachten erreichen würde, und sprang daher schriftlich sechs Monate in die Zukunft, um zu übermitteln, was zum Zeitpunkt der voraussichtlichen Ankunft des Briefes angemessen sein würde. Ein weiteres, sehr eindringliches Beispiel ist das von Monsieur Rey, der im Juli 1779 aus Martinique an seine Frau Marie in Marseille schrieb, um ihr mitzuteilen, dass er wohlbehalten angekommen war und hoffte, bald zurück nach Hause fahren zu dürfen. Die folgenden Zeilen zeigen auf, was „bald“ für Rey bedeutete: „Wenn Du schwanger sein solltest, wie es in Marseille den Anschein hatte, wünsche ich Dir eine glückliche Entbindung, vergiss Gott nicht, wenn Du seinen Beistand wünschst;

68 HCA 30/287, H. Lapalle, Saint Pierre, Martinique, an Mme de Bourquillon, Montdidier, 28.07.1778: „Maitresse de vents“. 69 HCA 30/286, M.de Boirredon, Martinique, an Mme de Boirredon in Puylaurens, 16.08.1778. 70 Brouwer, Judith: Levenstekens. Gekaapte Brieven uit het Rampjaar 1672, Hilversum 2014.

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Du bist frei, Dein Kind zu einer Amme zu geben oder es zu behalten; Ich hoffe, bald zurück in Marseille zu sein, wenn es dem Herrn gefällt“.71

Rey schrieb, es habe „den Anschein“ gehabt, dass Marie schwanger sei – wenn man annimmt, dass das sicherste Anzeichen einer Schwangerschaft im Jahr 1779 die Kindsbewegung war, könnte Rey etwa in Maries viertem Schwangerschaftsmonat abgereist sein. Wenn Rey dann nach „durchschnittlicher“72 Reisedauer in Martinique angekommen wäre, direkt nach Ankunft einen Brief geschrieben und dann auch sofort ein abfahrendes Schiff für den Transport nach Frankreich gefunden hätte, wäre der Brief nach ungefähr 35 weiteren Tagen in Richtung Marseille losgereist. Wenn dieses Schiff nicht von den Engländern abgefangen worden, sondern erfolgreich in Frankreich angekommen wäre, hätte die Reise mindestens 8 Wochen gedauert – die Rückfahrt benötigte aufgrund der nautischen Bedingungen mehr Zeit. Sofern der Brief dann direkt in Marseille angekommen und Marie Rey übergeben worden wäre, hätte er sie mindestens im 8. Monat der Schwangerschaft erreicht. Allerdings ist dies ein sehr unrealistisches Best-Case-Szenario; es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass der Brief sie direkt vor der Geburt des Kindes oder eher noch danach erreicht haben würde. Zwischen dem Abschied eines Ehemanns und der Ankunft seines ersten Briefes konnte durchaus ein Kind ausgetragen werden – und mehr. Falls Marie Rey tatsächlich schwanger war, war ihr sicherlich bewusst, dass durchaus damit zu rechnen war, dass ihr ungeborenes Kind seinem Vater bei der ersten Begegnung selbst entgegenlaufen würde. Für abwesende Familienmitglieder wie Laplace und Rey boten derartige briefliche Zukunftssprünge die Möglichkeit, an Familienereignissen teilzunehmen, die sie nicht in Person würden erleben können. Indem Laplace seiner Mutter frohe Weihnachtstage wünschte, erfüllte er nicht nur die Anforderungen der Höflichkeit und des Rituals. In ihrer Studie „Atlantic Families“, die für diese Untersuchung von großer Relevanz war, erklärt Sarah Pearsall, wie Familien ihre Bindungen in Abwesenheit festigten: „Finding themselves on opposite sides of the ocean, often in situations of considerable anxiety and uncertainty, these individuals had to forge family out of factors other than

71 Rey to Marie Rey, Marseille, June 1779: „En Cas que tu sois enseinte, comme il y avoit aparence etant a Marseille, je te souhaite un heureux accouchement, noublie pas Dieu sy tu veux avoir son sécours, tu est libre de mettre ton enfant en Nourisse ou de le garder, jespere etre bientot de Retour a Marseille sil plait a dieu“. 72 Basierend auf Aussagen in den Briefen.

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simple co-residence or lineage. One of the means individuals used to find familial connection in its apparent absence was to normalize and render sentimental its workings“.73

Während es wohl anachronistisch wäre, zu vermuten, dass Laplace mit seiner Referenz auf Weihnachten seine eigene Abwesenheit sentimentalisierte, ist es recht wahrscheinlich, dass der Zeitsprung in die Lese-Zukunft seiner Mutter dazu diente, die Trennungssituation der Familie zu normalisieren. Da Laplace zum Zeitpunkt des Briefs gemeinsam mit seinem Schwiegervater eine Plantage samt Wohnsitz auf Martinique gekauft hatte (wie später genauer beleuchtet wird), von der er sehr begeistert war, kann angenommen werden, dass die Trennung von der Familie in Frankreich keine ganz neue Situation für ihn war und dass alle Beteiligten wussten, dass sie sich möglicherweise niemals mehr wiedersehen würden. Familien wie die von Laplace mussten „Familienleben“ neu definieren – und zwar so, dass konstante physische Abwesenheit und konstante Teilnahme für bestimmte Familienmitglieder zur Normalität wurden.

KÖRPER IN BRIEFEN Für die Reys stellte sich die Situation anders dar. Monsieur Reys Abwesenheit war nur temporär. Er war vor vergleichsweise kurzer Zeit zuhause gewesen und zählte darauf, in absehbarer Zukunft dorthin zurück zu kehren. Da er jedoch den Eindruck gewonnen hatte, dass seine Frau schwanger sein könnte, ging er dennoch davon aus, dass er zu einem für die Familie sensiblen Zeitpunkt abwesend sein könnte, nämlich der potentiell gefährlichen Entbindung und Kindbettzeit von Marie. Reys Brief kann somit as Versuch der Teilnahme an einer möglicherweise während seiner Abwesenheit anstehenden Gefahrensituation für seine Frau gelesen werden; oder auch als Versuch, das Unkontrollierbare zu kontrollieren. Das Unkontrollierbare, der stets gefährliche Moment der Geburt, wäre genauso unkontrollierbar gewesen, wenn Rey in Marseille gewesen wäre; mag aber aus der Ferne noch erschreckender gewirkt haben. In seinem Brief sagte Rey alles, was gesagt werden musste. Er wünschte Marie Glück; er bot ihr den Schlüsselrat für gebärende Frauen in der Frühen Neuzeit (halte Dich an Gott, und er wird Dich in der Stunde der Niederkunft beschützen, was auch bedeutet, dass er Dich in sein Reich aufnehmen wird, sofern Du nicht überleben solltest); und er bot „ehemännliche“ Unterstützung an, indem er ihr die Möglichkeit eröffnete, eine Amme zu engagieren. Das briefliche Durchspielen einer unsicheren

73 Pearsall, Atlantic Families, S. 29.

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Zukunft erlaubte es Rey, seinen Pflichten als Ehemann und Vater im Rahmen des Machbaren auch während seiner Abwesenheit nachzukommen und so gut es ging das Heft in die Hand zu nehmen. Ein weiterer Aspekt dieses Briefes, der hier von Interesse ist, ist seine implizite „Körperlichkeit“, denn obwohl Rey keinerlei Körperteile oder Körperempfindungen thematisierte, bezieht sich doch der wichtigste Teil des Brieftextes direkt auf Marie Reys Körper. Als Rey schrieb, es hätte den Anschein gehabt, als sei Marie schwanger, nahm er unweigerlich Bezug auf körperliche Signale, die die Eheleute gemeinsam interpretiert hatten – sei es das Ausbleiben der Menstruation, Übelkeit, veränderte Sinneswahrnehmung, Zunahme an Brüsten und Bauch oder von Marie gespürte Kindsbewegungen. In seinen Wünschen und Ratschlägen bezog sich Rey auf die Vorgänge, die Maries Körper würde durchlaufen müssen, wenn sie das Kind bis zum Ende austrug: Die schmerzhafte, blutige, gefährliche Geburt, das Kindbett, das Stillen, so sie sich dafür entschied. Diesen Brief als Nachweis eines lebenden, empfindenden Körpers zu lesen, sollte für HistorikerInnen kein Problem darstellen. Und doch: Der Brief als Selbsterzählung berichtet nicht vom Körper des schreibenden Selbst; der hier implizit dokumentierte Körper ist der einer anderen Person. Der Brief eröffnet den Blick auf Marie Reys Körper durch die Augen ihres Ehemannes, und entgeht so vielen Schwierigkeiten, die der Erforschung sinnlicher, spürender historischer Körper in Selbsterzählungen im Wege stehen – im Grunde dieselben Schwierigkeiten, die auch schon im Zusammenhang mit „Authentizität“ und dem Selbst in Briefen diskutiert wurden. Entweder werden Körper von Forschenden aus seiner strukturellen, oft diskursanalytischen Perspektive betrachtet, die, wie Gudrun Piller formuliert hat, „the body as an abstraction“74 sieht; oder sie sind „often overly concrete, undertheorised or cast too simply“.75 Karen Harveys exzellentes „Reading Sex in the Eighteenth Century“76 bietet eine besonders überzeugende Diskussion zu dieser Problematik, obwohl Harvey nicht mit Selbsterzählungen gearbeitet hat, sondern mit Erotika aus dem 18. Jahrhundert. Harvey argumentiert, dass die Foucauldsche Schule, die „discursive over non-discursive practices“77 priorisiert, unter der problematischen Annahme operiert, die ihrer theoretischen Position zugrundeliegende Beweislage „enjoyed predictable contemporary re74 Piller, Private Body, S. 77. 75 Kathleen Canning quoted in Piller, Private Body, S. 77. Original: Canning, Kathleen: The Body as Method? Reflections on the Place of the Body in Gender History, in: Gender & History 11/3, 1999, S. 499-513, S. 502. 76 Harvey, Karen: Reading Sex in the Eighteenth Century. Bodies and Gender in English Erotic Culture, Cambridge 2004, Discussion on S. 7 ff. 77 Ebd., S. 9.

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sponses, and that there is a knowable and predictable relationship between representation and practice“.78 Harvey warnt davor, die Beziehungen zwischen Texten und ihren Lesern übermäßig vereinfacht zu betrachten und betont, dass Texte nie einfache Instrumente der Einflussnahme waren, die voraussagbare Verhaltensweisen hervorbrachten.79 Mit Blick auf Selbsterzählungen heißt dies, dass auch ein intertextuelles Aufspüren „diskursiver Elemente“ nicht bedeuten darf, dass diese von den jeweiligen SchreiberInnen fraglos akzeptiert und weitergegeben worden wären; und dass nicht daraus geschlossen werden sollte, dass die jeweilige Person und ihre Weltsicht „top-down“ diskursiv geformt wurden – es wäre eher generell zu hinterfragen, wie AkteurInnen und Koakteure „top“-Positionen situativ besetzen. Eben jene Elemente der Selbsterzählung, die denjenigen, die nach „Authentizität“ suchen, solche Schwierigkeiten bereiten – die Wiedersprüche, die Erfindungen, die blumigen Geschichten – zeigen, dass BriefschreiberInnen wussten, was sie wem auf welche Weise erzählen und auf welche Elemente sie dabei rekurrieren wollten. (Dies trifft allerdings nicht auf Briefe von Kindern zu, denen oftmals von Autoritätspersonen in die Finger diktiert wurde, was sie schreiben sollten. Sie mussten noch erlernen, was wem auf welche Weise in einer brieflichen Sprachsituation erzählt werden konnte.) Die Tatsache, dass so viele SchreiberInnen inhaltlich fehlgriffen, ihre Leserschaft falsch einschätzten oder die Briefe ihrer SchreibpartnerInnen selbst falsch interpretierten, was zu Irritation und Konflikten führte, spricht ebenfalls für Harveys „Vereinfachungs“-Argument. Die hier angenommenen konstanten situativen und positionellen Verschiebungen individueller Selbste und Körper innerhalb ihrer unterschiedlichen, sich stets wandelnden Arrangements lassen sich nicht mit der Voraussetzung einer spezifischen kulturellen, schicht- oder feldbasierten Homogenität des Verstehens der Welt vereinbaren, die der oben besprochenen Perspektive zugrunde liegt. Das Verständnis und die Wahrnehmung der Welt sind notgedrungen an die Positionen des Individuums in Zeit, Raum und Ort gebunden; an die direkten Anforderungen, die diese Positionen an das Individuum stellen, und an die diversen Positionen, die es in den Zeiten, Räumen und Orten zuvor erfahren hat. Dies bedeutet nicht, dass das Diskursive hier unbeachtet bleibt, sondern dass es nicht als Rekrutierer seiner eigenen Teilnehmer verstanden wird. Stattdessen wird es als etwas betrachtet, worauf Teilnehmer Bezug nehmen; worin sie sich innerhalb brieflicher Unterhaltungen einschreiben, um etwas zu vermitteln – z.B. ihre eigene Autorität oder die eines Dritten, ihre Glaubwürdigkeit, Fähigkeit etc. In der Wolle gefärbte Foucauldianer mag das irritieren, genauso wie die gesamte hier zugrunde liegende Annahme, dass das 78 Ebd., S. 8. 79 Ebd.

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Briefeschreiben ein „sorgfältiger Kompositionsprozess“ war. Hier wird jedoch davon ausgegangen, dass es in den allermeisten Fällen nicht möglich ist, festzustellen, wie bewusst ein/e bestimmte/r Schreibende/r mit dem Bedeutungsspektrum der spezifischen Sprache und Inhalte umging, die er oder sie für einen Brief auswählte. Es ist meistens unmöglich, zu wissen, ob eine bestimmte Formulierung oder ein bestimmter Inhalt aufgrund oder trotz bestimmter Bedeutungsebenen und Interpretationsmöglichkeiten ausgewählt wurde; ob die Schreibenden diese Möglichkeiten und Ebenen kannten; ob zeitgenössisch relevante Diskurse bewusst aufgerufen wurden, oder ob sie schlicht der Weltsicht und Weltwahrnehmung der Schreibenden entsprachen. Eindeutig ist jedoch, dass die meisten Schreibenden ihre AdressatInnen, deren Hintergründe und/oder Interessen kannten, und aus diesem Wissen Koordinaten für das Abfassen ihrer Briefe gewannen. Wenn sie sich also nicht über das gesamte Bedeutungsspektrum im Klaren waren, das aus ihren Texten herausgelesen oder in sie hineininterpretiert werden konnte und noch immer kann, wussten sie doch mit einiger Sicherheit, was sie selbst meinten und beabsichtigten, wenn sie in bestimmten Konversationssituationen bestimmte Formulierungen und Inhalte wählten. Wie erfolgreich sie damit waren, steht auf einem anderen Blatt, und hätte nur nach erfolgter Reaktion der beabsichtigten Leserschaft abgeschätzt werden können. Zurück zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen: Wie können Körper in Selbsterzählungen gelesen werden? Perspektiven, die sich auf das Diskursive konzentrieren und den Körper als Abstraktion betrachten, sind für jene KörperhistorikerInnen unbefriedigend, die sich hauptsächlich für gelebte, erfahrene historische Körperlichkeiten interessieren. In Selbsterzählungen müssen diese gelebten Körperlichkeiten als Konstruktionen betrachtet und untersucht werden. Sie als „real“ und konkret hinzunehmen, würde sowohl den Prozess der Übersetzung von Empfindung in Sprache ignorieren (siehe „Authentizität“), als auch das Erschreiben des Körpers als soziale Aktivität, die in einer spezifischen Situation geschieht. Diese Körper jedoch lediglich als Produkte geltender Diskurselemente zu betrachten, da der „wahre“ Körper sowieso nicht erfasst werden kann, hieße, das Kind mit dem Bade auszugießen. Denn Europäer des 18. Jahrhunderts waren empfindende, wahrnehmende Körperlichkeiten. Es wurde oft gesellschaftlich und manchmal sogar von administrativer Seite von ihnen verlangt, ein individuell erkennbarer Körper zu sein (siehe das Kapitel zum Körper). Die VerfasserInnen solcher Selbsterzählungen, die in Antizipation einer spezifischen Leserschaft erstellt wurden, mussten sichergehen, dass sie ihre Körper so erzählten, dass sie als empfindsam und lebendig anerkannt und verstanden wurden. Die obigen Überlegungen, ebenso wie die Beispiele von Laplace und Rey haben bereits angesprochen, dass Briefe in „Fernbeziehungen“ des 18. Jahrhun-

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derts persönliche Interaktion ersetzen mussten. Hier ist die Greifbarkeit eines spürenden Körpers, der auf Papier gebannt wurde, von besonderer Relevanz. Wenn Familien, Ehes- und Liebespaare, Freunde, aber auch Kollegen oder Geschäftspartner durch tausende Meilen getrennt waren, fiel der körperliche Aspekt einer jeden Beziehung weg. Briefe mussten als Papiervertreter körperlicher Interaktionen einstehen und sicht-, hör-, und fühlbar für die Leser werden. So sind die hier untersuchten Briefe aus der französischen Karibik voll von Berührungen. Zahllose Umarmungen, Küsse, sogar Klapse überquerten den Ozean im Versuch, ihre Sender physisch in der Mitte der Adressaten zu halten und Körperkontakt aufzunehmen. Hierbei halfen geteilte Erinnerungen an vergangene Berührungen: „Erinnerst Du Dich, dass Du Dich an meinen Arm geklammert hast, wir sind spazieren gegangen, wir beide“ fragte ein junger Mann seine Liebste, und erinnerte sie daran, dass sie dabei dem „Gesang der Vögel“80 zugehört hatten. Eltern griffen schriftlich ein, um die Haltung ihrer Kinder zu korrigieren. Monsieur Rossignol aus Saint Domingue schrieb im November 1778 an seine drei kleinen Töchter in Tours und wies sie (unter anderem) an, gerade zu sitzen, da man ihn über ihre krummen Rücken informiert hatte.81 Manchmal versuchten Schreibende sogar, eine spezifische Stimme zu dokumentieren. M. Martin aus Pointe-à-Pître, Guadeloupe, transkribierte im Juni 1778 die spezifische, kreolisch gefärbte Sprechweise seines kleinen Sohnes in Briefen an zwei seiner älteren Kinder. Dieses kann nicht adäquat übersetzt werden, das Original findet sich jedoch in der Fußnote: „Euer kleiner Bruder fragt stets [...] „wo Du Bruder, der fährt nach Frankreich, Ich wollte fahren!“82 Ein anderer Vater beschrieb seinen kleinen Jungen noch lebensechter. Als die Familie de Lonzar 83 sich während der Revolution von Saint Domingue trennen musste, blieb Monsieur de Lonzar mit seinem kleinen Sohn Justin in der Kolonie, während seine Ehefrau und Töchter nach New York reisten. Der kleine Junge wurde über die Abwesenheit seiner Mutter hinweggetröstet, indem man ihm sagte, sie käme bald zurück. „Er rannte auf mich zu: Ist es wahr, Papa? Maman kommt? [...] warte, I gucke! Er rannte auf den Balkon, schaute zu meinem Kanu hinüber & als er nichts sah, 80 HCA 30/396, anonymer Mann in Pointe-à-Pitre, Guadeloupe, an Mlle Ortevan in Le Havre. Datiert „03.03.1793 2. Jahr der Französischen Republik“: „Te souvien tu que tu etoient croché a mon bras nous alant promené tous les deux […] que le chant deses oiseaux retentisoient“. 81 HCA 30/305, Rossignol, Saint Domingue an seine Töchter in Tours, 07.11.1778. 82 HCA 32/313 M. Martin, Guadeloupe, an Sohn und Tochter in Marseille, France, 29.06.1778: „Votre petit frère demande tojours […] ou tes frère Li allé en France moi voullé allé“. 83 Möglicherweise auch de Longar, de Lonzer ou de Longer.

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drehte er sich zu mir um. Nicht da, Papa! Sie kommt morgen? Ja, Sohn. Ich küsste ihn, und er ging singend davon“.84 In dieser Beschreibung wurde Justin de Lonzar zu einer distinktiven körperlichen und emotionalen Präsenz, mit einer wiedererkennbaren Kleinkinderstimme und vertrauten Kinder-Routinen – z.B. hinaus auf den Balkon zu laufen, um neugierig nachzusehen, ob jemand per Kanu eingetroffen war. Gleichzeitig kulminierte der emotionale Aspekt der Brieferzählung, die Trennung der Familie, in dieser lebensnahen Beschreibung des kleinen Jungen. Die Art und Weise, wie BriefschreiberInnen ihre eigene Körperlichkeit, Erfahrungen und Empfindungen zu Papier brachten, war einer der Schlüssel zur erfolgreichen Aufrechterhaltung und, mit Rückbezug auf Sarah Pearsall, Normalisierung zentraler Beziehungen. Angesichts dieser Überlegungen werden im Folgenden Körper in Briefen als Konstruktionen affektiver, sinnlicher Körper betrachtet, die so erzählt werden, dass sie als Repräsentationen ihrer physischen Gegenstücke funktionieren können. Die Briefe wurden von materiellen Körpern verfasst, die sich physisch mit den sozialen und materiellen Arrangements der Karibik auseinandersetzen mussten; gleichzeitig transportierten sie funktionierende Papierkörper, die über weite räumliche und zeitliche Distanzen hinweg verstehbar und berührbar waren. Briefe funktionieren in ihrem eigenen sozialen Raum der in gewisser Weise einen Akt imaginativer Zusammenarbeit zwischen Sender und Empfänger darstellt. Die Sendenden müssen nicht die komplette Alltagsrealität ihrer Lebenswelten abbilden; es genügt, wenn sie Ausschnitte oder knappe Details zur Verfügung stellen. Die Imagination der Lesenden füllt die Lücken und vervollständigt das Bild. Somit konnten Papierkörper in einer einzigen kleinen Textpassage aufgerufen werden und dennoch für die Lesenden als komplette, lebende, spürende Entitäten funktionieren. Körper waren oft präsent in Briefen, jedoch nicht immer sehr explizit, wie der Brief von Monsieur Rey gezeigt hat. „The body becomes most conspicuous when it is sick or threatened“, erklärt Gudrun Piller, „Incisive physical experiences, such as birth or illnesses, which would become life-threatening much more quickly than today, are worthy of being communicated and remembered“.85 Dies gilt auch für die hier untersuchten Briefe. Schreibende, die sich explizit mit ihren eigenen Körpern oder denen anderer Leute auseinandersetzten, beschäftig84 HCA 30/381, M. de Lonzar (s.o.), Saint Domingue, an seine Frau in New York, Mai 1793: „Il a couru à moi: C’est vrai Papa, Maman arrivé? […] attend moi allé voir! Il a couru au balcon, a regardé vers mon canot & ne voyant rien il s’est tourney vers moi. N’a pas Papa! L’y arrive demain? Oui mon fils. Je l’ai embrassé, et il s’en est allé en chantant“. 85 Piller, Private Body, S. 80.

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ten sich zumeist mit Krankheit und Gesundheit, Geburt, Verletzungen oder Tod. In vielen anderen Situationen wurden Körper und ihre Erfahrungen und Empfindungen nicht konkret thematisiert. Da viele dieser Situationen, Aspekte und Geschichten aber zweifellos auf körperlichen Aktivitäten und Erfahrungen basierten, werde ich sie als solche lesen. Wenn SchreiberInnen sich mit Essen und Trinken, Sexualität, körperlicher Arbeit, Sport und Ertüchtigung, Gewalt oder auch körperlicher Nähe beschäftigen, werde ich ihre Beschreibungen als Erzählungen bewegter, spürender, erfahrender und agierender Körper betrachten und von der Grundannahme ausgehen, dass diese Lesart auch dem Funktionsziel der Schreibenden entsprochen hätte.

Orte, von denen es kein Entrinnen gibt?1 Körper im 18. Jahrhundert

In der Einleitung zu dieser Untersuchung wird behauptet, die karibischen Kolonialarrangements des 18. Jahrhunderts hätten von Körpern gelebt. Versklavte Körper produzierten die Waren, die Reichtum brachten; Soldatenkörper beschützten und verteidigten Reichtum; die Körper von Seeleuten garantierten den Transport von Sklaven, Waren und Waffen dorthin, wo sie gebraucht wurden. Ganz zu schweigen von der riesigen Nummer nicht so einfach zu klassifizierender Körper, die sich mit all den Genannten auseinandersetzten, die Arrangements anfeuerten und ankurbelten, auf dass sie immer noch mehr Körper verzehrten. Eine riesige Maschinerie menschlichen Fleisches war beständig in Bewegung, überquerte Ozeane (entweder einmal und für immer, oder hin und her zwischen Kontinenten und Inseln), schnitt Zuckerrohr, mahlte Zucker, knallte Peitschen, pflanzte, erntete, kochte, belud und entlud Schiffe, hisste Segel, verstärkte Befestigungen, kämpfte, trug neue Körper aus und brachte sie zur Welt, oder engagierte sich in den unzähligen anderen körperlichen Aktivitäten, die die Maschinerie am Laufen hielten. Angesichts der schieren Anzahl an Körpern, die versklavt, ausgebeutet, gequält und getötet wurde, um den Ruhm der französischen Zuckerkolonien aufrechtzuerhalten, mag die Vorstellung bizarr erscheinen, dass dem individuellen, wiedererkennbaren Körper, den unsere okzidentalen Kulturen voraussetzen, irgendeine Form von Aufmerksamkeit gezollt wurde. Doch der wiedererkennbare Körper des Einzelnen war ein Schlüsselelement der Identifikation und somit von großer Bedeutung innerhalb der Kolonialarrangements. Gwenda Morgan und Peter Rushton haben gezeigt, wie Sichtbarkeit und Wiedererkennbarkeit einzelner Körper innerhalb der atlantischen Welt zu einem wichtigen Faktor in der Etablierung von Macht und Besitz in Sklavenhalter-

1

Siehe Fußnote 7.

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Sklave und Herr-Dienstbote-Beziehungen wurde.2 Morgan und Rushton haben Anzeigen untersucht, die in Zeitungen veröffentlicht wurden, wenn Dienstboten oder SklavInnen davongelaufen waren, oder wenn Soldaten desertiert hatten. Diese Anzeigen beinhalteten detaillierte Beschreibungen der Körper der Flüchtigen, ihrer Hautfarbe und Knochenstruktur, ihrer Augen etc., so dass aufmerksame Bevölkerungsmitglieder sie auch unter einer Verkleidung aufspüren konnten. „This was in many ways a culture of concealment – an ‚age of disguise‘“, schreiben Morgan und Rushton, „which consequently obsessed with discovering the ‚real‘ person below the surface. All this made bodies, appearances and identities problematic for eighteenthcentury society, whose authorities were forced to develop a full language of description that helped readers to identify people“.3

In den hier gezeigten Fällen wurden Beschreibungen als Kontrollmaßnahmen vorgenommen, um unrechtmäßige Abwesenheit zu verhindern oder zu bekämpfen. Doch innerhalb des karibischen Kolonialgefüges konnten Menschen auch durch Unfälle oder Zufall abhandenkommen. Angesichts des Kommens und Gehens von Schiffen, der Unsicherheit der Reisemöglichkeiten, der Gefahr der Kaperung oder eines Angriffs während der langen Seereise, sowie des Wetters, das Schiffe schnell auf Umwege oder zu Notstops zwingen konnte, ganz zu schweigen von Krieg, Krankheit und Tod, konnte es extrem kompliziert werden, die Kontrolle über den Verbleib einzelner Personen zu behalten. In HCA überlieferte Militärdokumentation zeigt, dass detaillierte persönliche Beschreibungen, die bei Dienstantritt eines Soldaten erstellt wurden, benutzt wurden, um zu verfolgen, wer wer war, wer wo war, wer noch lebte und wer verstorben war, und wer wo arbeitete. So beschrieben etwa die Dokumente der in Martinique stationierten Compagnie des Chasseurs de Dubourg den Füsillier Népomoc Bougart folgendermaßen: „Nepomoc Bourgart, Sohn des verstorbenen Martin Bougart und von Anne Pitin [...] geboren 1759, G[röße] von 5 F[uß],1 D[aumen], Haare und Augenbrauen helles kastanienbraun, braune Augen, große Nase, mittelgroßer Mund, ovales Gesicht, Grübchen im Kinn“.4 2

Morgan, Gwenda/Rushton, Peter: Visible Bodies: Power, Subordination and Identity in the Eighteenth-Century Atlantic World, in: Journal of Social History 39/1, 2005, S. 39-64.

3

Ebd., S. 40.

4

HCA 30/286. Dokumentation Régiments de la Martinique. Nepomoc Bourgart, fils du feu Martin Bourgart et d’Anne Pitin [...] Ne en 1759, T. de 5 p 1, cheveux et sourcils

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Népomocs Mitfüsillier Jacques Germain, geboren 1760, wurde beschrieben als: „Größe von 5 F 2 D, braune Haare und Augenbrauen, schwarzer Bart, rotbraune Augen, lange spitze Nase, mittelgroßer Mund, ovales Gesicht, Grube im Kinn“.5 Das Aussehen der Männer samt der Daten ihres Militäreintritts wurde dokumentiert, als sie sich in Richtung der Compagnie des Chasseurs de Dubourg einschifften. Der Zweck war, ihre „Aufspürbarkeit“ zu gewährleisten – nicht nur, um eventuelle zukünftige Entgleisungen besser verfolgen und bestrafen zu können, sondern um innerhalb eines unzuverlässigen, gefährlichen und sich ständig verändernden Systems die Kontrolle über das zu verwaltende Personal zu behalten. In einer Welt, in der nicht nur unter Eliten die Vorstellung herrschte, der Körper sei „the first place to start“ wenn „truth about someone was to be obtained“6, waren Körper der Stoff, aus dem Identität hervorging. Körper waren die „wahrhaftige“ Realität einer Person, sie enthüllten, wo jemand gewesen war, wo jemand hingehörte, und was er oder sie getan hatte. Diese Perspektiven aus dem 18. Jahrhundert erinnern ominös an Michel Foucaults Worte zum utopischen Körper: „Und in dieser hässlichen Schale meines Kopfes, in diesem Käfig, den ich nicht mag, muss ich mich nun zeigen [...] Mein Körper ist der Ort, von dem es kein Entrinnen gibt, an den ich verdammt bin“.7 In Militär- und Gerichtsdokumenten oder den von Morgan und Rushton erforschten Anzeigen tritt der Körper in der Tat als unentrinnbarer Ort hervor. Wie sah dieser Ort im 18. Jahrhundert aus? Was waren seine grundlegenden Koordinaten? „[T]enter l’approche historique et politique „de cette partie matérielle des êtres animés“ confirme au corps son infinie noblesse, sa capacité rationnelle et passionnelle à créer avec l’histoire et malgré elle, puisqu’il est siège et partie prenante des sensations, des sentiments et des perceptions. Ductile, il s’inclut au monde tant que cela lui est possible. Cela coûte des rires et des cris, des gestes et des amours, du sang et des chagrins, de la fatigue aussi. Le corps, son histoire et l’histoire ne font qu’un“.8

chatains clairs, les yeux bruns nez gros bouche moyenne, visage oval fossette au menton. 5

HCA 30/286: Dokumentation Régiments de la Martinique. “Jacques Germain [...] ne en 1760. Taille de 5 p 2p. Cheveux et sourcils Bruns barbe noire yeux roux nez long et pointu Bouche Moyenne Visage oval menton a fossette.”

6

Morgan/Rushton, Visible Bodies, S. 41.

7

Foucault, Michel: Heterotopien. Der Utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt am Main (2005) 2013, S. 26.

8

Farge, Arlette: Effusion et Tourment. Le Récit des Corps. Histoire du peuple au XVIIIe siècle, Paris 2007, Préambule. Herv. i.O.

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Arlette Farges poetische Präambel zu ihrem 2007 veröffentlichten Werk „Effusion et Tourment. Le Récit des Corps“ betrachtet den Körper als jenen Teil der menschlichen Existenz, der sich tatsächlich aktiv mit der Welt auseinandersetzen muss, in die er hineingeworfen wird. Für Farge, eine Kollegin Foucaults, ist es der menschliche Körper, der mit der Welt „klarkommen“ muss, in dem er sich entweder anzupassen versucht oder seine Konflikte ausficht. Jeder Moment, jeder Aspekt und jede Facette des menschlichen Lebens, seiner Geschichte und Geschichten wird durch menschliche Körper vorangetrieben, erschaffen und empfunden. In dieser Untersuchung geht es um Körper in schriftlichen Dokumenten aus der Karibik, einer Region, in der sich im 18. Jahrhundert eine Vielzahl von Körpern aus unterschiedlichsten Hintergründen begegnete. EuropäerInnen waren gegenüber versklavten AfrikanerInnen massiv in der Unterzahl (bisweilen im Verhältnis von 1:109). Dennoch werden die hier repräsentierten Körper zum größten Teil – in gewisser Weise – europäisch sein. Entweder wird es um die Körper der Schreibenden selbst gehen, ihrer Familienmitglieder, Freunde oder Kameraden; oder um die Körper von AfrikanerInnen oder AfrokaribInnen, die durch europäische Augen beschrieben wurden – als Repräsentationen von afrikanischen und afro-karibischen Körpern zur Hochphase des Transatlantischen Sklavenhandels. Doch auch diese massiv gefärbten Repräsentationen erlauben noch kurze Blicke auf afrikanische und afrokaribische Körper „créant avec l’histoire et malgré elle“, um bei Farge zu bleiben. Doch da auch diese Körper sich zumeist nur aus dem Material herausschälen lassen, wenn man gezielt nach ihnen sucht, muss klar sein, dass letztendlich Geschichte Körper macht, die Geschichte machen. Körper sind erst relativ spät ein expliziter Teil der Historiographie geworden. Zwar waren es Körper, die „Weltgeschichte“ machten, indem sie Schlachten ausfochten, brisante Liebesaffären hatten oder auch einfach Erbsensuppe aßen (mit bisweilen geschichtsträchtigen Folgen, wie im Fall von Schwedens unglücklichem König Eric XIV). Doch obwohl diese Körper durch ihre Aktivitäten entscheidende Rollen in jenen Ereignissen und Prozessen spielten, die später zum Schreiben unterschiedlicher Geschichten ausgewählt wurden, wurde ihnen selbst, als Gegenstände historiographischen Interesses, kaum Wert beigemessen. Und tatsächlich funktionierten diese Geschichten gut, auch ohne die Inklusion des Körpers. Die dieser Arbeit zugrundeliegende Annahme, der Körper als eines der entscheidendsten Fundamente jeder auf der Annahme eines Körpers beruhenden Kultur müsse notwendigerweise als „geschichtsmachend“ und ge9

Marzagalli, Silvia: The French Atlantic World, in: Canny, Nicholas/Morgan, Philip (Hg.): The Oxford Handbook of the Atlantic World, c. 1450-c. 1850, Oxford 2011, S. 235-251, S. 240.

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schichtsverkörpernd betrachtet werden, und somit eine offensichtliche epistemische Kategorie zur Erforschung von Vergangenheiten darstellen, ist Ausdruck der Historizität dieser Arbeit selbst – wer oder was als „geschichtsträchtig“ und „geschichtsmachend“ betrachtet wird, hängt vor allem von der Situation der bearbeitenden HistorikerInnen ab. Dipesh Chakrabarty hat bekannterweise auf die Künstlichkeit akademischer „Geschichte“ hingewiesen, die in ihren Ursprüngen, wie auch in ihrer gesamten Natur eurozentrisch ist und immer wieder als Wahlinstrument genutzt wurde und wird, um europäische Ansprüche auf kulturelle Hegemonie zu zementieren.10 Chakrabarty empfiehlt, dass HistorikerInnen die Methoden, Sicherheiten, Loyalitäten und Ethiken ihrer eigenen Profession kritisch hinterfragen und sie auf unterliegende Wurzeln kulturellen Imperialismus prüfen. Angesichts dessen könnte ein historiographischer Fokus auf „Körper, die Geschichte machen“, der sich auf die Annahme einer allumfassenden Validität seines eigenen Gegenstands stützt – mithilfe von Aussagen wie Farges „der Körper, seine Geschichte und Geschichte sind eins“ – plötzlich mit der Zweifelhaftigkeit seiner eigenen Grundannahme konfrontiert werden. Der Grundannahme nämlich, alle Menschen hätten ihren eigenen, individuellen Körper, und ihre eigene, körpergebundene Geschichte, die sich mit einer bestimmten Zeitspanne der Weltgeschichte überschneidet, welche wiederum von ihnen beeinflusst und verändert werden kann. Paradoxerweise ist es ausgerechnet ein Text, der von Imperialismus nur so strotzt, der sich für die Kritik dieser Grundannahme anbietet: Maurice Leenhardts „Do Kamo“. Leenhardt lebte zwischen 1902 und 1927 als protestantischer Missionar in Neukaledonien beim melanesischen Volk der Kanaken, die er intensiv studierte und beschrieb. Sein Bericht über die kanakische Perspektive auf den Körper zeigt in beeindruckender Weise, wie menschliche Erfahrung und Existenz nicht notwendigerweise an einen fühlenden und vor allem nicht an einen individuellen Körper gebunden sein müssen.11 Wo Leenhardt spürendes Fleisch sah, sprachen die Kanaken von Harz, Pflanzensaft und Rinde; was Leenhardt als Knochen betrachtete, nannten die Kanaken ju – ein Wort, das die innere Struktur von Holz und Korallen bezeichnet. Wo Leenhardt den Körper eines Individuums wahrnahm, sahen die Kanaken – aufgrund ihres spezifischen, spiralartigen Konzepts von Zeit, sofern der Begriff Zeit hier zutrifft – ein synthetisches Konstrukt unterschiedlicher, zweidimensionaler Formen und Teile, das von einer spirituellen Präsenz vereint und zusammengehalten wurde. Für die Kanaken war der Kamo, der le10 Chakrabarty, Dipesh: Postcoloniality and the Artifice of History: Who speaks for „Indian“ Pasts?, in: Representations 32, Winter 1992. 11 Leenhardt, Maurice: Do Kamo. Die Person und der Mythos in der melanesischen Welt, Berlin 1984. S. 45 ff.

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bende Mensch, nicht an einer menschlichen Form zu erkennen, sondern an einer Aura lebendigen Menschseines, wie Leenhardt beschreibt. Wenn diese Aura fehlte oder gestört war, wurde das Wesen ein bao, was sowohl das Göttliche, den Gott, das Nichtlebende und das Unvertraute bedeutet. Der bao hatte die selbe äußere Form, aber nicht dieselbe Substanz, und ihm fehlte die spirituelle Präsenz des Menschen – diese Präsenz war möglicherweise in den Baum zurückgekehrt, aus dem sie ursprünglich stammte, oder sie war nur temporär abwesend und würde zu ihrer Form zurückkommen. Auch im Zeitalter des (De-)Konstruktivismus mag die Idee, dass es keinerlei universelle, transhistorische menschliche Erfahrungen gibt, schwer anzunehmen sein. Und doch: Diese Idee zu verinnerlichen kann nur in einer größeren Offenheit gegenüber dem Körper als epistemologischem Objekt für die Geschichtsforschung resultieren. Wenn „der Körper“ nicht von Gewissheiten gehindert wird, werden die Begriffe, denen er gefühlt und gedacht wurde, und die Formen, die er in unterschiedlichen Vergangenheiten annehmen konnte, sehr viel zugänglicher.12 Gerade beim Umgang mit der Semi-Fremdheit von Kulturräumen wie dem frühneuzeitlichen Frankreich, wo der eigene Körper eine Gewissheit war, wird diese Offenheit hilfreich, denn sie erlaubt das Ausbrechen aus zu engen Absteckungen von Fremdheit und Vertrautheit, Nähe und Distanz gegenüber der eigenen, körperbasierten Kultur. In „Oedipus and the Devil“ nimmt Lyndal Roper an, dass es bestimmte Körpererfahrungen gibt, die transkulturell und transhistorisch essentiell und in ihrer Bedeutung für das Individuum aus einer psychoanalytischen Perspektive zugänglich sind, zum Beispiel die Geburt eines Kindes. Laura Gowings „Common Bodies“ hingegen setzt sich explizit von Roper ab und untersucht „the body’s experiences as the products of popular ideas, social pressures, religious convictions and economic conditions“.13 Hier kann keine der beiden Positionen aus voller Überzeugung unterstützt werden; eine Kombination der beiden erscheint jedoch sehr vielversprechend. Ropers Annahme einer transhistorisch nachvollziehbaren Körperlichkeit ist verführerisch, steht aber im Widerspruch zu den oben angestellten Überlegungen. Hingegen ist ihre Betonung der Individualität historischer Empfindungen, trotz deren Eingebundenheit in soziale Codes und Formulae, nach der Studie von mittlerweile mehreren Tausend Briefen unter12 Für eine Diskussion dieses Problems: Tanner, Jakob: Wie machen Menschen Erfahrungen? Zur Historizität und Semiotik des Körpers, in: Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte (Hg.).: Körper Macht Geschichte. Geschichte Macht Körper. Körpergeschichte als Sozialgeschichte, Bielefeld 1999, S. 16-34. 13 Gowing, Laura: Common Bodies. Women, Touch, and Power in seventeenth-century England, New Haven/London 2003, S. 4.

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schiedlichster Hintergründe, zutiefst überzeugend. Andererseits jedoch waren die Worte, in denen diese individuellen Erfahrungen gefasst wurden, von genau jenen Faktoren geprägt, die Gowing ins Zentrum rückt: geltende Ideen und religiöse Überzeugungen, sozialer Druck und ökonomische Bedingungen waren nur einige der Kontexte, innerhalb derer Individualitäten ausgehandelt wurden mussten. Ein Individuum zu sein bedeutet nicht, per se eine determinierte Ausformung zu erreichen, die aus einem irgendwie vorbestimmten, substantiellen Kern erwachsen ist, unberührt von ihrer Umgebung. In eine raumzeitlich spezifische Welt hineinzuwachsen bedeutet, zu lernen, diese Welt zu verkörpern. Wenn in den folgenden Kapiteln von individuellen Körpern gesprochen wird, stützt sich dies auf die Annahmen, dass es ein universeller, transkultureller, transhistorischer Körper nicht existiert; dass es aber Kulturen gibt, die dazu tendieren, den Körper unter genau diesen Vorzeichen zu betrachten, nämlich als eine Erfahrungsgrundlage, die Menschen über Raum und Zeit hinweg verbindet. Die Kulturen, die hier untersucht werden, setzen individuelle Körper voraus (in welcher Form auch immer), zumindest für ihre Mitglieder. Für Nicht-Mitglieder zeichnen die hier vorzustellenden Briefe ein anderes Bild. Die Individualität der Körper der Schreibenden, oder die Individualität der Körper, die sie als verwandt betrachten, und ihre jeweiligen Erfahrungen stehen in krassem Kontrast zu den – im postkolonialen Sinne – „anderen“ Körpern, die in den Briefen auftauchen. Für die unterschiedlichen afrikanischen und afrokaribischen Körper, die in europäischen Briefen und anderen Dokumenten beschrieben, erzählt oder erwähnt werden, bedeutet „Individualität“ – so sie denn überhaupt existiert – nichts mehr als dass eine Person in der „Masse“ identifizierbar bleibt; in seltenen Fällen auch durch einen Namen (der häufig auch von den SklavenhalterInnen oktroyiert worden war). Im Fall von Bestrafungen, Schwangerschaften, Rebellion, Krankheit oder Tod können versklavte afrikanische Körper durchaus auch individuell in Briefen auftauchen. Dasselbe gilt auch für Briefe aus kleineren Haushalten, in denen nur wenige SklavInnen lebten. Andernfalls wurden die Körper versklavter Menschen zumeist in Kollektiven von entweder „mauvais sujets“ oder „braves sujets“ gefasst, die kollektiv ausgehungert, bestraft oder medizinisch versorgt werden mussten, oder die sogar kollektiv symbolisch agierten, indem sie sich etwa demütig auf die Knie warfen.14 Mit Blick auf die individuelle körperliche Erfahrung oder Empfindung hat das Material bisher praktisch keine Anhaltspunkte dafür geliefert, wie sich selbst explizit als afrikanisch oder afrokaribisch positionierende Individuen ihre Körper lebten, empfanden und erfuhren. Wenn Empfindungen und körperliches Befinden afrikanischer oder afrokaribischer Personen erzählt wurden, geschah dies üblicherweise aus europäischer Sicht und 14 HCA 30/381, M. Délibéré, St. Domingue, an seine Frau, 10.05.1793.

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war gefärbt von europäischen Weltsichten und in meisten Fällen auch europäischen Hegelmonialansprüchen und Kolonialinteressen. Auf den folgenden Seiten dieses Kapitels soll versucht werden, den europäischen Körpern, die in den Quellen erzählt werden, grobe Umrisse und historische Koordinaten zu verschaffen. Der Schwerpunkt wird hier auf medikalkulturellen Elementen liegen, da Körper in diesen Interessenbereichen am klarsten definiert werden. In den darauffolgenden Kapiteln werden jedoch auch nichtmedizinische oder nicht-gesundheitsorientierte Perspektiven auf Körper wichtige Rollen spielen. Ähnlich wie Gowing, allerdings mit anderer Gewichtung, haben auch Micheline Louis-Courvoisier und Sévérine Pilloud betont, dass körperliche Empfindungen und Erfahrungen niemals im Vakuum passieren.15 Körperliche Ereignisse, Konzepte, Erfahrungen, Eindrücke und Empfindungen müssen historisiert werden, ebenso wie ihre Versprachlichungen. Denn der einzige Weg, jemals die Körperempfindungen eines anderen Individuums aufzuschlüsseln, führt durch die äußere Sicht- und Hörbarmachung dieser Empfindungen, also durch die Übersetzung der Empfindungen in Worte, Gesten, Handlungen oder Materialität. In jedem Fall ist die übersetzte Erfahrung eine Repräsentation der unteilbaren Originalempfindung. In den Kontexten europäischer Historiographie bedeutet dies üblicherweise, in den Worten von Louis-Courvoisier und Pilloud, „an exteriorization through words“.16 Diese „Exteriorizations“ werden von vielen Faktoren geformt: geltende Diskurse von Höflichkeit und Angemessenheit, Bildung und der Fähigkeit, sich auszudrücken, aber auch der Situationskontext, in dem das in-Worte-Fassen stattfindet, usw. Für schriftliche Berichte spielen das Textgenre, die Schreibsituation und ihr Ziel, aber auch die (eventuelle) antizipierte Leserschaft eine zentrale Rolle. In PatientInnenbriefen etwa, die viel Aufmerksamkeit von KörperhistorikerInnen erfahren haben17, wurden häufig die Bedürfnisse des lesenden Arztes antizipiert und der Briefinhalt entsprechend angeordnet.18 Zudem lag das Ziel der Verschriftlichung in diesen Fällen darin, die bestmögliche Passung zwischen 15 Louis-Courvoisier, Micheline/Pilloud, Séverine: The Intimate Experience of the Body in the Eighteenth Century: Between Interiority and Exteriority, in: Medical History 47, 2003, S. 451-472, S. 452. 16 Louis-Courvoisier/Pilloud, Intimate Experience, S. 455. 17 Louis-Courvoisier and Pilloud, Intimate Experiences. Dinges, Martin/Barras, Vincent (Hg.): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum, 17-21. Jh, Stuttgart 2007. Stolberg, Michael: Homo Patiens. Krankheits-und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln/Wien/Weimar 2003. 18 Louis-Courvoisier/Pilloud, Intimate Experience, S. 455.

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Wort und Empfindung zu finden, da die präzise Beschreibung dessen, was mit dem Körper geschah, die Grundlage für die ärztliche Ferndiagnose darstellte. In anderen Brieftypen wurden körperliche Empfindungen ganz anders gedacht. Sie wurden „gedämpft“, um Tapferkeit oder Glaubensfestigkeit zu vermitteln oder auch um die Leserschaft nicht zu erschrecken. Sie wurden mit Blick auf Höflichkeit und Angemessenheit „hübsch verpackt“; in anderen Fällen aber auch stark übertrieben, um die Leserschaft anzuregen, zu beschämen oder zu beeindrucken – in jedem Fall wurden Körpererfahrungen oftmals auf Leserschaften zugeschnitten.

WAS IST EIN FRÜHNEUZEITLICHER KÖRPER? Nach all den hier präsentierten Einwänden gegenüber universellen Definitionen und Generalisierungen von Körpern ist es wohl kaum erstaunlich, dass eine weitere Einschränkung folgt – ähnlich einer Präambel – gegenüber dem Versuch, ein Schema für einen allgemeingültigen französischen Körper der Frühen Neuzeit festzulegen. Lyndal Roper hat sehr überzeugend dagegen argumentiert, „the experience of historical subjects“19 zu schematisieren. Roper betont die Unsicherheiten, Inkonsistenzen und volte-faces der menschlichen Erfahrung, die sich der Schematisierung widersetzen und die Wichtigkeit des Moments und der Situation unterstreichen. Roper leitet dies her aus einem faszinierenden Quellenbeispiel, nämlich Appollonia Mayrs Beschreibung davon, wie der Teufel sie von ihrem Kind entbunden habe.20 Welche Form frühneuzeitliche Körper annahmen, was in ihnen geschah und was mit ihnen geschehen konnte, hing stark ab von ihrer spezifischen Situation, etwa Region,21 Periode, soziale Herkunft, Geschlecht etc., aber auch von individuellen Aspekten wie Biographie und dem spezifischen emotionalen und mentalen Zustand, an dem sich ein Individuum in einer bestimmten Situation befand. Für diese Arbeit bedeutet dies, dass die folgenden Versuche, „den“ frühneuzeitlichen Körper abzustecken, die Möglichkeit, sogar die Wahrscheinlichkeit einrechnen müssen, dass viele frühneuzeitliche Menschen in vielen Momenten ihrer Lebensgänge ganz andere Worte und Konzepte

19 Roper, Lyndal: Oedipus and the Devil. Witchcraft, Sexuality and Religion in Early Modern Europe, London/New York 1994, S. 5. 20 Roper, Oedipus and the Devil, S. 1 ff. 21 Siehe z.B. Wynne Smith, Lisa: The Body Embarrassed? Rethinking the leaky male body in eighteenth-century England and France, in: Gender & History 23/1, 2010, S. 26-46, S. 27.

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benutzt hätten, um ihre Körperempfindungen zu beschreiben, als in den folgenden Kapiteln verwendet werden. Somit sollen hier anstatt eines universell definierten frühneuzeitlichen Körpers einige bestimmte Merkmale vorgestellt werden, die die meisten frühneuzeitlichen Körper teilten, und die auch die Paradigmen aufzeigen, innerhalb derer individuelle, soziale oder politische Konstruktionen von Körpern zumeist passierten. Zur Kategorisierung der hier erforschten Körper als „frühneuzeitlich“: Einige der Brieferzählungen stammen von 1747, andere von 1803, ein Brief sogar von 1826. Doch die Wahrnehmungen und Konzepte, die in diesen Briefen zum Tragen kommen, zeigen auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutliche Merkmale frühneuzeitlichen Denkens über den Körper und seine Position in der Welt – als der französische Offizier Lelong 1802 auf Martinique an Gelbfieber erkrankte, war er sich sicher, dass er sich die Krankheit auf einer „rumpeligen“ Kutschfahrt über eine schlechte Wegstrecke zugezogen hatte.22 Unter anderem Karen Harvey hat betont, dass Veränderungen in der Wahrnehmung des Körpers vermutlich sehr viel langsamer Fuß fassten, als es bisher von einigen Körperhistorikern postuliert wurde.23 Tatsächlich schrieb im Mai 1793 der Offizier Laprade an seinen Freund Billon: „…so blieb ich im Camp, verbrachte fast jeden Tag auf dem Pferderücken und einen Teil der Nacht mit Arbeit; bis zum 20. November, als ich so gefährlich erkrankte, dass der General mich in die Stadt bringen ließ [...] Ich bin seit sechs Wochen an meine Kammer gefesselt von einem Humeur, der sich auf meine Beine geworfen hat, die Ärzte sagen, dass mir nur eine Luftveränderung helfen kann“.24

Während HistorikerInnen sich in einer ganzen Reihe von „Körperfragen“ uneinig sind (ein prominentes Beispiel wäre das „One Sex Model“, auf das im Folgenden noch kurz eingegangen wird.25), gibt es doch trotzdem eine gewisse 22 HCA 32/995, Lelong, Martinique, an seinen Vater in Versailles, 2. Floréal, Jahr 11. 23 Siehe etwa Harvey, Karen: The Century of Sex? Gender, Bodies, and Sexuality in the long Eighteenth Century, in: Historical Journal 45/4, 2002, S. 899-916, S. 912 ff. 24 HCA 30/381: Laprade, St. Domingue, an seinen Freund Billon. Mai 1793: „je restai ainsi campé, passant presque tout le jour À cheval, une partie de la nuit À travailler, jusqu’au 20 novembre que je tombai si dangéreusement malade, que le général me fit transporter en ville [...] je suis depuis six semaines retenu dans ma chambre, par une humeur qui s’est jettée sur mes jambes, les medecins prétendent qu’il n’y a qu’un changement d’air qui puisse me guérir“. 25 Thomas Laqueurs vieldiskutierte These lautet, dass es vor dem 18. Jahrhundert keine spezifisch weibliche Geschlechtskonzeption gab, da nach wie vor die aristotelische Perspektive dominierte, welche die weiblichen Genitalien als eine invertierte, aber ak-

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Terminologie, die um frühneuzeitliche Konzepte von Körperlichkeit kreist und die recht unverwechselbar und identifizierbar scheint, etwa wenn ein „humeur“ sind an die Beine von Laprade heftet. Das Konzept der Humorale basiert ursprünglich auf hippokratischer und galenischer Säftelehre, die vier Körpersäfte als grundlegende Elemente des menschlichen Körpers betrachtet, nämlich schwarze und gelbe Galle, Schlei und Blut. Über lange Zeit stand dieses Modell im Zentrum der Aufmerksamkeit von HistorikerInnen, die sich mit mittlelaterlichen und frühneuzeitlichen Medikalkulturen beschäftigten26; Michael Stolberg jedoch hat davor gewarnt, einen zu engen Fokus auf Humoralpathologie zu legen.27 Während Elemente und Aspekte von Humoralpathologie sicherlich in die meisten Praktiken, Diskurse und Diagnosen hineinspielten und laut Stolberg auch die meisten Menschen damit vertraut waren 28, wurde sie doch oft frei mit anderen Konzepten und Theorien kombiniert – in jenem Eklektizismus, der frühneuzeitliche Medizin und Gesundheitspraxis so facettenreich und unterkurate Version der Männlichen betrachtete.Während einige historische Teildisziplinen diese These nach wie vor relativ fraglos akzeptieren, haben HistorikerInnen der Medizin und des Körpers Laqueurs Ergebnisse kritisiert, da Laqueur sich nur auf vernakuläre Texte stützt und die dominante Medizinsprache Latein ignoriert, und da er das Konzept geschlechtlicher Differenz auf Genitalien reduziert und z.B. historisch verzeichnete Skelettunterschiede oder die schon bei Aristoteles besprochenen „Frauenkrankheiten“ außen vor lässt – zudem veränderten sich Annahmen über den Körper im allgemeinen nicht so schnell, wie Laqueur behauptete. Laqueur, Thomas: Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge/Massachusetts/London 1990. Hervorragende Gegenargumentationen finden sich z.B. in: Stolberg, Michael: A Woman Down to her Bones. The Anatomy of Sexual Difference in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries, in: Isis 94/2, 2003, S. 274-299. Idem: Menstruation and sexual difference in Early Modern Medicine, in: Shail, Andrew/Howie, Gilian (Hg.): Menstruation. A Cultural History, Basingstoke 2005, S. 90-101. Gute Zusammenfassungen der Debatte z.B. in: Wynne Smith, The Body Embarrassed, S. 26 f.; in: Churchill, Wendy D.: Female Patients in Early Modern Britain. Gender, Diagnosis, and Treatment, Farnham 2012, S. 141-143; a convincing discussion in: Harvey, The Century of Sex. 26 Siehe etwa Evans, Jennifer: ‚Gentle Purges corrected with hot Spices, whether they work or not, do vehemently provoke Venery‘: Menstrual Provocation and Procreation in Early Modern England, in: Social History of Medicine Vol. 25/1, 2012, S. 2-19, S. 6 ff. 27 Stolberg, Michael: Homo Patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln/Wien/Weimar 2003, S. 117 ff. 28 Ebd., S. 118.

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schiedlich macht. In Laprades Fall wird das Wort „humeur“ offensichtlich nicht im „original“-Wortsinn benutzt. Da der humeur sich „auf die Beine geworfen“ hat, scheint er nicht aus dem Körperinneren herausgebrochen zu sein, als Säfteüberschuss oder als schädliche Materie, die durch die Haut ausgeschieden worden wäre, sondern hatte sich von außen am Bein befestigt. In einer engeren Interpretation zeitgenössischer Medikalkonzepte passt dies besser zu einem neohippokratischen Umweltansatz – wie später erläutert wird – und in der Tat erklären die Ärzte Laprade, dass „nur ein Luftwechsel“ ihn heilen könnte. Wendy D. Churchill behauptet, galenische Medikalkonzepte hätten durch das Wiederaufkommen hippokratischer Umweltmedizin mehr und mehr an Bedeutung verloren,29 was sich für akademische Kontexte bestätigen lässt. Laien wie Laprade folgten jedoch keiner medizinischen Schule, sondern stellten eigene Zusammenhänge her und formten Selbstdiagnosen aus freien Kombinationen unterschiedlicher Medikalkonzepte, verbunden mit populären Medizinpraktiken und tradiertem Wissen. Zudem waren auch spirituelle, wissenschaftliche, allgemeine etc. Sicherheiten über den Körper oft voller Widersprüche. Was Menschen glaubten, wussten und praktizierten war abhängig von Situation und Kontext. Dies ist kein Alleinstellungsmerkmal der Frühen Neuzeit. Wie Oliver J.T. Harris und John Robb in ihrem exzellenten Text „Multiple Ontologies and the Problem of the Body in History“ erklären, „[o]ntological ideas about the body are never singular; people never have only one exclusive way of understanding the body“.30 Wenn Ulinka Rublack fragt: „[M]ay it have been the case in the early modern period not only that bodily existence was conceived differently from today, but also that this body actually behaved differently?“31 bestehen wenig Zweifel, das dies in der Tat der Fall war. Obwohl einige Elemente frühneuzeitlicher Körperwahrnehmung auch in den 2010er Jahren in Alternativer Medizin, einigen Ernährungsansätzen und Gesundheitsprogrammen nachzuvollziehen sind, scheint es doch fragwürdig, dass ihre Anhänger ihre Kopf- und Ohrenschmerzen als aus dem Magen aufsteigende und im Kopf herumsausende Verdauungsdämpfe empfinden würden wie der von Michael Stolberg zitierte Medizinalrat

29 Churchill, Wendy D.: Bodily Differences?: Gender, Race, and Class in Hans Sloane’s Jamaican Medical Practice, 1687-1688, in: Journal of the History of Medicine & Allied Sciences, 60/4, 2005, S. 391-444, S. 396 f. 30 Harris, Oliver J.T./Robb, John: Multiple Ontologies and the Problem of the Body in History, in: American Anthropologist, 114/4, 2012, S. 668-679, S. 671. 31 Rublack, Ulinka: Fluxes: The Early Modern Body and the Emotions, in: History Workshop Journal 53, 2002, S. 1-16, S. 2.

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Greiffenclau es 1665 beschrieb.32 Ein zentrales, hier bereits erwähntes Paradigma für die Untersuchung frühneuzeitlicher Körper ist die Unsichtbarkeit des Körperinneren und seiner Vorgänge, was Barbara Duden intensiv besprochen hat33 und was in engem Zusammenhang mit dem steht, was Cathy McClive als „Corporeal Uncertainty“34 bezeichnet hat. McClive diskutiert „Corporeal Uncertainty“ im Kontext frühneuzeitlicher Schwangerschaft als einem Zustand der kontinuierlichen Unsicherheit. Hier wird jedoch angenommen, dass „Corporeal Uncertainty“ auf viele Situationen angewandt werden kann, in denen frühneuzeitliche Körper sich wiederfanden. Die Undurchsichtigkeit dieser Körper selbst für ausgebildete Fachleute35 bedeutete, dass Körper, trotz Untersuchungen ihres Äußeren und ihrer Ausscheidungen, vor allem interpretiert werden mussten. Das Körperinnere war ein Kontingenzraum, in dem fast alles geschehen konnte – daher mussten Menschen sorgfältig in sich hineinfühlen und –hören und aus diesen Eindrücken Schlüsse ziehen. Jeglicher Gewissheit darüber, wie ein individueller Körper funktionierte, musste sich auf Basis individueller (und auch hier: situativer) Empfindungen und Wahrnehmungen angenähert werden. Wie die jeweilige Person das wahnahm, was in ihrem Körper vorging, entschied darüber, wie der Körper behandelt wurde. Die Deutungshoheit über die Körperinterpretation war oft umkämpft, rivalisierende Gewissheiten nicht ungewöhnlich. Michael Stolberg und Barbara Duden haben nachgewiesen, dass PatientInnen dazu neigten, Ärzten zu misstrauen und ihre eigene Krankheitsinterpretation oder die von Familienmitgliedern zu bevorzugen.36 Duden und Willemijn Ru-

32 Stolberg, Homo Patiens, S. 169. 33 Duden, Woman beneath the Skin, z.B. S. 89. 34 McClive, Cathy: The Hidden Truths of the Belly. The Uncertainties of Pregnancy in Early Modern Europe, in: The Social History of Medicine vol. 15/2, 2002, S. 209-227, S. 210. 35 Die Forschung zu PatientInnenbriefen hat sich hiermit ausführlich beschäftigt, etwa Pilloud, Séverine/Hächler, Stefan/Barras, Vincent: Consulter par lettre au XVIIIe siècle, in: Gesnerus 61/2004, S. 232-253; Brockliss, Laurence: Consultation by Letter in Early Eighteenth-Century Paris: The Medical Practice of Etienne-François Geoffroy, in: La Berge, Ann/Feingold, Mordechai (Hrsg): French Medical Culture in the Nineteenth Century, Amsterdam/Atlanta 1994, S. 79-110; Dinges, Martin/Barras, Vincent Hg.): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum; and the pathbreaking article Roy Porter published in 1985: „The patient’s view: Doing medical history from below“, Theory & Society 14/2, 1985, S. 175-198. 36 Stolberg, Homo Patiens, S. 104; Duden, Woman beneath the Skin, S. 95.

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berg37 haben gezeigt, dass Mütter und andere weibliche Familienmitglieder weitaus größeren Zugriff auf die Körper ihrer weiblichen Verwandten hatten als Ärzte. Andererseits hat Lisa Wynne Smith dargelegt, dass die Unterstützung eines prominenten Arztes (etwa Hans Sloane) gerade für Frauen den Ausschlag geben konnte, wenn Familienmitglieder sich über die korrekte Interpretation eines Körperzustandes stritten.38 Das Körperinnere war ein Raum der Unsicherheit, und was darin geschah, musste entschieden werden, nicht entdeckt. Für die folgenden Kapitel sollte dieser wichtige Punkt berücksichtigt werden, denn viele BriefschreiberInnen beschrieben, wie sie bewusst und überlegt gegen geltendes medizinisches Wissen oder sogar expliziten Rat verstießen und stattdessen eigene Handlungslogiken auf Basis ihrer Körperempfindungen entwickelten. Dies sollte keinesfalls als Emanzipationsversuch kolonialer Nicht-Eliten gesehen werden.39 Hier beanspruchten Individuen die Interpretationshoheit über die Bedürfnisse ihrer eigenen Körper innerhalb der Diskurs-Praxis-Rahmen frühneuzeitlicher Medikalkulturen. Zudem muss festgehalten werden, dass die Unsicherheit des undurchsichtigen Körpers eine Konstante blieb, trotz der Verschiebungen, die sich in medizinischen Konzepten des 18. Jahrhunderts vollzogen. Worin bestanden nun die „Verhaltensbesonderheiten“ frühneuzeitlicher Körper? Zum Beispiel in ihrer wesentlich unmittelbareren Verwebung von Gefühl und Physis. Emotionen waren „indivisible from corporeal sensations“40, wie Lisa Wynne Smith formuliert. Gefühle, Eindrücke und Empfindungen hatten direkte und oft dramatische physische Konsequenzen – Alain Corbin beschreibt, dass Traurigkeit den charakteristischen Körpergeruch einer Person auslöschte, wohingegen „passions that struck by fits and starts intensified the bodily stenches“.41 Dies ist nicht zu vergleichen mit heutigen Konzepten von Psychosomatik, die physische Symptome als Manifestationen oder Ventile emotionaler Zu37 Ruberg, Willemijn: Mother Knows Best. The Transmission of Knowledge of the Female Body and Venereal Diseases in nineteenth-century Dutch Rape Cases, in: Dinges, Martin/Jütte, Robert (Hg.): The Transmission of Health Practices (c. 1500-2000), MedGG-Beiheft 39, Stuttgart 2011, S. 35-48. 38 Wynne Smith, Lisa: Reassessing the Role of the Family: Women’s medical care in Eighteenth-Century England, in: Social History of Medicine vol. 16/3, 2003, S. 327342. 39 Obwohl KolonialbewohnerInnen sich in ihren Gesundheitspraktiken durchaus drastisch gegen die Metropole wandten, wie etwa Myriam Arcangelis archäologische Forschungen in Guadeloupe gezeigt haben. Arcangeli, Myriam: Sherds of History. Domestic Life in Colonial Guadeloupe, Gainesville 2015. 40 Wynne Smith, Lisa: „An Account of an Unaccountable Distemper“, S. 460. 41 Corbin, Alain: The Foul and the Fragrant, Cambridge/Massachusetts 1986, S. 39.

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stände diagnostiziert. In frühneuzeitlichen Körpern konnten Emotionen nicht nur einen direkten, eindeutigen Effekt bewirken, sondern sich auch physiologisch im Körper ereignen. Es gab keinen „Mittelsmann“ in Form einer Psyche, die Seele war oft Teil des Körpers und konnte so ebenso von Traumata oder Krankheiten befallen werden wie eine Leber oder Niere. 42 Innerhalb medizinischer und alltäglicher Gesundheitspraktiken identifizierten Ärzte und Patienten oft nachträglich Gefühle oder Eindrücke als Auslöser von Symptomen – ansonsten sprang das soziale Umfeld der Erkrankten gerne ein, um derartige Diagnosen für die Betroffenen zu stellen. Im Frühling 1756 schrieb eine Madame Mauger aus St. Domingue an eine Freundin in Frankreich: „Mme Desmaress hat ein kleines Mädchen mit 7 Monaten [im siebten Schwangerschaftsmonat] zur Welt gebracht, zu dieser Zeit war sie so unvernünftig, zum Cap zu fahren und einige Flüsse zu überqueren, wo das Wasser sehr hoch stand, dies versetzte ihr einen solchen Schrecken, dass sie nach vielem Schmerz das Kind zur Welt brachte“.43

(Mme Mauger informierte ihre Freundin übrigens über eine weitere gemeinsame Bekannte aus St. Domingue, die zu diesem Zeitpunkt seit 15 Monaten schwanger war und deren baldiger Tod in der Gemeinde als sicher betrachtet wurde.) Für Madame Mauger bestand kein Zweifel, dass Madame Desmaress’ Angst die frühzeitigen Wehen ausgelöst hatte – wenn die Dame nicht so unvernünftig gewesen wäre, sich erschrecken zu lassen, hätte sie ihre Tochter bis zum Ende ausgetragen. Menschen waren gezwungen, eine Art „emotionale Hygiene“ zu betreiben, um so weit wie möglich Schrecken, Angst und Unruhe zu vermeiden, insbesondere schwangere Frauen, die beständig Gefahr liefen, die Gesundheit ihres Kindes durch ihre eigenen Gefühle und Eindrücke zu schädigen. 44 Die enge Beziehung zwischen Emotion und Körper, die hier beschrieben wird, legt nahe, dass bei Auseinandersetzungen mit Zeugnissen von Emotion in frühneuzeitlichen Selbsterzählungen die körperliche Komponente in der Analyse mitberücksichtigt werden muss. In der Frühe Neuzeit waren Emotion und Körper miteinander verwoben.

42 Siehe etwa Rublack, Pregnancy, S. 103. Siehe auch Gowing, Laura: Common Bodies. 43 HCA 30/260, Mme Mauger an eine Freundin, undatiert. Vermutlich Winter 1755/Frühjahr 1756. Mame Desmaress vien dacouché dune fille de 7 moy grausse de cetans las elle eu linprudance daller au cap et passa des rivier tres haute qui luy donna une peur sy considerables quel acoucha a prais bien des soufrances. 44 In den hier zitierten Werken von Ulinka Rublack und Barbara Duden finden sich diverse Beispiele hierfür.

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INNEN UND AUßEN: DER KÖRPER IN SEINEM UMFELD Mit Blick auf die „Verhaltensbesonderheiten“ frühneuzeitlicher Körper ist besonders die große Unklarheit ihrer Grenzen und physischen Barrieren bemerkenswert. Aus heutiger Perspektive scheint in frühneuzeitlichen Körpern fast alles möglich gewesen zu sein. Organe konnten frei herumwandern, Blut und andere Körperflüssigkeiten konnten in die falsche Richtung fließen, sich vaporisieren und ins Gehirn steigen; die Seele konnte wie ein erkranktes Organ behandelt werden und Gefühle gingen mit direkten und unweigerlichen körperlichen Ereignissen einher. „Boundaries between inside and outside, the individual and the social, the emotional and the physical, were generally experienced as permeable, not firm“45, so Ulinka Rublack, und auch Barbara Dudens „Geschichte unter der Haut“ ist voll mit Fällen, in denen die innere und äußere Offenheit des Körpers ihn besonders verletzlich machte.46 Dieser Verletzlichkeit musste mit besonderer Wachsamkeit begegnet werden, um die Gesundheit des Körpers zu wahren. Unter anderem Michael Stolberg hat gezeigt dass, konträr zu Vorstellungen des 20. und 21. Jahrhunderts, „Gesundheit“ in der Frühen Neuzeit genauso wertvoll (vermutlich eher wertvoller) war und genauso mühsam angestrebt wurde wie in späteren Jahrhunderten.47 Entwicklungen und Veränderungen können unter anderem in den Kausalitäten nachvollzogen werden, diefrühneuzeitliche Menschen für ihr Wohlergehen oder ihre Krankheiten identifizierten. Jenes Kapitel in Georges Vigarellos „Histoire des pratiques de santé“, das sich mit dem 15.-17. Jahrhundert befasst, trägt den Titel „Contre le cosmos, le régime“48 – dies sagt eigentlich alles. Regimen, oder ein gemäßigter Lebensstil, wurde als Schlüssel zu Gesundheit und einem langen Leben aufgefasst. Mäßigung musste in allem praktiziert werden, was in antiker Tradition als Non-Naturales bezeichnet wurde. Diese „Dimensionen der individuellen Lebensweise und Lebensverhältnisse“49 schlossen Bewegung und sexuelle Aktivität ebenso ein wie Essen und Trinken, die Ausscheidungen und Absonderungen des Körpers, die Umwelt und die Affekte. Vigarello kontextualisiert das Regimen mit dem Kosmos und

45 Rublack, Pregnancy, S. 109. 46 Man siehe etwa den Fall des jungen Mädchens, das starb, weil ihr Menstruationsblut ihr ins Gehirn gestiegen war: Duden, The Woman beneath the Skin, S. 110. 47 Stolberg, Homo Patiens, S. 36. 48 Vigarello, Georges: Histoire des Pratiques de Santé. Le sain et le malsain depuis le Moyen Âge, Paris 1999, Kap. 3. 49 Stolberg, Homo Patiens, S. 59 ff.

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meint dabei nicht nur göttliche Intervention und Vorsehung, sondern auch den Einfluss der Sterne auf die Verfassung des Individuums und seiner Umwelt. 50 Der Körper war allen möglichen kosmischen Ereignissen unterlegen (vom Wetter über Krieg, Krankheit, Magie und ganz schlicht „Einfluss“) und ein gemäßigter Lebensstil und ein „reines“ religiöses Leben waren die sichersten Maßnahmen, um ihn vor Unfällen, schädlichen Einflüssen und Krankheiten zu bewahren. Zwar waren Krankheitskonzepte so vielfältig wie die medizinischen Schulen, denen sie entsprangen, doch Mäßigung als Grundlage der Gesundheit scheint allgemeiner Konsens gewesen zu sein. Er bestand über das ganze 18. Jahrhundert hinweg, doch die dazugehörigen Rahmungen und Kausalketten veränderten sich. Medizinische Konzepte waren nach wie vor kosmologisch, doch sie machten wissenschaftliche Veränderungen durch, indem etwa Naturphänomene identifiziert und mit physischen und chemischen Reaktionen im Körper in Verbindung gebracht wurden. Laut Barbara Duden veränderten sich so nicht nur Vorstellungen des Körpers, sondern auch die Arten und Weisen, wie Menschen sich um ihre Körper kümmerten.51 Unter anderem, so Duden, veränderte sich die Aushandelbarkeit von Ursache und Wirkung. „The ‚non-naturals‘ of classical tradition were revived in a new guise, but their dimensions were thoroughly shifted, since the relation between the described body and the managed environment could now be scientifically measured, understood, and correspondingly manipulated“.52 Medikalkosmologien begannen, nach eindeutigen, detaillierten Ursachen zu suchen. Damit wurde die Sorge um den Körper ein sehr viel präziseres Unterfangen, das gleichzeitig immer mehr zur privaten Angelegenheit wurde. Auf Grundlage von Norbert Elias’ Theorie von der Disziplinierung des Körpers behauptet Duden, dass im 18. Jahrhundert die Entwicklung eines „bürgerlichen“ Körpers beobachtet werden könne, der sorgsam, privat und innerhalb aufblühender Konzepte von Hygiene verwaltet wurde.53 Elias hatte großen Einfluss auf die körperhistorische Forschung der 1980er Jahre, etwa auf die Arbeiten von Duden, Alain Corbin und Georges Vigarello,54 und ist eines der Beispiele für Lyndal Ropers oben besprochene Kritik solcher Theorien, die versuchen, historische Körpererfahrungen zu schematisieren. Die Erfahrung eines „disziplinierten“ 50 Siehe auch Curth, Louise Hill: The Medical Content of English Almanacs, 1640-1700, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 60/3, 2005, S. 255-282. 51 Duden, Woman beneath the Skin, S. 14. 52 Ebd. 53 Duden, Woman beneath the Skin, S. 13-17. 54 Ebd.; Corbin, Foul and the Fragrant; Vigarello, Georges: Le propre et le sale, L’hygiène du corps depuis le moyen âge, Paris 1987.

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Körpers jedoch, ob er nun bürgerlich war oder nicht, wurde mittlerweile auch von Studien bestätigt, die die individuelle Erfahrung in den Mittelpunkt rücken, etwa Gudrun Pillers „Private Körper“.55 Die Gerüche und Ausscheidungen des Körpers zunehmend als unliebsam wahrgenommen; sie mussten unterdrückt, kontrolliert und verborgen werden. Mäßigung wurde nun weniger eine Frage spiritueller Balance und Demut als eine Frage der Selbstkontrolle. Der Körper wurde zum Verantwortungsbereich des Individuums – die Pflege der Gesundheit wurde zur „Pflicht“.56 Ein weiterer Aspekt, der mit diesem Perspektivenwechsel medikaler Kosmologien in Verbindung steht, wurde 1987 von James C. Riley als das Aufkommen einer „medicine of avoidance and prevention, a medicine that sought to show mankind which disease-conducive circumstances to evade“57 ab der Mitte des 18. Jahrhunderts analysiert. Die Betonung liegt hier auf „circumstances“. Im 16.und 17. Jahrhundert hatten Menschen ebenfalls versucht, Krankheit zu verhindern oder zu vermeiden – hierbei war der Zustand des individuellen Körpers ausschlaggebend dafür, ob eine Krankheit ausbrach oder nicht. Wenn ein Körper physisch und spirituell im Gleichgewicht war und wenn Blut und Säfte in gutem Zustand waren, war Krankheit recht unwahrscheinlich. Wenn jedoch im Körper Unordnung herrschte, konnte schon die kleinste Herausforderung tödlich enden. Die wenigsten Krankheiten waren per se tödlich. Es war der Boden, auf den sie fielen, der ihre Gefährlichkeit bestimmte. (Dies passt gut zur religiösen Kontextualisierung von Epidemien – wenn viele Menschen starben, musste doch sicherlich etwas faul sein im Staate bzw. in der betroffenen Gemeinde oder Gemeinschaft. Die generelle Annahme, dass der individuelle Körper der ausschlaggebende Faktor war, wurde auch von vielen Ärzten des 18. Jahrhunderts vertreten, wie etwa die Debatte um Inokulation58 zeigt. Für diejenigen, die glaubten, dass der Zustand des individuellen Körpers im Moment der Infektion über den Verlauf der Krankheit entschied, erschien die mutwillige Einführung von „Pockenmaterie“ in das Blut wie reinster Wahnsinn. William Wagstaffes „Letter to Dr. Freind. Shewing the danger and uncertainty of inoculating the small pox“ von 1722 führt an, dass 55 Piller, Gudrun: Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts, Köln/Wien/Weimar 2007. 56 Idem, S. 187. 57 Riley, James C.: The Eighteenth-Century Campaign to avoid disease, London 1987, S. X. 58 Für eine ältere, aber höchst interessante Untersuchung, siehe Darmon, Pierre: La variole, les nobles et les princes. La petite vérole mortelle de Louis XV, Brüssel 1989, hier z.B. S. 52.

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„the Symptoms are more or less, and the Distemper appears in a greater or a less Degree, according to the State of the Blood at the time of the Infection. If the blood is in such a Condition as to be extremely susceptible of Contagion, the Small Pox may prove of the Confluent Kind, and be attended with the worst Symptoms, but if there is little or no such Disposition in that Fluid, the Disease may be next to nothing, or of the distinct sort, mild and easy, carried off with a slight Regimen, and perhaps without medicine“.59

Hier bestand Vorsorge darin, gut für den Körper zu sorgen und alles zu vermeiden, das negative Reaktionen im Körper auslösen könnte. Dem entgegen standen andere Medikalkonzepte, unter anderem jene, die mit Bezug auf den hippokratischen Text „Über Luft, Wasser und Ortsverhältnisse“ den Fokus auf das Umfeld des Körpers legten. Die Anhänger dieser Schule glaubten daran, dass es allgemeine Reaktionen von Körpern auf äußerliche Einflüsse gab; Reaktionen, die in allen oder den meisten Körpern stattfinden würden, wenn sie mit einer bestimmten Krankheit oder einem krankheitsförderlichen Umfeld konfrontiert würden. Die von Riley beschriebene „preventive medicine“ entstand innerhalb dieser Schule. Eines ihrer zentralen Themen war Luft, und Luft wird auch hier besondere Aufmerksamkeit erhalten, denn die medizinischen Laien, die in die Karibik reisten und umsiedelten, reflektierten diesen Aspekt sehr intensiv – sie waren beständig besorgt um Luft und Klima.

DER EINFLUSS VON LUFT, WASSER UND ORTSVERHÄLTNISSEN Ein Großteil der europäischen Kolonisierungsbestrebungen des 18. Jahrhunderts konzentrierte sich auf Orte, die in Europa als äußerst ungesund galten. Indien und die Karibik galten als besonders problematisch.60 Diejenigen, die in Indien aufwuchsen, oder auch in den „mauvaise ixalaisons“61 und dem „fort chaud et

59 Wagstaffe, William: A Letter To Dr. Freind. Shewing the Danger and Uncertainty of Inoculating the Small Pox, London 1722, S. 8-9. 60 Für die Karibik, siehe z.B. Senior, Emily: The Colonial Picturesque and the Medical Utility of Landscape Aesthetics, in: Journal for Eighteenth-century Studies 36/4, 2013, S. 505-517. 61 HCA 30/386, Soldat Bouvier, genannt Belisle, Fort-Royal, Martinique, an seinen Vater in Paris, 11.08.1778.

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tres malsein“62 Klima der Karibik, galten als lebende Beweise dafür, welchen Schaden eine ungesunde Umgebung an einem jungen Körper anrichten konnte. Trevor Burnard zitiert den jamaikanischen Chronisten John Taylor: „Those English children which are born here they call Creolians... they grow generally tall and slender of a spare thin body and pale complexion; having all light flaxen hair, coming at the full growth and prime strength at fifteen years old and seldom live to be above five and twenty years, for as soon as they are twenty, they begin to decline“.63

Dieser blutarme, schnell verfallende Nachwuchs rosiger europäischer Eltern schuldete seine schwächliche Verfassung dem Klima und der schlechten Luft der Karibik. Für Erwachsene, die in guter Luft aufgewachsen waren und dann in diese gefährlichen Gegenden umsiedelten (oder auch nur in einen ungesunden Teil ihres Heimatortes umzogen), wo die Luft schlecht war, konnten die Auswirkungen unmittelbar und katastrophal sein64 – ungesunde Orte entzogen dem Körper Kraft und Frische, begünstigten, übertrugen oder verursachten bestimmte Krankheiten. Das hier zugrundeliegende medizinische Konzept ist der hippokratische Text „Über Luft, Wasser und Ortsverhältnisse“, in dem die Umwelt als zentral bestimmender Faktor für das Auftreten von Krankheit betrachtet wird, und der im 18. Jahrhundert eine „period of renewal“65 erlebte. In diesem Text schreibt der hippokratische Autor:66 „Whoever would study medicine aright must learn of the following subjects. First he must consider the effect of each of the seasons of the year and the differences between them. Secondly he must study the warm and the cold winds, both those which are common to every country and those peculiar to a particular locality. Lastly, the effect of water on the health must not be forgotten. [...] [t]hen think of the soil, whether it be bare and waterless or thickly covered with vegetation and well-watered, whether in a hollow and stifling, or exposed and cold. Lastly consider the life of the inhabitants themselves; are they heavy 62 HCA 30/287, Claude Bertrand, Fort-Royal, Martinique, an seinen Vater in Dijon, 03.08.1778. 63 Zitiert nach: Burnard, Trevor: ‚The Countrie continues sicklie‘: White Mortality in Jamaica, 1655-1780, in: Social History of Medicine 12/1, 1999. 64 Pols, Hans: Notes from Batavia, the European’s Graveyard: The nineteenth-century debate on Acclimatization in the Dutch East Indies, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 67/1, 2012, S. 120-148. 65 Louis-Courvoisier/Pilloud, Intimate Experience, S. 457. 66 Hippokratische Texte können nicht notwendigerweise der Person „Hippokrates“ zugeschrieben werden, sondern einer hippokratischen Schule.

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drinkers and eaters and consequently unable to stand fatigue or, being fond of work and exercise, eat wisely but drink sparely?“.67

Insbesondere in Frankreich wurde dieses antike Konzept mit Begeisterung wiederbelebt, und medizinische Diskurse konzentrierten sich vor allem auf die Bedeutung von Luft und Klima. 68 Jeder geographische Ort hatte hier seine eigene, ganz spezifische Luft69, die bestimmte Krankheiten begünstigte und andere eher verhinderte. Die hier zu untersuchenden Briefe zeigen, dass laienmedizinische Konzepte von Gesundheit im Frankreich des 18. Jahrhunderts ebenfalls von hippokratischen Vorstellungen durchzogen waren, obgleich diese sich mit Elementen anderer medizinischer Schulen und Traditionen mischten und sich häufig mehr auf den generellen Effekt der Luft auf den Körper bezogen als auf spezifische Krankheiten. Das gefährliche Klima und die schlechte Luft der Karibik gehören zu den meistbesprochenen Sorgen in den Briefen, und diejenigen, welche die karibische Hitze erlebten, beharrten darauf, dass man sie nicht mit europäischer Hitze vergleichen könne. Auch der französische Reiseberichtautor Jean Baptiste Thibaut de Chanvalon, der 1761 seine „Voyage à la Martinique“ veröffentlichte, unterstrich die Unvergleichbarkeit des Klimas: „Die Klimata Europas können keine Vorstellung von der Temperatur in Amerika 70 verschaffen. Wenn man bisweilen in Frankreich, & in anderen Ländern der temperierten Zone, starke Hitze verspürt, so ist sie doch nicht von Dauer. Einem brennend heißen Tag folgt oft eine frische Nacht, oder ein milder Tag. Ein Gewitter genügt, um den Verlauf einer unerträglichen Hitze zu unterbrechen. Dies sind die Auswirkungen dieser unerträglichen Hitze, die man sich nicht vorstellen kann, wenn man sie nicht erfahren hat. Jegliche Gewohnheit des Körpers wird von ihr verändert, selbst die Fähigkeiten des Geistes, wenn man so sagen darf, sind überwältigt. [...] Die Kräfte erschöpfen sich in diesen heißen Regionen durch machtvolle Schweißausbrüche oder starkes & dauerndes Schwitzen; nichts stellt sie wieder her. Das Blut verringert sich & wird unmerklich ärmer, das Gleichgewicht

67 Hippocrates. Airs, Waters, Places. From: Hippocratic Writings, trans. by J. Chadwick and W. Mann, Harmondsworth 1978, S. 148. 68 Tésio, Stéphanie: Climat et médecine à Québec au milieu du 18ème siècle, in: Scientia Canadiensis: Canadian Journal of the History of Science, Technology and Medicine 31/1-2, 2008, S. 155-165, S. 157. 69 Louis-Courvoisier/Pilloud, Intimate Experience, S. 457. 70 Zeitgenössische französische Autoren verwendeten häufig den Begriff „Amerika“, wenn sie über die karibischen Kolonien schrieben.

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ist zerstört, das Fleisch verliert die Farbe [...] & bald folgen die Entzündungskrankheiten, die unseren Ländern so gemein sind“.71

Mark Carey hat auf die soziale Komponente der Wahrnehmung (oder Konstruktion) des Klimas hingewiesen – die Einschätzung eines lokalen Klimas als gesund oder ungesund für den Körper war oft mit einer Einschätzung des Grades an „Zivilisation“ verbunden. Das Klima und die Luftqualität zu verbessern, war somit auch ein ideologisch aufgeladenes Unterfangen. In den 1780er Jahren bat die Verwaltung von Fort Royal, Martinique, die Kolonialregierung darum, die Gehwege der Stadt ebnen zu dürfen, um das Ablaufen von Wasser zu verbessern, und beschrieb dabei diverse Maßnahmen, die bereits ergriffen wurden, um die Qualität der Luft zu steigern: „Fort-Royal, das dank der Schönheit seiner Bucht und der Bedeutung seines Hafenbeckens zur wichtigsten Stadt der Insel Martinique geworden ist, hat zu allen Zeiten die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich gezogen. Die administrateurs-généraux der Îles du Vent haben beständig gearbeitet, um die Ungesundheit der Luft dort zu korrigieren: Ihre Bemühungen waren nicht fruchtlos; die Auffüllungen, die zu unterschiedlichen Zeiten vorgenommen wurden, ein offener Kanal für das Abfließen des Wassers haben für die Bewohner dieser Stadt den unschätzbaren Vorteil erbracht, eine saubere Luft zu atmen. Dennoch kommt es in jedem Jahr dazu, wenn die Dürre auf den Regen folgt, dass die stehenden Wasser in den Straßen, aufgrund fehlender Ebnungen in den Gehwegen, infektiöse Exhalationen hervorbringen, die oftmals gefährliche Krankheiten ver-

71 Thibault de Chanvalon, Jean-Baptiste: Voyage à la Martinique contenant diverses Observations sur la Physique, l’Histoire Naturelle, l’Agriculture, les Moeurs, & les Usages de cette Isle, faites en 1751, & dans les années suivantes. Paris 1761, S. 75: „Les climates de l’Europe ne peuvent pas donner une idée de la temperature de l’Amérique. Si l’on éprouve quelquefois en France, & dans les autres pays situés sous la zone tempérée des chaleurs violentes, elles ne sont pas continuelles. A une journée accablante succede souvent une nuit fraîche, ou une journée tempérée. Un orage suffit pour interrompre le cours d’une chaleur insupportable: mais à l’Amérique elle est presque toujours la même sans interruption. Ce sont les effets de cette continuité de chaleur qu’on ne sauroit se représenter, quand on ne l’a pas éprouvée. Toute l’habitude du corps en est altérée, les faculties même de l’esprit, si on ose le dire, en sont accablées. [...] Les forces s’épuisent dans ces contrées brûlantes par des sueurs ou des transpirations violentes & continues; rien ne les répare. Le sang se dépouille & s’appauvrit insensiblement, l’équilibre est rompu, les solides perdent leur ton [...] & bientôt après les maladies inflammatoires si communes dans nos Isles“.

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ursachen“.72 Politische und soziale Bedingungen waren diskursiv mit dem Klima verknüpft. Die Schönheit der Bucht von Fort Royal und seine Bedeutung als militärischer, administrativer und ökonomischer Knotenpunkt erforderten eine gesunde Bevölkerung, die nur in jenen zivilisierten Bedingungen aufblühen konnte, für die die Verwaltung Sorge zu tragen hatte. Wenn es jedoch soziale Bedingungen waren, die der Entwicklung von guter Luft entgegenstanden, konnten infrastrukturelle Maßnahmen nichts zu ihrer Verbesserung beitragen. Mark Carey zitiert einen polnischen Soldaten, der sich 1803 in Saint Domingue aufhielt und bemerkte „The air here is most unhealthy, especially since the time of the black revolt twelve years ago“.73 Die Tatsache, dass schwarze Menschen und People of Colour die Kolonie übernommen hatten, machten diese aus Sicht des polnischen Soldaten zu einem höchst ungesunden Ort für Weiße. Die Briefe unterstützen bis dato Careys Aussage, dass in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen das „Zivilisationsniveau“ mit dem Gesundheitsniveau einherging. SchreiberInnen verknüpften das schlechte Klima häufig mit einer frivolen, ehrlosen und dekadenten Kolonialgesellschaft, wobei Ursache und Wirkung oft austauschbar waren: Während einige Briefe implizierten, dass die Tropen eine unliebsame, ehrlose Klientel anzogen, gingen andere davon aus, dass das Klima die Bewohner korrumpierte. Manche BriefschreiberInnen besprachen die Konfrontation mit dem Karibikklima gar als eine Art Charakterprüfung, die aufgrund der Gefährlichkeit der Region schnell über Leben und Tod entscheiden konnte.

72 Archives Départementales de la Martinique, Code de la Martinique, n. 572-692, Ordonnance n. 608: „Le Fort-Royal qui par la beauté de sa baie et l’importance de son bassin est devenu la ville principale de l’île de la Martinique, a fixé dans tous les tems l’attention du gouvernement. Les administrateurs-généraux des îles du vent se sont occupés constamment d’y corriger l’insalubrité de l’air: leurs travaux n’ont pas été infructueux, des comblements faits en divers tems un canal ouvert pour l’écoulement des eaux ont prouvé aux habitants de cette ville l’avantage inappréciable de respire un air plus pur. Il arrive cependant encore tous les ans, lorsque le sec succède aux pluies, que les eaux stagnantes dans les rues, par le défaut des pentes des paves, y produisent des exhalaisons infectes qui occasionnent des maladies souvent dangéreuses“. 73 Zitiert nach: Carey, Mark: Inventing Caribbean Climates. How Science, Medicine, and Tourism changed Tropical Weather from deadly to healthy, in: OSIRIS 26, 2011, S. 129-141, S. 135.

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MÄNNER- UND FRAUENKÖRPER Laura Gowing hat betont, der „gendered body“ des 16. und 17. Jahrhunderts sei „almost unrecognisable to modern eyes. In the rawest physical terms, the experience of lifelong labour, famine, disease, childbirth and menopause left permanent, visible marks“.74 Ob und wie Männer – und Frauenkörper in der Frühen Neuzeit als unterschiedlich wahrgenommen wurden, ist vermutlich eine der meistdiskutierten Fragen, seit Thomas Laqueur 1990 „Making Sex“ veröffentlichte. Laqueurs Untersuchung behauptete, dass ein „two-sex-model of the body emphasizing sexual differences came to dominate western medical theory beginning in the late eighteenth century. Prior to this, medicine generally adhered to the galenic one-sex model, in which the bodies of men and women were conceptualised essentially the same“.75 Mittlerweile hat eine respektable Anzahl von HistorikerInnen, inklusive Laura Gowing, Michael Stolberg, Karen Harvey, Lisa Wynne Smith, Ulinka Rublack und Wendy D. Churchill belegt, dass das „One Sex Model“ zwar Teil medikaler und nichtmedikaler Diskurse war, aber bei weitem nicht als universell gültig betrachtet werden kann. Sowohl in alltäglichen, als auch in medizinischen und Gesundheitspraktiken zeigte sich, dass es durchaus deutliche Differenzierungen zwischen weiblichen und männlichen Körpern gab.76 Insbesondere Michael Stolberg hat Laqueurs Schlussfolgerungen zum One Sex Model vehement in Zweifel gezogen.77 Laqueur stütze sich bei der Unterfütterung seiner Hypothese lediglich auf „a handful of vernacular texts“78, obwohl Latein in Laqueurs Untersuchungszeitraum noch die dominante Wissenschaftssprache gewesen sei, in der auch alle zentralen medizinischen Texte abgefasst gewesen wären. Mit Blick auf die von Laqueur interpretierten anatomischen Zeichnungen unterstreicht Stolberg „the well-known fact that anatomical illustrations were then often linked very loosely to the respective text and followed their own iconographic traditions“.79 Stolbergs eigene Arbeiten sowohl zu Anatomie, als auch zu

74 Gowing, Common Bodies, S. 2. 75 Churchill, Wendy, Female Patients, S. 141. 76 Laqueur, Making Sex; Gowing, Common Bodies; Stolberg, A Woman Down to her Bones; Stolberg, Menstruation; Rublack, Pregnancy, S. 86; Wynne Smith, The Body Embarrassed, S. 26 f.; Churchill, Female Patients; S. 141-144; Harvey, The Century of Sex. 77 Stolberg, Menstruation, S. 93. 78 Ebd. 79 Stolberg, Menstruation, S. 94.

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Menstruation80 zeigen deutlich, dass frühneuzeitliche Medizindiskurse zwar unterschiedliche Interpretationen dafür anboten, wann und wie Frauen menstruierten, aber keinen Zweifel daran ließen, dass Menstruation etwas war, dass entweder nur Frauen befiel oder dass nur Frauen erreichen konnten – je nach Perspektive auf den weiblichen Körper. In beiden Fällen galten Frauen aber unbedingt als ein von Männern eindeutig zu unterscheidendes Geschlecht. Die Dokumentation von Fällen, in denen auch Männer monatlich bluteten – und die ebenfalls hinzugezogen wurden, um das One Sex Model zu unterstützen – interpretiert Stolberg entgegengesetzt, indem er die zunehmende Bedeutung anatomischer Evidenz für die Konstruktion geschlechtsdefinierter Körper betont: „Far from providing evidence for a predominant one-sex-model, stories of ‚ menstruating men‚ were, on the contrary, fostered by a widespread insistence on organic anatomical difference which made such stories unproblematic, because a clear-cut demarcation between the sexes could nevertheless be maintained“.81 Stolbergs Ergebnisse lassen Raum für „Corporeal Uncertainty“, da ein großer Teil der körperlichen Vorgänge offen blieb für Interpretation. Dennoch zeigen sie, dass es klare Demarkationslinien zwischen frühneuzeitlichen Männerund Frauenkörpern gab, zumindest in der medizinischen Theorie. Wie NichtmedizinerInnen diese Demarkationslinien in der Praxis und für ihre eigenen Geschlechtsidentitäten navigierten, ist eine andere Frage. Barbara Duden, die in ihrem 1993 erschienenen Artikel „Die Frau ohne Unterleib“82 die Historizität von Judith Butlers „Gender Trouble“ hervorhob und zeigte, dass frühneuzeitliche Quellen oft die Dekonstruktion von körperlicher Geschlechtserfahrung als etwas Natürlichem verweigern, argumentierte dennoch zuvor in „Geschichte unter der Haut“, dass frühneuzeitliche Geschlechtsidentitäten eine starke soziale Komponente hatten und deutlich von der Position des Individuums innerhalb eines Netztes von Sozialbeziehungen abhingen. Für die folgenden Untersuchungen werde ich davon ausgehen, dass europäische Gesellschaften des 18. Jahrhunderts zwar einen geschlechtsspezifischen Körper als Grundlage der menschlichen Existenz betrachteten, dass aber diese Gesellschaften und ihre Mitglieder die geschlechtliche Natur dieses Körpers eher durch die Kontexte identifizierten, in denen er sich präsentierte oder präsentiert wurde – also äußerliche Erscheinung, materielles und gesellschaftliches Setting, Performance, Beschäftigung etc. In der folgenden Analyse wird die Frage nach Geschlecht und geschlechtlichen Körpern insofern wichtig sein, als das Material geschlechtsbezogene Unter80 Stolberg, Menstruation. 81 Ebd., S. 96. 82 Duden, Barbara: Die Frau ohne Unterleib, in: Feministische Studien 11/2, 1993, S. 24-39.

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schiede in der körperlichen Wahrnehmung der Karibik nahelegt. Unter anderem wird sich zeigen, dass nur ein Bruchteil der hier vorgestellten Briefe von Frauen stammt – dies liegt nicht nur am höheren Männeranteil der Briefschreibenden, sondern vor allem daran, dass weitaus weniger Frauen als Männer in ihren Briefen über karibikbezogene Leiden klagten. Dies steht bisweilen im Gegensatz zu zeitgenössischen Annahmen über den Einfluss der Karibikregion auf weibliche Körper. Thibaut de Chanvalon etwa behauptete, das tropische Klima beeinflusse Männer und Frauen in unterschiedlicher Weise. Während Männer zu heftigen Fieberattacken neigten, „werden Frauen fast niemals von diesen Entzündungskrankheiten des Landes angegriffen“. Bis hierher stimmen die Beobachtungen de Chanvalons mit dem hiesigen Untersuchungsmaterial überein und wird besonders im Kontext von Gelbfiebererkrankungen noch ausführlicher besprochen werden. Doch de Chanvalon fährt fort: „Je länger europäische Frauen in Amerika bleiben, desto mehr verringert sich der periodische Fluss ihrer Blutungen. Bei den Frauen dieses Landes ist er sehr schwach, mehrere von ihnen sind ihm gar nicht unterworfen“.83 Die „Unterdrückung“ der Menstruation hätte in den Augen vieler Beobachter des 18. Jahrhunderts ein schweres Gesundheitsproblem dargestellt, denn Menstruation galt vor allem als ein notwendiger Ausstoß überflüssigen Bluts und körperlichen Abfalls. Der weibliche Körper war schwer beeinträchtigt, wenn seine natürliche Reinigung nicht wie vorgesehen stattfand. Es wird sich zeigen, dass de Chanvalons Beobachtungen sich in den hier untersuchten Briefen nicht wiederspiegeln. Gleichzeitig wird ersichtlich, dass de Chanvalon männliche und weibliche Körper als unterschiedlich betrachtete und ihnen unterschiedliche Reaktionen auf die Karibik zuschrieb. Diese Annahme findet sich durchaus in Briefen wieder, wenngleich nicht unbedingt in Briefen von Frauen, wie die folgenden Untersuchungen zeigen werden.

83 Chanvalon, Voyage à la Martinique, S. 81: „Les femmes ne sont presque jamais attaquées de cette maladie inflammatoire du pays dont nous venons de parler [...] Plus les femmes européennes séjournent à l’Amérique, plus l’écoulement périodique de leurs menstrues diminue. Celui des femmes du pays est très-foible; plusieurs d’entre elles n’y sont pas même sujettes“.

Die französische Karibik, ca. 1635-1800 Peuples, considérez les maux dont dieu punit les crimes Tous les jours de nouveaux fléaux Nous sommes les victimes, Malgré ses avertissements Nous n’en voulons rien croire La Martinique assurément Va fournir dans l’histoire.1

Dieses Kapitel dient dem Entwurf eines für die Untersuchung des französischen Karibik-Kolonialgefüges notwendigen, geopolitischen, ökonomischen und vor allem gesellschaftlichen Kontexts. Zugleich liefert es einen Überblick über die für diese Arbeit relevante Forschungslandschaft und stützt sich auf bestehende Untersuchungen, um ein grobes Bild der Lebensverhältnisse der AkteurInnen zu zeichnen, die Teil der kolonialen Alltagsarrangements waren, und die in den Briefen abgebildet wurden. Die Lebensverhältnisse von versklavten und freien schwarzen Menschen und People of Colour; der ärmeren weißen Population, der Soldaten, PflanzerInnen und der Kolonialelite werden hier umrissen, denn all diese Gruppen tauchen in den zu untersuchenden Briefen auf, und die Grundbedingungen ihrer sich kreuzenden Lebensgänge in der Karibik müssen zuvor geklärt werden. Hier wird sich auf die drei größeren Karibikkolonien – Martinique, Guadeloupe und Saint Domingue – konzentriert, die relativ konstant zu Frankreich gehörten, und aus denen das meiste hier untersuchte Material stammt. Die kleineren Kolonialprojekte, etwa Domenica, St. Lucia, St. Vincent und Grenada, wechselten sehr oft zwischen Frankreich und Großbritannien – allein St. Lucia

1

Archives Départementales de la Martinique, Série J, 1 J 18, Complainte d’un tremblement de terre arrivé à la Martinique au mois d’Août 1766. Air: Chrétiens, considérons le fleaux.

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wurde zwischen 1650 und 1814 ganze vierzehn Mal zwischen den beiden Mächten hin- und her „gereicht“. Martinique und Guadeloupe gehören beide zur Gruppe der Inseln über dem Winde, die gemeinsam mit den Inseln unter dem Winde die Kleinen Antillen bilden; also den langen Inselbogen, der die Großen Antillen mit dem südamerikanischen Kontinent verbindet. Saint Domingue, das 1804 zu Haiti wurde, ist Teil der Insel Hispaniola, einer der Großen Antillen, die nordwestlich der Kleinen Antillen liegen. Zusammen mit den Lucayischen Inseln bilden die Großen und Kleinen Antillen den geographischen Komplex der sogenannten Westindischen Inseln. Die Antillen liegen im Karibischen Meer; die Kleinen Antillen befinden sich tektonisch über der östlichen Grenze der Karibischen Platte. Die Subduktion der Südamerikanischen Platte (möglicherweise auch der Nordamerikanischen Platte) unter die Karibische Platte2 entlang dieser Grenze führt zu viel seismischer und vulkanischer Aktivität mit dem sogenannten Lesser Antilles Volcanic Arc, der siebzehn aktive Vulkane umfasst, unter anderem Martiniques Mont Pelée und Guadeloupes Grande Soufrière. Das Klima der Region ist tropisch bis subtropisch, und die Antillen beherbergen eine große Vielfalt von Landschaften zu Wasser und zu Land, z.B. Steppen und Buschlandschaften sowie unterschiedliche Arten tropischer und subtropischer Wälder.3 Es gibt zwei meteorologische Jahreszeiten, die „Carême“, also die heiße und trockene Zeit von Januar/Februar bis Juli/August, und die „Hivernage“ von Juli/August bis Januar/Februar. Die Region ist Teil der „Hurricane Alley“ im Atlantik, deren warme Gewässer in der Zeit von Juli bis Oktober (wenn das Wasser am wärmsten ist) regelmäßig tropische Wirbelstürme hervorbringen – die „Hurricane Season“ im meteorologischen Jahresablauf der Karibik. Der Archäologe Kenneth G. Kelly hat gefragt „Wo liegt die Karibik?“ um auf die relative Vernachlässigung hinzuweisen, die die französische, niederländische, spanische, dänische etc. Karibik im Vergleich zu archäologischen Studien zur britischen Karibik erfahren haben. Für die Arbeiten textbasierter HistorikerInnen kann dieser Eindruck vorsichtig bestätigt werden. Zwar kann die Französische Karibik klar den Platz des am zweitbesten erforschten Kolonialarrangements der westindischen Inseln beanspruchen; das Volumen der geleisteten Forschung fällt jedoch immer noch deutlich hinter das zurück, was sich der Britischen Karibik widmet. Kelly argumentiert, dass dies im Feld der Archäologie 2

Annen, C./Zellmer, G.F. (Hg.): Dynamics of Crustal Magma Transfer, Storage and Differentiation. Geological Society Special Publication 304, London 2008, S. 27.

3

Siehe z.B. das Ecosystem Profile Summary of the Caribbean Islands Biodiversity Hotspot Programme, http://www.cepf.net/SiteCollectionDocuments/caribbean/Carib bean_EP_Summary.pdf Zugriff: 15.12.2016.

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dazu geführt habe, dass die Karibik als eine prinzipiell britische Region betrachtet werde, die mit kleinen nicht-britischen Enklaven gesprenkelt ist: „Many of the Studies of historical archaeology in the West Indies have been constructed in such a way that the region is considered to be the larger Caribbean, and the local is viewed as the specific island upon which the researcher is working. Often explicit in this approach is the idea that the Caribbean region is the non-local, characterized by the broad strokes of the longue durée, and implicit in this is the notion that the region against which the local is contrasted is somehow British“.4

Die dominante Rolle, die „lokale“ Regionen wie Jamaica in der öffentlichen Wahrnehmung spielen, mag in der Tat zu einem generellen Eindruck von „Britishness“ der Karibik beitragen. Die Tatsache, dass viele ehemals britische Kolonien wie Antigua und Barbuda, St. Kitt’s und Nevis, St. Lucia, St Vincent and the Grenadines, Domenica, Trinidad und Tobago und am prominentesten Jamaica nach wie vor Teil des Commonwealth sind. Somit sind sie zwar einerseits als unabhängige Länder sichtbar, andererseits aber nach wie vor eindeutig mit Großbritannien verbunden in öffentlichen Aktivitäten wie den Commonwealth Games. Frankreichs wichtigste Kolonie hingegen, Saint Domingue, wurde 1804 quasi mit Pauken und Trompeten an jene Sklaven verloren, durch deren Ausbeutung es groß geworden war, und die es nun zu ihrem eigenen Land, Haiti, machten. Die verbleibenden, wesentlich kleineren Ex-Kolonien Martinique, Guadeloupe und Französisch-Guyana sind mittlerweile still in das französische Departementalsystem absorbiert worden; sie sind heute DOMs, „Départements d’Outre-Mer“. Im 18. Jahrhundert war Frankreich jedoch mindestens so dominant und prominent in der Karibik wie Großbritannien. Beide Mächte kämpften nahezu beständig um kleinere Inseln, unternahmen Kaperzüge und belagerten gegenseitig Häfen und Städte. Beide waren jedoch auch in der Lage, über lange Zeiträume an ihren wichtigsten Besitzungen festzuhalten und diese bis auf das Maximum auszubeuten. Zur gleichen Zeit verfolgten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl Frankreich als auch Großbritannien sehr spezifische imperialistische Strategien, bei denen es für Frankreich vor allem um die Expansion der karibischen Zucker-Territorien ging, während Großbritannien auch seine Nordamerikanische Expansion vorantreiben wollte.5 Somit war die Karibik des 18. Jahr4

Kelly, Kenneth G.: Where is the Caribbean? French Colonial Archaeology in the English Lake, in: Journal for Historical Archaeology 13, 2009, S. 80-93, S. 80 f.

5

Dies wurde z.B. 1763 im Frieden von Paris deutlich, als die Briten sich zwischen zwei französischen Kolonialterritorien entscheiden mussten: Guadeloupe oder Kanada. Sie

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hunderts sicherlich kein „britischer“ Raum, sondern ein offenes Gefüge, in dem Mächte sich schnell verschieben und politische Allianzen sich rapide verändern konnten, und wo es doch (zumindest aus Kolonialistensicht) scheinbare Fixpunkte gab, an denen Stabilität möglich war. Ein hingegen vergleichsweise schwerwiegender „Blinder Fleck“6 der Historiographie wurde von Anne Pérotin-Dumont aufgezeigt, nämlich der nach wie vor unausgewogene Blick auf die karibischen Kolonien als „Plantagengesellschaften“. Die in diesem Begriff impliziten analytischen Perspektiven – dass ganze Gesellschaften sich um den agri-industriellen Komplex der Plantage drehten und von ihm dominiert wurden – ignoriert häufig die Rolle, die die Städte der Karibik spielten; nicht nur als ökonomische, sondern auch als kulturelle und kolonialideologische Zentren. Ein großer Teil der hier untersuchten Briefe wurde in Städten wie Fort-Royal in Martinique, Basse-Terre oder Pointe-à-Pître in Guadeloupe, Les Cayes oder Cap Français in Saint Domingue verfasst; die meisten wurden in städtischen Häfen verschickt. Allein die Anordnung dieser Städte, ihre Infrastruktur und Organisation sprachen eindeutig von Europäischen Konzepten menschlichen Zusammenlebens und manifestierte koloniale Machtansprüche. Wie Pérotin-Dumon formuliert, „Europeans thus arrived in the new world with their cities“7, also mitsamt ihren Ideen und Idealen davon, wie dicht besiedelte „Hotspots“ ökonomischen Austauschs und politischer Macht auszusehen hatten, und was ihre Konstruktion und Organisation symbolisieren sollten – nämlich „Ordnung“ und „Vernunft“ (oder das, was sie darunter verstanden). „La ville du colon est une ville de blancs“8, schreibt Frantz Fanon in Les Damnés de la Terre, steingewordener Hegemonialanspruch.

wählten Kanada. Dewar, Helen: Canada or Guadeloupe? French and British Perceptions of Empire, 1760-1763, in: The Canadian Historical Review 91/4, 2010, S. 637660. 6

Pérotin-Dumon, Anne: La ville aux îles, la ville dans l’île. Basse-Terre et Pointe à Pitre, Guadeloupe, 1650-1820, Paris 2000, S. 48.

7

Pérotin-Dumon, Ville aux îles, S. 69.

8

Frantz Fanon, Les Damnés de la Terre, Paris (1961) 2002, S. 42.

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FRANZÖSISCHE KOLONIALAKTIVITÄTEN IN DEN WESTINDISCHEN INSELN Frankreichs koloniale Expansion in der Karibik begann – ähnlich wie die Englands – mit Schmuggelaktivitäten in spanischen Territorien 9, und mit kleinen explorativen Siedlungen auf jener Insel, die damals St. Christopher genannt wurde und später zu St. Kitts werden würde. Später begann die französische Krone, sich offiziell in der Karibik zu engagieren. Im Jahr 1635 wurden Martinique und Guadeloupe für Frankreich beansprucht, 1637 St. Lucia. Wie Robert Stein beschreibt, begann Martinique sofort, in kleinem Umfang Zucker zu produzieren,10 benötigte aber weitere 20 Jahre und die Einwanderung aus Brasilien vertriebener niederländischer Siedler, um neuere Technologien plantagenbasierter Zuckerproduktion zu etablieren. Sowohl Martinique, als auch Guadeloupe, aus denen die französische Krone eigentlich blühende Siedlerkolonien machen wollte, erlebten dann das, was die karibische Historiographie oft als „Zuckerrevolution“ bezeichnet hat: Eine radikal produktionsorientierte Verwandlung der Landschaft und Kulturen. Während jüngere Studien hinterfragt haben, ob die „rate of social and agricultural change“11 in den Kolonien des 17. Jahrhunderts tatsächlich schnell genug gewesen sein kann, um den Begriff „Revolution“ zu verdienen, besteht doch kein Zweifel, dass Zucker in der Tat die Gesellschaften der französischen Karibik verwandelte.12 Großflächige Produktion von Zucker erforderte die Veränderung der Landschaft, und vor allem Arbeitskraft. Im 17. Jahrhundert wurde ein Großteil der Arbeit noch von zwangsverpflichteten ArbeiterInnen aus Frankreich erledigt, doch die hohe Sterblichkeitsrate unterstützte die in spanischen und niederländischen Kolonialunternehmungen gewonnene Überzeugung, dass Europäer sich nicht für harte Arbeit in den Tropen eigneten – Afrikaner hingegen schon; ein Mythos der still überdauert, wie Philip D. Curtin hervorgehoben hat.13 Somit wurden also versklavte afrikanische Männer und Frauen importiert, damit französische PflanzerInnen und HändlerInnen vom aufblühenden

9

Siehe Curtin, Philip D.: The Rise and Fall of the Plantation Complex. Essays in Atlantic History, 2nd Edition, Cambridge et al 1998, S. 77.

10 Stein, Robert: The French Sugar Business in the Eighteenth Century. A quantitative Study, in: Journal of Business History 22/1, S. 3-17, S. 4. 11 Garrigus, John: The French Caribbean, in: Paquette, Robert L./Smith, Mark M. (Hg.): The Oxford Handbook of Slavery in the Americas, Oxford/New York 2010, S. 173200, S. 176. 12 Idem, S. 175. 13 Curtin, Rise and Fall, S. 78 ff.

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Zuckergeschäft profitieren konnte. Im 18. Jahrhundert, so Laurent Dubois, war Arbeit in der Karibik „deliberately and obsessively racialised. With the exception of a few managers and overseers, plantation workforces were entirely of African descent“.14 Bis in die 1740er Jahre mussten Franzosen Sklaven von niederländischen oder britischen Händlern erwerben, danach wurden auch die französischen Kontinentalhäfen für den Handel mit versklavten AfrikanerInnen geöffnet. Ab den 1730er Jahren wurden nicht nur Zucker und Indigo in den französischwestindischen Inseln angebaut, sondern auch Kaffee.15 Da Kaffee und Zucker unterschiedlichen Boden benötigen, um zu wachsen – Kaffee bevorzugt kühlere Bergregionen und Zucker warme Ebenen – ergänzten die Früchte einander. Doch während Zucker extrem aufwendig herzustellen war, benötigte Kaffee vergleichsweise wenig Arbeitskraft, „a small estate could subsist on the labor of one or two dozen people“.16 Und obwohl der Anbau von Kaffee den Ausschlag für erhöhten Bedarf an versklavter Arbeit gab17, waren es die deutlich härteren Arbeitsbedingungen auf den Zuckerplantagen, die viele SklavInnen die Gesundheit oder das Leben kosteten. In seinem nach wie vor extrem einflussreichen Buch „Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History“ von 1985 beschreibt Sidney W. Mintz das endlose Mahlen der Zuckermühlen während der Erntezeit, und die entsetzlichen Arbeitsbedingungen.18 Mintz und später auch Laurent Dubois haben argumentiert, dass die Zuckerproduktion, in der Feldarbeit direkt mit Fabrikarbeit verbunden war, die Westindischen Zuckerkolonien im 18. Jahrhundert zu einer der am stärksten industrialisierten Regionen der Welt machte.19 Von 1635 bis zu den napoleonischen Kriegen konnten die französischen Kolonien der Karibik fast nie als eine friedliche Region bezeichnet werden. Silvia Marzagalli hat zusammengefasst: „French imperial policy was a source of permanent tensions – between colonists and authorities in Versailles; planters, free coloured, and slaves; France and other European colonial powers [...]“.20 Da diese Arbeit auf in Kriegszeiten gekaperten Dokumenten basiert, weist das Material selbst auf die nahezu kontinuierlichen Kriegsaktivitäten hin, die die Karibik ab 14 Dubois, Laurent: Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution, Cambridge/Massachusetts 2004, S. 19. 15 Marzagalli in Morgan/Canny, S. 241. 16 Garrigus in Paquette/Smith S. 176. 17 Ebd., außerdem S. 177. 18 Mintz, Sidney W.: Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History, Penguin Edition 1986, S. 49. 19 Dubois, Avengers, S. 19. 20 Marzagalli in Canny/Morgan, S. 235.

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den 1740er Jahren erlebte. In den Auseinandersetzungen europäischer Mächte um die koloniale Vorherrschaft wechselten viele karibische Inseln regelmäßig den Besitzer. Martinique, Guadeloupe und Saint Domingue waren allerdings relativ konstant in französischer Hand. Martinique und Guadeloupe waren kurzfristig britisch während des Siebenjährigen Krieges – Martinique 1762/63; Guadeloupe von 1759-63. Eine weitere, zweijährige Phase britischer Herrschaft folgte in den 1790er Jahren. Saint Domingue blieb während des ganzen 18. Jahrhunderts französisch. Trotz dessen waren die Kolonien in zahlreiche Kriege involviert, die oftmals desaströse Auswirkungen auf ihre Wirtschaftssituationen hatten, und die Zusammensetzung ihrer Gesellschaften spiegelte die häufigen Kriegssituationen wieder. Und auch wenn Frieden zwischen den europäischen Metropolen herrschte, bargen diese Gesellschaften reichlich Potential für Konflikte. Bis 1720 war Martinique die profitabelste französische Zuckerkolonie, danach wurde es von einem Nachzügler überholt. Die Westküste der Insel Hispaniola, einer spanischen Besitzung, war seit der Mitte des 17. Jahrhunderts von Franzosen besiedelt worden. Im Jahr 1697 machte der Friede von Ryswick den westlichen Teil der Insel zu einem französischen Territorium, das Saint Domingue genannt wurde. Die neue Kolonie begann ihr wirtschaftliches Leben mit der Produktion von Indigo21, doch mit dem Eintreten der französischen Atlantikhäfen in den Sklavenhandel folgte eine – zu Recht so bezeichnete – Zuckerrevolution. Nur 50 Jahre nach der offiziellen Kolonisierung produzierte Saint Domingue bereits mehr Zucker als Martinique und Guadeloupe zusammen und galt als erfolgreichste Kolonie in der atlantischen Welt, das „Juwel in der französischen Krone“.22 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebte Saint Domingue einen Produktionsboom, erwirtschaftet auf dem Rücken stets ansteigender Zahlen importierter Sklaven, die unter immer brutaleren Bedingungen immer größere Mengen an Zucker produzieren mussten – eine Entwicklung, die in einer Revolution mündete, die das expansionsgierige Europa in seinen Grundfesten erschütterte. Die Revolution griff über auf Martinique und Guadeloupe (allerdings mit deutlich weniger Erfolg) und nach mehr als zehn Jahren Revolutionskrieg wurde Saint Domingue zu Haiti, der ersten europäischen Kolonie, die von ehemaligen Sklaven und freien People of Colour übernommen wurde. Die folgenden Abschnitte widmen sich den gesellschaftlichen Arrangements der französischen Karibikkolonien. Während es naheliegend erscheinen mag, die Inselgesellschaften separat zu beleuchten, hat z.B. Léo Elisabeth überzeugend 21 Ebd. 22 Stein, Sugar Business, S. 319.

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argumentiert, dass die meisten Kolonisten der Kleinen Antillen dazu neigten, die Inseln als eine Einheit zu betrachten23, und dass somit zwischen Martinique und Guadeloupe kaum Unterschiede gemacht wurden, während Saint Domingue von Zeitgenossen klar separat wahrgenommen wurde. Dieser Unterscheidung wird hier gefolgt.

DIE KOLONIE SAINT DOMINGUE In seinem extrem gut geschriebenen Buch „Before Haiti“ beschreibt John D. Garrigus den ersten Besuch des wohl berühmtesten Besuchers der französischen Karibik in der Frühen Neuzeit in der frisch offizialisierten Kolonie Saint Domingue im Jahr 1701. Père Labat, dominikanischer Missionar, hatte einige Jahre in Martinique und Guadeloupe verbracht und reiste dann in die neue Besitzung. „Labat found this colony, France’s newest Caribbean possession, to be nothing like the Lesser Antilles“, so Garrigus, „Western Santo Domingo had been a base for French-speaking hunters and pirates since the beginning of the seventeenth century, but Spain had only just formally recognized French claims. As the priest toured its coastal settlements, grizzled ex-buccaneers served him on looted Spanish silver and swore loudly as he celebrated mass in the open air“.24

Labat war verständlicherweise geschockt von diesem Benehmen, fand aber die Landschaften der neuen Kolonie attraktiv und vielversprechend. Als die Plantagenwirtschaft der Insel kurz danach Fahrt aufnahm, explodierten die Preise für Plantagenland und die Bevölkerung veränderte sich drastisch. Im Jahr 168725 waren Europäer noch in der Überzahl gegenüber versklavten Afrikanern gewesen, doch die Zahl der Sklaven verdoppelte sich schnell und stieg dann unaufhörlich an. Laurent Dubois zufolge lebten zur Mitte des 18. Jahrhunderts rund 150.000 SklavInnen und 14.000 freie Weiße in der Kolonie – als die Revolution ausbrach, waren 90% der Bevölkerung von Saint Domingue versklavt.26 Um die ganze Absurdität der Zusammensetzung dieser sklavereibasierten Demographien

23 Elisabeth, Léo: La société martiniquaise aux XVIIe et XVIIIe siècles, Paris/Fort de France 2003, S. 25. 24 Garrigus, John D.: Before Haiti. Race and citizenship in French Saint-Domingue, New York 2006, S. 21. 25 Dubois, Avengers, S. 19. 26 Ebd.

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zu verdeutlichen, muss darauf hingewiesen werden, dass die 10% der freien Bevölkerung auch die freien People of Colour einschlossen. Trotz dieser quasi industriellen Revolution legte Saint Domingue seine Freibeuter und Schmuggler – Vergangenheit nie ganz ab. Die Gesellschaft der Kolonie war weitaus weniger definierbar als die von Martinique oder Guadeloupe, und Garrigus weist darauf hin, dass Saint Domingues Geographie sich ebenfalls stark von der der anderen Inseln unterscheidet.27 Die Kolonie war nicht nur deutlich größer, sie ist auch extrem gebirgig und verfügt über Gipfel, die fast doppelt so hoch sind wie die Vulkane der Kleinen Antillen. Die Gebirgsketten des Landes trennen distinktive geographische Zonen voneinander ab, so dass viele Gegenden schwer zugänglich, schwer landwirtschaftlich zu erschließen und noch schwerer zu kontrollieren waren.28 Dies zog unterschiedlichste Individuen und Gruppen an, die entweder der Kolonialverwaltung oder dem Plantagensystem entflohen waren, oder die ihre eigenen „Lebensweisen“ bevorzugten. In den 1780er Jahren beschrieb Moreau de St. Méry eine sehr unkonventionelle Gemeinschaft von Salzmachern, die sich nahe der Mündung des Flusses Artibonite gegründet hatte, und deren Mitglieder gemeinschaftlich Land besiedelten und bewirtschafteten, das sie nie legal erworben hatten. Moreau de St. Méry beschreibt „eine Gemeinschaft von Männern, die nichts besaßen als ihre eigene Person, die der Heirat abgeschworen hatten und die, sofern sie Kinder aus Ehen hatten, die geschlossen worden waren, bevor sie sich dieser Gemeinschaft anschlossen, oder aus Konkubinaten, die erlaubt sind, [diese Kinder] von ihrem Erbe ausschlossen, welches immer in der Gemeinschaft verblieb“.29

Beispiele wie dieses unterstützen Garrigus’ These, dass Saint Domingue letztlich bis weit ins 18. Jahrhundert eine Frontier-Gesellschaft blieb, in der Menschen ein Stück Land urbar machen und dann schlicht als ihr Eigentum beanspruchen und verteidigen konnten; Ein Weg, der sowohl geflohenen oder befreiten Skla27 Garrigus, Before Haiti, S. 23. 28 Ebd. 29 M.L.E. Moreau de Saint-Méry: Description Topographique, Physique, Civile, Politique, et Historique de la Partie Francaise de L’Isle de Saint-Domingue, Tome Second, Philadelphia/Paris/Hamburg 1789, S. 184: „une reunion d’ hommes sans nulle autre propriété que celle de leur individu, ayant renoncé au mariage & qui, s’ils avaient des enfans provenus d’unions formées avant de se lier à cette société, ou des concubines qu’elle admettait, les excluait également de leur succession, qui restait toujours en communauté“.

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vInnen offenstand, als auch weißen KolonialistInnen. Es gab Schmugglerbanden; winzige selbstversorgende Gemeinschaften, die von der Jagd lebten, und wie Dubois erwähnt, auch Gruppen bewaffneter weißer Briganten, die in den Bergen lebten und der Kolonialverwaltung einige Sorgen bereiteten.30 Garrigus unterfüttert seine These mit einer weiteren Begegnung Moreau de Saint-Mérys – den Bewohnern der Aquin-Gemeinde. Ein Blick in das Original bietet einen faszinierenden Einblick in Saint Domingues abgelegene Gegenden, in denen distinktive Praktiken früherer Epochen der kolonialen Expansion, der „Bukkanierkultur“31 am Leben gehalten wurden, so dass die Menschen der isolierten AquinGemeinde auf einer Halbinsel an der Südküste der Kolonie praktisch in einer anderen Zeit lebten, als ihre Mitkolonisten aus anderen Départements: „Bei der Ankunft in Aquin beginnt man, sich der bemerkenswerten Unterschiede gewahr zu werden zwischen den Sitten und Gebräuchen des Südlichen Teils & denen des Nördlichen Teils & Westlichen Teils der Kolonie, welche man leicht als die jüngeren erkennen kann. Selbst die Moden, die die alten Kolonisten ins Gedächtnis rufen, sind hier bewahrt, denn die Bewohner tragen Vareuses [eine Vareuse ist ein kurzes Fischer- oder Seglerhemd. Es wurde zumeist aus Leintuch hergestellt und hatte entweder gar keine Knöpfe, oder wurde auf der Innenseite zugeknöpft], die in Form und Eleganz unter ihnen variieren. Einige sind [...] aus schönem Tuch, einige sind rund und ohne Taschen, einige haben eine Tasche nahe dem Bauch [...] die Kinder tragen Tuchkappen nach dänischer Art, [...] Hosen und kleine Vareuses mit Kragen über ihren Hemden“.32

In Saint Domingue scheint die distinktive Natur des geographischen Raums immensen Einfluss darauf gehabt zu haben, wie Kolonialismus sich vollzog, vom Anfang der Besetzung bis zum Ende, als die unzugänglichen Bergregionen den Armeen der Rebellen Schutz und Kriegsmöglichkeiten boten. Die Bedeutung der Landschaft von Saint Domingue für alle, die dort lebten, ist eingefangen in dem 30 Ebd. 31 Garrigus, Before Haiti, S. 28. 32 Moreau de Saint-Méry, Description, S. 622 f.: „En arrivant à Acquin, on commence à appercevoir des nuances sensibles entre les moeurs & les usages de la Partie du Sud & ceux de la Partie du Nord & de la Partie de l’Ouest de la colonie, dont on voit bien qu’elle est la cadette. On y conserve même des modes qui rappellent les anciens colons, car les habitans y portent des vareuses qui different entr’elles par la forme & par l’elegance. Il y en a [...] de toiles très-belles; les unes sont rondes & sans poches; d’autres ont une poche vers le ventre [...] les enfans portaient des bonnets de toile à l’hollandaise [...] des pantaloons & de petites vareuses à collets par-dessus leur chemise“.

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Namen, den die einheimischen Taino ihrem Land gegeben hatten, bevor die Spanier eintrafen, und den der ehemalige Sklave und Revolutionsgeneral Jean Jacques Dessalines diesem Land 1804 zurückgab: Ayiti, Haiti, „Land der Hohen Berge“.

DIE KOLONIEN DER KLEINEN ANTILLEN Im Verlauf dieser Arbeit wird es dem oder der Lesenden zugutekommen, einen Überblick über die spezifischen Zusammensetzungen der Gesellschaften von Saint Domingue und den Kleinen Antillen zu besitzen. Gleichzeitig ist ein detailliertes Wissen nicht strikt notwendig, um die folgenden Untersuchungen zu verstehen. Als Kompromiss soll hier eine einzige Kolonie, Martinique, exemplarisch und relativ detailreich vorgestellt werden. Hierfür wird auf die hervorragenden, extrem gründlich recherchierten Arbeiten der karibischen Wissenschaftler Léo Elisabeth und Abel Alexis Louis zurückgegriffen. Martiniques erste tatsächliche Kolonie wurde 1635 vom Flibustier Pierre Bélain d’Esnambuc gegründet. D’Esnambuc war Anführer einer Gruppe von 150 Kolonisten, die im Namen der französischen Krone und der Compagnie des Îles d’Amérique eine Siedlung anlegten. Die erste kolonisierte Region war das Quartier von Saint Pierre an der Nordwestküste der Insel, direkt unterhalb des Vulkans Mont Pélée. Trotz der späteren militärischen Dominanz von Fort-Royal blieb Saint Pierre das wirtschaftliche Zentrum der Insel bis ca. 1902, als ein katastrophaler Ausbruch des Mont Pélée große Teile der Stadt zerstörte. Während sich ab den 1640er Jahren nach und nach eine Zuckerwirtschaft zu etablieren begann, war die Zeit zwischen 1630 und 1660 vor allem von der schrittweisen, gewaltsamen Auslöschung und Vertreibung der einheimischen karibischen Bevölkerung gekennzeichnet. Nur eine winzige Minderheit von Kariben überlebte auf der Insel, die eigentlich ihnen gehörte. Die meisten wurden entweder von Europäern ermordet, oder aber nach Domenica und St. Vincent vertrieben. Zur selben Zeit begannen die Kleinen Antillen langsam mit dem Import afrikanischer SklavInnen. James Pritchard zufolge war Martinique „evolving into a society of homesteads“ vor 1685.33 Die schwarze und of colour Bevölkerung „did not outnumber whites by even two to one“.34 Nach 1685 je-

33 Pritchard, James: In Search of Empire. The French in the Americas, 1670-1730, Cambridge et al. 2004, S. 107. 34 Ebd.

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doch gewannen Sklavenhandel und der Plantagensektor an Bedeutung auf der Insel. Verglichen mit Saint Domingue war die relativ kleine Insel (1.128 Quadratkilometer) gut zugänglich und somit auch einfacher zu verwalten. Sie wurde 1708 in vier „Quartiers“ aufgeteilt: Marin, Trinité, und die zwei großen Städte Fort-Royal (heute die Hauptstadt Fort-de-France) und Saint Pierre. Innerhalb dieser Quartiers lagen 25 Gemeinden und 53 Miliz-Kompanien, die die französischen Truppen unterstützten.35 Mit Blick auf die demographische Entwicklung der Insel im 18. Jahrhundert stellen Léo Elisabeths Forschungsergebnisse reichliche und detaillierte Daten bereit. Laut Elisabeth lebten im Jahr 1716 26885 SklavInnen auf Martinique, 8846 freie Weiße und 949 freie People of Colour.36 Nach dem Siebenjährigen Krieg lebten 2078 freie People of Colour auf der Insel; ihre Zahl verdoppelte sich bis 1789, als 4851 freie Persons of Colour gezählt wurden. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts machte diese Gruppe konstant ca. 30% der freien Bevölkerung aus. Für die versklavte Bevölkerung werden für das Jahr 1751 65845 Personen angeführt, für das Jahr 1770 73180 Personen. Die freie weiße Bevölkerung wurde 1751 mit 12188 Personen gelistet, 1770 mit 11624 Personen. Laut Elisabeths Ergebnissen konnte nur die Gruppe der freien People of Colour für das gesamte 18. Jahrhundert Wachstum verzeichnen; im Jahr 1804 lebten 6578 freie Persons of Colour auf der Insel. Die freie weiße Bevölkerung erreichte im Jahr 1742 einen Höhepunkt mit 16071 Personen und ihren Tiefstand 1804, als nur noch 9826 Personen auf Martinique lebten. Die Zahl der versklavten Personen wuchs und schrumpfte zwischen 1767 und 1788, fiel aber nie unter 68416 versklavte Männer und Frauen, und erlebte ihren Höhepunkt ebenfalls 1804 mit 79754 versklavten Personen.37 Zu diesem Zeitpunkt näherten sich die Gesellschaftsverhältnisse auf Martinique dem prärevolutionären Haiti an, doch Elisabeth warnt nachdrücklich davor, das Schrumpfen der weißen Bevölkerung und die zunehmende Anzahl von Sklaven in diesem Sinne als „crise d’une société“38 zu interpretieren. Er hebt hervor, dass das gesamte Selbstverständnis weißer Kreolgesellschaften auf der Grundlage basierte, dass sie eine kleine Elite darstellten, die eine riesige, entrechtete und ausbeutbare Arbeitskraft regierte. Diese Perspektive unterscheidet sich drastisch von der populären Forschungsannahme, die weiße Bevölkerung hätte in beständiger Angst vor der großen Anzahl der Sklaven gelebt (eine Angst, die sich explizit in 35 Louis, Abel A.: Les Libres de couleur en Martinique, Tome 1, Des origines À la veille de la Révolution Française 1635-1788, Paris 2012. 36 Elisabeth, Société Martiniquaise, S. 35. 37 Ebd. 38 Ebd.

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Selbstzeugnissen aus Saint Domingues Revolutionszeit findet). Allerdings ist Elisabeths Aussage, dass die Haltung der weißen Gesellschaft von Martinique „dem allgemeinen Diskurs über die Ängste dieser Minorität angesichts der of colour Überzahl widersprach, da ihre zahlenmäßige Unterlegenheit das Ergebnis einer Gesellschaftsentscheidung war, die im Kontext der Kreolisation zunahm“39 ebenfalls ein überzeugendes Argument, das verdient, berücksichtigt zu werden. Zudem ist es wahrscheinlich, dass sich die Wahrnehmung der ÜberzahlUnterzahl-Verhältnisse in Zeiten von Krieg und Aufruhr veränderte. Auch Elisabeths Perspektive auf Kreolisation ist bemerkenswert anders als die vieler anderer WissenschaftlerInnen, die Kreolisation aus einem Blickwinkel betrachten, der sich auch in vielen der hier untersuchten (wohlbemerkt europäischen!) Briefe findet. Dieser Blickwinkel legt nahe, dass Kreolen sich gegenüber der Metropole unterlegen fühlten und so versuchten, eine möglichst europäische Kultur aufrechtzuerhalten. Elisabeth hingegen stellt die Kreolen Martiniques als eine eng verwobene Gemeinschaft dar, die europäischen Neuankömmlingen den Zugang verweigerte. Der Brief, den ein Monsieur Tamisier an seinen Vater schrieb, unterstützt diese These und zeigt, dass diese Verweigerungshaltung sich etwa in der „Einstellungspolitik“ äußerte: „[J]edes mal, wenn ich an die jungen Leute denke, die hier ohne einen Beruf eintreffen, schaudere ich“, erklärte Tamisier, „zu Hause denken wir, dass Europäer von den Bewohnern bevorzugt werden für die Dienste, die sie benötigen, worin man nicht größer irren könnte“.40 Dieses findet sich in Elisabeths Arbeit wieder, die zudem erklärt, dass Kreolen oft versuchten, untereinander zu heiraten – obwohl viele Kreolinnen trotzdem französische Soldaten oder Händler heirateten. Und doch: die nahezu legendären Verschiffungen heiratsfähiger Frauen in die Kolonien, mit denen das Bevölkerungswachstum der Siedlungen befördert werden sollte, fiel – gewissermaßen – auf taube Ohren in Martinique. Elisabeth zufolge verheiratete sich nur etwa die Hälfte der 128 auf die Insel gebrachten Frauen (höchstwahrscheinlich mit Europäern), die Kreolen waren scheinbar nicht an ihnen interessiert, und Martinique empfing keine weiteren „envoyées du roi“.41 Kreole zu sein war entscheidend. 39 Ebd., Übersetzung der Verfasserin. 40 HCA 30/310, Tamisier, Fort Royal, Martinique, an seinen Vater in Saint-Saturnin, 10.03.1779: „[T]outes les fois que je reflexis sur les jeunes gens qui arrivent icy sans Metier, je fremis“, Tamisier declared, „nous croyons chés nous que les européens sont prefers des habitans pour les services dont ils ont besoin, c’est la chose du monde la plus fausse“. 41 Elisabeth, S. 36., siehe auch: Burnard, Trevor/Garrigus, John: The Plantation Machine. Atlantic Capitalism in French Saint-Domingue and British Jamaica, Philadelphia 2016, S. 71.

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Während des 17.und 18. Jahrhunderts tendierten Kreolen dazu, die Geburt in der Karibik gegenüber der Hautfarbe zu priorisieren. Heiraten zwischen freien People of Colour und Weißen waren üblich. Das 18. Jahrhundert brachte prinzipiell zunehmend strengere Gesetze, die Vermischungen der „Rassen“ verhindern sollten, allerdings wurde die Heirat zwischen freien People of Colour und Weißen in Martinique erst im Jahr 1789 verboten.42 Und selbst dann leisteten viele Kreolenfamilien lediglich Scheingehorsam, wie Elisabeth erklärt. Die Kinder aus von nun an illegitimen Verbindungen wurden nach wie vor als Kinder des Hauses erzogen, allerdings offiziell als „Dienstboten“ geführt, eine Praxis, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vollzogen wurde.43 Der Brief von Monsieur Tamisier zeigt, dass hier nur auf hergebrachte Praktiken des Umgangs mit illegitimen Kindern zurückgegriffen werden musste: „[E]s ist fast unmöglich, dass ein Europäer, der hierher kommt, durch Arbeit den Tisch bei jemandem findet [Kost erhält], aus dem Grund, dass die meisten Bewohner mulatres als Verwalter beschäftigen; uneheliche Söhne des Hauses, die sich besser mit den Ländereien der Insel auskennen als die Europäer, und die zu ernähren beinahe nichts kostet“.44

Aus Tamisiers Brief könnte man schließen, dass die Bevorzugung der mûlatres auf wirtschaftlichen Überlegungen basierte, doch zumindest in der von Elisabeth beschriebenen martiniquaisischen Gesellschaft scheinen viele Kreolen créolité höher geschätzt zu haben als die im Laufe des 18. Jahrhunderts immer größer werdende Idee weißer Überlegenheit. Dies kann von Saint Domingue keinesfalls behauptet werden, wie Garrigus gezeigt hat.45 Doch auch der ebenfalls karibische Historiker Abel Alexis Louis unterstreicht die „rassenbasierte Segregation,

42 Louis, Libres de Couleur, S. 235. 43 Elisabeth, Société Martiniquaise, S. 38. 44 HCA 30/310, Tamisier an seinen Vater: „[I]l est presque impossible a un européen qui arrive de pouvoir trouver la table chés quelqu’un en travaillant par la raison que les habitans la plus part ont pour homes d’affaires des mulatres, fils naturel de la maison qui connoissent mieu le rapport des terres des isles que les européens et qui ne coutent presque rien a nourrir“. 45 Siehe etwa Garrigus, John: „‚Affranchis‘ and ‚Coloreds‘: Why Were Racial Codes Stricter in Eighteenth-Century Saint-Domingue than in Jamaica?“ Quaderni Storici 148 (April 2015), S. 69-86; Ebd.: „Vincent Ogé Jeune (1757-91): Social Class and Free Colored Mobilization on the Eve of the Haitian Revolution“. The Americas 68/1 (July 2011), S. 33-62.

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die die martiniquaisische Gesellschaft charakterisiert. 46 In jedem Fall brachte das 18. Jahrhundert die beständige und zunehmende Implementierung von Gesetzen, die die Bevölkerung of colour marginalisieren sollten. Wenn Elisabeths Darstellung der kreolischen Gesellschaft akzeptiert wird, mag dies paradox erscheinen, da zu erwarten wäre, dass kreolische Familien ihre Schwerpunktsetzung einer karibischen Geburt auch legal durchgesetzt hätten- gegen die Interessen der europäischen Neuankömmlinge. Elisabeth zufolge liegt dies in den getrennten Sphären von Einfluss und Macht begründet: Während Martiniques wirtschaftliche Macht vor allem in den Händen der kreolischen Bewohner lag, wurde politische Macht von Administratoren und Kolonialoffizieren ausgeübt, die aus Europa kamen.47 Ob dies eine ausreichende Erklärung darstellt, sei dahingestellt. Mit Blick auf die zahlenmäßige Verteilung dieser Macht listete die Verwaltung im Jahr 1770 ca. 2000 Plantagenbesitzer (sehr kleine Unternehmen nicht eingeschlossen), von denen 299 sucreries besaßen. 1644 Pflanzer bauten keinen Zucker an, sondern Kaffee, Kakao, Baumwolle oder Manioc.48 Ungefähr 80% 49 der versklavten Bevölkerung von Martinique lebte und arbeitete auf diesen Plantagen, während die restlichen 20% als „nègres des villes et bourgs“ geführt wurden.50 Die Gesamtzahl umfasste 72853 versklavte Personen im Jahr 1770. 22886 Männer 23364 Frauen wurden als sogenannte „arbeitende Sklaven“ aufgelistet, waren also als arbeitsfähig eingestuft worden.51 21365 waren Kinder, 5238 waren alt oder krank.52

SKLAVEREI IN DER FRANZÖSISCHEN KARIBIK: DIE KONSTRUKTION „DES SKLAVEN“ Die weißen Sklavenhaltergesellschaften konstruierten ihre Bilder „der Sklaven“ oft in einer Weise, die an Edward Saids bahnbrechendes Werk „Orientalism“ erinnert. „Orientalismus“ entstand (und entsteht) laut Said, indem ein von Hegemonialansprüchen getriebener Okzident seinen eigenen „Orient“ konstruierte,

46 Louis, Libres de Couleur, S. 211: „la ségrégation raciale qui characterise la société coloniale martiniquaise“. 47 Elisabeth, S. 42 f. 48 Idem, S. 46. 49 Idem, S. 47. 50 Ebd. 51 Idem, S. 86. 52 Ebd.

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den es beherrschen und verwalten konnte – dabei stützte es sich allein auf seine eigenen, integralen Diskurselemente, ohne äußere Elemente einzubeziehen, die diese Diskurse hätten stören können. Auch westliche Forschungen zum „Orient“ erkundeten letztlich immer ein bereits festgeschriebenes, abgestecktes Gefüge und bestätigten so ein Bild, welches die Forscher schon an die Untersuchungen herangetragen hatten.53 Versklavte Frauen und Männer aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern und Kulturen, mit unterschiedlichen Sprachen, Geschichten und Erfahrungen, wurden zumeist als eine homogene Gruppe wahrgenommen. Sofern Unterscheidungen gemacht wurden, betrafen diese die angenommenen Unterschiede in ihren „Naturen“ gemäß ihrer Herkunft; manche Volksgruppen galten als „fügsamer“, andere als bessere und willigere Arbeiter.54 Doch selbst wenn solche Distinktionen auch spezifische Fähigkeiten einschlossen, die in persönlichen Biographien begründet lagen; oder auch spezifische Glaubenssysteme (bzw. in der europäischen Vorstellung, „Aberglauben“)55, erlaubten die gültigen Diskurse nie die Wahrnehmung der SklavInnen als vernünftige, überlegte, politische und militärische AkteurInnen, die ihre eigene desaströse Situation reflektierten und sich in rationaler Weise dagegen organisierten. Egal, wie offensichtlich die Beweislage solcher Aktivitäten im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde, die europäischen KolonialistInnen blieben bei dem hausgemachten Wahrnehmungsspektrum, das für das versklavte „Andere“ zur Verfügung stand. In seinem Buch „Colonial Encounters – Europe and the native Caribbean 1492-1797“ analysiert Peter Hulme, wie Daniel Defoes Robinson Crusoe seine eigene Angst, von einheimischen „Kannibalen“ verspeist zu werden, beständig befeuert, obwohl sein einheimischer Freund Freitag ihm erklärt hat, dass sein Volk lediglich im Kampf besiegte Angreifer verzehre und auch Crusoes Kameraden nicht etwa gegessen, sondern gerettet und „made brother with [them]“56 hätten. „Defoe here has Friday offer an alternative version of Carib social practices which stands in stark contrast to Crusoe’s lurid vision of unalloyed ferocity“57. Crusoe jedoch kann oder will sich selbst nicht davon abhalten, selbst seinen loyalen Freund unter beständigen Kannibalismusverdacht zu stellen: „It is at such moments that Crusoe seems to have lost touch with reality altogether“58 schreibt Hulme. Es scheint hier, als kritisiere Defoe das blinde, panische Festschreiben des Kariben durch 53 Said, Edward W.: Orientalism. New York, 1978. 54 Z.B. Dubois, Avengers of the New World, S. 40 f. 55 Ebd. 56 Zitiert in: Hulme, Peter: Colonial Encounters. Europe and the native Caribbean, 14921797, London/New York 1986, S. 195. 57 Ebd. 58 Hulme, Colonial Encounters, S. 196.

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die Figur Crusoes. Gleichzeitig zeigt Hulme überzeugend auf, dass die „Freundschaft“ zwischen Crusoe und Freitag tatsächlich eine idealisierte Form der Sklaverei darstellt (augenscheinlich nicht nur in der Tatsache, dass Crusoe sich von Freitag mit „Master“ anreden lässt.). Die Idealisierung liegt darin, dass diese spezifische Sklaverei nicht auf Gewalt basiert, sondern auf williger, dankbarer Unterwerfung auf Seiten des Kariben.59 Der – Topos oder/und Mythos (?) – der begeisterten Unterwerfung „der Afrikaner“ ist ein Aspekt, den viele europäische BriefschreiberInnen als Erzählelement in Briefen nutzbar machten. Laymenc, der Verwalter von Madame de Pinsons Plantage in St. Marc, Saint Domingue, schrieb ihr von den „six nègres et 4 negresses“, die er gekauft hatte, und behauptete stolz, diese seien „so schön, wie es möglich ist, diese Nrs. haben Ihnen gut gedient, und ich wage, Ihnen dies zu schreiben, nachdem ich täglich Erfahrungen mit ihnen gemacht habe, bis jetzt scheinen sie keinerlei schlechte Qualitäten zu besitzen, sie sind gesund, und sehr arbeitswillig“.60 Er fuhr fort: „Alle Ihre Sklaven sind sehr sanftmütig & gute Subjekte [...] & ich denke, ich würde ihnen unrecht tun, wenn ich ihnen nicht jeden Komfort biete, den ich bereitstellen kann“.61 Layrencs Bericht über die SklavInnen zeigte auch ihn selbst in einem günstigen Licht. Für seine ferne Arbeitgeberin musste es aussehen, als wäre er nicht nur ein kluger Einkäufer, sondern auch ein gütiger Mann, der ihre Sklaven nicht quälen würde. Wenn die entsprechenden SklavInnen die Lage anders beurteilten, konnte Layrenc recht sicher sein, dass ihre Berichte niemals an die Ohren Mme de Pinsons dringen würden. Um seine eigene Darstellung abzurunden – und da er, wie er schrieb, Mme de Pinson eine Freude machen wollte –, fügte er eine Liste mit Namen hinzu, die er den zehn neuerworbenen SklavInnen gegeben hatte. Während die Männer relativ übliche französische Vornamen erhalten hatten – Léon, Daniel, Eustache, Clément, Lubin und Henry – deckt sich Layrencs Auswahl für die Frauen mit den Erkenntnissen der Historiographie bezüglich der Namenspraktiken innerhalb der karibischen Sklaverei. Layrenc nannte die Frauen Zaire, Fatime, Minerve und Venus – Namen, die entweder einen starken exotischen Beigeschmack hatten oder heidnische Mystik aufriefen. Laurent Dubois zufolge illustriert dies 59 Hulme, Colonial Encounters, S. 204 ff. 60 HCA 30/305, Layrenc, Saint Domingue, an Mme Pinson, Paris, 12.07.1778: „plus beaux quil soient possible ces Nrs. Vous ont bien servie et jose vous l’avancer d’après l’experience que jai fait tout le joure ils nont paru avoir jusque ici aucune mauvaise qualité, ils sont bien portant et tes résolu pour le travail“. 61 Ebd.: „tous vos esclaves sont fort doux & bon Sujets [...] & je croirai leur faire injustice en ne leur procurant pas toutes les douceur qui pourront dependre de moi“.

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„the kind of sentimentality that imbued masters’ visions of their slaves, seeking to erase the brutality through a paternalistic “care“ for slaves. The use of names referring back to European religion and mythology also suggests a desire to reinvent the enslaved individual not only as a worker but also as a kind of sculpted personality invested with attributes selected by masters“.62

Dass Layrenc nur den Frauen derartige Namen gab, deutet darauf hin, dass seine Aktivität als Persönlichkeitsbildhauer sich auf die Frauen konzentrierte. Die Vergabe des Namens „Venus“ ist besonders beunruhigend, war doch die „Black Venus“ gleichsam der Inbegriff der massiven Sexualisierung des schwarzen Frauenkörpers durch den kolonialistischen Blick63 – und da Layrenc die Plantage in Mme de Pinsons Abwesenheit alleine führte, konnte er mit den ihm anvertrauten Frauen (und Männern) tun, was ihm beliebte. Selbstverständlich kann sein Brief auch eine relative akkurate Darstellung seiner Haltung gegenüber den SklavInnen sein – diese Interpretation hängt davon ab, wieviel postkoloniales Misstrauen die Forscherperspektive informiert. In jedem Fall erklärt Dubois, dass SklavInnen ihre eigenen Namen weiterbenutzten, wenn sie untereinander arbeiteten oder Zeit verbrachten, und so diesen weiteren Versuch der Appropriation unterwanderten.64 Seit 1665 war die Situation von SklavInnen in der Französischen Karibik zumindest theoretisch durch den Code Noir geregelt. Der ursprüngliche Code war von Jean-Baptiste Colbert für Louis XIV entwickelt worden; Neuauflagen folgten 1685 und 1724, mit Autorisierung von Louis XV. Der Code lieferte klare Anweisungen für den alltäglichen Umgang mit Sklaven und für deren juristische Situation. So war es etwa SklavenhalterInnen nicht erlaubt, ihre SklavInnen gegen deren Willen zu verheiraten. SklavInnen durften keine Waffen tragen und es galt ein striktes Versammlungsverbot für sie. Der Code schrieb fest, wieviel Nahrung SklavInnen ab dem Alter von zehn Jahren zu erhalten hatten, es besteht jedoch kaum Zweifel, dass nur wenige versklavte Menschen jemals die – ohnehin nicht reichlichen – Mengen an Essen erhielten, die ihnen der Code zugestand.65 Und dies war bei weitem nicht der einzige Artikel des Code, der in der Praxis von SklavenhalterInnen missachtet wurde. Artikel 42 gab an: 62 Dubois, Laurent: A Colony of Citizens. Revolution and Slave Emancipation in the French Caribbean 1787-1804, Williamsburg 2004, S. 76. 63 Siehe etwa Hartman, Saidiya: Venus in Two Acts. in: Small Axe 26, 12/2, 2008, S. 114. 64 Ebd. 65 Zur Mangelernährung westindischer SklavInnen siehe etwa Kiple, Kenneth F./Kiple, Virginia H.: Deficiency Diseases in the Caribbean, in: Beckles, Hilary/Shepherd,

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„Wenn Herren glauben, dass ihre Sklaven es verdienen, mögen sie diese nur in Ketten legen und mit Ruten oder Seilen auspeitschen lassen. Wir untersagen ihnen, sie zu quälen oder ihre Glieder in jeglicher Weise zu verstümmeln, welches mit Beschlagnahmung der Sklaven und außerordentlicher Verfolgung der Herren bestraft wird“.66

Wie zum Ende dieser Arbeit noch diskutiert wird, waren Folter und Verstümmelung versklavter Menschen Gang und Gebe in der Alltagspraxis und konnte für Aufseher und SklavenhalterInnen geradezu zu einer Art Freizeitbeschäftigung werden. Auch das Ermorden eines Sklaven sollte laut Code Noir streng bestraft werden – und doch konnten SklavenhalterInnen ihre SklavInnen nach Herzenslust quälen und ermorden, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Doris Garraway schreibt über den Code Noir: „The promulgation of the Code noir in 1685 was a decisive moment in the history of French colonial slavery and miscegenation. In regulating slavery on the part of the state, the Code incorporated the colonies and their inhabitants – slave and free – into the body politic of the ancien régime“.67 Aus einer Top-Down, regierungsorientierten Perspektive trifft dies sicherlich zu. Doch wie Garraway selbst unterstreicht, waren die Metropole und der französische Hof sehr weit weg, und SklavenhalterInnen widersetzten sich zu gerne jeglicher Einmischung der Krone in das, was sie als ihre eigenen Angelegenheiten betrachteten. Die meisten SklavInnen arbeiteten auf den Zucker -, Indigo- und Kaffeeplantagen oder in Obst- und Gemüsegärten. Stadtbasierte SklavInnen waren Hausbedienstete oder Handwerker in unterschiedlichsten Berufen68 – im Juni 1778 berichtete der Frisör und Perückenmacher Bertin aus Guadeloupe seiner Freundin La Magnée in Saintes von den fünf versklavten Lehrlingen, die er ausbildete.69 Auch auf den Zuckerplantagen arbeitete rund ein Fünftel der SklavInnen in spezialisierten Bereichen der Zuckerproduktion.70 Dies war jedoch nicht gleichbeVerene (Hg.): Caribbean Slave Society and Economy, New York 1993, S. 173-180. Ursprünglich veröffentlicht in: Journal of Interdisciplinary History II/2, 1980, S. 197215. 66 Code Noir, Article 47: „Pourront seulement les maîtres, lorsqu'ils croiront que leurs esclaves l'auront mérité les faire enchaîner et les faire battre de verges ou cordes. Leur défendons de leur donner la torture, ni de leur faire aucune mutilation de membres, à peine de confiscation des esclaves et d'être procédé contre les maîtres extraordinairement“. 67 Garraway, Libertine Colony, S. 205. 68 Siehe auch Débien, Esclaves, S. 86 ff. 69 HCA 32/313, Bertin, Guadeloupe, an Dlle La Magnée, Saintes, 15.06.1778. 70 Ebd.

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deutend mit weniger gefährlichen oder einfacheren Arbeitsbedingungen, im Gegenteil. Das Betreiben einer Zuckermühle, zum Beispiel, verlangte absolute Konzentration, da Finger oder Kleidung sich schnell im Mahlwerk verfangen konnten. Überarbeitete und übermüdete Sklaven verunglückten regelmäßig. 1795 wurde der in Berlin residierende Graf Neale vom Verwalter seiner Plantage in Surinam informiert, dass es immer wieder zu spontanen Enthauptungen kam, wenn um den Hals getragene Kleidungsstücke sich in der Mühle verfingen. 71 Im Juni 1778 beklagte sich ein kreolischer Pflanzer aus Guadeloupe bei seinem Freund Nicolle, einem weiteren Kreolen, der sich gerade in Bordeaux aufhielt: „Wir haben gerade den nègre Christophe verloren, er war ein gutes Subjekt, sei Arm verfing sich in der Moulin à Neuf, als er sie schmieren wollte, man hat sein Handgelenk abgeschnitten & er starb an Tetanus; nicht alles ist rosig im Beruf des Pflanzers“.72 Habitant bezieht sich hier auf „habitation“, und bedeutet im Kolonialkontext „Plantage“. Insbesondere für diejenigen, die tatsächlich Gefahr liefen, nach einer brutalen ganztägigen Arbeitsschicht von einer Zuckermühle zerrissen zu werden, war in der Tat nicht „alles rosig“. SklavInnen, die auf den Feldern arbeiten mussten, wurden deutlich am schlechtesten behandelt, es galt daher als Beförderung, wenn man als Hausbediensteter in der „grand’case“, dem Haupthaus, arbeiten durfte. Gabriel Debien zufolge lag dies daran, dass Hausarbeit direkt von den PlantagenbesitzerInnen organisiert wurde, während Feldarbeit Verwaltern und Aufsehern unterlag.73 Letztere hatten einen notorisch schlechten Ruf, besonders auf Plantagen, deren BesitzerInnen abwesend waren, was häufig vorkam. Obwohl BesitzerInnen oft grausam waren, galten sie doch als wohlwollender gegenüber ihren SklavInnen. Die erstaunlichen Briefe, die der Sklave Philipeau von der Mauger-Plantage in Saint Domingue an seine Besitzerin Madame Mauger schrieb, und die 1981 von Gabriel Debien untersucht wurden,74 beleuchten die verworrenen Beziehungen zwischen SklavInnen, Verwaltern und PlantagenbesitzerInnen. Sie zeigen aber insbesondere, dass SklavInnen Handlungsspielräume für sich erschließen konn71 HCA 30/374, Neale Plantage, Surinam, an Graf Neale, Berlin, 1794. 72 HCA 32/313, unbekannt, Guadeloupe, an Nicolle, Bordeaux, Juni 1778: „Nous venons de perdre le negre christophe, qui etoit un Bon sujet, il s’est laissé atraper le Bras au Moulin a Neuf en voulant le graisser, on luy a coupé le poignet, & il est mort du Tetanouse; Tout n’est pas benefice dans le métier d’habitant“. 73 Here as referred to in Dubois, Avengers, S. 36 ff. 74 Debien, Gabriel: Sur les plantations Mauger á l’ Artibonite (Saint Domingue 17631803), in: Enquêtes et Documents: Nantes, Afrique, Amérique, Nantes 1981, S. 17631803. Zitiert nach: Dubois, Avengers of the New World, S. 36.

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ten. Laurent Dubois beschreibt, wie Sklaven das Phänomen der Marronnage – weglaufen und dann versteckt in abgelegenen Regionen leben – als ein effizientes Kommunikationsmittel einsetzen konnten, um abwesenden PlantagenbesitzerInnen ihren Protest gegen brutale Verwalter deutlich zu machen. Dies geschah auch auf der Plantage, die der angeheirateten Familie eines – nomen est omen – Monsieur Délibéré gehörte. Als Délibéré zur Zeit der Revolution auf der Plantage in Saint Domingue eintraf, um seine Schwiegereltern zu repräsentieren, „waren drei Viertel unserer nègres Rebellen. Seit sie erfahren haben, dass ich ihr Herr bin, sind sie alle gekommen und haben sich mir zu Füßen geworfen und mir ihre Dienste angeboten; sie haben ihre Zufriedenheit bekundet und dass M. Ducin der Grund dafür war, dass sie Marrons geworden sind. Tatsächlich hat M. Durcin bis zum Moment seiner Abreise am kompletten Ruin dieser Habitation gearbeitet“.75

In M. Délibérés Fall genügte schon die Abreise des Verwalters Durcin, damit die SklavInnen zurückkamen. Doch Dubois zeigt, dass „this type of strikes [which] happened quite regularly“76 üblicherweise in Verhandlungen zwischen den marronnierten SklavInnen und ihren Besitzern geklärt wurde, da es für Letztere billiger kam, den Forderungen der SklavInnen nachzukommen, als neue versklavte Menschen ankaufen zu müssen, die ja durchaus genauso rebellisch sein konnten wie ihre VorgängerInnen.77 Generell gesehen werfen diese „Verhandlungsmarronagen“ ein wichtiges Licht auf die politische Agency versklavter Personen. Im Kontext der Briefe ist es jedoch bemerkenswert, dass europäische SchreiberInnen, die SklavInnen ansonsten auch nicht die kleinsten Momente der Agency oder Selbstbestimmtheit zusprachen, stets die freiwillige Rückkehr der SklavInnen zu ihrer Arbeit betonten und so rückwirkend die Marronage und Auflehnung gegen die Aufseher unterstützten. Der oben vorgestellte M. Layrenc von der Pinson-Plantage vergab nicht nur Namen an neue SklavInnen, sondern berichtete auch: „Sie hatten diesen Mercure seit längerem in der Marronnage, er

75 HCA 30/381. M. Délibéré, Cayes, an seine Frau in Bercy, 10.05.1793: „les trois quarts de nos negres étoient insurgé. Depuis qu’ils ont su que j’étois leur maître ils sont tous venus se jetter a mes genous Et moffrir leurs services en me temoignant leur Satisfation et que Mr. Ducin etoit la cause qu’ils avaient été maron En verite Mr. Ducin a travaillé jusqu’au moment de Son départ a la Ruine totale de cette hab. on“. 76 Dubois, Les Vengeurs du Nouveau Monde, S. 86. 77 Dubois, Les Vengeurs Du Nouveau Monde, S. 86.

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kam nach meiner Ankunft zurück, sie sind alle sehr ruhig und zufrieden“.78 Marronierte SklavInnen wurden gejagt – unter anderem mit Hilfe von Hunden – und, sofern sie gefunden wurden, brutal bestraft.79 Dies darf auch angesichts von Praktiken wie der „Verhandlungsmarronage“ nicht vergessen werden – SklavInnen gingen bei der Flucht stets ein hohes Risiko ein, verstümmelt oder sogar ermordet zu werden, wenn die Flucht vereitelt wurde. Die Briefe zeigen jedoch, dass EuropäerInnen die erzählerischen Mittel besaßen, eine Art marronage juste zu kreieren, die genutzt werden konnte, um neue Verwalter wie Délibéré oder Layrenc gegenüber ihren Vorgängern in ein gutes Licht zu rücken. Ein leider unvollständiger Brief, der nur mit den Initialen H.J. unterschrieben wurde, zeigt, dass Marronagen auch im Rahmen gezielter Intrigen genutzt werden konnten, um die Position eines Verwalters zu usurpieren. Der Autor des Briefes war interessiert an den 15 SklavInnen, die sich im Besitz einer Madame Lacardonnie befanden, aber seit längerer Zeit marroniert waren. Selbstbewusst schrieb er: „Sie würden zurückkehren, sobald sie unter meiner Aufsicht stünden“80, und brüstete sich, dass Mme Lacardonnie nicht mehr den Wunsch verspüren würde, sich von den Maroons zu trennen, wenn diese „unter meiner Peitsche [lebten]. Der Verwalter hat nichts getan, um sie zurückzubringen. Ich denke im Gegenteil, dass er sie in ihrer Marronnage hält. Dies muss man vorsichtig andeuten“.81 Auch Streit und das, was Briefschreiber als „Faulheit“ auf Seiten der SklavInnen bezeichneten, konnten gerechtfertigt werden, wenn sich so die Inkompetenz eines Verwalters hervorheben ließ: „Seit seiner Abreise benehmen sich die nègres wunderbar, und nur die Faulen und die schlechten Subjekte werden ausgepeitscht, abgesehen davon leben alle in der größtmöglichen Eintracht, da die bittersten Feinde versöhnt wurden“82, schrieb M. Bartholomé an seine Mutter von deren Plantage in 78 HCA 30/305, Layrenc, Saint Domingue, an Mme Pinson, Paris, 12.07.1778: “vous aviez ce Mercure de marron depuis quelque tems il s’est rendu a mon entrée ils sont tous fort tranquille et contens“. 79 Zur Marronage: Thompson, Alvin O.: Flight to Freedom. African Runaways and Maroons in the Caribbean, University of West Indies Press 2006. Auch Thompsen erwähnt „verhandelbare“ Marronage: S. 284. 80 HCA 30/260, H.J., Saint Domingue, an unbekannt, Frankreich, März 1756: „sous ma ferule. Le procureur n’a rien fait pour les faire revenir, je crois au contraire qu’il les entretient dans leur maronnage, ce qu’il faut insinuer legeremant“. 81 Ebd. 82 HCA 30/305, Bartholomé, Montrouis, Saint-Domingue, an seine Mutter in Rochefort, 25.12.1778: „Depuis son départ les négres se comportment a merveille, et il n’y a réellement que les paresseux et mauvais Sujets qui soyent taillé; d’ailleurs tous vivent dans le meilleur accord du monde, les plus grands ennemis etant reconciliés“.

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Saint Domingue. Letztlich konnte jede Form von „Fehlverhalten“ oder Gegenwehr, die ein Sklave oder eine Sklavin zeigte, gerechtfertigt oder sogar gepriesen werden, wenn dies der Agenda eines europäischen Briefschreibers entgegenkam. Die Berichte, die der Herrnhuter Missionar Christian Georg Andreas Oldendorp in der Karibik verfasste, enthalten diverse Erzählungen von erfolgreich missionierten SklavInnen, die ihren HerrInnen im Namen ihres neuen Glaubens entgegentraten und so die Wirksamkeit und Kraft der Mission demonstrierten. 83 Somit war – zumindest im Kontext europäischer Briefe – der Grad der Unterwerfung, der von SklavInnen erwartet wurde, nicht in Stein gemeißelt, sondern konnte von Situation zu Situation und je nach Bedürfnis variieren. Die Definitionsmacht lag jedoch stets auf Seiten der SklavenhalterInnen. Ob eine Auflehnung als kleinere Missetat oder als gleichsamer „Hochverrat“ betrachtet wurde, hing von den Bedürfnissen der jeweiligen Machtinhaber ab. Wohl eines der wichtigsten, einflussreichsten Werke zur Geschichte der Sklaverei in der Karibik und vor allem der Revolution von Saint Domingue ist C.L.R. James’ „The Black Jacobins“. Der Afro-Trinidadische Historiker veröffentlichte es 1938, und es hat seit dem nichts an seiner Forschungsqualität und seiner Energie eingebüßt, welche unter anderem darin besteht, dass James für seine Darstellung der unfassbaren Schrecken und Ungerechtigkeiten der Sklaverei alle affektierten Prätentionen wissenschaftlicher Objektivität fallen ließ. Das Buch ist geprägt von offener Wut und zutiefst politisch. James beschrieb im Detail die Situation auf den Sklavenschiffen, die demütigenden Sklavenmärkte, und die tägliche Arbeit, die Quälerei und den Hunger auf den Plantagen. „The difficulty was“, erklärt er, „that though one could trap them like animals, transport them in pens, work them alongside an ass or a horse and beat both with the same stick, stable them and starve them, they remained, despite their black skins and curly hair, quite invincibly human beings; with the intelligence and resentment of human beings. To cow them into the necessary docility and acceptance necessitated a régime of calculated brutality and terrorism, and it is this that explains the unusual spectacle of property-owners apparently careless of preserving their property: they had first to ensure their own safety“.84

Dieses „Régime der Brutalität“ ist Saint Domingues trauriger Berühmtheitsfaktor. Die PflanzerInnen von Martinique und Guadeloupe waren gnadenlos in der Unterdrückung und Ausbeutung von SklavInnen, und kreativ in der Erfindung immer neuer Foltermöglichkeiten, doch Saint Domingue (so der historiographi83 Ich danke Frank Marquardt für diesen Hinweis. 84 James, The Black Jacobins, S. 12.

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sche Konsens) erreichte ein Grausamkeitsniveau, an das die Kleineren Antillen nie heranreichten. Unter anderem John Garrigus hat diese Grausamkeit mit Saint Domingues Größe in Verbindung gebracht.85 Diese Größe erlaubte größere Plantagen, die ihren BesitzerInnen riesige Profite einbrachten, was einherging mit größeren Zahlen von SklavInnen, stärkerer Kontrolle und strenger Akkordarbeit. Eine Praktik im Umgang mit SklavInnen, die in der französischen Karibik scheinbar spezifisch für Saint Domingue war, ist die so genannte étampage, das Brandmarken neu erworbener SklavInnen mit dem Namen oder den Initialen der Besitzer. Bei jedem Verkauf der Person wurde erneut gebrandmarkt, bis – wie bereits der Abbé Labat notierte – „ein Sklave, der mehrere Male verkauft und wiederverkauft worden war, am Ende so bedeckt mit Buchstaben war wie jene Obelisken aus Ägypten“.86 Laut Gabriel Debien, der sich hier auf Labat stützt, wurde diese weitere Übernahme des versklavten Körpers in Martinique und Guadeloupe nicht praktiziert, während sie in Saint Domingue schon im 17. Jahrhundert üblich war87. Hier ist zu bedenken, dass Labats Text vergleichsweise früh entstand – es kann durchaus sein, dass die Praxis der étampage sich auf den kleineren Antillen erst im Laufe des 18. Jahrhunderts etablierte. Auch bei Labat wurde die Größe der Kolonie als Begründung herangezogen: Labat schrieb, auf den kleineren Inseln sei es nicht nötig, SklavInnen zu brandmarken, während geflohene und wieder eingefangene SklavInnen in Saint Domingues riesigen Territorien nur mithilfe von Kennzeichnungen identifiziert werden könnten. Debien hält allerdings fest, dass selbst in Saint Domingue nicht alle SklavInnen gebrandmarkt waren- so blieb etwa denjenigen, die als hübsch genug galten, um im Haus zu dienen, generell die Entstellung der étampage erspart.88

DIE FREIE BEVÖLKERUNG DER FRANZÖSISCHEN KARIBIK Die freie Bevölkerung in den französischen Kolonien des 18. Jahrhunderts setzte sich aus unterschiedlichen Gruppen zusammen: Freie Menschen mit afrikanischem Hintergrund, freie Menschen mit afro-europäischem Hintergrund, Euro-

85 Garrigus, Before Haiti, S. 32. 86 Père Labat, zitiert nach Débien, Esclaves, S. 69: „[U]n esclave qui aurait été vendu et revendu plusieurs fois, paraîtrait à la fin aussi chargé de caractères que ces obélisques d’Égypte“. 87 Débien, Esclaves, S. 69. 88 Ebd., S. 70.

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päerInnen und freie Menschen mit europäischem Hintergrund (hier ist zu erläutern, dass auch im 18. Jahrhundert noch gelegentlich selbstverpflichtete europäische Zwangsarbeiter, sogenannte engagés, in den französischen Kolonien lebten,) und sehr selten freie Überlebende der Inselkariben. Die wohl bekanntesten Forschungen zu freien People of Colour und freien Schwarzen in Saint Domingue stammen von John Garrigus, der die komplexen gesellschaftlichen Bewegungen und Verschiebungen aufgezeigt hat, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu drastischen Veränderungen in der Wahrnehmung dieser Bevölkerungsgruppen führte, sowie zu ihrer zunehmenden juristischen und politischen Segregation. Garrigus konzentriert sich auf Saint Domingue und die Entwicklungen, die zum Ausbruch der Revolution beitrugen. Da Saint Domingue jedoch schon so oft im Fokus der Forschung stand, soll hier erneut Martinique in den Blick genommen werden, das bisher weitaus weniger Aufmerksamkeit erhalten hat. Die ungemein gründliche, dreibändige Studie, in der sich der antillaisische Historiker Abel Alexis Louis den freien People of Colour der Insel gewidmet hat, bietet eine Fülle an Informationen. Louis betont immer wieder die Bedeutung der „separation tripartite de la société coloniale“89 in Sklaven, freie People of Colour, und Weiße für den kolonialen Alltag. Das erste Problem in diesem Zusammenhang ist das der Denomination. Je nach Quelle kann die historische Nomenklatur stark variieren. Briefe und offizielle Dokumente verwenden zumeist den Begriff „gens de couleur“ um freie Personen gemischter Herkunft zu bezeichnen. Andere sprechen – je nach „Grad“ der Verwandtschaft mit einer schwarzen Person – von „noirs“, „mulâtres“ oder „métis“, sowie diversen anderen Einstufungen ethnischer Gemischtheit. In den hier untersuchten Quellen tauchen nur diese vier Begriffe auf, somit werden auch nur sie hier angegeben.90 Dieses präzise Vokabular zeigt jedoch die spezifische Position freier People of Colour in karibischen Sklavereigesellschaften. All diese Begriffe, die anzeigen sollen, wie stark ein Individuum von „Schwarzheit“ geprägt ist, haben dasselbe Ziel, wie Louis konzise zusammenführt: Im kollektiven Bewusstsein zu verankern, dass nur ein weißer Mensch ein weißer Mensch ist, während alle anderen die „eingefärbten“ Ergebnisse gemischter Beziehungen darstellen.91 People of Colour waren das nicht zu verleugnende Bin89 Louis, Les Libres de couleur, S. 16. 90 Laut Sue Peabody unterscheiden sich die französischen Karibikkolonien hier maßgeblich von den Kolonien im Indischen Ozean, „where place of origin persisted as the dominant label of identity through the eighteenth century“. Peabody, Sue: Madeleine's Children. Family, Freedom, Secrets, and Lies in France's Indian Ocean Colonies, Oxford 2017, S.7. 91 Ebd., S. 17.

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deglied zwischen weiß und schwarz, mit engen Beziehungen zu beiden Gruppen. Mit dem zunehmenden Rassismus und der zunehmenden Abgrenzung der weißen Bevölkerung wurden sie für die Letztere immer mehr zum Problem – als lebende Beweise einer Vermischung, die man gerne bestritten hätte. Louis stimmt Léo Elisabeth zu, dass die martiniquaisische Gesellschaft eher spät damit begann, People of Colour als solche zu beschreiben – vor den 1720er Jahren galten sie schlicht als weiß. Louis untersucht auch die geographische Verteilung freier Menschen of colour in Martinique entsprechend dem Zensus von 1788.92 Diesen Angabenu zufolge lebten die meisten freien Menschen of colour in den Gebieten der Insel, die zuerst kolonisiert wurden. Anders als beispielsweise die dänischen Kolonien der Karibik, wo seit 1747 eine strikte räumliche Segregationspolitik herrschte93, blieben die Städte und Straßen der französischen Karibikkolonien durchmischt, die freie weiße und of colour Bevölkerung bewohnte bisweilen auch dieselben Häuser. Louis zeigt, dass Vermieter of colour weißen Mietern Wohnraum zur Verfügung stellten und umgekehrt.94 Louis’ Ergebnisse legen zwar nahe, dass viele People of Colour in relativ prekären Bedingungen lebten,95 zeigen aber auch einen „dynamisme économique“96 im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Von den 510 Menschen of colour, deren Notariatsakten Louis untersucht hat, besaßen 32 Männer und 22 Frauen Eigentum im Wert von mehr als 10.000 livres (SklavInnen, Plantagen, Häuser, Möbel etc.).97 Die vier Brüder Larcher etwa besaßen gemeinsam ein Vermögen von ungefähr 170.000 livres, das breit investiert war in Stadthäusern, Schiffen, Passagierkanus und mindestens drei Plantagen, die mehr als 90 Hektar Land umfassten.98 Drei der Brüder heirateten freie Frauen of colour, die selbst über reichliche Mittel verfügten oder aus wohlhabenden Familien of colour stammten.99 Louis’ Untersuchung der Notariatsakten, die zwischen 1776 und 1790 abgefasst wurden, zeigen auch auf, welche Berufe von freien People of Colour ausgeübt wurden. In Martinique und Guadeloupe waren freie Männer de couleur von allen öffentlichen und juristischen Ämtern ausgeschlossen; Für Saint Domingue hingegen hat John Garrigus mehrere Mitglieder der sogenannten anciens 92 Ebd., S. 175/76. 93 Ebd., S. 212. 94 Ebd., S. 211. 95 Ebd., S. 195. 96 Ebd., S. 215. 97 Ebd., S. 216. 98 Ebd., S. 216 f. 99

Ebd., S. 217.

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libres de couleur-Eliten vorgestellt, die öffentliche Ämter innehatten.100 Louis’ Ergebnisse für Martinique betreffen 98 Männer und 19 Frauen. Drei der Frauen arbeiteten als Händlerinnen, 15 wurden als Pflanzerinnen aufgeführt und eine arbeitete als Hebamme. 39 der Männer arbeiteten als (Meister-)Zimmermänner und (Meister-)Maurer. 12 Männer arbeiteten als Schneider oder Perückenmacher, vier Männer stellten Seil her, sieben betrieben Fischerei und Seefahrt, vier waren Händler und vier weitere Schlachter. 39 Männer waren als Pflanzer aufgeführt.101 Frauen of colour waren offenbar auch als Näherinnen und als Hausbedienstete in wohlhabenden Haushalten beschäftigt, Louis’ Auswertung umfasst auch einige Testamente, in denen weiße Frauen Geld an Frauen of colour vermachten – um Schulden zu begleichen, häufiger aber als Dank für die geleistete Arbeit.102 Erbschaften zeigen auch enge Beziehungen zwischen etwa freien Frauen of colour und weißen Männern, so vermachten einige Frauen of colour ihr gesamtes Vermögen weißen Männern und/oder benannten sie als Testamentsvollstrecker.103 Eine weitere spezifische Betätigung, die in der gesamten französischen Kolonialgeschichte von freien Männern of colour und freien schwarzen Männern, ebenso wie von Sklaven erwartet wurde, war der Schutz der Kolonie und ihrer Gesetze in den Kolonialmilizen, die notwendig waren, um die französischen Truppen zu unterstützen, aber auch vor Ort die Ordnung zu wahren.104 Diverse Untersuchungen widmen sich den sexuellen Beziehungen zwischen Personen of colour und Weißen, und den vielen Kindern, die aus diesen Beziehungen hervorgingen.105 In den meisten Fällen geht es hier um weiße Männer und Frauen of colour. Louis führt ein sehr prominentes Beispiel an, nämlich den reichen Zuckerpflanzer Joseph Tascher de La Pagerie, der nicht nur der Vater der späteren Kaiserin Joséphine war, sondern auch dreier of colour Töchter na100 Siehe Garrigus, Before Haiti, S. 289. 101 Louis, Libres de Couleur, Annexe XI, S. 330 f. 102 Ebd., S. 239 ff. 103 Ebd. 104 Régent, Frédéric: Armement des hommes de couleur et liberté aux Antilles: Le cas de la Guadeloupe pendant l’ Ancien Régime et la Révolution, in: Annales historiques de la Révolution française 348, 2007, S. 42-56; Bellance, Hurard: La police des Noirs en Amérique (Martinique, Guadeloupe, Guyane, Saint-Domingue) et en France aux XVII et XVIIIè siècles. Matoury 2011; Louis, Libres de Couleur, S. 45 ff. 105 Siehe etwa Régent, Frédéric: Esclavage, Métissage, et Liberté. Paris 2004, Kindle Edition. Cottias, Myriam: Mortalité et créolisation sur les habitations martiniquaises du XVIIIe au XIXe siècle, in: Population 1989/1, S. 55-84.

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mens Elizabeth, Lérice-Marguérite und Félicité, die ihm eine freie „mûlatresse“ namens Marie-Anne Mélanie geboren hatte.106 Dieses Beispiel stammt aus der kolonialen Elite, und Louis lässt keinen Zweifel daran, dass gemischt Partnerschaften und Ehen auf der Ebene der „Petits Blancs“, der „kleinen Weißen“, sehr viel üblicher und akzeptierter waren.107 Diese legitimen und illegitimen Mischfamilien sind von großer Bedeutung, um zu verstehen, wie koloniale Alltagspraxis sich zu strukturellen Vorgaben verhielt. Louis präsentiert jedoch noch weitaus weniger bekannte und möglicherweise erhellendere Resultate basierend auf seiner Analyse der Kirchenbücher dreier Gemeinden im Zeitraum von 1680 bis 1769. Louis fand heraus, dass 54, 85% aller freien Kinder of colour, die in diesen Gemeinden getauft wurden, weiße Patinnen oder Paten hatten. In einigen Fällen wird es sich um Verwandte oder sogar Elternteile gehandelt haben; Louis geht außerdem davon aus, dass es ein Patronage-Klientel-System zwischen Weißen und People of Colour gegeben haben muss.108 Doch Weiße fungierten auch oft als TrauzeugInnen bei Hochzeiten zwischen Männern und Frauen of colour – es sollte somit nicht ausgeschlossen werden, dass zwischen Menschen, die in so großer Nähe und in täglicher Interaktion miteinander lebten, auch Freundschaften entstanden.109 Louis selbst ist angesichts des allgegenwärtigen Rassismus der martiniquaisischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zögerlich bei der Anerkennung solcher Möglichkeiten, obwohl er sie nicht ausschließt. Gleichzeitig betont er, dass gemischte Heiraten vermutlich oft beidseitig auf Zuneigung basierten. All diese Beispiele von Louis’ und Elisabeths Studien zeichnen ein eher „harmloses“ Bild der Beziehungen zwischen weißen Menschen und People of Colour in Martinique. Doch obwohl es in der Praxis (höchstwahrscheinlich) Zuneigung, Freundschaft, Liebe, Fürsorge und Loyalität zwischen Personen of colour und Weißen gab, wurden diese Beziehungen beständig von weißer Seite bestritten und verleugnet. Louis zeigt insbesondere, wie sehr tägliche Interaktionen und Beziehungen von Ambiguität geprägt waren. Ein weißer Mann konnte durchaus eine Ehefrau of colour haben, mit ihr Kinder zeugen und diese aufziehen, ihnen in seinem Testament sein Haus, seine SklavInnen und all seinen Besitz vermachen und dennoch in beständiger Wut auf seinen Nachbarn leben, weil dieser dasselbe tat.110 Dieselben Menschen, die Personen of colour ihre Familie und ihre engsten Vertrauten nannten, waren beständig besorgt um die Erhaltung der weißen Vorherrschaft in den Kolonien. Dies galt besonders für die „Petits 106 Ebd., S. 232. 107 Ebd., S. 241. 108 Ebd., S. 233 ff. 109 Ebd., S. 236. 110 Ebd., S. 243.

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Blancs“, die oft in enger ökonomischer und sozialer Konkurrenz mit Menschen of colour standen – auch wenn man keine ökonomische Durchsetzungskraft besaß, war man immer noch weiß und somit privilegiert, schienen viele „Petits Blancs“ zu denken.111 Bei der Wahrung solcher „weißer“ Privilegien lag besonderes Augenmerk auf Distinktion durch Kleidung; wie in den meisten europäischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts sollten auch in den karibischen Kolonien soziale Ordnungen und Hierarchien durch Kleidung sichtbar gemacht werden, wofür Kleiderordnungen erlassen wurden. Bisweilen jedoch fühlten sich die „Petits Blancs“ als Statusgruppe nicht ausreichend durch diese Kleiderordnungen repräsentiert. Für Guadeloupe berichtet Hurard Bellance: „Im Jahr 1730 bedauerte der Gouverneur La Chapelle, dass es nègres erlaubt war ‚…bürgerliche Kleider [zu tragen] und den négresses feines Tuch, besticktes Musselin und goldenen Schmuck‘, Letztere verachteten die weißen Frauen, deren kleines Vermögen sie zwang sich schlichter zu kleiden“.112 Jenseits von Fragen der Kleidung und der Selbstdarstellung lobbyierten die unteren weißen Bevölkerungsschichten dafür, People of Colour von bestimmten Berufen auszuschließen, etwa Medizin und Chirurgie. 1764 wurde ein entsprechendes Gesetz verabschiedet.113 Hinsichtlich der Zusammensetzung der weißen französischen Kolonialgesellschaft bieten unter anderem die verbleibenden Dokumente, die im Zuge kolonialer Verwaltungswechsel entstanden, einigen Einblick. Als die Briten die Insel 1762/63 für ein Jahr übernahmen, wurden französische Verwaltungsdokumente entweder konfisziert oder übernommen, so etwa eine „Récapitulation des Articles du Récensement“ des Général de l’Isle Martinique für das Jahr 1762. Die hier aufgeführten Spezifikationen der weißen Bevölkerung führen 1609 waffentragende Männer an, 1871 waffentragende Jungen, 1848 Jungen von unter 14 Jahren, 175 „Gentils Hommes“, 276 Männer, die „Exempts et Privilégiés“, 489 Männer, die alt und kränklich waren; 1494 Frauen, 551 Witwen (eine interessante Distinktion), 1897 Mädchen im heiratsfähigen Alter und 1636 Mädchen von unter 12 Jahren.114 Diese Zahlen bieten zwar einen Referenzpunkt, sagen aber fast gar nichts aus. Vermutlich etwas zuviel Aussage bietet hingegen die folgen-

111 Louis, Libres de Couleur, S. 244. 112 Bellance, La police des Noirs, S. 227: „le gouverneur La Chapelle regrettait qu’on permît aux nègres de porter „des habits bourgeois et les négresses des toiles fines, mousseline brodée et des bijoux d’or ‚…celles-là méprisant les Blanches que leur peu de fortune obligeait de se vêtir plus simplement, ceux-là se montrant‘ insolents“. 113 Louis, Libres de Couleur, 244. 114 The National Archives, Public Record Office, CO 166/2, 149.

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de Typologie der zugereisten weißen Männer, die ein Soldat namens Blanchard 1778 in einem Brief an seinen Onkel verfasste. „Mehrere Arten von Männern kommen hierher, alle mit ihren eigenen Merkmalen. 1. Es kommen Männer von hohem Adel in der Absicht, sich günstig mit Witwen oder Erbtöchtern zu verheiraten, diese sind erfolgreich aufgrund der Schwäche, welche die Kreolinnen für diesen Stand haben. 2. Einige kommen per Lettre de Cachet! [d.h. auf Anordnung des Königs, in diesem Fall einer Verbannung ins Exil] diese sind zufrieden damit, von einer Plantage zur nächsten zu reisen, um die Zeit ihres Exils angenehmer zu verbringen, manchmal gelingt es ihnen, geliebt zu werden, manchmal gehasst, in welchen Fällen es ihnen elend geht und sie auf nichts weiter hoffen können als reichlichen Ärger. 3. Andere kommen hierher, Seeleute; wenn einmal einer hierbleibt, dann nur, nachdem er herausgefunden hat, dass er etwas Besseres tun könnte als Seefahrt. Wenn er sich darin getäuscht hat, kehrt er zu seinem vorigen Zustand zurück! Er macht keine Fehler. 4. Es kommen auch die, welche aufgrund eines einfachen Berichts von jemandem, dass Vermögen zu machen sei auf den Inseln, ohne Überlegung herkommen; das verkaufen, was von ihrem Vermögen geblieben ist, um eine kleine Pacotille zu machen [eine pacotille war ein Bündel oder eine Kiste mit aus Europa mitgebrachten Waren, die Neuankömmlinge in der Karibik verkauften, um sich über Wasser zu halten, bis sie ein Einkommen gefunden hatten]; sie bilden sich ein, sie bräuchten nicht mehr als das, um wohlhabend zu werden [...] sie irren sich, und sie verlieren sich selbst; sie neigen nicht zu einem sehr ordentlichen Benehmen [...] 5. Manche kommen auch aus Zwang hierher, nämlich in der Armee. Ich gehöre zu dieser Zahl“.115

115 HCA 30/285, Blanchard, Fort Royal, Martinique, an M. Lasson, Carcassonne, 15.05.1778: „Il vien ici de pluzieure especes d’hommes chacun avec leur geny particulier. 1e. Il vient des homes d’une grande Noblesse dans l’intention de faire des bons etablissements avec des veuves ou filles uniques, a coup sur ceux la reusssissent a cause de la fatuité du créole pour cest etat. 2e. Il y en vient par letres de Cachet! Ceux la ce contentent de voyager d’un habitation a l’autre pour passer le temps de leur Exil plus agreablement, quelque foix ils se font aimer, et quelque fois aïr, dans se dernir cas ils sont miserables et n’ont plus rien a esperer, que beaucoup d’ennuy. 3e. D’autre passent icy, Marins, sil y en a quelqu’un qui Si arête ce ne sera qu’àpres qu’il aura vu de pouvoir faire quelque chose de mieux que de continuer sa Navigation, S’il s’est trompé, il reprend son Encien Etat! Celluy la ne menque pas. 4e. Il y empsse [en passent] aussi qui, sous un simple raport de quelqu’un, que l’on fait fortune aux Isles, Viennent sans reflexion, vendent ce quils peut leur rester de Patrimoine pour faire une petite pacotille ils simaginent qu’il ne faut que cella pour aller de l’avant [...] il ce trompent et ils se perdent, s’ils ne sont pas doué d’une con-

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Blanchard beschrieb ausführlich die Situation der Soldaten in der Karibik, die in seiner Darstellung alle mit dem ernsthaften Wunsch zu dienen in den Kolonien eintrafen, dann aber der Langeweile und Faulheit überlassen wurden, was sie entweder krank machte oder unehrlich werden ließ. Anscheinend plante Blanchards Onkel, einen seiner eigenen Söhne in die Karibik zu schicken, und hatte Blanchard um seine Meinung hierzu gebeten. Blanchard wiederum schrieb, es sei nicht sein Ziel, den Onkel von diesem Plan abzubringen; er wolle ihn lediglich dazu veranlassen „die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen“116 zu treffen. In der Tat waren viele der BriefschreiberInnen, die in den folgenden Kapiteln auftauchen werden, Soldaten, die ein paar Jahre in den Kolonien verbrachten, bevor sie wieder nach Frankreich zurückkehrten. Andere waren SiedlerInnen, die in die Kolonien reisten in der Hoffnung, sich entweder selbst als ZuckerpflanzerInnen etablieren zu können, oder aber auf einer der bereits bestehenden Plantagen Arbeit zu finden. Wer seine eigene Plantage gründen wollte, musste riesige Kredite aufnehmen, um Land, Ausrüstung und SklavInnen zu finanzieren; und konnte dann nur hoffen, dass der Boden fruchtbar, das Wetter milde und die SklavInnen gesund bleiben würden.117 Erfolg war alles andere als sicher, wurde aber fieberhaft gejagt: Ein Monsieur Larcheveque erklärte, er sei dankbar, nicht „vom Ehrgeiz gequält“ zu werden, der „den größten Teil derjenigen verzehrt, die hier herkommen“.118 Wieder andere kamen, um ihr Glück bei den Handelskompanien und kleineren Firmen zu versuchen, oder auch als Verwaltungsangestellte. Oft war ihnen kein Erfolg beschert, denn die koloniale Wirtschaft bot trotz ihres Booms nicht viele „Jobmöglichkeiten“ für junge weiße Europäer. Es bot sich an, vor der Reise eine Position zu sichern. In der HCA-Sammlung finden sich Beispiele von Weißen, die nach gescheiterten Ansiedlungsversuchen obdachlos geworden waren. Im Februar 1756 schrieb ein Mann mit dem passenden Namen Rivière aus Saint Domingue an seinen Vater in Bordeaux, er habe der Kolonie „die Blüte seiner Jugend geopfert“ und müsse nun als wandernder Händler herumziehen: „Daher werden Sie leicht einsehen, mein lieber Vater dass, da ich in

duit des plus regulieres [...] 5e. Il y en vient aussi par force. Je veux dire dans la troupe; je suis de se nombre“. 116 Ebd. 117 Dubois, Avengers, S. 19. 118 HCA 30/279, Thibaud Larcheveque, Saint Domingue, an seine Cousine Victoire Bernard, Toulouse, 06.07.1778: „tourmenté de l’ambition qui dévore la plupart de ceux qui y viennent“.

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den Bergen herumziehe und wandere, ich Ihnen nicht so häufig und bequem werde schreiben können, als wenn ich einen festen Wohnort hätte“.119 Laurent Dubois präsentiert diverse Beispiele weißer Armut in Saint Domingue, unter anderem beschreibt er, wie „[i]n 1776, one observer noted the „great misery“ of many whites on the island and opined that those who came to the colony with no useful skills were likely to end up dead on the side of the road. This was the fate of one „unknown white man, aged 14 or 15, without a beard“ who was found by police in 1779; a surgeon determined that he had died of misère – poverty – and he was buried anonymously in a local graveyard“.120 Geschichten wie diese werfen die Frage auf, wie es um Systeme der Fürsorge oder Almosen unter den weißen SiedlerInnen in Saint Domingue stand. Tatsächlich zeigte sich Moreau de Saint-Méry besonders erstaunt angesichts des scheinbar vollständigen Mangels an Gemeinschaftsgefühl unter den weißen BewohnerInnen. Moreau de Saint-Méry schrieb, viele habitants führten mehr oder weniger isolierte Leben, interessierten sich nicht für die Angelegenheiten anderer und fänden auch kein Vergnügen an der Gesellschaft ihrer Mitkolonisten.121 Dem kann jedoch auf Basis der HCA-Briefe zumindest für einige Gegenden der Kolonie widersprochen werden. Ein Beispiel ist das Quartier St. Marc, wo im November 1778 eine Frau namens Allaire, die erst kürzlich mit ihrer Familie in der Kolonie eingetroffen war, innerhalb weniger Wochen ihren Vater, ihren Bruder, ihren Sohn und ihre Magd an eine Krankheit verlor und nun als einziges verbliebenes Mitglied der Familie auf der Allaire-Plantage lebte. Ihre traurige Situation wurde in mehreren Briefen anderer BewohnerInnen diskutiert. Diese Briefe zeigen deutlich, dass es eine Gemeinschaft gegeben haben muss, in der man einander kannte oder zumindest in der Lage war, Personen in Beziehungsnetzwerke einzuordnen; und wo man sich durchaus füreinander interessierte. Nachrichten wie der Tod des Kommandanten Allaire und seiner Familie reisten quer durch das Quartier. Monsieur Bartholomé in Montrouis etwa schrieb an seine Mutter in Frankreich: „Meine Tante Batailleund ihr Ehemann senden Dir ihre Freundschaft [...] sie haben gerade M. Allaire verloren, der innerhalb von 3 Tagen gestorben

119 HCA 30/260, Rivière an seinen Vater in Bordeaux, 02.02.1756: „ainsy vous voyes bien mon tres cher pere quetans ainsy erant et vagabond dans les douples montagnes ie ne pouray vous ecrire si souvent ny si comodement que si javois un lieu fixe“. 120 Ebd., S. 20, Herv. i.O. 121 Moreau de St Méry zeigte sich angenehm überrascht von der Gemeinde Torbec, deren Bewohner sich offenbar gerne in einem Pflanzerclub trafen. Moreau de St Méry, S. 699. Auch Garrigus, Before Haiti, S. 28.

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ist, nachdem er 3 Monate im Land war“.122 In Saint-Marc schrieb der Kreole M. Gal an seinen Cousin „M. Gal l’Américain: „Der neue Kommandant, den wir seit 8 Tagen hatten, M. Allaire, ist gestorben, ebenso wie sein Sohn, Enkel, und [seine] Magd, & seine Tochter [...] ist in keiner komfortablen Situation“.123 M. Gal, als ausgewiesener Kreole, kann durchaus ein Mann of colour gewesen sein – er war in jedem Fall vernetzt innerhalb der Gesellschaft von St. Marc. Wenn man berücksichtigt, dass all diese Briefe nach Europa gesandt wurden, muss angenommen werden, dass Kommunikation über Gemeinschaftsereignisse innerhalb der Kolonie noch weitaus häufiger und weitgefächerter stattgefunden haben muss. Bartholomé etwa bezieht sich hier auf einen Brief seiner Tante Bataille, die andernorts innerhalb des Quartiers lebte. In jedem Fall bestand offensichtlich mehr Austausch unter den BewohnerInnen von Saint-Domingue, als Moreau de Saint-Méry wahrnehmen konnte oder wiedergeben wollte. Und mit diesen relativ optimistischen Einschätzungen beginnt nun die tatsächliche Untersuchung der Briefe.

122 HCA 30/305, Bartholomé an seine Mutter in Frankreich, 25.12.1778: „Ma tante Bataille et son mary vous font leur amitié ils se portent fort bien ainsique Bartholomé suivant les nouvelles que j’en ay quelquefois. Ils vienent de perdre M. Allaire qui est mort en 3 jours apres 3 mois d’arrivée au pays“. 123 HCA 30/305, Gal, St Marc, Saint Domingue, an Gal l’Américain in Marseille, November 1778: „notre nouveau comendant de 8 journe M allaire est moirt ainsi que son fils petit fils & sa femme de chambre, & sa fille [...] n’est pas a son aise“.

Die Karibik von zu Hause betrachtet

Die Untersuchung beginnt dort, wo die meisten Reisen in die Karibik ihren Anfang nahmen: In Frankreich. Viele der Briefe, die im Folgenden untersucht werden, nehmen direkt Bezug auf Schreiben, welche die Verfasser zuvor aus Frankreich erhalten hatten, und referieren auf diskursive/praktische Gewissheiten, welche sich in den französischen Gesellschaften mit Blick auf die Karibik entwickelt hatten. Briefe aus Frankreich waren somit aufgeladen mit Sorge und Angst um die AdressatInnen in der Karibik; aber auch mit Erwartungen bezüglich des Reichtums, der in den Kolonien ja nicht lange auf sich warten lassen würde – und den die AdressatInnen dann selbstverständlich mit ihren Angehörigen zu Hause teilen würden. Letzteres provozierte oft erboste Reaktionen. Monsieur Tamisier etwa fand deutliche Worte, um seinen Vater von dessen unrealistischen Erwartungen zu befreien. „Erweise mir den Gefallen, Dich in meine Position zu versetzen, die recht unangenehm war“1, begann er, und schrieb dann von sich selbst in der dritten Person: „Hier ist ein junger Mann ohne jede Erfahrung von der Welt, ohne Talent, so unwissend wie jemand, der noch nie sein Heim verlassen hat; die Vorstellungskraft erhitzt von einigen Geschichten, die er gehört hat von den Reichtümern, die in Amerika im Handel zu holen sind; er macht sich auf in dieses Land, in dem gebratene Wachteln vom Himmel fal-

1

HCA 30/310, Tamisier an seinen Vater, Juni 1779: „Faites moy la grace d’entrer dans ma situation, elle etoit un peur scabreuse – nachfolgendes Zitat – C’est un jeune homme ‘sans experience du monde, sans talent, neuf comme quelqu’un qui n’est jamais sorti de chés luy, L’imagination chauffée de quelques contes qu’il ented faire des fortunes qui se sont faites dans l’Amerique, par le commerce, il part pour ces pais la, ou les Cailles tombent roties, il arrive sans aucune teinture de commerce, au lieu des cailles roties, il ne trouve seulement pas du chardon“.

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len; er trifft ein ohne jegliche Kenntnis vom Handel, und anstelle gebratener Wachteln findet er lediglich Disteln“.2

Auch ein gebürtiger Kreole namens Parent, der nach langen Jahren in Frankreich wieder in seine Heimat zurückgekehrt war, schrieb: „In den fünfzehn Monaten, die ich in diesem Land verbracht habe, hat meine immense Beschäftigung meine alten Freunde glauben lassen, dass ich sie vergessen habe; denn hier ist es nicht dasselbe wie in Frankreich, von morgens bis abends muss man auf den Füßen sein, schreien, poltern, fluchen“.3 Von Frankreich aus konnten die Kolonien zwar durchaus – wie einst dem jungen, naiven Tamisier – als eine Art Schlaraffenland erscheinen, indem man sich vorsehen musste, nicht von den gebratenen Wachteln erschlagen zu werden. Aber für die meisten Französinnen und Franzosen bestand auch kein Zweifel daran, dass man sich für diese Reichtümer unzähligen Krankheiten und einer Gesellschaft voll Promiskuität und Gewalt aussetzen musste. Wenn Briefe aus der Karibik ausblieben, hing dies somit vermutlich mit einem dieser Aspekte zusammen. Als Marie Bougarelle lange keine Nachricht von ihrem Mann Barnabe erhalten hatte, der mit seinem Schiff „Pallas“ in Saint Domingue sein sollte, schrieb sie: „Ich weiß nicht, was ich von Dir denken soll, ob Du krank bist oder mich im Stich gelassen hast oder beides, doch die Güte, die ich von Dir erbitte, ist, dass Du mir schreibst“.4 Das Ehepaar de Furenne hatte mindestens zwei Söhne im Régiment d’Auxerrois, das in Martinique stationiert war. Auch sie baten dringend um Briefe von ihren Kindern: „wenn Ihr uns von unserer Angst befreien wollt, [müsst Ihr] uns häufig Nachricht senden, denn das ist ein wahrer Trost für uns, es gibt gar keinen größeren als zu erfahren, was Ihr in diesem unglücklichen Land macht, in dem Ihr lebt. Und kein Tag vergeht, ohne dass wir uns wünschen, Ihr kehrtet nach Frankreich zurück“.5 2

Ebd.

3

HCA 32/313, n. 97, Parent, Moustique, an seinen Freund in Frankreich, April 1778: „depuis quinze mois que je suis dans ce pays ci mes grandes occupations ont fait croire a mes anciens amis que je les avois oublié car ici on ‘en est pas de méme qu’en France il faut que du matin au soir l’on soit aux pieds a crier a t’empêter a jurer“.

4

HCA 30/265, Marie Bougarelle, Marseille, an ihren Ehemann Barnabe in Saint Domingue, 26.10.1757: „Je ne scayt pas ses que me maginer de vous syt vous ette malade ou syt mavee abandonne tous a la foy mes la grace que je vous demande et de mes Crire“.

5

HCA 30/310, Ehepaar De Furenne in Vitaux en Champagne an ihre Söhne in Martinique, 07.01.1779: „si vous voulez nous tirer de nos inquietudes c’est de nous donner de vos nouvelles très souvent, car c’est une vraie consolation pour nous et meme nous

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Ein M. Montlevin, der offenbar schon selbst in der Karibik gewesen war, war so entsetzt darüber, was sein Bruder ihm von seiner Gesundheit berichtete, dass er ankündigte, Maßnahmen ergreifen zu wollen. „Was Sie mir von dem furchtbaren Zustand Ihrer Gesundheit berichten, erschreckt mich so sehr, dass es mir unmöglich sein wird, auch nur einen Moment des Friedens zu genießen, so lange ich Sie in diesem Land weiß, Sie mögen ruhig versuchen, mich zu beruhigen, Sie werden keinen Erfolg haben“.6 Montlevin war ganz und gar nicht einverstanden damit, wie sein Bruder für seine Gesundheit sorgte, weil dies „mich fürchten lässt, dass Sie die einzige Möglichkeit, sich dem [schlechten Gesundheitszustand] zu entziehen, vernachlässigen. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich Sie verlassen habe, es scheint mir, dass ich Sie, wäre ich in diesem Land gewesen, in der Entscheidung bestärkt hätte, es zu verlassen, sobald Ihre Gesundheit sich verschlechterte und eine Klimaveränderung absolut notwendig für Sie wurde“.7

Montlevin bot daraufhin mehrmals an, selbst in die Karibik zu kommen, um seinen Bruder zu unterstützen. Während nicht geklärt werden kann, ob Montlevin hierzu tatsächlich bereit gewesen wäre, zeigt der Brief doch eine der Schwierigkeiten, mit der die Angehörigen daheim konfrontiert waren: Sie mussten darauf vertrauen, dass ihre Freunde und Verwandten tatsächlich gut für sich selbst sorgen würden. Dies fiel vielen schwer. Monsieur Gouraud aus Nantes wusste nicht einmal genau, wo in den Kolonien sein kleiner Bruder sich aufhielt – er adressierte seinen Brief schlicht an M. Gouraud ‚aux Illes‘, auf den Inseln. In dem Schreiben warnte er seinen Bruder nachdrücklich, ja gut auf seine Gesundheit acht zu geben und sich von den Grenzen seiner körperlichen Kräfte, die ihm bekannt waren, leiten zu lassen: „Ich bitte Dich, mein lieber kleiner Bruder, Dich n’en avons pas de plus grande que d’apprendre ce que vous faites dans ces malheureux pays que vous habitez. Et il n’y a pas de jours que nous ne desirions votre passage en france“. 6

HCA 30/244, Montlevin (?), Villeneuve an Montlevin (?), Saint Domingue, 24.07.1747: „Le detail que vous me faittes de lafreux etat de votre santé macable au point qu’il me sera impossible de iouir dun moment de tronquilité tant que ie vous sauray dans ce pais la vous aves beau tacher de me rassurer vous nen viendres pas a bout [...] [Qui] bien loin de me donner des esperances me fait craindre que vous ne negligies le seul moyen que vous ayes pour vous en tirer [...] ie me reproche de vous avoir quite, il me semble que si iavois etté dans ce pais la ie vous aurois determine a en partir des que votre santé commensoit a safoiblir et que le changement de climat vous ettoit absolument necessaire“.

7

Ebd.

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gut zu schonen, Du kennst Dein Temperament8 welches recht empfindlich ist, also lass Dich nicht gehen wie die jungen Leute in diesem Land, Du weißt dies besser als ich selbst“.9 Mme Desponeis aus Bayonne gab ihrem Sohn denselben Rat und betonte, wie wichtig seine Gesundheit für sie war. Sie erzählte ihm, es sei die „Freude meines Herzens, zu hören, dass das Klima keine Last für Dich ist, ich denke, wenn man weiß, wie man sich zu schonen hat, ist das ein Mittel um keiner auszehrenden Krankheit anheim zu fallen; nichts liegt mir so sehr am Herzen, mein lieber Sohn, wie Deine Gesundheit; Ich bete leidenschaftlich jeden Tag zum Herrn, dass er sie erhalten möge, hierauf ist all mein Streben gerichtet“.10

Alle Beteiligten waren sich bewusst darüber, dass die Entwicklung der Körpergesundheit in der Karibik unberechenbar war; das einzige, was dem Klima, dem unbekannten Essen und den bedrohlichen Krankheiten entgegengesetzt werden konnte, waren Mäßigung und ein sorgsamer Umgang mit dem eigenen Körper. Angehörige in Europa mussten darauf vertrauen, dass ihre oft dringlichen Ratschläge tatsächlich befolgt wurden; dass die AdressatInnen den Schutz ihrer eigenen Gesundheit nicht zugunsten von Reichtums-Akkumulation durch harte Arbeit vernachlässigen würden – und dass sie sich angesichts der Vergnügungen, welche die Kolonie ihnen offerierte, zurückhielten. Das in Mme Desponeis’ Brief entworfene Szenario, demzufolge es zu ihrer Hauptaufgabe geworden war, für die Gesundheit ihres Sohnes zu beten, vermittelte Letzterem nicht nur ihre Zuneigung, sondern verpflichtete ihn auch, ihr „Opfer“ angemessen zu ehren, indem er sich so gut schonte, wie es ihm möglich war. Als M. Lavignolle nach St. Domingue kam, um dort den Beruf des Plantagenverwalters zu erlernen und 8

Die VerfasserInnen der hier untersuchten Briefe hatten unterschiedliche Verständnisse von „Temperament“ – der Zusammenhang mit der humoralen Verfassung des Körpers stand mal mehr, mal weniger im Vordergrund.

9

HCA 30/244, Goraud, Nantes, an seinen Bruder ‚aux illes‘, 20.12.1746: „ie te prie mon cher petit frère de vous bien ménage vous connoissé votre tanperament quiest bien delicat ne vous donné donc pas comme les jeune gens dans ce païs vous savez mieux que moy“.

10 HCA 30/244, Mme Desponeis, Bayonne, an M. Desponeis, Cap, Saint Domingue, 18.07.1747: „la ioy de mon Coeur daprandre que le climat ne vous est pas cose dincomite ie panse que des que lon cet ce menage que cet un moyen de ne poient tomber dan de facheuses maladies rien ne me tient tan a Coeur mon cher fils que votre santé ie prie tous les iours avec ardeur le seigneur qui vous la mentiene toute mon anbission ce borne la“.

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die Plantage eines M. Laborde zu betreuen, war sein Freund Alexis Nogué aus Bayonne besorgt, er könnte die Bedürfnisse seines Körpers vernachlässigen in dem Bestreben, seine neue Arbeit zu erlernen. In Kombination mit den Versuchungen der Kolonie würde dies gefährlich werden: „Ich fürchte, dass dieser große Wunsch, den Sie hegen, mit allem in kurzer Zeit vertraut zu sein, Sie die Sorge und Schonung vernachlässigen lässt, die Sie gegenüber Ihrer Gesundheit tragen müssen; Sie wissen, mein lieber Freund, wie gefährlich es ist, in dem Land, in dem Sie leben, unter Anstrengung und beständig zu arbeiten; also mäßigen Sie sich bitte ein wenig in Ihren Tätigkeiten und versuchen Sie, sich zu erhalten, [hüten Sie sich vor] den Fallen des Lasters, die überall nur zu reichlich vorhanden sind, und besonders in Amerika“11.

Schonung und Mäßigung angesichts der Versuchung sind wiederkehrende Themen in Briefen, die aus Frankreich in die Karibik gesandt wurden, was zeigt, dass die Kolonien auch als Orte wahrgenommen wurden, wo jederzeit ungezügelte (und eindeutig unmoralische) Vergnügungen jeder Art zur Verfügung standen, was zur generellen Gefährlichkeit der Region beitrug. Die Marquise de Caylus etwa war besorgt um die Gesundheit ihres Ehemanns – ähnlich wie Nogué sorgte sie sich um die Vergnügungen, die sich ihrem Mann in der Karibik darboten: „[A]lles, was mich trösten könnte, [wäre] zu wissen, [dass Du]bei bester Gesundheit bist; mir vorzustellen, dass Du Gewinn aus diesem verfluchten Land ziehst, dass Du Dich amüsierst; Ich würde sogar fürchten, dass dies im Übermaß geschieht, was mir unter uns ein wenig Eifersucht beschert, da ich gehört habe, dass es dort einige bezaubernde Weiße gibt“.12

11 HCA 30/285, Nogué, Bayonne, to Lavignolle, Saint Domingue, 06.08.1774: „je crains que ce grand desir que vous avez de vous metre au fait en peu de tems, ne vous fasse trop negliger le soin et le management que vous devez avoir de votre santé; vous savés mon cher ami, combien il est dangereux dans le pays que vous habitez, de faire un travail forcé et continuel, ainsi de grace aporté un peu de moderation dans vos occupations, et tachés de vous conserver“. Nogué erinnerte seinen Freund weiterhin daran, strenge Selbstkontrolle auszuüben, um sich zur schützen vor „des pieges du vice qui ne sont que trop abondants par tout et particulierement à l’amerique“. 12 HCA 30/244, Marquise de Caylus, France, to Marquis de Caylus, Martinique, 10.12.1746: „tout ce qui poure me consolé cestes de te savoir en parfaitte santé memaginant que tu tiré party de cemody pey que tu tamuges je crenies maime que cela

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Die Marquise hatte offenbar einige Geschichten kolonialer Libertinage gehört – dass sie allerdings davon ausging, ihr Mann könne sich nur für die „bezaubernden Weißen“ in der Karibik interessieren (und nicht etwa für die sonst zentral als Objekt der Begierde verhandelte „mûlatresse“13), ist aufschlussreich, offenbar waren nur ausgewählte Erzählungen aus der Karibik an das Ohr der Marquise gedrungen, was wiederum nahelegt, dass auch 1744 die Vorstellung einer „gemischten“ Libertinage eine größere Grenzübertretung darstellte als koloniale Libertinage an sich. Wenn also die Marquise de Caylus, Mme Desponais und die Herren Goraud und Nogué von Vergnügungsmöglichkeiten wussten, die in der Karibik herrschten, kann davon ausgegangen werden, dass die Männer und Frauen, die tatsächlich dorthin reisten, hiervon ebenfalls gehört hatten bzw. vor Antritt ihrer Reisen entsprechend gewarnt worden waren. Somit werden Neuankömmlinge nicht nur mit Angst, sondern auch mit Neugier, möglicherweise freudiger Erwartung in der Karibik eingetroffen sein – beide Aspekte werden im folgenden Unterkapitel beleuchtet.

ne fut avec exces ce qui me coges entre nous un peut de jalougis [...] entant du dire quil ly aves des blanche charmant“. 13 Siehe auch: Ze Winter, the Mulata concubine.

Die Ankunft in der Karibik

Am 17. August 1778 schrieb der älteste Sohn des Marineleutnants de Bideron vergnügt aus Fort Royal, Martinique: „Mein sehr lieber Vater, ich schreibe diesen Brief, um Ihnen mitzuteilen, dass ich bei guter Gesundheit im Fort Royal angekommen bin, dass es mir die ganze Passage über gut ging, dass ich während der gesamten Reise nicht krank geworden bin,, und ich berichte Ihnen, dass ich mich während der Reise gut amüsiert habe“.1

Auch wenn nicht alle Reisenden eine so angenehme Passage erlebten wie der junge Bideron, zeigten sich doch die meisten BriefschreiberInnen recht zufrieden. Wenn das Wetter milde war und sie nicht erkrankten, gab es wenig Grund zur Klage, abgesehen von der Angst vor englischen Schiffen, die am Horizont auftauchten. Für alle die selbst reisten oder Angehörige und Freunde auf See wussten, war Letzteres der zentrale Besorgnisfaktor. Eine anonyme ältere Dame aus Anse Bertrand auf Guadeloupe schrieb besorgt an ihre Tochter, die zusammen mit ihrem Ehemann und ihrem kleinen Kind auf dem Weg nach Frankreich war. Die Mutter berichtete von ihrer „Sorge um Dein Schicksal, sie ist unglaublich; es ist eine Tochter, es ist ihr Ehemann, es ist ihr Kind, die ich mir beständig auf einer langen Passage vorstelle; unbequem in ihrer Unterbringung, seekrank, beständig in Sorge um Kaperungen, Kämpfe, schlechtes Wetter“.2 Diese Ängste

1

HCA 30/287, Bideron an seinen Vater, 17.08.1778: „Mon très cher pere je vous ecris cette lettre pour vous apprandre que je suis arrivé au ford royal an bonne santé et que je me suis bien porté toute la route et que je ne suis pas étté malade de tout le voyage et vous mande que je me suis bien amusé tout le voyage“.

2

HCA 30/345, anonyme Frau, Anse Bertrand, Guadeloupe, an ihre Tochter, 26.10.1780: „inquietude sur vos sort cest incroyable cest une fille, cest son mary, cest son enfans, que je me presante sans cesse dans une traversee Longue mal alaise pour

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waren nicht unbegründet, die körperliche Belastung einer langen Seereise nicht zu unterschätzen. Als Baudelle Ruste nach („nur“!) 32 Tagen an Bord auf Martinique eintraf, berichtete sie ihrer Freundin Mme Baux in Marseille erschöpft, sie habe „stets sehr gutes Wetter gehabt, doch da ich alles an Seekrankheit erlitt, was zu erleiden möglich ist, hatte ich keinen Moment der Ruhe und habe während der gesamten Reise fast gar keine Nahrung zu mir genommen, glücklicherweise ist all mein Leiden verschwunden dank der Freude, die ich bei meiner Ankunft verspürt habe“.3

Baudelle Ruste schrieb an mehrere Freunde und Freundinnen, sowie an ihren Arzt in Frankreich und berichtete von ihrer sicheren Ankunft und der schrecklichen Seekrankheit, die sie erlebt hatte. Unter anderem schrieb sie „Ich habe nicht einen einzigen Tag aufgehört, mich zu übergeben“. Interessanterweise enthalten die meisten dieser Briefe eine kurze, beigefügte Botschaft ihres Ehemanns, die von Baudelles Ankunft „in der bestmöglichen Gesundheit, [mit] einem bezaubernden embonpoint, und fett wie ein kleines Wollknäul“4 berichtet. Somit hätte die Leserschaft auf der einen Briefseite von Baudelle Ruste selbst erfahren, wie schlecht es ihr ergangen war, nur um auf der nächsten Seite von ihrem Ehemann zu lesen, dass es ihr besonders gut ging. Es stellt sich die Frage, ob die Eheleute hier in ihren Interpretationen von Baudelles Körpererfahrungen tatsächlich voneinander abwichen – oder ob Monsieur Ruste einfach nicht gesehen hatte, dass es Baudelle schlecht ergangen war, weil all ihr „Leiden verschwunden“ war bei der Freude, terra firma zu betreten? In jedem Fall war es nicht nur die Seekrankheit, die dem reisenden Körper ernsthaft schaden konnte, sondern auch die Angst vor den Gefahren der Überfahrt. „Die Unruhe auf dieser Überfahrt hatte mich verstört“, schrieb ein anonymer Mann an seine Frau, „doch Gott sei Dank behielt die Stärke meines Temperaments die Oberhand, und ich bin nun so gesund, wie ich es war, als ich Frankle logement malade de la mer, des inquietude sans cesse pour des abordages, pour des combat, pour des mauvais temps“. 3

HCA 30/287, Mme Ruste, Saint Pierre, Martinique, an Mme Baux, Marseille, 10.08.1778: „toujours eu très baud tems mais ayans soufert tous ce quil est possible de soufrir par la maladie de la mer je n’ai pas eu un instans de relache et n’ai presque point pris de nourriture pandant tous le voyage heureusement que toute mes soufrances ont disparue par le plaisir que j’ai eprouvé en arivans“.

4

HCA 30/287, Ruste an Mme Gourmand, Nîmes, 16.08.1778, in: Baudelle Ruste to Mme Gourmand, Nîmes, 10.08.1778: „dans la meilleure santé possible, un embonpoint charmant, et grasse comme un petit peloton“.

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reich verließ“.5 Für diesen Briefschreiber war die Stärke seines Temperaments schlicht ein Glücksfall und kein Zeichen besonderer Tugend oder Leistung – er profitierte von der „Natur“ seines Körpers, die ihn davor bewahrte, seinen eigenen Ängsten zu Opfer zu fallen. Der Verfasser des folgenden Briefs – ein Mann mit dem wunderbar passenden Namen Salmon – wählte einen etwas humorvolleren Weg, um seinem Bruder diese Ängste zu vermitteln: „Ich bitte Dich, mein lieber Bruder, Dir keine Sorgen um mein Los zu machen. Es geht mir gut; Es fehlt mir nichts als Wäsche und ein Hut, denn in diesem Sturm fiel er ins Meer, obwohl er gut befestigt war. Ich glaubte durchaus, er würde mir den Weg bereiten für meine Ankunft auf dem Meeresgrund, doch er schwamm besser, als ich es vermocht hätte“.6

Die Hut-Erzählung erlaubte es Salmon, seinem Bruder zu berichten, was er im Sturm gefürchtet hatte – der halb-symbolische, halb Leitmotiv-Hut war über Bord gegangen, und Salmon war sich sicher gewesen, der Hut würde auf dem Meeresgrund enden, ein Schicksal, das er auch für sich selbst erwartet hatte. Von den oben genannten Ängsten bleibt noch die, von den Engländern gekapert zu werden – und allein die Existenz der hier zitierten Briefe zeigt, dass diese Angst sehr berechtigt war. Viele Menschen bemühten sich, Seereisen in Kriegszeiten gänzlich zu vermeiden. Doch nicht nur war dies manchmal unvermeidlich – die langen Reisewege von Kriegs- und Friedenserklärungen sorgten auch dafür, dass Reisende vermeintlich in Friedenszeiten losfuhren, nur um sich dann überraschend in der Mitte eines Scharmützels wieder zu finden. So warnten etwa viele Briefe im Sommer 1778 vor dem anstehenden Kriegsausbruch, und diverse BriefschreiberInnen baten ihre Freunde und Angehörige inständig, geplante Karibikreisen zu beschleunigen, um der Kapergefahr zu entgehen. Doch Frankreich lag bereits seit März dieses Jahres offen mit England im Krieg, und die Briefe mit den Warnungen wurden selbst von britischen Kaperern abgefangen. Die Risiken, die mit den vielen Seekriegen des 18. Jahrhunderts einhergingen, mit den Unannehmlichkeiten und Krankheiten und dem schlechten Wetter 5

Ebd.: „Linquietude dans ce voyage mavié derange mais Grace au seigneur Laforce de mon Temperamant a Eu de dessus E Jeme porte aussibien a present que lors que je suis party de France“.

6

HCA 30/285, Salmon, Martinique, an seinen Bruder in Frankreich, weder Datum noch Ortsverweis: „Je vous pries mon cher frere de ne point vous inquieter de mon sort. Je suis Biens rien ne me manque que le linge et un chapeau car de cette tempete quoique bien atache il tomba dans la mer. Je croyet bien quils alloit preparer les vois pour mon arrivee au fond de la mer mais il nageoit mieux que je naurais pus faire“.

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ängstigten Passagiere. Doch diese Faktoren fielen kaum ins Gewicht verglichen mit der Angst vor Piraten. Ein Mann (möglicherweise ein Kapitän) namens Cassaigne erreichte gewissermaßen das „Gefahren-Bingo“, als er sich während einer Reise von Bordeaux nach Saint Domingue nicht nur mit Krankheit und schlechtem Wetter, sondern mit auch Engländern und Piraten auseinandersetzen musste: „Als ich zuerst von Bordeaux in See stach [...] begann ich krank zu werden, und war es einige Tage später noch mehr, angesichts dessen, wie ich die See erlebte, die recht rauh war, und um dem Unglück die Krone aufzusetzen [...] stellte ich fest, dass ich von einer englischen Fregatte gejagt wurde, was dazu führte, dass der Großmast [...] zerbrach unter zu vielen Segeln, die gehisst waren; all dieses wäre nichts gewesen, wenn niemand gestorben wäre, doch waren in dem Moment, als der Mast brach, zwei Matrosen dabei, das Bramsegel festzubinden; von denen einer auf die Brücke fiel, ohne sich zu verletzen, und der andere im Meer ertrank, ohne dass [einer von uns] ihm hätte helfen können, obwohl er recht gut schwamm; ich überlasse es Dir, Dir vorzustellen, wie meine Lage war, angesichts von: Einem gebrochenen Mast! Taue, die hier & dort herumschwammen, die Schreie, Ruderer, das Schiff, das das Spielzeug der Strömungen und Winde war und nicht in der Lage, aus der Sicht der elenden Engländer zu verschwinden“.7

Zu Cassaignes Glück kam die Dunkelheit rechtzeitig, um das unglückliche Schiff zu verstecken. Nachdem das Schiff repariert war, ging die Reise weiter, doch bald erspähte die Mannschaft einen noch viel gefährlicheren Feind als die Engländer und ergriff sofort die Flucht, „denn ich wäre ein Sklave gewesen, so lange ich lebe, und vielleicht sogar hätten sie mich in grausamster Tortur sterben 7

HCA 30/255, Cassaigne, Saint Domingue, an Brisson, Bordeaux. Kein Datum, vermutlich Sommer 1756. „la premiere fois que jembarquay a Bordeaux je fuis couche a Blaye ou je commancay detre malade, et quelques jours après je le fus advantage attandu que je trouvay la mer qui etoit assés grosse et Pour comble de malheur [...] je me vis poursuivy par une frigate angloise qui occasiona que le grand Mast [...] cassa par les trops de voiles quil avoit dehors tout cela nauroit eté de rien sil navoit pery personne mais dans Linstant que le mast vint à casser il y avoit deux matelots qui serroint la voile du perroquet don’t lun tomba sur le pont sans aucun mal & Lautre perit dans la mer sans pouvoir le secourir quoiquil nageat fort Bien, je vous laisse apenser quelle etoit ma situation voir: un mast remues! Des cordages, flotans ca& la les cris, des rameurs le navire, le jouet des flots et de vants et ne pouvoir se derrober a a veue des ces miserables anglois.—subsequent quote- puisque jaurois eté Esclave Durant ma vie et peutestre encore que si je ne leur avois point convenu qui mauroint fait mourir par des Supplices tres cruels“.

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lassen, wenn ich ihnen nicht gepasst hätte“. Die Crew muss hier vor dem legendären Schreckgespenst der Reisenden, Seeleute und Händler der Karibik geflohen sein: Einem Piratenschiff. Somit hatten Cassaigne und seine Mannschaft sogar zweimal Glück im Unglück gehabt, hatte doch die Dunkelheit sie vor den Engländern gerettet und eine schnelle Flucht vor den ungleich schrecklicheren Piraten. Dennoch: für die meisten Zeitgenossen wäre diese Reise vermutlich der Inbegriff eines „Horror-Trips“ gewesen. Um derartige Erfahrungen zu vermeiden, mussten Reisen zeitlich genau geplant werden im Hinblick auf Wetterbedingungen, feindliche Aktivitäten etc. Die Risiken der Reise mussten buchstäblich sorgsam navigiert werden. Ein M. Dutemple berichtete seiner Frau, dass er und seine Mannschaft gezögert hatten, in der Zeit der hivernage von Saint Domingue nach Martinique zu fahren aufgrund des Risikos, „das wir hätten eingehen müssen, um in einer so rauhen Saison eine solche Reise zu machen; in der Angst dass wenn einer von uns krank würde oder wir einen schlimmen Sturm hätten, wir diesem sicherlich erliegen würden und dass ein großes Risiko bestand, dass wir alle unser Leben verlieren würden“.8 Offenbar waren diese Überlegungen einer übermenschlichen Macht zu vernünftig: Dutemple betonte, er wüsste nicht, „woher die Stimme gekommen“ sei, die sie aufforderte, doch aufzubrechen. Trotz dieser durchaus zentralen Unklarheit gelang es der Stimme, sich durchzusetzen, und die Mannschaft hisste die Segel. Sie schafften es zwar nur mit Glück nach Martinique, aber die Stimme behielt recht – als Dutemple den Brief schrieb, lag er sicher in Fort-Royal vor Anker. Die Überfahrt war für viele der erste Moment des körperlichen Unbehagens und der Gefahr im Zusammenhang mit ihrem Aufenthalt in der Karibik. Die Reise war eine Übergangsphase, in der Körper sich aus einer relativen Sicherheit in eine latente Gefahr begaben. Die Überfahrt führte nicht nur über den Ozean, sondern in einen anderen Teil der Welt und für einige auch in einen neuen Teil des Lebens.

8

HCA 30/302, du Temple, Fort Royal, Martinique, an seine Frau in Saint Malo, 18.01.1778: „[L]es Risque que nous aviond a Courir D’Entreprendre Une traversée pareille Dans Une aussi Durre Saisson Craignant que sils nous tomboit quelquun de malade avet quelque Mauvais Coup de Vent, nous etions comme assurée dy Succomber et quil y avoit De Grand Risque Dy perdre tous la vie“.

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IM REICH DES „PÈRE TROPIQUE“ Die französische Karibik des 18. Jahrhunderts konnte auch anders gedacht werden als in Konzepten der Gefahr. Angst, Sorge und Vorsicht konnten ‒ zumindest für einige Zeit ‒ verblassen gegenüber Vorstellungen von Abenteuern, Spannung und einem nahezu grenzenlosen, hedonistischen Leben. Diese andere Seite der Karibik wird sichtbar in den diversen Initiationsriten, die von Mitgliedern bestimmter Sozialgruppen (vor allem männlich-homosoziale Gruppen, etwa die Soldaten oder die Besatzungen von Militär- und Handelsschiffen) praktiziert wurden, wenn sie zum ersten Mal den Wendekreis des Krebses überquerten und sich in die Gewässer der Troppen begaben. Diese „Linientaufen“ oder „Baptêmes de mer“, wie sie im Ancien Régime hießen, variierten stark in ihrer Gestaltung. Sie zeigen aber alle, dass viele europäische Reisende die erste Reise in die Karibik als einen Moment der Veränderung betrachteten. 1803 beschrieb ein napoleonischer Offizier namens Lelong in einem Brief an seine Eltern eine Linientaufe (allerdings im Begriff republikanisch säkularisiert), die er an Bord seines Schiffes Épervier erlebte. Als der Wendekreis des Krebses überquert war, wurde „eine Art Festivität, welche man passage du tropique nennt“, gefeiert. „Diese Festivität besteht aus einer Farce, bei der mehrere der schlausten Seeleute sich auf groteske Weise verkleiden,“ ‒ schrieb Lelong ‒ „einer von ihnen verkleidet sich als alter Kauz und nennt sich père Tropique, er verabreicht die Taufe; die anderen sind seine Diener. Niemand ist von diesem Scheinsakrament ausgenommen, und diejenigen, die am wenigsten in die Börse des Sammlers spenden, werden auf die beste Weise getauft! Und zwar so: Man lässt den neuen Passagier auf einer Planke Platz nehmen, die über einer großen Wanne voll Wasser liegt, und wenn er nicht großzügig in die Sammelbörse spendet, wird die Planke galant weggezogen, und schon [liegt] mein Neuling im Wasser! Darüber müssen alle sehr lachen! Diejenigen, die sich nicht lange bitten lassen und ihre Passage bezahlen, kommen mit einigen Tropfen Seewasser davon, die sanft auf ihre [Köpfe] fallengelassen werden! Die Zeremonie endet mit einer feierlichen Erklärung des Kapitäns, der dem Zahlmeister anordnet, die Rationen der Mannschaft zu verdoppeln“.9

9

HCA 32/995, Lelong, Fort Royal, Martinique, an seine Eltern in Versailles, 2. floréal des Jahres 11 der französischen Republik oder 22.04.1803: „Cette fete consiste en une farce ou plusieurs matelots les plus délurés s’habillent d’une maniere grotesque et donnent ce qu’ils appellent le baptême à ceux qui passent pour la premiere fois sous la ligne. L’un d’eux se travestit en vieux barbon et prend le nom du pere tropique c’est lui qui donne le baptême, les autres sont ses servants. Personne n’est exempt de ce

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Bisher wurde keine weitere Beschreibung einer Linientaufe in HCA gefunden, doch Simon J. Bronners Arbeit zu Linientaufenzeremonien im Laufe der Jahrhunderte zeigt, dass z.B. die hier beschriebene Parodie einer Taufzeremonie mit Hilfe eines Fasses oder einer Wanne bereits in den 1690er Jahren bei französischen Schiffscrews üblich waren.10 Anstelle eines père Tropique hatte damals eine bischofsähnliche Figur den Vorsitz über das Ritual. Andere Elemente, die Lelong beschrieb, etwa das feierliche Mahl und das leichte Schikanieren der „Täuflinge“, tauchen bereits in den ältesten von Bronner untersuchten Quellen auf, welche ebenfalls französisch sind und aus dem Jahr 1529 stammen.11 Angesichts der langen, veränderungsreichen Geschichte der Linientaufen soll hier die von Lelong durchlaufene Zeremonie genauer untersucht werden, da sich im Ritualvollzug diskursive Zuschreibungen zu den Tropen manifestierten. Laut Lelongs Bericht gab es Verkleidungen und die Repräsentation einer scheinmythischen Figur, dem père tropique, dem die Autorität verliehen war, eine schein-religiöse Zeremonie zu vollziehen, und der von „Dienern“ unterstützt wurde. Zu dieser Zeremonie gehörte eine Prüfung, ob der Tropenreisende großzügig (oder willens genug) war, sich von seinem Geld zu trennen. Diesen Brauch nennt Bronner „the paying of the drink“; die Wurzeln scheinen in englischen Linientaufenpraktiken zu liegen.12 Je nachdem, wie der Täufling sich in dieser Prüfung schlug, folgte eine mehr oder minder milde Demütigung, nämlich die tatsächliche „Taufe“ – entweder ein komplettes und plötzliches Untertauchen in der Wanne oder ein paar kleine Tropfen aufs Haupt. Lelong äußerte sich nicht dazu, wie die Großzügigkeit oder Geizigkeit einer Spende bemessen wurden. Seine Beschreibung davon, wie die Planke unter einem Täufling weggezogen wurde, deutet jedoch darauf hin, dass es ein Element der Überraschung gegeben haben prétendu sacrément et ceux qui mettent le moins dans la bourse du quêteur, sont baptisés de la meilleure manière! Et voila comment: on fait asseoir le nouveau passager sur une planche placée sur un grand baquet d’eau et, comme je viens de le dire, sil ne met pas généreusement dans la bourse du frere quêteur, la planche est galamment tirée par derrière voila mon nouveau venu dans L’eau. Cela fait beaucoup rire tout le monde! Ceux qui ne se font pas tirer l’oreille pour payer le passage, en sont quittes pour quelques goutes d’eau de mer qu’on leur laisse doucement tomber sur la tête! La cérémonie se termine par une déclaration solennelle du Capitaine qui ordonne au Commide aux vivres de donner double ration à l’Equipage. Voila ce qu’il y a de fort bon“. Herv. i.O. 10 Bronner, Simon J.: Crossing the Line. Violence, Play and Drama in Naval Equator Traditions, Amsterdam 2006, S. 35. 11 Ebd., S. 33. 12 Ebd., S. 41.

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muss, wenn der Betreffende zum Amüsement der Zuschauer ohne Vorwarnung plötzlich in die Wanne fiel. Zuguterletzt gab es reichliches Essen mit Autorisierung des Kapitäns, der damit die Scheinzeremonie offiziell machte. Die von Lelong beschriebene Linientaufe enthielt somit religiöse Persiflagen, die Verballhornung von Autorität, milde Formen der Erpressung, Schikane und Demütigung und schließlich Essen und Trinken. Es muss hier berücksichtigt werden, dass Lelongs Brief an seine Eltern, aus dem diese Schilderung stammt, insgesamt darauf ausgelegt war, ihn als einen höchst besonnenen und vernünftigen jungen Mann darzustellen.13 Daher ist es wahrscheinlich, dass Lelong die ungezügelteren Teile der Feierlichkeit in seiner Erzählung herunterspielte, um das Gesamtbild zu mildern. Die Elemente der Zeremonie sollten jedoch vor allem im Kontext einer zumeist homosozialen, rein männlichen Gemeinschaft an Bord des in diesem Falle Militärschiffs gelesen und verstanden werden. Obwohl selbstverständlich auch viele weibliche Passagiere den Wendekreis überquerten, wäre Frauen höchstwahrscheinlich kein Zugang zu einem Ritual erlaubt worden, das jahrhundertelang unter anderem auf der Annahme basierte, dass jegliche weibliche Präsenz an Bord dem Schiff Unglück brachte. Manche Linientaufen beinhalteten Elemente, in denen Symbole des Weiblichen besiegt, unterworfen oder zerstört werden mussten.14 In erster Linie ging es jedoch um Männlichkeit; um Männer, die neues geographisches, soziales und mythisches Terrain betraten. Wie Forschungen zu männlicher Homosoziabilität, z.B. von Karen Harvey15 gezeigt haben, sind Alkoholkonsum, Verspottung von Autorität und Schikane übliche Bestandteile männlicher Initiationsriten. Von besonderem Interesse ist hier, dass die erste Reise in die Tropen überhaupt ein Ereignis darstellte, das in den Augen zeitgenössischer Seeleute, Soldaten und Handelskompanien offenbar die Erschaffung und den Vollzug eines solchen maskulinitätsbezogenen Rituals erforderte. Um sich diesem Phänomen anzunähern, muss die symbolische Bedeutung der „Linie“, des Wendekreises des Krebses, einbezogen werden. Was bedeutete es, im 18. Jahrhundert in die Karibik zu reisen, insbesondere für Män13 Zu Lelongs Briefen, siehe auch: Raapke, In Gelb! 14 Siehe Bronner, S. 19 ff. 15 Siehe z.B. Harvey, Karen: Ritual Encounters: Punch Parties and Masculinity in the eighteenth century, in: Past & Present 214, February 2012, S. 165-205; Morrison, Heather: ‚Making Degenerates into Men‘ by Doing Shots, Breaking Plates, and Embracing Brothers in Eighteenth-Century Freemasonry, in: Journal of Social History 46/1, 2012, S. 48-65; Martin, A. Lynn: Alcohol, Violence, and Disorder in Traditional Europe, Ann Arbor 2009, zum Beispiel S. 96; Roberts, Benjamin: Drinking like a Man: The Paradox of Excessive Drinking for Seventeenth Century Dutch Youths, in: Journal of Family History 29/3, 2004, S. 237-252.

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ner, und welche Bedeutung wurde der Erstüberquerung des Wendekreises zugeschrieben? Simon Bronner zufolge war auch hier die grundsätzliche Angst vor der Karibik ein zentrales Element. Bronner interpretiert die Travestien der Linientaufen als Konfrontationen bzw. Umschreibungen der Ängste, die im Zusammenhang mit tropischen Seereisen aufkamen, und berücksichtigt auch die physischen Merkmale der „Linie“ als geographischer Position: „‚Crossing the line‘ involves the performance and materialization of characters associated with various fears. In the liminal, mythological space of blazing heat, of an alpha location demarcated as zero, of unnerving calm and monotony, perceived as unknown and dangerous, the sailor effects the reversible world by assuming the roles ‚out there‘ that frighten him, even if unconsciously on the ‚here‘ side“.16

Bronners Konzept der „Rolle“ soll hier eher durch z.B. mit der Region hinter der „Linie“ verbundene diskursive Personenkonzepte, oder sogar Topoi, ersetzt werden – das prominenteste Beispiel ist, wenig überraschend, der Pirat. Über die Jahrhunderte enthielten viele Linientaufenzeremonien Piratenfiguren; Scheinverkörperungen der spezifischen, oft metaphorischen Maskulinitäten, die in den Regionen jenseits des Wendekreises leben und gedeihen konnten, und die sowohl Schrecken als auch Faszination auslösten. Bronner nimmt an, dass die historische Faszination mit dem Piraten darauf basierte, dass er eine Art erkennbare, anschlussfähige Gegenfolie zum Seemann bildete: „The pirate as the anti-sailor is especially prevalent in the historical context of fear during the mercantile period of being violated by those who could be comrades. In narrative terms, they are viewed as brothers who have crossed over into villainy; they are loathed, but at the same time admired for their daring and freedom from ethical restraint“.17

Somit war die Linientaufe eine Performance, in der anerkannt wurde, dass Täuflinge nun einen geographischen und sozialen Raum betraten, in dem der Pirat als Innbegriff einer enthemmten, unkontrollierten und unkontrollierbaren Lebensform tatsächlich möglich war. Der Wendekreis wurde zu einer symbolischen Grenze, hinter der andere, mächtige Maskulinitäten gelebt werden konnten. Ihre Überquerung öffnete Möglichkeiten der Redefinition, der Umlenkung der eigenen Männlichkeit durch die schrittweise Integration neuer Praktiken in tägliche Routinen. Allein die Existenz des Rituals zeigt, dass die Männer, die den Wendekreis überquerten, über spezifische diskursive Konzepte dessen verfügten, was 16 Bronner 2006, S. 46 f. 17 Ebd., S. 47.

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dahinter lag. Während die Linientaufe sicherlich kein tabula rasa-Moment war, in dem das alte Selbst samt seinen Praktiken verschwand, war sie doch ein Moment, der stark mit Erwartungen aufgeladen war hinsichtlich der neuen Praktiken, die ab jetzt intelligibel sein würden z.B. in Sachen Sexualität, Essen, Alkohol- und Tabakkonsum, Unterhaltung, Gewalt, Konsum und Luxus, etc., aber auch schlicht bei der Gestaltung eines neuen Lebens, dem Erlernen neuer Fähigkeiten und der Beanspruchung neuer sozialer Räume. Dies konnte die absolute Umkehrung, ja sogar Auslöschung dessen bedeuten, was man in Europa erlebt hatte. Der Hilfschirurg Roland schrieb im August 1778 aus Martinique an seine Mutter: „Zweifellos hast Du einen Rothaarigen gekannt, der am Mont de Pitié in Douai war und in Effigie gehängt wurde, weil er die Kasse gestohlen hat. Nun, er ist ungeheuer reich; er hat eine superbe Habitation nicht weit vom Fort Royal“.18 Vor allem für Männer war die Karibik ein Möglichkeitsraum, und der Wendekreis war seine Schwelle. Im Folgenden werden drei Briefschreiber vorgestellt, die diesen Möglichkeitsraum auf unterschiedliche Weise nutzten bzw. in ihren Briefen nutzbar machten. Der erste Briefschreiber war ein Mann namens Furz der, wie sein Brief andeutet, möglicherweise als Crewmitglied auf SklavInnenschiffen fuhr. 1756 schrieb er aus Cap Français in Saint Domingue and seinen Onkel und seine Tante: „Dieses ist, um die Ehre zu haben, Euch unsere frohe Ankunft am Cap zu vermelden und das Unglück, welches uns 5 Tage nach unserer Abreise aus Guinea zugestoßen ist [in Form einer] Revolte, die wir hatten; unsere beiden armen Chirurgen wurden von Messerhieben getötet & ein Matrose, der einen Schlag auf den Kopf bekommen hat, doch Gott sei Dank haben wir die Oberhand behalten ohne jemanden zu töten, sehr überraschende Sache [sic!], außer den Schurken, der den Schlag geführt hat & drei oder vier, die sich ins Meer geworfen haben“. 19 18 HCA 30/287, Roland, Fort Royal, Martinique, an seine Mutter Mme Roland in Douai, 20.06.1778: „Vous aves sans doute connus un roux qui etoit au mont de pieté à Douay et qui fut pendu en effigie pour avoir emporté la caisse. He bien il est puissament riche il a une habitation superbe pas fort éloigné du fort royal“. 19 HCA 30/260, 23, Furz, Cap, Saint Domingue, an Onkel und Tante in Frankreich, 12.03.1756: „Ces pour a voir l’honneur de vous marque notre heureuse a Rivee au Cap et le Maleur quis nous est A Rivee 5 jour a pres notre despart de guinee par la Revolte que nous a vont ut nos pauvre deux Chirurgien on estee tue a Coup de Couteau & un Matelot qui En Nas Ut un Coup a latete Mes dieux mersy Nous en Navont ut le deceu (le dessus) cent (sans) en Navoir tue auceun chosse Bien Curprenante que le Miserable quis a fait le Coup et trois ou quatre quis se sont jetee a la mer [...]Jay

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Nach dieser aufregenden Erzählung berichtete Furz von seinem gegenwärtigen Leben in Saint Domingue und bezog sich hierbei direkt auf Anweisungen, die er von seinem Onkel und seiner Tante in einem früheren Brief erhalten hatte. Diese bezogen sich besonders auf „Mtr Bouvier den jüngeren [...] Ihr sagt, ich dürfe nicht von ihnen borgen; ich bin traurigerweise recht weit davon entfernt, denn ich bin gezwungen, von ihnen & von dem Anderen zu borgen, um meine Hemden bleichen zu lassen; wenn M. Girandeau mir nicht die Ehre erwiesen hätte, mich bei meiner Ankunft am Cap an seinen Tisch einzuladen, hatte ich geplant, mich an die Piraterie zu machen, was schlimmer gewesen wäre“.20

Der gesamte Brief präsentiert Furz als einen Mann, der ein schweres Leben führte. Er verdiente seinen Lebensunterhalt in „a trade in which working conditions were harsh, wages were modest, food was poor, and the dangers of mortality (by accident, overzealous discipline, slave revolt, or disease) were great“.21 Marcus Rediker hat gezeigt, dass die innere Organisation von SklavInnenschiffsbesatzungen oft tyrannisch und brutal war – wenngleich in keinster Weise mit dem zu vergleichen, was die menschliche „Ladung“ durchstehen musste.22 Das war das Leben, das jemand wie Furz in der Karibik führte, wie er durch die Beschreibung der Revolte verdeutlichte. Mit Glück (aus Sicht der Besatzung) hatte der Transport es doch noch nach Saint Domingue geschafft, wo Furz nun versuchte, sich so gut es ging mit seinen bescheidenen Mitteln zu arrangieren – und nun kamen seine wohlmeinenden Verwandten aus Frankreich, die offenbar einige Leute am Cap kannten, und wollten aus der Ferne seine Lebensführung regulieren. Furz rechtfertigte sein Vorgehen, wies die Einmischung aber zudem drastisch zurück, indem er Onkel und Tante nahelegte, dass sein Verhalten ohnehin außerhalb ihrer Kontrolle lag, und dass sie froh sein konnten, dass er lediglich Geld bei unerwünschten Leuten borgte, habe doch der ursprüngliche Plan darin bestanden, Pirat zu werden. Der Kontext, in dem Furz sich bewegte, machte dies zu einem glaubwürdigen Szenario. Piratenleben waren bekanntermaßen verdammt, sie wavue collon au cap qui et asocie a veque Mtr Bouvie jeune [...] vous memarque de rien luis preter je sus fort en penne bien loin de la car je suis aubligee denpreunter a Leur & alautre pour me faire Blanchir Mes chemise cy Mosieur girandeau ne Mupas fait l’honneur de me donner ca table en a Rivant au cap je metes proposse de me metre a La friburtiere un pier chos“. 20 Ebd. 21 Rediker, Marcus: The Slave Ship. A Human History, Edition: John Murray General Publishing Paperback Edition, London 2008, S. 225. 22 Ebd., S. 21 ff.

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ren harsch und gefährlich, aber – wie Furz’ Onkel und Tante allein aus dem Brief selbst hätten erahnen können – keine zu große Veränderung zu dem Leben, das er ohnehin führte. Ebenso wie Piraten lebte er in „a world profoundly shaped and textured by the experiences or work, wages, culture and authority accumulated in the normal, rugged course of maritime life and labour in the early eighteenth century“.23 Der Unterschied zwischen ihnen bestand darin, dass Furz als regulärer Seefahrer Teil der Gesellschaft blieb, wenngleich – je nach seiner Position – nicht unbedingt ein besonders respektabler Teil. Er war Teil einer entscheidenden Arbeitskraft, die das riesige ökonomische Netzwerk des transatlantischen und globalen Handels am Leben hielt. Es waren die Hände von Männern wie Furz, die in ihrer brutalen Arbeit auf den SklavInnenschiffen ganze Kulturen von einem Kontinent auf den anderen verschleppten und dann die Früchte der Zwangsarbeit nach Europa verbrachten; Männer, ohne die die berühmten europäischen Konsumgesellschaften nie „geboren“ worden wären.24 Der Pirat hingegen „represented ‚crime‘ on a massive scale. It was a way of life voluntarily chosen, for the most part, by large numbers of men who directly challenged the ways of the society from which they excepted themselves“.25 Ein Teil dieser Herausforderung lag darin, dass die Schicksale und Lebensgänge von Piraten bisweilen Konzepte von Gerechtigkeit, Schuld und Sühne unterwanderten. Manche gewalttätigen und ehrlosen Piratenleben endeten auf angemessen schreckliche Weise, so wurde François L’Olonnais der Legende zufolge zum Hauptgang eines kannibalischen Gelages. Andere, wie der adelige Pirat Charles François d’Angennes, geboren als Marquis de Maintenon, verbrachten einige Jahre in ungezügelter, blutrünstiger Piraterie und zogen sich dann zurück, um den Herbst ihres Lebens als reiche und geachtete Kolonialisten zu verbringen. Als d’Angennes 1691 starb, war er der reichste Pflanzer auf Martinique. Beide Varianten existierten; beides war in der Karibik möglich. Als Furz seine implizite Drohung aussprach, lagen all diese Kontexte dahinter. Die Drohung war glaubhaft und ihre Umsetzung nicht unwahrscheinlich, da Furz sich in der Karibik befand, der diskursiven Heimat „des Piraten“, in der aus europäischer Sicht jeder Mann in jedem Moment auf einem Piratenschiff anheuern konnte, sofern ihm der Sinn danach stand. Der nächste Briefschreiber verhielt sich weitaus weniger gewagt, ging es in seinem neuen kolonialen Leben doch vor allem um ehrliche Arbeit und die Möglichkeit sozialen Aufstiegs. Im Februar 1756 schrieb ein M. Maillères aus Saint 23 Rediker, Outlaws of the Atlantic, S. 64. 24 Mc Kendrick, Neil/Brewer, John/Plumb, John Harold: The Birth of A Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-century England, London 1982. 25 Rediker, Outlaws of the Atlantic, S. 64.

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Domingue an seinen Bruder in Bordeaux, um ihm von einigen Entwicklungen in seiner neuen Situation zu berichten: „Ich berichte Dir, dass der Freund von Monsieur Boudain sich als Anwalt einer Plantage wiedergefunden hat, dass er mich dort mit zwei nègres etabliert hat, um sie den Beruf zu lehren, wovon er mir versprochen hat, dass, wenn sie die Arbeit kennen, dass [sic!] er mir ein Zimmer am Cap mieten würde um dort mit den zwei nègres zu arbeiten; für ein Jahr würden die besagten nègres für meinen Verdienst arbeiten und er gab mir einhundert Pistolen für dieses Jahr“.26

Die fragliche Plantage gehörte einem M. Lalanne, wie aus einem zweiten Brief deutlich wird, den Maillères am zweiten Tag an den erwähnten Anwalt M. Boudain schrieb, um diesem für die Empfehlung bei Lalanne zu danken. Dieser Brief zeigt, dass es Lalanne war, der Maillères dort „etabliert“ hatte, und lüftet auch das Geheimnis um Maillères’ Profession: Er war auf der Plantage beschäftigt „mit zwei nègres um den Beruf als Fassbinder aufzunehmen“.27 Der Ton der Briefe, sowie der Umstand dass er sie beide am selben Tag schrieb, deuten darauf hin, dass Maillères sehr aufgeregt war angesichts der Möglichkeiten, die sich ihm eröffnet hatten. Er würde ein Jahr lang arbeiten und den beiden ihm zugeordneten versklavten Männern das Handwerk des Fassbindens beibringen. Ihre Einkünfte würden ihm gehören, und zusätzlich erhielt er 100 Pistolen. Maillères Brief zufolge war dies offenbar ein gutes Angebot. Es ist schwierig, festzusetzen, was die Summe von 100 Pistolen in einem bestimmten Moment wert war. Die numismatischen und monetären Systeme des Ancien Régime waren von berühmter Komplexität, Rebecca L. Spang hat angegeben, dass der Wert des écu „was changed forty-three times“ alleine zwischen 1689 und 1715.28 Zudem kommt der Umstand, dass Geldwerte in den Kolonien sich von denen der Metro-

26 HCA 30/260, 168. Maillères, Saint Domingue, an seinen Bruder in Bordeaux. 02.02.1756: „vous dire que lamy de monsieur Boudain sets trouvê procureur dune abitasion quil my Mid avec deux negres pour lur aprandre le metiê dont il ma promid que quand il sauret travaille quil me loueret une chambre au Cap pour Il travailleir avec les deux negres pandant un Nan Les dit Negres travailleront a mon profit et il ma donne cean pistolled pour sete annêe“. 27 HCA 30/260, Maillères, Saint-Domingue, an Boudain, Bordeaux, 02.02.1756: „quil my a mis dedans avec deux Negres pour prandre le metier de tonnelier“. 28 Spang, Rebecca L.: Stuff and Money in the Time of the French Revolution, Boston 2015, S. 11.

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pole unterschieden.29 Dennoch: In der Ausgabe von 1700 hielt der „Traité Méthodique et Abrégé de toutes les Mathématiques“ von Charles de Neuvéglise fest, dass „Ordinairement“, eine Pistole 10 livres wert war. 30 Dieser Wert scheint sich bis zum Ende des Ancien Régime relativ stabil gehalten zu haben. Ein livre wiederum entsprach 20 sous. Nach Metropolen-Werten hätte Maillères somit für ein Jahr das Äquivalent von 20.000 sous erhalten. Laut Philip T. Hoffman verdiente ein ungelernter Arbeiter in der Pariser Region 1754/55 zwischen 18 und 24 sous pro Tag, Maillères kam auf knapp 64 sous pro Tag (Sonntage nicht eingerechnet).31 Zudem sollte der Plantagenbesitzer Lalanne die Miete für seine Unterkunft bezahlen und ihm die Einkünfte der beiden versklavten Männer überlassen. Weiterhin kam hinzu, dass Maillères gerade erst eine Enttäuschung erlebt hatte: der Mann, mit dem oder für den er in die Karibik gekommen war, ein M. D’Artid, hatte „keines der Versprechen gehalten“32 die er gemacht hatte, und so hatte Maillères ihn am 31. Dezember verlassen. Die neue Beschäftigung bei Lalanne bedeutete, dass Maillères die Chance erhielt, sich am Cap in einer bezahlten und vertrauensvollen Position zu etablieren. Jennifer L. Palmer listet Fassbinder unter jenen Handwerkern, deren „skills were in high demand in plantation society“33, etwa der von Saint Domingue, am Ende des 17. Jahrhunderts, und Maillères’ Briefe weisen darauf hin, dass sich dies auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nennenswert veränderte. Mit Blick auf die Kolonien als Möglichkeitsräume war Maillères plötzlich vom enttäuschten und mittellosen Neuankömmling zum Meister zweier Lehrlinge geworden, welche ein respektiertes Handwerk von ihm erlernen würden. In der Kolonie bedeutete Letzteres einen merklichen sozialen Aufwärtsschwung. Jennifer Palmer betont die Signifikanz der „masculine responsibility“34, die dem Meister einer Werkstatt zusgeschrieben wurde, und die patriarchale Autorität, die „imbued guild hierarchy as much as it imbued slavery“35 innerhalb der kolonialen Gesellschaftsstruktur. 29 Zum Verhältnis der Livre Coloniale und Livre Métropole, siehe etwa: Arcangeli, Myriam: Sherds of History, S.12. 30 De Neuvéglise, Charles: Traité Méthodique et Abrégé de toutes les Mathématiques, Tome Premier, Lyon 1700, S. 364. 31 Hoffman, Philip T.: Growth in a Traditional Society. The French Countryside, 14501815, S. 223. 32 Maillères an seinen Bruder, 02.02.1756: „Je voud dire que je quite monsieur dartid le 31 Xbre dont il na tenu aucune des promesse“. 33 Palmer, Jennifer: Intimate Bonds. Family and Slavery in the French Atlantic, Philadelphia 2016, S. 10. 34 Ebd., S. 143. 35 Ebd., S. 125.

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Maillères näherte sich nun der Domäne des Hausvorstands an. Zumindest seine versklavten Lehrlinge schuldeten ihm Respekt und Gehorsam, und er konnte seinem Bruder und seinem Unterstützer zeigen, dass man ihm mit Vertrauen und Wertschätzung begegnete. All dies war in weniger als einem Monat geschehen – Maillères hatte seinen früheren Arbeitgeber zum Neujahr 1755/56 verlassen und die Briefe tragen das Datum des 2. Februar 1756. Für Maillères zeigte sich die Karibik tatsächlich als Möglichkeitsraum: In wenigen Wochen war er von einem mittellosen Betrugsopfer zu einem ehrbaren Handwerksmeister mit Geld, einer Unterkunft und zwei Lehrlingen geworden. Der Brief, den der dritte hier vorzustellende „Kandidat“, Martin Solet, 1778 aus Martinique an seinen Vater schrieb, zeigt, dass sein Verfasser noch recht jung gewesen sein muss, als er in die Karibik reiste um dort die Plantage seines Onkels in der Nähe von St Pierre zu besuchen. Der Brief enthält Entschuldigungen ob der „Unordentlichkeit“ der Handschrift; ein häufiges Element in Kinderbriefen36. Zudem zeigt der Brief deutlich, dass Martin sich in der Obhut seines Onkels befand und dass er in die Karibik gekommen war, um das Handelsgeschäft der Familie zu erlernen. Dies lässt vermuten, dass Martin Solet einer der Teenager war, welche in die Kolonien geschickt wurden, um dort ihre Ausbildung zu vervollständigen.37 Tatsächlich enthalten die HCA-Briefe zahlreiche Beispiele von Söhnen, die mit Vätern in die Karibik reisten oder von Neffen, die Onkels anvertraut wurden. Ein besonders tragisches Beispiel hierfür wäre der „Einstiegsbrief“ dieser Arbeit, der Mme Monnier de Chambrian vom Tod ihres Sohnes in der Karibik informiert. Im Vergleich hätten die Eltern von Martin Solet sich keine Sorgen machen müssen, denn der Brief ihres Sohnes brodelte geradezu vor Begeisterung über seine neue karibische Umgebung. Die üblichen Belange, die in „Erwachsenenbriefen“ so omnipräsent waren – der Transfer von Geld, der drohende Krieg, Sorgen um die Gesundheit oder um steigende Lebensmittelpreise – fehlen hier gänzlich. Stattdessen schrieb Martin Solet: „Mein lieber Vater, sei nicht erstaunt über die Handschrift, welche im Moment nicht gut geformt ist, ich habe es eilig und ich habe meinen Arm, der ein bisschen verletzt ist, ich habe einen Axthieb in die Hand bekommen, aber das wird vorbeigehen ohne dass ich es merke; mein lieber Vater, mein Onkel er hat [sic!] eine négresse gekauft, die ihn achtzehnhundert livres gekostet hat, für unsere Bedienung, und er hat weiße Arbeiter und nègres beständig in den Wäldern [...] und er hat ein großes Kanu gemacht, ganz aus einem Stück, es ist 40 seiner Füße in der Länge, 6 Fuß breit, 5 Fuß tief, was ein Baum ist“. Dann beschrieb Martin offen36 Siehe etwa diverse Beispiele von Kinderbriefen in Whyman, Susan: The Pen and the People. English Letter Writers, 1660-1800, Oxford 2009. 37 Siehe z.B. Dubois, Avengers, S. 20.

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bar sehr aufgeregt (und extrem unleserlich), wie das Kanu aus dem Baum gehauen wurde und kam zu dem enthusiastischen Schluss: „Sie brauchen vier [Leute] um es zu bauen, sie sind niemals ohne Arbeit und ich hoffe, den Beruf zu erlernen“.38 Martins Brief vermittelte nicht nur seine Begeisterung über all die neuen Dinge, die er auf der Plantage seines Onkels kennengelernt hatte (einschließlich, offenbar, Sklaverei), sondern auch seine eigene körperliche Integration in die Organisation. Obwohl es scheint, als hätte er die verletzte Hand nur erwähnt, um die schlechte Schrift zu rechtfertigen, erwähnte er doch die Axtverletzung mit einer betonten Nonchalance – „das wird vorbeigehen, ohne dass ich es bemerke“ – die durchaus dazu angetan gewesen sein mag, ihm die Anerkennung seines Vaters einzuheimsen. Er erklärte nicht, wie es zu der Verletzung gekommen war, allerdings regt der Brief die Spekulation an, dass Martin seinen Wunsch, die Kanubaukunst zu erlernen, direkt aktiv verfolgt und prompt Lehrgeld gezahlt hatte. Die Erwähnung des Axthiebes deutet darauf hin, dass Martin Solet das Leben seines Onkels nicht nur kennenlernen, sondern inkorporieren wollte. Dies bedeutete, sich von SklavInnen bedienen zu lassen, schwere körperliche Arbeit nicht nur beaufsichtigen, sondern auch selbst verrichten zu können, und die damit verbundenen Verletzungen unbesorgt und als Teil des normalen Arbeitsprozesses zu betrachten. Martin Solet, der eigentlich ein Kaufmann werden sollte wie sein Vater, ein Mann mit einer sauberen, wohlgeformten Handschrift, begann, eine koloniale Welt zu inkorporieren, in der man entweder ein axtschwingender Kanubaumeister sein konnte oder ein Mann, der Aufhebens um einen Schnitt in die Hand machte, aber nicht beides. Für Martin war Martinique offenbar ein faszinierender Ort voller Möglichkeiten, und sein Brief deutet an, dass er sich große Mühe gab, dazuzugehören. Die drei hier vorgestellten Briefe – Furz, Maillères, und Martin Solet – zeigen leicht exkurshaft, dass die karibischen Kolonien Orte waren, an denen (gerade weißen Männern) von einem auf den anderen Moment neue Wege und unbekannte Möglichkeiten offenstanden, an denen neue Fähigkeiten erlernt, andere 38 HCA 30/302, Martin Solet, St Pierre, Martinique, an seinen Vater in Villefranque, 31.01.1778: „Mon cher pere ne vous ettonne pas que le criture qui ne pas bien formé pour le present je me trouve prese et je mon bra qui et un peu blese je eu un cou de hace dan la main me sava pase sant pouvoir gere connettre Mon cher Pere mon oncle il a achette unne negresse qui lui quté disuit san livre pour nôtre service, et il a des huvrie blenche et negre continuellement dans le boi [...] et il et a faire un gron canot tout doun piese se a 40 de ces pies de lonjeur 6 pies larje 5 pies de profondeur qui et un arbre [...] Il les à catre pour le faire inne manque pas des uvraje jamé, et jespere daprendre le metie”.

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Männlichkeitskonzepte gelebt werden konnten, sofern man willens oder in der Lage war, sich einzuleben bzw. sich auf das koloniale Leben einzulassen. Zu letzterem gehörte jedoch, dass man die körperliche Konfrontation mit dem neuen Lebensraum, der fremden Umwelt und den unbekannten Praktiken bewältigte. Für einige begann diese Konfrontation schon, bevor sie überhaupt von Bord gingen, etwa für den Seemann Michelot Dubossy, der schrieb: „Wir wurden in ein Becken verlegt, wo die Schiffe sehr ruhig liegen, aber wir werden von Insekten geplagt [...] die uns jede Nacht aus unseren Kammern jagen“.39 Michelots Insekten waren die Vorboten dessen, was die Neuankömmlinge von der tropischen Umgebung zu erwarten hatten. Der Soldat Claude Bertrand schrieb am 3. August 1778 aus Martinique an seinen Vater: „Es gibt sehr gefährliche Tiere, das sind die Flöhe, die in die Füße hineinkommen, und die Schlangen und Eidechsen, die sehr oft beißen“.40 Viele Briefe, die in den ersten Monaten nach der Ankunft eines oder einer VerfasserIn geschrieben wurden, enthalten verwirrte und irritierte Beschreibungen der Umgebung. Jaques Forgets Brief an seine Schwester vom „Caps Fronsee“ zeigt, dass sein Verfasser wenig Übung darin besaß, eine Feder zu halten: große, spinnenartige Druckbuchstaben krabbeln quer über das Papier in zumeist phonetischer Schreibweise. „Wir sind am 12. Zweiten Mal nach Port au Prince aufgebrochen“, erzählt der Brief, „es ist ein sehr schlechtes Land, wir sind jeden zweiten Tag krank“.41 Worin genau die „Schlechtigkeit“ des Landes bestand, spezifizierte Forget nicht, aber vielleicht wäre es seiner Schwester völlig klar gewesen. Insbesondere für Soldaten nahmen das körperliche Unbehagen, die Erschöpfung und Anstrengungnach der Ankunft ihren Lauf, wenn der Dienst begann. Ein anonymer Soldat schrieb am 01. August 1778 an Madame de Bousquillon, etwa eine Woche nach seiner „Ankunft in Martinique, recht glücklich, da [ich] nicht unter dem Wetter, aber reichlich unter der Seekrankheit gelitten habe; und nur einen Schrecken von Seiten der Engländer

39 HCA 30/287, Michelot Dubossy, Martinique, an seinen Vater in Nantois, Sommer 1778: „Nous sommes Relegués dans un Bassin où Le Batiments sont fort Tranquils mais nous sommes incommodes des insects [...] qui nous chassent toutes les nuits de nos chambres“. 40 HCA 30/287, Claude Bertrand, Fort Royal, Martinique, an seinen Vater, 03.08.1778: „Il y a des bêttes qui sont fort Dangéreuse, comme sont les chiques qui viennent aux pieds et serpents et lésard, qui mordent beaucoup“. 41 HCA 30/255, Forget, Cap, Saint Domingue, an Mlle Renoux, Nantes, Juli 1756: „nous avons partis le 12 dous pours le portetos prense pours la seconde fois set un trais movais paieis nou tombont toust les jours mallade“.

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erhalten, die uns mehrere Male besucht haben, ohne Feindlichkeiten zu begehen. Seit meiner Landung bin ich sehr ermüdet vom Dienst, Wachdienste sind häufig“.42

Ein Mann namens Paucot, der auch im Sommer 1778 auf der Insel eingetroffen war, litt ebenfalls unter dem Dienst in der tropischen Hitze: „Wir können keine Übungen machen, ohne dass unsere Hemden nicht tropfnass sind“43, schrieb er am 08. August an seine Eltern in Paris. Der Soldat Bazet hingegen litt weniger unter den Anstrengungen des Dienstes als unter den Bedingungen seiner Unterkunft: „Mein sehr lieber Vater“44 schrieb er, „Ich will Dir berichten, dass ich mich in einem Land von Wilden befinde [...] und immer zu Hitze [sic!] [...] es ist ein Land, das viele Berge hat, man spricht nicht länger von einem Bett, das Bett, das wir haben, ist ein Laken, an dem man an jeder Seite Seile befestigt, wir hängen in der Luft, man wird zerquetscht“.45 Bazet war eindeutig entsetzt von dieser – in seinen Augen – würdelosen Art zu schlafen, die zu seiner Einschätzung Martiniques als „Land von Wilden“ beigetragen haben wird. Die drei folgenden Beispiele stammen ebenfalls von Soldaten, die 1778 nach Martinique gekommen waren. Ein junger Mann namens Gavriel schrieb an seine Mutter, nachdem sein Regiment auf die nahegelegene Insel Dominica verlegt worden war, und berichtete: „Seit wir aus Frankreich abgereist sind, sind 40 Soldaten pro Kompanie gestorben, als wir in Martinique ankamen, lagen eintausend Männer aus zwei Regimentern im Hospital; entscheide für Dich selbst, ob dieses Land gut ist, denn es gibt keinen Winter, es ist immerzu heiß; die Häuser sind aus Holz gebaut, es sind fast nur nègres in diesem Land, die alle nackt sind, wir haben Martinique verlassen, um nach Dominica zu fahren, 12 lieues von hier“.46 42 HCA 30/287, Anonym, Martinique, an Mme de Bousquillon, Montdidier, August 1778: „mon arrivé ala Martinique le 24 juillet assez heureusement, n’ayant rien souffert du tems, mais assez du mal de mer, Et n’ayant eu que la crainte de la par des anglois qui nous ont visités plusieurs fois sans commettre d’actes d’hostilité. J’ai été très fatigué du Service depuis mon Débarquement; les gardes sont fréquentes“. 43 HCA 30/285, Paucot, Fort Royal, Martinique, an seine Eltern in Paris, 07.08.1778: „nous ne pouvons point faire aucunes corvées, que nos chemises ne soient trempées“. 44 HCA 30/285, Bazet, Martinique, an seinen Vater in der Nähe von Bordeaux, Sommer 1778: „Mon tre cher pere [...] je vous dire que je suis dans un pey de savage [...] et toujour challeur [...] cet un pey quil et boucoup montaigne lon ne parle plu de lit le lit que nous avons chet un drap que lon met avec du corde a chaque cote nous somme suspandu an leir lon se bresse“. 45 Ebd. 46 HCA 30/310, Gavriel, Dominica, an seine Mutter in Graulhet, 27.06.1779: „depuis que nos sommes party de frace [sic!] il nous est mort 40 soldat par compa compagnie

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Gavriel schien den fehlenden Winter für die „Schlechtigkeit“ des Landes verantwortlich zu machen, was nahelegt, dass er in echt europäischer Manier an eine gesunde Balance in allen Dingen glaubte – Hitze benötigte Kälte als Ausgleich. Die Behauptung, die „nègres“, die er gesehen habe, seien alle nackt gewesen, ist mit einiger Sicherheit eine Übertreibung, die Gavriel im Dienste seiner Brieferzählung vornahm, um die Fremdheit und mangelnde Zivilisation seines neuen Umfelds hervorzuheben. Sofern Gavriels Impressionen sich nicht auf einen SklavInnenmarkt beschränkten, wo versklavte Männer und Frauen sich tatsächlich nackt den Blicken und Händen der InteressentInnen aussetzen mussten, würde er kaum gänzlich unbekleidete SklavInnen gesehen haben. Die Darstellung des unzivilisierten Sklaven findet sich aber auch im Brief des Soldaten Savary an seine Mutter: „Seit ich im Regiment bin, ist es mir immer gut gegangen, doch als ich in diesem Land angekommen bin, hatte ich drei Monate lang Fieber; aber gegenwärtig steht es sehr gut um meine Gesundheit, dank dem Herrn [...] das Land, das wir bewohnen, ist wie eine Wüste, es gibt sehr wenige Weiße, die von nègres bedient werden, die mit der Peitsche angetrieben werden wie Hunde“.47

Es muss bemerkt werden, dass die jungen Männer hier in keiner Weise Sklaverei kritisierten, sondern die Gegenwart von SklavInnen nutzten, um die Fremdheit der neuen Umgebung zu unterstreichen. Als der Kanonier Fénot am 24. Juni 1779 an seine Mutter schrieb, war er bereits seit mindestens sechs Monaten auf der Insel, wahrscheinlich war er auch 1778 dort eingetroffen.48 Seit seiner Rekrutierung vier Jahre zuvor hatte er noch keinen Brief geschrieben, und in diesem ersten Schreiben äußerte er sein Bedauern darüber, sich überhaupt der Armee angeschlossen zu haben: „Es wäre besser für mich gewesen, hätte ich das Land nie verlassen, anstatt zu tun, was ich getan habe als ich [...] in den Dienst des [sic!] quand nous sommes arrivay a La Martenique sur deux regiment il Liavoit mille ommes alhopital jugés sit ce pais et bon car il ne fait pas diver il fait toujour dau les maisons sont baties du bois dans se pais sepresque tout negres quil son tout neu nous sommes partie le la martenique pour aller ala Dominique a douze Lieux“. 47 HCA 30/287, Savary, Fort Royal, Martinique, an seine Mutter in Abbéville, 15.08.1778: „Je me suis toujours asses bien portè depuis que je suis au Regiment mais en arrivant dans ce pays j’ay eu la fievre pendant trois mois mais a present ma santé est tres bonne grace au seigneur [...] Le pays que nous habitons est comme un desert il y a tres peu de Blancs qui sont servis par des negres qui sont menés a coups de fouet comme des chiens“. 48 Zu Fénot siehe auch Raapke, The Pain of Senses Escaping.

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Königs getreten bin“, schrieb er. Wäre er kein Soldat gewesen, wäre er auch wohl nie in Fort Royal und St. Pierre auf Martinique gelandet, „was eine Insel ist inmitten des Ozeans, zweitausend Meilen von meinem Land entfernt, ohne dass man irgendein Land sehen kann, nur den Himmel [...] dieses Land ist von Leuten bevölkert, die ganz schwarz sind, und es ist immer heiß, und eine schreckliche Hitze, es gibt Erdbeben, bei denen alle Häuser wackeln, und manchmal vom Regen geflutet werden, und der Donner rumpelt und fällt fast jeden Tag aufgrund der Hitze an diesem Ort, dies ist, wo der Zucker und der Kaffee herkommen [...] die Luft hier ist sehr ungesund, viele Leute sterben, und ich selbst habe sechs Monate lang eine Krankheit erlebt“.49 Fénot verfasste hier eine vollständige, wenngleich stark perspektivisch gefärbte Kurzbeschreibung, welche die Bevölkerung, das Klima, meteorologische und geologische Vorkommnisse und die spezifischen Produkte des Landes umfasste. Der Verweis auf Kaffee und Zucker schlug eine Assoziationsbrücke für seine Mutter in der Bourgogne, die in der Lage gewesen wäre, vertraute Produkte mit dem buchstäblich unvorstellbaren Ort zu verbinden, den ihr Sohn beschrieben hatte – und der von „ganz schwarzen“ Menschen bevölkert war. Interessanterweise erwähnte Fénot die Sklaverei nicht, sondern beschrieb die schwarze Bevölkerung als einen natürlichen Teil von Martinique.50 Die Soldaten Gavriel, Savary und Fénot erwähnten einen generellen Anstieg der Morbidität und Mortalität in der Karibik, Savary und Fénot waren selbst krank gewesen. Sie alle bezogen diese Eindrücke und Erfahrungen direkt auf das Klima und die karibische Umgebung. Savary etwa betonte, er sei zuvor nie krank gewesen – also generell gesund und robust, erst die Karibik hatte seinen

49 HCA 30/310, Fénot, Fort Royal, Martinique, an Mme Fénot, Auxerre, 24.06.1779: „Ils auray mieux vallu pour moy que je nu jamais quyté le pay plutôt que d’avoir fait ce que jay fait mettant engagé [...] au service Du Roy [...] en garnison au Fort Royal et a St Pierr de la Martinique quy est une ils au milieu de la Merre elloygné du paye de deux mill lieu san voir auqu’une terre que le ciel [...] cest pays sont peuplé des gens tout noir et ils ils [sic!] fait toujours chaud et des challeur terrible y sy fait des tremblement de terre que tout les maison tremble et quelque fois sengloutere avec des orage le tonerre qui roule et tombe presque tous les jour pour la challeur qui fait dans cet endroit cest la dou vient le sucre et le caffé [...] l’ai y font mal sain y y meurent du monde considerablement et moy meme jai essuyé une malady pendant six mois“. 50 Siehe etwa Raapke, the Pain of Senses Escaping, zu dem Umstand, dass Fénot die SklavInnen als Teil der „natürlichen Umgebung“ darstellte, ähnlich wie die Erdbeben und den Donner, und nicht etwa als Fremde, die gegen ihren Willen in die Karibik verschleppt worden waren.

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Körper übermannen können. Diese zwei Faktoren, Klima und Umwelt, werden nun genauer beleuchtet.

Das karibische Klima

„Wenn ich Dir nur die Hälfte der Hitze hätte schicken können, die ich im letzten Winter verspürt habe, hättest Du einiges an Holz gespart“, witzelte ein Mann namens Brochet in einem Brief an seine Schwester, „Du hast vor Kälte gezittert, ich vor Hitze, das ist der Unterschied“.1 Brochet scheint angesichts der Klimabedingungen der Karibik seinen Humor nicht verloren zu haben; für viele Andere aber waren Hitze und Feuchtigkeit nichts, worüber man Witze machte. Im Folgenden können nur einige der zahllosen Kontexte behandelt werden, in denen das Klima verhandelt wurde – zudem werden Briefe, die zwar das Klima erwähnen, deren Fokus aber eher auf z.B. der Erfahrung von Krankheit liegt, im Themenbereich „Krankheitserfahrung“ besprochen. Die Klimata der unterschiedlichen Kolonien und ihre Auswirkungen auf die europäischen Kolonisten gehören unstreitbar zu den am breitesten diskutierten und am besten untersuchten Aspekten in der Historiographie der Kolonialmedizin des 17.-19. Jahrhunderts. Abgesehen von der Britischen, Niederländischen, Französischen und Dänischen Karibik haben auch die gutdokumentierten Leiden von Seeleuten, Händlern und Soldaten in Indien, Batavia oder Surinam viel Aufmerksamkeit von MedizinhistorikerInnen erhalten 2 – zu recht, denn das Klima war von zentraler Bedeutung für KolonialsiedlerInnen und Kolonialreisende der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts. In den HCA-Sammlungen aus der

1

HCA 30/260, Brochet, Saint Domingue, an seine Schwester in Bordeaux, 07.03.1756: „Si javais peu t’envoyer la moitié de la chaleur que jai ressenti l’hiver dernier, elle t’auroit economisé un peu de bois, tu as tremblé de froid et moi de chaleur, voila la diference“.

2

Z.B. Mark Harrison, Medicine in an Age of Commerce and Empire: Britain and Its Tropical Colonies, 1660-1830, Oxford 2010; Collingham, Imperial Bodies; Pols, Batavia; Burnard, The Country continues sicklie; J.R. McNeill, Mosquito Empires. Ecology and War in the Greater Caribbean, 1620-1914, Cambridge et al. 2010.

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französischen Karibik wird dieses Bild bestätigt. Ein Großteil der Briefe, die sich überhaupt Fragen der Gesundheit und des Körpers widmeten, erwähnte das Klima. Das Klima kann jedoch nicht von der generellen Naturumgebung differenziert werden, denn entsprechend den oben besprochenen neohippokratischen Tendenzen zeitgenössischer Medikalkulturen beeinflusste die Umwelt maßgeblich die „Gesundheit“ des Klimas. Die Luft eines Ortes (sogar eines relativ kleinen Ortes, etwa eines Hauses) hing von der spezifischen Lage dieses Ortes ab im Hinblick auf Licht, Wind und Wasser, die Qualität des Bodens und andere Faktoren. Dies bedeutete, dass auch an einem Ort, dessen Luft prinzipiell ungesund war, durch kleine Ortswechsel deutliche Gesundheitsverbesserungen erreicht werden konnten. Monsieur Leloyer schrieb aus Saint Domingue an Monsieur Moireau, um Letzteren über den Zustand seiner Plantage zu informieren, und berichtete außerdem: „Ihr Neffe lebt seit einem Monat auf Ihrem Anwesen, er wohnt nicht im Haupthaus, da es zu feucht ist, ich habe ihm geraten, eine kleine case zu beziehen [Die Case ist ein kleineres, einstöckiges Haus, das auch heute noch in der französischen Karibik gebaut wird] [...] da dort die Luft gesünder ist, er nimmt jedoch all seine Mahlzeiten im Haupthaus ein“.3

Der Schutz der Gesundheit wurde hier der Demonstration und Performanz von Überlegenheit durch das Wohnen im Haupthaus vorgezogen. Der Neffe aß zwar in der Residenz seines Onkels und machte so seinen privilegierten Status sichtbar, für die Nacht zog er sich allerdings in eine bescheidene Unterkunft zurück, in der die Luft besser war. Leloyer schien hier konkrete Kenntnisse zu besitzen, während in anderen Fällen die Differenzierung zwischen Luft, Klima und Krankheit eher vage ausfallen konnte. Im Juni 1778 schrieb ein Mann namens Firel vom Cap Français in Saint Domingue: „Jene Klimata, die für uns oft ansteckend sind, lassen uns in jenem Moment zu Grunde gehen, indem wir an sie denken“.4 Diese Bemerkung zeigt die Veränderungen und Reinterpretationen, die wissenschaftliche, philosophische und medizinische Konzepte in unterschiedlichen diskursiven Kontexten durchlaufen konnten. Für Firel schein „Ansteckung“ eine spezifische Aggressivität des Klimas in Verbindung mit einer 3

HCA 30/305, Leloyer, Artibonité, Saint Domingue, to M. Moireau, France, 06.01.1779: „votre Neveu est demeurant chez vous depuis un mois il ne logit pas dans la maison principale atandue quelle est trop humide; je luy ais conseillez de prendre une petite caze [...] Lair y etant plus salubre, il prend cependant ses repas a la grande caze“.

4

HCA 30/303, Firel, Cap, Saint Domingue, to? in France, 07.07.1778: „ces Climâts qui nous sont souvant Contagieu nous font perir au moment qu’on y pense“.

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spezifischen Verletzlichkeit des Körpers bedeutet zu haben. Leider blieb dies der einzige Kommentar, den er zu diesem Thema machte – somit bleibt unklar, inwiefern er in seiner täglichen Gesundheitspraxis versuchte, der „Ansteckung“ mit dem Klima zu entgehen. Seiner Perspektive lag jedoch die Annahme zugrunde, dass „uns“, womit er höchstwahrscheinlich weiße französische EuropäerInnen meinte, ein gewisser Körpertyp gemein war, der dem karibischen Klima nicht gewachsen war. Diese Annahme spricht auch aus dem Brief, den der junge Monsieur de Vande am 8. März 1756 aus Saint Domingue an einen Verwandten schrieb: „Unsere Überfahrt war recht froh und glücklich, doch bin ich seit meiner Ankunft sehr krank, es ist ein Tribut, dem kaum jemand entgeht, außerdem sind diesen Winter hier viele Menschen gestorben. Ich glaube, wenn ich nicht ein wenig vom Temperament dieses Klimas in mir übrighätte, wäre ich unter ihrer Zahl gewesen, doch Gott sei Dank siehst Du mich außer Gefahr nach drei Monaten Krankheit“.5

De Vandes Bemerkung über sein Temperament ist recht interessant, da sie impliziert, dass es in seinem Leben Zeiten gegeben haben musste, in denen er mehr „vom Temperament dieses Klimas“ besessen hatte – als also seine humorale Verfassung und seine Persönlichkeit mehr der Karibik entsprochen hatten. Dies könnte bedeuten, dass es sich bei ihm um einen Kreolen handelte, der im karibischen Klima zur Welt gekommen war. Es bedeutet aber auch, dass die temperamentale Verfassung des Körpers etwas war, das sich veränderte, wenn der fragliche Körper über einen ausreichenden Zeitraum neuen Umweltbedingungen ausgesetzt war. Dieses Konzept wird auch im Zusammenhang mit Fragen der Ernährung in den Kolonien eine Rolle spielen. Dennoch war die Idee, dass Körper vor allem zu jener Region gehörten, in die sie hineingeboren worden waren, in vielen Briefen präsent – nur in der Heimatregion würde sich der Körper jemals richtig wohl fühlen können.1803 schrieb der napoleonische Soldat Lalain aus Martinique an seine Mutter: „Ich habe nichts neues zu berichten über das Land, in dem wir leben, außer, dass es übermäßig heiß ist, in diesem Moment steht die Sonne fast vertikal über unseren Köpfen und 5

HCA 30/260, No.201, De Vande, Grande Rivière, Martinique, an De Vande, Bordeaux, 08.03.1756: „notre voyage a été asses heureux et Gratieux mais depuis mon arrivee j’ay eté bien mallade c’est un tribut dont l’on est guerre exempt de plus cet hyver il y est mort icy beaucoup de monde je crois que si je n’avois pas eu un peu du temperament de ce climat y ayant resté j’aurois été du nombre mais grace a dieu me voila hors d’affaire appres troix mois de malladie“.

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zerdrückt uns mit ihrer unerträglichen Hitze, in einigen Tagen wird es mittags keinen Schatten mehr geben. Doch in der heißen oder brennendheißen Zone, in der wir uns jetzt befinden, genießt man keine so perfekte Gesundheit wie in Europa, man ist beständig stumpf und schwer, und es scheint als ob die Sinne [das Blut? – ‚les sens‘ bedeutet „die Sinne“, doch ‚le sang‘, das Blut, ist homophonisch6] nur durch die Venen liefe, um sich noch mehr zu schwächen, und Kopfschmerzen machen sich beständig bemerkbar. Was mich mich nach der Heimatluft verzehren lässt und nach dem Land, in das ich hineingeboren wurde“.7

Lalain bot hier eine außergewöhnlich „physische“ Beschreibung seiner körperlichen Erfahrung der Karibik und ihrer nahezu gewalttätigen Sonne, die gnadenlos auf ihn hinunterstrahlte, ihn in Körper und Geist schwächte und ihm beständige Schmerzen verursachte. In diesem brutalen Klima konnte sein Körper nicht gedeihen. Die „Verzehrung“ nach der „Heimatluft“ kann somit als tatsächlicher, buchstäblicher Schmerz verstanden werden; das Bedürfnis, nach Hause zurückzukehren, kann und sollte als eine körperliche Notwendigkeit gelesen werden. Das karibische Klima stellte den Körper auf die Probe, und niemand konnte vorher wissen, ob und wie er oder sie diese Probe bestehen würde. Ein Mann namens Lapallé schrieb im Juli 1778 aus Martinique an seine Schwester und erklärte, die Hoffnung, eines Tages wieder mit seiner Familie vereint zu sein, ließe ihr „mit etwas mehr Geduld die Schmerzen und die Qualen ertragen, die ich in diesem verfluchten Land ertrage; was für ein Klima, großer Gott, es bringt die stärksten, die robustesten Temperamente an ihre Grenzen, ich habe eine zeitlang gedacht, ich würde ihm erliegen, doch nun glaube ich, außer Gefahr zu sein“.8

6

Zu Lalains Brief, siehe auch Raapke, The Pain of Senses Escaping.

7

HCA 32/995, Lalain, Fort de France, Martinique, an seine Mutter in Frankreich, 11. Floréal Jahr 11 der Republik: „Je n’ai rien de nouveau à vous ecrire, relativement au pays que nous habitons, sinon qu’il y fait un chaleur excessive, le soleil dans ce moment est presque perpendiculement sur notre tete, et nous ecrase par sa chaleur insupportable, dans quelques jours à midi nous n’aurons plus d’ombre [...] On ne jouit cependant pas sous la zone torride ou Brulante, où nous sommes maintenant, d’une santé aussi parfaite qu’en Europe, on y est toujours mou et pésant, il semble que les sens ne circulent dans les veines, que pour affaiblir d’avantage et toujours des maux de tête s’y font ressentir. Ce qui me fait aspirer après l’air natal et le pays qui m’a vu naître“.

8

HCA 30/287, Lapallé an seine Schwester Dlle Lapallé, Argentan, Normandy, 26.07.1778: „Au moins c’est une consolation pour moy qui me fait supporter avec un peu plus de patience les peines et les tourments que j’endure dans ce maudit pays, quel climat grand dieu il vient à bout du temperament le plus fort, et le plus robuste,

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Lapallés Formulierungen, mit ihren Ausrufen („Was für ein Klima“, „Großer Gott“), lassen den Text geradezu außer Atem klingen, ganz so, als hätte Lapallé in der drückenden Hitze Martniniques entnervt nach Luft geschnappt. Doch Lapallé hatte es geschafft – was nicht jeder von sich behaupten konnte, der mit dem Klima gerungen hatte. Manchmal war die Heimkehr nach Frankreich die einzige Möglichkeit, einen von Klima verwüsteten Körper zu retten. „Ich zähle immer noch darauf, nächsten August nach Frankreich aufzubrechen“, schrieb Stanislav Foaches vom Cap Français an M. Lavignolle in Les Cayes, „meine Gesundheit ist wiederhergestellt, doch ich vertraue diesem Klima nicht mehr. Es prüft mich zu häufig“9 M. Duperier aus St. Eustache kam ebenfalls zu dem Schluss, dass sein Körper die Karibik nicht länger aushalten könne, und dass er eine Rekonvaleszenspause würde einlegen müssen: „Ich bin gealtert, und meine Gesundheit ist ganz desolat, ich müsste mich erholen fahren, was ich dieses Jahr vielleicht tun werde, indem ich 3 oder 4 Monate im septentrionalen Amerika verbringe“.10 Ein Militärangehöriger namens Chassarel versuchte nicht nur selbst, so schnell wie möglich die Kolonien hinter sich zu lassen, er bemühte sich auch, seine Mutter davon zu überzeugen, dass sie seinen (Stief-)Bruder, der sich scheinbar im Heimaturlaub befand, zu Hause behalten sollte: „Es ist keinesfalls möglich für mich, meinen Aufenthalt in den Kolonien zu verlängern, meine Gesundheit ist so sehr geschädigt, dass ich alles zu fürchten habe; wenn der Krieg nicht unvermeidlich schiene, hätte ich bereits um Urlaub gebeten, um sie wiederherzustellen; Ihr Sohn sollte am besten in Frankreich bleiben, so lange er kann“.11

jai bien ceu pendant quelques temps que j’y succomberois, mais cependant je crois être hors d’affaires“. 9

HCA 30/285, Stanislav Foaches, Cap, Saint Domingue, an Lavignolles, Cayes, Saint Domingue, Juli 1775: „Je compte toujours partir pour France le mois d’aoust prochain [...] ma santé est retablie mais je ne me fie plus à ce climat. Il m’éprouve trop fréquemment“.

10 HCA 30/345, Duperier, St Eustache, an seine Eltern in Bordeaux, 31.01.1781: „J’ai vieilli, & ma santé est fort delabrée, j’aurois besoin d’aller me retablir, ce que je fairai peutetre cette année en allant passer 3 ou 4 mois a l’Amerique septentrionalle“. 11 HCA 30/287, Chassarel, Fort-Royal, an seine Mutter Mme de Peredun, Bergerac, 15.08.1778: „Il ne mest guere possible de prolonger mon sejour os colonies ma santé se derange au poin a me fere tout creindre si la guerre ne paresset inevitable iores deia demandé un conge pour la retablir votre fils fera bien de rester en franze le plus qil pourra [...] si votre fils ressoiet des ordres pour reioindre avan lespiration de son conge il foddra quil se [réfère aux] resons de santé qi lont amené en franze et metre des ser-

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Chassarel gab sogar einige praktische Hinweise, wie vorzugehen wäre, wenn sein Bruder zurück in die Karibik geschickt würde: „Wenn Ihr Sohn Befehl erhalten sollte, zurückzukommen, bevor sein Urlaub vorbei ist, wird er sich auf Gesundheitsgründe [berufen müssen], die ihn nach Frankreich gebracht haben, und die Zertifikate der Ärzte benutzen; dies ist ein Klima, welches selbst für die besten Temperamente gefährlich ist“.12 M. Mahaux aus Saint Domingue war ein weiterer „Patient“, der sich nicht in der Lage sah, es noch länger in der Karibik auszuhalten. Seiner Verwandtschaft in Paris beschrieb er seine Leiden: „In meinem letzten [Brief] aus dem vergangenen Jahr haben Sie gesehen, dass ich schon bereit war, mich nach Frankreich einzuschiffen, das war ich in der Tat, doch im Moment meiner Abreise bin ich erkrankt und war auf meinem Krankenbett bis Januar, ich habe alle Extreme durchlaufen und konnte nicht genesen. Dennoch geht es mir nun das winzigste Bisschen besser, doch ich habe einen Husten behalten, der mich erstickt, und der oft von Blutspucken begleitet ist. Ich kann kaum laufen, und nur mithilfe eines Stocks. Die Chirurgen versichern mir, dass ich vom Asthma angegriffen werde, obgleich diese Krankheit jenseits ihrer schwächlichen Fähigkeiten liegt. Diese Krankheit und mehrere Verluste haben meinen Körper und meine Geschäfte schwer ruiniert [...] da ich nicht in der Lage bin, in diesem Land meine Gesundheit wieder zu erlangen, bin ich entschlossen, nach Frankreich zurück zu kehren“.13

Wie gut man mit den klimatischen Bedingungen der Kolonien umgehen konnte, war somit bis zu einem gewissen Grad eine Frage der sozio-geographischen Zugehörigkeit des Körpers. Mehr als physische Stärke und eine robuste Konstitution – die im Gegenteil manchmal beinahe als eine Provokation für tropische Ertiffiqats des medeszins a Lapui cessi est un climat dangerus os melieurs temperamans“. 12 Ebd. 13 HCA 30/255 n. 251, Mahaux, Saint Domingue, an Mahaux, Paris 14.08.1756: „Par ma derniere de l’année passé vous avez vu que J’etois tout a passer en France je l’estois en effet mais je suis tombé malade au moment de m’embarquer et ai été alité jusqu’en janvier, j’ay eté a toute extremité et je ne puis me Retablir. Je fais cependant un tant soit peu mieux mais il m’a Resté une toux qui m’etouffe et qui est souvent accompagnée de crachements de sang. Je ne puis marcher qua peine et a l’aide d’un baton. Les chirurgiens m’assurent que je suis attaque de l’ hasthme or cette maladie est au dessus de leurs foibles lumieres. Cette maladie et plusieurs pertes ont totalement derangé mon corps et mes affaires [...] ne puissant recouvrer la santé dans ce païs, je me suis determiné de Repasser en France“.

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krankungen betrachtet wurden14 – war entscheidend, wie sehr eine körperliche Verfassung die Umweltbedingungen reflektierte, in denen der Körper geboren und aufgewachsen war. Die temperamentale Zusammensetzung des Körpers konnte mit ausschlaggebend dafür sein, ob er fähig war, das fremde, tropische Klima zu bewältigen. Letzteres hing jedoch auch davon ab, ob der entsprechende Mensch bereit und in der Lage war, seine Lebensweise zu verändern, wenn das Klima dies verlangte. „Wir sind zur Zeit in der hivernage, welches die heißeste Zeit des Jahres ist, und welche 5 Monate andauert vom 20. Juli bis zum 20. Oktober“, schrieb M. de Chabans aus Martinique an seinen Vater, „es ist die Zeit der Krankheiten für jene, die ungemäßigt sind, für meinen Teil mäßige ich mich so sehr ich kann, und darum geht es mir gut“.15 De Chabans sah einen klaren Zusammenhang zwischen dem Verhalten einer Person und dem Effekt, den das Klima auf sie hatte; eine Perspektive, die von vielen BriefschreiberInnen geteilt wurde und die im Gesundheitspflege-Kapitel noch detaillierter besprochen wird. Hierbei spielten Kenntnisse der Region und entsprechende Modifikation von Praktiken eine große Rolle. Als M. Amelin aus Saint Domingue unerwartet Besuch eines jungen Bekannten aus Frankreich namens Carrière erhielt, der direkt nach seiner Ankunft in der Kolonie zu ihm gekommen war, musste Amelin ihn zuerst von einigen Illusionen über das, was in der heißen Jahreszeit körperlich möglich und ratsam war, befreien. „Ich war sehr erstaunt, ihn zu sehen, da ich ihn in seinem Land wähnte und nicht wusste, dass er sich verpflichtet hatte“16, berichtete Amelin seiner Tochter, welche Carrière ebenfalls kannte.

14 Siehe z.B. Alexandre Moreau de Jonnès, Monographie Historique et Médicale de la Fièvre Jaune des Antilles, Paris 1820, S. 99. Antonio Savarésy, De la Fièvre Jaune en Général, et particulièrement de celle qui a régné à la Martinique en l’an XI et XII, Naples 1809, S. 259 f. 15 HCA 30/287, de Chabans, Martinique, an seinen Vater in Le Havre, Sommer 1778: „Nous sommes accuelement dans livernage qui est le tems le plus chaux de lannee et qui dure 5 mois acommancer le 20 juillet jusquau 20 octobre et cest le tems de maladie pour ceux qui ne ménages pas pour moi je ménage le plus quil mest possible et aussi je me porte bien“. 16 HCA 30/279, Amelin, Grand Boulan, Saint Domingue, an Mlle Amelin in Toulouse, 13.07.1778: „il ne luy a pas etee bien difficile de me trouver etant connu de tous le monde tant blanc que Negres, jay etee tres surpris de le voir le comptant dans son pays, ignorant qu’il se fut engagée, il est ches moy, ches toy si tu veut, [...] en attendant quil ait recu des nouvelles de ses parens qui sont a 80 lieue du cap, il en vouloit faire la routte à pied, je luy en ay representée limpossibilite vu la saison chaude ou nous somes que les maladies étoient funeste pour les nouveaux arrivée“.

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„[E]rwohnt in meinem Haus [...] während er auf Neuigkeiten von seinen Verwandten wartet, die 80 Meilen vom Cap entfernt wohnen, er wollte die Reise zu Fuß machen, ich habe ihm die Unmöglichkeit dessen erklärt angesichts der heißen Jahreszeit, in der wir uns befinden [und dass] die Krankheiten gefährlich für Neuankömmlinge sind“.17

Amelin, mit seiner Expertise des Klimas, konnte über die unpraktischen Pläne des jungen Mannes nur den Kopf schütteln. Ein dem Klima beigeordneter und in vielen Briefen damit vermischter Aspekt waren die spezifischen meteorologischen Gegebenheiten der karibischen Kolonien. Die Hivernage, die feuchte und stürmische Jahreszeit, wurde von vielen BriefschreiberInnen als besonders belastend empfunden. Doch jenseits dieser direkten Einwirkungen auf ihre Körper bescherte die Hivernage den KolonialbewohnerInnen noch weitere, indirekte, aber nichtsdestoweniger dramatische körperliche Situationen wie Hurricanes und andere Witterungsereignisse. Im November 1778 schrieb ein junger Mann namens Bartholomé, wohnhaft auf Saint Domingue, an seine Mutter in Rochefort. Er erzählte ihr, dass er unerwartet seine Tante getroffen hatte: „Ein Unfall, der ihr in den Bergen zugestoßen ist, hat mir das Vergnügen verschafft, sie sechs Wochen lang in ihrem Haus in La Colline zu sehen; es war der Donner von dem man geglaubt hatte [dass er alle töten wolle oder: der geplant hatte alle zu töten], besonders meine Tante, nachdem er auf ihr Haupthaus gefallen war, und der Blitz zweimal hintereinander vor ihren Augen herabgefahren war, hinter ihr in 6 Daumen Entfernung von ihrem Sessel, welchen sie nach vorne gerückt hatte vor einen Spieltisch, um zu spielen [...] ich hätte mit von der Partie sein sollen, meine liebe Tante hatte das Unmögliche versucht, um mich am Morgen davor aufzuhalten, als ich herunterkam [aus den Bergen, auf dem Weg nach La Colline]. Niemand wurde verletzt, sie sind mit dem Schrecken davongekommen, der so extrem war, dass die Damen nach La Colline hinuntergekommen sind mit dem Entschluss, die Regensaison nie wieder in den Bergen zu verbringen, sondern in unserem liebenswerten Colline, das gänzlich frei ist von ehrenwerten Leuten, die man treffen könnte“.18 17 Ebd. 18 HCA 30/305, Bartholomé, La Colline, Saint Domingue, an seine Mutter in Rochefort, 01.11.1778: „Un accident qui lui est arrivé a la montagne m’a procuré le plaisir de lavoir chez elle a la coline (cosine?) pendant 6 semaines cest la chute du tonnerre qui étant tombé sur sa grande case a pensé tuer tout le monde et surtout ma tante, la foudre ayant passé sous ses yeux deux fois de suite derrierre elle a la distance de 6 pouces de sa chaise qu’elle venait d’avancer devant une table de jeu pour faire la partie elle était avec sa belle saur Dlle De Tourny, madame Descombes et le sieur Bataille. Je

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Dieser Bericht, der nicht mit sensationellen Details geizt, zeigt auf zwei Ebenen die Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit dem karibischen Klima erwachsen konnten. Offenbar gehörte Bartholomés Tante zu jenen vermögenden Saint Dominguer PflanzerInnen, die zwei Plantagen besaßen: Eine in der heißen Ebene, auf der Zucker angebaut wurde, und eine weitere in den kühleren Bergregionen, wo Kaffee gedeihen konnte. Auch für Menschen galt die Bergluft als gesünder, weshalb es sich für diejenigen, die ausreichende Mittel besaßen, anbot, die besonders ungesunde Regensaison in den Bergen zu verbringen. Doch Bartholomés Tante und ihre Freunde mussten feststellen, dass die Berge in dieser Jahreszeit ihre ganz eigenen Gefahren bargen, und mussten so das kleinere Übel identifizieren: Schlechte Luft und unehrenhafte Gesellschaft in La Colline, oder potentiell tödliche Katastrophen in den Bergen. Die eigene Gesundheit zu schützen konnte in der Karibik noch deutlich komplizierter sein als in Europa, und erforderte bisweilen eher Kreativität und Flexibilität als rigide Disziplin.

devais bien etre de leur compagnie, ma chere tante ayant fait l’impossible pour me retenir la veille au matin, don j’en étais descendu. Person n’a eu de mal, on en a été quite pour la peur qui a été si Extrème, que ces dames sont descendu a la Coline avec Sentiment de ne passer jamais plus la Saison des Pluies a la montagne, mais bien a notre aimable Coline, qui est entierrement depourvue de persones honnêtes que l’on puisse voir“.

Gesundheitspflege in der Karibik

Am 16. August 1778 schrieb M. Brière an Mme Anthéaume bezüglich ihres Sohnes, der mit ihm in St. Pierre auf Martinique lebte: „Ich insistiere nach wie vor, dass Sie Ihren unglücklichen Sohn zurück an Ihre Seite rufen, der niemals beständig werden wird in einem Land, wo man mehr als überall sonst Gesundheit & gutes Betragen braucht, was er unglücklicherweise überhaupt nicht besitzt“.1 Es mag ungerecht erscheinen, dem jungen Anthéaume seinen Mangel an Gesundheit zum Vorwurf zu machen, doch in M. Brièzes Augen war dieser Mangel vermutlich zumindest zum Teil Anthéaumes Schuld. In einem gefährlichen Klima hätte fehlende Selbstkontrolle (schlechtes „Betragen“) sich negativ auf die Gesundheit der meisten Leute ausgewirkt. Selbstdisziplin und Mäßigung waren in der Karibik wichtiger als in Europa, und „se ménager“, sich zu schonen, bedeutete auch, die eigenen Wünsche und Begierden zu kontrollieren – einer der meisterwähnten Aspekte der Gesundheitspflege. In seinem Artikel über die Konstruktion „der Tropen“ in europäischen Medikalkonzepten zeigt D. Arnold auf, wie sich schon seit dem 16. Jahrhundert in Europa die Annahme durchsetzte, dass „the tropics were “intemperate“, a region that was wild, unruly and dangerous by comparison with the calm and sobriety of more northerly places“.2 Der inhärenten „Intemperiertheit“ der Tropen konnte nur mit Selbstkontrolle und konsequenter Mäßigung entgegengewirkt werden. Wenn die ungemäßigte Natur auf einen ungemäßigten Körper traf, war Letzterer nach kurzer Zeit erschöpft, anfällig für Krankheiten und schnell jenseits aller Hilfe. Ein anonymer Offizier schrieb seinem Freund M. de Valete,

1

HCA 30/286, Brièze an Mme Anthéaume, Le Havre, 16.08.1778: „J’insiste toujours à ce que vous rappelliés auprès de vous votre infortuné fils qui ne pourra jamais prendre consistence en ce pais où il faut plus que partout ailleurs santé & conduite, ce qu’il ne possède malheureusement guère“.

2

Arnold, Place of ‚the Tropics‘, S. 307.

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„[U]nser Bruder ist an die [Seite?] seiner lieben Mutter zurückgekehrt, die Tollereien haben seine Gesundheit so sehr zerstört, dass er nach Frankreich geschickt werden musste; schärfe seiner Mutter ein, dass sie ihn dort behält, solange sie kann, sein Temperament wird sich niemals diesen brennendheißen Klimata anpassen“.3

Das gnadenlose Klima der Karibik verzieh keine „Tollereien“, eine Kategorie, die für die meisten Europäer vermutlich vor allem Sex und Alkoholkonsum umfasste, sondern erforderte Mäßigung. Was bedeutete dies genau? Die meisten Briefe operieren lediglich mit dem vagen Terminus „ménagement“. Zeitgenössische Medizinhandbücher jedoch gaben konkrete Hinweise, die Neuankömmlingen helfen sollten, im karibischen Klima bei Gesundheit zu bleiben, und beleuchten somit, was „Mäßigung“ in der täglichen Praxis bedeutete. Der Arzt Robert Thomas, der mehrere Jahre lang auf der Karibikinsel Nevis praktiziert hatte, veröffentlichte 1790 sein „Medical Advice to the Inhabitants of Warm Climates, with a few useful hints to new settlers for the preservation of health and the prevention of sickness“. Hierin empfahl er begrenzte körperliche Anstrengung, riet vom Tanzen ab und zu „a moderate indulgence in the delicacies of the table, a very temperate use of all vinous and spirituous liquors, a great circumspection and self-command in sensual pursuits, and the carefully avoiding all exposures to the night air“.4 Dies waren grundlegende medizinische Empfehlungen für gemäßigtes Verhalten, und die folgenden Beispiele zeigen, wie Individuen mit diesen medikokulturellen Basiswahrheiten in ihren täglichen Gesundheitspraktiken umgingen. „Ich habe Ihnen in [Brief] Nr. 12 erzählt, dass ich bald tot sein würde, und dass mein nächster [Brief] Ihnen die Tatsache berichten würde“, schrieb M. Descorches im August 1778 aus Martinique an seinen Freund De Boutigny. Die sich hier eigentlich aufdrängende Anschlussfrage, wie genau er es geschafft hätte, nach seinem Tod den Brief mit der Nachricht seines Ablebens zu schreiben, bleibt leider ungeklärt. Stattdessen konnte Descorches mit der überraschenden Nachricht aufwarten, dass er noch nicht tot sei –

3

HCA 30/287 anonym, Martinique, an M. De Valete, Paris, 15.08.1778: „notre frere est randue os [unleserlich] de sa chere maman les folies ont derangé sa santé au poin quil a falu le fere passer en franse engage sa mere a li retenir le plus longtems qele pourra son temparaman ne se fera iamais a ses brulans climats“.

4

Thomas, Robert: Medical Advice to the inhabitants of warm climates, on the domestic treatment of all the diseases incidental therein, with a few useful hints to new settlers for the preservation of health and the prevention of sickness, London 1790, Introduction.

Gesundheitspflege in der Karibik | 163

„aber es fehlt nicht viel daran, mein Schmerz wird jeden Tag schlimmer, und alle zweifeln daran, dass ich es noch weit bringen werde. Meine größte Sorge ist, gut zu essen, zu trinken und zu schlafen, man sollte denken, dass wenn man mittags ein Stück trockenes Brot und zwei Gläser Wasser nimmt, dieses einen nicht davon abhalten sollte, gut zu dinieren, und dass ein ebenso leichtes Abendessen auch den Schlaf nicht behindern sollte, es beschwert den Magen nicht zu sehr, und wenn ich um zehn zu Bett gehe, stehe ich stets um sechs Uhr auf“.5

Bis zu diesem Punkt muss der Leutnant, mit seinen sehr bescheidenen Mahlzeiten und seiner vorbildlichen „Bettroutine“, seinem(n) Leser(n) geradezu wie ein Muster des gemäßigten Lebens erschienen sein. Und doch schien der „Clean Living“-Stil für ihn nicht wirklich gut zu funktionieren, schließlich behauptete er, der Tod warte praktisch auf seiner Türschwelle. Der Brieferzählung zufolge machte Descorches dann allerdings eine glückliche Beobachtung – „man behauptet hier, das Abendessen wäre ungesund, aber wir haben die Erfahrung gemacht, und das Gegenteil gesehen“. Die Umstände dieser Beobachtung waren wie folgt: Am 11. August war ein Kreole „durch das Katzenloch“ in das Zimmer einer/eines (dies ist hier ungeklärt!) „der jungen Leute“ der Stadt gekrochen und hatte dort die Nacht verbracht. Ein Scheintribunal dieser jungen Leute hatte ihn dann für diese Übertretung „zum Tode“ verurteilt, was in diesem Fall bedeutete, dass man ihn mit Butter, Salz, Zwiebeln und Pfeffer eingerieben hatte. So mariniert, wurde der junge Mann von Fliegen und Mücken geplagt, was die Abendunterhaltung für die Anderen darstellte: „Wir waren sieben, wir saßen [dem Tribunal] sehr gut vor, was uns einige Flaschen Wein leeren ließ, ich schwöre Dir, dass sich niemand hiervon unpässlich fühlte, was uns beweist, dass, sofern wir die Mittel zu einem Abendessen haben, es uns davon nicht schlechter ergeht“.6 5

HCA 30/287, Descorches, Martinique, to Monsieur de Boutigny, La Louppe, France, 17.08.1778: „Je vous mandois par le numero 12 que j‘étois bientos mort et que ma prémiere vous anoncerait la chose faitte je ne le suis pas Encorre mais peut sent faux mon mal ocmante tout les jour et tout le monde doutte que jaille bien loint mon plus grand mal est de bien manger bien boire et bien dormir vous pancé bien que quand on dejeune avec un morceau de pain sec et deux verre deau sela nenpêche pas de bien diner et quun souper aussi léger nenpeche pas nonplus de dormit sa ne charge pas trop lestoumac aussi quand je me couche a dix heure je me reveille toujour a six Lonprétent icy que le Souper n’est pas Sint mes nous en avont fait Lexperiance et nous avont vut le contraire“.

6

Ebd.: „nous etions sept nous officiames tres bien sela nous fit fluter quelque bouteille de vin je vous jure que personne ne se nest trouve incommode se qui nous prouve que si nous avion le moyen de souper nous ne nous en trouverions pas plus mal“.

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Angesichts des Briefanfangs, indem der junge Mann berichtete, er könne jeden Moment sterben, scheint die frohe Erkenntnis, dass kräftiges Zechen seine schwache Gesundheit in keiner Weise geschädigt habe, etwas erstaunlich – oder verdächtig. Und doch ist die Erzählung kohärent und durchaus überzeugend. Sie begann mit einer klaren Definition dessen, was Descorches Schwierigkeiten bereitete: gut zu essen, zu trinken und zu schlafen. „Gut“ bedeutete hier offenbar „gesund“. Descorches deutete an, welche Maßnahmen er ergriffen hatte, um diesen Problemen zu begegnen, etwa die Beschränkung auf trockenes Brot und Wasser bei zwei Mahlzeiten und einen sehr disziplinierten Schlafrhythmus. Gleichzeitig vermittelte er, dass diese Praktiken nicht funktionierten, und widersprach explizit und erfahrungsbasiert örtlichen Gesundheitsdiskursen, welche diese Praktiken zu unterstützen schienen. Der Bericht der (Folter-)Party und die glückliche Beobachtung, dass Alkoholgenuss in der Karibik den jungen Männern nichts anhaben konnte, mögen dazu verleiten, Descorches’ zuvor geäußerte Ängste weniger ernst zu nehmen. Es wäre jedoch besser, diesen Bericht als eine nachträgliche Reinterpretation solcher Praktiken zu lesen, die in den Kolonien generell als ungesund galten. Descorches erzählte die Geschichte so, dass die Trinkepisode eher als eine Erkenntnis oder ein Experiment erscheinen musste denn als eine zu rechtfertigende Transgression. Seine Erzählung argumentierte halb-implizit gegen Mäßigung, die er praktiziert hatte und die ihm vor allem geschadet hatte, wie der Beginn des Briefes zeigt. Die Harmlosigkeit des Exzesses wurde von seinen persönlichen Erfahrungen und denen seiner Kameraden bewiesen, und er verbürgte sich für die Wahrheit dieser Darstellung („ich schwöre Dir“). Descorches’ Brief unterstrich die Bedeutung praktischer, physischer Erfahrung gegenüber Hörensagen und medikokulturellen Dogmen. Egal, wie kreativ und geschickt BriefschreiberInnen sich in der ReInterpretation von Gesundheitsdiskursen gezeigt haben mögen, wenn es darum ging, Praktiken des „sich gehen lassens“ zu rechtfertigen – ihre epistoläre Cleverness oder auch schlichte Dreistigkeit ist kein Grund, zu vermuten, dass sie nicht gleichzeitig ernsthaft besorgt um ihre Gesundheit waren. Descorches schrieb eine Art kleines Postskriptum unter seinen Brief: „Am Dienstag 18. werde ich ins Hospital gehen, um mich zu erfrischen, Bäder zu nehmen und Molke zu trinken, um mich auf das Marschieren vorzubereiten [...] die große Hitze verstopft einen sehr, und das größte Gut ist, einen freien Bauch zu haben“.7 Es scheint, als wäre Descorches sehr daran interessiert gewesen, dass sein Brief 7

Ebd.: “„Je compte aler Mardi 18 a Lhopital pour me rafraichir prandre des bains et du petit lait pour me preparer a marcher [...] La Grande chaleur vous reçaire baucoup et le plus Grand bien est davoir ici le ventre libre“.

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vermittelte, wie sehr er sich um seine Gesundheit sorgte, und wieviel er bereit war, für sie zu tun. Auch wenn das „Trinkexperiment“ möglicherweise mit einem Augenzwinkern geschrieben war, zeigte sich Descorches interessiert an Gesundheitsdiskursen und vertraut mit örtlichen Angeboten zur Gesundheitspflege, die ihm offenstanden, so wie die Bäder im Hospital. Rein praktisch besprach Descorches hier veränderte Ernährungs- und Schlafpraktiken ebenso wie Baden und Purgieren/Abführen und bietet so relativ konkrete Beispiele dafür, wie Mäßigung und auch Prävention von Krankheit in der Praxis aussehen konnten – jenseits des medizinischen Handbuchs. Mit den Postulaten medizinischer Handbücher, oder zumindest mit den Prinzipien der Mäßigung, waren EuropäerInnen des 18. Jahrhunderts vertraut und legten sie einander in Briefen häufig ans Herz, wie oben gezeigt. Derartige Empfehlungen konnten und können aber auch durchaus als Versuche gelesen werden, die Gesundheit von Angehörigen und Freunden aus der Ferne zu überwachen bzw. zu managen. Marie Canchon etwa versuchte immer wieder, per Brief die Gesundheit ihres Mannes zu verwalten, indem sie ihm Anweisungen zur Mäßigung schickte. Und obwohl ihr Mann einerseits versuchte, sie von diesen FernDirektiven abzubringen, waren seine Beschreibungen von Martinique nicht gerade dazu angetan, besorgte Ehefrauen zu beruhigen: „Dieser Moment [in dem er sich endlich nach Frankreich einschifft] ist noch sehr fern für mich, der nicht länger in diesem verfluchten Land leben kann, wo alle Franzosen verurteilt sind, zu sterben oder schwer zu leiden [...] also, meine Liebe, entscheide Du, ob es mir gut geht zwischen so vielen Toten und Kranken, denn seit unserer Ankunft auf Martinique sind mehr als 100 Männer von denen, die in Dieppe waren, gestorben, unter anderem mein Kapitän de St. Louis“.8

Es scheint, als hätte Canchon selbst gemerkt, dass dieses Horrorszenario wohl nicht der beste Weg war, um Marie – die er „Mimi“ nannte – von ihren Ermahnungen abzubringen, denn er fuhr fort: „Ich weiß selbst nicht, wie ich am Ende 8

HCA 30/285, Canchon, Fort Royal, Martinique, an Marie Canchon, Frankreich, 15.08.1778: „se temps ect an cor bien lon pour moy qui ne peu plus viv30/302re dens se mody peii si ou tou le Frenset sont condaner a mourire ou a bien soufrire insi ma cher juge si je suis bien par mi tent de mor ou de malade car depuis notre arive a la martinique illet mor 100 homme de seus qui ettes à dieppe atre autre mon capitaine et St Loui et jene ses pa moimeme commont je partire enfin aussi bien toulemonde es jalou de ma santé tu me parle de lintanperanse va mimi tu na pabesoin de me le defandre car je ses quellet pernisieu pour seu qui en fon de lache cependant je regarde toujour tes conseille come sage“.

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so gut davongekommen bin, alle sind neidisch auf meine Gesundheit“9. Canchon beharrte darauf, dass Mimis Anweisungen unnötig seien, da er sich der Bedeutung eines gemäßigten Lebens wohl bewusst sei: „Du erzählst mir von Unmäßigkeit, komm schon Mimi, Du musst sie mir nicht verbieten, denn ich weiß, dass es gefährlich ist für jene, die zu sorglos sind.“10 Gleichzeitig wollte Canchon Mimi offenbar nicht kränken, denn er fügte hinzu: „dennoch, ich finde Deinen Rat stets klug“.11 Mäßigung musste auch im emotionalen Bereich stattfinden, denn das karibische Klima vergab emotionale Exzesse ebenso wenig, wie es schweres Essen oder ermüdende Arbeit erlaubte. Der Maler Bouché, der aus Montmartre nach Guadeloupe umgesiedelt war, machte sich selbst in einem Brief an seine Schwester Vorwürfe, weil „ich mich zu sehr meinen Reflektionen überlasse über die Art des Lebens, das ich hier führe, im Gegensatz zu dem, welches ich nahe Dir und meinen Freunden geführt habe“.12 Im Frühjahr 1778 war François Lebeurier „Im Schmerz eines Unglückes, welches mir wiederfahren ist, einen nègre getötet zu haben, den ich bezahlen musste, der Kummer hat mich ergriffen, was mir eine Krankheit eingebracht hat, die mich gekostet hat“.13 Lebeuriers Kummer, der durch den Verlust des Geldes verursacht wurde, welches er als Kompensation für den getöteten Mann zu zahlen hatte, führte zu einer Krankheit, die weitere Ausgaben bedeutete. Während dieses Beispiel aus Sicht eines Lesenden des 21. Jahrhunderts (hoffentlich) die absolute Gefühl- und Mitleidlosigkeit vieler Kolonialisten gegenüber SklavInnen verdeutlicht, hätte es für Lebeuriers Leserschaft vermutlich vor allem seine Empfindsamkeit zum Ausdruck gebracht – nicht aufgrund der Tatsache, dass er einen Menschen getötet hatte, sondern weil sein Kummer über das hierfür zu zahlende Geld ihn krank gemacht hatte. Kummer konnte den Körper erkranken lassen, sogar schwer. Das Verursachen von Kummer war somit ein riskantes Unterfangen, und Vorsicht 9

Ebd.

10 Ebd. 11 Ebd. 12 HCA 30/396, Boucher, Port Louis, Guadeloupe, an Mlle Boucher, Montmartre, 4.3., Jahr 2 der Französischen Republik: „lorsque je me laise trop aler a mes reflection, sur le janre de vie que je mene ici, an opposition a celui que je menais pres de toi et de mes amis“. 13 HCA30/302 François Lebeurier, Fort Royal, Martinique an seine Frau und seine Schwester in Le Havre, wahrscheinlich Januar 1778: „dans la panne (peine) dun maleur qui maarive davoire tuee un negre que je ete oblige de paiier Le chagrint mapris quil ma donne unne maladis quil ma coute ce qui moblige apres toute les panne que je me donne et que je ne rusit pas de me pasade de paser pour france“.

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war geboten nicht nur beim Abfassen harscher Briefe, sondern auch bei der regelmäßigen Fortführung des Briefverkehrs. Als Ambroise Touret keine Briefe mehr von seinen Eltern erhielt, war er so besorgt, dass er medizinische Behandlung benötigte: „Ich will Euch sagen, dass Ihr mir so üble Ideen und Schmerzen verursacht, dass ich krank werde“, beschwerte er sich bei seinem Vater, „womit ich schon im Hospital gewesen bin“.14 Sowohl Ambroise Tourets als auch Monsieur Canchons Briefe deuten darauf hin, dass Gesundheitspflege gewissermaßen in Zusammenarbeit zwischen den briefschreibenden Parteien stattfinden konnte. Für die Ehepartner Canchon bedeutete dies den Austausch von Rat, Vorschlägen und Kommentaren zum Thema Gesundheit; im Fall von Ambroise Touret wurde der konstante, verlässliche Austausch von Briefen selbst zu einer Gesundheitspraktik, die fraglos gemeinsam von allen Beteiligten ausgeführt werden musste. Wenn, wie in Tourets Fall, eine Seite ihrer Verpflichtung nicht nachkam, konnte die andere Seite gesundheitlichen Schaden nehmen. Dies ruft Sarah Pearsalls Ausführungen zur Substitution körperlicher Nähe in „Atlantic Families“ in Erinnerung: Obwohl BriefschreiberInnen tausende von Meilen voneinander entfernt waren, konnten Briefe sicherstellen, dass das Agieren in Beziehungen nach wie vor direkte körperliche Konsequenzen hatte. Ambroise Tourets Familie war direkt verantwortlich für seine Krankheit, da sie ihn in einem gefährlichen Land vernachlässigt hatten. Es lag also in ihrer Macht, ob es ihm besser ging oder sogar schlechter; trotz der großen Distanz bestand ein körperliches Band, aber auch eine körperliche Verantwortung. Beide Seiden mussten sich brieflich „umeinander kümmern“ und waren so unweigerlich verbunden, sie gehörten zusammen. Ein deutlich plastischeres Beispiel für gemeinsam betriebene Gesundheitspflege ist der Brief von Anne-Renée Degreaux aus Martinique an ihre Cousine Jeanneton Lafargue in Bayonne. Jeanneton hatte eine Brille geschickt, die AnneRenée offenbar in der Kolonie nicht hatte bekommen können. Anne-Renée bedankte sich zwar für diesen essentiellen Beitrag zu ihrem körperlichen Wohlbefinden, allerdings nicht ohne zu bemerken, dass sie sich deutlich mehr gefreut hätte, wenn es eine Hornbrille gewesen wäre. Dieser Kommentar entspricht dem generellen Tonfall Anne-Renées, der von einer bemerkenswert offenen schlechten Laune geprägt war – die Schuld hierfür lag, zumindest aus Anne-Renées Sicht, bei Jeanneton selbst: „Ich bin mir sicher, liebe Cousine, dass Sie recht ärgerlich auf mich sein werden, wenn Sie meine Briefe erhalten, doch schauen Sie

14 HCA 30/287, Ambroise Touret an seinen Vater Ambroise Touret, le Havre, 19.08.1778: „Je vous dirai que vous me metez dans de mauvaise idee et dans une peine a me rendre malade […] duquel je l’ai deja été a l’hopital“.

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genau hin, Sie selbst haben mich auf das Thema gebracht“.15 In Anne-Renées Brief spielte die Karibik eine indirekte Rolle, und zwar als ein Ort der Unannehmlichkeiten und Ärgernisse, nicht der Angst. Sie konnte dort keine Brille kaufen, sondern musste diese über ihre Cousine beschaffen lassen, welche (natürlich!) nur das Zweitbeste kaufte. Zudem waren die Kolonien schon wieder in Kriege verwickelt, was bedeutete, dass kein Wein mehr aus Frankreich eintreffen würde, und Anne Renée schrieb, sie könne „es nicht ertragen“, Wasser zu trinken. (Dieser Kommentar wird im Unterkapitel zu Essen noch näher untersucht.) Von diesen Ärgernissen des kolonialen Lebens zeigte Anne-Renée sich empört, doch gleichzeitig gehörte sie zu jenen wenigen BriefschreiberInnen, die positive Gesundheitspflegeerfahrungen in der Karibik machten. Diese besprach sie in einem umfangreichen Postskriptum, in dem sie ein Problem thematisierte, das bis dato einzigartig ist in den karibischen Briefen: Frostbeulen. „Ich bin nicht mehr von Frostbeulen geplagt“, schrieb sie, „seit mir geraten wurde, sie mit Taffia einzureiben, recht warm“16. Hier schrieb Anne Renée Degreaux einem sehr typischen lokalen Produkt wohltuende Eigenschaften zu; einem Produkt, das es ihr erlaubte, ein Leiden zu behandeln, welches sie sich mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit in Frankreich zugezogen hatte. Allerdings war dies nur ein kleiner lichter Moment für sie, denn die Natur schlug sofort von anderer Seite zu: „Ich bin zudem von einem Luftstoß an meinem Arm geplagt worden, ich konnte meine Finger nicht bewegen und habe sehr gelitten; es ist eau-de-vie in der Kiste, das mich kuriert hat, indem ich eine Kompresse damit getränkt und sie [um den Arm] gewickelt und von Zeit zu Zeit beträufelt habe“.17 Es ist bemerkenswert, dass Anne-Renée ihre Gesundheitsbeschwerden nicht einfach nur darstellte, sondern mit hilfreichen Anweisungen für ihre Behandlung versah, möglicherweise, um medizinisches Wissen unter Verwandten und Bekannten zu teilen. Wie im Körper-Einführungskapitel angedeutet, beschäftigten sich die hier untersuchten Briefe von Frauen eher mit generellen Gesundheitsproblemen als mit karibikspezifischen Krankheiten, weshalb relativ wenige der hier vorgestellten BriefschreiberInnen Frauen sind. Die hier vorliegenden Frauenbriefe beschäftigen sich 15 HCA 30/302, Anne Renée Dégreaux, Saint Pierre, Martinique, an ihre Cousine Jeanneton Lafargue in Bayonne, 10.01.1778: „Je suis persuadé chere cousine que vous alles êtres faches contre moi a la Recepsion de mes letres mais si vous faite bien attension vous mens aves donné le suyet“. 16 Ebd. 17 Ebd.: „Je ne suis plus incomode dangelure depuis quon ma enseigné de les froter avec du tafias bien chaux – subsequent quote – javes été aussi incomode dun coup dair au bras je ne pouves pas remuer les doits et je souffres beaup [sic!] ses leau de vie caufré qui ma guerie en imbibans une compresse et lanveloper et tans en tans laroser“.

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mehr mit Pflege als mit Krankheitserfahrungen, viele von ihnen beschreiben die Krankheiten von Ehemännern und Kindern. Zudem befassten sich die Verfasserinnen mit zentralen Gesundheitsfragen, die in Frankreich ebenso relevant gewesen wären, etwa Schwangerschaft und Geburt. Die ebenfalls im Körper-Kapitel zitierte Madame Maugé aus Saint Domingue schrieb an eine Freundin in Frankreich – die sie liebevoll „Meine liebe Alte“ nannte – und informierte sie über alle Schwangerschaften und Geburten, die sich in ihrer Kolonialgemeinde ereigneten. Die Adressatin war anscheinend selbst mit allen betroffenen Damen bekannt. Im Einführungskapitel zum Körper wurde bereits ein verkürztes Zitat aus diesem Brief präsentiert, das hier nun nochmals in voller Länge und im Erzählkontext betrachtet werden soll: „Mme Desmares hat im 7 Schwangerschaftsmonat ein Mädchen zur Welt gebracht, in dieser Zeit besaß sie die Unvernunft, ans Cap zu fahren und dort Flüsse mit sehr hohem Wasser zu überqueren, was ihr solche Angst verursachte, dass sie unter großem Leiden niederkam, [ihre Gesundheit] ist noch nicht wieder hergestellt, man hat mir mit der letzten Post mitgeteilt, dass sie sehr krank ist, es ging ihr noch nicht wieder gut genug, um mir zu schreiben; ich zittere, ich fürchte, dass das selbe Unglück, das Mme Herin zugestoßen ist [einer Dame, die eine Freundin von Mme Maugé und der Adressatin gewesen war und von deren Tod Mme Maugé gerade durch die Adressatin erfahren hatte] sie ereilen wird, sie wird sehr vom Bluthusten geplagt, es ist eine grausame Krankheit, die besonders denen, die Kinder bekommen, nicht vergibt [...] die Damen Tarjaque und Deseque sind zurück in der Gesellschaft, erstere hat ein Mädchen zur Welt gebracht, ihr viertes Kind, sie vollbringt diese Aufgabe auf das Beste; Mme Desegure ist seit 15 Monaten schwanger, ich weiß nicht, wann der Tag kommt, an dem sie entbunden wird, die Chirurgen sagen, sie wird sterben“.18

18 HCA 30/260, Mme Maugé, Saint Domingue, an ihre Freundin in France, undatiert, 1756: „Mame Desmaress vien dacouché dune fille de 7 moy grausse de cetans las elle eu linprudance daller au cap et passa des rivier tres haute qui luy donna une peur sy considerables quel acoucha a prais bien des soufrances elle sant nay pas ant corrétablie lon mé marque par la dernier poste quel est bien malade elle na pas antcor étée ant nétas de mécrire je tranbles je crain quil luy arive le mesme acsidant qua mame herin elles tres sujeste a cest crachemant de sang cest une cruelle maladie qui né pardonne pas sortoute a celle qui font des antfant [...] Mes dame Tarjaque et Deseque sont au monde la premier vien dacouché dune fille de sont catriemme antfant elle fait cette besongne aux mieux Mme Desegure est grausse de puis 15 moy je ne cest pas le jour quel acoucheras les cherugien dise quel periras“.

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Mme Maugés Brief deutet auf eine Gemeinschaft von Frauen hin, die sich aus Saint Domingue nach Frankreich erstreckte, und deren Verbindungen eng genug waren, dass Mme Maugé die körperlichen Fähigkeiten und Verfassungen der beteiligten Frauen beurteilen konnte; so wusste sie etwa, dass Mme Tarjaque in der glücklichen Lage war, immer wieder ohne Komplikationen Kinder zur Welt zu bringen. Der vorhergegangene Briefverlauf zeigt auch, dass Mme Herin sich vor ihrem Tod brieflich mit Mme Maugé über den „triste étas“ ihrer Gesundheit ausgetauscht und beraten hatte, bevor sie ihrer Krankheit schließlich unterlag. Mme Maugés Brief zeigt ein atlantikübergreifendes Netzwerk von Frauen, die intensiv in ihre gegenseitigen Gesundheitspraktiken involviert waren; die Rat anfragten und erteilten und sich konsequent informierten. Die Fragen und Themen, die sie diskutierten, waren zwar nicht direkt mit dem karibischen Kontext verbunden. Das System aber, das es ihnen ermöglichte, gegenseitig an ihrem körperlichen Leben Anteil zu nehmen, entsprang der kolonialen Lebenssituation, mit der alle von ihnen verbunden gewesen sein müssen. Ihre brieflichen Konsultationen, die wahrscheinlich regelmäßig erfolgten, können als eine andere Form geteilter Gesundheitspflegepraktiken betrachtet werden.

Ernährung und Gesundheit

In den 2000er und 2010er Jahren ist das historiographische Interesse an Essen und Essenspraktiken (auch) im Zusammenhang mit Gesundheit gestiegen. Jüngere Publikationen, etwa Rebecca Earles „The Body of the Conquistador“ von 2012, Emma C. Sparys „Feeding France“ und David Gentilcores „Food and Health in Early Modern Europe“ interessieren sich unter anderem für die Frage „[w]hy [diet], and in particular dietary consistency, [was] so important to Europeans?“1 Wie Rebecca Earle überzeugend gezeigt hat, fürchteten spanische Kolonisten des 17. Jahrhunderts sich geradezu davon, die Lebensmittel der Einheimischen Bevölkerungen Lateinamerikas zu essen, denn dies konnte zu dramatischen körperlichen Veränderungen führen, die sie mehr oder weniger in Indios verwandelten. Europäische Kolonisten in den Amerikas „and their descendants agonized over whether eating certain native foodstuffs compromised their European-ness“2, erklärt David Gentilcore. Im 17. Und 18. Jahrhundert änderten sich u.a. laut Gentilcore Konzepte und Wahrnehmungen des Zusammenhangs zwischen Essen und Körperkonstitution. Der Einfluss des Galenismus verringerte sich und damit auch die Annahme, dass ein Körper, der in einem bestimmten (Ernährungs-)Umfeld geboren und aufgewachsen war, unweigerlich negativ auf jede Nahrung reagieren musste, die nicht „natürlich“ zu ihm gehörte. Die prominente Stelle, welche die Nahrung als zentrale Determinante der körperlichen Verfassung eingenommen hatte, wurde nun von Luft und Klima besetzt. 3 Dies bedeutete jedoch nicht, dass KolonistInnen des 18. Jahrhunderts jenen fremden Nahrungsmitteln, die ihren VorgängerInnen solche Sorge bereitet hatten, nun gleichmütig entgegentraten. Das Verzehren fremder Nahrung war nach wie vor

1

Gentilcore, David: Food and Health in Early Modern Europe: Diet, Medicine and Society, 1450-1800, 2016, S. 76.

2

Gentilcore, Food and Health.

3

Ebd., S. 93.

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ein Auslöser tiefen Unbehagens. Nahrung, an die man nicht gewöhnt war, bedeutete eine Konfrontation mit unklarem und potentiell unglücklichem Ausgang für den Körper, eine Art diätetisches Roulette. Gentilcore zitiert William Buchan, den Verfasser des 1769 erschienenen, extrem populären Handbuchs „Domestic Medicine“, der überzeugt war dass „[t]here is no doubt but that the whole constitution of body may be changed by diet alone“.4 Und da die Konstitution schon durch das fremde Klima reichlich belastet war, stellte die zusätzliche Herausforderung durch ungewohnte Nahrung ein Risiko dar, das einzugehen viele BriefschreiberInnen nicht willens waren. Eine konsistente, leichte, vertraute Diät in mäßigen Mengen galt als der beste Weg, die Gesundheit zu wahren (abgesehen von vereinzelten Ausnahmen wie Descorches und seinen Kameraden). Allerdings war die Sicherstellung einer solchen Ernährung oft problematisch, da in Kriegszeiten regelmäßig die Transportwege aus Europa, über die der kontinuierliche Import von Lebensmitteln aus Europa gewährleistet wurde, abgeschnitten wurden. Wenn jedoch Getreide, Fleisch, Wein und andere vertraute Nahrungsmittel ausblieben, blieb KolonistInnen keine andere Wahl, als die einheimischen Produkte zu verzehren – mit möglicherweise desaströsen Konsequenzen. Viele der hier untersuchten Briefe beklagten die „Disette“, Lebensmittelknappheit, und berichteten von überhöhten Preisen für Grundnahrungsmittel wie Brot, Fleisch und Wein. Zwar bedeutete „Disette“ im Allgemeinen „nur“, dass europäische bzw. französische Lebensmittel knapp oder nicht erhältlich waren – allerdings waren dies genau jene Nahrungsmittel, welche die Ernährungsgrundlage der meisten EuropäerInnen darstellten. „[M]ehrere Habitants sind gezwungen, ohne Brot auszukommen, da sie kein Mehl bekommen können“5, schrieb M. de la Loussaye im Winter 1778 aus Saint Domingue. Da lokale Lebensmittel im Regelfall noch erhältlich waren – sofern keine Naturkatastrophe, wie etwa ein Hurricane, die Ernte und Vorräte zerstörte – bestand die Alternative darin, „Batate, Banane, Yams, Cassava, Reis, und Mais“6 zu essen. Diese schafften zwar dem Hunger Abhilfe, war aber kein Ersatz für Brot, Fleisch und vor allem Wein, wie viele BriefschreiberInnen immer wieder beklagten. Als der bereits bekannten Anne-Renée Degreaux der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg ins Haus stand, war es besonders das potentielle Fehlen von Wein, das ihren Unmut weckte: „Wir werden Krieg haben, möge der 4

Buchan quoted in Gentilcore, Food and Health, S. 91.

5

HCA 30/305, de la Loussaye, Saint Domingue, an seine Schwester Rhedon (?), Winter 1778: „plusieurs habitants sont obliges de se passer de pain ne pouvant avoir de farine“.

6

HCA 30/305, des Valinières, Saint Domingue, an seinen Bruder in Frankreich, 08.01.1779. patatta, bannanne, yame, cassave, ris, et mais.

Ernährung und Gesundheit | 173

Gute Gott uns bewahren, denn wenn es dazu käme, hätten wir keinen Wein, und ich könnte es nicht ertragen, Wasser zu trinken“.7 Grimmig fügte sie hinzu: „Was mich tröstet, ist, dass ich um nichts mehr etwas gebe, es kümmert mich nicht, ob ich lebe oder sterbe“.8 Offenbar war die Aussicht, keinen Wein zu trinken, gewissermaßen der (Wasser-)Tropfen, der das Fass der kolonialen Frustration zum Überlaufen brachte.9 Auch Madame Poujolz schienen Krieg und Disette das Leben in der Kolonie zu vergällen: Am 5. Juli 1779 schrieb sie aus Port Louis in Guadeloupe an ihren Ehemann in Südfrankreich: „Meine Gesundheit steht zum Besten, Gott sei Dank; ohne das Elend des Krieges, das Disette bringt und teure Lebensmittel & unsere Arbeit fruchtlos werden lässt und die Schuldner unfähig, zu bezahlen, hätte ich nichts zu beklagen außer, dass ich so weit von meiner lieben Familie entfernt bin und weder direkt noch indirekt Nachricht von ihnen erhalte; was die Tage vergiftet, die vergehen in diesem schrecklichen Land, in dem alle Übel das Regiment führen“.10

„Bald wird es keinen Wein und kein Mehl mehr geben, außer für die reichen Leute“, berichtete ein M. Pinard seinen Eltern aus Saint Domingue, “wohingegen ich, der sich um seinen kleinen Haushalt kümmert, um zu sparen, ich [sic!] spüre, dass ich bald nicht mehr in der Lage sein werde, dreißig sols für ein livre Brot, einen écu für eine Flasche Wein und fünfzehn sols für eine Kerze auszugeben, und den Rest in Proportion“.11 7

HCA 30/302, Anne Renée Dégreaux, Saint Pierre, Martinique, an ihre Cousine Jeanneton Lafargue in Bayonne, 10.01.1778.

8

Ebd.

9

HCA 30/302, Anne Renée Dégreaux, Saint Pierre, Martinique an ihre Cousine Jeanneton Lafargue in Bayonne, 10.01.1778: „Nous allons avoir la guere que le bon dieu nous en preserve car si cela allé arriver nous norions point de vin et je ne pouré pas soutenir a boire de leau ce qui me console je ne tiens a riens la vie ou la mors mes egal“.

10 HCA 30/310, Mme Poujolz, Port Louis, Guadeloupe, an Gme. Poujolz l’amériquain, Castelsarazin, Languedoc, 05.07.1779: „Ma santé est des meilleures dieu mercy, sans les misere de la Guerre qui entreine la Disette et la Cherté des vivres, & qui rend les traveaux infructueux et les débiteurs ors d’Etat de payer; je n’aurais a me plaindre que d’Etre eloigné de ma chere famille et de nen recevoir aucune nouvelle ny directe ny indirecte; ce qui empoisonne les jours qui se Coulle dans cet effroyable paye ou reignent tous les fleaux“. 11 HCA 30/305, Pinard, St Marc, Saint Domingue, an seine Eltern in Rouen, 08.01.1779: „il ny aura plus bientôt devin et de farine que pour les gens riches. Quant à moy qui,

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Während es für Pinard ausgesehen haben mag, als ob die materiell Privilegierten in einer besseren Situation wären, weil sie sich nach wie vor Brot und Wein leisten konnten, deutet ein Brief der wohlhabenden Mme Allaire aus Saint Domingue darauf hin, dass Zugang zu europäischen Lebensmitteln in Zeiten der Disette eher eine Frage guter Beziehungen und Infrastruktur war als schlichter Geldmittel. Sie erzählte ihre Freundin Demoiselle Rocquand, dass auch sie die Disette zu spüren bekommen hätte, wäre da nicht ein Bekannter, der sie mit europäischen Lebensmitteln versorgen konnte obwohl in „diesem Land es drei Vierteln der Bewohner an Brot, Wein fehlt, ohne den guten M. Grasset, welcher der Tutor meines Bruders ist, müsste ich mich von den Nahrungsmitteln dieses Landes ernähren, wie alle anderen“.12 Die sehr häufige Erwähnung dieser Grundkomponenten diverser europäischer Esskulturen legt nahe, dass Rebecca Earles Ergebnisse zur Bedeutung von Brot, Fleisch und Wein für die frühen spanischen Conquistadores in den Amerikas auch in der französischen Karibik des 18. Jahrhunderts anklingen. Für die spanischen Kolonialisten schreibt Earle, dass „To lack bread was to be hungry“ und dass Brot, Wein, Fleisch und Fisch „were redolent of health, of civilisation and of Christianity [...] [j]ust as wheat bread was the fundamental food, so wine was the essential drink“.13 Die Conquistadores fürchteten sich vor allem vor einem „going native“ ihrer Körper durch den Verzehr der fremden und heidnischen Lebensmittel. Sie waren überzeugt, dass die seltsame Ernährung die Grundsubstanz ihrer Körper verändern und sie in Indios verwandeln würde, die sie als weichlich und effeminiert betrachteten. Abgesehen von vielen anderen tragischen Transformationen würde dies den Verlust ihrer ‚delightful beards‘14 bedeuten, einheimisches Essen machte das Gesicht bartlos und glatt wie das eines Jungen – oder einer Frau. Gegenüber derart konkreten Schreckensszenarien wirken die Ängste, die französische BriefschreiberInnen des 18. Jahrhunderts ihren AdressatInnen mitteilten, eher wie eine unspezifische Besorgnis. In einem Brief an seine Schwester in Bordeaux schrieb ein M. Seguela im Januar 1779,

pour ménager. Me suis mis à mon petit ménage, jéprouve que bientôt, je ne pourai plus payser trente sols une livre de pain, un écu une bouteile de vin et quinze sols une chandelle, enfin le reste à proportion“. 12 HCA 30/305, Mme Allaire, Artibonite, Saint Domingue, an ihre Freundin Dlle Rocquand in Nantes, 06.01.1779: „la gerre drolle ce pay cit les trois quar des habitans menque de paind de vin san le bon Mr. Grasset qui est le tuteur de mon frere je seroit reduit a me nourire des vivre du pay comme tous le monde“. 13 Earle, Body of the Conquistador, S. 56. 14 Ebd. S. 20.

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dass englische Schiffe beständig französische Transporte mit Wein, Mehl und anderen Gütern abfingen: „Dies verursacht uns großen Schaden hinsichtlich unserer Geschäfte und vielleicht sogar unserer Gesundheit [...] denn ohne Schiffe, die ankommen, werden wir gezwungen sein, die Lebensmittel dieses Landes zu essen, welche, obwohl gut, unsere Gesundheit beeinflussen mögen, da wir nicht an sie gewöhnt sind“.15

Obgleich Seguela offenbar nicht befürchtete, er könne sich in einen „Kariben“ oder einen Kreolen verwandeln, hatte er doch Sorge, die einheimischen Nahrungsmittel Saint Domingues könnten zu fremd für seinen französischen Körper sein. Um Engpässen begegnen zu können, wurde auch vor Ort in der Karibik versucht, die Versorgung mit vertrautem französischem Essen zu gewährleisten, etwa mit frischem Fleisch, nicht nur mit gepökelten Importen. Die „Ordonnance des Mrs les Général et Intendant de la Martinique au Sujet des Boucheries“ vom 25. Mai 1732 zeigt, wie die Verwaltung der Insel versuchte, die Geschäftspraktiken der ansässigen Schlachter zu kontrollieren. Die Ordonnance gab an, dass die Schlachter die Anzahl von Tieren schlachten durften, die für den „täglichen Verzehr der Städte und Marktstädte“ erforderlich war, und dass jegliches Schlachten über diesen Bedarf hinaus verboten war bis „die Exemplare reichlicher“ geworden seien“.16 Gastwirte durften nicht länger in aller Frühe, nämlich vor acht Uhr am Morgen, die besten Angebote der Schlachter abfischen, und für Hospitäler, Armenfürsorge, das Militär und den Gouverneur selbst wurden fixe Rationen festgesetzt.17 Frisches Fleisch blieb jedoch trotz solcher Maßnahmen eine teure Seltenheit in den Kolonien, und viele BewohnerInnen mussten ihre „Fleischbedürfnisse“ mit den notorisch unappetitlichen gepökelten Importen befriedigen. Trotz der Dominanz von Brot, Wein und Fleisch in den Briefen war auch das Fehlen vertrauter Gemüse für viele BriefschreiberInnen besorgniserregend. Hier mag auch Geschmack eine Rolle gespielt haben: Geschmacklich waren Gemüse und Kräuter eine der zentralen Grundlagen von Eintöpfen, Suppen, Saucen, Fleischgerichten etc. in der französischen Küche, wie Kochbücher wie etwa „La

15 HCA 30/305, Seguela, St. Domingue, an ihre Schwester in Bordeaux, 06.01.1779: „cela nous fait grand tort ici par raport a nos affaire et peutetre même a notre santé [...] car ne venant point de navire nous seront obligé a manger des vivres de payis quoy que bon peuvent influer sur notre sante ni etant point a coutume“. 16 Archives Départementales de la Martinique, Série J, Ordonnance des Mrs les Général et Intendant de la Martinique au Sujet des Boucheries, 25.05.1793. § 2, § 3. 17 Ebd., § 4-7.

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Nouvelle Cuisine, avec De Nouveaux Menus Pour chaque Saison de l’année“18, veröffentlicht in den 1740er Jahren in Paris, deutlich zeigen. Obwohl diese Geschmacksgeber eher mit dem Genuss von Nahrung zusammenhängen, sollte Geschmack im Kontext von Gesundheit nicht ignoriert werden. In seinem Buch „The Expert Cook in Enlightenment France“ erklärt Sean Takats, dass der Appetit auf bestimmte Geschmäcker als Signal des Körpers interpretiert wurde, der so sein Bedürfnis nach einer bestimmten Speise zum Ausdruck brachte: „Physicians encouraged the belief in the relationship between appetite and health by arguing that a diner’s taste preferences manifested the body’s immediate physical needs through appetite“.19 Auch Gentilcore gibt an, im Zuge sich wandelnder Interpretationen galenischer Prinzipien wäre es bei der Natur des Körpers „more about tastes and inclinations“20 gegangen.Laut Takats brachte diese Theorie Ärzte in Verlegenheit, da sie versuchen mussten, zu erklären, weshalb so viele Esser und Trinker sich danach sehnten, Dinge zu sich zu nehmen, die höchst schädlich für ihre Körper waren. Abgesehen von diesem konzeptionellen Stolperstein wurde die Theorie, dass ein Körper nach dem verlangte, was er brauchte, populär „far beyond the realm of medical theory“21, und sie mag auch in vielen der hier besprochenen Beispiele eine Rolle spielen. Zunächst jedoch zurück zu den europäischen „Standardgemüsen“ als Träger vertrauter Geschmäcker, die in den Kolonien nicht zu bekommen waren. Wenn BriefschreiberInnen das Glück hatten, in den Kolonien ausreichend Land zu besitzen, konnten sie versuchen, den Gemüsemangel selbst zu beheben. Ein M. D’Alban plante offenbar ein Gemüsegartenprojekt für seinen Garten in Saint Domingue, wie aus einem Brief ersichtlich wird, den er 1756 an seine Nichte schrieb. Die Nichte, Mme Bourgeois aus La Rochelle, hatte offenbar bereits einige Pflanzen geschickt. Im Juli 1756 bat M.D’Alban sie zusätzlich um einige Gemüsepflanzen für sich und seine Freunde: „Frisée Salat, Lauch, Petersilie, Rüben, Weiße Rüben, Sellerie, Rote Bete, Karotten, Kohl [...] Salat [...] ein bisschen von allem, außerdem Weiße Bete“.22 M. D’Alban und seine Freunde waren nicht von der Disette betroffen, im Gegenteil: Sie beklagten sich über die niedrigen Preise der Lebensmittel. 23 Doch das 18 La Nouvelle Cuisine. Tome troisième: Avec de nouveaux menus pour chaque saison de l’année, Paris 1742. 19 Takats, Sean: The Expert Cook in Enlightenment France, Baltimore 2011, S. 120. 20 Gentilcore, Food and Health in Early Modern Europe, S. 93. 21 Takas, The Expert Cook, S. 120. 22 HCA 30/255, D’Alban, Cap, Saint Domingue, an Mme Bourgeois, La Rochelle, 25.07.1756: „Chicorée frisée poreaux persils rave navet celery bette rouge carote choux [...] laitue [...] peu de chaque espece ainsy que les bette blanche“. 23 Ebd.: „dennrhé a tres bas Prix“.

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Pflanzen und Ziehen französischer Gemüse und Kräuter in einem echten potager bedeutete, dass die Geschmäcker und Gesundheitsvorteile vertrauter französischer Gerichte sicher in die Kolonien überführt werden konnten. Die einheimischen Produkte konnten schlicht ignoriert oder auch für die Ernährung von SklavInnen benutzt werden. Eine andere Gruppe der Kolonialbevölkerung, die regelmäßig karibisches Gemüse essen musste, waren Soldaten. Soldaten wurden entweder direkt „vom König“ ernährt (und bekamen vorgesetzt, was der König zu geben bereit war), oder sie erhielten so wenig Sold, dass ihnen wenig zur Auswahl stand. Der Soldat Savary, der in Fort Royal stationiert war, beschwerte sich bei seiner Mutter: „Frisches Fleisch kostet 24 s das Livre & wir essen nichts als gepökeltes Fleisch, welches widerwärtig ist, das Brot ist sehr gut [...] es gibt keine Früchte und Gemüse wie zu Hause, was dazu führt, dass wir eine sehr schlechte Ernährung haben. Die Gemüse, die wir hier haben, sind der Giraumont, Bataten, karibischen Kohl, Callaloo und andere, die wenig Bedeutung haben“.24

Savary war bei weitem nicht der einzige Soldat, der sich um die Gemüsesituation in der Karibik sorgte. Eine mögliche Begründung hierfür könnte sein, dass viele Soldaten aus weniger wohlhabenden Gesellschaftsschichten stammten und somit Gemüse als eine Hauptnahrungs- und Geschmacksquelle kennengelernt hatten. Allerdings trifft dieses leider ausgerechnet auf Savary nicht zu – sein Brief deutet darauf hin, dass seine Mutter recht komfortabel situiert war. Wenn Kriege zu lange andauerten, blieb den Soldaten, ebenso wie den „zivilen“ KoloniebewohnerInnen keine andere Wahl, als europäische Importlebensmittel durch das zu ersetzen, was die Karibik hervorbrachte. Der oben bereits vorgestellte Kanonier Fénot berichtete seiner Mutter, dass europäische Lebensmittel extrem teuer geworden seien, und beschrieb wie die „bourgeois, die weiß sind, die dieses Land bewohnen, von Manioc leben, welches Wurzeln sind, die durch die Mühle gegangen sind und die man im Ofen trocknet und die beste Nahrung, die wir haben, ⦋für⦌ uns Soldaten ist dies das Brot, das der König uns gegeben hat, in dem wir ein und ein halbes livre am Tag haben, und wir essen die wilden Wurzeln

24 HCA 30/287, Savary, Fort Royal, an seine Mutter, Sommer 1778: „Il n y a point de fruits ny de Legumes comme en France ce qui fait qui nous avons une bien mauvaise nourriture. Les Legumes que nous avons icy sont le Giraumond, des patates, des choux caraibes, des calalou & autres de peu de conséquence“.

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dieses Landes und gepökeltes Fleisch, was keine sehr gute Ernährung ist, Du siehst, meine Mutter, die Bedingungen und das Elend, das wir in diesem Land ertragen“.25

Während Soldaten normalerweise gezwungen waren, das Essen zu akzeptieren, das man ihnen zuteilte oder das sie sich von ihrem Sold leisten konnten, verschlechterten sich ihre Ernährungssituationen deutlich – und wenig erstaunlich – wenn sie auf dem Weg in die Karibik in Feindeshand fielen. Ein anonymer Soldat, der einige Zeit als Kriegsgefangener der Engländer verbrachte, schrieb an seine Tante direkt, nachdem er wieder in Freiheit war und wünschte ihr „gute Gesundheit, was die meine betrifft, sie ist sehr gut, Gott sei Dank, und das in einem Klima, wo viele andere krank sind, und nach dem Elend welches ich erlitten habe, nachdem ich das Unglück hatte, von den Engländern gefangen genommen worden zu sein; ich und dreihundert Mann, die auf demselben Schiff waren, verbrachten vierundsechzig Tage in denen wir von nichts als Bataten gelebt haben; dies sind Wurzeln & in Wasser gekocht, da wir kaum genug Brot für einen guten Bürger hatten“.26

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Engländer ebenso mit Disette zu kämpfen hatten und daher keine andere Möglichkeit sahen, die Gefangenen zu ernähren – es ist aber genauso gut möglich, dass die Beschränkung auf einheimische Wurzelgemüse als Demütigung gedacht war. Die Briefe von Fénot und dem anonymen Gefangenen zeigen, dass der Zwang, von Manioc, Bataten und dergleichen leben zu müssen, von den Soldaten bestenfalls als Vernachlässigung (durch den König), Verelendung oder aber Misshandlung (durch die Engländer) aufgefasst und/oder dargestellt wurde.

25 HCA 30/310, Fénot, Fort Royal, Martinique, an Mme Fénot, Auxerre, 24.06.1779: „les bourgeois quis sont blanc qui a bite cest ils la vive de manioque quy est des racins passé au Moulin et que lon fait seché au four et la melieu nouritur que nou avons nous autre Soldat cest le pain que le roy nous passé en ayant une livre et demy par jour et nous mangeons des racine sauvage du pay et de la viande sale qui nes pas un trop bonne nourriture voyla ma mere letat et la misere que nous enduron dans cest pay“. 26 HCA 30/310, anonym, Saint Pierre, Martinique, an seine Tante in Frankreich, 24.06.1779: „une bonne santé quant a la miene elle est tres bonne dieu mercy et dans un clymat surtout ou temp dautre sont simalade et apres la misere que jay endure ayant eu le malheur Davoir été pris prissonie par les anglois moy et trois cent homme quy étoyent sur le meme navire nos y fume soyxante et quatre jour avivre que de patade qui sont des racines & Cuite dans leau nayant a peine de pain que pour un bon bourgeois“.

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Einige wenige Soldaten vermittelten jedoch auch Interesse an den oder Amüsement über die exotischen Früchte, mit denen sie in der Karibik konfrontiert wurden. Der Grenadier Loyauté, genannt Beausoleil, schrieb aus Martinique an seinen Bruder: „Zunächst kostet das Brot fünf sols das livre, was nichts ist, frisches Fleisch kostet zwanzig sols und der Rest in Proportion“. Beausoleil witzelte weiter: „wir haben hier das Vergnügen, Rechtsanwälte zu essen, und werfen die Staatsanwälte aus dem Fenster“27: „ici nous avons le plaisir de manger les avocats et foutre les procureurs par la fenetre“ (das Wort ‚avocat‘ bedeutet sowohl Avocado, als auch Anwalt). Beausoleil war sich offenbar des Irritationspotentials der fremden Früchte bewusst und nutzte es, um seinen Bruder zu unterhalten und gleichzeitig die Herausforderung zu betonen, die Ernährung in der Karibik darstellte – Brot und Fleisch waren teuer, und so musste man sich mit „Rechtsanwälten“ begnügen. Beausoleil nahm die fremden Früchte mit Humor. Sein Kamerad Reignier hingegen, ein Regimentsmusiker, war schlicht unbesorgt angesichts der neuen „Fruchterfahrungen“ im Gegenteil – sein Brief vermittelt Interesse, geradezu Begeisterung für die fremden Geschmäcker: „Die Früchte dieses Landes, das sind die Bananen, die eine sehr süße Frucht ist [sic!] und in der Form eines großen Etuis gewachsen, die Ananas, die die Form eines Blumentopfes haben, dies ist die Frucht mit dem stärksten Duft. Die Orangen hier sind sehr zahlreich und genauso geschätzt wie die aus Portugal, die Grenadillen, Rosenäpfel, Zitronen &.: es gibt jedoch keine, die die Früchte Frankreichs imitieren, außer Melonen, Gurken und Kürbissen, aber die haben nicht denselben Geschmack; die Früchte, die zu Dessert gereicht werden, sind Barbadinen, Avocados, Feigen und die Barbados-Äpfel [?] was den Gemüsegarten betrifft, ist es genauso wie in Frankreich, Austern sind hier sehr häufig“.28

27 HCA 30/287, Beausoleil, Fort Royal, Martinique, an seinen Bruder in der Champagne, 12.06.1778: „Premierement le pain vaut cinq sols la lievre cest rien la viande fraiche vaut vingt sols En fin et le reste a proportion […] ici nous avons le plaisir de manger les avocats et foutre les procureurs par la fenetre“. 28 HCA 30/287, Reignier, Martinique, an seinen Vater in Sarreguemines, 29.08.1778: „L’on en mange icy que de la viande salé parque la fraiche est trop rare et parconséquent trop cher tout est hors de prix, les fruits de ce pays ce sont les Bananes qui est un fruit fort doux et fait en forme d’un gros Etuy, les Ananas qui ont la forme d’un pot de fleur, c’est le frui qui a le plus d’odeur les Oranges ici sont assez abondantes et aussi estimées que celles de Portugal, les pommes lianes, pommes roses, citrons &: Mais il n’y en point qui imitent les fruits de France, que les melons les concombres et les potirons mais ils n’ont pas le meme gout les fruits qui se servent en dessert sont les

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Reignier bemühte sich scheinbar, seinem Vater die exotischen Früchte, die er kennengelernt hatte, so verständlich wie möglich zu erklären, indem er Vergleiche bemühte, die sein Vater verstehen konnte.29 Zudem beleuchtete er koloniale Essenspraktiken und Vorlieben und stellte auch hier Vergleiche an, die Anschlüsse zwischen Frankreich und der Karibik erlaubten. Interessanterweise stellte Reignier keine Unterschiede in der Gemüseauswahl fest, womit er deutlich von den Erzählungen seiner Kameraden abwich. Lebensmittel waren ein Thema, das sich offenbar anbot, um die Fremdheit und „Mängel“ zu adressieren, mit denen EuropäerInnen in der Karibik konfrontiert waren. Die Unerhältlichkeit europäischer Nahrungsmittel konnte körperliche Identitäten und Zugehörigkeiten gefährden oder unterwandern. „Gesundheit“ wurde in diesem Zusammenhang als mehr verstanden als das schmerzfreie, ausgeglichene „Rundlaufen“ des Körpers, nämlich als ein spezifischer physischer Status Quo, dessen Erhalt als wünschenswert betrachtet wurde. Dies wiederum bedeutet, dass alle äußeren Einflüsse, die diesen Status Quo verändern konnten, als Bedrohung für das Wohlergehen des Körpers betrachtet wurden und somit vermieden werden mussten. Im Kontext körperlicher Zugehörigkeit waren das Verhindern von Veränderung und der Schutz des physischen Status Quo besonders wichtig. Wie konnte ein/e Briefschreiber/in nachvollziehbar, erkennbar er oder sie selbst und damit Teil einer Heimatfamilie, einer Heimatgesellschaft bleiben, wenn sich grundlegendste Bedingungen des körperlichen Lebens geändert hatten? Diese Frage sollte bei der Untersuchung der Brieferzählungen berücksichtigt werden. In der Häufigkeit, Kontinuität und Konsistenz, mit der BriefschreiberInnen in ihren Briefen karibische Lebensmittel ablehnten oder gegenüber europäischem Essen ignorierten, kann eine epistoläre Praktik beobachtbar gemacht werden: Europäische Neuankömmlinge und LangzeitKaribikbewohnerInnen vollzogen Praktiken der brieflichen Repräsentation von Essen und Essenspraktiken, welche ihren Leserschaften jenseits des Atlantiks zeigten, dass sie in jeder Hinsicht immer noch „französisch“ waren und französischer Lebensmittel bedurften, um „gesund“ zu bleiben. Allerdings existierten diese Repräsentationspraktiken sicherlich neben gänzlich konträren, alltäglich vollzogenen Essenspraktiken. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele Leute täglich karibische Produkte zu sich nahmen, auch dann, wenn keine Disette herrschte – weil sie zur Verfügung standen und möglicherweise schlicht, weil sie gut schmeckten, was im Falle tropischer Früchte oft sogar explizit eingeräumt wurBarbadines, les avocats les figues et les Pommes de Barbades pour le potager il est de meme qu’en France les huitres sont ici fort communes“. 29 Über Reignier und seine exotischen Frucht-Erfahrungen, siehe Raapke, Rechtsanwälte.

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de.30 Forschungen zu Essen in kolonialen Kontexten bestätigen diese Annahme.31 Zwischenbriefliche Selbsterzählungen für europäische Leserschaften und täglichen Essenspraktiken in der Karibik bestanden wahrscheinlich einige Differenzen. Dies ist logisch angesichts der Bedeutung von gemeinsamem Essen und geteilten Essenspraktiken für die Etablierung und Sichtbarmachung von Zugehörigkeit und Zusammenhalt.32 Diejenigen, die distanzbedingt nicht gemeinsam mit ihren Freunden und Familien essen konnten, konnten wenigstens zeigen, dass sie nach wie vor die selben Dinge aßen; dass ihre Ernährung und Geschmacksvorlieben sich nicht verändert hatten. Reignier, der Regimentsmusiker mit dem ausgeprägten Interesse an Früchten, gab in dem Brief, den er an seinen Vater schrieb, eine höchst ungewöhnliche Begründung für seine Reise in die Karibik – nämlich, dass er sie sehen wollte. Der junge Musiker hatte sich der Kolonialarmee nicht etwa aus Not angeschlossen, sondern weil er „schon immer Südamerika sehen wollte“. Sein Brief beschreibt seine gesamte Reise, praktisch von Tür zu Tür, beginnend am Haus seines Vaters in Sarreguemines in Elsass-Lothringen. Von dort aus tingelte Reignier durchs Land, schloss sich reisenden Schauspielern an, verließ diese wieder und fand sich nach diversen Umwegen schließlich als Rekrut der Kolonialarmee 30 Siehe Raapke, Annika: Dort, wo man Rechtsanwälte isst. Karibische Früchte, Sinneserfahrungen und die Materialität des Abwesenden, in: Brendecke, Arndt (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln/Wien/Weimar 2015, S. 320-331. 31 Siehe z.B. Berti, Ilaria: Curiosity, Appreciation, and Old Habits. Creolization of Colonizers’ Food Consumption Patterns in Three English Travelogues on the Caribbean, in: Wiebke Beukshausen et al. (Hg.), Caribbean Food Cultures: Culinary Practices and Consumption in the Caribbean and its Diasporas, Bielefeld 2014, 115-132. Cecilia Leong-Salobir, Food Culture in Colonial Asia. A Taste of Empire, Abingdon 2011. Uta Ray, Culinary Culture in Colonial India. A Cosmopolitan Platter and the Middle Class, Delhi/Cambridge 2015. Rebecca Earle, The Body of the Conquistador. Food, Race, and the Colonial Experience in Spanish America, 1492-1700, Cambridge 2012. Anna-Kaisa Salmi, Mirva Pääkkönenet al., Becoming Modern: Hybrid Foodways in Early Modern Tornio, Northern Finland, in: International Journal of Historical Archaeology 18 (2014) 3, 489-512. 32 Siehe etwa Bloch, Maurice: Commensality and Poisoning, in: Social Research 66 (1999)1, S. 133-149, S. 133. Zu diesem Thema siehe zudem: Raapke, Annika: LiebesSirup und Trost-Makkaroni. Essen und emotionale Zugehörigkeiten in Briefen aus der französischen Karibik des 18. Jahrhunderts, in: Katharina Böhmer/Peter Burschel/JanFriedrich Missfelder (Hg.): Esskulturen. Historische Anthropologie 25/1, 2017, S. 3248.

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auf einem Schiff nach Saint Domingue wieder. Das Schiff landete jedoch aufgrund schwieriger Wetterlage zuerst in Martinique, wo der Präfekt der Kolonialverwaltung Reignier direkt abwarb und bat, als Musiker auf Martinique zu bleiben. Die gesamte Brieferzählung ist voller Zufälle, erstaunlichen Begegnungen und Fügungen und endet mit einer relativ glücklichen Beschreibung von Reigniers Leben auf Martinique. Wie die meisten seiner Kameraden berichtete er auch er von der Hitze und dem ungesunden Klima, ergänzte diese jedoch nicht nur um die oben zitierten Beschreibungen von Ananas, Bananen etc., sondern auch um Darstellungen des gesellschaftlichen Lebens, an dessen Gestaltung er nun als Musiker aktiv teilnahm: „Jede Woche ein [Konzert] beim General, eines für die Offiziere der Garnison und ein anderes für die Bourgeois; dieses Land ist recht angenehm, abgesehen von der Hitze, die exzessiv ist [...] die kreolischen Bewohner sind sehr unhöflich und recht laut, die europäische Bevölkerung ist etwas gesellig, die Provencalen und die Lyonnaisen sind die Nationen, die sich vor allem hier niedergelassen haben. Ich gebe einem Offizier der Kanoniere Gitarrenunterricht, welcher der Sohn von M. La Bourguiniere Major de Place in Metz ist“.33

Wie schon bei den Früchten vermischte Reignier auch hier das Vertraute mit dem Fremden. Bekannte Konzepte und sogar vertraute Individuen (wie M. La Bourguiniere) streute er in seine Brieferzählung wie Wegweiser, um seinen Vater durch den Bericht leiten sollten. Der Brief legt nahe, dass die Karibik für Reignier vor allem eine interessante Erfahrung war; ein Ort, den er sehen wollte, an dem man exotische Früchte kosten und unbekannte Leute treffen konnte. Von allen hier vorgestellten BriefschreiberInnen zeigte sich Reignier am ehesten als „Reisender“, der die Karibik neugierig, aber durchaus nicht unzufrieden betrachtete. Die Möglichkeit einer schlichten Zufriedenheit in der Karibik, jenseits von entweder Angst, Krankheit und Tod oder aber wildem Exzess, wird hier oft unterbeleuchtet angesichts der Dominanz der beiden anderen Perspektiven, soll aber nun in einem kurzen Zwischenkapitel berücksichtigt werden.

33 Ebd.: „Toutes les semaines un chez le General, un chez les officiers de la Garnison et l’autre chez les Bourgeois; le pays icy est assez agréable si ce n’est la chaleur qui y est eccessive [...] les habitans creoles sont très grossiers et fort haut, les habitans europeens sont un peu sociables, les provençaux et les lyonois sont les nations qui s’y etablissent le plus. Je montre la Guittarre a un officier des Canoniers qui est le fils a M. La Bourguiniere Major de Place a Metz“.

„Sich Wohlfühlen“ in der Karibik

Das körperliche „Wohlfühlen“ an einem Ort klingt zunächst nach einem wenig aussagekräftigen Thema für Briefanalyse. Auch hier müssen jedoch die diversen diskursiven Verwicklungen von Körper und Gesundheit, Orten, Natur und Selbst bzw. Identität, die bereits für die Aspekte Klima und Ernährung besprochen wurden, berücksichtigt werden. Im Kontext dieser Verwicklungen konnte die offene Erklärung von Wohlbefinden, oder gar körperlichem „Aufblühen“ an einem bestimmten Ort geradezu wie eine „Verbrüderung“ mit diesem Ort wirken, sowohl naturräumlich als auch sozial, und damit wie ein Zurücklassen der Heimat. Somit konnte auch die schlichte Darstellung körperlichen Wohlbefindens Potential für Konflikte bergen. Wer sich in der Karibik besser fühlte als in Frankreich (unvorstellbar für viele französische BriefschreiberInnen), gehörte vermutlich auch dort hin; besaß einen „Koloniekörper“ und wahrscheinlich auch ein entsprechendes Gemüt. Ein solcher Fall war die (Schwieger-)Mutter von Madame Bégondy Leprieur, wohnhaft in Saint Domingue. Die ältere Mme Bégondy Leprieur lebte in Frankreich, einem höchst gefährlichen Land aus Sicht der (Schwieger-)Tochter, welche sie inständig bat, in die koloniale Sicherheit zurück zu kehren: „[D]iese Angst [vor einer Kaperung durch die Engländer] darf Sie nicht zurückhalten, meine liebe Maman, und in Frankreich zu verhungern; Ihre Gesundheit, Ihre Interessen und das Verlangen, das ich habe, Sie zu sehen, alles lädt Sie dazu ein, zurückzukehren“.1 Mme Bégondy Leprieur die Ältere hatte mit ihrem Ehemann in Saint Domingue gelebt, einem Kavalleriekapitän, und war nach seinem Tod gemeinsam mit ihren Enkeltöchtern nach Frankreich gereist, da diese dort gemäß den kolonialen Gebräuchen ihre Erziehung erhalten sollten. Es ist

1

HCA 30/255, Mme Begondy Leprieur, Limbé, Saint Domingue, an Mme Begondy Leprieur, Bordeaux, 22.07.1756: „que cette Crainte [des hostilités des Anglais] ne vous retienne pas, ma chere Maman, à mourir de faim en France, votre santé, vos interests, et le desir que jay de vous voir, tout vous invite a vous rendre“.

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gut möglich, dass beide Frauen Kreolinnen waren, obwohl auch das kein Grund dafür wäre, weshalb ihre Wahrnehmung von Frankreich sich so extrem von der des Großteils ihre Zeitgenossen unterschied, denn viele KreolInnen waren begeistert von Frankreich und empfanden es als deutlich gesünder als die Karibik. Die Überzeugung der jüngeren Mme Bégondy Leprieur, dass Frankreich ein ungesundes Land sei, ist bemerkenswert, allerdings war sie nicht die einzige, die das Mutterland in dieser Weise ablehnte. Im Juni 1756 schrieb eine Mme Bayeux, ebenfalls aus Saint Domingue, an ihre Tochter in Frankreich und zeigte sich höchst verwundert über deren brennenden und häufig geäußerten Wunsch, in die Kolonie zurückzukehren: „[D]er Widerwillen [...] welchen Du immer noch gegen Frankreich hegst, verursacht mir viel Schmerz“, schrieb sie, „Ich verstehe Dein Beharren auf einer Rückkehr in ein Land, das jeder zu verlassen sucht, nicht“.2 Mme Bayeux bestand darauf, dass ihre Tochter bei ihrem Ehemann in Frankreich bleiben solle – schien dann aber doch nachgiebig zu werden, sie fügte nämlich ein Postskriptum hinzu, in dem sie ihrer Tochter versprach, sie würde ihren Schwiegersohn veranlassen, die Adressatin und deren Schwester nach Saint Domingue zu bringen. Ein solcher Meinungswechsel war keine Option für Martin Lasserre, der herausgefunden hatte, dass seine Schwester Grazianne aus Bayonne heimlich versucht hatte, eine Passage zu erhalten, um zu ihm nach Martinique zu kommen. Im Januar 1778 schrieb er ihr: „Aber denken Sie nicht daran, was würden Sie in diesem elenden Land suchen, um hier zu verhungern, gepökeltes Fleisch zu essen [...] ich bitte Sie, vergessen Sie diesen Gedanken [...] & denken Sie nicht mehr an die Narretei, ein Element überqueren zu wollen, von dem Ihr Leben abhinge, welches Sie dort riskieren würden [...] ohne Vorwurf, Sie sind besser dran als ich, der jeden Tag den Mäulern von Schlangen ausgesetzt ist“.3

2

HCA 30/255, Mme Bayeux, Saint Domingue, an Mme de Guetriche im Elsass, 10.06.1756: „L]e dégout [...] que tu as toujours pour la France me chagrine beaucoup“, she wrote, „Je ne conçois pas ton entetement pour ton retour dans un pays que tout le monde cherche a quitter“.

3

HCA 30/302, Martin Lasserre, Saint Pierre, Martinique, an seine Schwester Grazianne Lasserre, Bayonne, 31.01.1778: „Mais vous ny pancéz pas, quesque vous voudriez venir chercher dans ce malheureus peis pour y mourir de faim manger de la viande sallé [...] tirez je vous en prie cest Idee de votre Esprit [...] & ne pancéz pas Encore a la folie de vouloir passer un Ellemend qu’il depend de votre vie dy vouloir risquer [...] sans reproche vous etes mieus que moy qui suis tous les jours exposéz a la Geulle des Serpends“.

„Sich Wohlfühlen“ in der Karibik | 185

Die Briefe von Mme Bayeux und Martin Lasserre zeigen, dass die Karibik kein Ort war, an den EuropäerInnen kommen wollen sollten. Man reiste dorthin im Dienste des eigenen oder familiären sozialen und wirtschaftlichen Fortkommens, oder weil man in Frankreich keine Lebensgrundlage mehr besaß, aber niemand wollte seine oder ihre Tage „den Mäulern von Schlangen ausgesetzt“ verbringen. Der größte Teil des gesichteten Untersuchungsmaterials legt nahe, dass die diskursive Annahme, EuropäerInnen könnten in der Karibik weder gesund noch zufrieden sein, extrem machtvoll war; so sehr, dass es sich lohnt, mit der Überlegung zu experimentieren, dass aus dieser Annahme eine Art stille Verpflichtung für die Betroffenen erwachsen sein könnte, sich schlecht zu fühlen, selbst wenn dies nicht der Fall war. Hierfür gibt es kaum, bzw. keine Belege – je nach Lesart könnten jedoch Hinweise auf solche stillen Verpflichtungen in Begründungen vermutet werden, die KaribikbewohnerInne gaben, wenn sie sich dagegen entschieden, wieder nach Frankreich zurück zu kehren. M. Caille aus Pointe à Pitre, Guadeloupe, schrieb im Juni 1778 an einen M. Henry: „Ich weiß nicht, ob ich den Rest meiner Tage hier verbringen werde, doch die Unmöglichkeit, nach Europa zu reisen aufgrund der Verwüstung, die der Sturm am 06. September 1776 hier verursacht hat, hat mich dazu gebracht, einen Bund einzugehen, der mich ganz [an diesen Ort] bindet, es ist eine Heirat, die ich einzugehen plane mit der Tochter von Mr. Houdin, dem Fleischer [...] einem Anwohner dieser Gemeinde“.4

In dieser Erzählung trat Caille als aktiver Entscheidungsträger auf, der dennoch höherer Gewalt – etwa Hurricanes – unterlegen war. Seine Geschichte suggeriert, dass er nach Hause gekommen wäre, wäre der Sturm nicht gekommen. Angesichts der vom Sturm zerstörten Pläne war ihm jedoch nichts anderes geblieben, als sich umzuorientieren, und so hatte er die Hochzeit mit der Fleischerstochter ins Auge gefasst, obwohl er wusste, dass dies seine Rückkehr nach Frankreich auf unbestimmte Zeit verschieben, vielleicht sogar gänzlich verhindern würde. Es scheint keine zu radikale Vermutung, anzunehmen, dass Caille sich nicht „ganz gebunden“ hätte, wenn er wild entschlossen gewesen wäre, nach Europa zurück zu kehren. Indem er jedoch den Hurricane an den Beginn seiner Erzählung setzte und sich somit die Erstentscheidung rückwirkend selbst aus den 4

HCA 32/313, Caille, Pointe à Pitre, Guadeloupe, an Henry, Bordeaux, 26.06.1778: „Je ne sais si je passerai le reste de mes jours ici mais l’impossibilité où je suis de passer en Europe par le derangement occasionné par le coup de vent du 6e 7bre 1776, ma decidé a former un engagement qui me lie entiérement ici, c’est un marriage que je compte contracter avec la fille de Mr. Houdin Le Boucher [...] habitant de cette paroisse“.

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Händen nahm, konnte er einerseits vermitteln, dass seine Rückkehr nach Europa keineswegs sicher war, und andererseits mögliche diskursive Verpflichtungen erfüllen, die verlangten, dass man nicht freiwillig in der Karibik blieb. Zudem ließ Caille alle Möglichkeiten offen, indem er hinzufügte: „Dies wird mich nicht davon abhalten, darüber nachzudenken, mich nach Europa zurückzuziehen, wenn meine Geschäfte es erlauben; werde ich doch verlockt von allem, was angenehm ist in dem, was Sie mir von diesem glücklichen Klima berichten, welches ich tatsächlich beinahe vergessen habe“.5 Diese Aussage ist bemerkenswert aufgrund der Geschicklichkeit der Formulierung: „Dies wird mich nicht davon abhalten, darüber nachzudenken, mich nach Europa zurückzuziehen“. Caille war offenbar in einem vorherigen Brief von M. Henry aufgefordert worden, in das gesunde französische Klima zurückzukehren. Mit seiner Antwort bediente er höflich das so von Henry reproduzierte diskursive Schema der ungesunden Karibik gegenüber einem gesunden Frankreich, ohne sich jedoch explizit oder aktiv zu einer Rückkehr zu verpflichten. Es kann sehr gut sein, dass Caille tatsächlich daran interessiert war, eines Tages zurückzukehren – die Aussage, er habe das gesunde Klima Frankreichs „beinahe vergessen“, kann als nostalgisch gewertet werden, aber auch als Abweisung des Dualismus „gesundes Frankreich/gefährliche Karibik“. Wenn Caille das französische Klima vergessen hatte, war dies womöglich einer Gewöhnung geschuldet. Geschichten von der gesunden Luft der Heimat hätten in diesem Fall nicht viel mehr bewirkt als eine höfliche pro-Forma Reaktion, die den diskursiven Dualismus anerkannte. Meines Erachtens kann Cailles Antwort durchaus in dieser Weise gelesen werden. Einem Geschäftspartner, Freund oder Verwandten, dessen guter Wille gewahrt werden musste, mitzuteilen, dass man in der Karibik glücklich und zufrieden war und keinen Wunsch hatte, jemals nach Europa zurückzukehren, mag riskant gewesen sein, da dies nahegelegt hätte, dass man sich auf einer grundlegenden Ebene verändert hatte. Höhere Gewalt und Eheschließungen, als nachvollziehbare „Sachgründe“, mögen hier die bessere Wahl gewesen sein. Ein M. Laplace schrieb an seine Mutter in Bayonne von seiner neuerworbenen Plantage in der Vauclin-Region von Martinique im Juni 1778. Anscheinend hatte Laplace noch keine brieflichen Aufforderungen erhalten, die „Ungesundheit“ seiner neuen Heimat zu bestätigen – und konnte so ungebremsten Enthusiasmus angesichts einer Neuerwerbung vermitteln:

5

Ebd.: „Cela n’empêchera pas que je ne pense a me Retirer en Europe lors que mes affaires me le permettront, y êtant encité par tout ce que vous me dites d’agréable de cet heureux climat que j’ai en effet Presque oublié“.

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„Meine sehr liebe Mutter [...] ich will Dir von der Erwerbung berichten, die ich getätigt habe gemeinschaftlich mit meinem Schwiegervater; angesichts der Kriegsgerüchte haben wir eine Plantage gekauft, die an der Küste gelegen ist und 110 carrés Boden umfasst, wo es eine große Savanne gibt mit sechzig Stück Hornvieh & zweihundert Schafen oder Ziegen mit vier Reittieren [...] zwei Kanus, ein schönes & großes Haus mit Taubenhaus, Kaninchenstall & allem Komfort dazu & die cases à nègres mit zwei großen Öfen [...] die Anschaffung ist wirklich gut, denn die Luft ist eine der Besten & der Ort unter den Bestgelegenen, zudem bietet sie alle Vergnügungen des Lebens, wie Firschen, Jagen & gute Tierzucht; ich wünsche mit Herz und Seele, dass Ihr Alter Ihnen erlauben würde, zu kommen und sich uns anzuschließen und die Bequemlichkeiten eines so süßen Lebens zu teilen“.6

Diesem Brief zufolge hatten Laplace und sein Schwiegervater tatsächlich das koloniale Eldorado gefunden, das so viele hoffnungsvolle EuropäerInnen anstrebten. Abgesehen von reichlich Vieh, guter Infrastruktur und vielversprechenden Landwirtschaftsmöglichkeiten war die Lage der Plantage gesund, so dass körperliches Wohlbefinden und die Anhäufung von Wohlstand Hand in Hand gingen – in der Tat ein „süßes Leben“. In Laplace’ Narrativ war der Teil von Martinique, den er zu seinem eigenen gemacht hatte, nicht bedrohlich oder gefährlich, im Gegenteil. Es war ein Ort, an dem auch seine alte Mutter gesund und vergnügt hätte leben können. Als Mme Rodet nach Saint Domingue kam, fühlte sie sich dort so wohl, dass sie einiges an Gewicht zulegte. Diese Zunahme führte dazu, dass sie ihre alten Kleider nicht länger tragen konnte, weshalb sie sie nach Frankreich sandte. In einem Brief an „Mérote“ erklärte ihr Ehemann: „Meine Frau ist in bester Gesundheit, dieses Land tut ihr gut, sie wird so pummelig, dass ihre alten Kleider ihr nicht mehr nützen [...] meine Ehefrau hatte mehrere ihrer alten Kleider, die

6

HCA 30/286, Laplace, Martinique, an Mme Laplace, Bayonne, 24.06.1778: „Ma très chere mere [...] je vous apprendray l’acquisition que jay fait de société avec mon Beau Père veu les murmures de guerre nous avons acheté une habitation située aubord de la mer contenant 110 carrés de terre sur lequel il y a une Savane considerable avec soixante Betes a Corne & deux cents moutons ou chevres avec quatre Betes cavalieres une senne deux canots une Belle & bonne Maison avec Colombier lapiniere & toutes les comodites suivantes & les cazes a Negres avec deux grands fours a chau [...] l’acquisition est très bonne dautant plus que lair ait des plus bons & l’Endroit des mieux situés ayant par ailleurs toutes les douceurs de la vie; comme la Peche la Chasse & bonne basse cour; je desirerois de Cœur et dame que votre age vous permetroit de pouvoir venir nous joindre pour partager les agréments dune vie cy douce“.

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ihr nicht mehr nützen, an ihre Nichten geschickt mit dem Schiff l’Achille, aber die Engländer haben das Schiff gekapert“.7 In Mme Rodets Fall erhielt die Versicherung guter Gesundheit materielle Unterstützung. Wenn die Kleider tatsächlich in Frankreich angekommen wären, hätten die Nichten einen Beweis des Wohlergehens ihrer Tante erhalten in Form ihrer alten Kleider, bzw. in Form ihrer früheren Form. Die Größe der ausgewachsenen Kleider hätte gezeigt, wie Mme Rodet nach ihrer körperlichen Veränderung aussah, und die Tatsache, dass sie die zu klein gewordene Kleidung verschickte, hätte nahegelegt, dass Mme Rodet nicht damit rechnete, dass zugewonnene Gewicht wieder zu verlieren. Der frühere, dünnere französische Körper war durch eine gesündere, rundere Kolonialversion ersetzt worden und seine Kleidung wurde zurück nach Frankreich geschickt, um dort einem anderen, dünneren Körper zu dienen. Andere BriefschreiberInnen hätten Mme Rodet vermutlich um ihre rapide Gewichtszunahme beneidet. Der Schiffskapitän Sala musste einige Opfer bringen, um seinen gewohnten Umfang zurückzugewinnen, nachdem er in der Karibik abgenommen hatte: „ich bin perfekt wiederhergestellt und bei guter Gesundheit; das Klima ist mit heutzutage vertraut und ich habe mein normales Gewicht und [meine] Gesichtsfarbe wiedererlangt, aber ich bin auch braver als ein gutes Mädchen“.8 Sala schrieb diese Zeilen an seine Frau, und somit mögen diese Versicherungen vor allem dem Wunsch geschuldet gewesen sein, zu Hause den Frieden zu wahren; viele Ehemänner neigten dazu, sich in Briefen an ihre Ehefrauen als „braver als ein gutes Mädchen“ darzustellen – man denke etwa an den oben besprochenen Brief an Marie „Mimi“ Canchon. Abgesehen von diesem Einwand lieferte Sala ein gutes Beispiel für die Wirksamkeit von Mäßigung in der Kolonie. Er war „brav“, was vermutlich heißen sollte, dass er sich fernhielt von exzessivem Essen und Trinken, von Anstrengung und kolonialer Libertinage, und dass sein Körper ihn hierfür belohnte, indem er sich sichtbar an das tropische Klima gewöhnte, Gewicht zunahm und eine gesunde Farbe zurückge7

HCA 30/260, Rodet, Cap, Saint Domingue, an‚Mérote’, 15.01.1778: „Mon epouze se porte de mervaille le paiys ne luy epas contraire elle deVien sy dodue ques es ardes (hardes) ne pouron luy servir [...] ma famme avet envoye par le navire Lachille plusieur de ses ardes quil ne luy servet a rien a ses nièse mais les anglois oun pris le Navire“.

8

HCA 30/381, Sala, Les Cayes, Saint Domingue, an seine Frau in Bordeaux, Frühjahr 1793: „Quand a moi il est possible que je reste dans la Colonie jusqu’après la guerre si je parviens à obtenir quelque emploi qui me soit convenable. Je suis parfaitement retabli et en bonne santé; le Climat m’est aujourd’hui familler, et j’ai pris mon embonpoint, et mes couleurs ordinaires, mais aussi je suis plus sage qu’une brave fille“.

„Sich Wohlfühlen“ in der Karibik | 189

wann. Dasselbe geschah mit dem Körper eines M. D’Auricoste, der seiner Frau glücklich mitteilte: „Ich genieße eine perfekte Gesundheit dank dem Herrn, ich fühle die Feindlichkeit des Klimas nicht länger und ich habe nichts auszustehen, außer dass ich von Dir und meiner lieben Familie entfernt bin“.9 Bei diesen Erzählungen besteht stets die Möglichkeit, dass sie lediglich abgefasst wurden, um Sorge und Ängste der Leserschaft zu Hause zu zerstreuen. In dem Brief, den M. Bry 1793 aus Saint Domingue an seine Frau Lili schrieb, wurde dies recht explizit verhandelt: „Meine Gesundheit hält sich Gott sei Dank perfekt; Ich erwarte nicht einmal, irgendeine Unpässlichkeit zu erfahren, denn wenn [ich hätte krank werden sollen, wäre ich es schon geworden] [...] beruhige Dich, meine Geliebte, im Hinblick auf mich; ich wohne bei dem Korrespondenten von M. Thomas, es fehlt mir an nichts bis zu meiner Ankunft in St. Lucia. Ich habe all die Erfrischungen, die ich benötige, er sorgt sich sehr darum, dass ich alles habe, was ich brauche; er stellt mir sogar Wäsche zur Verfügung, da ich so wenig davon besitze in einem so heißen Land, er war stets der Erste, der meine Bedürfnisse vorausgesehen hat“.10

M. Bry tat sein Bestes, um Lili zu überzeugen, dass kein Grund zur Sorge um ihn bestand. Dies bedeutet jedoch (wie stets das Argument in dieser Arbeit) keinesfalls, dass es M. Bry nicht tatsächlich so gut ging, wie er es beschrieb. Sein Brief spielte die Bedrohung durch das Klima nicht herunter, sondern erklärte lediglich, dass ihm alles zur Verfügung stand, was er benötigte, um sich in Saint Domingue wohlzufühlen. M. Bry war nicht nur bestens versorgt, er befand sich auch in guter Gesellschaft. Dieser Faktor spielte bei der Erhaltung des körperlichen Wohlbefindens eine nicht zu verachtende Rolle, wie die folgenden BriefschreiberInnen deutlich machten.

9

HCA 30/310, D’Auricoste, Saint Pierre, Martinique, an seine Frau in Villeréal, 28.06.1779: „Je jouis Grace a Dieu d’une parfaite santé, je ne mappercois plus des ordures du climat et jenez dautres Souffrances que celle d’être éloigné de toy e des ma chere famille. [...] Tu me demande des nouvelles de Madame Dherbais Elle Repasse en France par ce convoi cy avec son mary qui a Eu un Bras emporté a laffaire de Ste Lucie cest un bon ami que je perd il est Bien Guery“.

10 HCA 30/395 Bry, Les Cayes, Saint Domingue, an seine Frau Lili in Angers 20.01.1793.

Körperliches Wohlbefinden und Gesellschaft

Im Frühjahr 1793 fand sich Alexandre Happery unerwartet in Guadeloupe wieder. Von dort aus schrieb er an seine „Papa & Maman“: „[I]n diesem Moment hier befinde ich mich an einem Ort, an den zu reisen ich nicht vorhergesehen hatte & welcher, so glaube ich, Euch überraschen wird, da ihr nicht wissen werdet, was dies bedeutet; so bin ich ohne Sold auf dem Schiff Le Désire [unter] Capitaine M. Marnie aus Le Havre, der in meinem Unglück mein Leben gerettet hat, da ich mir eine sehr schlimme Krankheit zugezogen hatte, doch gegenwärtig befinde ich mich gut erholt; ist es nicht besser, die Leute zurückzulassen, die uns schaden & danach trachten, uns Böses zu tun, wenn wir uns selbst töten an Körper und Seele“.1

Es scheint hier, als hätte Happery seine Krankheit zumindest anteilig der Gesellschaft zugeschrieben, in der er sich befand, bevor ihn Kapitän Marnie rettete, und so war er offenbar dankbar und willens, auch ohne Lohn auf der Désire Dienst zu tun, da dies bedeutete, dass er sich dort weiter erholen konnte. Die physische Nähe unehrenhafter oder „schlechter“ Menschen konnte sich durchaus negativ auf die Gesundheit auswirken, löste sie doch unweigerlich Wut, Trauer, Ekel, Heimweh oder Einsamkeit in den „ehrenhaften“ BriefschreiberInnen aus, die sich gezwungen sahen, ihren Alltag in solch unangenehmer Gesellschaft verbringen zu müssen. Der Offizier Pierrard, der aus dem Cap Français in Saint Domingue an seinen Freund und Kameraden Clermont in Saint-Jean-d’Angély 1

HCA 30/396, Alexandre Happery, Guadeloupe, an seine Eltern in Frankreich, Frühjahr 1793: „‘Il se trouve que dans cette instant icy je me retrouve dans une paye où je ne contais pas aller; & je croit bien ce qui va vous etonner, n’attandant pas ce que ce la veu dire je suis donc [...] sur le Nre le Daisire CapNe Marnie du Havre qui dans mon Malheur ma sauvé la vie ayant essuyé une tres grande maladie; mais actuellement je me trouve tres bien retablie; ne vaut il pas mieux quitter les gens qui nous nuissent & cherche à nous faire du malle quand nous nous tuons le corps & lame“.

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schrieb, deutete an, dass die „Bösartigkeit“ der Leute, die seine Truppen umgaben, einen Anteil an der hohen Morbidität und Mortalität hatte, mit denen die Männer zu kämpfen hatten. Am 7. Juli 1778 erklärte er „dass man sehr begierig ist, Neuigkeiten von seinen Freunden und seinem Heimatland zu erhalten, wenn man 2000 Meilen [entfernt ist], in einem sehr heißen Klima, und wo außerdem niemand auf etwas anderes hofft als die Rückkehr; die Bösartigkeit, die Hitze des Klimas, die schlechte Ernährung und noch mehr die exorbitante Hochpreisigkeit von allem werden uns dies lehren“.2

Die aufgezählten Übel hatten jedoch noch deutlich finstere Konsequenzen als Heimweh. Pierrard schätzte sich glücklich „wenn der Herr [...] uns erlaubt, uns auf der anderen Seite wiederzufinden“ [gemeint ist hier die andere Seite des Atlantiks; kann auch als „wiederzutreffen“ übersetzt werden]. Er war sich bewusst, dass „niemals alle von uns zurückkehren, Sie wissen dass Adam am 3. Januar gestorben ist, Boullet der Sergeant ebenfalls, St Jaque auch, Vaillient ist immer noch sehr krank, auch Schneyder ist krank gewesen ebenso wie viele andere, ich habe 4 Männer aus unserer Kompanie verloren [...] D’aunis hat uns aus Martinique geschrieben, er hat uns gebeten, Sie zu grüßen, falls wir an Sie schrieben [...] ich richte sie für ihn aus und für Lanois, der krank war, dem es aber besser geht, D’aunis arbeitet noch mit ihm [...] in Fort Royal in Martinique (….) sie haben 24 Männer verloren und den Offizier M. Denoyer, Guadeloupe hat nur 6 Männer verloren“.3

2

HCA 30/303, Pierrard, Saint Domingue, an Clermont, Saint-Jean-d’Angély, 07.07.1778: „qu’on est bien Curieux D’avoir des Nouvelles de ses amis et de sa Patris quand on est a 2000 lieues dans un climat fort chaud et deplus la ou tout tand que pour le retour, la mauvais foix La Challeur du Climat la mauvais Nuritur et encor plus la Chertai exorbitante dont tout et ici nous aprandra a juire sy le Dieu [...] nous permet de nous retrouver a lautre [côté]? Mais jamais se ne retournerons tout vous scavais que adam est mort du 3 Janvier Boullet le Sergent lest aussi St Jaque aussi Vaillient est „encor bien malade Schneyder la ete aussi que bien dautre J’avois perdu 4 hommes de notre Comp.e [...], D’aunis nous a Ecrit de la Martinique il nous dit en cas que lon vous ecrive de vous fair ses compliment [...] je vous les fasse pour lui aussi que pour Lanois qui a été malade mais il va mieux D’aunis travaille toujours avec lui [...] Fort Royal de La Martinique [...] il nous marqu’on aussi quil on perdu 24 hommes et Mr Denoyer officier, la guadeloupe na encor perdu que 6 hommes“.

3

Ebd.

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Alle hier genannten Personen wurden im Kontext von Tod und Krankheit erwähnt. Entweder sie waren selbst krank (gewesen), waren verstorben, oder hatten Neuigkeiten von Krankheit und Tod an Pierrard geschickt. Die eingangs aufgelisteten karibischen Übel erhielten somit nachträglich mehr Gewicht, sie wurden zu Faktoren, welche die Verwüstung des Körpers begünstigten. Wie aus den obigen Ausführungen hervorgegangen sein wird, ist die Auflistung des Klimas – gleich zweimal – als zentraler Faktor zu erwarten. Auch die schlechte Ernährung ist keine Überraschung, ebenso wenig wie die Teuerung „von allem“, da prävalente Gesundheitspraktiken wie das häufige Wechseln, waschen und Bleichen von Wäsche oder auch der Verzehr präventiver Medikamente durch hohe Preise erschwert wurde. Die Auflistung der „Bösartigkeit“ hingegen ist in diesem Zusammenhang ein bemerkenswert. Obwohl dieser Satz sich explizit auf das Erhalten auf Nachricht von Freunden aus der Heimat bezieht, bereitet er doch den Weg für die diversen Ankündigungen von Krankheit und Tod, die selbst keine weitere Begründung oder Kontextualisierung erhalten. Somit funktioniert der Textteil, in dem das Klima, das schlechte Essen, die Bösartigkeit und die Hochpreisigkeit aufgezählt werden, als eine einleitende Passage, in deren Folge schlechte Nachrichten von Krankheit und Tod ohne weitere Erklärungen übermittelt werden können. Somit kann die „Bösartigkeit“ als ein gesundheitsschädlicher Faktor betrachtet werden, was impliziert, dass die Gemeinheit der lokalen Bewohner letztlich eine physische Bedrohung für die Soldaten darstellte. Dies findet sich auch in dem Brief, den ein M. Pierre im Dezember 1780 aus Guadeloupe an seine Frau schrieb: „Ich muss mich mehr als je zuvor mäßigen, um die Bösartigkeit der Einen und die Eifersucht der Anderen zu überwinden, ganz abgesehen vom Elend des Wetters, welches mich so betrifft, als wäre der Tod, ein Ende in diesem Land meine Bestimmung; ich wage zu sagen, dass meine Existenz die Folge des größten Wunders ist, ich schulde sie allein meiner Art zu agieren“.4

In einer Region, in der man von Naturkatastrophen und Krankheiten geplagt wurde (im Oktober 1780 war ein großer Teil der karibischen Inseln vom „Grand Ouragan“, dem „Großen Hurricane“, verwüstet worden) und die von unangenehmen Menschen bevölkert war, konnte M. Pierre sich nur auf sich selbst ver4

HCA 30/345, Pierre, Guadeloupe, an seine Frau in Marseille, 08.12.1780: „J’ai plus besoin que jamais de me menager pr vaincre la méchanceté des uns et la jalousie des autres, en outré la misere du tems tel raisonne sur mon conte qu’à ma place seroit de la mort de la fin dans ce pays j’ose dire que c’est un effet du plus grand miracle que mon existence, je la dois qua ma facon de faire“.

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lassen, wenn er am Leben und (halbwegs) gesund bleiben wollte. Sein Bedürfnis nach Mäßigung erwuchs direkt aus der „Bösartigkeit“ und „Eifersucht“, die ihn umgab. Einsamkeit und Traurigkeit waren regelmäßig geäußerte, gesundheitsbezogene Beschwerden in Briefen aus der Karibik: „Es gibt keine Art von Gesellschaft in diesem Viertel, ich bin begraben unter einhundert nègres, sie sind solche Schurken, diese Menschen haben keine Seele, man muss sie gegen seinen Willen schlagen, Du kennst meine Charakter, beurteile selbst, wie sehr ich leiden muss“5, schrieb Mme Allaire 1779 von ihrer Plantage in Saint Domingue an ihre Freundin Demoiselle Rocquand. Ähnlich wie im weiter oben zitierten Fall des Franzosen, der einen versklavten Mann getötet hatte und dann vor Kummer über die Kompensationspflicht erkrankt war, bedauerte auch Mme Allaire vor allem sich selbst, da sie „gezwungen“ war, die versklavten Männer und Frauen auf ihrer Plantage zu schlagen. Am 9. August 1756 schrieb Mme Boissaurenon aus Saint Domingue an ihre Freundin Mme Langebert auf der Île de Ré und schüttete geradezu ihr Herz aus. Sie beschrieb etwa ihre Einsamkeit an einem Ort, den sie als gänzlich gottlos empfand: „Wenn ich eine Feindin hätte, würde ich sie dazu verlocken, an diesen elenden Ort ohne Gewissen und ohne Religion zu reisen, wo der Vater seinen Sohn und der Sohn den Vater zerstört, Ehemänner ihre Frauen, all die armen Frauen sind allen Arten der Verleumdung ausgesetzt, denn dies ist das elendste Land, das man je gesehen hat“.6 5

HCA 30/305, Mme Allaire, Artibonite, an Dlle Rocquand in Nantes, 06.01.1779: „il ny aucune espece de sociaité dans ce quartier, je suis enterré dune centaine de negre se sont autant de séléra cest jens la non pas dame il feau les battre malgré soit tu connes mon caractaire juge de ce que je dois souffrire“.

6

HCA 30/260, Mme Boissaurenon, Saint Domingue, Mme Langebert, île de Ré, 09.08.1756: „si javais unne enmis je la solisitres de passer dans ce malleurux androist sant consiance et sans religion le pere detrut son fis le fis detrut son pere les home leur fame toute les pauvre fame sont sujette a toute sorte de medisance ce le plus miserable peis pour cela que jamais lont nest veut [...] je un homme mais ces pour me detruire et pour me faire tout les chagrain possible il est toujours sous il dort la moitié de la journé je puis dire je suis a moitié veve il y a plus de troix moy qui na couche avec moy ce la est vrais que jes fait deux petit lit pour nous deux mais cela nan percheret point de me voir sy il est et reasonable mais il me fait mourir de chagrin [...] je ne vois personne par aport au mauvaise famme qui sont dans cette androit vous ne puvez vous fier a personne dans cette androit de pudicque. [...] sa me procuras lhonneur de vous voir plus taut jespere que cela marivera peutaittre bien taut parse qui se donne au vin et avec cela il a toujour quelque chose a __“.

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Während diese düstere Sicht auf die allgemeine Bevölkerung von Saint Domingue von vielen zeitgenössischen französischen Besuchern geteilt wurde, hatte Mme Boissaurenon spezifische und sehr persönliche Gründe für ihren Kummer. Ihr Ehemann, dessen Familie offenbar in der Gegend lebte, war ein Trinker, der in seinen Pflichten als Ehemann schwer versagt hatte: „Ich habe einen Mann, doch nur um mich zu zerstören und mir allen möglichen Kummer zu verursachen, er ist immerzu betrunken, er schläft fast den ganzen Tag, ich könnte sagen, dass ich größtenteils eine Witwe bin; seit drei Monaten hat er nicht mit mir geschlafen, es ist wahr, dass ich zwei kleine Betten für uns beide gemacht habe, doch das würde ihn nicht hindern, mich zu sehen, wenn er bei Vernunft ist, doch er lässt mich vor Kummer sterben [...] ich sehe niemanden außer den schlechten Frauen, die in dieser Gegend leben, man kann an diesem Ort niemandem trauen, keusch [zu sein]“.7 Mme Boissaurenon ging sogar noch weiter und erklärte klar, dass sie wünschte, ihr Ehemann würde an seinen Exzessen sterben: „dies würde mir die Ehre verschaffen, Sie früher zu sehen, ich hoffe, dass es mir vielleicht bald zustoßen wird, denn er überlässt sich dem Wein, und dabei hat er immer etwas zu __ [Das Wort ist unleserlich, sehr wahrscheinlich aber eine Anspielung auf Untreue des Ehemanns]“8.

Mme Boissaurenon portraitierte die Gesellschaft von Saint Domingue als gänzlich fern von jeglicher christlicher Moral. Väter und Söhne, Ehemänner und Ehefrauen, die einander „zerstörten“; Frauen, die einerseits unkeusch und nicht vertrauenswürdig waren, andererseits aber Mitleid verdienten, da sie beständiger Verleumdung ausgesetzt waren – diese Darstellung Saint Domingues erinnert an Legenden menschlicher Verderbnis, die göttliche Bestrafung verdiente. Die Beschreibung ihrer eigenen Situation innerhalb dieses kolonialen „Sündenpfuhls“ war vermutlich recht schamvoll für Mme Boissaurenon: Ihr Ehemann hatte sich körperlich von ihr abgewendet zugunsten von Alkohol und vermutlich auch zugunsten der „unkeuschen“ Frauen, die sie umgaben. Mme Boissaurenon schien nicht daran interessiert zu sein, die Tatsachen zu beschönigen. Ihre Erklärung, dass ihr Ehemann seit drei Monaten keine Anstalten gemacht hatte, sich ihr sexuell zu nähern, war so formuliert, dass kein Raum für Missverständnisse blieb. Ihr Ehemann hatte ihr das eheliche Recht auf Geschlechtsverkehr verweigert und sie „vor Kummer sterben“ lassen. Die Verweigerung legitimer Sexualität in Verbindung mit der Verursachung von Kummer konnte unter zeitgenössischen Gesichtspunkten tatsächlich als eine ernsthafte Gefährdung des Körpers betrachtet 7

Ebd.

8

Ebd.

196 | „Dieses verfluchte Land“

werden. Somit war Mme Boissaurenons wiederholte Behauptung, ihr Ehemann würde sie „zerstören“, nicht unbegründet. In dieser Brieferzählung wird eine vertraute Geschichte – die unglückliche Ehe zwischen der „guten“ Frau und dem treulosen Trinker – fest im Kontext einer verdorbenen, destruktiven Kolonialgesellschaft verankert. Nicht nur Mme Boissaurenon, sondern auch viele andere Ehefrauen wurden von ihren Männern „zerstört“. Anders als in Frankreich, wo Menschen „Gewissen“ und „Religion“ besaßen, entsprach unmoralisches, unehrenhaftes und irreligiöses Verhalten in Saint Domingue der Normalität. Somit war Mme Boissaurenons Situation zwar schlimm, aber im kolonialen Alltag durchaus zu erwarten. Der Brief präsentierte Mme Boissaurenon als eine moralisch und religiös gefestigte Frau, was den abschließenden, expliziten Wunsch, ihr Ehemann möge bald sterben, recht erstaunlich macht. Eventuell war das Bild, was sie von ihm gezeichnet hatte, finster genug, um einen solchen Wunsch in den Augen der Adressatin Mme Langebert zu rechtfertigen? Oder aber die beiden Frauen kannten sich so gut, dass Mme Langebert eine derartige Aussage angemessen zu interpretieren wusste? Viele Franzosen, die in die Karibik zogen, zeigten sich irritiert von den ansässigen KolonialistInnen und ihren alltäglichen Praktiken. Für andere waren es genau diese Praktiken, die das Kolonialleben attraktiv und interessant machten. In jedem Fall war der Lebensstil der Kolonialbevölkerung von Interesse für Briefschreiber, vor allem deren Verhältnis zum Vergnügen. Europäische Darstellungen skizzierten KolonialistInnen als rückhaltlos, rücksichts- und verantwortungslos vergnügungssüchtig.

„Lebhafte Leidenschaften“

Die nächsten Seiten beschäftigen sich mit den karibischen Kolonien als Möglichkeitsräume im Hinblick auf diverse Aspekte und Praktiken des täglichen, körperlichen Lebens, z.B. vergnügliche Aktivitäten (etwa tanzen), aber auch Kleidung und Sexualität, die hier unter der Überschrift „Libertinage“ besprochen werden wird. Vergnügungs- und Libertinagepraktiken wurden von Zeitgenossen zumeist mit einem „kreolischen“ Lebensstil in Verbindung gebracht, KommentatorInnen stießen allgemein in das vertraute diskursive Horn, welches die karibikgeborene Bevölkerung als besonders vergnügungssüchtig und generell hedonistisch (re-)produzierte. Wie jedoch einige der hier vorzustellenden Briefe zeigen, waren die französischen ImmigrantInnen mindestens ebenso intensive Hersteller und Teilnehmer der Kultur physischer Grenzenlosigkeit und Genussliebe, die so hartnäckig mit den KreolInnen identifiziert wurde. Andere BriefschreiberInnen beschrieben diese Kultur nicht aus der Teilnehmerperspektive, sondern vom Standpunkt des betont ablehnenden Außenseiters, welcher oder welche das zügellose Benehmen der KolonialbewohnerInnen als das „Andere“ des eigenen, tugendhaften Verhaltens darstellte. Diese VerfasserInnen distanzierten sich von dem, was sie als „Débauche“ verstanden, oder zumindest gaben sie dies gegenüber ihren AdressatInnen in Europa an, möglicherweise um die Leserschaften zu beruhigen bzw. im Interesse einer auf Tugendhaftigkeit und „Europeanness“ ausgelegten „Selbstperformance“, die sich in für die Leserschaft eindeutig europäischen Akzeptabilitätskonzepten bewegte. Das erste hier zu besprechende Quellenbeispiel ist allerdings kein Brief, sondern gehört zum kleinen Kreis der hier verwendeten „Zusatzmaterialien“ – es handelt sich um das Tagebuch eines britischen Militärarztes, Leonard Gillespie, der im Zeitraum der britischen Okkupation von Martinique (1794-1802) im Marinehospital der Insel stationiert war. Gillespie hielt sich in jedem Fall zwischen November 1798 und Juli 1800, der Laufzeit seines Tagebuchs, in Martinique auf. Das Tagebuch ist nicht Teil der HCA-Sammlung, lagert aber ebenfalls in

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den UK National Archives. In seinem Tagebuch notierte Gillespie nicht nur das Wetter und interessante medizinische Fälle und Begebenheiten, sondern auch gelegentlich Beobachtungen zur Gesundheit der französischen Kolonialbevölkerung. Am 26. März 1799 schrieb er: „The habit of smoking Tobacco so very general in these Countries is certainly pernicious to health [...] and disposing to inebriation of which it may be said to be a powerfull aid, having that effect highly in itself and disposing the Person to the drinking of strong Liquors it is irrational in itself and the Pleasure it affords, which however is exceeded by by [sic!] the pain sickness, Vertigo and Lassitude can only be accounted for from the truly inebriating effects of the narcotic fumes [...] here all Ages and Sexes of Persons are in the habit of smoking even Boys of 7 years of Age are seen with a Segar in their Mouth, hence the frequency of a very thin consumptive habit amongst the Creols and black corrupted teeth“.1

Gillespie unterschied hier generell nicht zwischen Kreolen und der restlichen Kolonialbevölkerung, lediglich in seiner Einschätzung der häufigen Auszehrung und der schlechten Zähne, die er bei der Kreolbevölkerung verortete – aufgrund des verkommenen Lebensstils, der samt der körperlichen Gebrechen an kreolische Kinder weitervererbt wurde. Dies könnte unter anderem dadurch bedingt sein, dass Gillespie nur die Vererbung an kreolische Kinder beobachten konnte, waren doch alle Kinder, die in der Karibik geboren wurden, Kreolen. Gillespies düstere Einschätzung der fatalen Folgen von Tabakkonsum entsprach englischen, aber auch französischen Medikaldiskursen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Der Arzt P. Virard etwa, ein Alumnus der prominenten Universität von Montpellier, schrieb ein Traktat über die Gesundheit „heiratsfähiger“ junger Frauen, in dem er betonte „es hieße, viel zu riskieren“ im heranwachsenden Alter „mit dem Tabakrauchen an[zu]fangen“.2 Der englische Autor des Textes „Health Preserved“ befand sich am anderen Ende des Spektrums der Produktion medikokultureller Beiträge, wurde nämlich lediglich als „ein bekannter Geflügelzüchter“ identifiziert, doch auch er strich heraus, wie gefährlich Tabak für Kinder (und Frauen) war: „for their Spirits and Balsamick Body whence their true Life shines, is more volatile and tender then Mens; and their natural heat is

1

TNA, ADM 101/102/10. Miscellaneous Journal von L. Gillespie, Naval Hospital Martinique, 8. November 1798 bis 26. Juli 1800.

2

Virard, P.: Essai sur la santé des filles nubiles, Seconde Edition revue & augmentée, London/Paris (?) 1779, S. 37: „Ce seroit beaucoup risquer [...][de] commencer à prendre du tabac“.

„Lebhafte Leidenschaften“ | 199

not so strong“.3 Wenn Tabakmissbrauch in der Tat so virulent auf Martinique war, wie Gillespie behauptete, und sogar kleine Jungen beständig Zigarren rauchten, deutet dies entweder auf einen spezifischen kolonialen Medikaldiskurs auf der Insel hin, der das in Europa längst aus der Mode gekommene Konzept beibehielt, demzufolge Tabak als allgemein gesundheitsförderlich betrachtet wurde; oder dass die Kolonie ein sozialer Raum war, in dem medizinische Überlegungen gegenüber Komfort und Wohlgefühl keine große Rolle spielen. Ganz pragmatisch mag hier in die Waagschale geworfen werden, dass Tabakrauchen eine Möglichkeit gewesen sein mag, die auf Martinique omnipräsenten Moskitos abzuwehren. Dies wurde allerdings von Gillespie nicht erwähnt, der eher dazu tendierte, die Haltung der Kolonialbevölkerung als Ignoranz gegenüber ihrer Gesundheit zu interpretieren. Selbstverständlich ist dies nicht unbedingt ein Charakteristikum kolonialen Lebens, unzählige EuropäerInnen hielten sich in ihrem Alltag nicht an das, was als gesund oder ratsam galt, insbesondere im Zusammenhang mit Essen, Trinken und generellen Berauschungspraktiken. Wie jedoch z.B. Roy Porter4 und Amanda Vickery untersucht haben, reflektierten die Selbstdokumentationen solcher „Transgressoren“ oft Scham oder Schuld, wenn die VerfasserInnen sich unmäßig und entgegen der Bedürfnisse ihres Körpers verhalten hatten. Dies wiederum zeigt, dass die VerfasserInnen mit zeitgenössischen Medikalkonzepten vertraut waren und diese prinzipiell akzeptierten. Zudem beschäftigten sich diese Dokumentationen zumeist mit Momenten des Exzesses, wie häufig diese Momente auch vorkommen mochten. Gillespie hingegen beschrieb kontinuierliche Maßlosigkeit und permanente Intoxikation auf Martinique. Allerdings sind Gillespies Notizen die eines Außenseiters, der eine Gemeinschaft mit einem zum Schreibzeitpunkt diskursiv bereits gut etablierten Ruf für Debauche und Maßlosigkeit repräsentierte, und sollten daher mit der gebotenen Vorsicht gelesen werden. Trotzdem ist das Bild der weißen (Kreol) Gesellschaft, das diese Notizen entwarfen, bemerkenswert in seiner gänzlichen Missachtung von Gesundheit, Schmerz und den weiteren unangenehmen Folgen des Tabakmissbrauchs. Die von Gillespie skizzierte Gesellschaft bestand aus Leuten, die ihre eigene Zukunft mit Nonchalance behandelten; so sehr, dass selbst Kinder sich körperlicher Korrumpierung hingeben durften. Insbesondere für die kreolische Bevölkerung wurde diese Einschätzung einer körperignoranten, wenig gesundheitsbewussten Kultur geteilt vom Martiniquai3

Anonymus, Health’s preservative: Being a Dissertation on Diet, Air, and Down-Beds, And the Cause and Cure of Buggs, London 1750, S. 55.

4

Porter, Roy: Consumption: Disease of the Consumer Society? in: Ebd./John Brewer (Hg.): Consumption and the World of Goods, New York 1994, S. 58-84, S. 60; Vickery, Behind Closed Doors.

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sischen Kreolen Médéric Moreau de Saint Méry, dessen Beschreibungen von Saint Domingue zu den in der Historiographie meistbesprochenen „karibischen“ Texten zählen. Moreau de Saint Mérys Portrait der weißen Kreolinnen von Saint Domingue scheint sich auf den ersten Blick drastisch von Gillespies Einschätzungen zu unterscheiden – während Letzterer betonte, die KolonistInnen wären beständig berauscht, betonte Ersterer: „Die Kreolinnen sind sehr nüchtern. Schokolade, Süßes, Café au lait, das ist ihre Ernährung“.5 Moreau de Saint Mérys Kreolinnen waren nüchtern, ihre Ernährung war nicht besonders ausgewogen, aber Teil kolonialer Gesundheitspraktiken. Geneviève Léti hat gezeigt, dass die weiße (Kreol-)Bevölkerung im Allgemeinen viel Kaffee trank, um Fieber zu bekämpfen; und Schokolade aß, weil diese als stärkend wahrgenommen wurde. 6 Doch Moreau de Saint Méry setzte seine Beschreibung der weißen Kreolinnen fort und erklärte, dass „eine Vorliebe, die stärker zu sein scheint, als sie es sind, sie dazu bringt, gesunde Nahrung abzulehnen & das gesalzene Fleisch aus Europa oder die örtlichen Gerichte zu bevorzugen, bizarr zubereitet und bekannt unter Namen, die sogar noch bizarrer sind. Reines Wasser ist ihr gewohntes Getränk, doch manchmal ziehen sie eine Limonade vor, die aus Sirup & Zitronensaft gemacht wird. Die Kreolinnen essen nicht zu den Mahlzeiten, sondern unregelmäßig, wann immer sie die Begehren eines Appetits verspüren [...] langes Schlafen, die Tatenlosigkeit, in der sie leben, das Fehlen jeglichen Regimes, schlecht gewählte Nahrung, lebhafte Leidenschaften, die beinahe immer aktiv sind, dies sind die Quellen der Gefahren, welche die kreolische Frau bedrohen & die Auslöser, die ihre Reize so schnell verblühen lassen: so schillernd wie Blüten, teilen sie auch deren Lebensdauer“.7

5

Moreau de Saint Méry, Descriptions, S. 21.

6

Léti, Santé, S. 153.

7

Moreau de Saint Méry, Déscriptions, S. 21: „Les Créoles sont très-sobres. Le Chocolat, les sucreries, le café au lait surtout, voilà leur nourritire. Mais un goût qui semble plus fort qu’elles, les porte encore à refuser les alimens sains & à leur préférer les salaisons apportées d’Europe ou des mets du pays, bisarrement préparés & connus sous des noms plus bisarres encore. L’eau pure est leur boisson ordinaire, mais elles luis préfèrent par fois une limonade composée de sirop & de jus de citron. Les Créoles ne mangent guères aux heures du repas, mais indistinctement, lorsqu’elles éprouvent les désirs d’un appétit [...]. Un sommeil trop prolongé, l’inaction dans laquelle elles vivent, des écarts de régime de toute espece, des alimens mal choisis, des passions vives presque toujours en jeu; telles sont les sources des maux qui menacent les femmes Créoles, & les causes qui flétrissent sitôt leurs charmes: brillantes comme les fleurs, elles n’en ont aussi que la durée“.

„Lebhafte Leidenschaften“ | 201

Genau wie in Gillespies Beispiel ist auch hier – allerdings allein für Kreolinnen – Begehren, bzw. Appetit, die einzig treibende Kraft im Alltag. Vernunft, Vorsicht oder gesundheitliche Überlegungen spielen keine Rolle. In diesem Zusammenhang ist interessant, zu bemerken, dass Schokolade und Süßigkeiten in vielen Fällen aus Europa importiert wurden, was bedeutete, dass sie in Zeiten der Disette knapp werden konnten. Wer diese „Dürreperioden“ rechtzeitig antizipierte, konnte zumindest versuchen, Profit aus der Rarität zu ziehen. Ein M. Lalanne aus Saint Domingue bestellte kurz vor Ausbruch des Siebenjährigen Krieges noch schnell mehrere Lieferungen von Luxusgütern bei unterschiedlichen Verwandten und Bekannten in Frankreich. Seiner Schwester in Bayonne schrieb er einen sehr kurzen, informellen Brief, in dem er sie unter anderem um „250 kleine Kugeln aus Schokolade, 50 davon mit Vanille“ bat. Jedes einzelne Kügelchen, so Lalanne, sollte sorgfältig in Papier gewickelt werden, um auf der Reise nicht zu verderben. Sofern Moreau de Saint-Mérys Beschreibung der schokoladenbegeisterten Kolonialistinnen annähernd zutraf, hätte Lalanne hier mit einigem Gewinn rechnen können. Die Darstellung von Frauen als unkontrollierten, undisziplinierten Kreaturen, die beständig ihren Impulsen und Begehren unterworfen waren, war weder neu, noch auf die Karibik begrenzt. Doch Moreau de Saint Mérys Darstellung suggeriert, dass es für die weißen Frauen von Saint Domingue gänzlich akzeptabel, ja sogar „normal“ war, auf diese Weise zu leben, und nicht etwas, was ein Vater, Bruder oder Ehemann würde im Zaum halten müssen. Rein aus Interesse soll hier „in Klammern“ angemerkt werden: Es mag hier für Verwunderung sorgen, dass Moreau de Saint Méry als gebürtiger Martiniquaise nicht mehr Vergleiche oder Bezüge zwischen den Inseln herstellte. Möglicherweise sah Moreau de Saint Méry als Kenner keine besonderen Unterschiede. Allerdings gibt der Nachruf, den Fournier-Pescay an Moreau de Saint-Mérys Beerdigung am 30. Januar 1819 abhielt, an, dass Letzterer seine Heimatinsel im Alter von 19 Jahren verlassen hatte, und trotz seiner späteren Wahl zum Repräsentanten für Martinique in der Nationalversammlung von 1789 scheint er sich hernach nicht mehr längerfristig auf der Insel aufgehalten zu haben (sofern er überhaupt noch einmal dort war), somit ist es wahrscheinlich, dass der erwachsene Moreau de Saint Méry sehr viel vertrauter mit Saint Domingue war, wo er sich als Anwalt niedergelassen hatte, als mit Martinique. Übrigens interpretierte Fournier-Pescay den Umzug nach Saint Domingue als die Rückkehr in „das Land seiner Geburt“8, betrieb somit keine besondere Distinktion zwischen den Kolonien.

8

Discours prononcé aux obsèques de M. Moreau de Saint-Méry, par M. FournierPescay, Docteur en médecine, directeur du conseil de santé militaire, le 30 janvier

202 | „Dieses verfluchte Land“

Gillespies und Moreau de Saint Mérys Erzählungen skizzierten die französischen Karibikkolonien als soziale Räume, in denen der (freie weiße) Körper, egal ob männlich oder weiblich, im Hinblick auf seine Gelüste kaum gezähmt werden musste; wo es völlig akzeptiert war, dass er seinen Begierden nachgab. Hier wird allerdings mit Doris Garrway argumentiert, dass nach wie vor entscheidende Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestanden, was die Akzeptabilität von lustgeleitetem Verhalten betraf.9 Unmäßiges Essen, Faulheit und unkontrollierte Emotionalität mögen akzeptabel gewesen sein für Frauen, denen dies finanziell möglich war. Sexuelle Freizügigkeit hingegen war nach wie vor ein hauptsächlich männliches Vorrecht. Für Moreau de Saint-Mérys Beschreibungen und Gillespies Tagebuch sind unterschiedliche quellenkritische Zugänge erforderlich. Gillespies Tagebuch ist handschriftlich und unveröffentlicht überliefert. Abgesehen von täglichen Notizen zum Wetter sind die Einträge nicht einheitlich, sie variieren thematisch und in der Länge sehr stark. Es liegt daher nahe, dass Gillespie sie vor allem für den eigenen Gebrauch führte, um sie später konsultieren und militärische oder meteorologische Entwicklungen sowie seine eigene medizinische Praxis nachvollziehen zu können. Moreau de Saint-Méry hingegen veröffentlichte seinen höchst stilisierten Bericht über Saint Domingue für eine breite Leserschaft, und seine Beschreibungen von freien kreolischen Frauen, egal ob weiß oder of colour, waren höchstwahrscheinlich stark überformt, ja sogar karikariert. Dies ist insbesondere für jene Passagen zu vermuten, in denen Moreau de Saint-Méry erklärte, dass die physischen Begrenzungen, welche die Kolonialistinnen aufgrund ihrer eigenen Genusspraktiken erlitten, noch sehr viel bedeutsamere Folgen hatten als ein „schnelles Verblühen“. Moreau de Saint Méry beschrieb die Schönheit und Anmut der weißen Kolonialistinnen ebenso wie ihre hingebungsvolle Liebe zu ihren Kindern und auch zu ihren Ehemännern, selbst in arrangierten Ehen, skizzierte sie aber gleichzeitig auf eine Weise, die an überzüchtete Schoßhunde erinnert. Er stellte sie als verwöhnt dar, als überspannt, physisch schwächlich und zusätzlich in verfrühter Fortpflanzung ausgezehrt, da die Gesellschaft sie in Ehe und Mutterschaft drängte, bevor ihre Körper für beides bereit waren. Laut Moreau de Saint Méry zahlten viele Kolonialistinnen für diesen Lebensstil mit einer Unfähigkeit, ihre Kinder zu stillen: „Schwach aufgrund ihrer Konstitution & weil man den Moment der Mutterschaft überstürzt hat; schwach, weil sie ihren Magen zerstören & weil das Klima & möglicherweise erbliche Laster das Ner-

1819. Digitisation consulted via Gallica, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k56265 989/f2.item.r=MArtinique, Zugriff 22.01.2017. 9

Garraway, Libertine Colony.

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vensystem sehr empfindlich gemacht haben“.10 Somit konnten die kolonialen Blumen „ihren Kindern nur das Leben schenken“11, jedoch keine Nahrung, welche von einer versklavten Amme bereitgestellt werden musste. Diese wiederum, so Moreau de Saint Méry, wurde von der unfähigen Mutter eifersüchtig beobachtet, am Ende jedoch trotz aller Missgunst aus ihrer Sklaverei befreit. Diese Behauptungen können hier nicht überprüft werden, was bedauerlich ist, da die Ergebnisse äußerst interessant sein könnten bezüglich der Entwicklungen zwischen zwei weiblichen Körpern, die sich an unterschiedlichen Enden einer brutalen sozialen und juristischen Hierarchie bewegten, welche jedoch in der beidseitig unfreiwilligen Stellvertretersituation, in der sich die Frauen begegneten, aufgewühlt wurde. Moreau de Saint Mérys Darstellung zeigt Mütter, die ihre Kinder eifersüchtig lieben, die aber dennoch in das Bild der Gillespie-Erzählung passen – das Bild einer Gesellschaft, die ihrer eigenen Zukunft und der ihrer Kinder ignorant gegenüberstand. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde zunehmend und stark ideologisch aufgeladen diskutiert, ob das Stillen durch die Mutter nicht der gesündeste, sicherste Weg der Säuglingsernährung sein könnte. Margaret Hunt hat den „maternal breast-feeding craze“ des 18. Jahrhunderts untersucht, der ihr zufolge „always more successful as an ideology than as actual practice, particularly in France“12 war. Moreau de Saint Méry, dem es als Mann freistand, sich ohne jegliche Praxisbedenken ideologisch zu verbreiten, begründete die Praktik der „Ammen-Nutzung“ mit mütterlicher Unfähigkeit und beurteilte Letztere als teils gesellschaftliches, teils klimatisches Problem. Vor allem aber verurteilte er die Mütter selbst für die von ihm ausgemachte „Unfähigkeit“; für ihre unregelmäßigen und undisziplinierten Praktiken, die ihre Körper zu sehr schwächten, für ihre Unfähigkeit, dem Wohl ihrer Kinder vor ihren Gelüsten Priorität zu geben. Diese Rücksichtslosigkeit und Ignoranz kann geradezu als ein topos in Erzählungen der weißen Kolonialgesellschaft betrachtet werden und wird im Laufe dieses Unterkapitels in unterschiedlichen Formen auftauchen. Viele dieser Erzählungen sollten der Leserschaft die Verantwortungslosigkeit, Unfähigkeit und generelle „Andersartigkeit“ der französischen Kolonialbevölkerung verdeutlichen. Es sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass ein impulsorientiertes, momentanes Leben, in dem jeder körperliche Impuls ohne Rücksichtnahme auf Gesundheit, Mäßigung und nüchterne Selbstverwaltung 10 Ebd., S. 21: „Faibles par constitution & parce qu’on a hâté le moment de la maternité, faibles parce qu’elles détruisent leur estomac & que le climat & peut-être des vices héréditaires ont rendu le genre nerveux très irritable“. 11 Ebd. 12 Hunt, Margaret: Women in Eighteenth-Century Europe. New York/London [2010] 2014, S. 143.

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ausgelebt werden konnte, für einen Europäer des 18. Jahrhunderts durchaus verlockend gewesen sein mag.

TANZEN UND KLEIDUNG Im Frühjahr 1781 schrieb eine der Schwestern oder Cousinen von Marie Rose Patrice de Rézeville, geborene Émerigon und genannt Manon, welche mit ihrem Ehemann und ihren Kindern auf Sint Eustatius lebte, ihr einen langen Brief aus dem heimischen Martinique und berichtete unter anderem, dass im Heimatort Saint Pierre demnächst vier Bälle stattfinden sollten. Über die Familie Émerigon liegen – ausnahmsweise – einige Zusatzinformationen vor, nicht zuletzt dank der genealogischen Forschungen von Bernadette und Philippe Rossignol.13 Die Familie Émerigon stammte ursprünglich aus Aix und erfuhr im Laufe des 18. Jahrhunderts einiges an Prominenz. Zwei ihrer Söhne, Charles Marie und Pierre Marie, wanderten nach Martinique aus, wo Charles Marie schließlich bis zu seinem Tod im Dezember 178114 den Posten des „conseiller du roi et son procureur au siège royal et à l’amirauté de Saint Pierre“15 versah. Wie groß die Familie letztendlich war und zu welchem Bruder die zahlreichen Émerigon-Sprösslinge, die fortan in den unterschiedlichen Kirchenund Verwaltungsakten der Kolonie auftauchen, jeweils gehörten, ist zu diesem Zeitpunkt nicht festzustellen, da keine vollständige genealogische Erforschung des martiniquaisischen Zweiges der Familie vorliegt. Die HCA-Sammlung enthält zwei Briefe an Marie Rose Patrice, die in die prominente antillaisische Kaufmannsfamilie Ruste de Rezeville eingeheiratet hatte – einen von ihrer Schwester oder Cousine und einen von ihrem Vater, Charles Marie Émerigon. Beide Briefe zeigen, dass Saint Pierre, zu diesem Zeitpunkt die Hauptstadt der Kolonie, über ein reges Gesellschaftsleben verfügt haben muss, an dem die Émerigons teilnahmen. Wenn, wie die anonyme Émerigon-Dame schrieb, tatsächlich vier Bälle stattfanden, bedeutete das jede Menge Gelegenheit zum Tanz – und tanzen war eine der wenigen körperlichen Aktivitä-

13 Rossignol, Bernadette and Philippe: Ruste de Rezeville: Frères, négociants, et la demande de liberté de Julien, in: Généalogie et Histoire de la Caraibe, n. 242, 2010, S. 6540 f. 14 Sammlung Charles Marie Émerigon, Pierre Marie Émerigon, Marc Pierre Marie Émerigon, Marie Reine Émerigon, http://anom.archivesnationales.culture.gouv.fr, Zugriff 20.07.2018. 15 Ebd.

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ten, an denen Kreolinnen begeistert teilnahmen, zumindest laut Moreau de SaintMéry. Letzterer war so begeistert von den Tanzkünsten der Kolonialistinnen, dass er ihnen seinen Artikel „De la Danse“16 widmete (ein Text, der zuerst 1789 abgefasst wurde, also in dem Jahr, als er zum Repräsentanten für Martinique in der Nationalversammlung gewählt wurde. Eine solche Geste wird seinem politischen Fortkommen nicht geschadet haben.) In seiner Beschreibung von Saint Domingue jedoch schrieb er: „[T]anzen, vor allem lebhaftes Tanzen hält solchen Reiz für die Kreolinnen, dass sie sich ihm ohne Zurückhaltung widmen, trotz der Hitze des Klimas & der Schwäche ihrer Konstitution. Es scheint, dass diese Ertüchtigung ihre Existenz wiederbelebt, & sie wissen zu gut, welche neuen Reize er einer ausdrucksstarken Figur & einer graziösen Form verleiht, als dass sie ihn nicht mit Leidenschaft studieren würden“.17

Moreau de Saint Méry präsentierte das Tanzen als ein vorwiegend weibliches Vergnügen, dem sich die Frauen begeistert hingaben trotz ihrer schwächlichen Physis, welche wiederum vom Klima und ihren eigenen dekadenten Praktiken geschuldet war. In der Tat war die unkontrollierte und rücksichtslose Verschwendung von wertvoller Energie durch Tanz – zumindest in der Hitze der Kolonien – ein weiterer Stein in der Mauer der Moreau de Saint Méry’schen Argumentation. Thibault de Chanvalon, der die weißen Kreolinnen von Martinique und ihre Liebe zum Tanzen beschrieb, konstatierte, dass „Ein Mangel an Willen & Nachahmung, welches eine Folge ihrer Gedankenlosigkeit ist, führt dazu, dass sie die Talente & Einübungen vernachlässigen, welche mit der Erziehung verbunden sind. Nur der Tanz kann diese Trägheit überwinden, in jedem Alter & trotz der Hitze des Klimas. Diese Ertüchtigung scheint sie niemals zu erschöpfen. Man könnte sie für die intensivste ihrer Freuden halten, die einzige, für die sie empfänglich sind“.18 16 Moreau de Saint Méry, De la Danse. Parma (1789) 1801. 17 Moreau de Saint Méry, Déscriptions, S. 20: „la danse, mais la danse vive a tant d’attrait pour les Créoles qu’elles s’y livrent sans réserve, malgré la chaleur du climat & la faiblesse de leur constitution. Il semble que cet exercice ranime leur existence, & elle savent trop bien quels charmes nouveaux il donne à une figure expressive & à une taille gracieuse, pour qu’elles ne le recherchent pas avec ardeur“. 18 Chanvalon, Voyage à la Martinique, S. 38: „Le défaut de volonté & d’émulation, qui est une suite de leur nonchalance, leur fait négliger les talens & les exercices attachés à l’éducation. La danse seule peut vaincre cette indolence, à tout âge, & malgré la chaleur du climat. Cet exercice paroît ne les fatiguer jamais. On croiroit que c’est le plus vif de leurs plaisirs, ou le seul auquel elles sont sensibles“.

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Trotz dieser erneut in die Karikatur übergehenden Beschreibung der Kreolinnen und ihrer fanatischen Tanzwut räumte Moreau de Saint Méry immerhin ein, dass auch männliche Kreolen gerne tanzten, und die Briefe der HCA-Sammlung machen keine Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Kolonialisten. Ein M. D’Esmé du Buisson berichtete einem Freund von den Veranstaltungen, die er 1756 im Laufe des Karnevals von Saint Domingue erlebt hatte: „Diesen Karneval hatten wir Theater, Ball und Konzert, Sie würden sich nicht vorstellen, dass man in so einem heißen Klima tanzen kann; man tanzt jedoch, und furios“.19 D’Esmé zeigte sich schlicht erstaunt, dass die Kolonisten trotz der Hitze in Tanzlust waren. Wie Moreau de Saint Méry ging er davon aus, dass der hitzegeplagte Körper nicht über ausreichende Energie für solche „Furiosität“ besitzen würde. In der Tat beäugten diejenigen, die innerhalb der Logik von Mäßigung und Vorsicht verblieben, die durchtanzten Tropennächte kritisch. Der langzeitKaribikbewohner und Chirurg Robert Thomas schrieb, dass „a great circumspection and self-command in sensual pursuits, and the careful avoiding of all exposures to the night air“20 von höchster Wichtigkeit war, um die Gesundheit zu schützen, was bedeutete, dass Bälle und ähnliche Veranstaltungen definitiv zu meiden waren. Allerdings – und wie bereits besprochen – galten Vorsicht und Weitsicht nicht gerade als Hauptmerkmale von Kolonialgesellschaften. Der Kreol geborene, aber in Frankreich aufgewachsene M. Parent schrieb im April 1778 aus La Moustique an einen Freund und brachte seine tiefe Verständnislosigkeit dafür zum Ausdruck, dass die größten Vergnügen der KolonialistInnen in „tanzen und la fouterie“ bestanden, welche ihm „unangenehm aufgrund der großen Hitze“ waren“.21 M. Parent war offenbar ein Mann, der die Dinge beim Namen nannte, denn er entschied sich für die Formulierung „la fouterie“, die hier nur als bumsen (oder ähnliches) übersetzt werden kann. M. Parent war kein großer Poet, doch sein körperliches Gespür war – aus europäischer Sicht – gesund. Die europäische Sicht wusste, man in der Hitze der Karibik einen Bogen sowohl um das Tanzen, als auch um la fouterie machen sollte; die KolonialistIn19 HCA 30/260, M. Desmé du Buisson, Cap, Saint Domingue, to M. Dupetithouars, Saumur, 08.03.1756: „Ce Carnaval nous avons Eu Comedie Bal et Concert vous imagineries pas quon put danser dans un Climat aussi chaud on y danse pourtant et a la fureur“. 20 Thomas, Robert: Medical Advice to the inhabitants of warm climates, on the domestic treatment of all the diseases incidental therein, with a few useful hints to new settlers for the preservation of health and the prevention of sickness, London 1790, Introduction. 21 HCA 32/313, n. 97, Parent, La Moustique an einen Freund in Frankreich, 12.04.1778: „la danse et la fouterie qui en sont de grands sont dégoutants par la grande chaleur“.

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nen hingegen waren jedoch schon zu korrumpiert, um zu bemerken, was ihnen schadete. Charles Marie Émerigon, der Vater der oben erwähnten Schwestern, stammte zwar selbst gebürtig aus der Metropole, war aber offenbar in seiner Haltung gegenüber dem Tanzen schon ausreichend „kreolisiert“. Am 31. Januar 1781 schrieb er an seine Tochter Manon in St. Eustache: „Ab nächstem Sonntag müssen wir vier Mal in den gemeinsamen Räumen der Damen Duquernay und Charron tanzen, im Durchschnitt zwei Knoten pro Hut; ich würde Dich gerne auf diesen Bällen sehen, obwohl ich sicher bin, dass Du nicht in der Stimmung bist, zu tanzen“.22 Émerigon vermutete Tanz-Unlust bei Manon, da diese erkrankt war. Dennoch lässt sein Wunsch, sie im Ballsaal sehen zu können, darauf schließen, dass sie vor ihrer Erkrankung gerne getanzt hatte. Diese Passage enthält jedoch eine weitere interessante Bemerkung, die zum nächsten Unterpunkt überleitet: Kleidung. Der betreffende Kommentar bezieht sich vermutlich auf koloniale Welt- und Körperdeutungen, und darauf, wie koloniale Kommunikationspraktiken den Weg in die Umgangssprache gefunden hatten: „im Durchschnitt zwei Knoten pro Hut“. Hierbei könnte es sich um eine Referenz auf eine spezifische Kopfbedeckung handeln, die von der freien of colour Bevölkerung in Martinique und Guadeloupe entwickelt worden war. Den freien schwarzen und of colour Menschen in den Kolonien war es nicht erlaubt, Hüte zu tragen. Stattdessen entwickelten sie unterschiedliche Formen tuchbasierter Kopfputze, die vor allem aus importiertem Madras gemacht wurden. Hierzu gehörte eine festliche coiffe für Frauen, die noch heute zu besonderen Gelegenheiten von martiniquaisischen Frauen getragen wird und als wichtiger Teil des Kulturerbes auf der Insel betrachtet wird. Dieser Kopfputz aus leuchtend buntem Madras wird auf dem Kopf einer Frau verknotet. Die Art der Knotung signalisiert die amouröse Verfügbarkeit der Frau: Wenn der Knoten einen Zipfel hat, bedeutet dies, dass die Dame ungebunden ist. Zwei Zipfel bedeuten, dass ein Liebhaber im Spiel ist, sie aber dennoch von einem anderen Bewerber überzeugt werden könnte. Drei Zipfel im Knoten signalisieren, dass die Trägerin verheiratet ist. Vier Zipfel schließlich bedeuten, dass sie verheiratet ist, aber dennoch offen für ein Abenteuer. Zwar ist davon auszugehen, dass dieser Brauch seine spezifischen Bedeutungen mit der Zeit entwickelt und verändert hat und 1781 möglicherweise andere Signale sendete; jedoch scheint es wahrscheinlich, dass Émerigons Verweis auf „zwei Knoten pro Hut“ sich auf eine Form dieser Kleidungstradition bezieht. 22 HCA 30/345, Charles Marie Émerigon, St Pierre, Martinique, an Mme Manon Ruste de Rézeville, St Eustache, 31.01.1781: „de Dimanche prochain nous devons danser pendant quatre fois dans les salles conjointes des dames Cuquernay Et Churron moyenant deux noedes par chapeau je voudrais bien te voir a ces bals quoyque je suis certain que tu na pas envie de danser“.

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Émerigon wollte mit dieser Bemerkung offenbar etwas sehr spezifisches über seine beiden zukünftigen Gastgeberinnen vermitteln. Wie auch immer die „Sprache des Kopfputzes“ zu dieser Zeit funktionierte, sie hatte offensichtlich ihren Weg in den oralen und proverbialen Sprachgebrauch gefunden. Spezifisch koloniale Kleidungspraktiken entstanden, an denen nicht nur soziale Zugehörigkeiten und der Status ihrer TrägerInnen gelesen werden konnten, sondern auch spezifische situative Botschaften über (möglicherweise) sexuelle Bereitschaft. Das Verstehen solcher Praktiken und ihrer Bedeutungen konnte problematisch sein für diejenigen, die mit der kolonialen Kleidersprache noch nicht vertraut waren. Stéfanie Chaffray hat über französische Reisende des 18. Jahrhunderts und den amerindianischen Körper geschrieben: „Die Fixierung der Reisenden auf amerindianische Kleidung erklärt sich auch durch die Bedeutung, welche die Gesellschaft des Ancien Régime Kleidung und Erscheinung zuschrieb. Was zählt, ist der Blick des Anderen auf das Selbst. Die körperliche Erscheinung antwortet einer gewissen Anzahl von Codes, die das Auslesen des sozialen Hintergrunds eines jeden durchs Anschauen erlauben. Diese Codes regulieren die Haltung, das Gehen, die Art zu sprechen, sich zu waschen, zu essen und sich zu kleiden. Kleidung, sehr strikt reguliert, ist organisiert wie ein sozialer Code: Indem sie die Position, den Rang, das Alter und das Geschlecht des Individuums anzeigt, erlaubt sie, festzustellen, wer der Andere ist“.23 Chaffrays Perspektive unterstreicht die soziale Orientierung und Sicherheit, welche die französischen Kleidungscodes des 18. Jahrhunderts boten. Sie signalisierten, wer eine Person war und wie man ihr zu begegnen hatte, und erlaubten somit das Navigieren auch unbekannter Situationen ohne sozialen Fauxpas. Chaffrays Ansatz passt zu einer Back-to-the-Roots praxeologischen Untersuchung, da das, was Chaffray hier beschreibt, grob der Hexis des Habitus in ihrer Definition durch Pierre Bourdieu in seinem bahnbrechenden Werk „Die Logik der Praxis“ entspricht. Bourdieu verstand die Hexis als „political mythology realized, em-bodied, turned into a permanent disposition, a durable way of standing, speaking, walking, and there23 Chaffray, Stéphanie: La mise en scène du corps amérindien: La représentation du vêtement dans les relations de voyage en Nouvelle-France, in: Histoire, économie & société 2008/4, 27, S. 5-32, S. 6: „La préoccupation des voyageurs pour le vêtement amérindien s’explique également par l’importance que la société d’Ancien Régime accorde au vêtement et au paraître. Ce qui importe, c’est le regard de l’autre sur soi. L’apparence physique répond à un certain nombre de codes qui permettent de lire par le regard l’origine sociale de chacun. Ces codes régissent la manière de se tenir, de marcher, la façon de parler, de se laver, de manger et de se vêtir. L’habillement, réglé de manière très stricte, est organise comme un code social: en indiquant l’état, le rang, l’âge et le sexe de l’individu, il permet de savoir qui est l’autre“.

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by of feeling and thinking“.24 Während Bourdieu Kleidung jedoch eher als ein „distinctive sig[n] of symbolic wealth“25 betrachtet, verknüpft Chaffray direkt den Körper mit der Kleidung, was überzeugend ist, da es gerade aus der Betrachterperspektive schwierig ist, zu wissen, wo im Gesamtbild aus Bewegung, Sprache und Materialität die Kleidung aufhört und der Körper anfängt. Dies würde von der „Sehkompetenz“ des Betrachtenden abhängen; von ihrer oder seiner Kenntnis der Materialität und der sozialen Aspekte von Kleidung, aber auch davon, wie die Kleider getragen wurden. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Bourdieus Verständnis der Hexis als „political mythology realized“ top-down gedacht ist, während Chaffrays Perspektive eher Intelligibilität ins Zentrum rückt, also die Art und Weise, wie ein bekleidetes, sich bewegendes, interagierendes Selbst von den es umgebenden Menschen gesehen, „gelesen“, anerkannt wird – oder auch nicht. Abgesehen von diesen Überlegungen besteht eine viel zu enge Beziehung zwischen Körpern und ihren Kleidern, als dass Letztere einfach in den Bereich des „symbolic wealth“ relegiert werden sollten. Alltagskleidung im 18. Jahrhundert war (jenseits der representativen Roben der Eliten, welche vor allem ihren TrägerInnen schmeicheln sollten) dazu gemacht oder wurde dazu umgearbeitet, einem spezifischen Körper in seinen täglichen Bedürfnissen zu unterstützen. Die beständige Fokussierung auf finanziellen Wert, Kleiderordnungen und Repräsentativität lässt außer Acht, dass die Kleidung der meisten Leute im Hinblick auf bestimmte Tragebedürfnisse hergestellt wurde. Stoffe mussten den Körper vor Wind und Wetter schützen und gegebenenfalls (wie im Falle von Seeleuten und LandarbeiterInnen) robust genug sein um Beanspruchungen lange zu überstehen. Spezifische Zuschnitte garantierten Bewegungsfreiheit, aber auch Schutz vor übermäßiger Beschmutzung. Selbst wenn Menschen Kleidung erbten, auftrugen oder als Geschenk erhielten, wurden Änderungen vorgenommen oder sogar ganze Kleidungsstücke aufgetrennt und neu genäht, um den Körper des oder der neuen TrägerIn besser beherbergen zu können. Kleidung und Körper sind eng verknüpft, besonders in Zeiten, wo die meisten Menschen mit einem relativ spärlichen Kleidersortiment auskommen mussten. Die von Chaffray unterstrichene Bedeutung von Kleidercodes für die Gesellschaft des Ancien Régime schließt ein, dass die Mitglieder dieser Gesellschaft aufgrund ihrer Sozialisation in der Lage waren, Personen anhand ihrer Kleidung, Frisur, Haltung etc. zu beurteilen. Allein dadurch, dass sie ihr Gegenüber anschauten, wussten sie, wie es zu behandeln war. Doch dieses System funktionierte nur so lange, wie Betrachtende und Betrachtete die Codes gleichermaßen inkorporiert hatten, um einerseits verständliche, wiedererkennbare Performances 24 Bourdieu, Pierre: The Logic of Practice, Stanford 1990, S. 70. 25 Ebd., S. 138.

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des Kleidertragens und andererseits das Erkennen und Verstehen dieser Performances leisten zu können. Wenn diese Erfordernisse nicht mehr bedient wurden, entstand Potential für soziale Fehltritte, ja sogar Konflikte, wie das nächste Beispiel zeigt. Im Frühjahr 1756 schrieb ein Mann, dessen Unterschrift leider bei der Öffnung seines Briefes zerstört wurde, aus Saint Domingue an seinen Bruder oder Schwager in La Rochelle und berichtete vom drohenden Krieg mit Großbritannien. Sofern der Bruder nach wie vor nach Saint Domingue reisen wolle, so der Verfasser, solle er sich so schnell wie möglich einschiffen und eine Reihe gut verkäuflicher europäischer Güter mitführen. Dann folgten einige praktische Reisetipps und die Anweisung, sich in der Kolonie zum „gros Morne, chez Monsieur Fouet“ zu begeben und dort auf den Verfasser zu warten, sofern dieser gerade geschäftlich unterwegs sein sollte. Insbesondere für diese Eventualität schloss der Verfasser einige wichtige Richtlinien ein: „Ich empfehle Dir besonders, sehr darauf zu achten, gegenüber keiner Person verächtlich zu sein, in welcher Kleidung sie auch auftreten mögen, und insbesondere die sang-mellé [„gemischtblütigen“], von denen es Dreiviertel gibt und die nicht so aussehen, und dass man auf der Habitation im Hemd und in der grande culotte und barfuß ist“.26

Dieser Brief wird hier vergleichsweise stark „beim Wort genommen“, denn er hatte ein klares und dringendes Ziel – nämlich, den Adressaten davor zu bewahren, sich unwissentlich in Gefahr zu begeben. Der Verfasser hatte deutlich Angst davor, dass das Verhalten seines Bruders höchst ungünstige Folgen nach sich ziehen könnte. Geneviève Léti hat über das „sehr aufgeblasene Ehrgefühl“27 geschrieben, welches in der (martiniquaisischen) Kolonialgesellschaft vorherrschte, und der Brief deutet an, dass dies auch für Saint Domingue gegolten haben mag. Laut Léti waren die Kreolen „intolerant und hochfahrend und die kleinste Diskussion [...] kann außer Kontrolle geraten und zu einem Duell führen. Die anderen Klassen der Gesellschaft folgen dem Vorbild der Kolonisten und alles wird zu einer Entschuldigung um einander zu prügeln, zu schlagen oder aufzu-

26 HCA 30/260, Unknown, Saint Domingue, an seinen Bruder in La Rochelle, Juni 1756: „Je te recommande surtout et de bien faire attension de ne point faire mepris de personne sous quelque habillement quille puisse paroitre et principallement les ‚SangMellé‘ quil y en a les trios quard et quil ne le paroisse pas et que sur Lhabitation Lon est en chemise en grande culotte et pieds nus“. 27 Léti, Santé et Société esclavagiste, S. 38.

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lauern“.28 Létis Ergebnisse zeigen auf, weshalb der Schreiber sich bemüßigt fühlte, seinen Bruder zur Vorsicht in Saint Domingue zu mahnen – und nicht etwa den erscheinungsbasierten Sozialkompass zu benutzen, den er in Frankreich erworben hatte, da dieser in der Kolonie nicht funktionierte. In seiner kurzen und etwas chaotischen Erklärung differenzierte der Verfasser nicht zwischen Körpern und Kleidern; er besprach gleichermaßen die Bevölkerung gemischter Abstammung und die légèren Kleidungspraktiken auf den Plantagen. Der Verfasser nahm offenbar an, dass sein Bruder die Leute, denen er begegnete, sowohl aufgrund ihrer Hautfarbe als auch aufgrund ihrer Kleidung „verachten“ würde. Beides war gefährlich: Auf einer Plantage trug jeder, möglicherweise sogar der Besitzer, nur Hemd und Hose und ging barfuß. Und die of colour Bevölkerung sah bisweilen „nicht so aus“ als hätten sie auch europäische Erbteile. Letzteres zeigt nicht nur, dass französische Neuankömmlinge schon mit der Bereitschaft, dunkle Haut zu verachten, in der Kolonie eintrafen; sondern auch die komplexen Relationen zwischen Hautfarbe und gesellschaftlicher bzw. juristischer Zugehörigkeit in Saint Domingue in der Mitte des 18. Jahrhunderts.29 Der Brief legt nahe, dass es für den Verfasser eine Selbstverständlichkeit war, dass sein Bruder sich gegenüber Menschen of colour respektlos verhalten würde – daher musste er ihn warnen, dass in der Kolonie Erscheinungen trügerisch sein konnten, und das nicht nur im Bezug auf Kleidung. Eine scheinbar schwarze Person konnte tatsächlich ‚sang-mellé’ sein, und somit zu einer anderen sozialen Gruppe gehören, mit anderen Rechten und Ansprüchen. Die kurze Passage verdeutlichte auf sehr vereinfachte Weise die Komplexität der Sozialgefüge der Kolonie, in der ein Mann of colour nicht nur frei, sondern auch reich, gut vernetzt und weitaus gebildeter sein konnte als der Großteil der europäischen Bevölkerung, und entsprechend wenig geneigt, sich von dahergelaufenen Neuankömmlingen aus Frankreich respektlos behandeln zu lassen. Die Erklärung, dass manchen Menschen 28 Ebd.: „deviennent intolerants and fougueux et la moindre discussion [...] peut dégénérer et aboutir à un duel. Les autres classes de la société suivent le modèle des colons et tout est prétexte pour se battre, frapper l’autre ou lui tendre un guet-apens“. 29 Siehe z.B. Garrigus, John: Before Haiti; Ebd.: „‚Affranchis‘ and ‚Coloreds‘: Why Were Racial Codes Stricter in Eighteenth-Century Saint-Domingue than in Jamaica?” Quaderni Storici 148 (April 2015), S. 69-86. Ebd.: „Vincent Ogé Jeune (1757-91): Social Class and Free Colored Mobilization on the Eve of the Haitian Revolution.“ The Americas 68/1 (July 2011), S. 33-62. Ebd.: „‚To establish a community of property‘: Marriage and Race Before and During the Haitian Revolution.“, Journal of the History of the Family, n. 2 (2007), S. 142-152; Ebd.: „Blue and Brown: Contraband Indigo and the Rise of a Free Colored Planter Class in French Saint-Domingue“, The Americas 50/1993, S. 233-263.

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unsichtbar „gemischtes Blut“ durch die Adern floss, trug vermutlich all diese Implikationen mit sich, zumindest für einen weißen Franzosen, der davon ausging, dass Privileg grundsätzlich mit „Whiteness“ einhergehen musste. Der Verfasser warnte seinen Bruder also vor der Unzuverlässigkeit von Haut als Signalfaktor, und somit ist es auch logisch, dass er Haut und Kleidung in einen direkten kategoriellen Zusammenhang stellte. In der Kolonie konnten sowohl die Haut, als auch die Kleidung des Gegenübers trügerische „Verkleidungen“ darstellen, die eine unerwartet mächtige und gefährliche Person verbargen. Die Sozialcodes, die in Frankreich funktionierten, mussten in der Karibik hinterfragt werden. Die Beobachtungen des Verfassers decken sich übrigens mit denen, die Thibaut de Chanvalon auf Martinique machte: „Die Männer, die zum größten Teil keine Haare tragen, haben nichts auf dem Kopf als eine Kappe aus schlichtem Musselin & ziehen fast nie andere Kleidung an als eine Jacke aus Bombazine oder einem ähnlich leichten Stoff“.30 De Chanvalon ging davon aus, dass diese informelle Art der Kleidung bei der Infektion mit karibischen Krankheiten einen Beitrag leistete – ein weiteres Argument im Arsenal derjeniger, die durch die kolonialen Unterwanderungen französischer Kleidercodes irritiert waren. Für die Neuankömmlinge war das Irritationspotential angesichts unterschiedlicher Praktiken und unterschiedlicher praktischer Verständnisse offensichtlich. Sie mussten lernen, die kolonialen Gesellschaften und ihre Mitglieder „zu lesen“, und solange sie dieses nicht gemeistert hatten, mussten sie mit bisweilen großer Vorsicht agieren, um Konflikte zu vermeiden. Hierzu kam, dass auch innerhalb der Kolonien die Relationen zwischen Kleidung, Körpern und sozialer Zugehörigkeit spannungsreich waren und variierten. Verschärfungen rassenbasierter Gesetzgebung im Laufe des 18. Jahrhunderts auf der einen Seite, oftmals widersprüchliche Alltagspraktiken auf der anderen Seite sorgten dafür, dass soziale Zuschreibungen innerhalb des Kolonialgefüges schwer vorzunehmen sein konnten, insbesondere für Unkundige. Allerdings hielt diese fluide Situation auch Möglichkeiten für Neuankömmlinge bereit – etwa die, sich in eine neue Schale zu gewanden, sich eine äußere Erscheinung zuzulegen, welche der eigenen gesellschaftlichen Position nicht wirklich entsprach. Der folgende Briefauszug zeigt, dass der eine oder andere bereits mit derartigen Erwartungen in den Kolonien eintraf. Mme Lambert lebte mit ihrem Ehemann René in Saint Domingue, von wo sie 1756 an ihre Schwester in Bordeaux schrieb, unter anderem, um Letzterer zu 30 De Chanvalon, Voyage à la Martinique, S.81. Les homes qui la plupârt ne portent pas de cheveux, n’ont sur la tête qu’un bonnet de simple mousseline, & ne mettent presque jamais d’autre vêtement qu’une veste de basin, ou de quelque autre étoffe aussi légere.

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berichten, dass der gemeinsame Bruder nun ebenfalls in der Kolonie eingetroffen war, den Lamberts allerdings bis zum Schreibzeitpunkt wenig Freude bereitet hatte: „Unser lieber Bruder, der, wie Du weißt, nicht gerade das Pulver erfunden hat [...] seit seiner Ankunft denkt er, dass sein Glück gemacht ist und arbeitet überhaupt nicht, er ist ein fainéant in jeder Hinsicht; stell Dir vor, meine Schwester, dass, weil er bei seiner Ankunft zu dreieinhalb Vierteln nackt war, wir ihn von Kopf bis Fuß ausgestattet haben; René hat ihm seine Schuhschnallen geschenkt, eine Uhr, die uns gehört hat, seinen kleinen möblierten Raum & einen kleinen nègre, um ihn in seinem Zimmer zu bedienen; übermäßig gut gekleidet, nicht wie ein kleiner seigneur, denn von denen spricht man nicht mehr, aber wie ein gutsituierter Republikaner. Ich denke, dass all dies ihm solchen Hochmut verschafft hat, dass es ihn vom Arbeiten abhält, schön für ihn“.31

Mme Lamberts Bruder hatte offenbar – zumindest laut seiner Schwester – damit gerechnet, vom Wohlstand befallen zu werden, sobald er karibischen Boden betrat. Dass es tatsächlich so gekommen war, verdankte er allein der Großzügigkeit der Lamberts, zollte dieser Großzügigkeit aber offenbar nicht genug Anerkennung. Nun lebte er auf Kosten seiner Schwester und seines Schwagers wie ein „gutsituierter Republikaner“, und nur die Lamberts wussten, dass er eigentlich so mittellos war, dass er praktisch „nackt“ in der Kolonie eingetroffen war. Auch hier konnte der Schein die unwissenden Betrachter täuschen. Es ist bemerkenswert, dass Mme Lamberts Einschränkung „nicht wie ein kleiner seigneur“ nichts mit Niveaus von Reichtum zu tun hatte, sondern mit sich wandelnden Bezugsrahmen im Kontext der französischen Revolution: von seigneurs wurde „nicht mehr gesprochen“, stattdessen wurden wohlhabende republikanische Bürger zum Maßstab. Für Mme Lamberts Bruder präsentierte sich die Karibik in der Tat als ein Möglichkeitsraum, obwohl es in der Darstellung seiner Schwester eher nach dem Schlaraffenland klingt als nach einem Ort, der eine aktive Selbstveränderung unterstützte. Für ihn erfüllte sich der beständige Mythos der Kolonie als einem Ort, der schnellen, einfachen Wohlstand für alle Europäer brachte, die 31 Ebd.: „notre cher frere qui come tu set na pa ienvanté la poudre [...] depui con arivee il croit ca fortune faite en ne point travaillan cet uns fainian de dan la force du terme figure toi ma seur qua con arrivée etant au troi car êdemi nus nou lavon abillê de pies a la taite Rene lui a fait cado de ce boucle de coulie une montre anou ca petite chambre garnie & une petite naigre pour le cervir de dan ca chambre abilê cuperieurement bient non pa come uns petit caigneur paque ons nan par le plu mai come un republicain bien a con aixe je mimagine que tout ca la lui a doné tant dorgul que cet ca quill en paiche de travalle tenpi pour lui“.

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dorthin reisten, zumindest in der Darstellung seiner Schwester. War er gerade noch „zu dreieinhalb Vierteln nackt“ gewesen, war er plötzlich ausgestattet mit feinen Kleidern, Accessoires und Statussymbolen, besaß einen Dienstboten und eine eigene Unterkunft, und das alles, ohne auch nur einen Finger gerührt zu haben. In letzterem Punkt bestand offenbar Mme Lamberts Casus Belli mit ihrem Bruder. Mit der Bereitstellung des neuen Lebensstils waren sie und ihr Ehemann gewissermaßen in Vorleistung gegangen, erhielten aber nichts zurück. Der (vermutliche) Grund für diese „Vorleistung“ ist interessant, widerspricht er doch durchaus der Darstellung des besorgten Mannes, der hier so viel Aufmerksamkeit erhalten hat. Ein Hilfschirurg namens Roland, der im August 1778 aus FortRoyal, Martinique an seine Mutter schrieb, berichtete ihr, dass er immer „wie ein sehr eleganter bourgeois gekleidet“ sein müsse, „Luxus ist der Pfad zum Erfolg, hier mehr als in jedem anderen Land“.32 Die Lamberts mögen somit eine Investition in die erfolgreiche Zukunft ihres neuangekommenen Verwandten getätigt haben. Somit werden die karibischen Kolonien einerseits als Orte dargestellt, an denen Kleidung – ebenso wie Hautfarbe – nicht unbedingt etwas mit Status zu tun haben mussten. Gleichzeitig werden sie als Orte präsentiert, an denen Erscheinung und Auftreten alles waren. Somit scheint die Karibik die Möglichkeit geboten zu haben, französische Kleidungscodes zu unterwandern, aber auch sie für die Kolonialgesellschaft anzupassen. Generell scheint nur eine Aussage zur Bekleidung des Körpers in der Karibik allgemeingültig zu sein: Menschen in der Karibik mussten sich anders kleiden als Menschen in Frankreich. Eine der grundlegenden Vorbereitungen auf die Karibik, die von Gesundheitsratgebern wie Thomas’ „Medical Advice to the Inhabitants of Warm Climates“ empfohlen wurde, war die Ausstattung mit Kleidern, die in der karibischen Hitze angenehm sein würden: „The dress of new comers should consist of coats made of ladies cloth, or Kerseymeres, with waistcoats and breeches of light washing materials, such as dimity. Whatever is worn next to the skin should be made of cotton in preference to linen, as this last is very apt, when moistened with perspiration in consequence of any severe excercise, to convey a great chill when the person has sat still for a short time“.33

In diesem speziellen Fall scheinen die Praktiken der weißen KolonialistInnen tatsächlich mit den Ratschlägen der Mediziner übereingestimmt zu haben, zu32 HCA 30/287, Roland, Fort Royal, Martinique, an seine Mutter Mme Roland in Douay, 20.06.1778: „Et toujours habillé en bourgeois fort élégant le luxe est la porte de la fortune plus dans ce pays-ci que dans tout autre“. 33 Thomas, Medical Advice, S. 3 f.

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mindest laut Moreau de Saint Méry, der schrieb, man kleide sich mit „der Leichtigkeit, welche das Klima erfordert“.34

LIBERTINAGE Im Sommer 1778 schrieb eine anonyme Frau aus Martinique einen undatierten, nicht unterzeichneten und sehr deutlichen Brief an den Chirurgen des Schiffs „La Rosette“, einen Mann namens Pinelle. „Es scheint, dass die ganze Zeit Ihrer Abwesenheit Ihnen gedient hat, die Pocken zu erleiden und sie mit großartigen Medikamenten zu besiegen“, schrieb sie, „denn als [...] ich willens war, für zwei oder drei Nächte all die Widerwärtigkeiten zu ertragen, welche Sie mit mir begangen haben, waren Sie Schurke genug, um mich zu vergiften. Und ließen mich außer Stande, Sie wissen schon was zu tun“. Nach dieser einführenden Erklärung fuhr die Verfasserin fort, ihren Gefühlen Luft zu machen. „Es ist schändlich für einen Mann Ihres Alters, eine Frau zu nehmen, die sie vorgegeben haben, lieben zu wollen. [Wie] kann es sein, dass Sie in sich selbst nicht das Verbrechen und den Zorn spüren, die sie verursacht haben. Aber möge die Erde sich auftun und der Abgrund Sie verschlingen, sollten Sie nicht jeden Moment Ihres Lebens mit Scham und Verwirrung erröten angesichts all der ehrenhaften Leute, mit denen Du Dich umgibst. [Wie es sein kann, dass] Sie nicht in ihrer Erbärmlichkeit verloren sind, anstatt zu einer ehrenhaften Frau zu kommen, beleidigt mich. Ich habe nachgedacht; ich weiß, dass es nur ein Wüstling Ihrer Art sein kann, der mich in den grausamen Zustand versetzt haben kann, in dem ich mich befinde. Mögen die Himmel mir zumindest genug Kraft schenken, um zu sehen, wie [...] all die Erdspalten sich auftun um einen Schurken wie Sie zu verschlingen, ebenso wie Ihre Missetaten. Da Sie offenbar geglaubt haben, dass man Monsieur Robinaud benutzen würde, haben Sie sich geirrt, denn er ist ebenso ein Schurke wie all die anderen. Es ist eine Schande, dass Sie abgereist sind, denn der Herr Duplant ist hier, Sie hätten alle drei gemeinsam Schurken sein können“.35

34 Moreau de Saint Méry, Déscriptions, S. 18: „Vêtues avec une légèreté que le climat exige“. 35 HCA 30/287, anonym an M. Pinelle, Chirurg auf dem Schiff ‚La Rosette’, Sommer 1778: „Il y a tout apparance que tout le tems de votre absance vous a servit a essuier la Verolle et a passer par les grandes remedes puisque Lorsque [...] jay bien voulut supporté deux ou trois jour toute les infamie que vous avez fait chez moi sans le savoir vous avez eté assez coquin pour m’enpoisonner. Et me mettre hors detat de pouvoir

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Dieser Brief ist bemerkenswert ‒ die Kombination seines Inhalts, seiner weiblichen Autorschaft und der Ungeschöntheit der Sprache macht ihn zu einem bis dato einzigartigen Dokument innerhalb des franko-karibischen Teils der HCASammlung. Ebenfalls besonders ist die Tatsache, dass das einzige Ziel der Schreiberin bei der Abfassung darin bestanden haben muss, Pinelle mit dem zu konfrontieren, was er ihr angetan hatte, und ihre Gefühle darüber zum Ausdruck zu bringen. Der Brief enthält keine Forderungen nach Kompensation, keine Drohungen der Vergeltung, lediglich diverse Beschimpfungen und Verfluchungen. Es war mit Sicherheit kein Brief, der wichtige emotionale oder wirtschaftliche Beziehungen aufrechterhalten sollte. Es war eine Investition von Zeit, Geld und Energie mit dem einzigen Zweck, den Gefühlen der Verfasserin Luft zu machen. Es gibt bis dato nur noch einen einzigen anderen Brief, der einen vergleichbaren Ausdruck von Zorn vermittelt, nämlich eine extrem kurze Notiz, die ebenfalls 1778 aus Martinique verschickt wurde. Auch dieser Brief ist unsigniert und undatiert, und der Text besteht nur aus einem einzigen Satz: „Es ist schändlich für einen Mann, der glaubt, er besitze Geist, wie ein verblendeter Dummkopf gescholten zu werden, auf Wiedersehen, verdammter Vogelhintern“.36 Leider bietet dieses kurze Meisterwerk brieflicher Poesie der Nachwelt kaum weitere Informationen und muss daher unanalysiert bleiben. Der Brief der gekränkten Frau jedoch kann durchaus als ein „Ego-Dokument“ bezeichnet werden, samt all den problematischen Implikationen, die dieser Begriff mit sich bringt, denn das Schreiben ist eine absolut stringente Aufführung eines „Ich“ des 18. Jahrhunderts. Der Brief ist ein Ausdruck persönlicher Agency („Ich war willens“), Refaire se que vous savez. Il est honteux pour un homme de votre âge de venire impunément attraper une femme que vous avez fait netre de vouloir aimer. Que ne resentez vous dans vous meme le Crime et Indignation que vous avez commis puis la terre sentre ouvrir et Labime vous confondre, chaque moment de votre vie ne devez vous pas rougir de honte de confusion a la vue de tous les honnêtes gens que tu fréquentes. Pourquoi n’etes vous pas confondue dans votre pouriture plutot que de venir chez une honnete femme m’affronte. Jai reflechit je sai quil nappartient qu’a un coquin de votre sorte de mavoir mit dans un aussi cruelle etat ou je suis. Puise le Ciel au moins me Laisser assez de force pour voir que [...] tous les precipice se son ouvert pour renfermer un coquin comme vous ainssi que tous vos fortfait. Comme vous avez crut apparement que Lon se serviroit de Monsieur Robin vous vous trompez parce quil est aussi coquin que les autres. Il est Malheureux que vous soyez partie car le Sr Duplant est ici vous auriez fait trois coquins ensemble“. 36 HCA 30/302, anonym, Martinique, an M. Laffargue, Bordeaux, vermutlich Oktober 1778: „Il est honteux pour un homme qui croit avoir de l’esprit dettre attrapé comme un foutu Sot adieu sacré croupyon“.

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flektionen („Ich habe nachgedacht“) und Überzeugungen („Ich weiß, dass es nur ein Wüstling Ihrer Art sein kann…“). Es liegen keine weiteren Indizien vor, die nahelegen, dass dieser Brief auf andere Weise interpretiert werden sollte als sein eigener Text nahelegt. Was den Inhalt des Briefes betrifft, so wirft die Bemerkung über die beiden anderen Männer, M. Robinaud die Frage nach dem Status der Frau auf, insbesondere angesichts der Bemerkung, dass die Infektion sie „außer Stande, Sie wissen schon was zu tun“ gelassen hatte. Während der Hauptteil der Erzählung nahelegt, dass die Frau Pinelles Geliebte gewesen war (wenngleich nur für drei Tage), wirft diese Bemerkung ebenso wie der Verweis auf die anderen Männer die Frage auf, ob sie eventuell eine Art Kurtisane gewesen sein könnte. Die Formulierung „Ich war willens [...] für zwei oder drei Tage all die Widerwärtigkeiten zu ertragen“ könnte auf beinahe jede Form von Arrangement hindeuten, von schlichtem einvernehmlichem Geschlechtsverkehr bis zu einem geschäftlichen Abkommen zwischen der Verfasserin und Pinelle. 37 Die Verfasserin bestaunte Pinelles Fähigkeit, sich mit „ehrbaren“ Leuten zu umgeben, was implizierte, dass weder sie noch er Anspruch darauf erheben konnten, zu dieser Kategorie zu gehören. Die Aussage über die „ehrbare Frau“ und ihre gefährliche Ignoranz der wahren Natur Pinelles bleibt missverständlich. Bezog sich die Verfasserin hier auf sich selbst, bevor sie Pinelle begegnet war, oder antizipierte sie seine zukünftigen Interaktionen mit ehrbaren Frauen aus jenen Gesellschaftskreisen, von denen sie ihr gerne ausgeschlossen hätte? Letzteres scheint wahrscheinlicher, da die Verfasserin sich nicht beschwerte, verführt oder betrogen worden zu sein, oder ihren sozialen Ruin beklagte. Ihr Fokus lag eindeutig auf dem Schaden, den Pinelle an ihrem Körper angerichtet hatte; entweder als Einkommensquelle oder als Instrument des Vergnügens oder des sozialen Fortkommens. Somit scheint es plausibler, dass die Frau eine Art weiblicher Solidarität mit den unbekannten Frauen zum Ausdruck brachte, die mit bis dato intakter Ehre, von Pinelle ruiniert und „vergiftet“ werden könnten. In jedem Fall scheint die Verfasserin ein sexuell freizügiges Leben geführt zu haben, ein Aspekt, der immer wieder in Beschreibungen der französischen Kolonialgesellschaften auftaucht, üblicherweise unter den Bezeichnungen „Débauche“ oder „Libertinage“. In Frankreich war „Libertinage“ ein vielschichtiger Begriff, in dem im 17. und 18. Jahrhundert „alles verschmilzt, was die geltende religiöse, soziale und politische Norm zurückweist“.38 Zwar war Libertinage 37 Fuentes, Marisa J.: Dispossessed Lives. Enslaved Women, Violence, and the Archive, Philadelphia 2016, S. 48 f. 38 Delon, Michel: Débauche, Libertinage. in: Reichardt, Rolf/Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.): Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich, 1680-1820, Heft 13, München 1992, S. 9.

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stets mit Sitten- und Ordnungsverfall verbunden, konnte aber (anders als die durchweg Vulgarität bezeichnende Débauche) im Kontext bestimmter Sozialgefüge, etwa denen der Intellektuellen, des Adels und Hochadels, durchaus auch mit freigeistigen Ideen und einer wohlstandsgebundenen Liberalität der Sitten assoziiert werden.39 In der Karibik hingegen gab es kaum diskursive Unterscheidungen zwischen Libertinage und Débauche: Exzessiv, unterstützt vom tropischen Klima, bisweilen mysteriös, ja sogar mythisch, war Libertinage, sexuelle Freizügigkeit und Devianz, eine der vielen Gestalten, in denen das koloniale Andere sich manifestierte. In Darstellungen wie denen Moreau de Saint-Mérys und diverser anderer (weißer, männlicher) Autoren, die ausführlich von Doris Garraway untersucht wurden, waren Libertinage und Débauche unweigerlich mit schwarzen Frauen und Women of Colour verbunden. Den Frauen wurde hierbei nahezu uniform die Rolle der verführerischen, exotischen „Venus“ zugeschrieben, deren mythische Reize und wollüstige Verfügbarkeit in kolonialen Diskursen des 17. und 18. Jahrhunderts vielfach die freizügige Sexualkultur der Kolonien repräsentierte. „The colonial discourse of libertinage“, so Doris Garraway, „thus displaced much of the stigma and responsibility for the material extravagance, luxury, and debauchery of the colonies onto free women of color, at once celebrated and vilified as peons of pleasure, dedicated to cultivating the erotic excess to which „nature“ predisposed them“.40 Geschichten wie diese dominieren in der Tat „das Archiv“ und obwohl post-koloniale HistorikerInnen sich bemühen, das Bild der „black Venus“ zu dekonstruieren und zu entmachten, haben doch die machtvollen Mechanismen der Selektion, der In- und Exklusion von Geschichten, in denen das Archiv funktioniert, wenig alternative Zeugnisse überleben lassen. 41 In ihrem höchst lesenswerten Artikel „Venus in two Acts“ beschäftigt sich Saidiya Hartman mit dem Umstand, dass das Archiv die „Black Venus“ als Individuum praktisch ausgelöscht hat, sie ist lediglich unter dem Sammelnamen „Venus“ überliefert; einem unpersönlichen Terminus für ein austauschbares, grundsätzlich begehrenswertes Sexualobjekt: „Hers is the same fate as every other Black Venus: no one remembered her name or recorded the things she said, or observed that she refused to say anything at all. Hers is an untimely story told by a failed witness [...] We stumble upon her in exorbitant circumstances that yield no picture of the everyday life, no pathway to her thoughts [...] There are hun39 Delon, Débauche, Libertinage. 40 Garraway, The Libertine Colony, S. 29. 41 Zur Geschichte versklavter Frauen und dem Archiv, siehe Fuentes, Dispossessed Lives.

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dreds of thousands of other girls who share her circumstances and these circumstances have generated few stories. And the stories that exist are not about them, but rather about the violence, excess, mendacity, and reason that seized hold of their lives, transformed them into commodities and corpses, and identified them with names tossed-off as insults and crass jokes“.42

In den „Meistererzählungen“ kolonialer Libertinage in der Karibik ist der schwarze oder of colour weibliche Körper so prominent, dass die Karibik nicht als sexueller Möglichkeitsraum besprochen werden kann, ohne sich mit der „Black Venus“ auseinanderzusetzen – und doch sind die Frauen, deren Körper unter diesem Begriff verhandelt werden, komplett unsichtbar. Auch weiße Frauen haben einen problematischen Platz in historischen Diskursen zu kolonialer Libertinage. Häufig an einem unansprechenden Ort irgendwo zwischen Frigidität, Obsessivität und schlichter Unattraktivität43 verglichen mit der „Black Venus“ portraitiert, stellten sie zumeist vor allem die Gegenfolie für Letztere dar, über welche die Autoren zusätzlich ihre Empfänglichkeit für die Verführungsstrategien der „Venus“ rechtfertigten. Die Frau, die sich im vorliegenden Brief mit dem Chirurgen Pinelle auseinandersetzte und ihre persönliche Perspektive so deutlich zum Ausdruck brachte, positionierte sich irgendwo innerhalb der doings und sayings jener Arrangements, die hier unter „Libertinage“ zusammengefasst werden. Ihr Brief zeigt, dass sie in der Lage war, innerhalb dieser Arrangements Entscheidungen zu treffen, und dass sie ein klares Verständnis der Regeln hatte, die innerhalb des Arrangements galten: Eine sexuelle Übereinkunft mit einer Frau, die man dann mit „den Pocken“ – vermutlich Syphilis – infizierte, war ein Regelverstoß. Der Brief der so geschädigten Frau weist darauf hin, dass es sogar innerhalb der freizügigen Arrangements der karibischen Kolonialgesellschaften Grenzen der Akzeptabilität gab (zumindest für die beteiligten Frauen), die nicht überschritten werden sollten. Es ist recht eindeutig, dass das Grundarrangement zwischen der Dame und Pinelle einer „libertinen“ Natur gewesen sein muss – in jedem Fall war es außerehelich, temporär und nicht auf Reproduktion ausgelegt. Aufgrund der „Vergiftung“ durch Pinelle wurde es der Frau jedoch unmöglich, ein solches Verhältnis auch mit anderen Männern einzugehen, und damit hatte Pinelle eine Grenze überschritten.

42 Hartman, Venus in Two Acts, S. 2. 43 Garraway, the Libertine Colony. Als Beispiel für Darstellungen der KolonialistInnen als obsessive Liebhaberinnen, siehe etwa: Pierre-Corneille Blessebois, Le Zombi du Grand-Pérou, ou la Comtesse de Cocagne, 1697.

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Dieses erste Beispiel kolonialer Libertinage bietet die Perspektive des Insiders – das zweite Beispiel beschreibt Débauche und Libertinage in Saint Domingue aus der Sicht eines erklärten Outsiders. Im Juni 1756 schrieb ein junger Mann namens Gérard vom Cap Français an seinen Freund Tournez in Bayonne und zeichnete ein düsteres Bild seines neuen gesellschaftlichen Umfelds: „Es ist nicht möglich für ehrbare Leute, sich zu amüsieren. Um Zugang zu den Vergnügungen, die man hier genießen kann, zu erhalten, muss man eine entschiedene Vorliebe für Débauche haben, welche die Göttin der Kolonie ist, es fehlt ihr nicht an Anbetern; Sie hat mehrere vielbesuchte Tempel, wo jeden Tag ein feierlicher Weihrauch verbrannt wird, die Priesterinnen der Venus bereiten dort Opfer vor, während der Zeremonie verbreiten sie ganz subtil ein Gift, mit dem sie infiziert sind, in das Blut der unglücklichen Opfer, welche ihre Tage ruhmreich in den hotels de St Côme beenden werden; diese tapferen Débauchierten erreichen selten das Alter von dreißig; großmütig opfern sie sich der Göttin“.44 Gérards Bericht lieferte eine skandalöse Darstellung des kolonialen Lebens. Seine Protagonisten sind einerseits die „Priesterinnen der Venus“ – die Göttin der Liebe fungiert in dieser Erzählung in Personalunion mit „Débauche“, der „Göttin der Kolonie“ – und andererseits ihre Anbeter, die jungen Männer, die ihr Leben in den Dienst der Venus gestellt haben. Letztere, so ist zu vermuten, sind junge weiße Männer. Über die „Priesterinnen der Venus“ äußerte sich Gérard nicht explizit, angesichts der bereits erwähnten Konnotationen, welche die Venus im kolonialen Diskursrahmen besaß, muss zumindest einkalkuliert werden, dass Gérard hier über schwarze Frauen bzw. Women of colour schrieb – insbesondere, da das Prostitutionsgewerbe in den Kolonien vor allem von schwarzen Frauen bestritten werden musste.45 „Priesterinnen“ und „Anbeter“ trafen sich in diversen „Tempeln“ – Bordellen – in gefährlichen Zusammenkünften, in denen die Anbeter langsam von den Priesterinnen „vergiftet“ wurden. Die Männer schienen das Gift gerne als Teil ihres Selbstopfers in Kauf zu nehmen, obwohl es bedeutete, dass sie in den „hotels de St. Côme“ noch vor ihrem 30. Geburtstag ihr Leben aushauchen würden. Die Anwesen von St. Côme, die Gérard hier geistreich ins Spiel brachte, meinten Hospitäler – denn St. Côme, der heilige Cosmas, ist gemeinsam mit seinem Bruder Damian der Schutzheilige der Medizin, der Ärzte und der Krankenhäuser. Eine von Gérards weniger eindeutigen Verklausulierungen betrifft den „Weihrauch“, den die Priesterinnen während ihrer Zeremonien verbrannten. Ob es sich hier um Intoxikationspraktiken handelte, um Gesundheits- oder rituelle Praktiken bleibt unklar. Die Fülle von religiösen Bildern in Gérards Sprache lässt es lo44 Fuentes, Dispossessed Lives. 45 Ebd.

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gisch erscheinen, dass Weihrauch ebenfalls eine Metapher darstellt, die z.B. Intoxikation bezeichnen sollte. Leonard Gillespie, der tagebuchführende Arzt aus Martinique, betonte die berauschende Wirkung von Tabak und seine Allgegenwärtigkeit im kolonialen Alltag. Allerdings ist es eher unwahrscheinlich, dass Gérard etwas so gewöhnliches wie Tabak in sein sorgfältig komponiertes Narrativ aufnehmen sollte, selbst unter dem mystifizierenden Mantel des „Weihrauchs“. Es wäre höchst interessant, wenn sich Gérard hier auf Marihuana beziehen würde – allerdings ist dies leider sehr unwahrscheinlich. Marihuana war in Europa bekannt und hatte eine starke erotische Konnotation. Sowohl Nicolas Venettes bekannter „Eheratgeber“ Tableau de l’amour conjugal46, als auch Denis Diderot in der Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Arts, des Sciences et des Métiers besprachen die Wirksamkeit von bangue „pour s’exciter à l’acte vénérien“.47 Jedoch gingen sowohl Venette, als auch Diderot davon aus, dass das Kraut bzw. Harz entweder gegessen oder als Pulver getrunken wurde; vom Verbrennen des Bangue ist nicht die Rede. Die Autoren des „Traité des aliments, où l'on trouve […] la différence et le choix qu'on doit faire de chacun d'eux en particulier“, beschrieben 1755, dass die Bewohner von Madagascar die Blätter trockneten und wie Tabak rauchten, erwähnten jedoch eine solche Praxis nicht für den europäischen oder osmanischen Raum.48 Zudem wird davon ausgegangen, dass Marihuana erst im späten 18., bzw. im 19. Jahrhundert den Weg in die Karibik fand.49 Somit sollte in Erwägung gezogen werden, dass das Wort „Weihrauch“ hier die Ausnahme darstellte, indem es nicht metaphorisch gebraucht wurde, sondern tatsächlich Weihrauch bezeichnete. Abgesehen von seiner Verwendung in der katholischen Liturgie gewann Weihrauch in den Kolonien den Ruf, Bestandteil von Zauber- und Religionsriten der versklavten und freien schwarzen Bevölkerung zu sein. So wurde das Schutzamulett des im Januar 1758 in Cap Français verbrannten Marron-Anführers François Makandal, ein „finger-sized bundle of human bones, nails, roots, communion bread, and consecrated incense [...] wrapped in cloth and twine, and soaked in holy wa46 Venette, Nicolas: A Painting of Conjugal Love, English translation, 1702 Edition. 47 Diderot, Denis/Le Rond D’Alembert, Jean: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Tome B, ‘Bangue’, verfasst von Denis Diderot. 48 Léméry, Louis et al.: Traité des aliments, où l'on trouve... la différence et le choix qu'on doit faire de chacun d'eux en particulier, Band 1, Paris 1755. 49 Siehe Sonita Morin Abrahams, Drug Prevention and Rehabilitation in the Caribbean, in: Ivelaw L. Griffith (Hg.): The Political Economy of Drugs in the Caribbean, Basingstoke/London 2000, S. 203-217, S. 211; Sanabria, Harry: The Anthropology of Latin America and the Caribbean, New York 2007, Kindle Edition. Kapitel Marijuana in Jamaica and the Caribbean.

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ter“50, zu einem praktisch legendären Amulett, das daraufhin den Namen „Macandal“ trug. Makandal wurde verbrannt, weil er Weiße vergiftet haben sollte. Vergiftung durch Sklaven und freie Schwarze war eine der präsentesten, vehementesten und einflussreichsten Kollektivängste unter der weißen Kolonialbevölkerung, wie etwa Caroline Oudin Bastide51 gezeigt hat. Für Gérards Erzählung mag das Verbrennen von Weihrauch in einem unheiligen „Vergiftungskontext“ den Eindruck von Magie, mysteriöser Exotik und schwarzer Haut verstärkt haben, obwohl das Gift hier in nichts anderem bestand als in Pathogenen. Als Erzählelement unterstrich der Weihrauch hier den generellen Eindruck karnevalistischen Sakrilegs, den Gérards Verwendung religiöser Bildsprache kreiert hatte. Gérard zeigte das Cap Français als einen Ort extremer Dekadenz, wo alle Frömmigkeit und Moral zugunsten von Wollust geopfert wurden, und wo christliches Leben von einem lasziven, kolonialen „Venuskult“ abgelöst worden war. Gérards blumige Beschreibung der Vorgänge erlaubte es ihm, sein eigenes Leben umso stärker in Kontrast zu setzen: „Doch ich, der nicht nach so viel Ruhm strebt [...] ich lebe zurückgezogen in einer Ecke & abgestoßen von Jedermann“. Ab diesem Moment wurde der Brief, der als koloniale Milieubeschreibung begonnen hatte, zu einer Charakterstudie seines Verfassers: „Die jungen Leute denken, dass ich ein Tier bin, das nicht genug Gefühl in sich trägt, um sich zu vergnügen; niemals könnten sie sich vorstellen, dass ich ihre [Vergnügungen] verachte; und doch ist nichts wahrer, ah, lieber Freund! [...] ich versage mir alles, das als Vergnügen bezeichnet werden könnte; und die Möglichkeiten, davon zu kosten [...] denn mit geringen Ausgaben kann man hier nur das Vergnügen des Segelns haben; Spaziergänge, Bäder, Landpartien, ehrenhafte Gesellschaft, all dies ist uns verwehrt“. Gérard deutet hier an, dass die Kolonialgesellschaft von Saint Domingue ihr Konzept von Vergnügen – Libertinage – mit emotionaler Wärme und Menschlichkeit gleichsetzte, da man ihn in seiner Verweigerung als gefühlloses „Tier“ betrachtete. In dieser Brieferzählung war Saint Domingue nicht nur ein Möglichkeitsraum für sexuelle Selbstauslebung. Exzessive Auslebung von Sexualität bei Männern war – laut Gérard – geradezu ein Merkmal einer „gesunden“ Sensibilität und Menschlichkeit. Damit wurden sexuelle Exzesse (die es selbstverständlich in Europa auch gab) nicht nur gesellschaftlich akzeptabel, sondern normalisiert. In der Erzählung war es Gérard, der als Neuankömmling die Arrangements irritierte, der nicht dazu passte, da er sich weigerte, an kolonialen Vergnügungspraktiken und 50 Burnard, Trevor/Garrigus, John: The Plantation Machine. Atlantic Capitalism in French Saint-Domingue and British Jamaica, Philadelphia 2016, S. 109. 51 Oudin Bastide, Caroline: L’effroi et la terreur. Esclavage, Poison et Sorcellerie aux Antilles, Paris 2013.

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ihren unterliegenden praktischen Verständnissen teilzunehmen. Diese Verweigerung bezahlte er durch Einsamkeit und eine freudlose Existenz, die ihm nichts anderes ließ als das Segeln, denn alles andere war entweder teuer oder verkommen. Gérards Brieferzählung präsentierte ihn selbst als einen jungen Mann von gesunden, robusten und nach europäischen bzw. französischen Maßstäben „normalen“ Interessen: er unternahm gerne Spaziergänge und Landpartien, segelte, badete und umgab sich mit angemessener Gesellschaft. Doch diese französische Normalität war nicht verfügbar in Saint Domingue, dass sich in Gérards Darstellung drastisch von Frankreich unterschied. Um als Franzose dort überleben zu können, brauchte es eine spezielle Art von Charakter; einen, der nicht angewiesen war auf Vergnügen und Akzeptanz; einen, der in Einsamkeit und „Vergnügungsaskese“ existieren konnte. Und so endete Gérards Brief mit einer Bitte an seinen Freund Tournez: „Ich bitte Dich, Lamaignère für mich zu beraten, nicht in dieses Land zu kommen. Er würde entweder vor Langeweile oder am Vergnügen sterben; Sie lachen, ja, am Vergnügen sterben [...] denn es wird immer zum Exzess gebracht; man muss wissen, wie man sich [diese Vergnügen] versagt, um gesund zu sein; und sie sich zu versagen ist eine sehr schwierige Angelegenheit für die Lamaignères“.52 Mit dieser abschließenden Empfehlung vervollständigte Gérard die Selbstcharakterisierung, die diesem Brief zugrunde lag. Nachdem er gezeigt hatte, dass er in der Lage war, sich selbst vor dem exzessi52 HCA 30/255, Gérard, Cap, Saint Domingue, an seinen Freund Tournez, 21.06.1756: „pour etre admis dans les plaisirs qu’on y prend il faut avoir un gout decidé pour la débauche, qui est la déesse de la colonie; aussy ne manque-t’elle pas d’adorateurs, elle a plusieurs temples fort fréquentez où l’on brule tous les jours un encens solennel; les pretresses de Vénus y préparent les sacrifices, pendant la ceremonie elles font trez subtilement passer un poison dont elles sont infectées, dans le sang des malheureuses victimes qui vont finir glorieusement leurs jours dans les hôtels de St. Come; rarement ces braves débauchez atteignent l’age de trente ans; ils se sacrifient généreusement à la Déesse [...] „Mais moi qui n’aspire pas a tant de gloire & qui ne compte rien tant que d’être; je vis retiré dans un coin & rebutté de tout le monde. [...] Les jeunes gens simagent que je suis un animal qui n’a point assez de sentiment pour prendre du plaisir; ils nes’imagineraient jamais que je méprise les leurs; rien n’est pourtant plus vrai, ah cher amy! [...] je renonce a tout ce qu’on apelle plaisir; et le moyen d’en gouter [...] car on ne peut avoir icy, apeu de frais, que le plaisir de courir a la voile; les promenades, les bains, les parties de campagne, les honnettes societez; tout cela nous est interdit. Conseillez je vous prie de ma part à Lamaignere, de ne point venir dans ce païs, il y creveroit d’ennuy ou de plaisir; vous riez, oui crever de plaisir [...] parce qu’ils sont toujours portez a l’Excez; il faut savoir s’en passer pour se bien porter, et s’en passer est choze trez dificile aux Lamaignere“.

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ven Hedonismus der weißen Gesellschaft von Saint Domingue zu schützen, betonte er nochmals die Wichtigkeit ebendieser Fähigkeit für diejenigen Europäer, die daran interessiert waren, ihren Aufenthalt in der Karibik zu überleben – oder ihren 31. Geburtstag zu feiern. Gérard besaß diese Fähigkeit, aber sein Freund Lamaignère, der offenbar ebenfalls die Absicht hatte, in die Karibik zu reisen, besaß sie nicht. Ein Defizit, welches Gérard wie ein Familienmerkmal darstellte, als er schrieb, der Verzicht auf Vergnügen sei „eine schwierige Angelegenheit für die Lamaignères“. Das Hauptthema dieses Briefes war Gérards eigene Persönlichkeit, und Saint Domingue stellte die Szenerie dar, in der diese Persönlichkeit am besten sichtbar gemacht werden konnte. Diese Szenerie wiederum ist ein faszinierender brieflicher Entwurf der Karibik als Möglichkeitsraum, denn es ist ein Raum, in dem zentrale europäische Normen der Mäßigung, der Frömmigkeit, Moralität und der Wertschätzung einer gottgegebenen Existenz zugunsten einer rücksichtslosen, schnelllebigen, hedonistischen Kultur aufgegeben worden waren, die im Hollywood der 1950er Jahre unter der Überschrift „Live Fast, Die Young“ zusammengefasst worden wäre. Wenn Gérards Freund Lamaignère tatsächlich so vergnügungssüchtig war, wie der Brief implizierte, ist zu vermuten, dass das Schreiben ihn eher noch gereizt hätte, als ihn abzuschrecken. Gérards Version der Karibik entbehrte jeglicher Unschuld, war aber voller Möglichkeiten für jeden Europäer, der „débauchierte“ körperliche Vergnügungen, Exzesse und Aufregung höher schätzte als Unschuld, Moral oder sogar die eigene körperliche Gesundheit. Gérard betonte, dass er dem sexuellen „Kult“ von Saint Domingue fernblieb, nicht nur weil er ihn verachtete, sondern auch, weil er „existieren wollte“, was hier eindeutig meinte, dass er kein Interesse hegte, vor dem Alter von dreißig Jahren an Syphilis oder anderen Geschlechtskrankheiten zu versterben. Geschlechtskrankheiten sind in der Tat ein Thema, das vielen Briefen zugrundeliegt, die sich explizit mit Sexualität und Libertinage in den Kolonien auseinandersetzen. Am 16. August 1778 schrieben M. De Boirredon und sein Sohn einen gemeinsamen Brief aus Martinique an Mme de Boirredon, genannt Isabelon. Dieser Brief verfügt über ein besonderes Merkmal, nämlich einen kleinen Zettel, der in den Brief hineingefaltet wurde und einige Sätze aus dem Hauptbrief revidiert bzw. in ein anderes Licht rückt. Im Hauptbrief informierte M. de Boirredon seine Frau über den Tod eines Freundes der Familie, M. Deflotes, der an einem „fièvre inflammatoire“ verstorben war. Bei dieser Angabe handelte es sich jedoch offenbar um eine briefliche Version von pas-devant-l’enfant, denn Boirredon hatte seinem kleinen Sohn erlaubt, unterhalb seines eigenen Schreibens ein paar Zeilen an die Mutter anzufügen. M. de Boirredon wusste offenbar, dass

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kleine Kessel nicht nur große Ohren, sondern auch scharfe Augen haben, und rechnete damit, dass der kleine Junge unweigerlich jeden Satz im Brief seines Vaters erspähen würde, der als nicht kindgerecht eingestuft war. Zudem mag de Boirredon Bedenken gegenüber anderen Familienmitgliedern zu Hause gehegt haben, die den Brief ebenfalls zu Gesicht bekommen würden. Also entschloss er sich, ein paar richtigstellende Worte zum Tod von M. Deflotes auf einem kleinen Extrazettel zu vermerken, den er direkt vor der Versiegelung des Briefes hinzufügte: „Ich will Dir unter uns beiden erzählen, dass der Tod des armen Deflotes niemanden überrascht hat; eine schreckliche Macht zog diesen Jungen zu Frauen hin; es besteht kein Zweifel, dass dies die Ursache seines Todes war, er war nur drei Tage lang krank, seine Schmerzen waren nur in seinem Unterbauch und der Arzt hat mir selbst gesagt, dass sein Tod nur von dem kam, was ich Dir erzählt habe. Du wirst hiervon nicht überrascht sein, da all die Messieurs de Rouaix eine der stärksten Leidenschaften für diese elenden Kreaturen haben“.53 Ähnlich wie Gérards Anspielung auf die Lamaignères schien auch den Messieurs de Rouaix, zu denen der verstorbene Deflotes gehörte, eine fatale erbliche Unfähigkeit im Blut zu liegen, „diesen elenden Kreaturen“, nämlich Frauen (de Boirredon war offenbar kein Freund umständlicher Differenzierungen) zu entsagen. Ein so zu sexueller Undiszipliniertheit vorbestimmter Mann war ein leichtes Opfer für die Karibik mit ihrer gefährlichen Kombination aus Hitze und Exzess. Boirredon schrieb in der Tat, dass Deflotes’ Tod niemanden überrascht hätte, und so ist es wohl nicht erstaunlich, dass offenbar eine Sprachregelung für die Kommunikation von Deflotes’ Tod existierte, auch in Briefen, an denen keine Kinder mitgewirkt hatten. Es gibt einen weiteren Brief, der im selben Zeitraum und im selben Militärumfeld von Fort Royal verfasst wurde, zu dem auch Boirredon und Deflotes gehörten. Der Schreiber blieb leider anonym. In diesem zweiten Brief wurde der Tod Deflotes glatt in das bekannte Narrativ der generellen Ungesundheit des Landes eingewoben: „Unsere Truppen verringern sich jeden Tag, wir fallen bereits auseinander, große Krankenzahlen bei Offizieren und Soldaten, wir haben

53 HCA 30/286, M.de Boirredon an Mme de Boirredon in Puylaurens, 16.08.1778: „Je te dirois de toi a moy, que la mort du pauvre deflotes na Etonné personne ce garçon cetoient donné aux femmes dune force terible il nya pas de doute que cest la cause de sa mort, il ne resta que trois jours malade tout son mal etoit au Bas ventre et le medecin me dit a moy meme que sa mort ne venoit que de ce que je te dis. Tu n’en dois pas etre surprise tous ces Messieurs de Rouaix ont une pasion des plus fortes pour ses maudites créatures“.

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gerade den armen Deflotes an ein bösartiges Fieber verloren“.54 Es ist sehr wahrscheinlich, dass Boirredon und der anonyme Verfasser des zweiten Briefes hier über den selben Mann schrieben, und dass unter den Männern ein Einvernehmen darüber bestand, dass Todesursachen wie die von M. Deflotes nicht unbedingt wahrheitsgemäß nach Europa berichtet werden mussten – außer im Stillen an die Ehefrau. Der nächste Briefschreiber, der hier vorgestellt werden soll, blieb ebenfalls anonym. Seinem Brief zufolge bewegte er sich im Jahr 1793 äußerst gewandt durch die Arrangements kolonialer Libertinage in Saint Domingue – obwohl auch er nicht von gelegentlichen Rückschlägen verschont war. Der Brief an seinen Freund Feauçon begann mit der üblichen Erkundigung nach der Gesundheit des Adressaten: „Was die Meine betrifft, so ist sie unsicher, denn ich glaube, dass meine früheren Bekanntschaften in Les Cayes mir mein Los beschert haben; allerdings lässt unser Chirurg mich hoffen, dass es nichts [Schlimmes] sein wird und dass ich es wieder loswerde. Für den Gedanken jedoch, dass, trotz meiner lieben guten Freundin, und ich will sie sogar benennen, meine liebe Massare [der Nachname der Frau]; wenn sie es wüsste, sie sollte es mir nicht übelnehmen, denn als ich meine Dulcinne [Dulcinea] liebkoste tat ich es nur, wenn es ihre Absicht schien dass ich mit ihr bin; ehrlich gesagt ist sie vielleicht nicht vergleichbar mit Dieser Einen was Bewegung betrifft, denn sie ist mein wahres resort, ich glaube ihr Hintern ging wie das Heck eines Schiffs [„resort“, heißt hier vermutlich entweder „Kraft, die Bewegung, Aktivität auslöste“ oder „Organ, das in der Lage ist, Bewegung hervorzubringen“55. Es wird hier davon ausgegangen, dass die Aussage sich auf die Beweglichkeit der betreffenden Dame und ihre Fähigkeit, den Verfasser zu erregen, bezog.]; [...] in der Zwischenzeit [...] habe ich die Bekanntschaft einer Weißen gemacht, die etwa siebzehn Jahre alt ist; ich glaube gar, dass Vater Massare hierher gekommen ist, und dass sie sicherlich sein Nachwuchs ist, denn ich glaube, dass ich sie [miteinander verwechseln würde] wenn die kleine Massare hier wäre, ich glaube, es ist sehr schwer, solch eine Ähnlichkeit zu finden; ich hoffe zudem, bald mein Ziel zu erreichen; doch sie brüstet sich einer recht kämpferischen Tugend, doch etwas Zärtlichkeit oder eher etwas Schläue werden in der Lage sein, ihr strenges kleines Herz zu gewinnen; die Kreolinnen sind hierfür emp54 HCA 30/286, Anonym, Martinique, an M. de Valete, Paris, 15.08.1778: „nos troupes diminuent chaque iour nous sommes deia tres delabres grands nombre de maladies en offissiers et en soldats, nous venons de perdre defflote dune fievre maligne“. 55 The Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales listet unterschiedliche historische Bedeutungen für das Wort „resort“. Im Kontext des Briefes passen am besten „organe capable de produire le mouvement“ oder „force qui fait agir, se mouvoir quelque chose“, http://www.cnrtl.fr/etymologie/ressort, Zugriff 23.11.2016

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fänglich, denn es muss gesagt werden, dass meine Dame dieser Rasse angehört; ich habe jedoch einen Rivalen, doch er ist nicht wirklich zu fürchten; er ist eines dieser Individuen, die melancholisch sind, die den Hof machen, indem sie nichts sagen; es gibt andere Hindernisse, die überwunden werden müssen, ein Vater und eine aufmerksame Mutter, die eifersüchtig Wache hält, sind keine kleine Angelegenheit, doch wir werden uns durchsetzen; immerhin, ein Versprechen mag den Ausschlag geben, zumindest hoffe ich dies“.56

Dies ist ein weiterer bemerkenswerter Brief. Dank des verwirrenden Anfangs ist unklar, von wie vielen Frauen der Verfasser insgesamt schrieb, es sind jedoch mindestens drei – die Demoiselle oder Dame Massare; „diese Eine“, sowie das junge kreolische Mädchen. „Dulcinea“, der Name von Don Quixotes Angebeteter, war ein Synonym für „Geliebte“, so dass hiermit wahrscheinlich auf die Dame namens Massare Bezug genommen wurde, oder aber auf „diese Eine“. Der Verfasser besprach mit erstaunlicher Offenheit die unterschiedlichen Facetten seines augenscheinlich sehr libertinen Lebens. Beginnend mit einer Geschlechtskrankheits-Episode, bewegte sich seine Brieferzählung schnell weiter zu einem Vergleich der Körper seiner unterschiedlichen Liebhaberinnen und en56 HCA 30/395, Anonym, Saint Domingue, An den citoyen Feauçon, Le Havre, 1793: „Mon chere ami, La presente Este pour Avoir Le plaisir de mainformer de Letat de Ta Chere Santé je Desire quel Soit fort Bonne pour La Mienne Elle Est incertaine Car je crois que mes Anciennes Connoissances Des Cayes mont Donné mon paquet Cependant notre Cherurgien me fait Esperer que ce ne Sera Rien et que jenan Seray quitte pour la pence Quoi Quand Depit De ma Charmante Bonne Ami et en la Dessignant tout a fait Ma Chere Massare sy elle savoit elle ne Deveroit pas men savoir meauvais Gré car quand je carraissoit ma Dulcinne (?) je ne le fessois quand son intension il me sembloit Estre avec elle a la Veritte elle est peu êstre pas Comparable a celle La pour le Mouvement Car c est ma Veritables Resort Je crois que Le Cul Lui alloit comme la qeux d’un Batteman [...], Jay fait Connoissance Dun Blanche Agée a peu pres de Dix Sept Ans je Crois ma foi que père Massaze est venu ici et que surement ce sera de son ouvrage car je crois que je me mepranderois sy la petit Massaze etoit ici je crois quil est très Difficile de Trouver une pareille Recemblance, Aussy jespere avec le Temps En Venir a bout cependant elle cepique Dune Vertu un peu farouche mais quelque Douceur ou plutôt quelque sagesse pour Ront gagner son petit Cœur sy severre Les Creolles sont sujet a cela car il faut le dirre que ma Reinne est Dela Race jay Cependant un Rivalle mais il nest pas Bien a Craindre cest de ces individu qui font morne qui font Leur Cour en ne Disant Rien, il y a Bien Dautres Obstacles a surmonter un père et une mere Vigilante et qui a des yeux dargus nest pas une petite Affait mais nous en Viendrons a Bout une promesse a Bon portant pourra fair laffaire du moins je lespere“.

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dete mit der relativ detaillierten Besprechung seines Plans für die Verführung einer siebzehnjährigen Kreolin unter den Augen ihrer wachsamen Eltern, wobei ein Heiratsversprechen offenbar einkalkuliert wurde. Was die Zielgruppen dieser Verführungen betrifft, so scheint dieser spezielle Libertin eine Strategie der Diversifizierung verfolgt zu haben, sofern man annimmt, dass die explizite Angabe, er habe „eine Weiße“ kennengelernt impliziert, dass er auch bereits einige Frauen of colour „gekannt“ hatte. Bemerkenswerterweise differenzierte der Verfasser zwischen weißen Kreolen und Weißen Europäern, wobei er Erstere als eine eigene „Rasse“57 bezeichnete. Die hier umrissene Kreolin wurde als „streng“ dargestellt, mit einer „kämpferisch“ verteidigten Tugend, was den Schreiber jedoch nicht entmutigte – im Gegenteil: er schien reichlich Zeit und Energie für die Planung ihrer Verführung aufzuwenden. Hierin besaß er offenbar Erfahrung: Die „kleine Massare“, deren Hinterteil der Verfasser so galant mit einem Schiffsheck verglichen hatte, war bereits freiwillig (wie der Brief betonte) eine sexuelle Liaison mit dem Schreiber eingegangen, zweifellos unehelich. Der Brief informierte den Adressaten, dass der Verfasser Dlle Massare vermutlich mit einer Geschlechtskrankheit infiziert hatte; welche sozialen Folgen hieraus für sie erwuchsen, ist jedoch unklar. Zudem zeigen erwecken die Pläne des Verfassers für die Verführung der jungen Kreolin den Eindruck, dass ihn mögliche Konsequenzen für die Frauen nicht im Mindesten interessierten. Somit ist es schwierig, zu beurteilen, inwiefern die Libertinage weißer Frauen innerhalb karibischer Arrangements intelligibel und akzeptabel war. Der wütende Brief der „vergifteten“ Frau legt nahe, dass libertine Beziehungen auf gegenseitigem Einvernehmen und geteilten Verständnissen stummer Regeln basierten, doch ist es wie bereits besprochen unmöglich, die Verfasserin dieses ungewöhnlichen Schreibens einer sozialen Gruppe zuzuordnen. Potentiell interessant in diesem Kontext ist der Satz „trotz meiner lieben guten Freundin, und ich will sie sogar benennen, meine liebe Massare; wenn sie [von der Geschlechtskrankheit] wüsste, sie sollte es mir nicht übelnehmen, denn als ich meine Dulcinne liebkoste tat ich es nur, wenn es ihre Absicht schien“. Hier herrscht Gefahr eines Missverständnisses, denn die Formulierung und Grammatik dieser Passage sind so verworren, dass es unklar bleibt, um wie viele Frauen es eigentlich geht. Es besteht in der Tat die Möglichkeit, dass „die kleine Massare“ und Dulcinne nicht dieselbe Person waren, und dass La Massare sich damit einverstanden gezeigt hatte, dass der Verfasser Dulcinne liebkoste – somit wäre die Liaison entweder in das Umfeld einer ménage à trois gerückt; oder würde ein wahrhaft libertines, rein vergnügungsorientiertes Verhältnis von Sexualität vermitteln, welches nicht von Konzepten der 57 Im 18. Jahrhundert konnotierte der Begriff „Race“ im Französischen bereits ethnische Zugehörigkeit. http://www.cnrtl.fr/etymologie/Race, Zugriff 23.11.2016.

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Treue und Exklusivität geprägt war. Da sich dieser Satz jedoch auch alleine auf die „liebe Massare“ beziehen könnte, bleibt dies spekulativ – doch auch dann wäre der Satz hier aufschlussreich, da der Verfasser in diesem Fall die Einvernehmlichkeit der sexuellen Begegnung betont hätte, als er schrieb, die „Liebkosungen“ seien ihre „Absicht“ gewesen, um dann zu schlussfolgern, dass sie keinen Grund hätte, sich zu beschweren, wenn er sie mit einer Geschlechtskrankheit infiziert hätte. Dieser Logik zufolge bestand für Frauen nur Anlass, sich über derartige Infektionen zu empören, wenn der Sex nicht einvernehmlich stattgefunden hatte. Was die Möglichkeiten und Gelegenheiten zur Libertinage für Männer betrifft, so lässt der Brief keinen Zweifel daran, dass diese ganz erheblich waren für jeden, der kein „gefühlloses Tier“ war wie Gérard.58 Die Brieferzählung portraitierte den Schreiber sowohl als einen Jäger sexueller Beute (im Fall des jungen Mädchens) und als einen Kenner, der unterschiedliche Frauen ausprobierte und verglich, ohne sich um ihre körperliche Gesundheit oder mögliche soziale Folgen zu sorgen. Letzteres waren Risiken, welche die Frauen aus seiner Sicht offenbar freiwillig eingingen, wenn sie sich sexuell auf ihn einließen. Der Schreiber selbst konnte hierfür nicht verantwortlich gemacht werden – obwohl der Plan zur Verführung der 17jährigen Kreolin nahelegt, dass er nicht davor zurückschreckte, Frauen mit falschen Versprechungen zu verführen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Bei der Untersuchung der Karibik als Möglichkeitsraum für Libertinage soll nicht suggeriert werden, dass die Karibik physische Möglichkeiten der Libertinage bot, die es in Frankreich nicht gab; oder dass Frankreich generell weniger libertin war als die Karibik. Libertins, Libertinage und libertines Verhalten gab es selbstverständlich auf beiden Seiten des Atlantiks, wie etwa das Schreiben eines weiteren anonymen Verfassers zeigt, eines französischen Geschäftsmannes auf „Dienstreise“ in Martinique, der seinen Freund M. Marie Grégoire beriet, wie er die Hand eines Mädchens gegen den Willen ihrer Eltern gewinnen könne, wenn er seine Bemühungen auf mehr als ihre Hand ausdehnte. „Erschließe das Herz deiner liebenswerten [...] Landsmännin“, empfahl der Verfasser, „Eltern können sterben, dann verfügt ein Fräulein über ihre Hand, zweifle nie an der Möglichkeit, [sie] zu bekommen; wie viele haben ihr Ziel erreicht, die es nicht so sehr verdienten, wie Du? Man hat einen Vorteil, wenn man geliebt wird. Ich verurteile nicht das Zartgefühl, welches Deine Hand zurückhält, die bereit ist, die Blumen zu pflücken, welche die Liebe Dir anbieten will; doch Du hast es mit ordinären Leuten zu tun die, da sie die Forderungen & die Macht der Natur besser kennen als wir, denen gegenüber toleranter sein sollten, die ihr Ehre erweisen. Im Übrigen spricht Deine Redlichkeit zu Dir, nur auf sie darfst 58 Siehe z.B. den oben zitierten Brief von Gérard an Tournez.

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Du hören: doch sag mir, hast Du Dich immer davor gefürchtet, Mädchen __ [Original: „eng:“. Vermutung: Abkürzung für ein Wort, das Geschlechtsverkehr bezeichnet.]“59

Der Verfasser ermutigte Grégoire eindeutig, mit dem fraglichen Mädchen zu schlafen (das Pflücken einer Blume ist noch heute in mehreren Sprachen eine gängige Metapher für die Entjungferung einer Frau; das Motiv der Blume findet sich auch im Verb „déflorer“, entjungfern), was strenggenommen durchaus als ein libertiner Ratschlag betrachtet werden kann. Allerdings ging es hier darum, Grégoire dabei zu helfen, seine „Landsmännin“ zu heiraten, nicht nur ihre „Blumen zu pflücken“. Dennoch empfahl der Verfasser das Blumenpflücken sehr nachdrücklich und verwies sowohl auf die Bereitschaft des Mädchens als auch auf ihren „ordinären“ sozialen Hintergrund, der – so sein Argument – ihre Eltern geradezu verpflichtete, Verständnis für die voreheliche Sexualität ihrer Tochter zu zeigen, denn „ordinäre“ Leute bestanden wesentlich mehr aus Natur als aus Kultur. Leute wie der Verfasser und Grégoire, die nicht ordinär waren, hatten offenbar keine andere Wahl als den bitteren Kelch zu leeren, ihre kultivierten Selbste zu überwinden und sich der Natur zu überlassen, wenn willige junge Mädchen ihnen ihre Blumen zur Pflückung darboten. Die Frage, ob Grégoire sich schon immer gefürchtet habe, war vermutlich eine rhetorische Frage; eine sanfte Provokation, die suggerierte, dass Grégoires Beharren auf Integrität und Zartgefühl nicht unbedingt zu seinem früheren Verhalten gegenüber Frauen passte. Während der Brief sich allein mit Grégoires sexuellem Verhalten befasste, erlaubt er doch einige Rückschlüsse auf die Praktiken, welche der Verfasser selbst vollzog – es sei denn, er war der Wegweiser, der selbst nicht dorthin ging, wohin er zeigte. Während der Verfasser die tugendhafte Position seines Freundes anerkannte, machte er doch kein Hehl aus seiner Irritation darüber. Er sah offenbar keinen Sinn darin, sich sexuell zurückzuhalten, wenn die betreffende Frau sich bereitwillig gezeigt hatte, verheiratet oder nicht, insbesondere, da die Heiratsverhandlungen dadurch beschleunigt werden konnten. Nichts in diesem Brief deutet darauf hin, dass der Verfasser diese Ansichten in Martinique aufge59 HCA 30/302, Unbekannt, Saint Pierre, Martinique, an M. Marie Gregoire, Frankreich, 30.10.1778: „cultive le Coeur de ton aimable […] paysanne; des parents peuvent mourir; une Demoiselle alors (d)ispose de sa main; ne doutte jamais de la possibilité d’obtenir; combien sont parvenus qui ne méritoient pas tant que toi? on est bien avancé quand on est aimé. Je n’ose blamer la délicatesse qui retienne ta main prête a cueillir les fleurs que l’amour veut bien t’offrir, mais tu as affaire a des gens grossiers qui connoissant mieux que nous les droits & l’empire de la nature, doivent être plus tolérants envers ceux qui lui rendent hommage. Au surplus ta probité te parle, il faut n’écouter qu’elle: mais dis moi, as-tu toujours eu peur d’eng: les filles“.

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schnappt hatte, oder dass seine Wahrnehmungsschemata sich unter dem Einfluss kolonialer Libertinage verschoben hatten. Im Gegenteil, die Anspielung auf Grégoires sexuelle Vergangenheit, mit welcher der Verfasser offenbar vertraut war, weist auf libertine Situationen und Praktiken hin, die in Frankreich stattgefunden hatten, lange bevor er in die Karibik gereist war. Das, was die Karibik zu einem Libertinage-Möglichkeitsraum machte (jenseits der Möglichkeit praktisch strafloser sexueller Gewalt gegenüber Sklavinnen und Sklaven, welche im Fazit besprochen wird), so das Argument, war, dass Libertinage dort als Teil des regulären Alltagslebens intelligibel und akzeptiert war, ja aus der Perspektive der Metropole sogar erwartet wurde, wie etwa Gérards Brieferzählung nahelegt. Was die „domestic consumption of colonialism“60 betrifft, hat Tracey Rizzo eine „oppositional identity formation characteristic of Atlantic societies in the late colonial era“ herausgearbeitet, in der „metropolitans [...] located the colonial other at the basis for their counter-identity, while elite colonists turned to the other among them: women, indigenous peoples, slaves. From the perspective of the metropole then, these others [...] became doubly other“.61 Auf der Grundlage populärer Gerichtsschriften hat Rizzo aufgezeigt, wie „Lawyers and chroniclers traded in stereotypical representations of américains in order to render colonial others both more exotic and more accessible to readers and judges“.62 Rizzo betont weiterhin, dass „transmission was aller-retour“63 zwischen Frankreich und den Kolonien. Erzählungen wie die Gerichtsschriften, aber auch Reiseberichte, Traktate und natürlich Briefe – ganz abgesehen von den lebenden, berichtenden, geschichtenerzählenden Menschen, die den Atlantik in beide Richtungen überquerten – trugen die notwendige diskursive Nahrung für die Konstruktion gegensätzlicher Identitäten hin und her. Dies bedeutet, dass diejenigen, die in die Karibik kamen, die Reise mit gewissen Erwartungen hinsichtlich ihrer Möglichkeiten antraten, aber auch mit der notwendigen diskursiven Ausrüstung, um z.B. libertines Verhalten in einem spezifischen kolonialen Kontext zu diskutieren. In Frankreich bzw. für einen französischen Bezugsrahmen mussten libertine doings und sayings anders kontextualisiert werden als für die Karibik. Gleichzeitig erlaubten diese spezifischen kolonialen Kontextualisierungen aber auch, Themen wie Libertinage in Beziehungsgefügen zu besprechen, die sich sonst auf den ersten Blick weniger dafür eigne60 Rizzo, Tracey: „A Lascivious Climate“: Representations of colonial Subjectivity in the Causes Célèbres of Eighteenth-century France, in: The Journal of Caribbean History 34, 1&2, 2000, S.157-177, S.158. 61 Ebd., Herv. i.O. 62 Ebd., S.159, Herv. i.O. 63 Ebd., Herv. i.O.

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ten – etwa zwischen Mutter und Sohn. Im Sommer 1778 schrieb der Hilfschirurg Roland aus Martinique an seine Mutter und erklärte: „Ich habe eine Frau, die mich anbetet, zu der ich abends gehe, um meine Müdigkeit zu zerstreuen. Ich esse bei ihr, es kostet mich keinen Sou; erst seit einem Monat lebe ich mit ihr, doch wenn ich sie früher gekannt hätte, besäße ich Münzen, die ich [jetzt] nicht habe. Sie ist 40 Jahre alt, doch ihre Zuneigung für mich lässt sie mich lieben wie eine Person von 20. Und ich bin glücklicher, als [ich es gewesen wäre,] hätte ich eine junge Verrückte genommen. Ich hoffe, dass Sie mir vergeben, man kann in diesem Land nicht darauf verzichten, das Klima zwingt einen, es zu tun; es wird noch nicht einmal angemerkt; die Priester sagen nichts dazu, so lange man nur eine hat, sie schimpfen einen nur aus, wenn man mehrere hat“.64

Die erste Frage, die sich hier aufdrängt, betrifft die Auswahl der geschilderten Inhalte – warum beschloss Roland, ausgerechnet seiner Mutter von seinem „Bratkartoffelverhältnis“ zu berichten? Angesichts der geographischen Distanz zwischen ihnen bestand keine Chance, dass sie durch Zufall davon hätte erfahren können, insbesondere da der Brief keine weiteren gemeinsamen Kontakte auf Martinique thematisiert. In Rolands Briefschilderung deutet nichts darauf hin, dass er in irgendeiner Weise gezwungen gewesen wäre, seine Mutter über diesen spezifischen Aspekt seines karibischen Lebens zu informieren, er scheint sich ihr ganz freiwillig mitgeteilt zu haben. Ein möglicher Grund hierfür mag gewesen sein, dass er es konnte. In Martinique bewegte sich Roland in soziomateriellen und naturräumlichen Arrangements, die es ihm erlaubten, öffentlich ohne negative Auswirkungen eine außereheliche Liaison zu verfolgen, und die ihm zusätz64 HCA 30/287, Roland, Martinique, an seine Mutter in Douai, August 1778: „J’ai une femme qui m’adore avec qui je vais les soirs me délasser de mes fatigues je mange chez elle il ne m’en coute pas un sous il n’y a qu’un mois que je vis avec elle mais si je l’avais connus plus tot j’aurois des moides que je n’ai pas. Elle a 40 ans mais ses estimes pour moi me la font aimer comme une personne de 20. Et je suis plus heureux que si j’avois pris une jeune folle. J’espere que vous me pardonnerez on ne peut s’en passer dans ce pay-ci le climat nous y force on n’y fait meme pas attention les confesseurs ne vous disent rien si vous n’en avez qu’une il ne vous grondent que quand vous avez plusieures. [...] Et toujours habillé en bourgeois fort élégant le luxe est la porte de la fortune plus dans ce pays-ci que dans tout autre. [...] le mois passé j’étois allé soupé chez une de mes voisines qui est veuve avec qui je vais faire ma partie de temps en temps quand je suis rentré à dix heure j’ai trouvé mon cofre forcé et ma bourse enlevé. Je ne suis point attaché à l’argent cependant cela me fit une sensation qui me donat la fievre“.

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lich die notwendigen sayings zur Verfügung stellten, mit denen er dies seiner europäischen Mutter auf für sie intelligible Weise kommunizieren konnte. Roland zeigte sich hier als ein Mann, der zu zwei Welten gehörte. Die Aktivitäten, die er beschrieb, waren die eines Mannes, der in der Karibik lebte, wo libertine, außereheliche Beziehungen weniger Aktivitäten waren als Praktiken. Dies wird deutlich aus dem Satz „es wird noch nicht einmal angemerkt“, der nahelegt, dass libertine Sexualpraktiken in den Sozialarrangements der Kolonie absolut intelligibel waren. Und doch ist die gesamte Passage in ihrer sprachlichen Komposition auf Rechtfertigung und Entschuldigung dieser Praktiken angelegt. Im brieflichen Vorlauf hatte Roland seiner Mutter seine vielen anstrengenden Pflichten als verantwortlicher Chirurg des örtlichen Militärhospitals beschrieben; nun leitete er zum Thema seiner Liebschaft über, indem er erklärte, sie helfe ihm, an den Abenden seine Müdigkeit zu zerstreuen. Dies war immer noch recht harmlos und unverbindlich, ebenso wie die darauffolgende Information, dass er bei der Dame äße und dadurch viel Geld sparen würde. Dieser Punkt der Erzählung könnte die zeitgenössisch relevante Rechtfertigung für die Thematisierung im Brief an die Mutter darstellen: Geschickte Haushaltsführung. Dem sparsamen Junggesellen war es gelungen, sich die Gesellschaft und vor allem die Versorgung eines verheirateten Mannes zu beschaffen und dabei auch noch Geld zu sparen. In dieser Passage jedoch verbarg sich die Schlüsselinformation, denn Roland gab an, er lebe „erst seit einem Monat [...] mit ihr“. Dass er bei ihr lebte, bedeutete offensichtlich, dass er nicht nur ihren Tisch mit ihr teilte, sondern auch ihr Bett. Da Roland im Hospital seine eigene Unterkunft besaß, war dies vermutlich ein Euphemismus. Später im Brief berichtete er seiner Mutter, dass er eines Abends nach zehn Uhr in seine Unterkunft zurückgekehrt war nach einem Abendessen „mit einer meiner Nachbarinnen, die verwitwet ist, der ich von Zeit zu Zeit Gesellschaft leiste“65 (vermutlich dieselbe Frau) und entdeckt hatte, dass ein Einbrecher seine Räumlichkeiten überfallen und sein Geld gestohlen hatte. Diese Erfahrung hatte Roland so erschreckt, dass er an einem schlimmen Fieber erkrankt war – und sie zeigte, dass der Hilfschirurg in der Tat im Hospital schlief, wie es seine Pflicht war. Nichtsdestotrotz erschien „mit ihr leben“ offenbar wie eine gute Wortwahl für Roland. Als nächstes vergegenwärtigte er seiner Mutter, wie vernünftig er vorgegangen war, als er eine Frau von 40 Jahren erwählt hatte anstatt einer „jungen Verrückten“. Dieses ist ein bemerkenswerter erzählerischer Zug, denn hier wird impliziert, dass Roland in der Tat Zuneigung und Fürsorge 65 Ebd.: „une de mes voisines qui est veuve avec qui je vais faire ma partie de temps en temps quand je suis rentré à dix heure j’ai trouvé mon cofre forcé et ma bourse enlevé. Je ne suis point attaché à l’argent cependant cela me fit une sensation qui me donat la fievre“.

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suchte (und kostenlose Mahlzeiten). Zwar konnte man „in diesem Land nicht [auf Sex] verzichten, das Klima zwingt einen, es zu tun“; doch wenn Roland schon in dieser Weise in eine außereheliche Beziehung zu einer Frau gezwungen wurde, war er immerhin nicht einer wollüstigen jungen Verführerin zum Opfer gefallen. Dieser Verweis auf das Klima, dessen Effekte hier nicht weiter ausgeführt wurden, war sicherlich diskursiv höchst anschlussfähig und gut etabliert, ist hier aber nicht das zentrale Argument. Rolands wichtigster argumentativer Schachzug ist sicherlich die Sanktionierung seines Lebensstils durch die örtliche Kirchenautorität: Die Priester sagen nichts dazu, so lange man nur eine hat, sie schimpfen nur mit einem, wenn man mehrere hat“. Wenn sogar die Männer Gottes beschlossen hatten, dass das Halten einer (und nur einer!) Mätresse in der Kolonie keine Sünde darstellte, dann konnte Rolands Mutter wahrlich nichts dagegen einwenden. Damit verliert Rolands Bitte um Vergebung zu Beginn der Passage etwas an Kraft. Zwar vermittelte sie nach wie vor Respekt für Mme Rolands moralischen Überzeugungen und Werte, allerdings wurde Mme Roland in der Folge geschickt die Möglichkeit genommen, ihrem Sohn nicht zu vergeben. Da die Priester, die für das spirituelle Wohlergehen ihres Sohnes verantwortlich waren, bereits entschieden hatten, dass er in seiner Liaison keine Sünde begangen hatte. Rolands Beispiel zeigt erneut, dass die Möglichkeiten, welche die Karibik hinsichtlich Libertinage eröffnete, sich deutlich jenseits der physischen Situation erstreckten. Libertinage war so ein wichtiger Teil der diskursiven Konstruktion der Karibik in Frankreich, dass Berichte darüber für französische Leserschaften intelligibel, ja sogar erwartungsgerecht sein konnten, sofern diese Berichte sich innerhalb vertrauter diskursiver Elemente bewegten, etwa „dem Klima“. Libertine Aktivitäten und Praktiken, die in der Karibik vollzogen wurden, waren sowohl in Frankreich als auch in der Karibik intelligibel und können somit als Praktiken der Libertinage eingefangen werden, obwohl „Vollzieher“ wie Roland betonten, dass sie sie lediglich zu Haushalts- und Gesundheitszwecken ausführten. Das letzte Beispiel in diesem Unterkapitel beschäftigt sich mit einem Aspekt kolonialer Libertinage, der sowohl von Zeitgenossen in der Metropole und der Kolonie als auch in der Historiographie viel Aufmerksamkeit erfahren hat: Die Zeugung von Kindern gemischter Abstammung; in den meisten Fällen Kinder schwarzer oder of colour Mütter und weißer Väter.66 Ein Blick in die „Régist66 Ein kleiner Auszug aus der Forschungslandschaft: Cottias, Mortalité et Créolisation; Régent, Esclavage, Métissage et Liberté; Garraway, Libertine Colony; Louis, les Libres de Couleur; Houdaille Jacques. Le métissage dans les anciennes colonies françaises. in: Population, 36ᵉ année, n. 2, 1981. S. 267-286; Fredrickson, George.

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re[s] des actes de l’ E.C. de la population blanche et libre“ der Gemeinden von Martinique zeigt, wie häufig solche Geburten auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (trotz ihrer Verschärfung der „rassentrennenden“ Gesetze) waren – und hierbei muss berücksichtigt werden, dass die Register für die freie und weiße Bevölkerung nur solche Kinder gemischter Abkunft auflisteten, die in Freiheit geboren wurden.67 Die Gemeindeverzeichnisse kategorisierten die Kinder und alle weiteren Beteiligten genau nach ihrer Hautfarbe, wie dieses Beispiel aus der Gemeinde Fort-Royal von 1778 verdeutlicht: „Heute 15. Januar eintausend siebenhundert achtundsiebzig habe ich, der Unterzeichnende, einen Jungen getauft, der am vierten dieses Monats illegitim der Marie Magdelaine, freier Mulatresse, geboren wurde, das Kind ist mestif, er wurde Laurent Marie genannt von Laurent Marie Dumas dem Jüngeren, freier mestif, und von Anne Françoise Dumas“.68 Der Vater war nicht verzeichnet, muss aber weiß gewesen sein – ebenso wie eventuell Anne Dumas, die Ehefrau von Laurent Marie Dumas, da keine Hautfarbe für sie angegeben wurde. Doris Garraway erklärt: „[the] functioning of the libertine colony was complex and seemingly contradictory in that it operated to ensure both the social and political subordination of colored raced through exclusionary measures and the sexual hegemony of white men. These two trends were intricately related throughout the history of the colonies, as segregation and exclusion followed directly from colonial authorities’ efforts to punish, displace, and repress the reality of whilte male libertinage. What the libertine colony could not do was control the demographic consequences of this desire“.69

„Mulâtres et autres métis. Les attitudes à l'égard du métissage aux États-Unis et en France depuis le xviie siècle“, Revue internationale des sciences sociales, vol. 183, n. 1, 2005, S. 111-120. Peabody, Sue: Madeleine’s Children. Family, Freedom, Secrets and Lies in France’s Indian Ocean Colonies, Oxford 2017. 67 Das französische Kolonialsystem „vererbte“ Freiheit matrilineal. Ob ein Kind als versklavter oder als freier Mensch geboren wurde, wurde vom Status der Mutter bestimmt. Alle Kinder weißer Männer, die in die Sklaverei hineingeboren wurden, sind daher nicht in diesen Verzeichnissen aufgeführt. 68 Archives Départementales de la Martinique, 5 MI-98, Régistre des actes de l’ E.C. de la population blanche et libre de la paroisse du Fort Royal 1775-1788, Entry January 15th 1778, „Aujourd’hui 15 janvier mille sept cens soixante et dix huit je soussigné baptisé un Garçon né le quatre du present mois illegitimement de Marie Magdelaine mulatresse libre; l’enfant est mestif, il a été nommé Laurent Marie par Laurent Marie Dumas cadet mestif libre, et par Anne Françoise Dumas Mestize libre“. 69 Garraway, Libertine Colony, S. 238.

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Diese menschlichen „Konsequenzen“ wuchsen überall in den Kolonien in höchst unterschiedlichen Umständen auf und bedingten die Entstehung weiterer, letztlich Libertinage-bezogener Möglichkeitsräume, wie der nächste Fall zeigt. Er stammt aus Roseau, der heutigen Hauptstadt von Dominica, wo die Familie de Fadal eine Plantage besaß. Der hier überlieferte Brief stammte vom 8. April 1779 und wurde von Mme Henri de Fadal an ihren Sohn in Frankreich geschickt, um diesen davon zu überzeugen, der finanziell zu diesem Zeitpunkt stark belasteten Familie (so berichtet es zumindest die Brieferzählung) zu Hilfe zu kommen. Allerdings bestand hier ein Problem: Der Sohn war wütend auf seine Mutter aufgrund ihrer Haltung gegenüber „La belle Rosette“, einer Frau of colour, mit der er eine Beziehung und eine kleine Tochter hatte, und die gemeinsam mit einer weiteren Frau namens Marie-Anne auf der Familienplantage lebte – bis Mme de Fadal sie schließlich hinausgeworfen hatte, wie der Sohn annahm. Mme de Fadal nahm nun Friedensverhandlungen auf, indem sie ihm ihre Version der Geschichte berichtete bzw. „die Erfindung an der Stelle der Wahrheit“ auslöschte, wie sie es formulierte. „Wir haben die schöne Rosette niemals hinausgeworfen“, schrieb sie, „aber sie spurte, wie ihre Füße brannten, bis sie nicht mehr konnte, sie kümmerte sich um nichts mehr und vernachlässigte alles [...] die schöne Rosette erschien 1777 zu Weihnachten und wollte nicht mehr zurückkehren, und schickte unverschämt nach ihren Sachen, trotz allem, was wir für sie getan haben, wir haben Marie Anne immer im Haus übernachten lassen, die die Miete für das kleine Mädchen [Henriette, die Tochter des de FadalSohnes] bezahlt hat, zumindest bis M. Guillon im Monat Juli 1778 die Häuser beschlagnahmt hat, wo sie gegangen ist, und ich die kleine Henriette zu mir genommen habe; sie war sehr krank, als ich sie aufgenommen habe, da man ihr schlechte Milch gegeben hatte, aber es geht ihr sehr gut und sie erzählt uns immerzu von ihrem kleinen Papa, mein lieber Sohn, Sie dürfen nie Leute verurteilen, ohne sie erst anzuhören [...] sei versichert, dass Dein Kind wissen wird, dass es ihr an nichts fehlt, ich betrachte sie wie mein eigenes Kind, sie hängt so sehr an mir, dass sie nicht außer Sichtweite von mir sein will; aber mein lieber Sohn, ich liebe das Kind so sehr, wie ich die Mutter hasse. Sie ist eine Undankbare die gegenwärtig, wo sie einen anderen hat, nicht mehr länger an Sie denkt und tausend schlechte Dinge über Sie sagt und sich nicht im Geringsten versteckt. [...] glauben Sie [...] dass Menschen ihrer Farbe niemals empfänglich für Treue gewesen sind. Was das Kind betrifft, so pflichte ich bei, sie ist gut, es ist Ihr Blut und meines, das in ihren Adern läuft, und ich hänge sehr an ihr, wie auch Ihre Schwestern und ihr Patin und ihr Pate, seien Sie beruhigt, was sie betrifft“.70 70 HCA 32/287, Mme B. Henri de Fadal, Dominica, an ihren Sohn in Frankreich, 08.04.1779: „Mon cher fils [...] Le mensonge en plasse de la verité nous navons

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Als Madame de Fadal diesen Brief schrieb, befand sie sich – zumindest laut ihren eigenen Angaben – in schweren finanziellen Problemen. Die Beschlagnahmung der Häuser auf ihrem Land durch M. Guillon deutet an, wie problematisch die Situation bereits ein Jahr vor dem Verfassen des Briefes gewesen war. Sie benötigte dringend die Hilfe des Sohnes, musste also seine Loyalität von der schönen Rosette auf sich selbst umlenken. Die „Strategie“, die sie hierfür auswählte, bestand in der Schaffung eines gemeinsamen Feindes, nämlich der schönen Rosette selbst. Mme de Fadals Erzählung stellte die Geschichte, die ihr Sohn gehört hatte, auf den Kopf: Laut Mme de Fadal war Rosette nicht das Opfer, sondern im Gegenteil die Schuldige. Sie hatte Mme de Fadals Sohn und das gemeinsame Kind verlassen, um sich einem anderen Mann an den Hals zu werfen, und war sogar herzlos genug, öffentlich schlecht über Mme de Fadals abwesenden Sohn zu sprechen bzw. ihn zu verhöhnen. Mme de Fadal machte explizit Rosettes Abstammung hierfür verantwortlich, indem sie behauptete, dass „Leute ihrer Farbe niemals empfänglich für Treue“ gewesen seien. Bei Mme de Fadal wurde Rosette zur Außenseiterin, die nicht dazugehörte, der man nicht vertrauen konnte und an die keine Liebe und Loyalität verschwendet werden sollten. Stattdessen sollte der Sohn sich daran erinnern, zu wem er gehörte und wem er seine jamais my la belle rosette dehort mais les pied luy ont brulay jusqua quelle esté au boure elle ne vous lait plus se mellé de rien est negligé [...] la belle rosette avet apareille (apparu?) en 1777 au feste de noel est na pas voulu remonter et en voyent impertinenment chercher son bagages malguet tous se que nous avont fais pour elle, nous avon toujour lessé Marie Anne dans la maison qui payé la rente pour la petite fille jusquasque Mr Guillon a fais saisir les maisson au mois de juillet 1778 ou elle a sorti et jay prix la petite henriet avec moy elle esté tres malade lors que je les prit ayon tetté du mauvé laict mais elle fais tres bien et nous parle toujours de son petit papa mon cher fils il ne feau jamais condanné les personne sans les entendre [...] soyé persuadé que votre enfant san apersevera quoy quelle ne manque de rien je la regarde comme mon propre enfant elle est sy attaché a moy quel ne veut pas me perdre de vue mais mon cher fils autent jayme lenfant auten je deteste la mere. Cest une ingrate qui a presant quel enna un autre ne pence plus a vous et dit mille mal de vous et ne ce cache point sy vous savier com moy ce donc elle est capable vous la mepriseries et donnéray a cette malheureuse toute votre haine Le papier est tros faible pour suporter tous ce quil faudray vous dire a son sujet je ne vousderay pas que vous lapprenderies de moy, mais croies moy mon cher fils oublies cette perfide cette volage qui na jamais merité votre attache, rentré en vous-même voyé son néant et saché que les gens de sa couleur non jamains esté susceptibles de fidelité pour l’enfant je vous l’accorde cest la est juste cest votre sang et le mien qui coule dans cest vaine et je suis beaucoup attaché a elle vos sœurs le sont ausy et sa mareine et son parein soyé tranquil a son sujet“.

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Zuneigung und Loyalität schuldete – seiner Mutter, seinen Schwestern und seiner kleinen Tochter Henriette. Auf der brieflichen Verhandlung des Kindes liegt hier das Hauptaugenmerk, schließlich war ein Enkelkind gemischter Abstammung, das im Haus der de Fadals wohnte, der lebende Beweis dafür, dass der Sohn sehr spezifische koloniale Libertinagepraktiken vollzogen hatte. Erst hatte dieser Beweis, die kleine Henriette, mit ihrer Mutter und Marie Anne lediglich auf dem Gelände der de Fadals gelebt (die Frauen hatten sogar Miete für das Kind zahlen müssen), doch nachdem die Mutter verschwunden, das Haus gepfändet und Marie Anne ebenfalls gegangen waren, wurde das Kind ins Haus der Großmutter aufgenommen. Somit mussten sich die Koordinaten, welche die Zugehörigkeit zur Familie definierten verändern, und Konzepte der Zugehörigkeit und „Andersartigkeit“ mussten je nach Konversationssituation bzw. je nachdem, über wen man gerade sprach, flexibel angepasst werden. Diese Herausforderung wird im Brief deutlich. Vorsichtige Differenzierung liegt nicht in der Natur rassistischer Aussagen, und so schloss Mme de Fadals Verurteilung von Rosette automatisch alle Menschen of colour ein, also auch Mme de Fadals eigene Enkelin Henriette, von der sie behauptete, dass sie ihr extrem nahestand. Somit musste ein alternativer Maßstab für die Wertschätzung des Kindes eingeführt werden: „es ist Ihr Blut und meines, das in ihren Adern läuft“. In Mme de Fadals Erzählung war Blutsverwandtschaft wichtiger als die Hautfarbe. Rosettes NichtZugehörigkeit und „Andersartigkeit“ waren unweigerlich von ihrer körperlichen „Natur“ diktiert; für ihre Tochter wurde diese Regel jedoch unterwandert. Die „Natur“ und Zugehörigkeit ihres Körpers wurden nicht von ihrer Haut, sondern von ihrem Blut determiniert. Für ihre Großmutter war die entscheidende Definitionskategorie nicht „Rasse“, sondern „Familie“, zumindest im Rahmen dieses spezifischen Briefes. Die de Fadal-Episode zeigt, wie die karibischen Kolonialarrangements Möglichkeitsräume eröffneten, um mit den Auswirkungen ihrer eigenen Möglichkeitsräume umzugehen. Konzepte von Zugehörigkeit und Identität, die in politischen, juristischen und wissenschaftlichen Diskursen sowohl in den Kolonien als auch in der Metropole beständig verengt und verschärft wurden, konnten in den kleineren Praxisarrangements der Familie oder Hausgemeinschaft umgeworfen und unterwandert werden. Dies war nicht immer der Fall: Vielerorts wurden Ausbeutung und Grausamkeit auch trotz Blutsverwandtschaft praktiziert, aber dennoch eröffneten die Beziehungen von Menschen unterschiedlicher Abstammungen Möglichkeitsräume des Zusammenlebens und der Familie, in denen körperliche Zugehörigkeiten neu definiert werden konnten. Die bisherigen Kapitel haben sich mit unterschiedlichen Aspekten des körperlichen Lebens in der Karibik beschäftigt, die sich in der Verhandlung durch

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die Zeitgenossen und entsprechend in der historiographischen Interpretation hier zwischen zwei Polen bewegten: Gefahr einerseits, Chance bzw. Möglichkeit andererseits. Auf der „Gefahr“-Seite steht hierbei immer Krankheit, sogar Tod. Diese beiden allgegenwärtigen, und in der Darstellung durch die BriefschreiberInnen übermächtigen Elementen des Kolonialalltags sollen nun im Fokus stehen.

Krankheitserfahrung, Krankheitsbehandlung, Krankheitserzählung

In Brieferzählungen aus der Karibik trat Krankheit oft als ein Übel von vielen auf, als Teil eines Panoramas der Kalamitäten. So berichtete etwa M. Clerc im Frühling 1778 seinem Onkel von seiner Situation auf Martinique: „Wir sind hier immer noch in andauerndem Kummer & Schmerz, welchen uns die Kalamitäten und Ärgernisse der Jahreszeit verursachen, sei es durch Krankheiten & häufige Todesfälle oder aus einer anderen Richtung, da wilde Hunde hier häufig grausame Verwüstungen anrichten, in der Stadt und auf dem Land, mit ihren Bissen, sowohl an Menschen als auch an Tieren [...] die Pocken setzen ihr Gemetzel fort, gestern habe ich einen meiner kleinen nègres beerdigt aufgrund dieser finsteren Krankheit“1.

Der Kreole M. Gal aus Saint Domingue schrieb 1779 an seinen Cousin Gal in Marseille „[W]as würden Sie in diesem schönen Land Frankreich machen! Wo alles Frische & Fröhlichkeit atmet im Vergleich zu hier, wo alles heiß & brennend ist, Krieg um uns zu ruinieren, Krankheit, um uns zu töten oder zu erschöpfen“.2 Derartige, eher illustrative Erwähnungen von Krankheit traten deutlich 1

HCA 30/302, Clerc, St Pierre, Martinique, an seinen Onkel Alexandier in Bordeaux, Frühjahr 1778: „Nous sommes toujours icy dans des chagrins & des peines continuelles, que les calamites et les vicissitudes du temps nous occasionnent, soit par les maladies & les motralités fréquentes ou d’un autre côté, les chiens sauvages etant communs causent des Ravages Cruels tant à la ville qu’à la champagne, par leurs morssures, tant sur l’espèce humaine, tant sur les animaux [...] la vérette continue toujours sa moisson, j’ay enterré hier un de mes petits Nègres à la suite de cette funeste maladie“.

2

HCA 30/305, Gal, Saint Domingue, an seinen cousin in Marseille. „...que ferais vous dans ce beau pais de la france! Ou tout respire fraicheur & Gajeté au lieu qu’ici tout

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häufiger auf als ausführliche Krankheitserzählungen. Letztere sind jedoch besonders aufschlussreich sowohl im Hinblick auf epistoläre Praktiken, als auch auf die Entwicklung von Praktiken des Umgangs mit Krankheit in den Kolonien. Im September 1778 schrieb ein junger Mann namens Désinçay an seinen Vater in Paris und berichtete ihm von seinem Gesundheitszustand: „Sie müssen mittlerweile zum vierten Male wissen [erfahren], mein lieber Papa, dass ich eine grausame und sehr lange Krankheit durchlitten habe, da ich drei Monate lang [nicht in der Verfassung war [...]] die Hand an die Feder zu legen. Und es musste so sein, dass es Hindernisse dieser Natur gab, unüberwindbare Hindernisse, damit ich einen Konvoi ziehen ließ, ohne ihn mit einem Brief zu beauftragen; obgleich über meine neue Position unterrichtet, ist es doch einen Monat her, dass ich die ersten Neuigkeiten davon erhielt, doch an jenem Tag war ich so krank, dass ich nicht die Kraft besaß, Ihren Brief selbst zu öffnen. Ich las ihn dennoch, jedoch ohne dass Ihr glücklicher Erfolg für mich mir besondere Freude gegeben hätte“.3

Neben Kaperungen und anderen kriegsbedingten Hindernissen war Krankheit vermutlich der häufigste Grund für die Unterbrechung von Briefverkehr zwischen der Karibik und Frankreich, zumindest laut den VerfasserInnen die ihr Schweigen, wie Désinçay, durch Krankheit und Schwäche rechtfertigten. Briefschreiben, so das Argument, kostete Kraft: Allein in Désinçays kurzer Passage finden sich zwei Verweise darauf, dass Briefverkehr ein körperlicher Akt war, der physische Fähigkeiten erforderte, die einer erkrankten Person nicht zur Verfügung standen. Désinçay etwa war nicht nur nicht in der Lage gewesen, eine Feder zu halten, er war sogar zu schwach gewesen, um den Brief seines Vaters auch nur selbst zu öffnen. Ebenso wenig war er in der Lage gewesen, mit der angemessenen Emotion (großer Freude) auf die Nachricht seines Vaters, dass er eine bestimmte Position erlangt hatte, zu reagieren. Diese Erklärung mag einem est chaud & Brulant, Guerre pour nous ruiner maladie pour nous tuer ou nous peuiser“. 3

HCA 30/286 Désinçay, Martinique, an seine Eltern in Paris, 20.09.1778: „Vous devez savoir maintenant pour la quatrieme fois, mon cher papa, que j’ai assuié une maladie cruelle et très longue puis que je fus trois mois sans pouvoir mettre la main à la plume. Et il a bien fallu qu’il yait des obstacles de cette nature, obstacles insurmontables, pour avoir laissé partir un convoi sans le charger d’aucune lettre quoiqu’instruit de ma nouvelle place, il y a environ un mois que j’en recus la premiere nouvelle, mais jétais ce jour si mal que je n’eus pas la force de décacheter votre lettre moi-même. Je la lus cependant, mais sans que votre heureux succès à mon égard me causa une extrême joie“.

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eventuell antizipierten Vorwurf der Undankbarkeit durch den Vater geschuldet sein. Der oben bereits vorgestellte junge Mann namens Bartholomé schien eher besorgt, dass seine Mutter sich angesichts seiner ausbleibenden Briefe ängstigen könnte und erklärte, dass „eine Erkrankung der Augen, die einen ganzen Monat angedauert hat, mich bis zu diesem Tag daran gehindert hat, Ihnen zu schreiben und die jüngsten Konvois auszunutzen“.4 Wenn BriefschreiberInnen den Empfang und die Beantwortung von Briefen als einen erschöpfenden körperlichen Akt behandelten, den zu vollziehen sie schlicht nicht in der Lage gewesen waren, ermöglichte dies, gleichzeitig Erfahrungen tropischer Krankheiten zu übermitteln und die Erwartungen und Vorwürfe von Freunden, Familie und GeschäftspartnerInnen im Zaum zu halten. Charles Bademer schrieb am 8. März 1793 aus Pointe-à-Pitre in Guadeloupe: „ab dem Moment, wo ich Dir schreibe, habe ich schon seit vier bis fünf Tagen Fieber“.5 Ominös fügte er hinzu: „und andere Dinge, die ich Dir gegenwärtig nicht berichten kann, denn wenn ich sie Dir erzählen müsste gäbe es in ganz Pointe à Pitre nicht genügend Papier“.6 Am 27. November 1755 versuchte M. Galibert aus Saint Domingue, seinem Geschäftspartner Lasson zu erklären, weshalb er in letzter Zeit so untätig gewesen war: „Ich habe, mein lieber Freund, Ihren Brief vom 8. August 1755 gestern Abend erhalten, welches mir recht verspätet scheint; der Hauptgrund mag sein, dass ich fast zwei Monate lang von der Dépendance am Cap abwesend war und dass ich meine Adresse jenen, die beauftragt waren, meine Briefe nachzusenden, nicht hinterlassen hatte, da ich nicht wusste, dass eine skorbutische Krankheit mich so lange in diesem elenden Land aufhalten würde, welches ungefähr 80 lieues vom Cap entfernt ist, und somit nicht in der Lage, mich um Ihre Angelegenheiten zu kümmern. Erlauben Sie mir, die Artikel Ihres geschätzten Briefes etwas oberflächlich zu behandeln, da es mir unmöglich wäre, mehr als eine Viertelstunde zu schreiben aufgrund der starken Kopfschmerzen, welche meine Krankheit mir verursacht“. Der Brief endete mit einer Bitte um Verschwiegenheit: „Auf Wiedersehen, mein

4

HCA 30/305, Bartholomé, La Colline, Saint Domingue, an seine Mutter in Rochefort, 01.11.1778: „Une maladie d’yeux continue pendant un mois entier m’a empeché jusqu'à ce jour de vous écrire et de profiter des derniers convois“.

5

HCA 30/396, Charles Bademer, Pointe à Pitre, Guadeloupe, an seinen Bruder in Honfleur, 08.03.1793: „Du moment que jetecris jay la fievre voila déjà quatre a cinq jour [...] et autre chose que je ne puis te mander pour le present car sil falloit te raconter il ny auroit pas assé de papier dans la pointe a pittre“.

6

Ebd.

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lieber Lasson, lassen Sie in meinem Haus niemanden von meiner Krankheit wissen, ich will sie vor ihnen verbergen“.7

Es mag wie eine unverzeihliche Nachlässigkeit von Galibert erscheinen, das Geschäft am Cap zurückzulassen, ohne eine Adresse zu hinterlegen. Sein Brief bekundet jedoch keine besondere Zerknirschung oder Reue angesichts dieser Fahrlässigkeit, die Krankheit, die Galibert durchlitt, war offenbar Rechtfertigung genug. Auch die Entscheidung, Lassons Anfragen nur oberflächlich zu behandeln, wurde zwar erklärt, aber nicht entschuldigt. Galiberts Brief vermittelt eine klare Priorisierung seiner Gesundheit vor seinen Geschäftsverpflichtungen, und legt so nahe, dass Lasson und Galibert sich als Kollegen auf Augenhöhe befanden. Hier ist auch die Bitte um Geheimhaltung vor Galiberts Familie bemerkenswert: Lasson musste von Galiberts Erkrankung wissen, um Verzögerungen in Geschäftsabläufen zu verstehen; der Familie sollte dieses Wissen jedoch vorenthalten werden – entweder, um Galiberts Angehörigen Sorgen und Ängste zu ersparen, oder auch im Zusammenhang mit interfamiliären Hierarchie- und Nachfolgeüberlegungen. In jedem Fall mussten SchreiberInnen eine Balance finden zwischen Information und Verschleierung: Information über die Gefahr, Schmerzen und Unannehmlichkeiten, die sie erlebt hatten, und Verschleierung von zu dramatischen oder unnötigen Details, denn eine zu schreckliche Beschreibung des Erlebten konnte wiederum die Gesundheit der Leserschaft in der Heimat belasten. Ein typischer Fall eines solchen „Balanceakts“ ist der Brief, den M. Moudin im März 1793 aus Guadeloupe an seine Mutter schrieb: „Was meine Gesundheit betrifft, erholt sie sich bis jetzt, dennoch hoffe ich, dass es nicht viel sein wird [was von der Krankheit zurückbleibt], obwohl das Fieber mich seit 8 Tagen nicht

7

HCA 30/260, Galibert, Artibonite, Saint Domingue, an Lasson, 27.11.1755: „Je resceux Mon cher amy hier au soir votre letre du 8me aoust 1755 qui ma parû avoir etté bien retardee, La cause principale peut venir de ce que je suis absant de la dependance du cap depuis pres de deux mois et que je navois pas lessé mon adresse a ceux qui etoient chargés de reirer mes letres peu sant bien quune maladie scorbutique ne me retien --??- si longtems dans ce malheureux pays qui est a pres de 80 lieues du cap. Par consequant hors detat de pouvoir remédier a vos affaires. Permetés moy daller un peu – legerement? O.ä. – sur tous les articles de votre pretieuse letre dautant quil me seroit imposible de pouvoir ecrire plus dun quart dheures par les grands mots de tetes que me cause ma maladie. – Adieu mon cher lasson ne faites pas scavoir ma maladie ches moy je veux leur cacher“.

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verlassen hat“.8 Die Hoffnung, die Gesundheit würde keine bleibenden Schäden davontragen und sei auch schon in der Erholung begriffen, wurde direkt mit dem andauernden Fieber kontrastiert. Es bestand also gleichermaßen Grund zur Sorge und zur Hoffnung, Moudin war nicht außer Gefahr, aber auch nicht akut bedroht. Dieses Unterkapitel beschäftigt sich damit, wie BriefschreiberInnen die Krankheiten, die sie in der Karibik erlitten oder erlebten, kommunizierten und wie sie erzählerisch Verknüpfungen zwischen der Krankheit und Kolonie herstellten. Zudem werden einige weitere Aspekte beleuchtet, etwa die Beziehungsnetzwerke, die BriefschreiberInnen in ihrem brieflichen Umgang mit Krankheit ins Spiel brachten. Die zeitgenössische Vorstellung von Reisenden und Siedlern, dass Krankheit eine Art Tribut darstellte, der an die Kolonien zu entrichten sei, wurde bereits erwähnt im Zusammenhang mit dem Brief eines jungen Mannes namens de Vande aus dem Jahr 1756. Fast 40 Jahre später brachte ein M. Barbel ganz ähnliche Gefühle zum Ausdruck. Barbel wurde zwar nicht selbst krank, war jedoch mit der Gefährlichkeit der Karibik konfrontiert, als sein Sohn beinahe starb: „Ich habe es gerade erlebt, mein Sohn wurde am 15. Februar krank, am 17. Ließ ich ihm Zugpflaster an den Beinen & am Schädel anbringen, ich habe ihn zwei oder drei Tage lang als verloren betrachtet, er hat seine Krankheit in meinem Zimmer verbracht, beurteilen Sie selbst, wie besorgt ich war; heute ist sein einziges Ungemach die Langeweile; er kann noch nicht laufen, die Zugpflaster auf den Beinen hindern ihn am Laufen, abgesehen davon ist er fast wieder ganz gesund; er hat den Tribut der Kolonien recht kräftig gezahlt, ich schmeichle mir, dass dieses ihn akklimatisiert haben und in Zukunft beschützen wird“.9

Der junge M. Barbel hatte sich höchstwahrscheinlich eine der vielen Fiebererkrankungen zugezogen, welche geradezu die Standardleiden für Neuankömmlinge in der Karibik darstellten. Im Jahr 1793 gab es mehrere schwere Gelbfie8

HCA 30/396, Moudin, Pointe à Pitre, Guadeloupe, an seine Mutter in Frankreich, 10.03.1793: „Pour ma santé el est convalescente tout qua present cepandant jespere que cela sera peut de chose, quoique la fievre ne ma pas quite depui hui jour“.

9

HCA 30/396, Barbel, Pointe à Pitre, Guadeloupe, an Mme Dubusc, Le Havre, 10.03.1793: „Je viens de l’éprouver mon fils a tombé malade le 15 fev le 17 je lui ai vu appliquer les vessicatoires aux jambes & sur le Crasne, je l’ai regardé perdu pendant deux ou trois jours, il passa sa maladie dans ma chamber, jugez de mon inquiétude, aujourd’hui son seul mal est l’annui il ne peut encore marcher les vessicatoire des jambe l’empechent de marcher, il este a cela presce parfaitement rétably, il à payé le tribute des colonies vigoureusement, je me flatte que cela l’aura acclimate & le préservera pour l’avenir“.

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berepidemien in den Amerikas – aufgrund der Schwere der Erkrankung des jungen Barbel, des deutlichen Krisenmoments während der Tage, an denen sein Vater ihn für „verloren“ hielt, und der Tatsache, dass er nicht laufen konnte, was möglicherweise nicht allein den Zugpflastern geschuldet war, kann spekuliert werden, dass Barbel an Gelbfieber10 erkrankt war. Gelbfieber wird in diesem Unterkapitel noch eine größere Rolle spielen. Im Fall von Barbel muss es jedoch bei einer Spekulation bleiben, da Gelbfieber durch seine Ähnlichkeit mit anderen Fiebern schwer nachträglich zu diagnostizieren ist.11 Von Bedeutung hier ist allerdings die Vorstellung des Vaters, die „kräftige“ Krankheit hätte seinen Sohn akklimatisiert und würde ihm zukünftig Schutz bieten. Dieses Konzept von Akklimatisierung ist interessant, da es suggeriert, dass der Körper im Verlauf der Krankheit einen Veränderungsprozess durchmachte, in welchem er ein neues Klima und alles, was damit medikokulturell zusammenhing, inkorporierte – gleichsam ein Akklimatisierungsprozess im Schnellverfahren. Akklimatisierung durch Krankheit wäre damit zwar hochgefährlich, aber auch effektiv. Der napoleonische Regimentskommandant Devigny berichtete seiner Frau am 28. Germinal des Jahres 11, oder dem 18. April 1803, aus Martinique: „Du kannst beruhigt sein, was mich betrifft, mir geht es recht gut, die Krankheit ist vorüber, ich bin akklimatisiert und das Régime, das ich führe, wird mich [gesund] erhalten, wie ich hoffe; ich werde keine Gelegenheit auslassen, um Dich zu beruhigen“.12 Angesichts der Tatsache, dass das Ausbleiben der Akklimatisierung für viele Leute mit beständigem Unwohlsein verbunden war trotz drakonischer Gesundheitspraktiken (man denke an den oben vorgestellten M. Descorches, der sich hauptsächlich von Brot und Wasser ernährte) ist es nicht erstaunlich, dass manch einer es vorgezogen hätte, ein für allemal seinen „Tribut zu entrichten“ und dann in Frieden zu leben. M. Ribuis aus Guadeloupe berichtete seiner Frau: „Meine Gesundheit hält sich gut in diesem Klima & die starken Kopfschmerzen [...] die mich noch nicht verlassen haben, seit ich angekommen bin; ich habe noch keine Fieberattacke erlebt, vielleicht haben mich diese Migränen beschützt, doch da niemand jemals mit

10 Siehe Raapke: In Gelb! 11 Geggus, David: Yellow Fever in the 1790s: The British Army in Occupied Saint Domingue, in: Medical History 23, 1979, S. 38-58, S. 39. 12 HCA 32/559, Devingy, Martinique, and seine Ehefrau in Bercy, 28. Germinal, Jahr 11 der Französischen Republik: „Tu peu etre tranquil sur mon conte je me porte assez bien la Maladie a cesser Dailleur je suis acclimaté et le Regie que je maine me conservera jespere je ne negligerai aucune occasion pour te lassure“.

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seinem Los zufrieden ist, erscheint es mir, dass ich ein paar Fieberattacken dieser gewaltsamen Unterdrückung vorziehen würde“.13

Ribuis’ Körper reagierte auf das neue Klima mit beständigen Kopfschmerzen, die ihn so sehr belasteten, dass er sie gerne gegen ein potentiell lebensbedrohliches Fieber eingetauscht hätte. Wenn die Akklimatisierung durch das Fieber, wie von Barbel angenommen, zudem den Schutz vor weiteren „Tributzahlungen“ bedeutete – was den Tribut mehr nach einem Schutzgeld aussehen lässt – ist Ribuis’ Wunsch, dauerhafte Schmerzen gegen anfallsweises Fieber auszutauschen, durchaus verständlich. Ein weiterer Briefschreiber, der den Tribut erwähnte, war M. D’Héricourt, der nach Saint Domingue zurückkehrte, um sich um sein Geschäft zu kümmern – vermutlich handelte er mit SklavInnen gemeinsam mit seinem Freund, dem Comte de Noé. Am 3. Juli 1779 informierte D’Héricourt Noé über seine Situation auf der Insel: „Seit meiner Ankunft, mein lieber und zärtlicher Freund, bin ich krank gewesen, es ist ein Tribut, den man St. Domingue zahlen muss. Ich lerne in diesem Moment, dass morgen eine Flotte abreisen wird, ich beeile mich, Dir eine Nachricht zu schreiben nur, um Dich zu umarmen. Ich hatte einen sehr langen, detaillierten Brief begonnen, der Dich über alles informieren wird, doch da ich nicht die Kraft habe, ihn zu beenden & da ich ihn mit meiner eigenen Hand schreiben muss, wird er heute nicht abreisen. Ich habe Dir schlicht erzählt, dass ich recht daran getan habe, zurück zu kommen, dass wir unseren Mann in jeder Hinsicht schlecht eingeschätzt haben, ohne Ausnahme, & dass der Verkauf unserer nègres und Plätze in Fort Margo nicht ratsam war. Man sagt, das Leben am Cap sei sehr unangenehm, ich werde dennoch ein kleines Haus haben, um hier ein paar Tage zu verbringen & abgesehen davon ist das Leben [im Sinne von Lebensmitteln] hier schrecklich teuer & noch schwerer zu bekommen“.14 13 HCA 32 178, Ribuis, Port Louis, Guadeloupe, an seine Frau in Bordeaux, 19.11.1758: „Ma santé se soutient toujours fort bien dans ce climat & de grands meaux de tête [...] qui ne m’ont guere abbandonné depuis mon arrivée je ny ay encore essuyé aucun accy de fievre peut etre ces migraines m’en ont-elles garantis mais comme personne n’est content de son sort il me semble que je prefererais quelques accy de fievre a cet assujettissement violent“. 14 HCA 30/279, D’Héricourt, Manquète, Saint Domingue, an M. le Comte de Noé, Auch, 03.07.1779: „Depuis mon arrivée mon cher & tendre âmi j’ai été malade, c’est un tribût à payer a St domingue. J’apprends dans ce moment qu’il sort une flautille demain je m’empresse à t’écrire un mot, pour tembrasser simplement. J’avois commencé une fort grande lettre tres détaillé & qui te mettra au fait de tout, mais comme je n’ai pas la force de la finir, & qu’il faut L’écrire de ma main elle ne partira pas

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D’Héricourt beschrieb seine Krankheit als eine unangenehme Unvermeidbarkeit des kolonialen Lebens, die ihn zwar außer Standes setzte, einen langen Brief in Eile zu Ende zu bringen, aber nicht dazu führte, dass er seine Reise in die Karibik bereute. Das Gleiche galt für den unbequemen und teuren Lebensstil – beides waren Ärgernisse, die hingenommen werden mussten, wenn man ein Vermögen aus dem Verkauf versklavter Menschen erwirtschaften wollte. D’Héricourts Brief zeigte somit Saint Domingue als einen Ort der Krankheit und Unbequemlichkeit, ihn selbst aber als einen geschäftsorientierten und effizienten Mann, den derartige Ärgernisse nicht aufhalten konnten. Die Kostspieligkeit des täglichen Lebens in den Kolonien ist ein Thema, das BriefschreiberInnen immer wieder im Zusammenhang mit Krankheit diskutierten. Medikation war teuer, ebenso wie notwendige Diätanpassungen und insbesondere Pflege. Diese möglichen, ja sogar wahrscheinlichen Zusatzausgaben waren ein weiterer Aspekt, der vor Antritt einer Reise in die Karibik zu bedenken war, und den auch die beiden Brüder Comte in einem Brief an ihre Eltern betonten. Die Eltern hatten offenbar vor, noch einen weiteren Sohn in die Karibik zu schicken, um dort bei seinen Brüdern in St. Eustache zu leben und zu arbeiten. Um die Eltern hiervor abzubringen, beschrieb der ältere Comte Bruder, der am längsten in der Kolonie lebte, wie er sich um seinen jüngeren Bruder hatte kümmern müssen, nachdem dieser ihm dorthin gefolgt war: „Eine kleine Krankheit, die er sich bald nach seiner Ankunft zuzog, hatte mir viel Sorge & Ausgabe verursacht; er benötigte täglich Geflügel um Brühe für ihn zu kochen & jedes Geflügel kostete mich einen Dukaten, ich war gezwungen, sehr teuer einen Dienstboten zu mieten, um ihn zu pflegen“.15

d’aujourd’huy. Je te dirais simplement que j’ay parfaitement fait de revenir, que nous avions mal jugé notre homme surtout les chapitres, sans en exepter aucun & que le marché de nos nègres & places au fort margo n’etoit point daisable. Lavie du cap est dit on tres peu agréable J’y aurois pourtant une petite maisonnette pour y aller passer quelques jours & d’ailleurs la vie est ici d’une cherté horrible & encore plus difficile a se procurer“. 15

HCA 30/345, Comte, St Eustache, an seinen Vater in Payerne, Schweiz, 01.02.1781: „une petite maladie qu’il fit peu après son arrivée m’avait causé beaucoup d’embarras& de depenses Il fallait tous les Jours une Volaille pour lui faire du bouillon & chaque volaille me coutait un ducat, j’etais obligé de louer fort cherement un domestique pour le soigner au lieu qu’étant chez Mr. Terzier, si pareil accident arriva, ce que je n’espère pas, il sera soigné beaucoup mieux, & sans frais“.

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Am Ende war der kranke Bruder zu einem M. Terzier verlegt worden: „Wenn bei M. Terzier ein ähnliches Unglück geschehen sollte, was ich nicht hoffe, wird er dort viel besser gepflegt werden, & ohne Ausgabe“.16 Das Ziel dieser Erzählung war, die Eltern Comte zu der Einsicht zu bewegen, dass es unverantwortlich wäre, noch einen weiteren Sohn nach St. Eustache zu entsenden. Zum einen erfuhren sie, dass ihr jüngerer Sohn eine Krankheit erlitten hatte, womit man rechnen musste, wenn man in die Kolonien reiste. Zweitens lernten sie, dass ihr älterer Sohn sich nach bestem Vermögen um seinen kleinen Bruder gekümmert und so brüderliche Loyalität und Verantwortungsbewusstsein unter Beweis gestellt hatte – aber auch, dass seine Möglichkeiten für solche Pflegeleistungen begrenzt waren, da angemessene Krankenpflege sehr teuer war. Somit mussten die Eltern schließen, dass sie ihn nicht mit einem weiteren Schützling belasten konnten, der ebenso gut krank und pflegebedürftig werden konnte, sobald er ankam. Drittens erfuhren sie, dass das Wohlergehen des zweiten Sohns nun gesichert war, allerdings nur dank der Großzügigkeit von M. Terzier (der scheinbar mit den Comte Brüdern zusammenarbeitete). Sie konnten kaum erwarten, einen weiteren kranken Sohn im Terzier-Haushalt abladen zu können, zumal nichts die Gesundheit des Ältesten dauerhaft garantierte. Ein weiterer Comte-Bruder in der Karibik wäre ein Risiko. Die schreibenden Brüder schafften es, ihre Argumentation in einer Weise zu präsentieren, die einerseits ihre Bereitschaft zeigte, sich umeinander zu kümmern, andererseits aber einen völlig gerechtfertigten, auf finanziellen Überlegungen basierenden Widerwillen vermittelte, einen weiteren Bruder in der Karibik aufzunehmen. Die Argumentation ruhte auf der Annahme, dass die Eltern wussten, wie wahrscheinlich es war, dass auch der dritte Sohn in der Karibik erkranken würde; und dass niemand die nötigen Mittel zur Verfügung haben würde, um ihn angemessen zu betreuen – so dass er leicht zu einer Last und einer Verlegenheit für die Terziers werden konnte, die doch bereits dem zweiten Comte-Sohn so große Freundlichkeit bewiesen. Die aufopferungsvolle Pflege eines Geschwisters stand auch in dem Brief im Mittelpunkt, den die verwitwete Mme Aubert im Oktober 1778 aus Saint Domingue an ihre Mutter schrieb. Mme Aubert lebte gemeinsam mit ihrem Bruder in der Kolonie und kümmerte sich derart intensiv um dessen Gesundheit, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten darüber vernachlässigte. Der Brief beantwortete unter anderem eine Anfrage der Mutter, wie es mit Mme Auberts möglicher Wiederverheiratung mit einem M. Gautier stand. Hierauf antwortete Mme Aubert, ihr Verehrer sei das Opfer „einer sehr langen Krankheit“ geworden, „welche ihn davon abhielt, seine Geschäfte zu verwalten, und daran krankt er immernoch, schließlich war er gezwungen, nach Frankreich zurück zu gehen um zu 16 Ebd.

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sehen, ob sein Heimatland ihn wiederherstellen wird“.17 Mme Aubert schien in der Tat nicht zu begeistert von der Idee einer Heirat gewesen zu sein, denn sie schrieb recht lakonisch: „Ich weiß nicht, ob er es geschafft hat, die Reise zu überstehen, denn er war in einem traurigen Zustand, aber das ist die geringste meiner Sorgen“.18 Ihre Sorgen scheinen in der Tat groß gewesen zu sein: „Der gute Gott hat uns gesegnet, denn meine Gesundheit ist gegenwärtig sehr gut, doch ich [reiße mich zusammen], denn wenn ich mich all meinem Kummer hingäbe, würde ich keine zwei Tage leben; was meinen Bruder betrifft, geht es ihm Gott sei Dank gegenwärtig gut, seine Genesung beginnt, sich zu manifestieren; es wird auch Zeit nach zehn Monaten seit dem Beginn, doch er beginnt, sich ohne zu ermüden in seine Arbeit zu werfen; er trinkt und isst gut, was die Hauptsache ist, doch all dies geschah nicht ohne viel Mühe; ich versichere Dir dass ich all meine Pflege angewandt habe, um ihn durchzubringen, für diese Genesung; doch wenn er eine französische Luft nähme [sic!] käme er wieder zu voller Kraft“.19

Auch für Mme Auberts Bruder wäre die Luft Frankreichs der beste Heiler, doch solange diese nicht verfügbar war, musste der Körper so gut es ging durch intensive Pflege und gemäßigtes Essen wiederhergestellt werden. In der ungesunden karibischen Luft war das physische Optimum kaum zu erreichen. Diese Krankheitsdarstellung unterscheidet sich deutlich von den Bildern, die Barbel und Ribuis entwarfen. In den letzteren Erzählungen trat Krankheit als etwas auf, das entweder tödlich verlaufen, oder aber sich auf lange Sicht als stärkend erweisen konnte: Wenn die Krankheit überstanden wurde, hatte der Körper das Klima 17 Ebd. 18 HCA 30/305. Mme Aubert, Saint Domingue, an ihre Mutter in Nantes, 15.10.1778: „une malladis tres lhongue qille anpeschez de faire ces affairre é avec cela est toujours mallade enfain illa etez olbligez de repacer en France pour voirre si son peiyes natalle le remetras je ne set si la pus suporter la traverser qarre ille etete dans une triste etate enfain ce le moindre de mes chagrin. [...] le bon dieu nous enface la grace pour ma santé est tres bonne pour le present mais je prens bien mois care ci je mabandonnais a tous mais chagrin je ne vivrais pas deux joure pour mon frerre dieu mercis est bien portant pour le present sa convallesence commance a parler illes bien temp depuis 10 mois du commancement mais ille commace ataque a ses afaire sent fatique ille bois et mange bien ces le prainsipalle mais cela na pas etez sans avoire bien de la pene pour lavoirre tirez je vous asure que jie bien aportez mes soin pour cete convallecence mais cille prenez une airre de France ille reviendret a son premie tomme mais illa bien perdus de ses forces“. 19 Ebd.

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überwunden und Schutz vor weiteren Attacken gewonnen. Mme Auberts Brief hingegen legt nahe, dass eine karibische Krankheit wie die ihres Bruders den Körper dauerhaft geschwächt, beschädigt und hilfsbedürftig zurückließ. Da keine Aussage von Mme Auberts Bruder vorliegt, kann nicht beurteilt werden, ob er dieser Beurteilung seines Körpers zugestimmt hätte oder nicht. Mme Auberts starke Betonung ihrer eigenen Rolle in der Genesung ihres Bruders, in Verbindung mit ihrer eigenen, nur durch eiserne Disziplin aufrecht erhaltenen Gesundheit, lässt im Rahmen der Brieferzählung das Bild einer gegenseitigen Abhängigkeit der Geschwister entstehen: So lange Mme Aubert sich um ihren Bruder kümmerte, blieb er (halbwegs) gesund und arbeitsfähig, gleichzeitig hatte sie keine Zeit, sich um ihre eigenen Sorgen zu kümmern, wodurch sie selbst gesund blieb. Die bleibende Schwäche, welche die Krankheit in ihrem Bruder bewirkt hatte, garantierte somit ihren andauernden Einsatz für seine Gesundheit und damit auch ihr eigenes körperliches Wohlbefinden. Die Schwäche des Bruders stabilisierte die physische Situation der Schwester, und womöglich auch ihre soziale Position. Mme Aubert war offenbar verwitwet. Die Notwendigkeit, im Haushalt ihres Bruders zu bleiben, um über seine Gesundheit zu wachen, mag auch eine günstige Begründung gewesen sein, um eine weitere Heirat abzulehnen, die das Ende ihrer (relativen) Freiheit bedeutet hätte. Die Idee, dass die Karibik bleibende Schäden an europäischen Körpern anrichtete – wie im Fall von Mme Auberts Bruder – findet sich auch in dem Brief, den ein M. Michel im Juli 1779 aus Martinique an seinen Bruder Antoine schrieb. „Was mich betrifft, geht es mir nicht zu gut, denn ich habe von Zeit zu Zeit Fieberanfälle, und kann nicht die Farbe zurückgewinnen, mit der ich aus Frankreich angekommen bin“.20 Wie bereits im Unterkapitel zum „Wohlfühlen“ in der Karibik deutlich geworden sein mag: Die Gesichtsfarbe, ebenso wie das Körpergewicht, waren deutliche Anzeichen körperlichen Wohlergehens und damit auch der Akklimatisierung. Wenn Michel seine Farbe nicht zurückgewinnen konnte, bedeutete das, dass seine Fieberattacken ihn nicht etwa akklimatisierten, sondern ihn im Gegenteil zusätzlich und dauerhaft erschöpften – Michels Perspektive war somit eher düster. Als der Soldat Simon Dorion an seinen Onkel schrieb, nachdem er eine schwere Krankheit überstanden hatte, besprach er seine eigene Genesung mit weitaus mehr Enthusiasmus als Mme Aubert gegenüber der Rekonvaleszenz ih-

20 HCA 30/310, Michel, Fort Royal, Martinique, an seinen Bruder Antoine Michel in Marseille, 30.07.1779: „Quant a moy ça ne vas pas trop bien car jay de tems an tems quelques accez de fievres et je ne puis reprendre la coulleur que jay apporté de france“.

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res Bruders gezeigt hatte. „Ich bete zum Herrn, dass der vorliegende [Brief] Dich in so guter Gesundheit findet, wie die meine gegenwärtig ist“, begann Simon, „da ich zwei Krankheiten hatte, eine nach der anderen, deren letztere der Blutige Fluss war; darum der Major, als er mich auf dem Boden sah [sic!], das erste Wort, was er zu mir sagte [war, dass] es ihm besser gefallen würde, mich mit einem gebrochenen Arm oder Bein zu sehen; Gott sei Dank bin ich hier, recht schnell wieder bei voller Gesundheit, was mich freut“.21

Simon Dorions Brief scheint ohne mitleidheischende Erzählungen von Leid oder Ausdrücke der Furcht und Traurigkeit ausgekommen zu sein; es sieht eher aus, als hätte er seine Krankheitserfahrung in eine respekteinflößende Anekdote verwandeln wollen. Er berichtete seinem Onkel nicht, worin seine erste Krankheit bestanden hatte, und die Geschichte vom Blutigen Fluss bestand nur aus der Episode, in der sein Major so eindeutig die Schwere seiner Erkrankung anerkannte. Dem Soldaten Simon muss diese Situation besonders geeignet erschienen sein, um seiner Leserschaft verständlich zu machen, was er durchgemacht hatte – schließlich hatte hier ein Vorgesetzter bestätigt, dass es ihm schlecht ging, und damit seine Erkrankung gleichsam „offizialisiert“. Der Major hatte gesagt, dass er es vorgezogen hätte, Simon mit gebrochenen Gliedmaßen zu sehen, folglich musste der Blutige Fluss schlimmer gewesen sein als ein gebrochenes Bein. Für Simons Zeitgenossen, die eigene Vorstellungen darüber hatten, wie gravierend welche Leiden und Krankheiten waren, muss diese Aussage höchst anschlussfähig gewesen sein; zudem trug sie den Stempel der Autorität des Majors. Simons Beschreibung seiner anschließenden Genesung war sehr klar und kompakt: Er war „recht schnell wieder bei voller Gesundheit“. Es scheint, als hätte ihm die offizielle Anerkennung seines bedauernswerten Zustandes bei der Überwindung der Krankheit geholfen. Für Krankheitserzählungen von Soldaten und Seeleuten schien die Anerkennung ihres Leidens durch Vorgesetzte, oder sogar ein Eingreifen in die Behandlung der Krankheit, eine wichtige Rolle zu spielen. Die Autorität eines Vorgesetzten konnte Beschreibungen der Gefahr, die man durchlitten hatte, Gewicht verleihen. Zudem mochte die Leserschaft zu Hause Berichte von Interventionen 21 HCA 30/287 Simon Dorion, Saint Pierre, Martinique, an seinen Onkel in Le Havre, 19.08.1778: „je prie le seigneur que la presente vous trouve dans une ausy bonne disposition comme est la miene pour Lepresen car je sort de deux maladie tout de suite dons la derniere etoit Le flus de Sang donc le Mayor quand il me vit aterre la premierre parole quil me dit quil aimeroit mieux me voir un bras ou une yanbe case dieu mercy me voila bien tot radiquallement guery ce quil me fait plaisir“.

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Vorgesetzter als Zeichen der Wertschätzung für den Briefschreiber betrachten. Monsieur A. D’Osmein etwa beschrieb in zwei am selben Tag, dem 1. Februar 1778, verfassten Briefen aufgeregt, wie sein Kapitän sich eingemischt hatte, als er in Martinique erkrankte. Der erste Brief war an D’Osmeins Eltern gerichtet: „Ich wünsche, dass dieser [Brief] Sie in einer besseren Verfassung antrifft als die, in der ich war, ich habe soeben eine Krankheit erlitten, die mich durch ein Fieber ergriff und durch einen Rückenschmerz, dass ich kaum laufen konnte; ich wurde an einem Tag dreimal zur Ader gelassen und ich musste Bäder und viele Klistiere und Purgierungen einnehmen, die mich recht schwach machten; gegenwärtig beginne ich dank dem Herrn Stück für Stück Kraft zu gewinnen; aber ich schwöre, dass die Aderlässe mich wirklich herausgerissen haben [aus der Krankheit], ich will Ihnen berichten, dass ich in meinem Kapitän mit einem ehrlichen Mann zu tun habe, denn er ist in meiner Krankheit recht oft gekommen, um mich zu besuchen, genau wie all unsere Herren; ich habe keinen Grund, mich zu beschweren, denn unser Kapitän, er hat sich gestritten [sic!] mit unserem Chirurgen wegen mir; es waren zwei Tage, an denen ich krank war, an denen [der Chirurg] mich noch nicht besucht hatte und ich hatte ihm erzählt, dass ich krank war, und so hat Monsieur Mainard ihn beschuldigt, da er wusste, dass er kommen und mich besuchen musste, allerdings war ich immer nur höflich zu ihm, ich weiß nicht, aus welchem Grund er nicht zu mir gekommen ist“.22

Der andere Brief, den D’Osmein am ersten Februar 1778 an einen Freund schrieb, erzählte eine sehr ähnliche Geschichte, zog aber eine Verbindung zu D’Osmeins karibischer Umgebung und zeichnete ein sehr viel klareres Bild des „Konfliktdreiecks“ zwischen ihm selbst, dem Kapitän M. Mainard und dem Chirurgen. 22 HCA 30/302, 01.02.1778. D’Osmein, Martinique, an seine Eltern in Bordeaux. „Je soite que la presante vous trouve dans une Meilleure disposition que ce que je viens dettre jeviens desuie une maladie qui commence a me prandre par la fievre et par un mal de Rein qu’a paine pouve je marché je fuis été seigné trois foi dans un jour et il ma falu prandre les bains et beaucoup de lavemens et de purgation qui mont Randu bien faible apresan grasse au seigneur je commance aprandre force peu apeu mais je vous promes que les seignié me lont bien tiree je vous dire que je affere a un onethomme de capitaine car dans ma maladie il ma visité bien souvent ainsi que tous nos Mesieurs Je ne N’auré pas lieu de me plindre car notre capitaine il s’est brouillé Raport a moy avec nôtre chirurgien. Il y avoit deux jours que jetais malade quil ne mavoit pas encore vû et je luy avés declaré que jetois malade pour lois monsieur Mainard le blama fort atandû quil le scavoit il devoit venir me voir cepandan jamais je ne luy ay fait que de politesse Je ne say pas a quelle aucasion Il ne venoit pas me voir“.

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„Ich wünsche, dass dieser [Brief] Sie in einer besseren Verfassung antrifft als die, in der ich war, denn ich habe eine Krankheit erlitten, die in diesem Land sehr gefährlich ist“, begann D’Osmein, und stellte so in diesem Brief direkt eine Verbindung zwischen der Krankheit und der Karibik, bzw. in seinem Fall Martinique, her. „[S]ie hat mich durch ein Fieber ergriffen & einen Rückenschmerz so, dass es mir fast unmöglich war zu laufen; sie haben mich an einem Tag dreimal zur Ader gelassen, danach musste ich Bäder und Purgierungen nehmen, was mich recht schwach gemacht hat, ich will Ihnen berichten, dass Monsieur Mainard sich während meiner Krankheit gut um mich gekümmert hat und dass er beständig kam, um zu sehen, wie es mir ging, ebenso wie all unsere Herren“.23

In diesem Brief waren der Verlauf der Krankheit und die unterschiedlichen Behandlungen, denen er sich unterziehen musste, scheinbar weniger wichtig als das Interesse, das der Kapitän ihm bezeugt hatte. Es war nicht ungewöhnlich für Briefschreiber, Details ihrer Krankheiten eher in Briefen an Eltern und nahe Verwandte zu besprechen als in Briefen an (männliche) Freunde und Bekannte. Es gibt diverse Beispiele männlicher Briefschreibender, die ihre Krankheitserzählungen in dieser Weise auf mehrere AdressatInnengruppen verteilten. Der napoleonische Offizier Lelong etwa beschrieb in einem Brief an seine Eltern ausführlich die schmerzhafte Gelbfiebererkrankung, die er durchlebt hatte, ebenso wie die dazugehörige Behandlung. Der Brief, den er an einen Freund schrieb, handelte die Krankheit hingegen sehr viel kürzer ab und konzentrierte sich vor allem auf Lelongs Tapferkeit.24 In D’Osmeins Brief an seinen Freund scheint es jedoch eher, als hätten die „generellen“ Aspekte seiner Krankheit weit weniger Bedeutung für ihn gehabt, als der besondere Moment, in dem Kapitän Mainard sich um seinetwillen einmischte. Die Beziehung zwischen D’Osmein und dem Kapitän wurde im Brief an den Freund noch weitaus mehr hervorgehoben, was sich schon in kleinen Unterschieden auf der sprachlichen Ebene feststellen lässt: Im Brief an die Eltern war der Kapitän „recht oft“ gekommen, um D’Osmein zu sehen; hier war er „beständig“ gekommen. Im Brief an den Freund erzählte D’Osmein zudem Momente großen körperlichen Unwohlseins vor allem im Kontext des Streits zwischen dem Chirurgen und dem Kapitän. „Monsieur Mainard er hat gestritten [sic!] mit unserem Chirurgen wegen mir; es gab zwei Tage, an denen ich krank war und an denen er noch nicht zu mir gekommen war, 23 Ebd. 24 HCA 32/995, Lelong, Martinique, an seine Eltern in Versailles, sowie an einen Freund in Brest, beide Briefe verfasst am April 1803. Siehe auch: Raapke, in Gelb!

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obwohl ich ihm berichtet hatte, dass ich Rückenschmerzen hatte und nicht laufen konnte, doch er nahm keine Notiz davon“.25 Während der Brief an die Eltern lediglich generell erwähnte, dass D’Osmein den Chirurgen informiert hatte, wurde hier deutlich gemacht, dass der Chirurg von der Schwere seiner Beschwerden Kenntnis gehabt hatte, der daraus erwachsenden Verantwortung jedoch nicht nachgekommen war. Die Erzählung wurde in diesem Sinne fortgesetzt: „Monsieur Mainard kam mich besuchen, der mich in großer Hitze [„Feuer“ im Original] vorfand, er fragte mich ob der [Chirurg] mich gesehen hätte, ich sagte ihm nein; er beschuldigte ihn streng, denn er hatte mich noch nicht besucht obwohl ich ihm hatte [sic!] erzählt, dass ich krank war; dann fragte ich, ob ich ins Krankenhaus gehen könnte, doch Mr. Mainard sagte [dem Chirurgen] dass er bevorzugen würde, sich in seinem Magazin um mich zu kümmern; doch [der Chirurg] war sehr im Unrecht gewesen, nicht zu mir zu kommen, denn ich war immer höflich zu ihm gewesen; und da er nicht gerne kranke Leute besucht und es fünf von uns gab, war es das, was ihn schlecht gelaunt gemacht hat“.26

In diesem Brief stand der Chirurg noch wesentlich schlechter da als im Schreiben an die Eltern. Seine verantwortungslose Verweigerung, sich um einen Patienten zu kümmern, der ihn klar über seine Beschwerden informiert hatte, und der zudem stets respektvoll ihm gegenüber gewesen war, wurde nur von der bi25 HCA 30/302, 01.02.1778. D’Osmein, Martinique, an seine Eltern in Bordeaux. 26 HCA 30/302, d’Osmein, St Pierre, Martinique, an M. Laffargue, Bordeaux, 01.02.1778: „Je soite que la presante vous trouve en Meilleure disposition que ce que je viens d’ettre car je viens desuié une maladie fort Risquse dans ce pays êlle me prit par une fievre & un mal de Rein qui metoit presque inposible de pouvoir marché on ma seigné trois fois dans un jour ensuite il ma falu prandre les beins et des purgations ce qui ma randu bien foible je vous dire que monsieur Mainard a bien eu soin de moy dans ma maladie et qui venoit chaque instans voir comme je feres ainsi que tous nos mesieur je naure pas lieu de me plindre Monsieur Mainard Il s’est brouillé avec Nôtre Chirurgien Raport a moy Il y avoit deux jour que je sois malade qu’il ne mavoit pas encore vû cepandant je luy avés declaré que javés un Mal de Rein que je ne pouvois pas marché mais Il n’an fit point de cas et monsieur Mainard vint me voir qui me trouva dans un grand feu il me demanda sile Majord mavoit vû je luy dis que non Il le blama fort dece que ne mavoit pas venu voir atandû que Le je Luy [sic!] avés dir que jetois malade pour lors je demandé à alé alopital mais Mr mainard lui dit qu’il prétenoit qu’il eut soin de moy dans son magazine cepandan il avoit bien tor de ne pas venir me voir car jamais je ne luy ay fait que des politesse mais comme Il N’aime pas avoir les malade et que nous êtions cinq c’est ce qui le Randoit de mauvois humeur“.

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zarren Aussage übertroffen, er würde „nicht gerne kranke Leute“ besuchen. Diese Nachlässigkeit wurde noch dadurch unterstrichen, dass D’Osmein (und so vermutlich auch sein gesamtes Umfeld) wusste, dass seine Krankheit „sehr gefährlich in diesem Land“ war. Die Karibik war der letzte Ort, wo man einem nachlässigen, verantwortungslosen Chirurgen ausgeliefert sein wollte. Aus dieser Perspektive sticht der Charakter des Kapitäns umso mehr heraus: der Kapitän übernahm die Rolle des Beschützers der Kranken und nahm D’Osmein unter seine Fittiche. D’Osmein selbst erschien in der Brieferzählung für den Freund weniger passiv; stattdessen betonte er mehrfach Momente, in denen er aktiv tätig geworden war. Eine weitere Krankheitserzählung, in der die Intervention eines Vorgesetzten hervorgehoben wurde, stammte vom napoleonischen Offizier Lalain, der während seiner Zeit auf Martinique ebenfalls ein typisches karibisches Fieber durchlitt. 1803 schrieb er an seine Mutter: „Diese Zeilen sollen Sie über meinen Gesundheitszustand informieren, welcher momentan recht gut ist, nichtsdestotrotz aber beeinträchtigt wurde. Vor einigen Tagen hatte ich eine so heftige Fieberattacke, dass ich das Bewusstsein verlor; als ich es wiedergewonnen und ein wenig Kraft erlangt hatte, sandte mich der General ins Hospital, wo ich von ihm besonders empfohlen wurde; dort wurde ich gepflegt und wie ein Offizier behandelt, nachdem ich einige Erfrischungen, ein Brechmittel und eine Medizin zu mir genommen hatte, verließ ich es einigermaßen wiederhergestellt, und nach einer kleinen Weile bin ich [sic!] bei meiner Arbeit wie zuvor“.27

Hier war es der General selbst, der sich für die medizinische Behandlung des jungen Soldaten verwendete, sogar im Hospital ein gutes Wort für ihn einlegte. Die Sonderbehandlung eines „Offiziers“, die Lalain dort erhielt, war deutlich eine Quelle des Stolzes – gleichsam eine Beförderung auf Zeit, die dem kranken Körper zuteilwurde. Auch in dieser Erzählung mischt sich die Vermittlung der Gefährlichkeit der neuen Umgebung mit der Darstellung der eigenen Bedeutung, 27 HCA 32/995, Lalain, Fort de France, Martinique, an seine Mutter in Frankreich, 11. Floréal, Jahr 11 der Französischen Republik: „Ces lignes sont pour vous apprendre l’état de ma Santé, qui est assez bonne dans ce moment, mais elle a cepandant été attérée. Il y a quelques jours j’eus un accès de fièvre tel violent qui me fit perdre connaissance, quand je fus revenu à moi et que j’eus pris un peu de force, le général me fit aller à l’hôpital ou je fus par lui particulièrement recommande, j’y fus soigné et traité comme un officier; après que j’eus pris quelques rafraichissements un vomitif et une médecine, j’en sortis passablement guéri, et depuis un moment, je suis à mon ouvrage comme au paravant“.

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die durch die Sorge um den kranken Körper durch einen Vorgesetzten deutlich wurde. Briefe wie die Lalains und D’Osmeins zeigen jedoch auch, wie wichtig verantwortungsvoller und kompetenter Umgang mit dem Körper waren angesichts der prekären Gesundheitssituation in der Karibik. In klaren hierarchischen Zusammenhängen wie dem Militär oder Schiffsmannschaften oblag diese Verantwortung dem Kapitän oder dem direkten Vorgesetzten. Wenn dieser seine Fürsorgepflicht für die ihm anvertrauten Körper vernachlässigte, konnte es zu katastrophalen Zuständen kommen. Ein anonymer Briefschreiber, der als Offizier in Martinique stationiert war, schrieb im Sommer 1778 aus Martinique an einen M. De Valete in Paris: „Unsere Truppen verringern sich täglich, wir sind bereits ganz verwüstet, große Zahlen von krankem Personal und Soldaten, wir haben Deflotes an ein bösartiges Fieber verloren [...] wir brauchen hier viel Ruhe, doch unser General ist der eingeschworene Feind [der Ruhe], er verlangt [die selbe] Aktivität von den Truppen wir in den Klimata des Nordens“.28

Es war höchst riskant, in dieser Weise die Grenzen zu ignorieren, die das Klima den europäischen Körpern setzte. Der Schreiber machte zwar nicht explizit den General für die hohen Krankheits- und Sterbezahlen verantwortlich, doch die Implikation ist recht deutlich, insbesondere, da der Schreiber sich im Folgenden über die Renitenz des Generals, der für die Ratschläge des Schreibers nicht empfänglich war, beschwerte. Der General war nicht willens, seine Prinzipien den karibischen Gegebenheiten anzupassen, und seine Soldaten mussten darunter leiden. Auch der Soldat Claude Dupon, der den Brief an seine Mutter einem Kameraden in die Feder diktierte, war unzufrieden mit dem General: „Ich will Ihnen erzählen, dass das Klima des Landes sehr heiß und sehr ungesund ist, was viele Krankheiten verursacht und die häufigsten sind die Schmerzen in den Beinen und heiße Fieber, was all dies verursacht ist die harte Arbeit, die der General uns an dem verdammten Fort Bourbon verrichten lässt, das vorbereitet und verstärkt werden muss wegen des Krieges, von dem in diesem Land viel die Rede ist, und alle Soldaten sind krank“.29 28 HCA 30/286, anonym, Martinique, an M. De Valete, Paris, 15.08.1778: „nos troupes diminuent chaque iour nous somes deia tres delabres qrands nombre de malades en assisiters et au soldats nous venouns de perdre de fflote dune fievre malignie, y avions besoin de beaucoub de repos, mais notre general an est lenemi deglaré, il ecxiges des troupes (unls.) activité que (?) les climats du nord“. 29 HCA 30/285, Claude Dupon, Fort Royal, Martinique, an seine Mutter, 03.08.1778: „Je vous dirai que le climat du pays est fort chaud et tres malsein, c’est ce qui cause

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Dupons Kamerad Milcent bzw. Milsan beklagte sich ebenfalls in zwei Briefen vom 3. August 1778 über die Arbeiten an den Befestigungsanlagen. „Wir arbeiten ohne Unterlass“30 schrieb er seiner Mutter. Seinem Onkel und seiner Tante berichtete er: „und wir sind recht bekümmert, mit Blick auf die große Hitze des Landes, denn wir sind gezwungen, abwechselnd alle zwei Wochen am Fort Bourbon an den Batteries und Bollwerken zu arbeiten, sehr lange, was schwere Krankheiten verursacht“.31 Zusammenhalt im Angesicht von Krankheit und körperlicher Bedrohung war von außerordentlicher Wichtigkeit in der Karibik. Europäische Körper waren angewiesen auf die Unterstützung von Freunden, Verwandten und Kollegen, ja sogar gelegentlich auf die Hilfe von Fremden, wie aus dem folgenden Beispiel ersichtlich wird. Im März 1793 schrieb M. Groignard aus Pointe-à-Pitre auf Guadeloupe an seine Mutter und berichtete von „einem heftigen Fieber, welches mich einen Monat lang attackiert hat, so grausam, dass es mir Bewusstsein und Atem geraubt hat, so dachte ich, ich wäre am Ende meiner Existenz, als ein Bewohner dieser Stadt, ein Mann des Geistes, mich vollständig aus dem Zustand errettete, auf den ich reduziert war, und mich in einen Zustand versetzte, in dem ich gegenwärtig eine gute Gesundheit genieße, obwohl ich mich nicht der gleichen Stärke erfreue, mit der ich vor meiner Krankheit ausgestattet war, dennoch hoffe ich, dass diese so bald wie möglich zurückkehren wird“.32 beaucoup de maladies et les plus fréquentes ce sont les meaux de jambes et les fievres chaudes, ce qui cause tout cela ce sont touttes ces corvées que le général nous fait faire apres ce maudit fort bourbon, qu’il faut arranger, renforcir, accause de la guerre, dont elle est fort mention dans ce pays, et tout les soldats sont malades“. 30 HCA 30/287, Milcent, Fort Royal, Martinique, an seine Mutter (möglicherweise auch seine Großmutter) in Paris, 03.08.1778: „nous travaillions sans cesses“. 31 HCA 30/287, Milsan (Milcent?), Fort Royal, Martinique, an seinen Onkel und seine Tante, 03.08.1778: „et nous sommes assez chagriner, par rapport à la grande challeur du pays, car nous sommes forcer de travailler tours per tours en quinzaines au fort bourbon apres des batteries et des ramparts, d’une grande longueur, c’est ce qui cause de grandes maladies“. 32 HCA 30/396, Groignard, Pointe à Pitre, Guadeloupe, an seine Mutter in Granville, 13.03.1793: „une fievre violente qui ma accablé depuis un mois, sy cruellement quelle mavoit oté la connaissance et la respiration je croyais alors etre a la fin de ma vie et de mon existence lorsqu’un habitant de cette ville homme desprit ma souverainement tire de létat ou jetais reduit et ma mis dans un état ou je jouis actuellement d’une bonne santé quoique je ne jouisse pas des memes forces dont jetais muny auparavant de ma maladie, jespere néanmoins que ça reviendra au plutot“.

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Ohne die Intervention des „Mannes des Geistes“ hätte Groignard – seiner eigenen Erzählung zufolge – nicht überlebt. Dass er die Erkrankung überstanden hatte (übrigens geschwächt, nicht akklimatisiert) verdankte er dem Wissen und den Fähigkeiten dieses Mannes, der vermutlich über ausgiebige Erfahrung mit den Krankheiten verfügte, die regelmäßig die Neuankömmlinge überwältigten. Die unterschiedlichen Erzählungen von Krankheit und Pflege entwarfen Bilder verletzlicher oder geschädigter europäischer Körper, die verlässliche und kompetente Hilfe benötigten. Sie zeigten zudem auf, welche Positionen die BriefschreiberInnen innerhalb unterschiedlicher Gemeinschaften innehatten, etwa Familien, Kollegengruppen, „Nachbarn“ im weiteren Sinne, oder Militäreinheiten. Gerade Militärangehörige konnten die Wertschätzung, die ihnen von ihren Vorgesetzten entgegengebracht wurde, durch Geschichten außergewöhnlicher Pflege und Aufmerksamkeit für ihre kranken Körper deutlich machen. Auch Mme Aubert konnte ihre Position und Bedeutung innerhalb ihrer kleinen karibischen Familie vermitteln, in dem sie die volle Verantwortung und Anerkennung für die Genesung und Aufrechterhaltung ihres Bruders beanspruchte. Im Unterkapitel zu Gesundheitspraktiken wurde diskutiert, inwiefern BriefschreiberInnen und AdressatInnen über das Medium Brief gemeinsam Gesundheitspraktiken vollzogen, die der Gesunderhaltung dienten. Das folgende Beispiel zeigt, dass – gemäß dem Prinzip der Offenheit der Praxis – auch Situationen eintreten konnten, in denen eigentlich nicht-gesundheitsbezogene Briefpraktiken im Nachhinein zu Praktiken gemeinsamer Gesundheitspflege werden konnten. Im März 1793 schrieb M. Testoni aus Guadeloupe an seinen Vater Rambaldi Testoni. Er berichtete von einer Fiebererkrankung, die er und seine Frau durchlitten hatten, ebenso wie seine Schwiegermutter und zwei Sklaven der Familie, und bedankte sich bei seinem Vater für die Unterstützung. Diese Unterstützung bestand in einer Sendung Makkaroni, die der ältere Testoni und seine Frau in die Karibik geschickt hatten, und die der Sohn und seine Frau während der Fieberkrankheit dankbar verzehrt hatten: „Meine Frau und ihre Maman und zwei meiner nègres und wir waren alle krank, tausend und abertausend Dank für das, was Ihr geschickt habt, ich bin betrübt, dass Ihr Euch um meinetwillen das Loto versagt habt [...] ich habe die Macaroni mit Freude gegessen, als wir krank waren, ebenso wie meine Frau“.33 33 HCA 30/396, Testoni, Guadeloupe, an Rambaldi Testoni, Le Havre, 13.03.1793: „Ma femme et sa maman et deux de mes negre et nous etions tous malade [...] avec la fievre actuellement nous se porton tous bien mil et mil remerciment de ce que vous mavez en voyez mait je suis fassez que vous vous jaitte privet du loto pour mois [...] jait manget avec plaisir les macaroni qu’on getoit malade ainsi que ma femme“.

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Der ältere Testoni und seine Frau hätten nicht wissen können, dass ihr Sohn zu der Zeit krank war, als ihre Nudelsendung bei ihm eintraf – aus Sicht des Sohnes trafen die Nudeln jedoch genau zu dem Zeitpunkt ein, als er sich in einer Gesundheitskrise befand, und wurden so zu einer wertvollen Unterstützung in seiner Genesung. Sofern Gemeinschafts- oder Familienbande existierten und funktionierten, übernahmen sie notwendige und wichtige Aufgaben sowohl innerhalb der kolonialen Arrangements als auch ihrer brieflichen Repräsentationen. Sie beschützten und verteidigten kranke europäische Körper durch die Bereitstellung von Pflege, so dass der oder die Kranke nicht gezwungen war, sich im „traurigen Zustand“ der Erkrankung um sich selbst kümmern zu müssen. In Brieferzählungen fungierte die aktive Intervention eines Pflegenden oft als Unterstreichung der Gefahr, die der kranke Körper durchleben musste, und verlieh subjektiven Beschreibungen von Angst und Krankheitsgefühl Legitimation und Autorität. Für diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer den Schutz und die Zuwendung ihrer Gemeinschaft zurücklassen mussten, bevor sie wieder genesen waren, konnte der Alltag entsprechend zur großen Belastung werden – zumindest vermittelten Brieferzählungen diesen Eindruck. M. Délibéré berichtete seiner Frau im Mai 1793 aus Saint Domingue: „Als mein Bruder und meine Schwägerin abreisten, war ich dabei, mich von einer recht schweren Krankheit zu erholen, doch diese Erholung dauerte nicht lang. Ich lebte bei den Flamaux, drei lieues von Les Cayes auf einer Zuckerplantage, wo ich nur zwei Monate blieb; heiße Fieber und ein schrecklicher ténesme haben mich gezwungen, aufzugeben und mich nach Les Cayes zurückzuziehen, da ich kein Vermögen zum Leben hatte, musste ich in der plaine arbeiten trotz meines ténesme um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Seit zwei Monaten bin ich nun bei besserer Gesundheit“.34 34 Aktuell bezeichnet der Begriff „Tenesmus“ einen konstanten, schmerzhaften Drang zur Darmentleerung trotz eines leeren Darms, was durch Entzündungs- oder Parasitenerkrankungen bedingt sein kann. Doch da einige Briefe nahelegen, dass die Krankheit Dysenterie-ähnliche Symptome aufwies und tödlich verlaufen konnte, mag die aktuelle Definition nicht mit dem Konzept des 18. Jahrhunderts, welches schwere Durchfälle beinhaltete, übereinstimmen. Da das exakte Krankheitsbild nicht definiert werden kann, wird der Terminus hier einfach im Original belassen. HCA 30/381, Délibéré, Les Cayes, Saint Domingue, an seine Frau in Becy, 10.05.1793: „Lors du depart de mon frere et de ma belle soeur jetais convalessant d’une assez forte maladie, mais cette convalessance n’a pas été longue. J’ai été demeurer aux flamaus, a 3 lieux des Cayes sur une Sucrerie, ou je n’y air resté que deux mois, des fievres chaudes et un affreux tenesme qui m’ont duré sept mois sans interruption, m’ont forcé

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Nachdem seine Familie die Kolonie verlassen hatte, musste M. Délibéré sich selbst um seine Gesundheit und um seinen Lebensunterhalt kümmern – der Zwang, trotz schlechter Gesundheit körperlich arbeiten zu müssen, war nach zeitgenössischer Ansicht der Genesung höchst abträglich, doch M. Délibéré machte seinem Namen alle Ehre und überwand trotz dieser zusätzlichen Herausforderung seines Körpers gleich zwei typische Krankheiten der karibischen Kolonien. In Délibérés Erzählung häuften sich die Schwierigkeiten, die er jedoch letztendlich alle zu meistern wusste. Zum Zeitpunkt der Briefverfassung war er laut eigenen Angaben im Kampf gegen die Revolution von Saint Domingue engagiert, beständig im Kugelhagel unterwegs und selbst nachts bis an die Zähne bewaffnet. Derartige Widerstandskraft hätten andere gut gebrauchen können. Im Januar 1793 schrieb ein M. Boisgérard aus Les Cayes in Saint Domingue an Mme Déridon und informierte sie: „Ihr Schwager [...] ist nicht mehr. Ein Fluss in der Brust hat ihn auf seiner Plantage überrascht. Da ihm die wichtigsten Dinge fehlten, die man sich nicht beschafft in der Angst vor einem neuen Aufstand; und da er vor allem nicht die kostbaren Hände an seiner Seite hatte, die es gewohnt waren, für ihn zu sorgen, hat er der Gewalt seines Leidens nur acht Tage lang widerstanden“.35

Der Brief deutet an, dass Mme Déridon Saint Domingue aufgrund der Revolution verlassen hatte, ebenso wie viele andere weiße Frauen. Ob die „kostbaren Hände“ auch die ihren waren, ist nicht klar, liegt aber nahe. In jedem Fall wurde der Mangel an vertrauter, verwandtschaftlicher Pflege als direkte Teilursache für den Tod des Mannes ausgemacht. Der Ton des Briefes ist nicht vorwurfsvoll, es scheint eher, als solle der Verstorbene als ein weiteres Opfer der Revolution dargestellt werden – schließlich konnte der kranke Mann sich aus „Angst vor einem neuen Aufstand“ nicht die notwendigen „Dinge“ zu seiner Pflege besorgen.

d’abandoner et de me retirer aux Cayes, n’ayant point de fortune pour vivre, j’ai été obligé de travailler dans la plaine malgré mon tenesme pour gagner ma vie. Maintenant il y a deux mois que je me porte mieux“. 35 HCA 30/395, Boisgérard, Les Cayes, Saint Domingue, an Mme Deridon, Bordeaux, 17.01.1793: „Votre beau frère [...] n’est plus. Une fluxion de poitrine, l’a surpris sur son habitation. Manquant des choses les plus necessaires que l’on ne se procure point dans la crainte de quelque nouvelle insurrection, n’ayant point surtout auprès de lui les mains precieuses habitués a le soigner, il n’a resisté que huit jours a la violence de son mal“.

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Sowohl in Délibérés, als auch in Boisgérards Brief wurden Szenarien entworfen, in denen die Fürsorgegemeinschaften versagten, da sie sich aufgelöst hatten. In beiden Briefen dient diese Darstellung aber auch der Hervorhebung eines anderen Aspekts: Délibéré konnte zeigen, dass er, léger formuliert, „nicht kaputtzukriegen“ war; Boisgérard konnte die Kollateralschäden der Revolution beklagen. Diese eher kritische Interpretation ist der Annahme geschuldet, dass es sowohl für den Schwager Mme Déridons, als auch für Délibéré alternative Pflegesysteme gegeben hätte, auf die sie hätten zurückfallen können. Tatsächlich kann für Délibéré nicht ausgeschlossen werden, dass er sich dieser Systeme bedient, sie aber in der Brieferzählung außen vor gelassen hatte. Diese Systeme, die sich ebenfalls in Briefen abzeichnen, bestanden anscheinend zwischen europäischen und kreolischen BewohnerInnen. Viele BreifschreiberInnen berichteten, dass sie einige Wochen oder Monate auf gesund gelegenen Plantagen verbracht hatten, um dort unter der Pflege der BesitzerInnen ihre Krankheiten auszukurieren. Der Kadett de Taillefer schrieb im August 1778 aus Martinique an seinen Vater, um ihn zu informieren, dass auch er mit einem schlimmen ténesme hatte kämpfen müssen: „Ich hatte Ihnen erzählt, dass ich bei recht guter Gesundheit war, seitdem habe ich den ténesme gehabt; es ist eine grausame Krankheit, die eine große Anzahl von Opfern dahinschlachtet, wenn man sich nicht beeilt, sie zu behandeln; ich war auf einer Plantage, wo allein die Gesundheit der Luft mir eine schnelle Genesung beschert hat, dieser habitant ist ein Landsmann von M. De Labrousse, der mich mit Freundlichkeit überhäuft hat; da ich ihm gerne meine Dankbarkeit beweisen würde, bitte ich Dich, mir zwei Fässchen des besten Weißweins zu senden, den Du finden kannst, um ihm ein Geschenk zu machen“.36

De Taillefers Brief ist ein guter Indikator dafür, wie das Pflegesystem funktioniert haben mag. Es war vermutlich die gemeinsame Bekanntschaft M. De Labrousse, der die Türen des habitants für De Taillefer geöffnet hatte. Geschenke mögen ausgehändigt worden sein, mit denen die Pflegenden direkt für ihre Mühe ausgezeichnet wurden; es ist jedoch wahrscheinlich, dass diese Praxis 36 HCA 30/287, Taillefer, Fort Royal, Martinique, an seinen Vater in Grateloup in der Nähe von Bergerac, Frankreich, 01.08.1778: „Je vous marquais que je me portais assez bien, jai eu depuis le tenesme c’est une cruelle maladie, qui moissonne bien des victims, si l’on ne s’empresse d’y remedier j’ai été sur une habitation ou la salubrité de l’air seul ma procuré un prompt rétablissement, cet habitant est un paiis a mr de Labrousse, qui m’a comblé de Bontés, comme je desirerois lui en témoigner ma gratitude, je vous prie de m’envoyer deux bariques de vin blanc du mieux que vous pouvrés trouver, pour lui en faire present“.

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auch langwierigere Netzwerke hervorbrachte, die auf Dankbarkeit und Verpflichtung beruhten und auf Dauer auch für die Pflegenden profitable waren. Einige Bewohner scheinen regelmäßig Erkrankte bei sich aufgenommen zu haben. „Seit meinem letzten [Brief] bin ich aufs Übelste von einem putriden Entzündungsfieber misshandelt worden, welches mich für 15 Tage bewusstlos gehalten hat“, schrieb ein anonymer Mann an einen Freund namens Lafitte im Juni 1777, „ich genese immer noch und wurde losgeschickt, um zwei Wochen auf einer Plantage zu verbringen“.37

Möglicherweise war dieser Mann, ebenso wie De Taillefer und viele andere, die von Kolonialbewohnern bzw. Plantagenbesitzern gepflegt wurden, ein Militärangehöriger. Es ist auch möglich, dass das Militär Arrangements mit PflanzerInnen traf, dies ist allerdings reine Spekulation. Recht eindeutig ist hingegen, dass weitsichtige Militärangehörige bisweilen ihre eigenen Abmachungen mit Ortsansässigen trafen, um im Falle einer Erkrankung guter Pflege versichert sein zu können. Der bereits mehrfach erwähnte napoleonische Offizier Lelong etwa hatte sich mit Mme Saurel, der Ehefrau eines seiner Freunde, darüber verständigt, dass er in ihrem Haus unterkommen könnte, sofern ihn das zu dieser Zeit (1803) schwer auf Martinique grassierende Gelbfieber erwischen sollte. 38 Diese Eventualität trat tatsächlich ein, und sobald Lelong die ersten Anzeichen der Erkrankung verspürte, ließ er sich wie vereinbart in Mme Saurels Haus transportieren, wo er für die gesamte Dauer seiner Krankheit und Rekonvaleszenz verblieb. Briefe, die von Militärpersonal und Schiffsbesatzungen geschrieben wurden, sind besonders interessant im Hinblick auf Krankheitserzählungen, denn in diesen Narrativen wurde Krankheit oft wesentlich dramatischer ausgestaltet als andernorts. Krankheiten töteten hier nicht nur einzelne Männer, sondern gleich riesige Zahlen, manchmal sogar ganze Regimenter. Der bereits besprochene Brief, den M. Canchon an seine Frau Mimi schrieb, behauptete, dass „100 der Männer, die in Dieppe waren“ auf Martinique gestorben wären. Ein junger Seemann namens Dessange, der seinen Brief an „Maman“ und „Papa“ verwirrenderweise mit „gehorsamer Neffe“ unterzeichnete, schrieb: „Wir haben den Großteil unserer Mannschaft ist krank und es sind alles bösartige Fieber, die sehr schlimm

37 HCA 32/313, n. 57, Anonym, Pointe à Pitre, Guadeloupe, an Laffitte, Bordeaux, 26.06.1777: „Depuis ma dernière, je été furieusement maltraiter dune fievre putride inflamatoire qui ma fait rester 15 jours sans conoissance, je suis Encore Convalessant et suis Emmene daller passer une quinzaine sur une habitation“. 38 HCA 32/995, Lelong, Fort Royal, Martinique, an seine Eltern in Versailles, 2. Floréal des Jahres 2 der Französischen Republik bzw. 23.04.1803.

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sind, fünf Seeleute sind hier gestorben“.39 Ein Mann namens Vaunier, der seiner Mutter 1793 aus dem revolutionsgeschüttelten Saint Domingue schrieb, zeichnete ein ähnliches Bild: „Ich will Ihnen berichten, dass am Cap nichts entschieden ist, wir erwarten jeden Tag Truppen, denn ein Teil von denen, die dort waren, wurden von den Krankheiten des Landes zerstört, und wir haben ungefähr ein Dutzend Männer in den Angriffen verloren. Doch wir verlieren viele mehr [und werden noch viele mehr] verlieren durch die Krankheiten des Landes; die Zahl steigt bereits auf mehr als einhundert“.40

Vaunier hatte eine dieser Krankheiten erlebt, gemeinsam mit drei seiner Kameraden – Vaunier selbst gehörte zu denen, die das Glück hatten, von einem Kolonialbewohner gepflegt zu werden: „Wir sind vier weitere, die es gehabt haben, nämlich Blavoyer, Barthelemy und Robert. Es geht uns allen gegenwärtig recht gut. Ich hatte das Glück, es zu überleben, ich bin bei einem guten Bourgeois untergebracht, der so gut zu mir war, als wäre ich eines seiner Kinder. Das Ende meiner Krankheit war die Galle, und sie sagen, dass es dies ist, was mich gerettet hat“.41

Die Krankheiten des Landes wurden hier als Hauptgefahr für die französischen Soldaten beschrieben; sie hatten sich bereits als viel tödlicher erwiesen als der Krieg gegen die Engländer oder die Revolutionstruppen. Das hier entworfene Bild der Soldaten, die in der Karibik wie die Fliegen starben, passt zu Boris Le39 HCA 30/255, Déssange, Cap Français, Saint Domingue, an Monsieur Demoulin, La Rochelle, 28.07.1778: „nous avont la moitié de notre Equipage malade et se ne sont toute que des fievre maligne qui sont tres mauveze il nous est mort isy cinq matelaux“. 40 HCA 30/395, Vaunier, Les Cayes, an seine Mutter in Frankreich, 12.01.1793: „Je vous dirai qu’au cap il ny à encore Rien de terminé on y attend tous les jours des troupes. Car une partie de Celles qui y etoient sont détruites par les maladies du pays, nous avons perdu aux environs de douze hommes aux attaques. Mais nous en perdons et perderons beaucoup plus par les maladies du pays le nombre monte dejà à plus d’un Cens. Nous sommes encore quatre qui l’ont eue, qui sont Blavoyer, Barthelemy et Robert. Nous nous portons tous assez bien à présent. J’ai eu le bonheur de m’en retirer je suis logé chez un bon bourgeois qui a eu des attentions pour moy comme pour un de ses enfans. La fin de ma maladie a été la Galle et l’on prétend que c’est ce qui ma sauvi“. 41 Ebd.

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sueurs eingangs zitierten Erläuterungen der gesenkten Rekrutierungsstandards der französischen Armee für die kolonialen Truppen. Angesichts der großen Morbidität und Mortalität in der Karibik wurde vor allem die „zweite Güteklasse“ der französischen Kampfkräfte über den Atlantik entsandt. Allerdings legen die Zahlen, welche die Soldaten in ihren Briefen angaben, nahe, dass Soldaten besonders stark von Krankheiten betroffen waren. Sofern man diese grundsätzliche Einschätzung (wenn auch nicht unbedingt die genauen Zahlen) akzeptiert, wären die offensichtlichsten Gründe hierfür die Lebensbedingungen der Soldaten; die körperliche Nähe einer großen Zahl von Körpern, was die Verbreitung von ansteckungs-, insekten- und parasitenübertragener Krankheiten begünstigt. Der Kadett De Taillefer, dessen Ténesme hier bereits besprochen wurde, kommentierte die Gesundheitssituation seines Regiments auf einem kleinen Zettel, den er seinem Brief beifügte: „Ich vergaß, Sie über den Tod eines jungen Capitaine zu informieren; er wurde von einem sehr gewaltsamen Fieber angegriffen, dem er am 4. Tag zu Opfer gefallen ist; Die Beförderung des ersten Lieutenants dieser Kompanie macht mich zum dritten Kadetten; ich bin allerdings sehr betrübt, durch das Unglück meiner Kameraden die Ränge hinaufzusteigen; es scheint mir, als wären Sie recht gut unterrichtet darüber, was in diesem Land geschieht; wenn, wie man Ihnen erzählt hat, die Sous-Lieutenants nichts als Gemüse essen, was haben dann die armen Kadetten zu essen mit 17# im Monat“.42

Angesichts des Umstands, dass De Taillefer seinem Vater gerade von der schweren Darmerkrankung berichtet hatte, die er erlitten hatte, wäre diese Andeutung seiner extrem schlechten Ernährung für seine Eltern wahrscheinlich höchst erschreckend gewesen. Einerseits deuten die Brieferzählung anderer niedrigrankender Soldaten, die 1778 in Martinique stationiert waren, darauf hin, dass die Ernährung vermutlich nicht ganz so schlecht war, wie De Taillefer sie hier darstellte. Andererseits zeigen weitere Quelleninformationen aus den Archives Nationales d’Outre-Mer, dass De Taillefers körperliche Situation tatsächlich nicht 42 HCA 30/287, Taillefer, Fort Royal, Martinique, an seinen Vater in Grateloup near Bergerac, Frankreich, 01.08.1778: „J’omettais de vous informer de la mort d’un jeune Capne il a été attaqué d’une fièvre très violente qui la rendu victime, le 4e jour; la promotion du premier lieutenant a cette compagnie me fait le troisieme cadet, je suis cependant très faché de gagner des rangs au détriment de mes camarades, vous voyes qu’il n’y a pas autant de movement comme on le croyait; il nous en coutte fort cher, et nous vivons asses mal; il me parait que vous etes fort instruit de ce qui se passé en ce païs; si comme on vous a dit les souslieutenants ne mangent que des legumes, & que doivent manger les pauvres cadets a 17 # par mois“.

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besonders gut war und sich nach dem Sommer 1778, als der Brief geschrieben wurde, noch verschlechterte. Der überlieferten Dokumentation zufolge stieg De Taillefer tatsächlich weiter „die Ränge hinauf“ (hoffentlich nicht nur über die Leichen seiner Kameraden), doch seine Gesundheit ließ immer mehr nach. Am 12. Februar 1779, sechs Monate nach dem Versand des Briefes, musste De Taillefer Martinique verlassen und nach Frankreich zurückkehren, um sich zu erholen. Genau wie sein Brief kam auch er nicht wie geplant an: 150 Meilen vor der französischen Küste wurde sein Schiff von Engländern gekapert und er gefangen genommen.43 Weitere Faktoren, die oft in Krankheitserzählungen von Militärangehörigen genannt wurden, sind körperliche Anstrengung, Kampfhandlungen und fehlender Schutz vor Witterung und Fauna. Der Grenadier Loyauté, genannt Beausoleil, informierte seinen Bruder: „Wir sind kurz davor, in den Bergen zu kampieren, wo wir die Freude haben, die Schlangen pfeifen zu hören“.44 Ein M. Tamisier schrieb im Juni 1779 aus Martinique an seinen Vater und berichtete, dass „es uns sogar zugestoßen ist, in unserem letzten Manöver in St Lucia, vier Tage Regen zu haben ohne Unterbrechung, und gezwungen zu sein, ihn beständig auf den Körper zu bekommen, da die Außenposten keine Zelte haben; ich hatte ein schreckliches Fieber, das durch den Regen, den ich erlebt hatte, ausgelöst wurde“.45

Im strömenden tropischen Regen oder inmitten von Schlangen übernachten zu müssen, war eine deutlich harschere Konfrontation mit der karibischen Umgebung, als die meisten nicht-militärischen EuropäerInnen erlebten. Hinzu kamen die üblichen „Berufsrisiken“ von Soldaten, etwa die Gefahr der Verletzung oder des Todes im Kampf. Das verregnete Manöver in St Lucia hatte in beiderlei Hinsicht schwerwiegende Folgen für einen Mann namens Francazal, genannt Belfin. Er schrieb seiner Mutter:

43 Archives Nationales d’Outre-Mer (ANOM): FR ANOM COL E 375, Onlinereferenz: ark:/61561/up424wqxpsun, Zugriff 03.05.2016. 44 HCA 30/287, Loyauté dit Beausoleil, Martinique, an seinen Bruder in der Champagne, 12.06.1778: „Nous sommes à camper dans les montagnes, La ou nous avons le plaisir d’entendre les serpents siffler“. 45 HCA 30/310, Tamisier, Martinique, an seinen Vater in Frankreich, Juni 1779: „Il nous est arrive meme dans notre derniere champagne, a Ste Lucie d’avoir quattre jours de pluye sans discontinuer et etre obliges de l’avoir toujours sur le corps, parceque les postes advances n’ont pas des tentes, j’eus une fievre terrible occasionnée par la pluye que j’avois essuyé“.

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„Ich war sehr gefährlich krank seit wir die Belagerung von St Lucie gemacht haben, was eine Insel ist, die die Engländer uns weggenommen haben und wo wir viele Männer verloren haben, weil wir rechnen dass mehr als 4 Tausend dort geblieben sind, wir haben es noch nicht erfahren, und wo ich am Bein verletzt wurde, doch der gute Gott hat mir die Gnade erwiesen, dass ich mich davon erholt habe, denn ich bin mehr als 6 Monate im Hospital geblieben“.46

Eine Krankheit, die vor allem in warmen Klimata zu finden war und sich als besonders gefährlich für Soldaten erwies, war Gelbfieber. Geneviève Léti hat Statistiken für Gelbfieberfälle im martiniquaisischen Militär im Jahr 1802 bereitgestellt. Zwischen Oktober und Dezember dieses Jahres starben 279 Mitglieder des Militärpersonals der Insel, hinzu kamen 20 Mitglieder der höheren Militärverwaltung.47 Insgesamt erkrankten im Jahr 1802 57% der auf Martinique stationierten Soldaten und Militärangehörigen an Gelbfieber; 1803 waren es 44% und 1804 40%.48 Angesichts dieser Zahlen ist es nicht erstaunlich, dass Gelbfieber, im Vergleich zum weniger spezifischen, deutlich häufiger auftretenden „fièvre putride et maligne“, eine besondere Rolle in Brieferzählungen einnahm und deutlich ausführlicher behandelt wurden. Die karibischen Kolonien erlebten mehrere große Gelbfieberausbrüche zwischen 1744 und 1826. Der französische Offizier und Wissenschaftler Alexandre Moreau de Jonnès, der den Gelbfieberausbruch 1802/03 auf Martinique erlebte und einige Jahre später seine Beobachtungen der Epidemie veröffentlichte, betrachtete die Karibik als einen besonders fruchtbaren Boden für die Krankheit: „Die lange Serie zufälliger Ursachen wird von einer Menge physischer Umstände gebildet, welche in Europa keine direkte Gefahr darstellen, in den Antillen jedoch plötzlich die Invasion des Gelbfiebers determinieren [...] die Regenfälle der hivernage [...] die Kraft der Sonne im Zenit, wenn man ihr über längere Perioden ausgesetzt ist, die plötzliche Kälte, die ein Windstoß auslöst, wenn man schweißgetränkt ist; eine ermüdende Tour zu Pferd oder zu Fuß, eine gestörte Verdauung, ein zur falschen Zeit genommenes Bad; ein Aderlass, der auf falsche Indikation durchgeführt wurde oder, wie es häufig passiert, um die 46 HCA 30/310, Francazal (?), genannt Belfin, Saint Pierre, Martinique, an seine Mutter in der Nähe von Toulouse, 03.07.1779: „j’ai été tres dangereusement malade depuis que nous avons fait le siege de Ste Lucie c’est une isle que les anglois nous ont pris et ou nous avons beaucoub perdu du monde car on compte qu’il en a resté plus de 4 mille sur la place ancore nous ne l’avons pas cue, et ou jai ete blesé a la jambe mais le bondieu m’a fait la grace d’en guerir car jai resté plus de 6 moys a l hospital“. 47 Léti, Santé, S. 124/125. 48 Ebd., S. 124.

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Krankheit zu verhindern, die im Gegenteil dadurch beschleunigt wird; die falsche Verwendung von Medikamenten und vor allem von erfrischenden Getränken“.49

Es ist bemerkenswert, dass Moreau de Jonnès a) die besondere Gefährlichkeit der Antillen im Vergleich zu Europa betonte, und dass er b) menschliches Versagen in seine Liste der typischen kolonialen Gefahrenfaktoren aufnahm. Seine Ausführungen wiesen darauf hin, dass Europäer bei der unreflektierten Überführung ihrer laienmedizinischen Gesundheitspraktiken aus der Heimat in die Kolonien mit unerwarteten und unangenehmen Folgen rechnen mussten. Während die milden, kühleren Klimata Europas eine falsche oder kontraindizierte Selbstbehandlung verzeihen mochten, kannten die harschen und in sich schon gefährlichen Konditionen der Karibik keine solche Großzügigkeit. Moreau de Jonnès ging davon aus, dass die unterschiedlichen Gesundheitsgefahren der Karibik in einer Art Dominoeffekt reagieren würden: Der kleinste Fehltritt in Gesundheitsfragen konnte alle Steine auf einmal einstürzen lassen und anstatt in einem Ärgernis gleich in einer Katastrophe enden – denn aus zeitgenössischer Sicht war Gelbfieber oft nicht weniger als ein absolutes Desaster. Laut aktuell (2018) gültigen medizinischen Definitionen fällt Gelbfieber in die Kategorie der hämorrhagischen Fieber. Es ist nicht ansteckend, sondern wird von Moskitos übertragen. Der Verlauf der Krankheit beginnt mit schwerem Schüttelfrost, Rücken- und Kopfschmerzen, danach folgt ein hohes Fieber. Auf dem Höhepunkt des Fiebers präsentieren sich Gelbsucht und das Erbrechen von halbverdautem (schwärzlichem) Blut50, Blutungen der Augenbindehäute sowie der Mund- und Nasen49 Archives Départementales de la Martinique, RES D 109. Alexandre Moreau de Jonnès: Précis sur l’irruption de la fièvre jaune à la Martinique, en 1802 (extrait du bulletin de la société médicale d’émulation, Avril 1806. Par l’aide-de-camp Moreau de Jonnès: „La longue séie des causes accidentelles se forme d’une foule de circonstances physiques qui ne presentment, en Europe, aucun danger eminent, mais qui determinant soudainement, aux Antilles, l’invasion de la fièvre jaune. [...] Les pluies de l’hivernage [...] l’ardeur du soleil au zenith, quand on y est exposé long-temps, le froid subit que cause un courant d’air, lorsqu’on est baigné de sueur, une course pénible à cheval où à pied, une digestion trouble, un bain pris à contre-temps, une saignée faite sur une fausse indication, ou, comme il arrive souvent, pour prevenir la maladie, dont au contraire elle hâte l’apparition, l’abus des medicaments et sur-tout des boissons rafraîchissants“. 50 Siehe beispielsweise die Definition für Gelbfieber, die von der Weltgesundheitsorganisation zur Verfügung gestellt wird. http://www.who.int/csr/disease/yellowfev/en/, Zugriff 25.07.2016: „In her work on yellow fever and the Romantic imagination, Debbie Lee described the frightful symptoms of the disease as contemporary onlook-

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schleimhäute können folgen. Im 18. Jahrhundert löste die Krankheit schiere Panik unter jenen Bevölkerungsteilen aus, die als besonders anfällig betrachtet wurden, nämlich junge weiße Männer, etwa Soldaten. Alexandre Moreau de Jonnès schrieb, dass „furchtbare Angst und Schrecken waren unter den ersten Auswirkungen [...] Offiziere, die dem Tod in der Schlacht eintausend Mal tapfer ins Auge gesehen hatten, verweigerten sich, jene Pflichten auszuführen, die sie in die Hospitäler gerufen hätten; die am wenigsten abergläubischen Männer trugen alle Arten von Amuletten um ihre Hälse, welche schützende Eigenschaften haben sollten“.51

Obwohl, wie auch hier bald gezeigt werden wird, auch Frauen an Gelbfieber erkrankten (und starben), betrachteten zeitgenössische Beobachter wie Moreau de Jonnès junge, virile Männer als die bevorzugten Opfer der Krankheit. Im August 1778 schrieb ein anonymer Offizier aus Martinique an seinen Freund Kyné: „es ist ein verfluchter Ort, wo man beständig in [Gefahr] ist, krank zu werden; bis jetzt habe ich mich gut gehalten, doch die häufigen Beispiele, die wir unter unseren Augen haben, lassen uns zittern; wir haben zudem am zweiten dieses Monats einen Kapitän des Regiments beerdigt [...] auf der Parade am 29. Juli hielten wir ihn für denjenigen unter uns, dessen Gesundheit die Beste war; der auch der Kräftigste war, und eine Stunde später wurde er ins Hospital gebracht wo er am vierten Tag starb; wie Sie sehen, es lässt einen

ers might have seen it: Not only would the patient’s eyes turn watery and yellow, but the whole face would change, appearing „unnatural“, denoting „anxiety“ and „dejection of mind“. Finally, it produced delirium and sometimes madness. During its progress, doctors noted changes ‚in the great mass of blood itself‘, which became putrefied and oozed from the gums, nose, ears, and anus. The skin turned from flush to yellow or light brown. But it was in the final stages that patients underwent the worst of all symptoms: The black vomit, described variously by medical experts as resembling coffee grounds, black sand, kennel water, soot, or the meconium of a newborn child“. Lee, Debbie: Slavery and the Romantic Imagination, Philadelphia 2002, S. 48. 51 Alexandre Moreau de Jonnès: Monographie historique et médicale de la fièvre jaune des Antilles, et recherches physiologiques sur les lois du développement et de la propagation de cette maladie pestilentielle, lues à l’Académie Royale des Sciences de l’Institut de France, dans les séances du 6 Décembre 1819, 17 Avril et Juin 1820, Paris 1820, S. 93 f.

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nicht dahinsiechen; er hatte ein Gelbfieber, was ungefähr die gleiche Krankheit ist, die ich vor achtzehn Monaten hatte“.52

Diese Erzählung ist etwas zwiespältig. Einerseits vermittelt sie den Eindruck, dass die Krankheit Männer auf dem Höhepunkt ihrer körperlichen Kraft bevorzugte, so wie den Kapitän, der sich aus Sicht seiner Kameraden praktisch direkt vor seinem Tod durch seine besonders gesunde Erscheinung hervorgetan hatte. Aus dieser Perspektive hätte der Schreiber sich selbst implizit zu den kräftigsten, virilsten Männern zählen können, da er schon achtzehn Monate zuvor Gelbfieber erlitten und überlebt hatte. Andererseits kann die Geschichte auch als warnendes Beispiel dafür gelesen werden, dass der Schein trügen kann: Während der Kapitän noch dabei war, bei scheinbar allerbester Gesundheit seine Pflichten auf der Parade zu verrichten, wurde sein Körper im Stillen bereits von der Krankheit verwüstet, die ihn in wenigen Tagen töten würde. Hier wird zur ersten Interpretation tendiert: Für zeitgenössische Betrachter lag ein Großteil des Schreckens von Gelbfieber darin, dass es so schnell zuschlagen konnte. Die Komposition der Geschichte unterstreicht das unerwartete Ausbrechen der Krankheit, ebenso wie ihren rapiden Verlauf. Innerhalb dieser Erzählstruktur war der Kapitän während der Parade tatsächlich noch bei bester Gesundheit, nur eine Stunde später jedoch schon schwer erkrankt. Wenn das Ziel der Erzählung darin bestand, die furchtbare Macht der Krankheit zu verdeutlichen, war die erzählerische Konfrontation eines besonders starken und fitten Mannes mit dem Gelbfieber wohl der beste Weg. Der Schreiber des Briefes fuhr fort, indem er Kyné berichtete, dass eine Infektion mit Gelbfieber (anders als „normale“ karibische Fieber) nicht davon abhing, ob ein Körper bereits an das Klima gewohnt war: „[Der verstorbene Kapitän ist] der Bruder von Virvence aus dem Régiment de Guiane, den Du vielleicht kennst; er ist der fünfte, den wir in diesem Land verlieren, zwei, seit ich hier bin; zwei mehr vor unserer Ankunft und der fünfte, der in Saint Domingue getötet wurde; dieser letzte Tote hätte akklimatisiert sein müssen, denn er ist mit unserem ersten Batail52 HCA 30/286, Anonym, Fort Royal, Martinique, an Kyné, Frankreich, 09.08.1778: „sait un fichu endroy ou lon aist toujour dan Les [danger] de tomber malade jusqua praison Jai tenue bon mais les examples fréquans que nous avons sou les yeus fonts trambler; nous avons encor antarré Le deus de se mois un Capitaine du régiment, il me suivoit immediatement, nou Le [jugions] a la parade le 29 Juillet pour aistre seluy de nous touces qui se portait le mieu saroit bien auci le plus vigoureux et une heur aprais il fut porté a lhopitale ou il est mor le quatrieme jour ils ne les font point Languier comme vos voyais il avoit une fievre jaune, sait a peu prais la maladie que jay eu il y a dix huit mois“.

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lon hierher gekommen, doch ich denke, dass dies hier nicht viel Unterschied macht, denn wir haben mehrere aus dem Régiment de la Martinique beerdigt, unter ihnen zwei Kreolen; jung und von guter Konstitution, die beide nicht viel länger ausgehalten haben; es ist so, dass dies ein f…[wie im Original!] Land ist, ich wiederhole es“.53

Dieses ist ein weiterer wichtiger Aspekt der Brieferzählung. Wenn zwei Kreolen, die beide jung und fit waren und gebürtig aus dem karibischen Klima stammten, am Gelbfieber sterben konnten, bedeutete dies, dass weder die Kraft und Robustheit des Körpers, noch dessen Kompatibilität mit dem Klima einen Schutz vor der Krankheit bieten konnten. Die wiederholten Flüche des Offiziers, der „das Land“ als „un f…peis“ bezeichnete, können in diesem Kontext als Empörung über den Mangel an „Fair Play“ interpretiert werden, den die Karibik an den Tag legte. Für EuropäerInnen des 18. Jahrhunderts wäre es wahrscheinlich logisch gewesen, dass Menschen an tropischen Fiebern erkranken und sterben konnten, wenn sie entweder geschwächt oder nicht mit dem Klima kompatibel waren. Wenn jedoch sowohl Körperkraft, als auch Akklimatisation vorlagen und der betreffende Mensch trotzdem noch erkrankte und starb, hieß das, dass „das Land“ sich nicht an grundlegende europäische Prinzipien von Krankheit und Gesundheit hielt und somit nicht vertrauenswürdig war. An diesem Punkt der Erzählung wurde der bereits besprochene Aspekt von Verantwortung und Pflege innerhalb der Militärgemeinschaft thematisiert. Der Offizier war der Ansicht, dass sein General die ihm anvertrauten Körper nicht mit der notwendigen Rücksicht und Fürsorge behandelte: „Und in diesem Land, wo man für die Männer Sorge tragen sollte, die doch schon das Klima bekämpfen müssen, verlangt er mehr als in Frankreich; unsere Soldaten haben nur zwei, maximal drei Nächte Erholung, die vierte im Wachdienst, und das an diesem Moment hier, welcher der heißeste Zeitpunkt ist da wir uns in den Hundstagen befinden; Paraden oder Schießübungen fast jeden Tag; die Milizen haben sogar noch mehr Grund sich zu beschweren, sie sind acht aufeinanderfolgende Tage an der Küste auf Wache, ohne bezahlt zu werden [unleserliches Wort folgt]; [der General] ist recht jung, um ein solches 53 HCA 30/286, anonym, Martinique, an Kyné, Frankreich. 09.08.1778: „sait le fraire de virvence du regiment de guienne, que peutaitre vous connoissay sait le sinquieme que nous perdons dan se peis ci; deus depuis que j’y suis, deus avant notre arrivé et le sinquieme qui a été tué a St Domingue; se dernié mort auroit due aittre aclimaté car il y est venue avec notre premier bataillon, mais je crois que se ni fait point grand chause car nous en avons antarré plusieurs du régiment de la martinique dont deux créolle jeune et bien constitué qui nont point trainé beaucoup plus long tant; sai que sait un f…[omission in the original] peis, je le repaite“.

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Land zu regieren, welches einen reifen Mann braucht, der die Interessen der Bewohner zu versöhnen weiß, ohne die des Königs zu vernachlässigen“.54

Dies ist schon der zweite hier zitierte Brief, der im August 1778 auf Martinique abgefasst wurde und das verantwortungslose Verhalten des Generals thematisierte und ihm implizit die hohe Mortalität und Morbidität unter den Soldaten anlastete. Dieser Schreiber (der im Übrigen durchaus auch der Verfasser oder „Diktierer“ des anderen Briefes gewesen sein mag) schrieb den General jedoch nicht einfach als inkompetent ab, sondern argumentierte, dass der Mann schlicht zu unerfahren für den Posten sei. Die Konsequenzen waren jedoch dieselben: Gesunde Körper, sogar Leben wurden riskiert, weil der General nicht in der Lage oder willens war, seine Ansprüche den karibischen Bedingungen anzupassen. Dieser Mangel an Flexibilität bedeutete, dass er seine Schutzbefohlenen im Angesicht eines tödlichen Feindes – Gelbfieber und andere karibische Krankheiten – im Stich ließ. Gelbfieber überlebt zu haben schien für einige Briefschreiber ein Ereignis gewesen zu sein, das es verdiente, im Detail berichtet zu werden. An dieser Stelle soll eine dieser langen Gelbfiebererzählungen genauer untersucht werden. Es stammt aus der Feder eines Regimentskapitäns und ist das „jüngste“ in dieser Arbeit beleuchtete Dokument – der Verfasser, Capitaine D., schrieb es 1826 in Fort Royal, Martinique. Dieser Brief ist nicht Teil der Prize Papers, er ist zufällig und außerhalb eines größeren Überlieferungskontextes in den Archives Départementales de la Martinique erhalten. Fast der gesamte Brief ist der Gelbfieberepisode gewidmet, die der Capitaine und seine Frau erlebten. Aus diesem Grund wird hier ausnahmsweise eine nahezu komplette Brieftranskription wiedergegeben. Was diesen Brief von anderen Gelbfiebererzählungen unterscheidet und diese ausführliche Wiedergabe rechtfertigt, ist, dass Capitaine D. auch die Erkrankung seiner Frau beschrieb, die mit ihm in seinem Militärquartier lebte. Da es wesentlich häufiger vorkam, dass Frauen in der Karibik die Erkrankungen von Männern beschrieben als umgekehrt, und da viele Zeitgenossen dazu tendierten, das Gelbfieber der Karibik als eine Krankheit weißer Männer aufzufas54 Ebd.: „et dans ce peis ci ou lon devrois avoir souain des homme qui onts déjà fors afait que de combatre le clima, il exige plus quen France; nos soldats nonts que deus ou trois nuits auplus de bonne, La quatrieme au Cordegarde, et dan se moment ici, qui est instant le plus chaud etant dans la canicule , lexercice ou la cible praique tous les jours; les milices onts encor plus a se plaindre, ils sonts de garde huit jour de suite sur les cotes sans aitre payé [unleserlich] Il est bien jeune pour gouverner un péis comme seluyci que qui a besoin dun homme mur, qui sache concilier les interais des abitans, san negliger seues du roy“.

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sen, verdient diese seltene Darstellung der Gelbfieberepisode einer Frau eine detaillierte Betrachtung. Am 26. Juni 1826 schrieb Capitaine D.: „Monsieur, ohne Zweifel hat die Verspätung, [mit der ich Ihnen schreibe], Sie vermuten lassen, dass wir Opfer des Gelbfiebers sind, welches in diesen Landen solche Verwüstung angerichtet hat. Ich bin glücklich, Ihnen sagen zu können, dass Sie sich irren (sofern dies Ihre Annahme ist), wir waren davon betroffen, das ist wahr, aber wir sind nicht erlegen, und Gott sei Dank sind wir voller Leben und bei guter Gesundheit. Wenn ich in irgendeinem anderen Land wäre, hätte ich Ihnen meinen Müßiggang gestanden und mich verurteilt dafür, dass ich Sie so vernachlässigt habe, doch glauben Sie mir dass die große Hitze uns hier so mitnimmt, dass man uns verzeihen muss, wenn wir gegenüber den Personen, denen wir am Herzen liegen, etwas ins Hintertreffen geraten. Sie wurden zweifellos durch öffentliche Information über die Verluste unterrichtet, welche die Regimenter erlebt haben, die letztes Jahr auf den Antillen angelandet sind; wie auch immer die Berichte, die man über dieses Thema verfassen konnte, sie können nur schwach die schmerzhafte Lage wiedergeben in der wir uns wiederfanden; nur mit Mühe kehrt man [thematisch] zu solch schmerzhaften Umständen zurück. Wenn unsere Ärzte jeden zweiten Tag schreiben, dass diese Krankheit nicht ansteckend ist, glaube ich dies, doch sie ist epidemisch und verbreitet sich leicht; dieses Jahr oder eher während der letzten hivernage hat sie jene Gegenden der Insel zu ihrer Heimat gemacht, die zuvor angesichts ihrer Situierung als unzugänglich betrachtet wurden; in einem Teil den man den Vent de l’Isle nennt, wo es zwei Gegenden gibt, die als die Gesündesten der Insel gelten, la Trinité und le Maune; das Fort Bourbon, welches das Fort Royal überblickt, befindet sich auf dem Gipfel eines Hügels und empfängt ganz die Winde aus dem Norden und dem Osten, und ist zum größten Teil von den Winden aus dem Süden geschützt, welche die gefährlichsten sind. Es ist an diesem Ort, der absolut nichts außer einer Garnison ist (welche zu dieser Zeit von 12 Kompanien des Regiments bevölkert war); weit weg von jeder gesunden, gutgelüfteten Habitation, dass dieser Teufel von einer Krankheit sich eingenistet hat, und man muss den schnellen Fortschritt, den sie von einem zum anderen Moment macht, sehen, um ihn zu glauben; man verlässt jemanden gesund, eine Stunde später hört man, dass er ins Krankenhaus gebracht wurde, und einen Tag später von seinem Tod“.55 55 Archives Départementales de la Martinique, Série J, 1 J 187. Brief von Capitaine D. an unbekannt, 18.06.1826: „Sans-doute que le retard que j’ai mis à vous écrire a du vous faire présumer que nous sommes victimes de la fiévre jaune qui a fait tant de ravages dans ces contrées. Je suis charmé de pouvoir vous apprendre que vous êtres dans l’erreur (si telle est votre opinion) nous en avons été attaint il est vrai, mais nous n’avons pas succombé, et Dieu merci nous sommes pleins de vie et de bonne santé. Si j’étais en tout autre pays, je viendrais vous avouer ma paresse, et passer condamnation

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de vous avoir ainsi négligé, mais croyez qu’ici les grandes chaleurs nous affaissent tellement que nous sommes pardonnables de rester un peu en arrière avec les personnes qui nous portent intérêt. = vous avez sans doute été instruit par la voie publique des pertes éprouvées par les Régiments débarqués aux Antilles l’année dernière, quelles que soyent les rapports qu’on a pu faire de ce sujet, ils ne peuvent rendre que bien faiblement la pénible position oú nous nous trouvions, on ne revient qu’avec peine sur de si pénibles circonstances. = Si nos médecins écrivent tous les jours que cette maladie n’est pas contagieuse, je le crois, mais elle est épidemique et se propage facilement, cette année ou plutôt l’hyvernage dernière, elle a établi son foyer dans les endroits de l’isle qui, jusqu’aujourd’hui avaient été regardés comme inaccessibles vu leur position, Le Fort Bourbon dominant le Fort Royal, est situé au haut d’une Colline recevant ein plein les vents du Nord, et d’Est, et à moitié abrité des vents du Sud qui sont les plus dangereux. C’est à cet endroit qui n’est absolument qu’une caserne (qui dans ce tems était occupée par 12 compagnies du Régiment) éloignée de toute habitation bien saine, bien aérée, que cette diablesse de Maladie est venue se nicher; et il faut l’avoir vu pour croire les progrès rapides qu’elle fait d’un instant à l’autre, on quitte quelqu’un de bien portant, une heure près on apprend qu’il a été porté à l’hôpital et le lendemain sa morte. Les matins et soirs on aurait juré que c’était une procession (car le jour on ne portait personne à cause de la grande chaleur) on voyait portée vingt, trente hamacs ayant chacun un homme dedans, et souvent il est arrivé que de ceux qui portaient leurs camarades, un ou deux se trouvaient attaqués en route ou quand ils arrivaient, ils se mettaient au lit en même tems que celui qu’ils avaient porté, et mouraient avant lui. . Des hommes montaient la garde on leur portait la loupe de la caserne, on n’était pas surpris d’apprendre qu’ils étaient rendus à l’hôpital l’instant d’avant, et le lendemain on envoyait leur billet de mort, il y aurait mille exemples à citer. Le peu d’officiers qui restaient n’osaient pas s’interroger le Matin quand ils se voyaient, on se parlait en tremblant; Eh bien, quelle nouvelle disait l’un? On a porté cette nuit tel, tel à l’hôpital, tel et tel sont morts, tel autre ne passera pas la journée, nous avons tant d’hommes morts cette nuit &c. Voila monsieur la vie que nous avons passé pendant près de trois mois, et notre conversation roulait toujours sur le spectacle que nous avions devant les yeux, à chaqu’instant on attendait son tour= enfin le mien ou plutôt le nôtre est venu (nous n’étions plus que deux capitaines pour le Service) car nous sommes tombés malades tous les deux presqu’à la fois, mon Epouse la première, j’écrivis de suite au Chirurgien Major du Regimt de venir la voir, il me répondit qu’il lui était impossible de se ??, ayant trop de malades qu’il ne pouvait abandonner, il me dit que le seul parti qu’il y avait a prendre était de l’envoyer à l’hôpital qu’il allait y faire préparer une chambre et la recommander aux sœurs. malgré la repugnance qu’éprouva Mme D.? à la réception de cette lettre il n’ y eut plus à délibérer, il fallut se décider, nous fûmes donc pour la procession du 4 8bre au soir, et

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Bis hierher passt der Brief des Capitaine gut zu anderen MilitärkontextErzählungen von Gelbfieber. Der Capitaine betonte die Geschwindigkeit der Krankheit und die Verheerungen, die sie unter den martiniquaisischen Regimentern anrichtete. Die Personifizierung der Krankheit als erzählerisches Mittel findet sich ebenfalls in diversen anderen Gelbfiebererzählungen, die von Militärangehörigen verfasst wurden. Dann beginnt der Brief jedoch, sich von den anderen Beispielen abzusetzen, indem er in großem Detail beschreibt, wie die Epidemie und ihre grausigen Folgen im Alltag gehandhabt wurden. Der Capitaine schrieb: „An den Morgenden und Abenden hätte man geschworen, dass es sich um eine Prozession handelte (denn während des Tages trägt man niemanden aufgrund der großen Hitze), man sah zwanzig, dreißig Hängematten getragen, jede mit einem Mann darin, und oft geschah es, dass von jenen, die ihre Kameraden trugen, einer oder zwei unterwegs oder als sie angekommen waren angegriffen wurden, sie legten sich zur selben Zeit ins Bett wie diejenigen, die sie getragen hatten, und starben vor ihnen. Männer stiegen zur Wache hinauf, man brachte ihnen la Loupe aus der Garnison, man wunderte sich nicht, zu hören, dass sie einen Moment zuvor ins Krankenhaus gebracht worden waren, und am nächsten Tag sandte man ihren Totenschein, es gäbe eintausend Beispiele zu zitieren. Die wenigen Offiziere, die blieben, getrauten sich am Morgen, wenn sie sich trafen, nicht zu fragen; sie sprachen zitternd miteinander: Nun, was sind die Neuigkeiten, fragte der eine? Wir haben diesen und jenen heute Nacht ins Hospital getragen, und dieser und jener sind tot, und jener ande-

au lieu d’un lit dans la chambre destinée à ma femme on en plaça deux. Un évenement naturel à son sexe détourna la maladie chez mon Epouse, et la rendit moins intense pour le moment, quant à moi, je fuis trois jours qu’on ne savait pas comment je me sortirais d’affaire, je n’ai cependant jamais perdu connaissance et j’ai toujours senti l’efficacité des remèdes qu’on m’administrait, jai été si bas que j’ai passé pour mort, et enfin le 4e jour, je parus prendre le dessus, et le cinquieme la jaunisse se déclara ce qui est l’indice certain de la guérison; Mon Epouse qui avait eu besoin des soins m’en prodigua au contraire et ne put conséquemment pas se traiter de suite, ce retard joint aux momens pénibles qu’elle passa pendant les cinq jours ou j’etais dismal lui avaient serré les nerfs de l’estomach au point quelle ne pourait plus rien supporter, elle est resteé un mois au lit [...] vomissant ou faisant des efforts pour vomir toutes les nuits et pendant toute la nuit, le Médecin commencait à craindre, elle témoignait le désir de changer d’air, ce qui était impossible tant que les vomissements duraient, elle passa deux nuits [...] qui furent asy tranquilles, de suite je saisis le Moment, et le 29 9bre, après presque deux mois d’hôpital, je la fis passer au For Bourbon ou elle a fait une longue et pénible convalescence, mais à present, il n’y parait plus, elle se porte bien et a bon apétit“.

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re wird den Tag nicht überleben, heute Nacht sind bei uns so und so viele Männer gestorben & C“.56

Diese Erzählung ist bemerkenswert, denn der Capitaine beschrieb neue Praktiken, neue „doings und sayings“, die sich angesichts der andauernden Gelbfieberkrise in den Arrangements des Fort Bourbon entwickelt hatten. Die Prozessionen an den Morgenden und Abenden bedeuteten neue Bewegungsroutinen: Kranke Körper mussten zweimal täglich auf möglichst schonende Weise transportiert werden, entweder in den Vorboten oder im Abklingen der brennenden Hitze des Tages. Die kurze Wiedergabe der morgendlichen Unterhaltungen der Offiziere zeigt, wie neue Gesprächsroutinen entstanden, die es den Betroffenen erlaubten, notwendige Informationen über den Zustand des Regiments auszutauschen und gleichzeitig Raum für den Ausdruck und die Anerkennung von Angst zu schaffen. Die kontinuierliche Präsenz einer typischen Tropenkrankheit zwang Europäer, ihre Routinen zu verändern und neue zu entwickeln, die es ihnen ermöglichten, die Krankentransporte und Totenzahlenabgleiche in die Alltagsabläufe des Fort Bourbon zu integrieren. Allerdings müssen diese Routinen, die aus der Not bzw. dem Ausnahmezustand geboren wurden, paradoxer Natur gewesen sein: Sie waren insofern Routinen als dass sie täglich und vermutlich ohne Hinterfragen ausgeführt wurden. Zur gleichen Zeit jedoch waren sie das Gegenteil jeglicher Routine, gerade weil sie Manifestationen eines Notstandes waren. Ähnlich wie im Falle von Praktiken, die in Kriegs- oder Naturkatastrophensituationen entstehen, waren sich wahrscheinlich alle Teilnehmer darüber im Klaren, dass diese Praktiken sofort zu einem natürlichen Ende kommen würden, sobald sie nicht mehr notwendig waren – es bestand hier nicht die Möglichkeit, dass diese spezifischen Praktiken Teil der Alltagsroutinen werden würden, wenn das Gelbfieber sich wieder verabschiedet hatte. Nachdem der Capitaine die morgendlichen Konversationen während der Epidemie wiedergegeben hatte, lenkte er die Erzählung hin zu seiner eigenen Gelbfiebererkrankung: „Voilà monsieur das Leben, welches wir für fast drei Monate geführt haben, und unsere Konversation beschäftigte sich immer mit dem Spektakel, welches wir vor Augen hatten, jeden Moment erwartete man, dass man an die Reihe kam. Schließlich war ich, oder vielmehr waren wir, an der Reihe (wir waren nur noch zwei Capitaines, die zum Dienst zurückgeblieben waren) denn wir wurden beide beinahe zur selben Zeit krank, meine Frau zuerst; ich schrieb sogleich an den Chirurgen-Major des Regiments, dass er kommen und sie besuchen möchte; er sagte mir, es sei ihm unmöglich, da er zu viele Kranke hätte, die 56 Ebd.

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er nicht zurücklassen könne; er sagte mir, dass die einzige Maßnahme, die er ergreifen könne, sei, sie ins Hospital zu schicken, dass er dort ein Zimmer vorbereiten lassen und sie den Schwestern anempfehlen würde [...] Trotz des Misfallens, welches Mme D. bei Erhalt dieses Briefes fühlte, gab es nichts mehr zu überlegen, eine Entscheidung musste getroffen werden; so waren wir bei der Abendprozession des 4. Oktober dabei, und anstatt eines Betts in dem Zimmer, das für meine Frau bestimmt war, stellten sie zwei hinein“.57

An diesem Punkt der Erzählung litten sowohl der Capitaine, als auch seine Frau an Gelbfieber. Doch dann begann der weibliche Körper, auf seine ganz spezifische Weise zu funktionieren und damit den Verlauf der Krankheit von Mme D. deutlich zu verändern: „Ein ihrem Geschlecht natürliches Ereignis lenkte die Krankheit in meiner Frau um, und ließ sie für den Moment weniger schwerwiegend werden; was mich betrifft, war ich drei Tage lang so krank, dass man nicht wusste, wie ich mich der Sache entziehen sollte, jedoch verlor ich nie das Bewusstsein und habe stets die Auswirkungen der Medikamente gespürt, welche man mir verabreichte; es ging mir so schlecht, dass man mich für tot hätte halten können [...] schließlich am 4. Tag schien ich die Oberhand zu bekommen, und am fünften zeigte sich die Gelbsucht, welche das sichere Anzeichen der Heilung ist. Meine Frau bedurfte der Pflege, überhäufte jedoch im Gegenteil mich damit, und konnte somit nicht direkt Behandlung erhalten; diese Verzögerung verbunden mit den schmerzlichen Momenten, die sie während der fünf Tage erlebte, in denen ich mich am Schlimmsten befand, hatte die Nerven in ihrem Magen so sehr verengt, dass sie nichts mehr aufnehmen konnte; sie ist einen Monat lang bettlägerig gewesen [...] erbrach sich jede Nacht und die ganze Nacht oder versuchte, sich zu erbrechen; der Arzt begann, sich zu sorgen, sie bekundete den Wunsch nach einer Luftveränderung, was unmöglich war, solange das Erbrechen anhielt; sie verbrachte zwei Nächte, die recht ruhig waren; ich ergriff sofort die Gelegenheit und am 29. November, nach fast zwei Monaten im Krankenhaus, ließ ich sie nach Fort Bourbon bringen wo sie eine lange und schmerzhafte Genesung durchmachte, doch dies zeigt sich gegenwärtig nicht mehr, sie ist bei guter Gesundheit und hat guten Appetit“.58

Die Erzählung des Capitaine konzentriert sich stark auf Mme D. und die Geschichte ihrer Erkrankung. In dieser Geschichte macht die Krankheit recht früh einen Umweg, während das Gelbfieber des Capitaine gleichsam wie im Buche verläuft. Das „ihrem Geschlecht natürliche Ereignis“ – Menstruation – schwächte den „Angriff“ des Gelbfiebers; eine Diagnose, die deutlich macht, dass Capi57 Ebd. 58 Ebd.

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taine D.s Vorstellungen der gesundheitsförderlichen Reduktion überflüssiger Blutfülle durch die „monatliche Reinigung“ mit medikalkulturellen Konzepten der Frühe Neuzeit und des 18. Jahrhunderts im Einklang standen. Gelbfieber wurde allgemein nicht nur mit Quinquina-Rinde behandelt, sondern auch mit Zugpflastern und Aderlässen, die den Körper von überflüssigem Blut befreien, das Fieber senken und Schmerzen lindern sollten. Nachdem der napoleonische Offizier Lelong 1802 auf Martinique eine schlimme Gelbfieberattacke durchgemacht hatte, berichtete er seinen Eltern von „einem bezaubernden kleinen Aderlass, aus dem sehr schwarzes, dickes Blut austrat; dies linderte unverzüglich meinen heftigen Kopfschmerz“.59 Menstruation übernahm diese Reduktion der Blutfülle und verringerte somit automatisch die Symptome des Fiebers. Doch obwohl Mme D.s weiblicher Körper in dieser Hinsicht besser gewappnet war, um das Fieber zu bekämpfen, war er doch nicht stark genug, um die zusätzliche Belastung abzufedern, welche durch die Angst um ihren Ehemann verursacht wurde – insbesondere, da Mme D. sich nicht schonte, sondern im Gegenteil die eigene Krankheit ignorierte, um sich um ihren Ehemann kümmern zu können. Durch diese Beschreibung gelang es Capitaine D. auch, die Schwere seiner eigenen Erkrankung zu verdeutlichen, welche seine Frau so besorgt hatte, dass sie ohne Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit ihr Krankenbett verlassen hatte, um ihn zu pflegen. Gleichzeitig wurde so auch ein besonders tugendhaftes Bild von Mme D. gezeichnet, welches ihr anschließendes Leiden umso mitleiderrengender werden ließ. Vor allem aber berichtete Capitaine D. von zwei völlig unterschiedlichen Verläufen ein und derselben Krankheit, die er klar im „natürlichen“ Unterschied der beiden Geschlechter kontextualisierte. Der Capitaine veränderte nie die Bezeichnung der Krankheit, die seine Frau durchlitten hatte, sie war ebenso von Gelbfieber betroffen gewesen wie er; doch da ihr weiblicher Körper zu Beginn der Krankheit auf „natürliche“ Weise funktioniert hatte, war ihr Gelbfieber daraufhin völlig anders verlaufen als das Seine. Wie bereits anderswo beschrieben60, zeigen die wenigen sehr langen Gelbfiebererzählungen, die im Rahmen dieser Forschung gefunden wurden, den Beginn der Krankheit im Rahmen einer breiten, generellen Epidemie mit wiedererkennbaren, allgemeingültigen Erstsymptomen. Im Verlauf „individualisierte“ sich die Krankheit jedoch gemäß der Natur der/des Erkrankten. „Natur“ umfasst hier sowohl die Form und Struktur des Körpers als auch den Charakter, die Gefühle und Verhaltenstendenzen der Erkrankten. Capitaine und Madame D. stellen hier keine Ausnahmen da: Sie erkrankten gemeinsam im Rahmen der Epidemie; sie wurden gemeinsam ins Hospital gebracht und teilten 59 HCA 32/995, Lelong an seine Eltern in Versailles, 23.04.1802. 60 Raapke, in Gelb!

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sich ein Krankenzimmer. Dann trennten sich allerdings die Wege ihrer Krankheiten, und jede/r von ihnen erfuhr einen spezifischen Krankheitsverlauf, der von einer eindeutigen Geschlechtlichkeit beeinflusst war.

Berichte von Sterben und Tod

Mit dem Tod wurde in der Karibik stets gerechnet, und doch scheint er in Brieferzählungen immer wieder gänzlich unerwartet erschienen zu sein. Trotz der unzähligen Warnungen und Mahnungen vor der Gefährlichkeit der Region kam der Verlust eines Angehörigen, eines Freundes oder einer Bekanntschaft für viele BriefschreiberInnen überraschend, oder zumindest stellten sie es so dar. Eine Ausnahme sind die Mitglieder jener Gruppen, die für ihre hohe Sterblichkeit berüchtigt waren, etwa die Besatzungen von Handelsschiffen.1 Ihre Briefe zeugen von einem nüchternen Umgang mit dem Tod: „Ich will nicht versäumen, Ihnen unsere Ankunft hier mitzuteilen, wir haben einen guten Verkauf gemacht“2, schrieb M. Langlois 1756 aus Port-au-Prince an seine Frau, „nur einer unserer Männer ist gestorben und einer ist ertrunken, der eine ist Bretone und der andere aus Nantes, aber dem Rest geht es gut“.3 Langlois hatte offensichtlich mit einer höheren Sterbezahl gerechnet, entweder aufgrund früherer Erfahrungen oder weil man ihn gewarnt hatte. Abgesehen davon ist bemerkenswert, dass Langlois hier zwischen Ertrinken und Sterben unterschied. Dies legt nahe, dass er, als Seemann, Ertrinken eher als ein tägliches Berufsrisiko betrachtete denn als etwas, das spezifisch für Reisen in die Karibik war. In seiner Darstellung der Gefährlichkeit des Lebens als Seemann schreibt Marcus Rediker: „Countless men

1

Siehe z.B.: Van Heinigen, Willem Teunis: La situation sanitaire à bord des vaisseaux de la „VOC“ au Cap de Bonne-Espérance et à Batavia entre 1750 et 1800, in: Histoire des Sciences Médicales, XLI/3, 2007, S. 303-313.

2

HCA 30/260, Langlois, Saint Domingue, an seine Frau in Saint Malo, 15.03.1756: „Je ne veut pas manquer à vous fairre sauvoir notre arive isy dont nous avont fait une bone vente il ne nous est mort quun homme e un qui ses noiez dont lun est bas bretont e lautre de Nante mes tout le reste se porte bien“.

3

Ebd.

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drowned, and ‚took their habitation among the haddocks‘“.4 Doch während Ertrinken ein bedauerlicher, aber gelegentlich unvermeidbarer Unglücksfall im Seemannsalltag war, war ein nicht-berufsbedinges Versterben ein „richtiger“ Tod. Auch mit diesem „richtigen“ Tod war auf einer Karibikreise zu rechnen, was der Umstand bezeugt, dass Langlois von nur einem Todesfall schrieb. Der Schreiber des folgenden Briefes verfuhr genau umgekehrt in seiner Brieferzählung. M. Du Perrier De l’Islefort schrieb ihn an seine Cousine Mme Ferrand, und in einem unwissentlichen Vorgriff auf die heute als klassisch geltende Kurzgeschichte begann er direkt in medias res. „Ich habe Ihnen geschrieben, meine liebe Cousine, am 2. des letzten Monats in Antwort auf Ihren Brief, mit dem M. Combre betraut gewesen war, sie werden, so denke ich, ebenso erstaunt sein, wie ich es war, von seinem Dahinscheiden zu erfahren. Nach seiner Ankunft verbrachte er zwei Wochen bei uns; mein Bruder war daran, einige nègres zu inokulieren, die er für L’Hon. La Lande gekauft hatte, worauf er uns berichtete, dass er nie die Pocken gehabt hatte; damit er sich nicht damit ansteckte, schickten wir ihn ans Cap zu Capitaine Pevrieu, mit dem er ins Land gekommen war; ein putrides und bösartiges Fieber ergriff ihn und er war tot, bevor ich von der Krankheit erfahren hatte“.5

Wenn de Lislefort mit seinem schottischen Zeitgenossen Robert Burns bekannt gewesen wäre, hätten die beiden Männer sicherlich einige Überlegungen über die „best laid schemes of mice and men“ austauschen können – erscheint es doch in de Lisleforts Erzählung geradezu tragisch, dass der arme M. Combre die Plantage verließ, um sich vor einer möglichen Erkrankung zu schützen, nur um dann an dem Ort, an dem er sich in (relative) Sicherheit gebracht hatte, unmittelbar und tödlich zu erkranken. Diese Erzählung illustriert aufs Beste die spezifische Gefährlichkeit, die Zeitgenossen der Karibik zuschrieben: Eine vertraute, wenngleich schreckliche europäische Krankheit wie die Pocken war unter relativer Kontrolle mithilfe von Inokulation und impromptu Evakuierungen wie der von M. Combre. Angesichts der Verwüstungen, welche der „rote Tod“ auch während 4

Rediker, Marcus: Between the Devil and the Deep Blue Sea. Cambridge 1987, S. 92.

5

De l’Islefort, Cap, Saint Domingue, an Mme Ferrand: „Je vous ai Ecrit ma chere Cousine Le 2 du mois dernier en reponse a votre lettre don’t Mr Combre etoient charge, vous serai je panse aussy surprise que je L’ai Eté d’apprendre son desses. Lors de son arrive il passa quinze jours avec nous mon frère etant a meme de faire inoculer quelques Negres qu’il avoit achetté pour L’ H.on La Lande sur ce qu’il nous dit qu’il N’avoit point Eu La verette pour Eviter qu’il ne Latrapoit nous L’envoyame au Cap ches Le Capne Pevrieu avec qui il Etoit venu dans le païs, une fievre putride et maligne le prit et il fut mor avant que j’esse apris sa maladie“.

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der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts regelmäßig in Europa anrichtete 6, war diese relative Kontrolle, die aus de Lisleforts Brief spricht, beeindruckend. Doch europäische Kontrolle und Vorsorge konnten der charakteristisch unberechenbaren und „unzivilisierten“ Karibik nur wenig entgegensetzen. Selbst an vermeintlich sicheren Orten, wie in diesem Fall Cap Français, konnten Europäer jederzeit von den typischen Fieberkrankheiten überwältigt werden. De Lisleforts Erzählung zeigt ihn trotz der Allgegenwärtigkeit dieser Situation erstaunt über den Tod von Combre, wie auch andere KolonialbewohnerInnen immer wieder schockiert waren über die Plötzlichkeit, mit der man in der Karibik sterben konnte. Die Witwe Thomas aus Guadeloupe verlor ihre beiden Kinder innerhalb von wenigen Tagen im September 1778. In einem Brief an ihre Mutter in Frankreich vom 7. November 1778 schrieb sie über den Tod des vierjährigen Sohnes, der sich eine Fiebererkrankung zugezogen hatte, er sei vergnügt und beim Sprechen gestorben: „Wenn ein Donnerschlag im Zimmer gefallen wäre, hätte er mich nicht mehr überraschen können“.7 Für Mme Thomas wurde die Grausamkeit des Verlusts eindeutig dadurch verstärkt, dass dieser so unerwartet gekommen war, und sie war entschlossen, die Karibik so schnell wie möglich zu verlassen und zu ihrer Mutter und letzten lebenden Tochter nach Frankreich zurückzukehren. Angesichts dieser Kapriziösität konnte man von Medizin nicht viel erwarten. Am zweiten März 1756 schrieb M. Poyer aus Saint Domingue eine Antwort auf einen Brief, den er von einem M. Lourtales erhalten hatte. Poyer hatte nun die unangenehme Aufgabe, M. Lourtales darüber zu informieren, dass sein Bruder einem karibischen Fieber zu Opfer gefallen war. Nachdem er die Wahrscheinlichkeit eines Krieges und den problematischen Schiffsverkehr besprochen hatte, eröffnete er die Neuigkeit auf der zweiten Seite seines Briefes: „Die Zuneigung, die ich für M. Ihren Bruder gehegt habe [...] erhöht meine Ehrbezeugungen & meinen Schmerz, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Herr am 25. des vergangenen Monats gegen 10 Uhr am Abend über ihn verfügt hat, nach einer Krankheit von 7 Tagen eines bösartigen Fiebers; die gute Pflege & die Sorgfalt des Chirurgen, der ihn seit Beginn seiner Krankheit nicht einen Moment verlassen hatte, konnte ihn nicht zurück ins Leben rufen; ich bin so berührt davon, dass der Bericht meine Tränen erneuert“.8 6

Darmon 1989, S. 20.

7

HCA 30/310, Mme Thomas, Saint Pierre, Martinique, an ihre Mutter in Frankreich, 07.11.1778. Un coup de tonerre ne m’auraot pas plus étonné si il étoit tombé dans ma chambre.

8

HCA 30/260, Poyer, Saint Domingue, an Lourtales, 02.03.1756: „Latachemens que javais pour M. Votre frère [...] augmante mes Respets & ma douleur a vous aprendre que le seigneur en a dispose le 25 du mois passé sur les dix heures du soir après une

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Der zum Eingang dieser Arbeit zitierte Brief, in dem Mme Charmeau ihre Schwester über den Tod des Sohnes informierte, nahm einen ganz ähnlichen Verlauf: Die vorangeschickte Erklärung von Trauer und Zuneigung wurde gefolgt von der Zusicherung, dass der Verstorbene die bestmögliche Versorgung erhalten hatte und dennoch dahingeschieden war. Ausgehend von der Annahme, dass karibische Fieber so unberechenbar und gefährlich waren, dass das Überleben der Betroffenen vor allem eine Frage des Temperaments, der Umstände und letzten Endes der göttlichen Verfügung war, sollten die Zusicherungen der hingebungsvollen Pflege durch Ärzte, Chirurgen und die BriefschreiberInnen selbst vor allem Zuneigung und Verantwortungsgefühl für die Verstorbenen zum Ausdruck bringen und nicht zuletzt die AdressatInnen trösten. In der Karibik war der Tod eine Größe, mit der man noch mehr als in Europa rechnen musste, und der einzige Trost bestand darin, zu wissen, dass die Verstorbenen geschätzt und umsorgt gewesen und nicht etwa allein in der Fremde gestorben waren. Sowohl M. Poyer als auch M. de Lislefort beschrieben den Tod von Männern, mit denen sie geschäftlich, möglicherweise auch freundschaftlich verbunden gewesen waren, die jedoch keine Mitglieder ihrer Familien gewesen waren. Soweit die Briefe hier Rückschlüsse zulassen, hing auch bei keinem der beiden das persönliche Wohlergehen direkt von den Verstorbenen ab. Es muss allerdings unzählige Fälle gegeben haben, in dem der Tod eines oder mehrerer Menschen in der Karibik die direkte Verheerung der Lebensumstände ihrer Nächsten vor Ort und in Europa bedeutete. Ein besonders dramatisches Beispiel aus den HCA-Briefen ist das von Mme Allaire aus Saint-Domingue, welches hier bereits erwähnt wurde. Diese Einschätzung stammt nicht allein von mir, sondern auch von mindestens vier Zeitgenossen aus dem Département Saint-Marc, die in Briefen die Tragödie erwähnten, welche Mme Allaire 1777/78 ereilt hatte. All diese BriefschreiberInnen zeigten sich schockiert von den Ereignissen und nutzten sie, um die Gefährlichkeit der Kolonien zu demonstrieren. Ein junges Mädchen namens L. Uguédé etwa schrieb einer Freundin: „Unsere Nachbarschaft ist sehr betrübt vom Tod unseres Kommandanten M. Allaire, eines der engen Freunde von M. Badet. Er kam im Juni aus Frankreich mit seiner Tochter, die einen Sohn hatte und ihre Zofe und einen Bruder, von diesen fünf bleibt nur die Dame; der Vater, der Sohn und der Enkel und die Zofe sind im Laufe von vier Monaten gestorben, Du siehst, wie gut dieses Land ist; ich will Dir nicht von den anderen berichten, die jeden

maladie de 7 jours de fievre maligne, les bons soins & l’assiduité du chirurgien qui des le commancemens de sa maladie ne la pas quite un momens; na pu le rapeller a la vie, jen suis si touché que le detail renouvelle mes Larmes“.

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Tag sterben, Du siehst, dass die Neuigkeiten, die ich Dir geben kann, sehr traurig sind, genau wie Deine Freundin“.9

Auf demselben Schiff wie die betroffenen Schilderungen aus Europa reisten auch zwei Briefe von Mme Allaire selbst nach Europa, einer an ihren Onkel in Niort, der direkt nach dem Versterben ihres Vaters verfasst worden war, und einer an ihre Freundin Dlle Rocquand in Nantes, der einige Wochen später entstanden war. In diesen Briefen beschrieb Mme Allaire, wie sie die Serie von Todesfällen in ihrem allernächsten Familienkreis erlebt hatte, während sie selbst mit einer beinahe tödlichen Krankheit hatte kämpfen müssen. „In weniger als vier Monaten“, berichtete sie dem Onkel, „habe ich meinen Bruder, meinen Sohn und meinen Vater verloren, Gott hat mir alles genommen [...] ich habe niemanden, der mich beschützt, keinen Freund mehr, mein grausames Unglück hat meinen Vater in sein Grab gebracht; er ist am 4. November am Kummer gestorben, die Augen auf seine zu unglückliche Tochter gerichtet, warum bin ich nicht mit ihm gestorben; ich erholte mich von der schrecklichsten Krankheit; ich habe das Licht wiedergesehen, nur um von diesem Schlag getroffen zu werden, mein Schmerz wird ewiglich sein; ist es möglich, oh mein Gott, dass ich mich niemals an irgendeinem Seelenfrieden werde erfreuen können; ich war gekommen, um ihn zu finden, diesen Seelenfrieden, in einem schrecklichen Klima; ich hätte ihn an der Seite meines Vaters gefunden; er ist nicht mehr, ich bin allein gelassen“.10

9

HCA 30/305, L.Uguédé an ihre Freundin in Frankreich, Dezember 1778: „Notre quartier est fort triste par la mort de notre commandant m. allaire un des intime amis de mr badet il est arive de France en juin avec sa fille qui avez un fils et sa fille de chambre un frere a cette dame des cinq il reste la dame le père le fils et le petit ils et la fille de chambre sont mort dans le courant de quatre mois vois la bonté du pays je ne te parle pas des autres qui meure journellement tu vois que les nouvelles que je peut te donné sonts fort triste ainci que ton amie“.

10 HCA 30/305, Mme Allaire, Artibonité, Saint Domingue, an ihren Onkel in Niort, 02.12.1778: „dans moin de quatre moy jay perdu mon frere, mon fils, et mon père, dieu ma tout enlevé [...] je nay plus de protecteur plus dami mes cruelle infortune on conduit mon père au tombeau il est mort de chagrin de 4 9bre les yieux fixé sur sa trop malheureuse fille que ne suige Expiray avec Lui, je sortoit de la plus affreuse mallady je nay revue la Lumier que pour estre frappé de ce coup ma doulleur cera Eternelle est il possible au mon dieu qui je ne jouiray jamais daucune Espece de tranquilité jetais venue la cherche cette tranquilité dans un climat affreux, je lorais trouvé avec mon père il nes plus je suis reste seulle“.

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In diesem Brief erschienen die Karibik und ihr „schreckliches Klima“ beinahe wie die Instrumente eines grausamen und willkürlichen Gottes. Nachdem er alle Männer in ihrer Familie nacheinander getötet hatte, ließ er Mme Allaire gegen ihren Willen und trotz ihrer schweren Krankheit am Leben, so dass sie nun ganz alleine in der Fremde zurechtkommen musste. Aus dem Brief wird deutlich, dass Mme Allaire besondere Gründe dafür gehabt hatte, zu ihrem Vater in die Karibik zu reisen, und dass sie von ihm als „Freund“ und als „Beschützer“ abhängig war. Dies erklärt womöglich, weshalb der Tod ihres Vaters hier deutlich vor dem ihres Sohnes stand. Der Brief unternimmt keine weiteren Erklärungen zu Mme Allaires Situation; vermutlich war der Onkel hinreichend damit vertraut. Der andere überlieferte Brief jedoch gab mehr Einblick in die Gründe für Mme Allaires Umsiedlung und besonders verzweifelte Lage. Dieser Brief, gerichtet an Dlle Rocquand, ist sehr viel länger und detaillierter als das Schreiben an den Onkel. „Ich hatte Dir geschrieben, meine liebe Freundin, am 01. Dezember, ich weiß nicht, ob Du meinen Brief erhalten hast, Du wirst daraus alles ersehen haben, was ich zu erleiden hatte, seit ich in diesem Land bin“.11 Da Mme Allaire nicht 11 HCA 30/305, Mme Allaire, Artibonite, an Dlle Rocquand in Nantes, 06.01.1779: „Je tay Ecrit ma chere amie Le 1 Xbre je ne scai sy tu aura recu ma lettre tu aura vue par elle tont ce que jay eu a souffrire depuis que je sis dans ce pay cit gi ait tout perdu père, fils, et frere, et tout cela dans moins de 4 moy mon ame est dans un abime de doulleur jay été penden un moy apres la mort de mon peauvre papa sans avoir ma tete a moi tu ten apercevra par ma dernier lettre je tay ecrit pendent ce temps la dieu a eu pitié de moy et me donne la force de me reconnestre un peut je retrouve quelque ombre de consolation dans cet aitre supraime ou ma tendre amie je nay plus de père est il possible a mon cœur de pencer a cette separation sans en mourire de doulleur connes tu une estre dans le monde aussy malheureuse que moy, je nay jamais joui dun moment de felliciter, mes paines sont inombrable, lavenir meffray, crois tu chere amie que le malheureux qui est la cauze de toute me paine ne cherchera plus a me tourmenter, non je nay plus de soutin il le sait et son cœur du sen aplodit. Il vas macablé de sa tirrrany, je me mes sous la protection de ce dieu, il aura pitié de moy. Je te dit a toy tendre amie que sy mon mary est asse dure pour vouloir me forcer a vivre avec Lui je ne passeray jamais en France ou il me viendra chercher lui mesme ma resolution est bien prise et rien au monde ne me fera changer, cest mourire mille foy par jours que de mené la vie que je traine dans ce modit pay, je demeur sur l’habitation de Lartibonite sent livre a moy mesme il ny aucune espece de sociaité dans ce quartier, je suis enterré dune centaine de negre se sont autant de séléra cest jens la non pas dame il feau les battre malgré soit tu connes mon caractaire juge de ce que je dois souffrire. Je suis toujours de movaise humeur je ne conpran pas commant je peut vivre apres toute les paine que jay eprouvé et que jeprouve journellement je vais aller a la montagne le

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sicher sein konnte, dass ihre Freundin den vorangegangenen Brief tatsächlich erhalten hatte, wiederholte sie den wichtigsten Teil seines Inhalts: „Ich habe hier alles verloren, Vater, Sohn und Bruder, und all dies in weniger als vier Monaten, meine Seele ist in einem Abgrund aus Schmerz; nach dem Tod meines armen Papa habe ich einen Monat lang den Kopf verloren, Du wirst dies aus dem letzten Brief bemerken, den ich Dir während dieser Zeit geschrieben habe; Gott hatte Mitleid mit mir und hat mir Kraft gegeben, mich selbst ein wenig zu erkennen; ich habe einen Schatten des Trostes in diesem höchsten Wesen gefunden; ja, meine zärtliche Freundin, ich habe keinen Vater mehr, ist es meinem Herzen möglich, an diese Trennung zu denken, ohne an dem Schmerz zu sterben? Kennst Du eine Kreatur auf der Welt, die elender ist als ich? Ich habe noch nie eine Moment der Freude gekannt, meine Sorgen sind unzählig, die Zukunft versetzt mich in Schrecken; denkst Du, meine liebe Freundin, dass der Schurke, der die Ursache all meinen Übels nicht länger versuchen wird, mich zu quälen; nein, ich habe keine Unterstützung mehr und er weiß es und sein Herz muss davon erfreut gewesen sein“.12

An diesem Punkt der Erzählung wurde der Grund für Mme Allaires Reise in die Karibik und für ihre Fixierung auf den schützenden Vater deutlich: Sie war vor ihrem Ehemann geflohen. „Er wird mich mit seiner Tyrannei unterdrücken, ich stelle mich unter den Schutz dieses Gottes, Er wird Erbarmen mit mir haben. Ich sage Dir selbst, meine liebe Freundin, dass, falls mein Ehemann grausam genug ist, mich zwingen zu wollen, mit ihm zu leben, ich niemals nach Frankreich reisen werde, sogar wenn er selbst kommt, um mich zu holen. Mein Entschluss ist gefasst und nichts auf der Welt wird mich dazu bringen, ihn zu ändern. Das Leben zu führen, das ich in diesem verfluchten Land lebe, ist, wie jeden Tag ein Tausend Mal zu sterben. Ich lebe auf der Plantage in der Artibonite [an dieser Stelle ist unklar, wie zu übersetzen ist. Mme Allaire schrieb „sent livre a moy mesme“, was entweder bedeuten könnte „einhundert livres, die mir gehören“ oder „ohne Bücher, ganz alleine“. Angesichts der nachfolgenden Passage und angesichts der Tatsache, dass Mme Allaire eher wohlhabend war, erscheint die zweite Option plausibler]. Es gibt keinerlei Gesellschaft in diesem Viertel, ich bin begraben unter einhundert nègres, diese Menschen haben keine Seele, man muss sie gegen seinen Willen schlagen, Du kennst meinen Charakter, beurteile selbst, wie sehr ich leiden muss. Ich bin immer schlechter Laune, ich verstehe nicht, wie ich nach all diesem Schmerz, den ich erfahren habe und den ich täglich erlebe, moy prochain nous y avons une tres belle habitation que je ne connes pas encore, mon peauvre papa a bien travaillier pour nous laisser beaucoup de biens et il nen a pas jouis“. 12 Ebd.

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noch leben kann; nächsten Monat werde ich in die Berge fahren, wir haben eine sehr schöne Habitation dort, die ich noch nicht kenne; mein armer Papa hat hart gearbeitet, um uns großen Wohlstand zu hinterlassen, und er konnte ihn nicht genießen“.13

Insbesondere in Mme Allaires zweiter Erzählung war die Karibik gleichzeitig schreckliche Folter und widerwillig akzeptierter Schutzraum. Zwar betonte sie die Furchtbarkeit des Lebens dort, das schlimmer war als täglich tausend Tode zu sterben, doch war dies immer noch besser, als in Frankreich mit ihrem Ehemann zu leben, vor dem sie offenbar in die Obhut ihres Vaters geflohen war. Aus dieser Perspektive liegt es nahe, dass der Verlust des Vaters besonders schmerzlich war, da seine juristische und soziale Position sie effektiv vor dem Zugriff ihres Ehemanns hätten schützen können. Saint Domingue bot nach wie vor den Schutz großer geographischer Distanz von Frankreich, doch diese Sicherheit musste Mme Allaire – aus ihrer Sicht – mit dem „schrecklichen Klima“ und der Präsenz der SklavInnen bezahlen. In Mme Allaires rassistischer Darstellung hatte sie die Wahl zwischen zwei „Übeln“: Ihrem tyrannischen Ehemann in Frankreich oder ihren „schurkischen“ SklavInnen in Saint Domingue. Die Brieferzählung vermittelte ohne Zweifel, dass die Karibik zwar weit weg vom bösen Ehemann war, aber doch einen erbärmlichen Schutzraum darstellte angesichts ihrer Bevölkerung, ihrer Bedingungen und der vielen Schrecken, die Mme Allaire dort bereits widerfahren waren. Die wenigen Briefe, die in diesem kürzeren Unterkapitel untersucht wurden, portraitieren die Karibik als einen Ort, an dem der Tod noch unberechenbarer, willkürlicher und grausamer war als im Europa des 18. Jahrhunderts. Er riss diejenigen fort, die nicht sterben wollten, und verschmähte die anderen, die sich danach sehnten. Er verspottete diejenigen, die versuchten, ihm mit medizinischen Maßnahmen zu umgehen. Zwar sind dies durchaus vertraute diskursive Charakteristika, die dem Tod in diversen Perioden und Kulturen zugeschrieben wurden. Dennoch trug ihre Aufrufung und „Anwendung“ in Briefen deutlich zur epistolären Etablierung der Karibik als unzivilisierter, unberechenbarer und vor allem gefährlicher Region bei, in der Menschen stets Risiko liefen, von einer Sekunde auf die andere vom Tod davongerissen zu werden.

13 Ebd.

Fazit und Ausblick: Sagbares, Unsagbares und unaussprechliche Gewalt

Am 15. August 1778 schrieb ein junger Arzt namens Chevreux von der DubucPlantage auf der Caravelle-Halbinsel an Martiniques Atlantikküste an die Demoiselles Griffouil in Bordeaux. Nach einigen Neckereien und guten Wünschen für die Gesundheit der Demoiselles erzählte er: „Erdbeben sind hier sehr häufig, ich habe erst eines erlebt, welches in diesem Monat Januar passierte, welches sehr stark und in zwei Stößen geschah: Dasjenige, welches Sie in Frankreich erlebt haben, ist nicht gefährlich, dasjenige dieser Kolonie war es hingegen sehr, da es stark genug war, den Fuß [Stein?] zu brechen, der uns trägt, wir hätten uns an der Gesellschaft der Fische erfreuen können – wer weiß, wie weit wir von unserem Haus entfernt sind, wenn diese Momente eintreten? Ich glaube, man sollte sich beeilen, dieses gefährliche Land zu verlassen [...] und den Frieden und den Komfort zu genießen, die Frankreich uns bietet. Doch diese Zeit ist noch nicht gekommen. Deshalb muss man in beständiger Angst abwarten“.1

Chevreux schloss eindeutig die Möglichkeit aus, dass die Demoiselles nachvollziehen könnten, was er in der Karibik erlebte, oder dass sie etwas Vergleichbares 1

HCA 30/286, Chevreux, Chateau Dubuc, Martinique, an die Demoiselles Griffouil, Bordeaux, 15.08.1778: „Les tramblements de terre sont assé fréquent icy. Je n’en ai ressanti qu’unqui était ce mois de janvier qui fut assé fort par deux sécousse: celui que vous ave santi en France n’est pas dangereux, au lieu que celui de cette collonie l’est beaucoup, Car s’il était assé fort pour casser le pied [pier?] qui nous soutient nous pourions aller jouir de la compagnie des poissons – qui sait l’éloignement de notre demeure dans ce temps à venir? Je crois qu’il faut se hâter a sortir de ce pays d’angereux [...] pour aller jouir la paix des douceurs que la France nous offre. Mais le temps n’est pas prés. Cest pourquoi il faut toujours attandre en crainte“.

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in Frankreich hätten erfahren können. Die Erdbeben Martiniques, um die es hier ging, stellte er als eine Klasse für sich dar, die einen Menschen direkt ins Reich der Fische befördern konnten, ohne Warnung, ohne eine Chance, sich in Sicherheit zu bringen. Erdbeben waren eine beständige Bedrohung für Leib und Leben in der Kolonie, was bedeutete, dass man seinen Aufenthalt in der Karibik besser möglichst kurz hielt. Chevreux schrieb noch einen weiteren Brief an diesem Tag; einen wesentlich längeren, der an seinen Onkel M. Suize in Niort adressiert war. Darin stellte er seine Situation in der Karibik deutlich anders dar: „Die Krankheit, die ich bei meiner Ankunft durchlebt habe, hat mich vollständig akklimatisiert. Mein Gewicht ist zurückgekehrt & mein Körper ist ganz fett geworden [...] das Gesicht ist stets etwas trocken, und [hat] die Farbe von Bataten, welches die Kreolfarbe ist [...] mich selbst tatenlos zu sehen, ohne das zu nutzen, was Gott mir gegeben hat, hätte mich mein ganzes Leben lang seufzen lassen, hätte ich nicht unter Einsatz meines Lebens versucht, ein gutes Leben zu suchen, ohne nach Reichtum zu streben, was heutzutage recht schwer ist. So habe ich endlich, nach all diesen Überlegungen, entschieden, mein Glück zu versuchen. Und hier bin ich, in meiner Position, sehr zufrieden & wo ich in Zukunft viel machen kann: Seit ich Ihren Brief erhalten habe, habe ich eine weitere nahgelegene Plantage übernommen für die Behandlung der nègres. Ich kann noch nicht wissen, was sie mir geben werden, da wir keinen Vertrag haben. Doch zumindest wird es zu meinem Lebensunterhalt beitragen [...] Danach werde ich die anderen ablehnen, die mir angeboten werden mögen, denn es ist gut zu arbeiten, doch nicht so, dass seine Gesundheit, die uns allen wertvoll ist, gefährdet wird. Denn was würde man ohne sie im Leben tun?“2

2

HCA 30/286 Chevreux, Chateau Dubuc, Martinique, an seine Onkel Suize, Niort, 15.08.1778: „La maladie que jéprouvé à mon arrivée m’a entierement acclimaté. Mon embonpoint mest revenu & j’ais bien engraissé du corps (--kleines unleserliches Wort) la figure est toujours un peu seche, et de couleur de patate qui est la couleur creolle. [...] me voir dans une inaction sans mettre en œuvre ce que dieu ma donné me devait faire gemir toute ma vie si je n’eusse tanté au perils de ma vie a recherché d’avoir un bien Etre sans ambitionner à une fortune qui est bien difficille aujourdhuy Je me suis donc décidé après touttes ces reflexions à vanturer mon coup. me voici icy en place, très contant & où je pourais faire beaucoup par la suitte: depuis votre lettre recue je viens d’avoir une autre habitation voisine pour le traitement des negres. Je ne peux pas encore scavoir ce quelle me poura donner parce qu’on ne s’abonne point. Mais le moins sa poura servir pour l’antretien. [...] Après cela je remerciai pour les autres quon pourait me procurer. parce qu’il est permis de travailler, mais non pas jusquà alterer une santé qui nous est à tous précieux. Car sans elle que fait on dans la vie?“.

Fazit und Ausblick | 291

Trotz einiger Sätze, die in beiden Briefen zu finden sind, unterschieden sich die Darstellungen massiv voneinander. Auch im Brief an den Onkel war Martinique ein Ort, an dem Menschen „unter Risiko des Lebens“ ihr Glück versuchten. Chevreux präsentierte sich hier jedoch als ein Mann, der viele der Risiken bzw. der Gefahren erfolgreich überwunden hatte. Er beschrieb sich nicht nur als gänzlich „akklimatisiert“, er berichtete seinem Onkel sogar, dass er begonnen hatte, sich körperlich zu verändern – seine Gesichtsfarbe war nun die „Kreolfarbe“.3 Sein Körper hatte eine koloniale Krankheit überstanden und war dadurch erstarkt, so dass er in der Lage war, zu arbeiten. Hier liegt klar der „Knackpunkt“ des Narrativs: Der Onkel sollte überzeugt werden, dass sein Neffe ein aktiver, strebsamer junger Mann war, der seine Begabungen und Erziehung nicht verschwendete, sondern sich trotz der Gefahren der Karibik eine solide medizinische Praxis in der Kolonie etablierte. Die Chevreux-Briefe zeigen zwei Versionen desselben jungen Mannes, zwei Versionen kolonialen Lebens und kolonialer Gefahren. Insbesondere zeigen sie, wie sehr BriefschreiberInnen Darstellungen ihrer Umgebung variierten, um sie an unterschiedliche AdressatInnengruppen anzupassen. Gegenüber einem älteren, männlichen Verwandten zeigte sich ein junger Mann energetisch und den Gefahren der Karibik gewachsen; wohingegen er sich bei unverheirateten Frauen bessere Resonanzen mit Berichten beständiger, unkontrollierbarer Gefahr auszurechnen schien. In den Briefdarstellungen, die im Zentrum dieser Arbeit standen, wurde die Karibik in einem breiten Spektrum thematischer Kontexte besprochen, die meistens eng mit einander verwoben, bisweilen inkonsequent und widersprüchlich waren. Viele dieser Brieferzählungen versuchten, die Botschaft zu vermitteln, dass die Karibikkolonien kein guter Aufenthaltsort für EuropäerInnen und ihre Körper waren. Krankheiten, Hitze, Insekten, giftige Schlangen, schlechte Luft, Erdbeben und andere Naturkatastrophen; die „bösartige“ Bevölkerung, der beständige Mangel an europäischen Nahrungsmitteln und die große Entfernung von Familie und Freunden in Europa: All diese Faktoren trugen dazu bei, dass es EuropäerInnen kaum möglich war, in der Karibik gesund zu bleiben. Mögliche Strategien, die Gesundheit zu erhalten und die Überlebenschancen zu verbessern – und gleichzeitig soziale Bezugspunkte an sich zu binden – bestanden darin, Familie, Freunde und Kollegen bzw. Geschäftspartner brieflich in die Gesundheitspflege einzubinden. Vor Ort verließ man sich auf Verwandte und Freunde oder gar auf hilfsbereite Fremde, vor allem aber auf sich selbst: Auf einen konsequenten Vollzug von Praktiken der Mäßigung, im Sinne grundlegender medikokultureller Prinzipien des 18. Jahrhunderts. Allerdings zeigen die untersuchten Briefe, dass es hier durchaus Ausnahmen und Eigensinnigkeiten gab. Einige 3

Siehe zudem: Raapke, Annika: The Pain of Senses Escaping.

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Verfasser definierten für sich neu, was „Mäßigung“ in der Karibik bedeutete, und modifizierten entsprechend Praktiken des Essens, Schlafens, der körperlichen Pflege oder der Betätigung. Wieder andere agierten, als hätte sie der Wendekreis des Krebses mit den Worten Wieder andere agierten, als hätte sie der Wendekreis des Krebses mit der freundlichen Aufforderung begrüßt, ab jetzt alle Vorsicht fahren zu lassen, insbesondere was Libertinage betraf. In den Briefen der Letzteren erschienen die Kolonien als eine Art Spielplatz, ein Set von Arrangements, welches körperliche Entgrenzung, Neuerfindung und Re-Definition erlaubte. Die hier vorgestellten BriefschreiberInnen waren nicht unvorbereitet in die Kolonien gereist (sofern sie nicht dort geboren worden waren), sie hatten gewisse Erwartungen und Befürchtungen mit in die Kolonien gebracht. Der Großteil hatte sich eingestellt auf das belastende Klima und die bedrohlichen Krankheiten und fand alle diesbezüglichen Erwartungen bestätigt, sogar übertroffen. Die „Abweichler“ jedoch, diejenigen, denen es gut ging, die sich wohlfühlten oder die Karibik sogar genossen, legen nahe, dass es auch in der Vorbereitung auf die Kolonien ein Moment der aktiven körperlichen Selbstverortung gegeben haben muss, gleichsam ein Moment der Entscheidung, in dem eine Version der Karibik physisch für glaubwürdiger befunden wurde als eine andere, und in dem eine entsprechende Antizipation des eigenen Körpers in der zukünftigen Situation stattfand: Wie würde er reagieren? Wie würde man die Belastungen/die Chancen und Möglichkeiten der Karibik erleben bzw. damit umgehen? Würde man mit Sicherheit krank werden oder sich besonders schonen müssen, weil man empfindlich war? Sollte man besser gar nicht reisen, weil man ein Temperament besaß, dem Mäßigung unmöglich war? Briefe zeigen rückwirkend derartige Antizipationsmomente, so waren einige Verfasser schon darauf eingestellt, einen gesundheitlichen „Tribut“ zahlen zu müssen, während andere davon ausgingen, dass das süße Luxusleben des Kolonialisten in dem Moment losgehen würde, als die Füße karibischen Boden berührten. Momente der körperlichen Selbstverortung waren entscheidend für die Herstellung und den Vollzug von Zugehörigkeit. Umgekehrt beeinflusste das Bedürfnis oder auch der Bedarf der Zughehörigkeit zu einzelnen Menschen, Gruppen, Unternehmen oder Institutionen in Europa die aktive Selbstverortung im Bezug auf die Kolonien. Wenn der Körper so eng wie möglich an zu Hause gebunden werden sollte, beeinflusste dies, wie etwa der Genuss karibischer Lebensmittel in Briefen dargestellt werden konnte; möglicherweise aber auch die „tatsächliche“ sensorische und physische Erfahrung dieser Lebensmittel vor Ort. Dies gilt auch für die Wahrnehmung und Darstellung des „Akklimatisierungsprozesses“ oder der körperlichen Nähe der Kolonialgesellschaft. Eine tiefe Zu-

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gehörigkeitsbekundung oder – Empfindung gegenüber einer physischen „Europeanness“ oder „Frenchness“, die sich etwa in der Erklärung ausdrückte, der Körper würde sich niemals an das karibische Klima gewöhnen können, mochte die Bindung an die Heimat stabilisieren, gleichzeitig aber auch den Alltag in der Kolonie zusätzlich erschweren. Briefdarstellungen der Kolonien als unzivilisierte, grausame, „wilde“ Orte, wo Klima und Krankheit sich gleichsam verschworen, um so viele verletzliche Europäer wie möglich dahinzuraffen, und wo diese Situation noch durch die extrem unangenehme Bevölkerung verschärft wurde, dienten gerade nicht dazu, die besorgte Leserschaft jenseits des Atlantiks zu beruhigen. Hingegen waren sie absolut dazu angetan, die AdressatInnen in die Pflicht zu nehmen, häufig und regelmäßig zu schreiben, um die brieflichen Gegenüber nicht noch zusätzlich zu belasten, und ermutigten auch gemeinsame epistoläre Gesundheitspraktiken wie den Austausch von Ratschlägen und Mahnungen, Medikamentenrezepten und Empfehlungen sowie Geschenke und Zusendungen von Hilfs- und Lebensmitteln. Für diejenigen (weißen Männer), die sich körperlich nicht vorwiegend als Europäer verorteten, boten die Kolonien der Antillen die Möglichkeit, jene Praktiken öffentlich sichtbar zu vollziehen, die in Europa in dunkle Gassen und Hinterzimmer gehörten. Der weiße männliche Körper konnte sich darstellen, wie es ihm beliebte; ob in Reichtum oder in Armut, konnte essen wann und wo und was ihm beliebte, konnte sich in harter Arbeit, Gewalt und Rausch ergehen und dennoch Anspruch auf die Privilegien einer quasi-Nobilität erheben. Zudem konnte er sich in ungezügelter Libertinage verausgaben – mit Prostituierten und Geliebten; im Rahmen der Sklaverei aber auch in zumeist strafloser sexueller Gewalt. Dieser letzte Aspekt, der fraglos zur Realität des kolonialen Lebens gehörte (sogar Moreau de Saint-Méry erwähnte die Vergewaltigung von Sklavinnen durch ihre „Besitzer“ gleichsam en passant4) bleibt in den bisher gesichteten Briefen der HCA-Sammlung, die aus dem französisch-karibischen Zusammenhang stammen, gänzlich unerwähnt.5 Trotz dieses Schweigens, auf das gleich noch

4

Moreau de Saint Méry, Descriptions, S. 26

5

Ein holländisches Beispiel für koloniale sexuelle Gewalt wäre der Brief, den Johan Daniel Baer aus Curaçao am 4. April 1758 an seine Geliebte Jantje Schulz in Amsterdam schickte. In diesem Brief berichtete er, dass er mit anderen Männern darum gewettet hatte, dass es ihm gelingen würde, eine Frau intim zu berühren, die auf ihrer Jungfräulichkeit beharrt hatte. Daraufhin hatte Johan Daniel Baer die Frau inmitten einer Gruppe von Zeugen vergewaltigt und mit „dem Vergnügen“, wie er es formulierte, sechs Flaschen Wein gewonnen. Er entschuldigte sich bei Jantje und versprach, dass er es nicht wieder tun würde. Über die Frau, die er so öffentlich vergewaltigt hat-

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weiter eingegangen wird, muss nahezu unkontrollierte sexuelle Gewalt gegen versklavte Frauen, und höchstwahrscheinlich auch gegen versklavte Männer, hier einkalkuliert werden. Für weiße Männer war die Karibik eine Messers-Schneide-Region, ein Ort, wo sie ihre Zugehörigkeiten wählen und wechseln konnten, wo sie neu definieren konnten, wer sie waren – so wie der vom Hilfschirurgen Roland erwähnte Rothaarige, der sein früheres Leben als verurteilter Dieb in Douai gegen eine neue Existenz als angesehener, reicher Plantagenbesitzer auf Martinique eingetauscht hatte. Rituale wie die Linientaufe symbolisierten dieses Potential für Veränderung, Abschied und Neuanfang und gaben ihm eine konkrete geographische Position, die auf einer Karte nachvollzogen werden konnte. Die Gelegenheit zur Veränderung befand sich an einem bestimmten Ort. Hinter diesem Ort war alles möglich. Unmöglich blieb allerdings, dieses alles auch nach Europa zu kommunizieren. Eine der hier zugrundeliegenden Annahmen war, dass diejenigen, die die Karibik als Möglichkeitsraum betrachteten und behandelten, oftmals weniger Wert auf Intelligibilität ihrer Erzählungen legten und sich selbst eher in den Kolonien als in Europa verorteten. Diese Annahme wird beibehalten, allerdings muss eingeräumt werden, dass auch hier offenbar Grenzen bestanden, die nicht überschritten wurden. Manche Praktiken kolonialen Lebens, über deren Existenz und Vollzüge die Historiographie auf Basis einer Vielzahl von Quellen informiert ist, finden in den Briefen nur wenig oder gar keine Erwähnung. Sexuelle Gewalt ist ein Beispiel, die exzessive, alltägliche, oft (semi-anachronistisch bezeichnet) sadistische Gewalt gegenüber SklavInnen im Allgemeinen gehört ebenfalls dazu. Der oben vorgestellte Britische Arzt Gillespie beklagte „acts the most atrocious“ unter den HalterInnen von SklavInnen auf Martinique, die sich hinter „the tiberian veil which envelopes the transactions of a tyrannical Planter“ abspielten: „such is the case with regard to the assassination of Negroes which is said to be common in this Island“.6 In den hier untersuchten Briefen wurde jedoch (in den meisten Fällen) lediglich erzieherische und damit aus Sicht der BriefschreiberInnen, sowie gemäß dem Code Noir, legitime Gewalt gegenüber SklavInnen erwähnt. So schrieb am 28. Juni 1756 ein Plantagenverwalter an seinen Herrn bezüglich der „Aufruhr unter Ihren nègres, welche die schlimmsten Subjekte sind, die man kennt“ und beschrieb dann eine Reihe von Maßnahmen, die er zur Unterdrückung der Unruhe ergriffen hatte, unter anderem „Peitschen-

te, sagte er weiter nichts. Ich danke Lucas Haasis für diesen Hinweis. HCA 32/178 (3). 6

Gillespie, Tagebuch 1799.

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hiebe“ und „Prügel“.7 Derartige Körperstrafen waren üblich und wurden von den BriefschreiberInnen entsprechend dargestellt. Die entsetzlichen Episoden grausamer und erschreckend kreativer Gewalt jedoch, die Trevor Burnard – in einem absoluten Höhepunkt der karibischen Geschichtsschreibung – dazu veranlassten, den jamaikanischen Pflanzer Thomas Thistlewood als „brutal sociopath“8 zu bezeichnen, fehlen hier jedoch gänzlich, obwohl Gillespies Tagebuch, Moreau de Saint-Mérys Beschreibungen, die Arbeiten von Laurent Dubois, C.L.R. James, Bernard Moitt und anderen eindeutig zeigen, dass sadistische Gewaltexzesse gegen SklavInnen auch in den französischen Kolonien an der Tagesordnung waren. Es ist somit anzunehmen, dass Grausamkeit und exzessive Gewalt einer der ganz wenigen Aspekte kolonialen Lebens waren, die sich nur schwer intelligibel in Briefen darstellen ließen. Erzieherische Gewaltanwendung stand auf einem anderen Blatt, war diese doch im 18. Jahrhundert in vielen hierarchisch geprägten Zusammenhängen akzeptabel. In der Ehe, in der Kindererziehung, der Schule, dem Militär, der Ausbildung etc. waren Körperstrafen in angemessenem Maße akzeptiert. Diejenigen, denen für ihr Bild der französisch-karibischen Sklavereipraktiken nichts als die hier gesichteten HCA-Briefe zur Verfügung stünde, müssten den Eindruck erhalten, dass Sklaven stets nur „diszipliniert“ wurden, aber nie zur Unterhaltung ihrer „Besitzer“ gefoltert und gequält. Dies lässt vermuten, dass die BriefschreiberInnen in der Lage waren, einzuschätzen, wie viel Gewalt ihren Leserschaften zuzumuten bzw. mit einer prinzipiellen Humanität, Zivilisierung und Christlichkeit zu vereinbaren war. Der folgende Artikel aus dem Journal Général de France aus dem Jahr 1785 legt nahe, dass französische KolonialistInnen sich in der Heimat gerne als menschlich und gerecht gegenüber ihren SklavInnen präsentierten, insbesondere im Vergleich mit dem beständigen Gegner England. Somit wählte das Journal die narrative Strategie, die französische Sklaverei durch englische Augen schildern zu lassen: Ein englischer Reisender, M. Ramsay, „fand zu Recht die Sklaven in den Französischen Kolonien 7

HCA 30/255 Anonym, Dondon, Saint Domingue, an seinen Arbeitgeber in Frankreich, 28.06.1756: „votre habitation v ase bien malgre le derengement de vos negres qui sont le plus mauvesuye coné vous anave toujour de marons jane trouve la vaille de la fain jean trois montés sur les chargé pardessu les pas a nallant au Cap je lheure ay dondonne de Coude foit et fait donne desandre voilla deus fois que je les troive de meme, a legard de remon je ne le voy point tout le monde luy fait ombrage jusqua votre frere qui a voullu le faire maitre a la baze ne lui faizant sependan Rien, mais vôtre faire luy a donne une vollée en regle tout sella noit Rien il viende faire un boy neuf qui est fort baux le resté va asai bien a se qui paroit“.

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Burnard, Trevor: Mastery, Tyranny, and Desire: Thomas Thistlewood and His Slaves in the Anglo-Jamaican World, University of North Carolina Press 2004, S. 31.

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wesentlich besser behandelt als in denen seines eigenen Landes. Ein französischer Sklave, den sein Herr grausam behandelt & der von ihm weder gut ernährt noch gut gekleidet wird, kann seine Klage vor einen Richter tragen, welcher eingesetzt ist, um ihm Gerechtigkeit zu verschaffen. Der Sklave tut dies nicht immer, das ist wahr, wenn er nicht wagt, sich zu beschweren; doch das Gesetz zu seinen Gunsten besteht trotzdem & es gibt einige Beispiele seiner Nützlichkeit“.9 Argumente wie dieses wären Beschreibungen wie denen des bekannten Aufklärers Abbé Raynal entgegengehalten worden, welcher im selben Jahr schrieb, ein Sklavenhalter könne „Körperstrafen erzwingen, ohne dass das machtlose Gesetz ihn aufsuchen & bestrafen würde“.10 Der Abbé Raynal war kein Abolitionist, doch er fand es sei die Pflicht eines ehrbaren Kolonisten, „eine kleine Zahl ungerechter & grausamer Männer einzudämmen & den bedauernswerten Opfern ihrer Barbarei etwas Schutz zu bieten“.11 In den karibischen Kolonien konnten EuropäerInnen exzessive, sadistische Gewalt vollziehen und sogar genießen, die jenseits der Intelligibilitätsgrenzen sogar der französischen Zeitgenossinnen lagen, von denen viele selbst in gewaltgeprägten Arrangements lebten. Hier ist interessant, festzuhalten, dass Gewalt ein Aspekt war, in dem auch sklavenhaltende Frauen sich entgrenzen konnten. Moreau de Saint-Méry zeigte sich „revolté“ angesichts der Grausamkeit der Kolonialistinnen gegenüber ihren SklavInnen – wenig überraschend unterstellte er ein praktisch pauschales Eifersuchtsmotiv und hielt so weibliche Gewalt im Rahmen vertrauter Szenarien.12 Bernard Moitt hingegen hat Fälle eindeutig sadistischer Gewalt von Sklavenhalterinnen untersucht. Die Plantagenbesitzerin Audace aus Léogane in Saint Domingue etwa ließ ein versklavtes Mädchen einfangen, welches marroniert hatte, und

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Journal Général de France, ou Affiches, annonces et avis divers, Samstag 01.01.1785, S. 566: „trouve, avec raison, que les nègres sont beaucoup mieux traits dans les colonies Francoises que dans celles de son pays. Un esclave Francois que son Maître traite avec cruauté & qui n’en est ni bien nourri, ni bien habillé, peut porter ses plaintes devant un juge établi pour lui rendre justice. L’esclave ne le fait pas toujours, il est vrai, ou il n’ose pas se plaindre; mais la loi qui lui est favorable, n’en existe pas moins; & l’on a quelques exemples de son utilité“.

10 Raynal, Guillaume-Thomas: Essai sur l’administration de St Domingue, Paris 1785, S. 14/15: „forcer des chatimens, sans que la loi impuissante le recherche & le punisse“. 11 Raynal, Guillaume-Thomas: Essai sur l’administration de St Domingue, Paris 1785, S. 15. 12 Moreau de Saint-Méry, Descriptions, S. 26.

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„had her put in the stocks, and whipped once she was back on the plantation. The following day Audace ordered that the slave be given the trois piquets punishment, which involved being tied to three posts face down and whipped. With the complicity of one Lazare, Audache [sic!] began to torture the slave. Lazare dowsed her with gunpowder, which he also spread on the cane thrash surrounding her, while Audace set the pile ablaze, meaning to scorch rather than to consume her. As the slave struggled hopelessly to free herself, Audace placed her feet on the slave’s shoulder ‚so that the fire could burn her stomach.‘ Audace then had her taken to the kitchen, where she applied Aloe and Quicklime to the slave’s wounds. The slave was tortured in this manner for five days, until another slave reported the matter to the authorities [...] however, there is no indication that the guilty parties were ever brought to justice“.13

Die Sklavenhalterin erging sich hier offensichtlich in einer tagelang andauernden, abartigen Gewaltorgie am Körper eines jungen Mädchens und nahm auch aktiv daran Teil. Die absolute Eignerschaft, die menschliche Körper über andere menschliche Körper hatten, und die fortschreitende Entmenschlichung der versklavten Körper, kombiniert mit den ohnehin schwachen Implementierungen der Gesetze, welche SklavInnen vor zusätzlicher Misshandlung schützen sollten, scheint wie eine Einladung für die SklavenhalterInnen gewesen zu sein, jegliche Hemmungen fallen zu lassen und sich geradezu orgiastischer Grausamkeit hinzugeben. Selbstverständlich haben diejenigen HistorikerInnen, die argumentieren, dass die Grausamkeit der SklavenhalterInnen aus der Angst vor Rebellion und „Vergiftung“ erwuchs, sowie aus der zahlenmäßigen Unterlegenheit und dem Bedürfnis, die despotische Sozialordnung zu erhalten, nicht Unrecht. Die hier besprochenen Menschen waren alle zu unterschiedlichen Graden Kinder des Ancien Régime und somit vertraut damit, dass Recht durch das und in dem praktiziert wurde, was Michel Foucault abwechselnd als „Theater of horror“14, „The theatre of hell“15 oder „the theate of punishment of which the eighteenth century dreamed“16 bezeichnet hat. Doch die SklavenhalterInnen waren nicht das „Recht“ (im Gegenteil, sie verstießen oft gegen gültige Recht), sie waren nicht der Staat, die Kolonialverwaltung oder irgendein anderes Organ, das für die Ordnungserhaltung in der Kolonie verantwortlich war, selbst wenn sie gelegentlich in derartigen Einrichtungen mitarbeiteten. Die Grausamkeiten, die sie begingen, lagen 13 Moitt, Bernard: Women and Slavery in the French Antilles, 1635-1848, Bloomington/Indianapolis 2001, S. 105. 14 Foucault, Michel: S. 63 15 Ebd., S. 46. 16 Ebd., S. 116.

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weit jenseits dessen, was das Gesetz zur Bestrafung von SklavInnen vorsah. C.L.R. James, Laurent Dubois, Trevor Burnard, Bernard Moitt 17 und diverse andere HistorikerInnen haben jene wenigen Fälle untersucht, in denen SklavInnen tatsächlich Anzeige erstatteten oder die anderweitig publik wurden. Diese wenigen Fälle können das tatsächliche Ausmaß orgiastischer Gewalt gegen SklavInnen nur andeuten, da die meisten Fälle niemals zur Anzeige kamen. Selbst das Journal Général räumte ein, dass SklavInnen Angst davor haben könnten, ihre „BesitzerInnen“ anzuzeigen. Die karibischen SklavenhalterInnen, egal welcher nationalen Affiliation, erhoben das „Theater des Schreckens“ auf ein neues Niveau, und es ist sehr fragwürdig, ob die bekannten Begründungskonzepte (Angst vor den SklavInnen, vor Rebellion und Vergiftung etc.) ausreichen, um dieses Verhalten zu erklären. Die widerwärtigen orgiastischen, sadistischen Exzesse der Grausamkeit, die in den Kolonien stattfanden, können sehr viel simpler, sehr viel einleuchtender und sehr viel unangenehmer für die Nachwelt dadurch erklärt werden, dass diejenigen, die sie ausführten, Vergnügen daraus zogen; und dass die Kolonien der Entdeckung, Entwicklung und Auslebung derartiger „Vergnügungspraktiken“ Raum bot. Zeitgenossen wie der Abbé Raynal, Moreau de Saint-Méry und zu einem gewissen Grad Leonard Gillespie zeigten sich entsetzt angesichts dieser Praktiken, was vor allem zeigt, dass dieses Ausmaß von Gewalt gegenüber SklavInnen eben nicht Teil des vertrauten „Theaters des Schreckens“ war. Zudem gab es zahllose andere SklavenhalterInnen in der Karibik, denen es gelang, ihre SklavInnen brutal auszubeuten, ohne sie in die Luft sprengen, verbrennen oder verstümmeln zu müssen. Die physische Grausamkeit und exzessive Gewalt war eine Entgrenzung, die sich in der Karibik denjenigen eröffnete, die eine Vorliebe dafür spürten; eine Chance, die dunkle Seite der Körperlichkeit zu erkunden, die jedoch nicht dazu geeignet war, in Briefen nach Hause kommuniziert zu werden. Wenn auch die Möglichkeitsräume der Karibik groß waren, so waren die Möglichkeiten des Sag- und Schreibbaren nach wie vor begrenzt. Diese Überlegungen verdeutlichen nocheinmal, dass die Karibik ein Raum der Extreme war, selbst wenn diese spezifische Form des Extremen sich nicht im Untersuchungsmaterial dieser Arbeit ausdrückt. Dort sind die Extreme limitiert auf „verträgliche“ Themen, aber dennoch offensichtlich: Die Karibik war extrem in ihren geophysischen Bedingungen, in ihrer klimatischen Verfassung, in ihren sozialen Arrangements. Europäische Körper fühlten diese Extreme, wenn die Erde unter ihren Füßen bebte, wenn Sonne und Hitze sie quälten; wenn sie sich von Manioc und Avocado ernähren mussten oder wenn ihre Füße von giftigen 17 James, The Black Jacobins; Dubois, Les Vengeurs du nouveau monde; Burnard, Mastery, Tyranny, and Desire; Moitt, Women and Slavery.

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Schlangen attackiert wurden. Hinzu kamen die menschengemachten Extreme der Kolonie, vor allem die Sklaverei und die seltsam zweckbedingte gesellschaftliche Zusammensetzung, welche beide beständig reproduziert und sogar eskaliert wurden. Die menschengemachten Extreme und einige der für Neuankömmlinge oft fremd erscheinenden Praktiken der KolonialbewohnerInnen gingen Hand in Hand mit den naturgegebenen Bedingungen, mussten sich doch die Menschen, die vor Ort lebten, mit diesen Bedingungen arrangieren. Essen und Schlafen, Arbeit und Ruhe, ja die gesamte Strukturierung des Tages wurden an die Hitze angepasst. Geneviève Léti erwähnt, dass martiniquaisische KreolInnen am Tag schliefen und die Kühle der nächtlichen Dunkelheit nutzten, um Besuche und Besorgungen zu erledigen.18 Die fremdartige Bauweise der kolonialen Häuser war der Anpassung an die klimatischen und meteorologischen Bedingungen der Karibik geschuldet.19 Im Gegensatz dazu gingen die hier unter dem Gesichtspunkt „Möglichkeit“ besprochenen Praktiken nicht aus Anpassungen an die naturräumlichen Gegebenheiten hervor, auch wenn Letztere bisweilen als Rechtfertigung für derartige Praktiken genutzt wurden, wie im Fall des Hilfschirurgen Roland, den die Hitze in eine sexuelle Beziehung „gezwungen“ hatte. Die in der Kategorie „Entgrenzung“, „Neuerfindung“, „Redefinition“ besprochenen Praktiken, die sich in den Kolonien entwickelt hatten, entsprangen nicht der Notwendigkeit, sondern der Möglichkeit. Während die diskursiven Fäden, die Europa und die Kolonien verbanden, die karibische Libertinage, débauche, Dekadenz und generelle Zügellosigkeit anprangerten, versprachen sie denjenigen, die mit dem Gedanken einer Umsiedlung in die Karibik spielten, gleichzeitig all das, was sie verurteilten. Frankreich und seine Kolonien entwickelten sich im Austausch miteinander, in einem kulturellen Hin- und Her, welches von den Leuten unterhalten und ermöglicht wurde, die sich im Laufe ihrer Lebensgänge zwischen beiden Räumen bewegten. Familien und Freundschaften, die sich zwischen Frankreich und der Karibik spannten, kreolische Kinder, die in Frankreich aufwuchsen und dann auf die Inseln ihrer Geburt zurückkehrten, verbanden beide Räume miteinander und unterstützten den Eindruck einer diffusen Zusammengehörigkeit. Gleichzeitig vollzog sich ein recht eindeutiger Prozess der Trennung und Abgrenzung. Darstellungen wie Moreau de Saint-Mérys „Déscriptions“ oder auch die publizierten Gerichtsfälle, in denen Tracey Rizzo das „othering“ der Gesellschaft von Saint Domingue in der Metropole nachgezeichnet hat, zeigen, dass den Kolonien innerhalb Frankreichs zunehmend ihre eigenen, distinktiven kulturellen Koordinaten zugeschrieben wurde. Akzeptable, intelligible Praktiken in der Karibik unter18 Léti, Santé, z.B. S. 422. 19 Mulcahy, Hurricanes.

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schieden sich von denen Frankreichs. Dieses „othering“ der Kolonien erlaubte es, die dort stattfindenden Transgressionen auf Abstand zu halten; sie fest in der Karibik zu verankern, weit weg von der Metropole, während diese weiterhin Männer und Frauen in die Kolonien exportierte, die durchaus von einem Moment auf den anderen in der Lage waren, an diesen Transgressionen teilzunehmen. Im Hinblick auf Zugehörigkeit konnten Neuankömmlinge und SiedlerInnen in der Karibik sich mithilfe ihrer brieflichen (Selbst-)Erzählungen verorten. Sie konnten die Region jenseits des Wendekreises des Krebses als ihre neue körperliche Umgebung annehmen, ihre Möglichkeiten nutzen und genießen und die Risiken, die sie im Gegenzug bereithielt, akzeptieren. Oder aber sie konnten sich weiterhin fest in Europa verorten, was bedeutete, dass die Karibik für sie ein „verfluchtes Land“ voller Gefahren, Unannehmlichkeiten und Angst blieb, in das sie nicht gehörten und wo sie niemals gesund und zufrieden sein würden. Einigen wenigen gelang es, sich außerhalb dieser Dichotomie zu positionieren, indem sie ihre eigenen kleinen kolonialen Räume erschufen, in sie körperlich wohlauf, zufrieden und dennoch intelligibel und europäisch bleiben konnten, so wie Mme Rodet, die in der Karibik stetig an Gewicht zunahm und die Umrisse ihres alten Körpers in Form ihrer Kleidung allein zurück nach Europa schickte. Wiederum andere erschufen briefliche Grauzonen zwischen den Extremen: der Hilfschirurg Roland mit seiner Geliebten, aber auch der Offizier Descorches, der glücklicherweise feststellte, dass sich seine Gesundheit durch genüsslichen Alkoholkonsum verbesserte, sind Beispiele. Es gibt ebenso viele Versionen französischer Körper in der Karibik des 18. Jahrhunderts wie es Briefe gibt, die den Körper thematisieren, darstellen und beschreiben. Trotz der relativen Uniformität von Themen und Sprache war jeder „Papierkörper“ eine einzigartige linguistische Kreation, die in Antizipation einer spezifischen Leserschaft erschaffen worden war. Die Erzählung der Umgebung des „Papierkörpers“ – die „Papierkolonie“ – wurde so komponiert, dass sie zur Darstellung des Körpers passte. Dies bedeutet, dass es auch ebenso viele Papierversionen der Karibik gab, wie es Körper gab, die diese erfuhren. Es bedeutet zudem, dass selbst jene Körper, die in ihrer körperlichen Lebenswelt, ihrer physischen Realität niemals in der Karibik zuhause sein würden, in der brieflichen Beschreibung dieser Nichtpassung stets ein perfektes Zusammenspiel zwischen der Karibik und dem Körper erschaffen würden. Der Körper hatte ein Problem, die Karibik war die Ursache. Dies klingt romantisierend, ist jedoch rein pragmatisch gedacht. Auf Papier musste alles zusammenpassen, um Sinn zu ergeben und verständlich zu sein. In einer intelligiblen Erzählung lebte jeder Papierkörper in exakt der Sorte von Papierkolonie, die er benötigte, um von der Leser-

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schaft verstanden zu werden. Und nur die verständliche Erzählung würde erlauben, dass diejenigen, die weit weg lebten, Erfahrungen teilen konnten, die sie nie gemacht hatten; die Dringlichkeit einer Emotion zu erfassen oder die Berührung eines Körpers wahrzunehmen, der sich tausende von lieues entfernt befand, jenseits des Wendekreises des Krebses, und dort mit der Karibik umgehen musste.

Untersuchungsmaterial

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HCA 30/395 HCA 30/396 HCA 30/374 HCA 32/995 Archives Départementales de la Martinique, Fort de France Série J Ordonnance des Mrs les Général et Intendant de la Martinique au Sujet des Boucheries, 25.05.1793. 1 J 18, Complainte d’un tremblement de terre arrivé à la Martinique au mois d’Août 1766 1 J 187, Letter Commandant D. to unknown, Fort Royal, Martinique, 18.06.1826. Andere RES D 109. Alexandre Moreau de Jonnès: Précis sur l’irruption de la fièvre jaune à la Martinique, en 1802 (extrait du bulletin de la société médicale d’émulation, Avril 1806. Par l’aide-de-camp Moreau de Jonnès Code de la Martinique, n. 572-692, Ordonnance n. 608. Archives Nationales d’Outre-Mer (ANOM), online FR ANOM COL E 375: ark:/61561/up424wqxpsun, Zugriff 03.05.2016.

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