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German Pages 128 [130] Year 2020
Der reich illustrierte Band gibt aufschlussreiche Einblicke: in die Entwicklung der Esskultur durch die Zeiten, in das große Thema Ernährung und Gesundheit, aber auch in Foodtrends. Verabschieden wir uns vom klassischen Sonntagsbraten? Haben wir morgen Fleisch aus dem Labor, Algen à la mode und Insekten auf dem Teller? Woran wird in den Laboren der Ernährungsindustrie gearbeitet? Genome editing verspricht Pflanzen, die resistent gegen Schädlinge sind, dem Klimawandel Rechnung tragen und einen hohen Ertrag bringen. Auf wenig Fläche viel ernten will auch der Ökolandbau mit Permakultur. Wie also sieht die Landwirtschaft von morgen aus: voll digital oder voll öko? Letztlich sind wir alle Teil eines Systems von Nahrungsmittelproduktion bis Konsum, und es ist unsere Entscheidung, was morgen auf den Teller kommt.
wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4232-4
Die Zukunft der Ernährung
Was morgen auf den Teller kommt
Die Zukunft der Ernährung Was wir morgen auf dem Teller haben
Die Zukunft der Ernährung
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Die Zukunft der Ernährung Was wir morgen auf dem Teller haben
Herausgegeben in Zusammenarbeit mit bild der wissenschaft
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Redaktion: Zeitschrift bild der wissenschaft Projektleitung und Konzeption: Andrea Stegemann (v.i.S.d.P.) Bildredaktion: Julia Rietsch, Verlagsbüro Wais & Partner Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Seeheim Einbandabbildungen: Bild links: Adobe Stock / JPC-PROD (Bildnr. 25993927); Bild rechts: Adobe Stock / zoyas2222 (Bildnr. 297302811) Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt am Main Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Europe Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4232-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4236-2 eBook (Epub): ISBN 978-3-8062-4237-9
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Inhalt Der Mensch muss essen
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Entwicklung der Esskultur
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Am Anfang war das Feuer 10 Die Entdeckung der Landwirtschaft 16 Arme essen, Reiche speisen 22 Küche ohne Grenzen 28
Ernährung und Gesundheit
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Der Hunger in der Welt 36 Kampf gegen die Kilos 42 Wenn Essen krank macht 48 Gesünder durch Superfood? 54 Trends auf dem Teller 56 Der Duft der Moleküle 62 Ein Handy, das nach Sushi schmeckt 68
Was essen wir morgen?
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Abschied vom Wohlstandsbraten 76 Die Fleisch-Alternative 80 Fisch von der Aquafarm 86 Grillen grillen 92 Grünzeug aus dem Wasser 96
Zukunft der Landwirtschaft
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Ackerbau im Klimawandel 102 Chardonnay wird der neue Riesling 106 Farming 4.0 108 Genome Editing als Chance 116 Zukunftsmodell Ökolandbau 120
Autoren 126 Abbildungsnachweis 128
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Der Mensch muss essen
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hne Nahrung kann der Mensch nicht leben. Während der Schwangerschaft ernährt ihn seine Mutter, doch auch wenn die Abhängigkeit von ihr endet, bleibt die Abhängigkeit von Nahrung dem Menschen ein Leben lang. Nur durch die Zufuhr von Nährstoffen kann der menschliche Körper seine Muskeln, Organe und Gewebe erhalten und können die Prozesse des Lebens in ihm ablaufen. Selbst zum Schlafen braucht der Körper Energie und für alle weiteren Aktivitäten darüber hinaus noch mehr. So ist der Mensch ständig mit dem Thema Essen konfrontiert, normalerweise mehrmals täglich. Schaut
Was aus dem Baby werden wird? Frustesser? Gesundheitsapostel? Gourmet? Vegetarier?
man auf die Zeit, die Menschen pro Tag mit Gedanken übers Essen, Einkauf, Zubereitung und Mahlzeiten verbringen, ist diese zwar individuell und situativ unterschiedlich, aber auf die jeweilige Wachzeit bezogen erheblich. Kurz gesagt: Das Thema Essen ist unser ständiger Begleiter. Ein Problem etwa für Esssüchtige, die – anders als bei Drogen- oder Alkoholsucht – das Thema Essen nie komplett meiden können. Essen hat immer beide Seiten: die biologische und die psychologische Dimension mit Fragen wie: Was nützt dem Körper, was schadet? Zählt die Lust
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oder die Vernunft? Wie will ich persönlich damit umMenschheitsentwicklung die Ernährung darstellt und gehen? Und die gesellschaftlich-wirtschaftliche Seiwie sie immer auch ein Spiegel der Gesellschaft ist. Das zweite Kapitel macht den Sprung ins Heute: Welche Nahrung ist verfügbar? Was kann ich mir te, zur Ernährungslage der Welt und des Einzelnen leisten? Was ist in meinem Umfeld üblich? Und darüber stehen Fragen wie entwicklungsgeschichtliche in unserer Gesellschaft. Die Industrienationen stehen auf der Seite des Überflusses. Das ErnährungsZusammenhänge, gesellschaftliche Rahmenbedingungen, kulturelle Prägungen und Lebensstile, bis zu verhalten ist einerseits von den Verführungen des Leübergreifenden Themen wie der Volkskrankheit Überbensmittelüberangebots geprägt, andererseits vom gewicht, Verantwortung für das Tierwohl oder die ErStreben nach Gesundheit und Fitness – beides große nährung der wachsenden Weltbevölkerung unter den Märkte für die Nahrungsmittelindustrie. Dazu kommt Herausforderungen des Klimawandels. bei vielen Menschen ein zunehmendes VerantworDas Thema Essen ist ein Großes, hat ganz existentungsgefühl angesichts des Zustands der Welt. ziell mit dem Menschsein zu tun und reicht von der Die zentrale Frage lautet: Wie kann eine wachsenpersönlichen Lebensgestaltung bis tief in die Weltpode Weltbevölkerung ernährt werden, ohne dabei die litik hinein. Jede AuseinanErde zu zerstören? Wichtiger Punkt dabei ist das Thedersetzung mit dem Thema „Der Mensch ist, was er isst.“ Ernährung kann also nur bema Fleisch. Bei Fisch sehen Ludwig Feuerbach die Wissenschaftler noch grenzt sein, nur Schlaglich- ter werfen. Was bedeutet Entwicklungspotenzial, und das für Sie als Leser des Sonderbands Zukunft der Erinnovative Konzepte zielen auf den Verzehr von Alnährung, den Sie in Händen halten? Er wird herausgen und Insekten. Dem Bedarf an immer mehr Nahgegeben von der Wissenschaftlichen Buchgesellrungsmitteln steht die Herausforderung der Landschaft (wbg) in Darmstadt in Verbindung mit der Zeitwirtschaft durch den Klimawandel gegenüber: Hitze, schrift bild der wissenschaft. Damit ist klar, dass es Dürre, Überschwemmungen. Wie kann die Landwirtum Erkenntnisse und Forschungsfelder der Wissenschaft unter solchen Bedingungen ihre Erträge steischaft geht. Was die Zukunft sein wird, kann niegern? Die Forscher sagen: sie kann. Allerdings muss mand sagen, aber die Wissenschaft kann Entwicklunsie große Veränderungen schaffen, mit neuen, besser gen und Zusammenhänge analysieren, biologische angepassten Pflanzen, mehr Digitalisierung in der Beund medizinische Erkenntnisse zusammenführen und wirtschaftung. Und immer mit Blick auf die ökologineue Optionen erforschen. So ist es das Konzept dieschen Konsequenzen. ses Bandes, einen Einblick in die Stränge zu geben, Die Herausgeber dieses Buches – die Wissenschaftliche Buchgesellschaft und die Redaktion von bild die bestimmend dafür sind, wie sich die Ernährung des Einzelnen und der Weltbevölkerung entwickelt. der wissenschaft – danken den Autoren dieses BanWir beginnen mit dem Blick zurück: Welche Roldes. Sie lassen uns in ihren verschiedenen Bereichen le spielte die Ernährung in den vergangenen Jahrtauan den spannenden Erkenntnissen und Zukunftsfrasenden der Menschheitsgeschichte? Welche Weichen gen in Forschung und Wissenschaft teilhaben. Und wurden gestellt und was bedeutet dies für heute und eines wird deutlich: Von Ernährungswissenschaft bis die Zukunft? Welche Gesetzmäßigkeiten und StrukAgrarforschung gibt es so viele neue Erkenntnisse turen überdauern – vielleicht in anderer Form – die und Lösungsansätze, dass sie unser Leben schon in naher Zukunft verändern werden. Zeit? Die Autoren zeigen, welch zentralen Faktor der Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Ihre Andrea Stegemann
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Am Anfang war das Feuer Was heute wie Lagerfeuerromantik wirkt, war vor Jahrtausenden ein Meilenstein der Menschheitsgeschichte. Der Homo sapiens hat das Kochen erfunden? Nein, das Kochen hat den Homo sapiens erst hervorgebracht.
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ielleicht gab es ihn, diesen einen Moment, der eine „kochende Leidenschaft“ entfachte: den Blitzeinschlag in einen Baum, auf dem ein frühmenschlicher Jäger und Sammler seine tierische Beute in Sicherheit gebracht hatte. Und danach
Von Rolf Heßbrügge
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wollte er kaum noch etwas anderes essen als dieses herrliche geröstete Fleisch. Verführt von den Bräunungseffekten – Lebensmittelchemiker nennen es Maillard-Reaktion –, die unsere Sinne stimulieren und uns bis heute den Düften eines Grillsteaks erliegen lassen.
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In einer Höhle in Südafrika wurden Reste einer etwa eine Million Jahre alten Feuerstelle gefunden.
Weil aber ein Feuer durch Blitzeinschlag ein eher seltenes Ereignis ist, musste der Mensch erst lernen, die züngelnden Flammen dauerhaft zu erhalten oder sie gar selbst zu erzeugen. Um seine Nahrung entsprechend veredeln zu können, musste er nicht nur darauf kommen, dass es besser war, ein Stück Fleisch auf eine Astgabel gespießt über der heißen Glut zu rösten, als es direkt in die Flammen zu werfen. Er musste entdecken, dass man zwischen zwei im Feuer erhitzten flachen Steinen backen konnte. Dass sich Wasser mit heißen Steinen in einer Felsmulde zum Sieden bringen ließ, um Pflanzenkost darin aufzuweichen. Oder dass man Eier einfach in der Asche am Rand eines Feuers mitgaren konnte. Zum Kochen (von lat. „coquere“ = kochen, sieden, reifen) brauchte es also menschlichen Grips; umgekehrt benötigte der Mensch dafür aber das Kochen: Erst die erhitzte Nahrung hat bei unseren Vorfahren jene Entwicklung befeuert, die ihnen ein beeindruckendes evolutionäres Wachstum ihrer Hirnkapazitäten brachte. Wo der Mensch sich ohne die Kochkunst befände? Womöglich auf dem kognitiven Niveau eines Schimpansen, vermutet Suzana Herculano-Houzel. „Die Entwicklung des menschlichen Gehirns dürfte nur durch das Kochen der Nahrung möglich gewesen sein“, sagt die Neurowissenschaftlerin von der US-amerikanischen Vanderbilt University und gründet ihre These auf einer äußerst „delikaten“ Untersuchungsmethode: Herculano-Houzel pürierte Gehirne von Menschen und Menschenaffen und zählte mittels eines Isotropischen Fraktionators die vorhandene Zahl der Nervenzellkerne aus. Demnach umfasst
Australopithecus
Homo erectus
die Hirnmasse des Homo sapiens rund 86 Milliarden Neuronen und verbraucht ca. 500 Kilokalorien täglich – ein gutes Fünftel unseres Energiebedarfs von rund 2300 Kilokalorien. Die Gehirne von Menschenaffen sind zwar ähnlich dicht verschaltet, jedoch um zwei Drittel kleiner: Je nach Gattung weisen sie zwischen 28 Milliarden (Schimpanse) und 33 Milliarden Neuronen (Gorilla) auf, verbrauchen dafür auch nur rund 200 statt der menschlichen 500 Kilokalorien am Tag. Damit bewegen sich tierische Primaten auf einem ähnlichen kognitiven Level wie der Australopithecus afarensis, ein früher Vorfahre des Menschen, der vor 3,8 bis 2,9 Millionen Jahren durch Ostafrika streifte und eine vergleichbare Hirngröße sowie ein ähnliches Nahrungsspektrum aufwies wie heutige Schimpansen: Letztere kauen zur Deckung ihres Tagesbedarfs von 1800 Kilokalorien gut sechs Stunden lang auf zähem Rohfleisch, faserigen Blättern, gepanzerten Insekten oder harten Nüssen herum. Ein bedeutend größeres Gehirn könnten die Menschenaffen auf diese zeit- und kraftraubende Art kaum in Betrieb halten – jedenfalls nicht, ohne andere lebenswichtige Prozesse wie Nahrungssuche, Nachwuchsaufzucht, Körperhygiene oder Schlaf entscheidend zu vernachlässigen. Zum Vergleich: Der heutige Homo sapiens benötigt nicht einmal eine Stunde, um sich seine täglich benötigte 2300-Kilokalorien-Ration in Form von größtenteils gekochten oder gebackenen Lebensmitteln einzuverleiben. Würden wir die gleiche naturbelassene Kost zu uns nehmen wie Schimpansen, müssten wir mindestens acht Stunden pro Tag mit Kauen zubringen. Der Australopithecus lebte vor etwa 4 bis 2 Millionen Jahren und gilt als früheste Hominiden-Art. Mit einem Volumen von 450 – 550 cm³ entsprach sein Gehirn ungefähr einem Drittel der Gehirngröße des heutigen Homo sapiens. Homo erectus, der das Kochen schon kannte, hat ein Gehirnvolumen von 850 – 1225 cm³. Das Gehirnvolumen von Homo sapiens liegt bei 1300 – 1500 cm³.
Homo sapiens neanderthalensis
Homo sapiens
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Der Körper profitiert von Gekochtem Durch das Kochen können wir unsere Kilokalorien nicht nur leichter aufnehmen, wir können sie auch effizienter in körpereigene Energie umwandeln, denn das Erhitzen der Nahrung wirkt wie eine Art Vorverdauung außerhalb des Organismus. Ein Team um die Harvard-Biologin Rachel Carmody konnte dies nachweisen, indem es Mäusen jeweils vier Tage lang un-
Das „living museum“ der Ju/‘Hoansi-San in Namibia ist nicht nur eine Touristenattraktion. Die Menschen halten dort auch ihre traditionelle Lebensweise lebendig und bewahren das alte Wissen vom Leben und Überleben.
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terschiedliches Futter verabreichte: 1. zerkleinertes rohes Fleisch, 2. geröstetes Fleisch, 3. zerkleinerte rohe Süßkartoffeln, 4. gegarte Süßkartoffeln. Während der Phasen, in denen die Nager Gekochtes fraßen, wiesen sie ein signifikant höheres Körpergewicht auf als in den Rohkost-Phasen – bei jeweils gleicher Nahrungsmenge und vergleichbarer körperlicher Aktivität. In Bezug auf den Fleischkonsum erklären die Forscher ihre Resultate damit, dass die durch Hitze denaturierten Eiweiße besser verdaut werden können. Zudem töte das Erhitzen vorhandene Mikroben ab, was dem Körper eine energieaufwendige Infektionsabwehr erspare. Bei den Süßkartoffeln liegt
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der große Vorteil des Kochens vermutlich im „Verkleistern“ von Stärke: Die Zuckermolekülketten verlieren ihren dreidimensionalen Zusammenhalt und können so leichter verstoffwechselt werden. Die durch das Kochen gewonnene Energie und Zeit setzten unsere frühen Vorfahren produktiv ein: etwa für die Beschaffung zusätzlicher Nahrung oder für die Weitergabe von Wissen und Fertigkeiten – zumal so ein Kochfeuer selbst mundfaule Individuen buchstäblich in einen Gesprächskreis zwingt und der helle Schein der Flammen einen Tag um etliche Stunden verlängern kann. Die Anthropologin Polly Wiessner von der University of Utah unternahm mehrere Forschungsreisen zu den letzten Jäger-Sammler-Ethnien der Gegenwart, etwa zu den Ju/’Hoansi im südlichen Afrika. Dabei fand sie heraus: Tagsüber, während der Jagd oder der Suche nach pflanzlicher Nahrung, waren die Unterhaltungen der Menschen eher einsilbig und zirkulierten meist um praktische Aspekte wie die Fleischverteilung und die Rangordnung. „Doch abends am Lagerfeuer ging es um Themen, die die Vorstellungskraft anregten und Erinnerungen an Vergangenes wachriefen, sowie um die persönlichen Beziehungen“, protokollierte Wiessner. Die Investition in Hirnkapazität wurde zum Kennzeichen der menschlichen Evolution. Ein Gutteil der neu gewonnenen Nahrungsenergie wurde für dieses zentrale Speicher- und Steuerungsorgan verwendet, um seine Fähigkeiten auszubauen. Und ganz nebenbei entwickelte sich die menschliche (Ess-)Kultur, die neben der bloßen Nahrungsaufnahme aus Kommunikation besteht und zudem eine Reihe von Verhaltenskonventionen hervorbrachte, die unser Menschsein ausmachen.
Ein auffallender Entwicklungssprung Über Zeitpunkt und Hergang der Erfindung des Kochens ist, wie eingangs erwähnt, nichts Genaues bekannt. Der älteste jemals gefundene „Kochtopf“ (eine Tonschüssel mit Resten von erhitzten Meeresfrüchten) ist etwa 12 000 bis 15 000 Jahre alt und stammt aus der Jomon-Kultur in Japan. Der früheste hieb- und stichfeste Beweis für eine gezielte Garung von Nahrungsmitteln ist wesentlich älter: An der Fundstätte von Gesher Benot Ya’aqov im heutigen Israel kamen eine vor ca. 790 000 Jahren genutzte Herdstelle sowie verbrannte Essensreste zu Tage. Doch Richard
Wrangham von der Harvard University ist sich sicher: Bereits vor weit über einer Million Jahren muss erhitzte Nahrung im Spiel der Evolution gewesen sein. Etwa zu jener Zeit, so Wrangham in seiner 1999 aufgestellten „Koch-Hypothese“, machte das menschliche Gehirn einen signifikanten Entwicklungssprung: von rund 40 Milliarden Neuronen beim Homo habilis, der vor etwa 2,1 bis 1,5 Millionen Jahren auf der Erde lebte, auf über 60 Milliarden Neuronen beim Homo erectus, der vor etwa 1,8 Millionen Jahren auf unserem Planeten auftauchte und erst vor ca. 40 000 Jahren wieder abtrat. Einen größeren Wachstumsschub habe es in der Evolution zum modernen Menschen kein
Die ersten Kochtöpfe wurden vermutlich in der japanischen JomonKultur zum Kochen von Meerestieren eingesetzt. Die Art der Keramik eignet sich zum Schmoren und Dampfgaren.
zweites Mal gegeben; das sei einzig durch die Entdeckung des Kochens zu erklären, meint Wrangham. Eine gegenläufige Entwicklung zum Gehirn nahmen derweil unser Magen-Darmtrakt und der Kauapparat: Sie schrumpften allmählich. Beim Homo habilis, das belegen Skelettfunde, hatte die Gesamtkaufläche der drei großen Backenzähne noch 478 Quadratmillimeter betragen. Beim frühen Homo erectus hingegen waren es nur noch 377 Quadratmillimeter. Niemals in der menschlichen Evolution haben sich die Zähne stärker verkleinert wie beim Übergang von Homo habilis zu Homo erectus. Zusätzlich schrumpfte auch die Kaumuskulatur – das belegt der
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„Turkana-Junge“, ein ca. 1,5 Millionen Jahre altes Homo-erectus-Skelett, das im heutigen Kenia gefunden wurde: Die Schädelwand an seinen Schläfen ist viel dünner als beim Homo habilis. Der Homo erectus besaß demnach eine ähnlich geringe Kaukraft wie der moderne Mensch, der kein intaktes Gen MYH16 mehr besitzt, das für den Aufbau überdimensionierter Kiefermuskeln verantwortlich zeichnet. Der US-Genetiker George Perry wies nach: Bereits der Homo erectus hatte diese Funktion im Laufe der Evolution eingebüßt – jener Homo erectus also, der laut Richard Wrangham vor weit über einer Million Jahre die Kunst des Feuermachens und des Kochens erlernt hatte. Natürlich erntet Wrangham auch wissenschaftlichen Widerspruch: Der Homo erectus sei nicht intelligent genug gewesen, um seine Nahrung zu erhitzen, heißt es. Ein Experiment des Psychologen Felix Warneken und der Biologin Alexandra Rosati von der Harvard University legt etwas anderes nahe: Selbst Menschenaffen, die laut Anzahl ihrer Hirn-Neuronen gerade mal halb so intelligent sind wie der Homo erectus, können kochen – zumindest in Ansätzen. War-
neken und Rosati ließen verschiedene Schimpansen eine Wahl zwischen gekochten oder rohen Süßkartoffeln treffen, durch Zeigen oder Berühren. Dabei stellten die Forscher fest, dass die Tiere gekochte Knollen eindeutig bevorzugten, selbst dann, wenn sie länger darauf warten mussten. Einige waren sogar bereit, ihre Nahrungsmittel eigenhändig zum Herd zu tragen, statt dem Drang nachzugeben, das verfügbare Rohfutter sofort zu fressen. Dazu passt auch die Beobachtung, dass wildlebende Schimpansen nach Waldbränden besonders gern geröstete Pflanzensamen fressen. Ein in der kenianischen Koobi-Fora-Region gemachter Fund spricht ebenfalls für Wranghams „Koch-Hypothese“: ein angesengter Sedimentfleck und Steinwerkzeuge, die offensichtlich einem Feuer ausgesetzt waren. Ein Wissenschaftler-Team, das die Hinterlassenschaften analysierte, bezifferte deren Alter auf rund 1,5 Millionen Jahre. In Chesowanja, ebenfalls in Kenia, fand man eine ähnliche Feuerstelle mit Steinwerkzeugen, Tierknochenresten und Lehmbrocken. Bloße Arrangements des Zufalls? Eher nicht. Der Turkana-Junge: Nachbildung eines etwa neunjährigen Homo erectus, dessen Skelett 1984 in der Nähe des TurkanaSees in Ostafrika gefunden wurde.
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Keine Hemmschwelle: obwohl sie in der Natur nur Rohes fressen, nehmen Schimpansen das Angebot von gekochtem Essen an, etwa weich gekochte Süßkartoffeln.
steuern bestimmte Abwehrreaktionen in den menschlichen Körperzellen, wenn wir auf beißenden Rauch oder krebserregende Kohlenwasserstoffe in angebranntem Grillgut treffen – ein Mechanismus, über den Menschenaffen so nicht verfügen. Das uralte Spiel mit dem Feuer hat uns also nicht nur wohlgenährt und schlau werden lassen, sondern auch ziemlich hart im Nehmen.
Die Hadza aus Tansania, die bis heute als Jäger und Sammler umherstreifen, garen ihre Nahrung (vorrangig Knollen und Zwiebeln, gelegentlich etwas Wild) noch immer an derartig improvisierten und meist nur einmal genutzten Feuerstellen. Sie entzünden kleine Zweige oder trockenen Tierkot und rösten ihre Speisen drei bis fünf Minuten lang in den Flammen, um schwerverdauliche oder giftige Inhaltsstoffe zu vernichten. So hat das Kochen auch die Auswahl an Nahrungsmitteln erweitert, die für uns Menschen verträglich sind. Dass die Hadza während der Essenszubereitung dicht beim Feuer kauern können, ohne über tränende Augen oder Hustenanfälle zu klagen, ist wohl ebenfalls der langen menschlichen Kochtradition und einem entsprechenden evolutionären Anpassungsprozess zu verdanken: Der US-amerikanische Ernährungsforscher Gary Perdew von der Penn State University fand eine schützende Mutation im Bauplan unserer Aryl-Hydrocarbon-Rezeptoren (AhR). Die AhR Im Norden Tansanias lebt das kleine Volk der Hadza noch fast genauso, wie seine Vorfahren zehntausende Jahre zuvor. Feuer machen gehört zum Alltag.
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Die Entdeckung der Landwirtschaft Mit der landwirtschaftlichen Kultivierung hat der Mensch die Welt verändert. Seit rund 12 000 Jahren ernähren wir uns von der Landwirtschaft – im selben Zeitraum wuchs die Menschheit von acht Millionen auf acht Milliarden. Erfolgsstory oder Pyrrhussieg?
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Von Rolf Heßbrügge
Unsere Vorstellung vom ursprünglichen Leben hat viel mit alten Bauernhöfen, wogenden Ähren und glücklichen Kühen zu tun. Doch dieses Bild ist trügerisch.
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ie Geschichte der Landwirtschaft begann im „Fruchtbaren Halbmond“, zwischen Sinai und Nord-Mesopotamien: Um ca. 9600 v. Chr. kultivierten Menschen aus der Kreuzung mehrerer Wildgräser die ersten Weizenarten Einkorn und Emmer. Parallel zähmten sie Wildziegen, die als Fleischlieferanten dienten. Als Nächstes züchteten die neuen Bauern Hülsenfrüchte (8000 v. Chr.), begannen die Milch ihrer Tiere für sich zu nutzen (7000 v. Chr.), bauten Oliven an (4000 v. Chr.) und domestizierten Pferde (3500 v. Chr.). Bis spätestens um 3500 v. Chr. begann man auch in Europa, Afrika, Amerika sowie Fernost, stärkehaltige Pflanzen landwirtschaftlich zu
nutzen. Rind, Schaf, Schwein, Geflügel & Co. erweiterten das globale Spektrum der Proteinlieferanten. Und danach? Passierte nicht mehr allzu viel. Bis heute zieht die Menschheit rund 90 Prozent ihres Energiebedarfs aus sechs uralten bäuerlichen Nutzpflanzen: Weizen, Reis, Mais, Kartoffel, Hirse und Gerste. Dennoch ist die Geschichte der Landwirtschaft unendlich spannend, denn die neue Lebensweise brachte eine gesteigerte Versorgungssicherheit, faszinierende Kulturen und atemberaubende technische Errungenschaften mit sich, aber auch schwere Konflikte, fatale Krisen und eine tiefgreifende Veränderung der Landschaften der Erde.
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Vom Jäger zum Bauern Mit der sogenannten landwirtschaftlichen Revolution vor gut 12 000 Jahren begann das Zeitalter des Neolithikums (Jungsteinzeit). Zuvor hatten sich unsere Vorfahren über Millionen Jahre hinweg ausschließlich von dem ernährt, was die Natur ihnen bot: Homo ergaster (vor 1,9 bis vor 1,4 Millionen Jahren) oder Homo erectus (vor 1,8 Millionen Jahren bis vor ca. 40 000 Jahren) sammelten die Samen von Wildgräsern, verspeisten Früchte von wilden Bäumen und jagten noch wildere Tiere. Auch der Homo sapiens, der vor 300 000 Jahren in Ostafrika die Bildfläche betrat und sich in alle Erdteile ausbreiten sollte, war die meiste Zeit über ein erfolgreicher Jäger und Sammler. „Die landwirtschaftliche Revolution geschah nicht über Nacht“, veranschaulicht der Prähistoriker Dirk Meier: Noch zwischen 11 400 und 10 700 v. Chr. sei der Fruchtbare Halbmond aufgrund milder klimatischer Verhältnisse so etwas wie ein natürlicher Garten Eden gewesen, mit gewaltigen Herden von Gazellen
(Ableitung des arabischen Begriffs „Ghazala“ = wilde Ziegen; die Redaktion) und üppigen Wildgetreidevorkommen. Warum also sollten die Menschen alles auf den Kopf stellen? Weil das Klima buchstäblich rauer wurde und die Ernährungslage zusehends weniger paradiesisch. Einerseits verspürten manche Wildbeutergruppen sicherlich Konkurrenzdruck durch rivalisierende Gruppen und damit Ressourcenknappheit, andererseits entdeckten die frühen Neolithiker, dass Wildgetreidevorkommen sich ausbreiteten, wenn Körner – etwa beim Transport – zufällig in umliegende Böden gelangt waren. Fortan konnten die Menschen quasi selbst bestimmen, wo sie ihr Korn anbauten. Parallel hielten sie eingefangene Wildtiere als – nachwachsenden – Fleischvorrat. „So setzte ein evolutionärer Prozess ein, in dessen Verlauf der Homo sapiens nicht Die neue bäuerliche Wirtschaftsweise „wanderte“ zwischen etwa 9600 und 3800 v. Chr. aus dem Vorderen Orient nach Nordwesten bis zu den britischen Inseln.
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nur Weizen, Ziegen und später Schafe, sondern auch sich selbst domestizierte, indem er schlicht sesshaft wurde“, erklärt der Archäologe Johannes Müller von der Universität Kiel: „Bereits 9600 v. Chr. lebten etwa in Jericho Bauern in Häusern und lagerten Getreide als Vorrat und Saatgut.“ Einmal fest verwurzelt, züchteten die Landwirte immer effizientere Nutztiere und -pflanzen heraus. Sie ersannen Konzepte zur Bewässerung und zum Düngen mit Tierkot, sodass die neue Lebensweise sie zusehends energiereicher ernährte, obgleich Johannes Müller gewisse Startschwierigkeiten anmerkt: „Wenn man die Körpergröße als Maßstab für den Ernährungszustand nimmt, muss man sagen: Die allerersten Neolithiker waren zunächst etwas kleiner als ihre wildbeutenden Vorfahren.“ Der hohe Zuckergehalt der getreidereichen Kost sorgte zudem für gesundheitliche Probleme und das tägliche „Ackern“ für immense Gelenkschmerzen, denn Vieh und Feld mussten unablässig gefüttert oder von Unkraut befreit werden. Zudem galt es, die eigene Produktion gegen Räuber zu verteidigen. Viele Anthropologen halten die bäuerliche Sesshaftigkeit sogar für die Wiege aller Konflikte um Land und Lebensgrundlagen, denn: Anders als Wildbeuter hatten Weizenzüch-
ter keine Ausweichmöglichkeit mehr, wenn Fremde ihre Ressourcen beanspruchten. Dabei war schon bald genug Nahrung für alle da – so schien es zumindest, denn die frühen Landwirte produzierten immer mehr Kilokalorien pro Hektar. „Dadurch kam jedoch eine Spirale in Gang“, erklärt Prähistoriker Meier. „Mehr Nahrung brachte indirekt mehr Menschen hervor, die wiederum mehr Ressourcen verschlangen.“ Hatten vor rund 12 000 Jahren nur schätzungsweise acht Millionen Jäger und Sammler auf Erden gelebt, so waren es 10 000 Jahre später bereits 250 Millionen Bauern – und gerade noch zwei Millionen Wildbeuter, die sich zusehends an den Rand gedrängt sahen. Ihr angestammtes Revier wurde mit Getreide bepflanzt oder von Nutztieren beweidet, während ihre natürlichen Wasserläufe von den Bauern abgegraben und ihr Jagdwild wie Schädlinge bekämpft wurde.
Ackerbau verändert das Gesicht der Erde Vor allem der Ackerbau hinterließ ein Bild der Verwüstung. Die schwerwiegendste Folge neben der Abtragung von Erdreich durch Wasser und Wind-Erosion war die Versalzung der Böden durch den sogenannten Kapillareffekt: In engen Ackerfurchen steigt Was-
Umweltschäden durch die Landwirtschaft sind kein modernes Phänomen, schon früh kam es beispielsweise zu versalzten Böden.
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ser entgegen der Schwerkraft auf, weil eine Adhäsionskraft zwischen dem Wasser und der Oberfläche wirkt. Auf bewässerten Flächen gelangt so auch salzhaltiges Grundwasser mit nach oben und verdunstet. Das aus dem Grundwasser gelöste Salz verbleibt an der Oberfläche und macht den Boden unbrauchbar. Rund 4000 Jahre alte Keilschrifttafeln aus Mesopotamien zeugen davon, dass „schwarze Felder weiß wurden“ und „Pflanzen an Salz erstickten“. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari fällt in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ ein harsches Urteil: „Die landwirtschaftliche Revolution war der größte Betrug der Geschichte.“ Ganz so weit will Prähistoriker Meier nicht gehen, aber: „Man kann mit Sicherheit sagen, dass viele der aktuellen Umweltprobleme ihren Ursprung weit vor Christi Geburt haben. Dass ausgerechnet die Wiege der Landwirtschaft heute zu den kargsten Landstrichen der Erde zählt, ist wohl auch eine Folge intensiver Bodennutzung.“ Die frühen Bauern aber ahnten nichts von den Konsequenzen ihres Handelns und erschlossen immer neues Land: War ein Acker nicht mehr fruchtbar, wurde er durch einen neuen ersetzt, man spricht von Wanderfeldbau. „Spätestens mit Bestehen des Römischen Reiches (ab 753 v. Chr.; die Redaktion) kam die großangelegte Abholzung von Wäldern hinzu.“ Derlei Eingriffe nahmen Einfluss auf
regionale Niederschlagsmengen, führten zu Verödung und Versteppung und zogen massive Folgen in der CO₂-Bilanz nach sich, wie Archäologe Müller vorrechnet: „Im globalen Maßstab gab es schon sehr früh menschengemachte Klimaveränderungen. Das lässt sich schon für die Zeit ab 4000 v. Chr. feststellen, also noch im Neolithikum.“ Bis 5500 v. Chr. war das Lebensmodell Landwirtschaft über Anatolien und die Balkanregion bis in den heute deutschsprachigen Raum gelangt. „Gen-Analysen von Knochenfunden belegen, dass das Bauerntum durch einen Mix aus kultureller Anpassung und Migration vordrang“, erklärt Johannes Müller. „Schon um ca. 6000 v. Chr. hatte es größere Familienverbände aus Kleinasien gegeben, die eine erstaunliche Mobilität aufwiesen.“ Die ersten Landwirte im heutigen Deutschland waren die jungsteinzeitlichen Linienbandkeramiker (etwa 5450 bis 4900 v. Chr.); sie bauten Langhäuser aus Holz, beherrschten die Kunst der Töpferei und verzierten ihre Keramik mit Linienbandmustern, daher ihr Name. „Diese Kultur hatte sich vom Neusiedler See aus gen Nordwesten verbreitet, ihre Rinder aber waren laut Gen-Abdruck anatolischen Ursprungs“, erklärt Müller. Der Vormarsch der Linienbandkeramiker nach Mitteleuropa endete erst mit den lockeren, sedimentreichen Lössböden, die im Westen bis ins Pari-
Die Linearbandkeramische Kultur ist die älteste bäuerliche Kultur der Jungsteinzeit Mitteleuropas. Die Menschen dieser Zeit bauten die ersten ständigen Siedlungen mit festen Häusern.
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Jungsteinzeitliche Steinklingen variieren stark in Größe und Form, abhängig von ihrer Verwendung, etwa als Fällaxt oder Beil für kleinere Arbeiten. Abgebildet sind originale Klingen aus Stuttgart-Mühlhausen. An den beiden Nachbildungen quergeschäfteter Äxte sind die Klingen mit einer Schnur am knieförmigen Schaft befestigt.
ser Becken und im Norden bis etwa zur Elbe vorkommen. „Nördlich der Verbreitungsgrenze dieser Böden schweiften noch lange (bis weit nach 4000 v. Chr.; die Redaktion) Jäger und Sammler umher“, so Meier.
Erfindungen bringen die Landwirtschaft voran Derweil sorgte die Landwirtschaft regionen- und epochenübergreifend für zahlreiche technische Errungenschaften wie etwa Keramikgefäße zum Einlagern von Korn (ab ca. 6500 v. Chr.). Um ca. 6000 v. Chr. folg-
te eine kreisrunde waagerechte Fläche, die sich um eine zentrale Achse dreht: die am Indus ersonnene Töpferscheibe. Ab ca. 5000 v. Chr. entstand die Verbindung des jungsteinzeitlichen geschliffenen Steins mit einem Holzstiel zur Axt. Dank Letzterer konnte der Wanderfeldbau in zuvor bewaldete Areale expandieren, dazu mussten die Bäume nicht einmal brachial gefällt werden: Per Axt ließ sich rund um den Stamm ein Streifen Rinde herausschlagen, was den hölzernen Riesen die Lebensgrundlage raubte, denn die Rinde befördert lebenswichtige Stoffwechselprodukte (Assimilate) aus der Baumkrone in Stamm und Wurzeln. War diese Versorgung unterbrochen, trocknete der Baum aus, sodass man ihn leicht per Brandrodung entfernen konnte. Praktischer Nebeneffekt: Die entstehende Asche düngte den neu gewonnen Ackerboden. Um 4500 v. Chr. wurde an Euphrat und Tigris erstmals der hölzerne Hakenpflug eingesetzt. Um 3500 v. Chr. folgte – basierend auf der Idee der Töpferscheibe – das Wagenrad, das fortan die Felder Asiens und Europas überrollte. Neben derlei technischen Hilfsmitteln nutzten die Bauern auch immer mehr Vierbeiner zur Arbeitserleichterung, denn gezogen wurden Pflug und Wagen von zahmen Rindern oder Pferden. Deren Muskelkraft wurde dringend benötigt, denn die weltweite Anbaufläche wurde größer und größer, und die Bevölkerungszahl wuchs mit ihr um die Wette. Mit steigendem Nahrungsbedarf entwickelten die Menschen immer mehr Kenntnisse über Erhaltung und Optimierung der Bodenfruchtbarkeit. Schon die antiken Griechen erfanden um ca. 1000 v. Chr. die Zweifelderwirtschaft: Ein Acker wurde bestellt, die Fläche nebenan lag brach, damit der Boden regenerieren
Die ältesten europäischen Funde von Karren, Rädern oder Wagen stammen aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrtausends v. Chr. Es waren vorrangig Zweiachser.
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konnte. Im frühen Rom (ab ca. 750 v. Chr.) frönte man der Cultura Promiscua, zu Deutsch: gemischter Anbau. Oliven, Wein und Getreide wurden auf demselben Feld gezogen. Dadurch waren die Böden ganzjährig bedeckt, was die Erosion stark reduzierte. Die immensen Nährstoffverluste durch Dauerbewirtschaftung kompensierte man mit Dung, der dank Stallhaltung ausreichend zur Verfügung stand. Doch das Primat der Nachhaltigkeit sollte schon bald in Vergessenheit geraten. Als die Landgüter Roms immer größer wurden, wich man von der arbeitsintensiven Cultura Promiscua ab, was ebenso wie die fortschreitende Entwaldung zu einer Flächenverödung führte, die sich bis heute global fortsetzt: Laut Umweltbundesamt gehen der Erde pro Jahr ca. zehn Millionen Hektar an nutzbarem Acker verloren, das entspricht etwa der gesamten in Deutschland bewirtschafteten Fläche. Die Römer mussten bereits um Christi Geburt ca. 200 000 Tonnen Weizen pro Jahr aus ihren nordafrikanischen Territorien importieren, was auch dort die Erosion und Versalzung der Böden vorantrieb. Der um 200 n. Chr. in Karthago (heutiges Tunesien) lebende Schriftsteller Tertullian orakelte: „Wir sind zu viele auf dieser Erde ...“ Das Ende des Römischen Reichs und die Völkerwanderung verschafften zumindest im klimatisch begünstigten Mitteleuropa vielen erschöpften Böden die dringend benötigte Regenerationszeit, denn nun wur-
Mähdrescher statt mühseliger Handarbeit. Was nach geglücktem Fortschritt aussieht, ist nur ein Teil der Wahrheit. Aufs Ganze gesehen, sind die Herausforderungen der Landwirtschaft heute nicht kleiner als früher.
den zahlreiche ehemals kultivierte Flächen vom Wald zurückerobert. Auch größere Kriege, kleinere Klimaveränderungen, wiederholte Missernten oder Pandemien wie die Pest sorgten für Erholungsphasen für die Natur, doch diese waren stets von kurzer Dauer und zogen meist eine noch großflächigere und extensivere Bodennutzung nach sich. Heute nimmt allein der weltweite Weizenanbau über zwei Millionen Quadratkilometer in Anspruch – das entspricht etwa der sechsfachen Fläche der Bundesrepublik Deutschland. War die landwirtschaftliche Revolution also eine Erfolgsstory oder doch ein „Betrug“, wie Yuval Noah Harari schreibt? „Das Bauerntum hat ein rasantes Wachstum der Menschheit und einen immensen technischen Fortschritt nach sich gezogen – mit allem, was dazugehört“, urteilt Johannes Müller. „Zudem geht die technologische Veränderung immer schneller vonstatten, denn die heutigen acht Milliarden Menschen entwickeln nun mal mehr Ideen als acht Millionen.“ Ob die Landwirtschaft nun eine Erfolgsgeschichte sei, könne man noch nicht abschließend beurteilen, meint Müller: „Die Antwort wird auch davon abhängen, wie wir unser technologisches Knowhow künftig einsetzen.“
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Arme essen, Reiche speisen Essen ist der Spiegel unseres Geldbeutels und Denkens. Was und wie die Menschen aßen, war lange Zeit eine Frage der Herkunft und des Standes. Heute sind die Vorzeichen andere, aber der Unterschied bleibt.
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tellen wir uns vor, ein Mensch des Mittelalters würde heute wie ein Außerirdischer auf die Erde plumpsen, direkt in unsere Gegenwart hinein. Nachdem im Mittelalter rund 90 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiteten, wäre der Fremdling vermutlich ein Bauer. Wahrscheinlich würde er vor Schreck erst einmal in Ohnmacht fallen, um sich dann, wiedererwacht, wie im sagenhaften Schlaraffenland zu fühlen: einem Ort des Überflusses, mit den schönsten Speisen, jederzeit zum Greifen nah. Wie im
Von Georg Etscheit
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Märchen eben, denn seine Wirklichkeit sah anders aus. Harte körperliche Arbeit, Mangel am Nötigsten – und viele Jahre der Nahrungsknappheit und des Hungers. Nur wenn man sehr lange zurückblickt, war der Nahrungsmangel offenbar noch nicht allgegenwärtig. Paläontologen sagen, dass in der Altsteinzeit, also vor 2,5 Millionen Jahren bis 9500 vor Christi Geburt, die noch wenigen Menschen relativ gut ernährt und vergleichsweise gesund waren. Vielleicht war dies jenes „Goldene Zeitalter“, das verlorene Paradies, das in My-
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„Die gut ausgestattete Küche“, ein Bild des Antwerpener Künstlers Joachim Beuckelaer aus dem 16. Jahrhundert.
then überliefert wurde und nach dem sich die Menschen später zurücksehnten.
Hunger als ständiger Begleiter Mit zunehmender Bevölkerungsdichte wurde Hunger zum ständigen Begleiter des Menschen. In Europa war die Völkerwanderungszeit mit ihren Umwälzungen nach dem Niedergang des Römischen Reiches besonders prekär. Viele Jahrhunderte waren von Hungersnöten geprägt und selbst Fälle von Kannibalismus soll es gegeben haben. Nachhaltig besserte sich die Versorgungslage erst im 11. Jahrhundert, als immer mehr unkultiviertes Land urbar gemacht wurde und sich langsam auch in Mitteleuropa eine wirkliche Agrarkultur herausbildete. Doch mit der Schaffung von Ackerfläche wuchs die Konkurrenz um deren Nutzung, und die Knappheit an Nahrungsmitteln wurde mehr und mehr zu einer sozialen Frage. Wirtschaftliches Wachstum in Verbindung mit einer klimatischen Warmphase bescherte den Europäern im 13. Jahrhundert eine fragile Blütezeit, von der,
wie Massimo Montanari in seiner „Kulturgeschichte der Ernährung in Europa“ schreibt, selbst die niederen Schichten profitiert hätten. Schon wurde der Hunger als „Problem der Vergangenheit“ angesehen, doch weit gefehlt, wie die folgenden Jahrhunderte zeigen sollten. Bis in die jüngste Vergangenheit hungerten Menschen auch in Europa, etwa im berüchtigten deutschen „Steckrübenwinter“ am Ende des Ersten Weltkrieges oder in der Ukraine als Folge der Zwangskollektivierung der Bauern unter Stalin. Dass sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges die Ernährungskrisen meist auf den afrikanischen Kontinent beschränken, kann verantwortungsbewusste Menschen nicht beruhigen, sind sie doch auch Folge der einstigen Kolonialherrschaft und bis in die heutige Zeit andauernder ökonomischer Benachteiligung.
Von Hunger zu Übergewicht Nach Jahrhunderten, in denen Nahrungsmittelknappheit eher die Regel als die Ausnahme war, leben zumindest die Bewohner der hoch entwickelten Industrieländer heute in einem realen Schlaraffenland, in dem Essen – für die allermeisten – jederzeit in jeglicher Variation zur Verfügung steht. Gebratene HühErster Weltkrieg: Die Fotografie zeigt Sozialarbeiter bei der Essensausgabe an Kinder auf einem Schulhof in Berlin.
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„Kleines Festessen“ beim Adel, ein Werk von Lucas van Valckenborch.
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ner fliegen einem zwar immer noch nicht direkt in den Mund, werden aber von Lieferdiensten bis an die Haustür gebracht. Die Ernährungsverhältnisse stehen im 21. Jahrhundert gewissermaßen auf dem Kopf: Ein ausgemergelter Körper ist zum Schönheitsideal der Überflussgesellschaft geworden. Zugleich zeigt die Volkskrankheit Übergewicht, dass die Wenigsten bereits verinnerlicht haben, dass sie nicht mehr auf Vorrat essen müssen. Die bittere Erfahrung des Mangels ist immer noch tief in die DNA der Menschen eingeschrieben, und ohne bewusstes Dagegenhalten greifen wir nach allem Essbaren, was an unserem Wege liegt. Eine andere Umkehrung betrifft Speisen und Gerichte. Wenn alles, was einmal exklusiv war, jetzt für jeden zugänglich ist, wo ist dann die neue Exklusivität? Plötzlich werden ehemalige Armenspeisen zu Modegerichten, wie das Bircher-Müsli, die moder-
ne Variante des einstigen Getreidebreis aus Haferschrot, Wasser und Salz. Auch dunkles Vollkornbrot aus Roggen oder Gerste, Renner in den Biobäckereien angesagter Stadtviertel, wurde einst von den besser Gestellten verschmäht. Sie bevorzugten weißes Weizenbrot oder gleich feines Gebäck, wie das der französischen Königin Marie Antoinette zugeschriebene Zitat erkennen lässt, die den darbenden, revolutionär gesinnten Massen zugerufen haben soll, sie sollten doch Brioche essen, wenn sie kein Brot hätten. Ob der in Rousseaus „Confessions“ zitierte Ausspruch authentisch ist oder nicht, sei dahingestellt.
Esskultur als Abgrenzung der Reichen Ab dem 11. Jahrhundert, nachdem in Ritterkreisen auch Frauen am Essen teilnehmen durften, galt die Regel, dass man in Anwesenheit einer Frau gewaschen zu Tisch zu erscheinen habe und nicht mehr mit der ganzen Hand, sondern nur noch mit Daumen,
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Zeige- und Mittelfinger in die Schüssel greifen dürfe. Daneben nutzte man nur Messer und Löffel. Die Gabel galt als Werkzeug und Symbol des Teufels und war im Mittelalter von der Kirche verboten. Erst im 16. Jahrhundert gelangte sie über Caterina de Medici an den französischen Hof. Zuerst noch als affig und weibisch verpönt wurde sie später zum Symbol des Feinen und Vornehmen. Die Entstehung der Kochkunst datiert der Historiker Montanari auf das klimagünstige 13. Jahrhundert, wobei auch schon die Römer die Zubereitung feiner Speisen zu höchster Meisterschaft entwickelt hatten – von den Chinesen einmal ganz abgesehen, doch dieses Wissen war i n unseren Breiten weitgehend verloren gegangen. Die „neue Naschhaftigkeit“ bewog Papst Innozenz III. zu einer scharfen Verurteilung weltlicher Eitelkeit, zu der er auch die „Sünden des Gaumens“ zählte. Damals kamen stark gewürzte Speisen – Gewürze waren Luxus – in Mode, der Konsum hochwertigen Fleisches stieg an, und die Köche ersannen kunstvoll geschichtete Kuchen, Torten und Pasteten. Eine rei-
che Tafel und dazu passende Tischmanieren wurden zu einem Abgrenzungsmerkmal des Adels, der hohen Geistlichkeit und des sich heranbildenden reichen Bürgertums. Noch im 15. Jahrhundert setzte der burgundische Hof Maßstäbe für die Kunst der Tafel und die höfische Festkultur. Das Zeremoniell war durchorganisiert, die Rollen verteilt, und von der Sitzordnung bis zur Reihenfolge bei der Bedienung spiegelte es Machtkonstellationen und gesellschaftlichen Status. Feste dienten der Diplomatie, Bankette als Demonstration dessen, wer man war und was man hatte. Bis heute sind diese Aspekte Teil unserer Esskultur geblieben, auch wenn es sich nun Party oder Geschäftsessen nennt.
Arm isst einfach Dagegen war die Küche der Armen über die Jahrhunderte eintönig, und die Tischsitten blieben ungeschliffen. Die Basis bildeten Kohl, Wurzelgemüse und der unvermeidliche Getreidebrei. Häufig gab es
Hungernde Bäuerinnen in Georgien. Ein Foto von 1932.
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Eintopf: Man konnte verwenden, was gerade gemäß Haushaltskasse und Jahreszeit zur Verfügung stand, brauchte nur eine einzige Kochstelle, und zur Essenszeit wurde einfach der Topf oder eine Schüssel auf den Tisch gestellt. Jeder Esser hatte seinen eigenen Löffel – oft ein Taufgeschenk –, leckte ihn nach der Mahlzeit sauber ab und hängte ihn an seinen Platz zurück. So gab es wenig aufzuräumen und alle konnten schnell wieder zu ihrer Arbeit. Außerdem musste die Familie kaum Geld für Geschirr und Besteck investieren. An Festtagen gab es etwas mehr – so man hatte. Fleisch gab es, wenn überhaupt, in gepökelter Form oder in jener des sprichwörtlichen Suppenhuhns, das keine Eier mehr legt. Fisch, meist Hering, kam gesalzen oder geräuchert auf den Tisch, die Kaufleute der Hanse machten gute Geschäfte mit dieser klassischen Armeleutespeise. Nach dem Aufschwung im 13. Jahrhundert verlangsamte sich die landwirtschaftliche Expansion im 14. Jahrhundert wieder. Der Hunger kehrte zurück, in einem bis dahin unbekannten Ausmaß, gefolgt von Pestepidemien, die die geschwächte Bevölkerung hart trafen. Die Folge waren eine Verödung ganzer Landstriche und ein Niedergang des Getreideanbaus, was wiederum die Viehzucht begünstigte und den Fleischkonsum ansteigen ließ. Erstaunlicherweise verbrauchten die Menschen in Deutschland im 15. Jahrhundert durchschnittlich 100 Kilogramm Fleisch jährlich, weit mehr als jene sechzig Kilogramm, die heute jeder Deutsche pro Jahr vertilgt und eine Menge, die von heutigen Medizinern und Ökologen als ungesund und klimaschädlich verdammt wird. Mit dem erneuten Bevölkerungswachstum und der damit einhergehenden Zunahme des Getreideanbaus gewann zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert das sprichwörtliche „tägliche Brot“ seine alles überragende Bedeutung als Eine alte Maggiflasche, etwa aus dem Jahr 1914. Die Maggiwürze gibt es seit 1886.
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europäische Alltagsspeise, mit der im deutschsprachigen Raum bis zu 75 Prozent der Kalorienzufuhr der Gesamtbevölkerung abgedeckt wurden. Zahlreiche Bräuche, Sprichwörter und Redensarten zeugen noch immer von der überragenden Bedeutung des Brots für die historische Alltagskultur Mitteleuropas. Die bei Kindern beliebte Nachspeise „Armer Ritter“ – alte Brotscheiben mit Milch und geschlagenem Ei durchtränkt, in Fett ausgebacken und gezuckert – erinnert daran, dass die Küche der einfachen Leute stets auch eine Resteküche war. Noch für unsere Großeltern war das Wegwerfen von Lebensmitteln, vor allem des „heiligen“ Brotes, ein Sakrileg. Heute gilt die allgegenwärtige Nahrungsmittelvergeudung als politisches und ökologisches Problem. Auch auf diesem Gebiet haben sich die Verhältnisse vollständig gedreht.
Brennglas 18. Jahrhundert Arme essen, Reiche speisen – diese Zweiteilung zeigte sich noch einmal wie in einem Brennglas im 18. Jahrhundert. Damals stießen bei explosionsartig wachsender Bevölkerung das Handelssystem und die landwirtschaftliche Produktion – trotz beachtlicher Fortschritte in der Agrartechnik – wieder an ihre Grenzen. Dagegen kapselte sich eine parasitäre Adelsgesellschaft im Zeichen absolutistischer Höfe wie dem von Versailles zunehmend von der übrigen Bevölkerung ab, die durch hohe Steuern und Abgaben immer tiefer ins Elend gestoßen wurde. Während im vorrevolutionären Paris infolge von Missernten der Brotpreis immer neuen Höhen erreichte, brachen die Tafeln der Adligen unter der Last der von Heerscharen an Köchen und Bediensteten aufgetischten Delikatessen fast zusammen. Das Prinzip der Zurschaustellung dessen, was man hatte und einen vom „Volk“ unterschied wurde auf die Spitze getrieben. „Es ist dies der Bereich des gesellschaftlichen Privilegs und der politischen Macht – der Welt des Hungers und der Angst in immer krasserer Weise gegenübergestellt“, schreibt Montanari. Solche Schau-
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essen bestanden oft aus mehr oder weniger ungenießbaren Lebensmittel-Skulpturen, kunstvoll geschichteten Pasteten und Sülzen, bildhaft geformten Backwerken sowie filigranen Zuckerplastiken, die später durch Tischaufsätze aus Porzellan ersetzt wurden. Weil beim klassischen „französischen Service“ immer alles zu gleicher Zeit auf den Tisch kam und die Küchen wegen der allgegenwärtigen Brandgefahr weit außerhalb der Repräsentationsräume lagen, muss man davon ausgehen, dass die meisten Gäste niemals in den Genuss einer warmen Mahlzeit kamen. Die Französische Revolution brachte nicht nur eine durchgreifende Demokratisierung des gesamten Ernährungswesens, sie war auch der Urknall der kommerziellen Hochgastronomie. Weil die meisten Köche ihre Dienstherren verloren hatten – viele Adelige und Geistliche waren vertrieben oder hingerichtet worden – eröffneten sie Restaurants für das städtische Bürgertum, das durch die Auflösung staatlicher und kirchlicher Güter und die beginnende Industrialisierung zu Wohlstand gekommen war. Kulinarische Genüsse, die vormals nur einer winzigen Schicht vorbehalten waren, wurden nun für breitere Bevölkerungsgruppen erschwinglich. Wobei auch das Bürgertum stets nach Höherem strebte und die „gehobene“ Küche auch ihm zur Abgrenzung nach unten diente. Die gutbürgerliche Küche und ihre ersten Kochbücher entstanden in der Verbindung des höfisch-ausgefeilten Koch-Knowhows mit dem aufklärerischen Gebot des vernünftigen Maßes. Doch die Sehnsucht blieb: Bis heute wird in Hochzeitstorten die alte Zuckerbäckerkunst beschworen und das Kalte Buffet weckt Erinnerungen an die fürstlichen Prachtgelage von einst.
Die Industrialisierung der Ernährung Im 19. Jahrhundert veränderte die Industrialisierung auch die Ernährung, erster großer Schritt dahin war die Erfindung der Konservendose. Der Apothekergehilfe Heinrich Nestle entwickelte 1867 die erste Fertignahrung für Säuglinge. Julius Maggi wollte etwas gegen die schlechte Ernährung der Industriearbeiter
Aus der Sterneküche: Lamm mit Artischockenherzen an Balsamico-Feigen-Sauce.
tun und entwickelte eine erste Fertigsuppe. Gegenspieler Knorr kam 1886 mit seinen ersten Fertigprodukten auf den Markt, 1889 kaufte er die Rechte an der Erbswurst und stellte sie fortan in industrieller Massenproduktion her – ununterbrochen bis zum Dezember 2018. Nachdem Convenience geboren war, gewann es, gestützt durch ein neu entstandenes Marketing, immer mehr Raum in unserer Ernährung. So bedeutet die „Klassengesellschaft” beim Essen heute: hier die Fertigpizza, dort der Sternekoch, hier der traditionelle Veganer, dort der ökobewusste Veganer. Wer sich in einem mit Michelin-Sternen dekorierten Restaurant bewirten lässt, darf sich durchaus wie ein König fühlen, wenn auch nur für einen Abend. Allerdings haben die meist übersichtlich angeordneten Portiönchen im Look abstrakter Gemälde so gut wie nichts mehr zu tun mit den Gelagen von einst. Dem Kult der Entsagung und Einfachheit frönen können nur die, die nie darunter gelitten haben.
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Küche ohne Grenzen Beim Essen hat Multi-Kulti schon lange Tradition. Kartoffel, Tomate, Kaffee, Wein, Pizza – die meisten in Europa heute gebräuchlichen Nahrungsmittel und viele Speisen haben einen mehr oder weniger offensichtlichen Migrationshintergrund. Und mit der Globalisierung wird die Liste der Importe immer länger.
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enn Völker verbal übereinander herfallen, belegen sie sich gerne mit Schmähworten aus dem Bereich der Kulinarik. Die Engländer bedachten ihre deutschen Gegner im Ersten Weltkrieg mit dem Schimpfnamen „Krauts“, weil das angeblich urgermanische Sauerkraut zur Marschverpflegung der Reichswehr zählte. Doch weit gefehlt: Die Sitte, Kohl zu säuern und damit haltbar zu ma-
Von Georg Etscheit
Die erste Pizzeria Deutschlands wurde unter dem Namen „Sabbie di Capri (Sand von Capri)“ 1952 in Würzburg eröffnet, Inhaber war der aus den italienischen Abruzzen stammende Nicolino di Camillo.
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chen, stammt ursprünglich aus Fernost und wurde über Mongolen und Tartaren nach Europa importiert. Ein anderes Beispiel ist die Bezeichnung „Makkaroni- oder Spaghettifresser“ für die Hunderttausende italienischer Gastarbeiter, die man ins Wirtschaftswunderdeutschland geholt hatte. Doch auch hier irrte der Volksmund, denn die Nudeln sind eigentlich nicht italienisch, sie gelangten wohl aus China auf den Stiefel, und zwar nicht, wie die Legende berichtet, im 13. Jahrhundert im Gepäck von Marco Polo, sondern vermutlich schon früher auf einem der uralten Handelswege wie der Seidenstraße.
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Die Italiener revanchierten sich bei den Deutschen mit dem Schimpfwort „Kartoffelfresser“, wohl ohne zu wissen, dass auch diese nahrhafte Knolle keine urdeutsche Angelegenheit ist. Das vielseitig verwendbare Nachtschattengewächs gelangte mit den spanischen und portugiesischen Konquistadoren aus Südamerika nach Europa und wurde in Deutschland als einfach zu kultivierender Kohlenhydratspender erst vor rund 250 Jahren heimisch. Heute sind Kartoffeln für die Deutschen ein Grundnahrungsmittel – für die Franzosen ist es das Weißbrot, für viele Asiaten der Reis und für Italiener eben die Pasta; Kartoffeln schätzen Letztere nur als Gemüsebeilage.
Ein internationaler Speiseplan Schon die wenigen genannten Beispiele zeigen, wie schwer es ist, bestimmte Lebensmittel oder Speisen national eindeutig zuzuordnen. Niederländische Forscher haben herausgefunden, dass rund zwei Drittel aller Gemüse, Früchte und Getreidesorten auf dem Speiseplan oder den Äckern eines bestimmten Lan-
des nicht einheimischen Ursprungs sind. Die wilden Vorfahren vieler Kulturpflanzen, die heute in aller Munde sind, gediehen einst ganz woanders und wurden oft auch in weit entfernten Regionen erstmals domestiziert, bevor sie nach Europa kamen, vermittelt durch Händler, Entdecker, Eroberer und Soldaten. „Es ist faszinierend zu sehen, wie viele Pflanzen heute Teil der traditionellen Ernährung in Ländern geworden sind, die viele tausend Kilometer von dort entfernt liegen, wo sie zuerst auftraten“, sagt Colin K. Khoury von der Universität im niederländischen Wageningen, der sich zusammen mit mehreren Kollegen mit den „Fremdlingen“ im Speiseplan von 177 Ländern beschäftigt hatte. Ob Tomaten, Weizen, Kartoffeln, Zwiebeln, Erdbeeren oder Chili, von offensichtlichen Exoten wie Tee, Kaffee, Pfeffer und vielen anderen Gewürzen ganz abgesehen: sie alle haben, auf Europa und Deutschland bezogen, einen Migrationshintergrund. Die heimischen, man sagt auch autochthonen Pflanzen, die in unserer Ernährung eine wichtige Rolle spielen, sind deutlich in der Unterzahl. Zu Südöstliches Europa
Südwestliches Europa
Zentralasien
Nordeuropa
Nordamerika Westasien
Südlicher und östlicher Mittelmeerraum
Mittelamerika und Mexiko
Ostasien
Karibik Südostasien
Südasien
Westafrika Anden
Pazifikraum
Tropisches Südamerika
Zentralafrika Ostafrika Südliches Afrika
Gemäßigtes Südamerika
Alfalfa Mandeln Äpfel Aprikosen Artischocken Spargel Avocados Bananen & Kochbananen Gerste
Bohnen Blaubeeren Kohl Karotten Maniok Kirschen Kichererbsen Chilli & Paprika Zimt
Klee Kakaobohnen Kokosnüsse Kaffee Baumwollsamenöl Augenbohne/Kuhbohne Cranberries Gurken Datteln
Auberginen Acker-/Dicke Bohnen Feigen Knoblauch Ingwer Grapefruit Weintrauben Erdnüsse Haselnüsse
Hopfen Kiwi Lauch Zitronen und Limetten Linsen Kopfsalat Mais Mangos Mate
Melonen Hirse Hafer Oliven Zwiebeln Orangen Palmöl Papayas Pfirsiche & Nektarinen
Birnen Erbsen Straucherbsen Ananas Pflaumen Kartoffeln Kürbisse Quinoa Raps & Senfkörner
Reis Roggen Sesam Sorghumhirse Sojabohnen Spinat Erdbeeren Zuckerrüben Zuckerrohr
Sonnenblumen Süßkartoffeln Taro Tee Tomaten Vanille Wassermelonen Weizen Yams
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Das römische Mosaik aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. stammt aus Tripolitanien im heutigen Libyen. Trauben und Feigen brachten die Römer bis nach Germanien. Die heutigen Pfälzer Feigen etwa berufen sich auf diese Herkunft.
ihnen zählen beispielsweise Äpfel, Himbeeren, Haselnüsse, Hopfen, viele Kohlsorten und auch der Spargel. Dabei sei die Nutzung fremder Pflanzen keine Domäne der Industrieländer, betonen die Forscher. In Australien und Neuseeland beispielsweise machen nicht-heimische Pflanzen fast hundert Prozent der pflanzlichen Nahrungsmittel und angebauten Nutzpflanzen aus. Andere Länder wie Niger, Bangladesch und Kambodscha kommen nur auf zwanzig Prozent. Der Grund: sie liegen in einem der von den Wissenschaftlern identifizierten 23 Zentren der Biodiversität – und diese ist in den warmen und regenreichen tropischen Regionen seit jeher besonders hoch. Wie kaum anders zu erwarten, steigt die Nutzung ortsfremder Pflanzen im Zuge der Globalisierung immer weiter an. So werden heute im weltweiten Durchschnitt rund fünf Prozent mehr nicht-heimische Pflanzen angebaut als noch in den 1960er-Jahren. Tendenz: weiter steigend.
Lust auf internationale Gerichte Mit zubereiteten Speisen verhält es sich nicht anders als mit den Nahrungsmitteln. Immer mehr Gerichte aus fernen Regionen erobern in Windeseile die ganze Welt. So ist das japanische Sushi seit wenigen
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Jahren auch in Europa zum Fastfoodrenner avanciert. Roher Fisch, in Reis gefüllte Tangblätter gerollt? In den Sechzigerjahren, als die internationale Fresswelle erstmals übers Land schwappte, hätte sich da wohl noch kein Deutscher herangetraut. Der Siegeszug des asiatischen Fingerfoods hat allerdings der traditionsverhafteten Beliebtheit der Rostbratwurst in ihren diversen Varianten offenbar kaum geschadet. Dass es sich bei dieser wirklich um eine deutsche Erfindung handelt, gilt als unstrittig. Ohne Migranten sähe es nicht nur in deutschen Küchen extrem übersichtlich aus. „Unvorstellbar schal und kahl bleibt bis tief ins Mittelalter die nordische Kost“, schreibt Stefan Zweig in seiner Biografie des Weltumseglers Magellan (1480–1521). „Noch lange wird es dauern, ehe die heute gebräuchlichsten Feldfrüchte wie Kartoffel, Mais und Tomate in Europa dauerndes Heimatrecht finden, noch nützt man kaum die Zitrone zum Säuern, den Zucker zur Süßung, noch sind die feinen Tonika des Kaffees, des Tees nicht entdeckt; selbst bei Fürsten und Vornehmen täuscht stumpfe Vielfresserei über die geistlose Monotonie der Mahlzeiten hinweg.“ Mit Magellan, der im Auftrag des spanischen Königs eine westliche Seeroute zu den Molukken, den
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legendären Gewürzinseln Ostasiens, finden sollte, dabei die ganze Welt umsegelte und nebenbei deren Kugelgestalt bewies, sollte sich das grundlegend ändern. Der wachsende Zustrom an exotischen Gewürzen wie Pfeffer, Nelken, Muskat, Zimt, Ingwer und anderen Spezereien markiert gewissermaßen eine zweite große kulinarische Einwanderungswelle. Die erste hatte bereits zur Zeit der Römer stattgefunden, die viele Nutzpflanzen aus Vorderasien und Nordafrika nach Europa brachten und diese im Zuge ihrer Eroberungen zusammen mit Gewächsen aus ihrer eigenen Heimat auch jenseits der Alpen im rauen Germanien kultivierten, allen voran den Wein, daneben Pfirsich, Mandel und Feige. In späteren Jahrhunderten waren es etwa die großen Eroberungszüge der Osmanen und Araber, die neue Nahrungsmittel und Zubereitungsweisen ins europäische Abendland brachten. Als etwas skurriles Beispiel einer solchen Übernahme gilt das französische Croissant. Es wird berichtet, dass sich die Wiener Bevölkerung die gebogene Form ihrer Hörnchen („Kipferl“) vom Halbmond auf den Flaggen der die Stadt belagernden Osmanen abgeschaut hatten. Im Gepäck napoleonischer Truppen sollen die Kipferl dann nach Frankreich gelangt sein, wo sie in Gestalt des Croissants zur Nationalbackware mutierten. Welcher Franzose denkt heute an den Orient, wenn er in sein knusprig-braunes Frühstückshörnchen beißt? Viele fremde Lebensmittel hatten es zunächst schwer, in anderen Gegenden Fuß zu fassen. Oft waren es erst Hungersnöte, die den Menschen neue Produkte – notgedrungen – schmackhaft machten. Zuvor hatten manche Karriere als Gewürz oder Arzneimittel gemacht, darunter der Reis, der vor seinem Siegeszug vor allem in der Lombardei in Gewürzhandlungen verkauft und nur sehr sparsam als Soßenzutat verwendet wurde. Sehr schwer hatte es der Mais, den Christoph Kolumbus schon 1493 nach Europa brachte, wo man ihn zunächst als Zierpflanze kultivierte. Die Vorzüge von Mais als Futtermittel – leichter Anbau, hohe Ernteerträge und großes Nährpotenzial – erkannte man erst im Laufe der Zeit. Als erstes tauchte das Mehl der gelben Körner in Italien auf dem Speiseplan von Europäern auf und verdrängte in bestimmten Regionen sogar den Weizen, die
reiche Polentakultur zeugt davon. Doch bis heute ist Mais nicht wirklich in der europäischen Hochküche angekommen und dient trotz seiner Rolle als beliebte Zutat auf Rohkosttellern vor allem als Viehfutter und neuerdings als Energielieferant in Biogasanlagen. Der Kartoffel erging es anfangs nicht wesentlich anders. „Entdeckt“ wurde sie von den Spaniern im Jahre 1539 in Peru und kam im Frachtraum ihrer Karavellen auf die Iberische Halbinsel, wo sie wegen ihrer unauffälligen Physiognomie zunächst geringen Eindruck machte. Die Italiener verglichen sie mit dem weißen Trüffel und nannten sie „Tartuffolo“, was ihr ein deutlich höheres Prestige verlieh. Zum Nahrungsmittel der Massen wurde sie jedoch erst im 18. Jahrhundert, als aufgeklärte Fürsten wie der Preußenkönig Friedrich der Große den Kartoffelanbau gezielt förderten, um die stark wachsende Bevölkerung besser ernähren zu können. Vor allem der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763 und die darauf folgende Hungersnot beschleunigten den Siegeszug der Kartoffel auf deutschem Boden und ihre bis in die Gegenwart ungebrochene Rolle als preiswerte „Sättigungsbeilage“. Der französische Agronom Antoine Parmentier, der während des Krieges in preußische Gefangenschaft geriet, propagierte die Knolle auch in seiner Heimat als Brotersatz und wurde namengebend für einen deftigen Kartoffelpüree-Hackfleischauflauf, den Hachis Parmentier. Trotzdem gilt Länderspezifische Eigenarten finden sich heute als Auswahl auf der Frühstückskarte: stilvoll französisch, englisch üppig oder skandinavisch mit etwas Lachs? Der Gast hat die Wahl.
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Friedrich der Große, König von Preußen, besucht Bauern bei der Kartoffelernte. Ein Gemälde von Robert Warthmüller aus dem Jahr 1886.
Frankreich auch heute nicht als Kartoffel-, sondern als Weißbrotland. Schleckermäuler waren in Europa lange auf Honig oder Fruchtpasten als Süßungsmittel angewiesen. Das änderte sich erst mit der Entdeckung der Neuen Welt und dem Zugang zu Rohrzucker. Wie viele der kulinarischen Neuankömmlinge begannen auch die süßen Kristalle – lange in der transportablen Form von Zuckerhüten – ihren kulinarischen Siegeszug als fast unerschwingliche Rarität. Fürsten schmückten ihre Tafeln mit ausladenden Zuckerskulpturen, der sowjetische „Zuckerbäckerstil“ erinnert daran. Doch nachdem es gelang, den Rohrzucker in Massen von afrikanischen Arbeitssklaven produzieren zu lassen, begannen in Europa süße Zeiten. Während der englischen Kontinentalsperre beauftragte Napoleon die „Chemiker“ seiner Zeit, nach einer Alternative zum Rohrzucker zu suchen. Der Agronom und Pharmazeut Parmentier stieß wohl als einer der Ersten auf die Runkelrübe als Zuckerlieferant. Die
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runzelige Ackerfrucht ist ausnahmsweise kein Import aus fernen Ländern, sondern ein europäisches Eigengewächs, doch wie man aus ihr in großem Stil Zucker gewinnen konnte, lernte man erst im frühen 19. Jahrhundert. Mit Entdeckung des Rübenzuckers verschwand der Rohrzucker fast völlig aus dem kulinarischen Bewusstsein der Europäer. Erst in jüngster Zeit ist Rohrzucker in Reformhäusern und Biomärkten wieder gefragt. Seine leicht bräunliche Farbe lässt ihn „gesünder“ aussehen als hellweiß-raffinierter Kristallzucker aus der Zuckerrübe, ein gerne für wahr gehaltenes Märchen. Der Zucker wurde in England übrigens populär, als man begann, Tee zu süßen, das englische Nationalgetränk, das eigentlich aus China und Indien stammt. Zusammen mit dem ursprünglich im äthiopischen Hochland beheimateten Kaffee wurde er für seine wachhaltenden Eigenschaften geschätzt. Der ursprünglich von Maya und Azteken als berauschendes Lebensmittel im Rahmen heiliger Rituale genutzten Schokolade haftet dagegen, insbesondere in ihrer trinkbaren Form, bis heute etwas Ausschweifendes und Exklusives an. Im berühmten Café Angelina an
Entwicklung der Esskultur | Küche ohne Grenzen
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der Pariser Rue de Rivoli 226 wird sie in einer besonders zähflüssigen Variante serviert, die an die von Maria Teresa, der Frau des „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. begründete höfische Schokoladenmode erinnert. Die Liste der Importe ist endlos und erstreckt sich in neuerer Zeit auch auf ganze Gerichte. Dabei ist die heute allgegenwärtige „italienische“ Pizza ein Inbegriff kulinarischer Internationalität. Die alten Griechen und Etrusker sollen erstmals einen Teigfladen mit Zutaten belegt und gebacken haben. Als Armeleutespeise und Resteverwertung fristete die „Pita“ Jahrhunderte lang ein Schattendasein, bis aus Südamerika die Tomate Europa und Süditalien erreichte und bald ebenfalls als Beilage verwendet wurde. Der Legende nach schlug 1520 die Geburtsstunde der saftigen Pizza, wie wir sie heute noch kennen. 1830 wurde in Neapel die erste Pizzeria eröffnet. Auswanderer nahmen das Rezept mit nach Amerika, von wo die Pizza endgültig ihren Siegeszug rund um die Welt antrat, nicht zuletzt in Form der in den Fünfzigerjahren von einem italo-amerikanischen Brüderpaar entwickelten Tiefkühlvariante.
Seither jagt eine kulinarische Übernahme, die immer auch Variation und Verwandlung ist, die nächste. Mit den türkischen Einwanderern hielt nach dem Zweiten Weltkrieg der Döner Kebap (wörtlich: sich drehendes Grillfleisch) Einzug in Deutschland, allerdings als Fastfoodvariante in der Weißbrottasche – echter türkischer Döner ist ein Tellergericht (wie griechisches Gyros) und wird mit Beilagen wie Reis, Pommes Frites und Salat serviert. Es folgten die ursprünglich jüdischen Bagels und mexikanische Burritos und Tacos, die wie Döner und Pizza auf einem Teigfladen beruhen, der in diesem Fall allerdings mit Maismehl hergestellt wird und Tortilla heißt. In allerjüngster Zeit fanden die Europäer dann massenhaft Geschmack an japanischem Sushi, das ausnahmsweise einmal ganz ohne Teigverpackung auskommt. Bei aller Internationalität auf Tisch und Teller gibt es Gerichte, die nur so tun, als kämen sie von weither. Der in den Fünfzigerjahren bekannt gewordene Toast Hawaii hat mit der gleichnamigen Insel nur die obligatorische Scheibe Dosenananas gemein, ist vielmehr eine urdeutsche Kreation.
In Ägypten spielt Zuckerrohr auch heute noch eine große Rolle. Das Foto wurde bei Esna aufgenommen und zeigt das Verladen des Zuckerrohrs auf Frachtkähne am Ufer des Nils.
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Der Hunger ist nicht besiegt. Kriege und Naturkatastrophen führen immer wieder zu verheerenden Hungersnöten.
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Der Hunger in der Welt Etwa jeder zehnte Mensch auf der Erde hat nicht genug zu essen. Immer noch hungern Menschen in vielen Teilen dieser Welt, und die Bevölkerung wächst weiter. Besteht Hoffnung, sie alle zu ernähren? Ja, sagen Experten, wenn sich einiges ändert.
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er Welternährungsgipfel endet mit großen Worten. „Wir haben eine wesentliche Übereinstimmung erzielt, was getan werden muss, um das Leid der Hungernden zu lindern“, sagt Romano Prodi im November 1996. Der italienische Ministerpräsident feiert den ersten globalen Aktionsplan im Kampf gegen den Hunger. Vertreter aus 185 Staaten haben sich in Rom geeinigt. In den nächsten 20 Jahren, bis zum Jahr 2015, soll die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, halbiert werden. Jacques Diouf, beendet die Konferenz mit einer Brandrede: „Wir haben die Möglichkeit, das Ziel zu erreichen. Wir haben das Wissen. Wir haben die Ressourcen. Und heute haben wir gezeigt, dass wir auch den Willen haben“, sagt der Generaldirektor der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen (FAO). Doch die großen Worte verpuffen. Und auch weitere Konferenzen zur Bekämpfung des Hungers bleiben ohne Erfolg. Noch immer stirbt alle zehn Sekunden ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Hunger. Der Anteil der Hungerleidenden an der Weltbevölkerung ist zwar auf zehn Prozent gesunken, aber die absolute Zahl hat sich seit der Konferenz 1996 in Rom kaum verändert. Noch immer haben mehr als 750 Millionen Menschen auf der Welt nicht genug zu essen. Und das Problem spitzt sich weiter zu, in den 2050er-Jahren wird die Weltbevölkerung voraussichtlich die Zehn-Milliarden-Schwelle überschreiten. Der Bedarf an Nahrungsmitteln wächst bis 2050 um 70 Prozent. Aber die landwirtschaftliche Nutzfläche lässt sich kaum noch vergrößern. Dazu kommt der Klimawandel. Laut Prognosen des Weltklimaberichts werden arme Regionen in Afrika, Asien und Lateinamerika am stärksten unter den Folgen von Dürren und anderen Naturkatastrophen leiden. Die Klimakrise trifft viele Länder, die bereits heute Schwierigkeiten haben, ausreichend Nahrungsmittel zu produzieren oder zu kaufen. Der Kampf gegen den Hunger droht
zu einer unlösbaren Aufgabe zu werden. Kann die Erde zehn Milliarden Menschen ernähren? Ja, lautet die überraschende Antwort des World Food Programms der Vereinten Nationen (WFP). Rein theoretisch müsste schon heute kein Mensch hungern. Nach Berechnungen der FAO wächst die Lebensmittelproduktion derzeit schneller als die Weltbevölkerung. Die Landwirtschaft erzeugt etwa ein Drittel mehr Kalorien, als für die Versorgung aller Menschen rechnerisch benötigt wird. Von den vier Milliarden Tonnen Nahrung, die jedes Jahr produziert werden, werde ein Drittel verschwendet, berichtet das WFP. In den industrialisierten Ländern wandert zu viel Essen in den Müll. In den ärmeren Staaten geht es während der Produktion verloren. Ernten verderben wegen schlechter Lagerung oder weil Bauern ihre Waren nicht zum Markt transportieren können. Ja, sagen auch viele Wissenschaftler, die neue Pflanzen für die hungerleidenden Menschen züch-
Von Rainer Kurlemann
Jacques Diouf beim Welternährungsgipfel 2002. Von 1993 bis 2011 war er Generaldirektor der Welternährungsorganisation (FAO) und ein „unermüdlicher Verfechter des Kampfes gegen Armut, Hunger und Unterernährung“, wie ihn die UN-Behörde später würdigte.
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Grönland
Island Finnland Norwegen
Russische Föderation
Schweden Estland
Dänemark Niederlande Belgien Großbritannien Deutschland
Irland
Kanada
Lettland Litauen
Russ. Föd.
Weißrussland
Polen
Luxemburg TschechienSlowakei Liechtenstein Austria Ungarn Schweiz Slowenien
Portugal
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Algerien hara Lib
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