200 72 198MB
German Pages 2533 [2536] Year 1978
Senegal Gambia Guinea-Bissau
DIE WAHL DER PARLAMENTE UND ANDERER
STAATSORGANE
Ein Handbuch
Herausgegeben von Dolf Starnberger, Bernhard Vogel, Dieter Nohlen und Klaus Landfried
w DE
G
1978
WALTER D E GRUYTER • BERLIN • NEW YORK
BAND II: AFRIKA
Politische Organisation und Repräsentation in Afrika Von FRANZ NUSCHELER und KLAUS ZIEMER unter Mitarbeit von Erfried Adam, P. A. Beckett, Andrea Ebbecke-Nohlen, Abdel Ghaffar, Klaus Landfried, Peter Langer, Hanspeter Mattes, Dieter Nohlen, Jost P. Noller, Günther Philipp, Holgar Raulf, Rainer-Olaf Schultze, Achim Wachendorfer, Ingo Wagner, Renate Witzel und Winfried Züfle
Erster Halbband
W DE G
1978 WALTER DE GRUYTER • BERLIN • NEW YORK
Zitiervorschlag: Wahl der Parlamente. Bd. II: Nuscheler/Ziemer, Afrika Bildnachweis: Die Photographie auf der Vorderseite des Schutzumschlages gibt die Sitzung der National Assembly von Kenia anläßlich der Etatberatungen vom Juni 1977 wieder. Das Bild wurde freundlicherweise von /. K. Masya, Clark of the National Assembly, zur Verfügung gestellt.
ClP-Kurztilelaufnähme der Deutschen Bibliothek
Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane : e. Handbuch / hrsg. von Doli Sternberger . . . — Berlin, New York : de Gruyter. ISBN 3-11-004518-4 NE: Sternberger, Dolf [Hrsg.] Bd. 2. Afrika : polit. Organisation und Repräsentation in Afrika / von Franz Nuscheier u. Klaus Ziemer. Unter Mitarb. von Erfried Adam . . . Halbbd. 1. — 1978. NE: Nuscheier, Franz [Mitarb.]
© Copyright 1978 by Walter de Gruyter & Co.» vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung, J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung, Georg Reimer, Karl J . Trübner, Veit & Comp., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Walter de Gruyter Sc Co., 1000 Berlin 30 Bindearbeiten: Berliner Buchbinderei Wübben Sc Co., 1000 Berlin 47
VORWORT Der hier vorgelegte Band „Politische Organisation und Repräsentation in Afrika" setzt die Reihe „Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane" fort, die im Jahre 1969 mit dem von Dolf Sternberger und Bernhard Vogel herausgegebenen Band Europa eröffnet wurde. In den nach Ländern gegliederten Beiträgen des Europabandes war die zunächst von Bernhard Vogel, später von mir geleitete Heidelberger Forschungsgruppe dem Vordringen der Wahl als Mittel zur Bestellung von Repräsentativorganen nachgegangen. Sie hatte die historische Entwicklung des Wahlrechts nachgezeichnet, die Wahlsysteme hinsichtlich ihrer Gestaltungselemente, ihrer Mechanik und ihrer politischen Auswirkungen analysiert, die Geschichte der Parlamentswahlen nachgehalten und die Entwicklung der Parteien und der Parteiensysteme verfolgt. Während der Abschlußarbeiten am Europaband wurden vergleichbare, über Europa hinausgreifende Untersuchungen zur Wahl der Parlamente in Afrika, Amerika und Asien konzipiert. Nachdem zur Durchführung des Projekts die finanzielle Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft gewonnen werden konnte, begannen noch 1969 die Vorarbeiten für die Länderbereiche Afrika und Amerika. Unter der ursprünglichen konzeptionellen Anlehnung an die europäischen Länderstudien war freilich an eine wesentlich frühere Vorlage der Forschungsergebnisse gedacht. In den Diskussionen der von Klaus Landfried und mir geleiteten Forschungsgruppe „Wahl der Parlamente" stellte sich jedoch bald heraus, daß die auf die oben dargelegten Wahlphänomene konzentrierte Fragestellung für den Entwicklungsländerbereich allzu verengt war. Insbesondere die diffusionistische Perspektive konnte angesichts der fundamentalen Infragestellung europäischer Institutionenordnung im Kontext sozio-ökonomischer Entwicklungsnotwendigkeiten in den Ländern der Dritten Welt nicht aufrechterhalten bleiben. Erkenntnisinteressen und Forschungsansätze waren schließlich dem — von den Mitarbeitern in unterschiedlichem Maße mitvollzogenen — sozialwissenschaftlichen Paradigmawandel unterworfen, hier festzumachen in der Kritik und teilweise Negierung westlicher Entwicklungsleitbilder, in der Relativierung von Überbauphänomenen, in der Hinwendung zur Strukturanalyse von Ökonomie, Gesellschaft und Staat. Der Problembereich Wahl wurde jedoch in den vorgelegten Studien nicht aufgegeben, sondern eingebettet in die Analyse sozio-ökonomischer, sozio-kultureller, politischer und institutioneller, d. h.
VI
Wahl der Parlamente
herrschafts-soziologischer Probleme von Entwicklungsgesellschaften. Der Titel des Bandes deutet diese konzeptionelle Verschiebung an. Einzuräumen ist jedoch, daß infolge der Genesis des Bandes die verschiedenen Beiträge der sich fortentwickelnden theoretischen Vorgabe nur in unterschiedlichem Maße entsprechen können. Zur Entstehungsgeschichte gehört nämlich ebenso, daß die meisten Beiträge schon 1972/73, andere erst 1977 fertiggestellt wurden. Früh angefertigte Manuskripte wurden durch Nachträge auf den neuesten Stand gebracht. Immerhin hat die erst 1978 erfolgende Veröffentlichung der Forschungsergebnisse den Vorteil, ein Afrika nach der politischen Dekolonialisierung zu präsentieren, nachdem die Restbestände kolonialer Verhältnisse seit 1974 (Auflösung des portugiesischen Kolonialbesitzes) erheblich zusammengeschrumpft sind. Darüberhinaus liegt nun für eine Mehrheit der Länder eine relativ lange postkoloniale Zeitspanne vor, die ausreichend Material liefert, um eine theoretisch-systematische Analyse, wie sie Franz Nuscheier und Klaus Ziemer in der (1976/77 verfaßten) Einleitung versuchen, zu unternehmen. Franz Nuscheier und Klaus Ziemer, den beiden Hauptautoren, gilt mein erster Dank. Ohne ihre Hingabe an das Projekt und ihre Beharrlichkeit in der Verfolgung eines Ziels, das angesichts alles in allem doch recht beschränkter Mittel manchmal aus den Augen zu geraten schien, wäre der Band kaum zustandegekommen. Neben den weiteren Beitragenden gilt es auch, den Mitgliedern der Forschungsgruppe zu danken, die die Diskussionen vor allem in den Anfangsjahren des Projekts befruchtet haben. Unter den Heidelberger Mitarbeitern haben sich vor allem Rainer-Olaf Schultze (jetzt Bochum) und Günther Philipp sehr um das Projekt bemüht. An der Erstellung des Registers haben Roland Sturm und Ulrike Buschkämper mitgearbeitet. Von den Institutionen, die uns gefördert haben, sei zunächst die Deutsche Forschungsgemeinschaft genannt. Sie hat nicht nur eine Sachbeihilfe gewährt, sondern auch den Druck des umfangreichen Werkes durch eine großzügige Druckbeihilfe ermöglicht. Das Institut für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg hat uns Hilfsmittel verschiedener Art zur Verfügung gestellt. Aus seinem schmalen Etat konnte nach Auslaufen der DFG-Finanzierung eine wissenschaftliche Hilfskraft vergütet werden. Zum Gelingen des Forschungsprojektes und speziell des vorgelegten Bandes haben auch beigetragen: das Afrika-Institut und die Dokumentationsleitstelle Afrika in Hamburg, das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg, das Institut für Gesellschaftspolitik an der Hochschule für Philosophie in München, das
Vorwort
VII
Institut für Entwicklungspolitik an der Ruhr-Universität Bochum, die Afrikaabteilung der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, das Centre d'Etudes d'Afrique Noire in Bordeaux, verschiedene Institutionen in Paris, u. a. : Documentation Française, Bibliothek des Überseeministeriums, Bibliothèque Nationale, Faculté de Droit et des Sciences Economiques, Fondation Nationale des Sciences Politiques, Archiv der Nationalversammlung. All die Personen und Institutionen (besonders des Auslandes) zu nennen, die sich durch Hilfen und Hinweise um das Projekt verdient gemacht haben, überschreitet den hier zur Verfügung stehenden Raum. Einige Verfasser von Länderbeiträgen haben ihnen an gegebenem Ort namentlich Dank gesagt. Als verantwortlicher Herausgeber möchte ich allen, die in irgendeiner Form zum Entstehen dieser Pionierarbeit in der Afrikaforschung beigetragen haben, aufrichtig danken. Heidelberg, im Mai 1978
Dieter Noblen
INHALTSVERZEICHNIS ERSTER
HALBBAND
VORWORT VERZEICHNIS
V DER
VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN EINLEITUNG
ABGEKÜRZTEN
INSTITUTIONEN
XIII
BIBLIOGRAPHISCHEN XV
(Fran% Nuscheler und Klaus Ziemer)
I.
Konzeptionelle und methodische Vorbemerkungen
II.
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- und Legitimitätsformen 1. Probleme des Stammes-Begriffes und der sozialanthropologischen Theoriebildung 2. Segmentäre Gesellschaft und „primitive Demokratie" . . 3. Politische Ökonomie der Klassen- und Herrschaftsbildung 4. Der „traditionelle Staat" und das „Heilige Königtum" . . 5. Legitimation von Herrschaft
19 24 27
III.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation . 1. Großbritannien a) Treuhandschaft und Indirect Rule b) Emanzipation und Repräsentation c) Representative Government und Self-Government . . . 2. Frankreich a) Die„Chefferie traditionnelle" b) Institutionelle Reformen von 1945/46 c) Loi Cadre und Communauté Française
31 39 41 48 53 58 65 68 76
IV.
Sozialer und politischer Wandel: Genese und Organisation des afrikanischen Nationalismus 1. Paralyse der „traditionellen Eliten" und Genese der „neuen Eliten" 2. Organisation des afrikanischen Nationalismus
V.
1 7 9 12
82 88 93
Entstehung und Entwicklung von politischen Parteien . . . 97 1. Grobskizze der Parteienentwicklung im britischen Kolonialreich: der Mißbrauch von Typologien 98 2. Parteienentwicklung in A O F und A E F 104
X VI.
VII.
Inhaltsverzeichnis Die Transplantation und Transformation von Verfassungsmodellen 1. Genese des „afrikanischen Präsidentialismus" 2. „Nationbildung" als primäres politisches Konstruktionsproblem 3. Zielantinomien: Demokratie vs. Stabilität
113 114 120 124
Begründung, Entstehung und Entwicklung der Einparteisysteme 126 1. Genese des Einpartei-Staates 133 2. Typen der afrikanischen „Massenparteien" 137 3. Verhältnis zwischen Partei und Staat: Primat der Partei 142 4. Anspruch und Wirklichkeit der Parteiorganisation . . . . 1 4 8 5. Das Parlament als Vehikel der Einheitspartei 156 6. Funktion von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen . . 1 6 1 7. Die Krise der afrikanischen Einheitsparteien 167
VIII. Militärherrschaft als alternative politische Organisationsform. . 172 1. Ursachen und Motive der Staatsstreiche 178 2. Zur Klassenfrage von Putschen und Militärregimen. . . . 1 8 3 3. Institutionalisierung militärischer Herrschaft 186 4. Legitimität und Leistungsfähigkeit der Militärregime . . . 1 9 0 5. „Rezivilisierung" von Militärregimen: der Unsinn von Kleiderordnung-Typologien 194 IX.
Die afrikanischen Staaten als „periphere Staaten"
196
X.
Länderübergreifende Bibliographie
200
LÄNDERBEITRÄGE Ägypten (Hanspeter Mattes ¡Winfried Zäfle) Äquatorialguinea (Ingo Wagner) Äthiopien (Fran\ Nuscheier) Algerien (Hanspeter Mattes) Angola (Renate Wittel / Ingo Wagner) Benin [Dahomey] (Klaus Ziemer) Botswana (Fran^ Nuscheier) Burundi (Günther Philipp) Djibouti [Französisches Territorium der Afar und Issa] (Klaus Ziemer) Elfenbeinküste (Klaus Ziemer) Gabun (Klaus Ziemer) Gambia (Fran^ Nuscheier)
227 302 319 345 461 491 543 567 605 643 689 723
Inhaltsverzeichnis Ghana (Peter Langer) Guinea (Klaus Ziemer) Guinea-Bissau (Dieter Noblen / Renate Wittel) Kamerun (Klaus Ziemer) Kapverdische Inseln (Andrea Ebbecke-Noblen) Kenia (Fran^ Nuscheier) Komoren (Klaus Ziemer) Kongo [Brazzaville] (Klaus Ziemer) Lesotho (Franzi Nuscheier) Liberia (Günther Philipp) Libyen (Klaus Landfried / Abdelgadir A. Abdel Ghaffar) Madagaskar (Achim Wachendorfer) Malawi (Frans^ Nuscheier) Mali (Klaus Ziemer)
XI 759 799 847 863 925 935 979 1014 1061 1085 1123 1153 1197 1219
ZWEITER HALBBAND Marokko (Günther Philipp) Mauretanien (Klaus Ziemer) Mauritius (Fran^ Nuscheier) Mozambique (Ingo Wagner / Renate Wittel) Namibia (Jost F. Noller) Niger (Klaus Ziemer) Nigeria (Erfried Adam / P. A. Beckett) Obervolta (Klaus Ziemer) Réunion (Klaus Ziemer) Rhodesien (Fran% Nuscheier) Rwanda (Günther Philipp) Sahara (Rainer-Olaf Schult^e) Sambia (Fran^ Nuscheier) St. Helena (Fran^ Nuscheier) Säo Tomé und Principe (Dieter Noblen) Senegal (Klaus Ziemer) Seychellen (Fran^ Nuscheier) Sierra Leone (Peter Langer) Somalia (Franz Nuscheier) Sudan (Klaus Landfried / Abdelgadir A. Abdel Ghaffar) Südafrika (Jost F. Noller) Swaziland (Frans^ Nuscheier) Tansania (Fran% Nuscheier) Togo (Klaus Ziemer) Tschad (Klaus Ziemer) Tunesien (Holgar Raulf) Uganda ( Fran^ Nuscheier) Zaire (Günther Philipp) Zentralafrikanische Republik (Klaus Ziemer) Index
1263 1359 1391 1411 1437 1455 1493 1555 1597 1627 1691 1731 1749 1801 1803 1809 1871 1881 1909 1945 1995 2101 2125 2177 2213 2253 2299 2331 2441 2476
VERZEICHNIS DER ABGEKÜRZTEN AEF AN(C) AOF ARSC ARSOM CEAN CEDAF CHEAM CNRS CRI SP DVPW ENA ENFOM EPHE FDSE FES FLSH FNSP HMSO IBRD IEP IFAN IHEI IHEOM ILO IMF INSEE IPSA IRCB ORSTOM SdN
INSTITUTIONEN
Afrique Equatoriale Française Assemblée Nationale (Constituante) Afrique Occidentale Française Académie Royale des Sciences Coloniales Académie Royale des Sciences d'Outre-Mer Centre d'Etudes d'Afrique Noire (Bordeaux) Centre d'Etudes et de Documentation Africaines Centre des Hautes Etudes administratives sur l'Afrique et l'Asie modernes Centre National de la Recherche Scientifique Centre de Recherche et d'Information Socio-Politique Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft Ecole Nationale d'Administration Ecole Nationale de la France d'Outre-Mer Ecole Practique des Hautes Etudes Faculté de Droit et des Sciences Economiques Friedrich-Ebert-Stiftung Faculté des Lettres et des Sciences Humaines Fondation Nationale de Science Politique Her Majesty's Stationary Office International Bank for Reconstruction and Development (Weltbank) Institut d'Etudes Politiques Institut Français (nach 1960: Fondamental) de l'Afrique Noire Institut des Hautes Etudes Internationales Institut des Hautes Etudes d'Outre-Mer International Labour Organisation International Monetary Fund Institut National de la Statistique et des Etudes Economiques International Political Science Association Institut Royal du Congo Belge Organisation de Recherches Scientifiques pour les Territoires d'Outre-Mer Société des Nations
VERZEICHNIS DER BIBLIOGRAPHISCHEN AAN ACR AFP AJS APA APSR ARB ASR BAN BCI BJPS BL BO BP SR CAH CEA CIS CJAS CJN COM CPI CPS Dislère EA EAJ E(F)OM EPC ESCAEE HZ IAF ICP JAAS JAH JAO JCPS JDA JDS JMAS JO JöR
ABKÜRZUNGEN
Annuaire de l'Afrique du Nord Africa Contemporary Record Agence France Press American Journal of Sociology Année Politique Africaine American Political Science Review Africa Research Bulletin African Studies Review Bulletin de l'Afrique Noire Bibliothèque Coloniale Internationale British Journal of Political Science Bulletin des Lois Bulletin Officiel British Political Science Review Courrier Africain Hebdomadaire Cahiers d'Etudes Africaines Cahiers Internationaux de Sociologie Canadian Journal of African Studies Croissance des Jeunes Nations Cahiers d'Outre-Mer Constitutional and Parliamentary Information Comparative Political Studies Dislère, P.: Traité de législation coloniale, Paris 1906/07 Europa-Archiv East African Journal Europe- (France-) Outre-Mer Encyclopédie Politique et Constitutionnelle Etudes et Statistiques. Bulletin mensuel. Cameroun, Afrique Equatoriale. Banque centrale Historische Zeitschrift Internationales Afrika Forum Informations Constitutionnelles et Parlementaires Journal of Asian and African Studies Journal of African History Journal of Administration Overseas Journal of Commonwealth Political Studies Journal of Developing Areas Journal of Development Studies Journal of Modern African Studies Journal Officiel Jahrbuch des öffentlichen Rechts
XVI KZfSS LKB MEA MEJ Mem.DES NED PVS PSQ RAPE RDP RFEPA RFSP RJP Sc.Pol. SI SRO SPP UNTS Vjb VRÜ ZfG ZfPol. ZParl
Bibliographische Abkürzungen
Kölner Zeitschrift für Soziologie und So2ialpsychologie Länderkurzbericht Middle Eastern Affairs Middle East Journal Mémoire pour le Diplôme d'Etudes Supérieures Notes et Etudes Documentaires Politische Vierteljahresschrift Political Science Quarterly Review of African Political Economy Revue de Droit Public et de la Science Politique en France et à l'Etranger Revue Française d'Etudes Politiques Africaines Revue Française de Science Politique Revue Juridique et Politique (de l'Union Française, d'Outre-Mer bzw. Indépendance et Coopération) Sciences Politiques Statutory Instruments (Großbritannien) Statutory Rules and Orders (Großbritannien) Sage Professional Papers in Comparative Politics United Nations Treaty Series Vierteljahresberichte der Friedrich-Ebert-Stiftung Verfassung und Recht in Übersee Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Parlamentsfragen
EINLEITUNG von Franz Nuscheier und Klaus Ziemer*
I. Konzeptionelle und methodische
Vorbemerkungen
Dieses Handbuch bedarf der sachlichen und methodischen Rechtfertigung. Es wurde konzipiert, als sich die politikwissenschaftliche Afrika-Forschung noch auf die Ablösung kolonialer Verfassungsmodelle durch das Regelsystem des Einpartei-Staates konzentrierte und Militärregime noch als pathologische Sonderfälle gelten konnten; es wurde abgeschlossen, als Militärregime zum Regelfall und Parlamente zu kolonialen Relikten oder bestenfalls zu formal-legislatorischen Ritualstätten und Wahlen, falls sie überhaupt noch stattfanden, zu Akklamationsverfahren mit minimaler Selektions- und Legitimationswirkung geworden waren. In der Zwischenzeit hatten sich nicht nur das institutionelle Szenarium und die politischen Problemfelder, sondern auch Forschungsprioritäten und Erkenntnisziele gewandelt. Diese Neuorientierung erfolgte nicht nur als Reaktion der Wissenschaft auf neue politische Entwicklungen und Probleme in den afrikanischen Staaten, sondern auch im Gefolge der kritischen Methodendiskussion in den Sozialwissenschaften zu Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre. Der Reihentitel des Handbuches zeigt an, daß es unter einer anderen Titulatur den Europa-Teil von „Wahl der Parlamente" fortsetzt. Dieser Titel hätte sich, auf Afrika bezogen, grotesk und museal ausgenommen. Aber die Änderung der Titulatur löst noch nicht die Probleme der Selektion und Relevanz des Untersuchungsgegenstandes. Die Herausbildung repräsentativer Institutionen mittels Ernennung, Kooptation und Wahl, die Entstehung von Parteien als Instrumenten der politischen Emanzipation gegen die Kolonialherrschaft und die nachkoloniale Herausbildung des Einpartei-Staates sowie Probleme der Elitenrekrutierung und Legitimitätsbeschaffung blieben die Leitfragen der Länderanalysen. Diese sowohl vom Projektträger (DFG) wie von der Projektleitung vorgegebene thematische Schwerpunkt* Diese Einleitung wurde von den beiden genannten Hauptautoren des Handbuches konzipiert und in Teilen gemeinsam, in größeren Teilen individuell, aber immer mit gegenseitiger Kritik und Anregung, verfaßt. Fran% Nuscheier verantwortet die Kapitel I, II, III. 1, IV, V. 1, VIII und IX, Klaus Ziemer die Kapitel III. 2 und V. 2. Gemeinsame Verantwortung besteht für die Kapitel V, VI, VII und X. 1
Wahl der Parlamente: Afrika
2
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
setzung impliziert jedoch noch keine Zuweisung von politischer und wissenschaftlicher Relevanz: weder wird der Analyse der Institutionen politikwissenschaftliche Priorität noch wird Parteien und Wahlen höchste Priorität in der Analyse der politischen Systeme und Probleme Afrikas zugemessen. Wenn Max Kaase in der Rezension des Europa-Teils des Handbuches feststellt, daß es an der Zeit sei, die „für demokratische Regierungssysteme fast schon mythologisierte Rolle von Wahlen auf ihre realen Bedingungen und Möglichkeiten als eine unter vielen politischen Partizipationsformen zurückzuführen" 1 , dann gilt diese Forderung nach einer Neubestimmung der Funktion von Wahlen um so mehr für Afrikas politische Systeme, in denen Wahlen diese mythologisierte Rolle nur in einer kurzen Dekolonisationsphase als Ausdruck und Mittel politischer Emanzipation der kolonisierten Völker hatten. Die Ausweitung der Analysen auf die Struktur der kolonialen und postkolonialen politischen Systeme, die von den Kolonialmächten unterschiedlich konditionierte Genese politischer Organisationen und repräsentativer Institutionen sowie die Ablösung traditioneller und die Herausbildung neuer Legitimationsmuster sollte methodisch eine bloß verfassungsrechtliche Dokumentation und Legende vermeiden. Indem diese Institutionenanalyse außerdem in den historischen Rahmen der administrativen und sozio-ökonomischen Penetration der Kolonien, der politischen Entmündigung und kulturellen Entfremdung der Kolonisierten, der Transplantation administrativer und politischer Organisationsstrukturen samt einer aus der europäischen Verfassungsgeschichte abgeleiteten Ideologie, aber auch der Emanzipation der kolonisierten Völker und ihrer Suche nach neuen Organisationsmodellen und Ideologien gestellt wurde, entstand keine bloße Institutionenkunde oder Regimetypologie Afrikas. Wenn man von R. Packenhams — etwas künstlicher — Unterscheidung der fünf thematischen Schwerpunkte und methodischen Ansätze in der politikwissenschaftlichen Entwicklungsländerforschung ausgeht 2 , so könnte man den methodischen Ansatz der Beiträge dieses Handbuchs sowohl dem „legal-formal approach", also der historischen Beschreibung der verfassungspolitischen Entwicklung, dem „social system approach", in dessen Mittelpunkt die Kategorien der Nationbildung und Partizipation stehen, wie dem „political culture approach" zuordnen, der sich im besonderen um eine Evaluierung von politischen Orientierungen, Verhaltensweisen und Wertvorstel1 2
M. Kaase in: ZParl, Bd. 2 (1971), S. 510. R. Packenham: Approaches to the Study of Political Development, in: World Politics, Bd. 17 (1964/5), S. 108 ff.
Konzeptionelle und methodische Vorbemerkungen
3
lungen bemüht. Wenn dennoch der „legal-formal approach" überwiegt und die Beschreibung verfassungs- und wahlrechtlicher Regelungen einen breiten Raum einnimmt, dann liegt dies auch in der Konzeption des Handbuches begründet: es will Informationskompendium und Nachschlagewerk sein. Damit erfüllt es auch im internationalen Afrika-Schrifttum eine Pionierfunktion, im besonderen für die koloniale Periode. Die afrikanische Verfassungsgeschichte ist präkolonial eine Geschichte sehr mannigfaltiger Organisationsstrukturen und geregelter Entscheidungsprozesse, kolonial eine Geschichte der Paralyse, strukturellen Transformation und Zerstörung dieser traditionellen politischen Systeme, der politischen Entmündigung der „Eingeborenen" durch die „zivilisierten" Eroberer, der Einpassung der durch Missionsschulen akkulturierten Eliten in die aus den „Mutterländern" importierten normativen und institutionellen Paradigmata, postkolonial eine Geschichte des Scheiterns dieser übergestülpten Modelle und der schmerzhaften Geburt neuer, noch wenig leistungs- und belastungsfähiger politischer Organisationsstrukturen. Verfassungsgeschichte in dieser sozio-ökonomischen, sozio-kulturellen und soziopolitischen Dimension kann nicht zu einer bloßen Aufzählung und Beschreibung von Gesetzestexten verkümmern; sie wird zugleich zu einer Geschichte von Konflikten zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten, innerhalb der Kolonien und der dekolonisierten Gesellschaften und zur Geschichte von Staats- und Nationbildungen, von Desintegration und Integrationsbemühungen, von Instabilität und Stabilisierungsversuchen, von Befreiung aus kolonialen Hypotheken und Deformationen und der Entstehung neuer Formen der Unterdrückung und des internen Kolonialismus. Hier wird das ganze Spektrum von Fragestellungen aufgegriffen, das die political development-Theorien erschlossen haben, in deren Mittelpunkt wiederum das Problem der Nationbildung steht3. Nation building bedeutet dabei zweierlei: erstens den Aufbau einer administrativen Architektur der Staatlichkeit (state building), zweitens die Weiterentwicklung der als Staat definierten kolonialen Verwaltungseinheiten mittels eines vieldimensionalen institutionellen, sozialen, kognitiven und affektiven Integrationsprozesses zu Nationalstaaten. Die Problemstellung geht angesichts der nationalstaatlich organisierten „politischen Weltkultur" 4 von der historischen Prämisse aus, daß sich die 3
4
Vgl. dazu F. Nuscheier-. Theorien zur politischen Entwicklung, in: Civitas, Bd. 8 (1969); abgedruckt in: Theo Stammen (Hrsg.), Vergleichende Regierungslehre, Darmstadt 1976, S. 407 ff. Begriff nach L. W. Pye: Aspects of Political Development, Boston/Toronto 1966, S. 10.
l*
4
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
kolonialen Retorten zu Nationalstaaten entwickeln müssen, um als soziale Kollektive handlungs- und überlebensfähig zu werden. Diese Prämisse zwingt zur Auseinandersetzung sowohl mit der modernisierungstheoretischen Geschichtsmetaphysik, hinter der sich der pluralistisch-parlamentarisch verfaßte Nationalstaat als geschichtsteleologische Orientierung verbirgt, wie mit ahistorischen Konstruktionen neuer Ordnungsformen (vgl. Kapitel VI. 2). Wenn /. P. Nettl eine politische Entwicklungslehre attackierte, die ihre Analyse auf politisch-administrative Strukturen, Institutionen und Eliten konzentrierte und Militärputsche als „breakdown of normal order" betrachtete, während „in fact orderly elections are the deviant form or breakdown of normality", dann gerät eine Sammlung von Partei- und Wahlanalysen unter Beweisnot: „Regimes, party systems and electoral participation may, therefore, prove to be unsuitable components for any theory of development in the Third World, simply because they imply a level of specificity meaningful only for ideologies of relatively great stability" 5 . Wenn dieses Handbuch eine Erklärung von Unterentwicklung und eine umfassende Entwicklungstheorie zu liefern beanspruchte, dann wäre es in der Tat im Ansatz verfehlt. Diesen Anspruch erhebt es nicht6. Es beansprucht auch nicht, eine umfassende politische Systemanalyse im Sinne des Struktur-funktionalen Systembegriffs zu leisten. Aber seine Konzeption entgeht nicht einem methodologischen Dilemma: der normative Ethnozentrismus, der den Modernisierungstheoretikern angelastet werden kann und muß7, ist bereits in seinem Untersuchungsgegenstand angelegt. Parlamentarische Repräsentation und Legitimationsbeschaffung durch Wahl, also „Wahl der Parlamente", gelten nahezu unausweichlich als „normal" und damit als normativer Maßstab. Das Bewußtwerden dieses Dilemmas sensibilisierte die Autoren, die mehrheitlich in Normen und Organisationsmustern der parlamentarisch-pluralistischen Demokratie sozialisiert und durch die internationale Methodenkritik zunehmend auf die im Projekt angelegte Tücke der ethnozentrischen Wertprämissen aufmerksam gemacht wurden. Was 1968/9 bei der theoretischen Konzipierung des Handbuchs noch als relevant und „normal" erscheinen konnte, erwies sich im Verlaufe der Projektrealisierung teilweise als Randproblem oder als „abnormal"; was in der Phase der Konzeptualisierung noch als / . P. Netti : Strategies in the Study of Political Development, in : C. Leys (Hrsg.), Politics and Change in Developing Countries, London 1969, S. 27. 6 Entsprechend anders ist der analytische Ansatz in D. NohlenjF. Nuscheier (Hrsg.): Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1, Hamburg 1974. 7 Vgl. F. Nuscheler\ Bankrott der Modernisierungstheorien?, in: D. NoblenI F. Nuscheier (Anm. 6), S. 197ff. 5
Konzeptionelle und methodische Vorbemerkungen
5
brandaktuelle und „moderne" Theorie gelten konnte und geradezu als Verheißung aus dem Pantheon des Committee ort Comparative Politics des Social Science Research Council (SSRC) der amerikanischen political development-K.omp2Li[2Ltisten rezipiert wurde, erwies sich meist nur als besser versteckte Sublimierung des politischen Erkenntnisinteresses, wie die afro-asiatischen Gesellschaften, die sich im Sinne der ursprünglichen political development-Notmcn pathologisch fehlentwickelten, dem westlichen „Reich des Lichts" erhalten und vor dem Abgleiten in das kommunistische „Reich der Finsternis" bewahrt werden können. Die Kritik am fruchtlosen Modellplatonismus der vor allem von G. A. Almond. beeinflußten Struktur-funktionalen Komparatistik 8 , deren Abstraktionen und Modellreduktionen nur noch wenig über soziale Realitäten und politische Probleme der Entwicklungsländer aussagen können, lieferte nachträglich sogar ein Alibi für den Verzicht auf eine systematisch-vergleichende Methode in den einzelnen Länder-Beiträgen dieses Handbuches und den Rückgriff auf eine weniger anspruchsvolle historisch-soziologisch-institutionelle Analyse. Diese Methode mag angesichts des methodologischen Diskussionsstandes konventionell erscheinen, erbringt aber empirische Ergebnisse und theoretische Erkenntnisse, die zumindest teilweise durch den Struktur-funktionalen Modellraster gefallen wären. Die modernisierungstheoretische Dichotomie zwischen „Traditionalität" und „Modernität" ist weder geeignet, die konkreten Formen und vielfältigen historischen Ausprägungen von „traditionellen Gesellschaften" zu erfassen, noch öffnet sie andere Wege der gesellschaftlichen und politischen Organisation zur Entwicklung oder Modernität als die, die die „modernen" Gesellschaften bereits zurückgelegt haben — wobei der modernisierungstheoretische Normensatz kurzerhand Systemalternativen ausschließt. Diese unilineare Geschichtsteleologie liefert Leitbilder, Wertungen und Maßstäbe, die unbekümmert an die historischen Nachzügler in der weltgeschichtlichen Peripherie angelegt werden, um die Distanz zum Ziel der Entwickeltheit im Sinne dieser als westerni^ation mißverstandenen Entwicklung zu messen9. 8
9
Vgl. u. a. C. Leys: Politics and Change in Developing Countries (Anm. 5), S. 9: „The construction of comprehensive theoretical systems can degenerate into an uninspired and pointless scholasticism". Noch schärfer ist die Kritik von F.-W. Heimer: Begriffe und Theorien der „politischen Entwicklung". Bilanz einer Diskussion und Versuch einer Ortsbestimmung G. A. Almonds, in: D. Oberndörfer (Hrsg.), Systemtheorie, Systemanalyse und Entwicklungsländerforschung, Berlin 1971, S. 515: „. . . seine Konstruktionen stellen zur Zeit nicht einmal stichhaltige Taxonomien dar". Vgl. F. Nuscheier-. Bankrott der Modernisierungstheorien? (Anm. 6), S. 197ff.
6
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
Auch die marxistisch fundierte Afrikanistik ist dieser Gefahr des eurozentrischen Begriffsimperialismus nicht entgangen, indem sie ihre analytischen Begriffe, Zielvorstellungen und kritischen Wertmaßstäbe mehr aus der Kritik des okzidentalen Kapitalismus denn aus der historisch-materialistischen Analyse der (als „vorkapitalistisch" schematisierten) afrikanischen Gesellschaften ableitet; sie lebt noch immer mehr vom „Elend der bürgerlichen Entwicklungstheorie" 10 denn aus eigener Originalität und empirischer Leistung. Erst die Entwicklung einer ökonomischen Anthropologie, besonders durch französische Anthropologen ( T e r r a j , Meillassoux, Godelier), sowie einer politischen Ökonomie der abhängigen Reproduktion und der strukturellen Heterogenität der kolonial deformierten Gesellschaften (durch Amin, Arrighi, Saul, Shivji oder Tet^laffn) hat die theoretischen Voraussetzungen dazu geschaffen, die Kernfrage nach den Klassenverhältnissen und dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und politischer Organisation in den „peripher-kapitalistischen" Gesellschaften zu bewältigen. Selbst wenn man sich nicht von dem kategorischen Imperativ, daß „die Klassenanalyse der einzig relevante Ansatz für das Studium afrikanischer Gesellschaften" sei12, verpflichten läßt und den politischinstitutionellen Überbau nicht vorschnell als irrelevantes Epiphänomen abtut, kommt eine politische Organisationssoziologie nicht an der Frage nach der Klassenbasis von Herrschaft und den Klasseninteressen der Herrschenden vorbei. Die Länderbeiträge dieses Handbuches stellen zwar die Analyse der politischen Entwicklung nicht methodologisch-prinzipiell auf den materialistischen Boden der Klassenverhältnisse, aber sie liefern eine Analyse gesellschaftlicher Interessen und ihrer politisch-institutionellen Organisation im Wandel der sozio-ökonomischen und staatsrechtlichen Bedingungen des kolonialen und nachkolonialen Staates. Das Handbuch faßt die Länder des gesamten afrikanischen Kontinents zusammen. Dieser Kontinent ist nicht nur geographisch, sondern auch demographisch, historisch, sozio-ökonomisch und sozio-kulturell durch die Sahara getrennt. Die beiden Kulturräume diesseits und jenseits der Sahara hatten zwar über Karawanenwege einen wirtschaftlichen Austausch und durch die Ausbreitung des 10
11
12
G. Hauck: Das V. Brandes (Hrsg.),
Vgl.
36—63.
Elend der bürgerlichen Entwicklungstheorie, in: B. Tibij Handbuch 2. Unterentwicklung, Frankfurt/M. 1975, S.
R. Tet^laff : Staat und Klasse in peripher-kapitalistischen Gesellschaftsformationen: Die Entwicklung des abhängigen Staatskapitalismus in Afrika, in: VRÜ, Bd. 10 (1977), S. 43—77 faßt diesen Analyseansatz zusammen. So A. Manghe^i: Class, Elite and Community in African Development, Uppsala 1976, S. 69.
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- und Legitimitätsformen
7
Islam und theokratischer Herrschaftsbegründungen intensive kulturelle Beziehungen, die sich am südlichen Saharasaum oder selbst bei den Yao in Zentralafrika auch in theokratisch-absolutistisch2entralistischen politischen Organisationsformen manifestierten13; dennoch sind sie nicht nur durch ethnische Merkmale (mit Mischformen im Sahel-Gürtel), sondern auch durch sozialanthropologische, polit-ökonomische und kulturelle Besonderheiten des Afrikanertums (négritude, africanité, african personality) unterschieden. Diese Einleitung beschränkt sich auf das „Afrika südlich der Sahara" und konzentriert sich auf das anglophone und frankophone Afrika. Besonderheiten des deutschen, belgischen, portugiesischen, spanischen, italienischen und schließlich des burischen Kolonialismus in Südafrika werden in den jeweiligen Territorialanalysen herausgearbeitet. Nordafrika wird als Teil des arabisch-islamischen Kulturraumes in der Einleitung des Asien-Bandes dieses Handbuches behandelt werden. 13
Vgl. zu diesen Einflüssen die Zusammenfassung von P. Bertaux: scher Weltgeschichte, Bd. 32, Frankfurt/M. 1966, S. 53 ff.
II. Präkoloniale
Gesellschafts-,
Herrschafts-
und
Afrika. Fi-
Legitimitätsformen
Die Geschichte Schwarzafrikas wird üblicherweise in eine vorkoloniale, koloniale und nachkoloniale Periode eingeteilt. Die schriftlich erschlossene koloniale und nachkoloniale Periode umfaßt, wenn man von der kolonialen Penetration des Kontinents über die bereits seit dem 17. Jahrhundert punktuell besetzten schmalen Küstenstreifen, Handelsstützpunkte und Sklavensammelstellen hinaus ausgeht, nur knapp ein Jahrhundert. Die vorkoloniale Periode ist zwar weit weniger erforscht als die Geschichte des arabischen Nordafrika, aber was aus mündlichen Überlieferungen und archäologischen Funden bekannt ist, weist das Klischee vom geschichtslosen „Schwarzen Kontinent" vor Ankunft der Europäer als eine eurozentrische Kulturhybris aus1. Die präkoloniale Geschichte ist nicht bloß Vorgeschichte; das heutige Afrika ist das Produkt einer doppelten Geschichte: der eigenen und der kolonialen2. 1
2
Es gibt inzwischen nicht nur eine Reihe sehr gründlicher historischer Analysen aus der Feder europäischer Afrikanisten {R. J. Rotberg, B. Davidson, T. 0. Ranger, R. Corneviri), sondern zunehmend auch Versuche von afrikanischen Historikern (wie der „Dar es Salaam-Schule"), ihre eigene Geschichte selbst zu schreiben und zu interpretieren. Zu Perspektivverschiebungen der neueren wissenschaftlichen Kolonialgeschichte vgl. R. von Albertini (Hrsg.) : Moderne Kolonialgeschichte, Köln und Berlin 1970, Einleitung S. 12.
8
Einleitung (Franz Nuschelet/Klaus Ziemer)
Während die frühe Geschichte der Jäger- und Sammlergesellschaften und der im ersten Millenium (der „frühen Eisenzeit" mit einer erstaunlichen Entwicklungsstufe der Eisenverarbeitung) sich entfaltenden ackerbauenden und viehzüchtenden Gesellschaften nur bruchstückhaft erschlossen ist, ermöglicht eine intensivere Überlieferung eine recht gute Rekonstruktion der größeren Staatsgebilde von Mali, Ghana, Kongo, Gao, Benin, der Mossi, Fulbe, Baganda, Lozi oder der Stadtstaaten der Haussa. Diese Überlieferung zeigt auch, daß die afrikanischen Völker nicht „völkerkundlichen" Klischees gemäß lebten; daß sie weder in einer exotisch-friedlichen Idylle dahinlebten noch in einem Blutrausch der „Stammesfehden" dahinstarben oder sich, in einem primitiven Horden-Urkommunismus vereinigt, von Jagen und Sammeln ernährten, sondern Gesellschaften und Staaten bildeten und zerstörten, expandierten und revoltierten, die Produktivkräfte zur Beherrschung der Natur entwickelten und ihre soziopolitische Organisation den Umweltbedingungen anpaßten, also nicht in statischer Primitivität verharrten, wie das Klischee vom „traditionellen Afrika" vorgibt: „For countless centuries, while all the pageant of history swept by, the African remained unmoved in primitive savagery" 3 . Freilich muß hinzugefügt werden, daß — auch aufgrund des Landüberflusses und der Brandrodungs- und Wechselbewirtschaftung, die wiederum den humus- und mineralarmen Lateritböden durchaus angemessen war — die Entwicklung der Produktivkräfte den Fortschritten in Nordafrika oder Asien erheblich nachhinkte. Unbekannt waren das Rad, der Pflug, die Ausnutzung der tierischen Zugkraft; die Thesaurierung von Reichtum (Vieh, Schmuck) band vorhandene Investitionsmittel 4 . Als Reiseberichte von Arabern und Europäern zu einer historischen Quelle wurden, war Schwarzafrika bereits zu einem „Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute" verwandelt worden 5 . Während der dreihundertjährigen Sklavenjagd, des europäisch-afrikanischkaribisch/amerikanischen Dreiecksgeschäfts mit Ramschwaren-Menschen-Plantagenprodukten und des arabischen Menschenraubes in Ost- und Zentralafrika brachen, während gleichzeitig in Europa die „Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära" anbrach, in weiten Teilen Schwarzafrikas nicht nur die Produktion, weil die Bauern entweder versklavt wurden oder aus ihren Dörfern in weniger entwicklungsfähige Rückzugsgebiete flohen, sondern auch die 3
4 6
So der britische Gouverneur in Nigeria, Lord Milverton, zitiert nach F. Olisa Awogu: Political Institutions and Thought in Africa, New York usw. 1975, S. 130. R. Dumont-, L'Afrique noire est mal partie, rev. Aufl., Paris 1971, S. 21 f. So K. Marx: Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 779.
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- u n d Legitimitätsformen
9
Sozialorganisationen zusammen. Es bildeten sich vielfach Kriegerkasten aus, sei es zur Ertragssteigerung bei der Sklavenjagd oder zur Verteidigung gegen Sklavenjäger 6 , die das strukturelle und normative Gefüge vieler Gesellschaften in den Raubgebieten der Sklavenjäger neu strukturierten. Einerseits wurden ganze Gesellschaften zerstört und große Gebiete entvölkert, andererseits entstanden neue Staatsgebilde auf der ökonomischen Basis des lukrativen Sklavengeschäfts 7 . Die importierten Tauschwaren erbrachten keinen Produktivitätszuwachs, weil das Gros aus wertlosen oder gar schädlichen Konsumwaren (Feuerwaffen, Alkohol, Haushaltsartikeln, Ramsch) bestand, aber vielfach dem einheimischen Handwerk die Existenzgrundlage entzog. Was also die Ethnologen in der Kolonialzeit („colonial anthropology") an Traditionalität zu entdecken glaubten, war bereits eine mehrfach „deformierte Traditionalität" 8 ; indem sie die „traditionellen" Gesellschaften als statische betrachteten, konnten sie weder diese Deformationen noch die präkoloniale Traditionalität entdecken 9 . Bis zur kolonialen Penetration Afrikas innerhalb willkürlicher kartographischer Grenzen, die soziale Einheiten und gewachsene Wirtschafts- und Kulturräume zerschnitten, waren die Afrikaner in unterschiedlich dichte und weite Verwandtschaftsnetze (kinships-lineagesClans-Stämme) und andere Teilstrukturen (Altersgruppen, KlientelBeziehungen) eingefügt und in vielfältigen politischen Organisationsformen (segmentären Dorfgemeinschaften, nomadisierenden Horden, überlokal assoziierten Clan-Verbänden, Häuptlingsterritorien oder Königreichen unterschiedlichen Organisationsgrades) organisiert.
II. 1 Probleme des Stammes-Begriffes und der so^jalanthropologischen Theoriebildung G. P. Murdock listete über 850 „tribes" and „peoples" in Afrika auf 10 ; andere Schätzungen reichen über 1000. Diese Zählungen sind schon 6
7 8
9
10
V g l . B. Davidson: V o m Sklavenhandel zur Kolonisierung, Reinbek 1 9 6 6 ; W. Rodney: A f r i k a . Die Geschichte einer Unterentwicklung, Berlin 1975, S. 87 ff. V g l . / . Suret-Canale: Schwarzafrika, Bd. 1, Berlin 1966, S. 1 2 6 f f . V g l . S. Amin: Z u r Theorie v o n A k k u m u l a t i o n und Entwicklung in der gegenwärtigen Weltgesellschaft, i n : D. Senghaas (Hrsg.), Peripherer Kapitalismus, Frankfurt/M. 1974, S. 9 5 ; zur allgemeinen K r i t i k der „kolonialen A n t h r o p o logie" vgl. G. Leclerc: A n t h r o p o l o g i e und Kolonialismus, München 1973. V g l . P. L. van der Berghe: Africa. Social Problems of Change and Conflict, San Francisco 1965, S. 2 ff.; Max Gluckman: O r d e r and Rebellion in Tribal A f r i c a , N e w Y o r k 1963, Einleitung. G. P. Murdock: Africa. Its Peoples and Their Culture History, N e w Y o r k 1959, S. 4 2 5 ff.
10
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
deshalb ziemlich willkürlich, weil kaum Einigkeit über Abgrenzungen und Klassifikationen dieser Sozietäten besteht11. Während unter Ethnologen und Sozialanthropologen noch weitgehender Konsens besteht, daß kinships nur wenige Haushalte und Familien und lineages (Bande, Großfamilie) eine unilineare (patri- oder matrilineare) Verwandtschaftsgruppe umfassen, die ihre Abstammung auf einen gemeinsamen und nachweisbaren Ahnen zurückführen kann, der Clan die Nachkommen eines entfernteren und nicht mehr lückenlos nachweisbaren Ahnen zusammenschließt und auch die angeheiratete Verwandtschaft einschließen kann, wurde der zentrale Begriff des Stammes (tribus, tribe) zu einem verwirrenden Sammelbegriff, der analytisch unpräzis gebraucht und interpretatorisch mißbraucht wird. So werden in „Meyers Handbuch über Afrika" alle Gruppen von Buschmännern bis Großvölkern unter den „Stämmen" aufgezählt12. Van der Berghe unterschied sechs verschiedene Begriffs- und Gebrauchsvarianten : als „localized group living in a certain district" ; als „ethnie group whose major identifying characteristic is a common language" ; als Bezeichnung für präkoloniale Staaten von heterogener Zusammensetzung ; als Synonym für „rural" im Gegensatz zu „urban" ; als Gegensatz zu „national"; als Synonym für „traditionell" und „konservativ" im Gegensatz zu „modern" und „progressiv" 13 . Diese wertenden und abwertenden Attribute und Assoziationen und die Nähe zum politischen Rumpelkammer-Begriff des Tribalismus haben den Stammes-Begriff als analytischen Begriff nahezu entwertet. Wenn er dennoch gebraucht wird, weil er unverzichtbar erscheint, dann bezeichnet er seit Lewis Morgans Bestimmung (eine „vollständig organisierte Gesellschaft") in der Regel einen Typus sozialer Organisation mit folgenden Merkmalen : gemeinsames Territorium, gemeinsame Herkunft, gemeinsame Sprache und Kultur, gemeinsamer Name14. Aber auch diese Klassifikation mittels eines Kriterienkataloges blieb nicht unwidersprochen. Umstritten ist schon die Herleitung des Stammes aus dem Ethnos, also seine primäre Bestimmung als Abstammungseinheit. Wenn der Stamm — im Gegensatz zu oder als Weiterentwicklung von lineage und Clan — neben Blutsverwandten und Eingeheirateten auch adoptierte und unterworfene Gruppenmitglieder umfassen soll, dann ist er sowohl eine ethnische wie eine politi11
12 13 14
Zur Verwirrung über nahezu alle zentralen Begriffe der Ethnologie vgl./. Lombard: Autorités traditionnelles et pouvoirs européens en Afrique noire, Paris 1967, S. 12ff. Meyers Handbuch über Afrika, Mannheim 1962, S. 172 ff. P. van der Berghe (Anm. 9), S. 3. So definiert /. Honigman: Tribe, in: J. GouldjW. L. Kolb (Hrsg.), Dictionary of the Social Sciences, Glencoe 1964, S. 729.
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- und Legitimitätsformen
11
sehe Einheit; dann korrespondieren, alternieren und überschneiden sich verschiedene Konstitutionsprinzipien, die auch idealtypisch nicht gesondert werden können 15 . Nicht gelöst durch diese Kombination von Merkmalen wird ferner das Problem der Abgrenzung des Stammes von anderen Typen segmentärer Gesellschaften16. Dieses Abgrenzungsproblem wird deutlich, wenn man Meillassouxs Definition der „archaischen Subsistenzgesellschaft" vergleicht: „. . . als eine Gesamtheit von Individuen beiderlei Geschlechts . . ., die auf einem gemeinsamen Territorium leben oder zusammen wandern, unter der Autorität eines lebenden, als hervorragend anerkannten Mannes stehen und die untereinander durch Verwandtschaftsbeziehungen verbunden sind" 17 . Die Einbeziehung einer Autoritätsperson oder des Politischen in die Typenbestimmung verweist bereits auf eine weitere Kontroverse, die bei der Zuordnung von alternierenden politischen Organisationsmerkmalen (akephal-segmentär, akephalnichtsegmentär, staatslos-staatlich, herrschaftsfrei-herrschaftlich, chiefless-chiefly, dezentralisiert-zentralisiert etc.) entsteht. Ohne inhaltliche Bestimmung und Zuordnung dieser politischen Strukturmerkmale bliebe aber der Stammes-Begriff in der Tat nur ein unspezifischer und ziemlich wertloser Sammelbegriff für „traditionelle Gesellschaften" aller Art. Die methodologischen Kontroversen zwischen Funktionalisten und Evolutionalisten in der Anthropologie verschärfen sich dann, wenn der Stamm nicht nur eine der eigenen Erforschung zugängliche soziale Organisation, sondern zugleich eine universalhistorische Entwicklungsstufe menschlicher Vergesellschaftung bezeichnen soll. Dann werfen die einen den anderen unhistorischen und naiven Empirismus vor, während die anderen mit dem Vorwurf der pseudo-historischen Spekulation kontern, obwohl jenseits dieses polemischen Schlagabtausches gerade in organisations- und funktionstheoretischen Erkenntnissen viele Übereinstimmungen bestehen18. Balandier hat diesen Methodenstreit treffend zusammengefaßt: „Einerseits gibt es Forscher, die von dem Streben nach dem ethnologisch Reinen, nach dem unveränderten und in seiner Primitivität wunderbar erhal15 16
17
18
V g l . W. L. Bühl-. E v o l u t i o n und Revolution, München 1970, S. 1 9 2 f . V g l . die K r i t i k v o n M. Godelier: ö k o n o m i s c h e A n t h r o p o l o g i e . Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften, Reinbek 1973, S. l l O f f . C. Meillassoux: Versuch einer Interpretation des Ökonomischen in den archaischen Subsistenzgesellschaften, i n : K. Eder (Hrsg.), Seminar: Die Entstehung v o n Klassengesellschaften, Frankfurt/M. 1973, S. 3 6 f . V g l . die Zusammenfassung dieses Methodenstreits, der sich häufig nur als Scheingefecht erweist, bei E. Adam: „Tribalismus" u n d „nationale Integration", M A - A r b e i t an der Universität Hamburg, 1976.
12
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
tenen Zustand besessen sind, oder solche, die sich ausschließlich theoretischen Spekulationen widmen und über Ursprünge und Schicksal von Kultur und Gesellschaft meditieren; andererseits gibt es Forscher, die zahlreiche praktische Untersuchungen von beschränkter Reichweite anstellen, sich mit einem bequemen Empirismus begnügen und dabei das handwerkliche Niveau kaum überschreiten" 19 . Für die Evolutionisten ist seit Lewis Morgan der Stamm ein Entwicklungsstadium zwischen der niedrigen Stufe der Gentilverfassung (lineage) und der höchsten Entwicklungsstufe der staatlich organisierten politischen Gesellschaft, deren Organisation nicht mehr auf dem persönlichen Verwandtschaftsprinzip, sondern auf dem Territorialprinzip und •— zumindest für Morgan und marxistische Evolutionisten — auf dem Institut des Privateigentums beruht. Evolution bedeutet fortschreitende Differenzierung von Rollen, Funktionen und Strukturen, die sich in immer komplexeren Formen der sozialen Integration und politischen Organisation manifestiert. Dieses Morgansche Evolutionsmodell hat M. Sahlins aktualisiert und differenziert. Er plaziert den Stamm (eine „Vereinigung von Verwandtschaftsgruppen") oder die „tribale Stufe" des segmentären Lineage-Systems zwischen den undifferenzierten Horden (bands = „einfache Vereinigungen von Familien") und der staatlich organisierten Gesellschaft, der er als weitere Entwicklungsstufe der „tribalen Stufe" und Vorstufe zum Staat das Häuptlingsterritorium („chief dom") vorschaltet. Während das segmentäre IJneage-System nur zeitweilig das zerstückelte tribale Gemeinwesen für Aktionen nach außen zusammengefaßt habe, sei das Häuptlingstum bereits durch eine dauerhafte politische Struktur und erbliche Funktionszuweisung gekennzeichnet gewesen. Der Staat unterscheidet sich dann vom „chiefdom" nur noch durch einen höheren Grad der Differenzierung und Zentralisation der Verwaltungsstruktur als Folge eines größeren Koordinations- und Steuerungsbedarfs. Diese sozialen und politischen Entwicklungsstufen werden wiederum mit bestimmten ökonomischen Entwicklungsstufen verbunden 20 . II. 2 Segmentäre Gesellschaft und „primitive Demokratie" Kontroversen entstehen erneut, wenn das auf der Evolutionsleiter sozialer Organisationen eingeordnete Zwischenstadium des Stammes mit Strukturelementen der vorangegangenen und folgenden Stufe 19
20
G. Balandier: Die koloniale Situation: ein theoretischer Ansatz, in: R. von Albertini (Hrsg.), Moderne Kolonialgeschichte (Anm. 2), S. 106. M. Sahlins: Die segmentäre Lineage: zur Organisation räuberischer Expansion, in: K. Eder (Anm. 17), S. 114—152; zur Kritik an diesem Evolutionsschema vgl. M. Godelier (Anm. 16), S. 111 ff.
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- und Legitimitätsformen
13
in die Typologien politischer Systeme des präkolonialen Afrika eingefügt werden soll. M. Fories und Evans-Pritchard unterscheiden in ihrer klassischen Einleitung zu African Political Systems Gesellschaften mit einer „zentralisierten Autorität, einem administrativen Apparat und rechtsprechenden Institutionen" von einer zweiten Gruppe ohne „zentralisierte Autorität": „There is no person who represents the political unity of the people" 21 . Diese Dichotomie staatslosstaatlich oder segmentär-zentralisiert wurde als statische Verzerrung der historischen Dynamik und Vielfalt der Organisationsformen kritisiert und vielfach differenziert 22 ; sie läßt vor allem die Frage offen, wo die Gesellschaften mit Häuptlingen einzuordnen sind, die zwar eine „zentralisierte Autorität", aber keine Verwaltungsstruktur hatten 23 . Die Begriffsfindung des „segmentären Staates" problematisiert schließlich die dieser Dichotomie zugrunde gelegte Synonymität von segmentär = nichtstaatlich bzw. herrschaftslos 24 . Sowohl FortesjEvans-Pritchard wie Morgan fügen zwei weitere Klassifikationsmerkmale hinzu: die Verteilung von Status und Eigentum sowie die Rolle der Verwandtschaftsbeziehungen. Während sie die segmentären Gesellschaften durch fehlende oder geringe Status- und Besitzunterschiede kennzeichnen, stellen sie in den staatlich organisierten Gesellschaften eine Korrespondenz zwischen „cleavages of wealth, privilege, and status . . . to the distribution of power and authority" fest 25 . Sie gehen weiterhin davon aus, daß in segmentären Gesellschaften das Verwandtschaftsnetz („lineage structure") und die diesem innewohnende Autoritätsstruktur die Struktur des politischen Systems begründen, Verwandtschaftsbeziehungen also zugleich als soziale, politische, ökonomische und ideologische Beziehungen fungieren 26 . Diese Fixierung der Gesamtstruktur der segmentären Gesellschaften allein auf Verwandtschaftsbeziehungen stieß wiederum auf Kritik. Sowohl Middleton\Tait%1 wie S. N. Eisenstadt gehen in 21
M. FortesjE. E. Evans-Pritchard: African Political Systems, London 1940, S. 22. Vgl. kritisch zusammenfassend G. Balandier: Politische Anthropologie, München 1972, S. 28ff.; P. Trappe: Uber Typologien afrikanischer Sozialstrukturen, in: Ders., Sozialer Wandel in Afrika südlich der Sahara, Hannover 1968, S. 9ff. 23 Vgl. die Kritik von G. I.Jones: The Trading States of the Pol Rivers, London 1963, S. 5. 24 Vgl. A. W. Southall: Alur Society, Cambridge 1956, Kap. IX. 25 M. Fortes/E. E. Evans-Pritchard (Anm. 21), S. 6. 26 Ebenda, S. 6f.; L. H. Morgan: Ancient Society, Chicago 1907, S. 6; diese Multifunktionalität hebt auch M. Godelier (Anm. 16), S. 115 hervor. 27 / . MiddletonjD. Tait ( H r s g J : Tribes without Rulers, London 1958, S. 3 unterscheiden: „Politically uncentralized societies in which there is no corporate lineage. The main political structure is provided by relations between chiefs and villages of cognatic kin, related in various ways to a headman and free to 22
14
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
ihrer Fortführung des von Fortes]Evans-Pritchard entwickelten Grundmusters zwar ebenfalls von der Dichotomie zwischen segmentär/ dezentralisierten und zentralisierten Systemen aus, differenzieren aber die Lokalisierung politischer Autorität und die Rollenzuweisung innerhalb der segmentären Gesellschaften. Eisenstadt untergliedert die „segmentary tribes" in fünf Untertypen: Banden; „klassische" segmentäre Stämme, in denen die lineage politische Rollen verteilt; universalistische Gruppen, in denen die Arbeitsteilung und Rollendifferenzierung nach Altersgruppen erfolgt; rituell stratifizierte Gruppen; akephal-autonome Dorfgemeinschaften 28 . Die Verwendung des Staatsbegriffes, obwohl er in der angelsächsischen Staatstheorie wesentlich weniger hegelianisch überladen ist, führte dazu, daß segmentäre Gesellschaften als apolitische Gesellschaften mißverstanden wurden, ihnen sogar eine politische Organisation abgesprochen wurde. Wenn Radcliffe-Brown politische Organisation als „that aspect of the total Organization which is concerned with the control and régulation of the use of physical force" definiert 29 , dann hätten diese Gesellschaften ohne einen institutionalisierten Zwangsapparat in der Tat keine politische Organisation gehabt. Dagegen haben zahlreiche ethnographische Studien gezeigt, daß selbst einfachste Sammlergesellschaften bei Bedarf, besonders bei äußerer Bedrohung, politische Macht in Form eines Kriegshäuptlings institutionalisierten und auch im Friedenszustand durch Regeln und Sanktionen organisiert waren, wenn auch nicht in Form eines Herrschaftsverbandes. Bei seßhaften Bauerngemeinschaften gab es häufig einen Landhäuptling („Herr des Bodens"), der Landstreitigkeiten schlichtete. Bereits Max Weber hatte erkannt, daß „primitive Gemeinschaften" einen Satz von Regeln, Obligationen und Sanktionen hatten, die das Zusammenleben und Systemüberleben ermöglichten: eine durch soziale Normen „regulierte Anarchie" 30 . Die Blutsverwandtschaft begründete eine Gruppe mit organisierter Solidarität, einen Solidaritätsverband auf gegenseitiger Hilfe, der zum kollektiven Überleben
28
29
30
choose their village residence where they please. Political authority is here vested in chiefs and headmen. 2. Political relations between local groups are controlled by the holders of statuses in age-set and age-grade systems, in whom political authority is vested. 3. Societies in which political authority is vested in village councils and associations". S. N. Eisenstadt\ Primitive Political Systems: A Preliminary Comparative Analysis, in: American Anthropologist, Bd. 61 (1959), S. 206 ff. A. R. Radcliffe-Brown: Einleitung zu M. FortesjE. E. Evans-Pritchard (Anm. 21), S. XIV. M. Weber-, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1956, S. 678.
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- und Legitimitätsformen
15
Entscheidungen treffen und durchsetzen mußte; er erreichte diese Regelbefolgung nicht durch physischen Zwang, sondern durch moralische oder rituelle Sanktionen. Die Ethnographie hat an zahlreichen Beispielen diesen Mechanismus zur Durchsetzung von kollektiven Regeln mittels Sanktionen illustriert31. Wohin das historische Mißverständnis führen kann, die „traditionelle Gesellschaft" sei „unfähig zur Selbstorganisation" gewesen, erweist sich an Rostows Rechtfertigung des Kolonialismus als historische Notwendigkeit, um durch den Vorstoß in ein organisatorisches Vakuum die Voraussetzungen eines erweiterten Welthandels zu schaffen32. Die Forschung hat nicht nur eine Vielfalt von präkolonialen Gesellschafts- und Herrschaftsformen, sondern zugleich vielfältige und komplexe Organisationsformen innerhalb des Typs der segmentären Gesellschaften entdeckt, die vom Klischee der „traditionellen Gesellschaft" wieder verschüttet wurden. Der bereits von Emile Dürkheim geprägte und später vielfach abgewandelte und neu definierte Typus der „segmentären Gesellschaften"33 wurde durch die „klassischen" Studien von Radcliffe-Brown, Lucy Mair, J. Schapera, EvansPritchard, M. Gluckman, A. Richards, J. Middleton und zahlreiche weitere Feldstudien (vgl. Bibliographie) empirisch fundiert. Dieser Forschungsstand läßt den gesicherten Schluß zu, daß die durch das Fehlen oder Vorhandensein einer „zentralisierten Autorität" begründete Dichotomie von staatslosen und staatlich organisierten Gesellschaften zu grobmaschig ist. Inzwischen erscheint auch die Frage naiv, ob die „primitiven" Gesellschaften tatsächlich so egalitär und fundamentaldemokratisch strukturiert waren, wie dies in der Romantisierung der Gentilverfassung durch Morgan oder Engels anklingt: „ . . . es ist eine wunderbare Verfassung in all ihrer Kindlichkeit und Einfachheit, diese Gentilverfassung! Ohne Soldaten, Gendarmen und Polizisten, ohne Adel, Könige, Statthalter, Präfekten oder Richter, ohne Gefängnisse, ohne Prozesse geht alles seinen geregelten Gang"34. Dennoch muß diese Frage gestellt werden, weil nicht nur für klassische Vertragstheoretiker von Hobbes bis Montesquieu die „Naturvölker" als Illu31
32 33 34
Ch. Sigrist: Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas, Ölten und Freiburg i. Br. 1967, S. 99 ff. entwickelte eine Typologie, in der er physische Sanktionen staatlichen Zentralinstanzen und nichtphysische Sanktionen nichtzentralen Instanzen zuweist. W. W. Rostov. Stadien wirtschaftlichen Wachstums, Göttingen 1960, S. 135. Zur Begriffsgeschichte vgl. Ch. Sigrist (Anm. 31), S. 21 ff. und P. Trappe (Anm. 22), S. 28 ff. F. Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: MEW, Bd. 21, Berlin 1962, S. 95 f.
16
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
stration für einen fiktiven Naturzustand der in herrschaftsfreien Beziehungen lebenden Freien und Gleichen herhalten mußten, sondern die Mystifizierung präkolonialer Traditionen, besonders der Palaver-Demokratie und eines naturwüchsigen Urkommunismus, auch afrikanischen Theoretikern und Politikern dazu dient, gesellschaftspolitische und verfassungspolitische Konzeptionen des afrikanischen Sozialismus, der négritude oder des Einparteisystems als authentisch afrikanisch zu begründen35. Diese Romantisierung unter dem Anspruch der Historizität findet sich auch bei manchen Ethnologen. So beschreibt G. P. Murdock die Grundzüge der „primitiven Demokratie", die er für den in Schwarzafrika verbreitesten Ordnungstypus hält, folgendermaßen: „The headman, though often hereditary, is merely primus inter pares. Neither he nor any other leader has the power or the right to compel compliance. He can only advise or persuade. Decisions are reached through discussion and informal consensus, and sanctions are applied exclusively through the operation of informal mechanisms of social control"36. Die ethnologische Forschung weist aus, daß es Dorfdemokratien mit dieser fundamentaldemokratischen Struktur gegeben hat, diese aber nicht der Regelfall waren. Trotz des grundsätzlich kommunalen Landbesitzes hatten sich auch innerhalb der Kernfamilien und dann fortschreitend und deutlicher ausgeprägt auf der Ebene von Clans und Stämmen soziale Statusunterschiede nicht nur zwischen Freien und Sklaven, Männern und Frauen, Jungen und Alten, sondern auch zwischen Segmenten eines segmentären Systems ausgebildet37. Zwar wirkten in der Regel alle Erwachsenen, d. h. verheirateten Männer (und manchmal auch Frauen) in langen Palavern, die auf Konsensbildung und Vermeidung von Opposition zur Wahrung des sozialen Friedens abzielten, an der Meinungs- und Willensbildung mit, aber die Eiders hatten größeres Gewicht: „Die Beschlußfassung erfolgt nicht autoritär (. . .), läuft aber darauf hinaus, daß die Beschlüsse dem Willen einer sehr kleinen Anzahl von Individuen (. . .) entsprechen"38. Viele Fallstudien belegen diese vor allem durch die genealogische Nähe der Eiders zum Ahnen begründete und durch V g l . E. Sprin%ak : A f r i c a n Traditional Socialism — A Semantic Analysis o f Political Ideology, i n : J M A S , Bd. 1 1 (1973), S. 6 2 9 — 6 4 7 ; I. Kopytoff-. Socialism and Traditional Societies, i n : W. H. FrtedlandjC. Rösberg Jr. (Htsg.), A f r i c a n Socialism, S t a n f o r d 1 9 6 4 . 36 G. P. Murdock ( A n m . 10), S. 33. 3 7 V g l . die Zusammenfassung v o n Ch. Sigrist ( A n m . 31), S. 1 6 2 f f . , die freilich das Erkenntnisinteresse, die Möglichkeit v o n Herrschaftslosigkeit zu belegen, deutlich erkennen läßt ; überzeugender ist C. Meillassoux ( A n m . 17), S. 38 ff. u n d 56 ff. 38/. Maquet : Herrschafts- u n d Gesellschaftsstrukturen in A f r i k a , München 1 9 7 1 , S. 53. 36
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- und Legitimitätsformen
17
religiöse Kulte abgesicherte soziale Hierarchisierung wie z. B .EvansPritchards Musterbeispiel einer segmentären Gesellschaft 39 oder die von I. M. Lewis beschriebene „Hirtendemokratie" der Somali40. Die wichtigsten Medien der Autoritätsbildung und Statusdifferenzierung waren Religion und Land: „Zum Autoritätssystem gehören Gott, die Toten und die Zauberer ebenso wie die lebenden Menschen" 41 . Die Nachkommen eines Ahnen konnten als respektierte und verehrte Bindeglieder zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Toten und Lebenden und als Kenner und Interpreten des Ahnenmythos die Kulthandlungen dazu einsetzen, ihre Autorität und Privilegien magisch-religiös abzusichern 42 . Ihr Verfügungsund Zuteilungsrecht über das Land und ihr Anspruch auf Gegenleistungen der Gruppenmitglieder gaben dieser Statusdifferenzierung eine ökonomische Basis, begründeten aber noch keine Klassenteilung. Der segmentäre Sozialkörper ist „eher eine Struktur von bestimmten Graden von Partizipation als von Interessenkonflikten, von familiären Prioritäten, die nach der Kontrollfunktion über Macht und Reichtum, nach dem Vorrecht, die Dienste anderer in Anspruch zu nehmen, nach dem Zugang zu den göttlichen Mächten und nach den materiellen Aspekten ihres Lebensstils abgestuft sind, so daß, wenn alle Individuen untereinander verwandte Mitglieder der Gesellschaft sind, einige es mehr sind als andere" 43 . Der Übergang zu Klassen- und Herrschaftsverhältnissen erfolgt erst dann, wenn die Eiders nicht mehr selbst arbeiten, vom Mehrprodukt der Gemeinschaft leben und zugleich über das politische und ideologische Monopol verfügen und über Land, Arbeit und Produktion disponieren. Man kann mit Morton Fried zwischen egalitären Horden, Stammesgesellschaften mit Statusdifferenzierungen, Häuptlingsterritorien mit Schichtsystemen und Staaten mit Klassenstrukturen unterscheiden 44 , muß sich aber vor einer Parallelisierung mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit hüten.
39
E. E. Evans-Pritchard: The Nuer of the Southern Sudan, in: M. Fortes)E. E. Evans-Pritchard (Anm. 21), S. 287. 40 I. M. Lewis: The Northern Pastoral Somali of the Horn, in: Ders., Peoples of the Horn of Africa, London 1955, S. 345. 41 /. Middletotf. Lugbara Religion: Ritual and Authority among an East African People, London 1960, S. 12. 42 Zusammenfassend G. Balandier (Anm. 22), S. 131 if. 43 M. Sahlins: Tribesmen, Prentice Hall 1968, S. 24 (deutsche Übersetzung nach M. Godelier (Anm. 16), S. 118); M. Fortes-. The Political System of the Tallensi of the Northern Territories of the Gold Coast (Anm. 21), S. 250 zeigt empirisch das Fehlen ökonomischer Klassen. 44 M. Fried: The Evolution of Political Society, New York 1967. 2
Wahl der Parlamente: Afrika
18
Einleitung (Franz Nuscheier/Klaus Ziemer)
Die unterschiedliche Bewertung der Binnenorganisation der segmentären Gesellschaften, ihre Klassifizierung und Typologisierung hängen wesentlich davon ab, welche konkreten Gesellschaften den einzelnen Autoren als anthropologische Fundgrube dienten. Die reichhaltigen Forschungsergebnisse lassen jedoch folgende Schlußfolgerungen zu. Der Naturzustand der Freien und Gleichen ging im Übergang von urkommunistischen Gemeinschaften zu komplexeren Sozialorganisationen verloren. In diesem Transformationsprozeß von einfachen zu komplexen Kooperationsformen, von familiäregalitären zu zentral organisierten Produktionsweisen mit Tributpflichten der Produzenten, von einfachen Dorfdemokratien zu differenzierten Leistungsorganisationen bildeten sich sehr unterschiedliche Klassen- und Herrschaftsstrukturen heraus, die sich einer statischen Typisierung entziehen. Grundlegend sowohl für die akephalen wie von Häuptlingen geführten oder auch nur repräsentierten Stammesgesellschaften war government by discussion, das in größeren Häuptlingsterritorien durch repräsentative Strukturelemente (überlokale Versammlungen von Familienältesten, regionale und zentrale Versammlungen von Clanältesten, Unterhäuptlingen und speziellen Funktionsträgern wie Priestern) ergänzt wurde. In vielen Gesellschaften lassen sich Elemente einer gemischten Verfassung in sozialorganisatorischer und politischinstitutioneller Hinsicht erkennen: in der Beteiligung der nach verschiedenen Prinzipien (Verwandtschaft, Altersgruppe, Territorialoder Blutzollverband) und in verschiedenen Institutionen organisierten Gruppen in der politischen Willensbildung, manchmal auch in Form einer gewaltenteiligen Kompetenzverteilung 45 . Die später erfundene Figur des Chief in Council drückt diese Einbindung der Häuptlinge in ein differenziertes Beratungs- und Entscheidungssystem ein. Es wurden sogar Vergleiche zwischen den demokratischen Entscheidungsprozessen im präkolonialen Afrika und den Prozeduren parlamentarischer Regierungsweise angestellt 46 , allerdings unter Verkennung grundlegender Unterschiede: z. B. der Rolle von Parteien und einer institutionalisierten Opposition, die der afrikanischen Palaver-Demokratie, die mit einem Höchstmaß an Homogenität und Konsens ausgestattet war, völlig fremd waren. Angesichts dieser Partizipationsformen erweist sich Daniel Lerners häufig zitierte Gegenüberstellung von traditionell/nicht partizipatorischen und 45 46
Vgl. /. Lombard (Anm. 11), S. 5 3 f . Vgl. K. Little : Parliamentary Government and Social Change in West Africa, in: W h a t are the Problems of Parliamentary Government in West Africa?, L o n d o n 1958, S. 40.
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- und Legitimitätsformen
19
modern/partizipatorischen Gesellschaften bestenfalls als historischanthropologische Unkenntnis, schlimmstenfalls als modernisierungstheoretischer Selbstbetrug47. Dies gilt auch für seine Annahme, daß die „traditionelle Gesellschaft" aus voneinander und von einem Zentrum isolierten Gemeinschaften bestanden habe. Hinter dieser Annahme steht wohl das Bild der im Busch oder Urwald verstreuten Wilden. II. 3 Politische Ökonomie der Klassen- und
Herrschaftsbildung
Die Dichotomie zwischen herrschaftsfreien und herrschaftlichen, nichtstaatlichen und staadich organisierten Gesellschaften wirft die Frage auf, welche Bewegkräfte und Bedingungen zur Ausbildung der unterschiedlichen Struktur- und Organisationselemente führten. Bei diesem Erklärungsversuch setzt wieder der Methodenstreit zwischen Funktionalisten und Evolutionisten ein. Beide leiten zwar auf einer Struktur-funktionalen Abstraktionsebene die organisatorische Ausrüstung einer Gesellschaft aus ihrem Funktionsbedarf und die Ausdifferenzierung der Organisationsstruktur aus ihrem Komplexitätswachstum ab. Deshalb wurde auch beiden der Vorwurf gemacht, sie konstruierten im Analogieschluß zu Funktionsabläufen und strukturellen Anpassungen in biologischen Organismen Struktur- und Funktionsgesetze für menschliche Organisationen48. Aber die Funktionalisten hüten sich vor generalisierenden historischen Regelsätzen. Beispielhaft ist, daß sich Fortes\Evans-Pritchard zwar das technisch-rationale Argument zu eigen machten, daß die wachsende Größe, Heterogenität und Komplexität einer Gesellschaft zum Aufbau von Klassen- und Herrschaftsstrukturen führen können, und Lucj Mair einen Entwicklungsprozeß von „small scale" zu „large scale societies" feststellte49, aber alle drei keine konkreteren historischen Gesetzmäßigkeiten oder Ablaufmuster zu konstruieren wagen. B. Malinoivski befragte zwar aus seinem Verständnis der Gesell47
48
49
D. Lerner: The Passing o f Traditional Society, Glencoe 1958, S. 5 0 ; V g l . F. Nuscheier-. Bankrott der Modernisierungstheorien? ( A n m . I, 6), S. 1 9 7 f f . Z u r K r i t i k an den Evolutionisten vgl. M. Godelier ( A n m . 16), S. 1 1 4 ; zur K r i tik an den Funktionalisten vgl. M. Harries-. The Rise of Anthropological T h e o r y , L o n d o n 1969, S. 546. L. Mair-. N e w Nations, L o n d o n 1963, S. 2 0 ; Evans-Priichard ( A n m . 21), S. 9 : „Centralized authority and an administrative organization seem to be necessary to accommodate culturally diverse groups within a single political system, especially if they have different modes of livelihood. A class or caste system may result if there are great cultural and, especially, great economic divergencies. But centralized f o r m s of g o v e r n m e n t are f o u n d also with peoples of homogeneous culture and little economic differentiation like the Zulu". 2»
20
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
schaft als System der Bedürfnisbefriedigung Strukturen und Funktionen nach ihrem Beitrag zur ökonomischen Reproduktion 50 , verharrte aber in der Ablehnung von Evolutionsschemata. Die Funktionalisten (allerdings mit Unterschieden) weichen, geschützt durch ihr methodologisches Credo, nur das zu untersuchen, was ist und durch direkte Beobachtung beschrieben werden kann, der Frage aus, welche Bewegungskräfte Form und Inhalt von Institutionen und Funktionen verändert haben (könnten). Dieser Frage gingen schon Morgan und Friedrich Engels (mit starker Anlehnung an Morgan51) und gehen vor allem französische ökonomische Anthropologen wie J. Suret-Canale, E. Terray, C. Meillassoux und M. Godelier52 nach. Explicite oder implicite gehen sie von der theoretischen Prämisse aus, daß Produktion und Reproduktion des Lebens das „in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte" sei. Diese Prämisse impliziert, daß die Entwicklung der Produktionsweisen „in letzter Instanz" auch die Entwicklung der sozialen und politischen Organisationen bestimmt; daß die Genese von Herrschaftsverhältnissen nicht aus abstrakten Funktionsgesetzen, sondern aus der Genese von Klassenverhältnissen, die soziale Differenzierung nicht aus Abstammungsregeln oder religiösen Mythen, sondern aus der von der Produktionsweise diktierten gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Entstehung von staatlichen Steuerungsund Repressionsinstanzen nicht aus der Erfindungsgabe oder Herrschlust ehrgeiziger Stammeskönige, sondern aus dem Zwang zur politischen Steuerung der vermehrten ökonomischen Tätigkeiten und zur Absicherung der durch die Kombination von ökonomischer und politischer Macht definierten herrschenden Klassen resultieren. Aber bereits die Hypothese, daß das Verwandtschaftsprinzip deshalb als Organisationsprinzip für Jäger- und Sammlergesellschaften ausreiche, weil diese einfache Produktionsweise nur eine rudimentäre Kooperation und Arbeitsteilung z. B. zwischen Männern und Frauen oder zwischen den Altergruppen und keine Leitungs- und Verteilungsorganisation erfordere, ist allenfalls noch an verstreuten Pygmäen-Gruppen zu überprüfen. Meillassoux kommt sogar zum Schluß, daß in diesen archaischen Subsistenzgesellschaften aufgrund der schwachen materiellen Infrastruktur und der relativ größeren Bedeutung von 60
51
52
So daß ihm A. Kuper: Anthropologists and Anthropology. The British School 1922—1972, London 1973, S. 45 die Reduktion des Marxismus auf- eine Art Ernährungslehre vorwarf. Vgl. Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, in: MEW, Bd. 21. Dieser allerdings in pointierter Abgrenzung zu den Evolutionisten und zu marxistischen Evolutionsschemata.
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- und Legitimitätsformen
21
„intellektuellen Phänomenen" eine „determinierende Bedeutung der ökonomischen Bedingungen"nicht beobachtet werden könne 53 . In der „neolithischen Revolution" 5 4 erfolgt der Übergang vom Sammeln zum seßhaften Ackerbau, zur Viehzucht oder gemischten Produktionsweise. Diese Produktionsform von überlokalen Gemeinschaften erfordert nicht nur eine erweiterte Arbeitsteilung über den einzelfamiliären Haushalt hinaus innerhalb von Dorf, Clan oder Stamm 55 , sondern nach innen mehr Koordination und nach außen eine Schutzorganisation, weil die Produktionsfläche nicht mehr beliebig gewechselt werden kann; gleichzeitig erlaubt sie die Erzeugung eines Überschusses, der — falls nicht Tribute unterworfener Gruppen oder schon das Geschäft mit Sklaven einen Ersatz bilden —• die materielle Voraussetzung für die Unterhaltung eines politischen Überbaus darstellt. An dieser Herausbildung einer „zentralisierten Autorität", die nicht mehr selbst produziert, sondern den mehr oder weniger freiwillig abgelieferten Überschuß akkumuliert, für sich selbst und kollektive Aufgaben (rituelle Feste, Gemeinschaftsprojekte oder Kriegsführung) verbraucht oder in Notzeiten zurückverteilt, wurde nicht nur die Geburtsstunde von Klassen- und Herrschaftsverhältnissen gesehen, sondern setzte auch die Diskussion an, ob die Marxsche Kategorie der „asiatischen Produktionsweise" auf das präkoloniale („vorkapitalistische") Schwarzafrika übertragen werden könne. Diese Produktionsweise kennzeichnet nach Marx den Übergang zur Klassengesellschaft, die sich jedoch noch nicht aus Eigentumstiteln, sondern aus politischen Mechanismen der Aneignung des Mehrprodukts herleitet. Die Produktionsmittel können in Gemeinbesitz verbleiben, deren Nutzung wird aber durch eine politische Zentralinstanz organisiert und kontrolliert 56 . Diese Zentralinstanz rechtfertigt ihren Anspruch auf Abgaben mit ihrer Funktion als Organisator von Produktion und Distribution, auch wenn sie diese Gemeinwohlfunktion nicht erfüllt. Samir Amin führte für den afrikanischen Typ der „asiatischen Produktionsweise" den Begriff der „tributgebundenen Produktionsweise" ein, kennzeichnet diese durch die Organisation der Gesellschaft in Bauern und eine herrschende Klasse, die „allein für die politische Organisation der Gesellschaft zuständig 53
C. Meillassoux (Anm. 17), S. 66.
Vgl. G. V. Childe: Die neolithische Revolution, in: K. Eder (Anm. 17), S. 176— 185. 55 Vgl. E. Terray. Le Marxisme devant les sociétés primitives, Paris 1968, S. 116—137. 56 K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt/Wien o. J., S. 375 ff. ; Vgl. zur Interpretation Ahkrsj Donner¡Kreuzer¡OrbonjWesthoff\ Die vorkapitalistischen Produktionsweisen, Erlangen 1973. 54
22
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
ist und dafür einen (nicht warenförmigen) Tribut von den ländlichen Gemeinschaften erhebt", und unterscheidet sie vom asiatischen Typ der vorkapitalistischen Produktionsweise durch das Fehlen einfacher Handelsbeziehungen 57 . Es ist zu bezweifeln, daß durch die Applikation dieses Begriffs mehr als eine Universalisierung der Marxseben Kategorien geleistet wird, die jedoch zu erheblichen exegetischen Problemen und historischen Mißverständnissen führt. Dieses Mißverständnis liegt bereits in der Verknüpfung von Tributpflicht und „asiatischer Produktionsweise" und kann kaum durch die Absonderung eines afrikanischen Typs gelöst werden. Die polit-ökonomische Erkenntnis, daß der in weiten Teilen Afrikas vorherrschende Ackerbau eine ökonomische Entwicklungsstufe bildet, die die Entstehung von politischer Herrschaft ermöglicht, läßt noch keine deterministischen Schlüsse über die Evolution politischer Systeme zu. So entwickelten sich in den mehrheitlich ackerbauenden Gesellschaften Westafrikas sehr unterschiedliche politische Organisationsformen: akephale Verwandtschaftsgruppen, Gruppenverbände mit einer dauerhaften politischen Struktur, Staaten mit administrativen Hierarchien, zahlreiche Mischformen 58 . Die Chance in ackerbauenden Gesellschaften, bei individueller Nutzung des zugeteilten oder ererbten kommunalen Landes ein Mehrprodukt zu erzeugen, wächst bei Hirtenvölkern bei Individualbesitz des Viehs. Aber nicht nur die nomadisierenden „Hirtendemokratien" widersprechen einer voreiligen Korrelierung von Produktionsweise und Regierungsweise, obgleich z. B. die westsudanischen Großstaaten einen solchen Zusammenhang zu bestätigen scheinen. Die politökonomische Interpretation der Staatenbildung, die schon Morgan59 auf die Privatisierung von Grund und Vieh zurückgeführt hatte, erhielt durch die Forschungen der ökonomischen Anthropologie nicht nur Plausibilität, sondern auch historische Evidenz. Klassenverhältnisse bringen zu ihrer politischen Absicherung ausdifferenzierte Herrschaftssysteme hervor, die wiederum auf Aristokratien und Ver57 68
69
S. Amin: Die ungleiche Entwicklung, Hamburg 1975, S. 12f. ; Ders. : L'accumulation à l'échelle mondiale, Dakar/Paris 1970, S. 167. Vgl. P. Brown : Patterns of Authority in West Africa, in : /. L. Markovitz (Hrsg.), African Politics and Society, New York/London 1970, S. 62if. ; eine bemerkenswerte Interpretation der Abfolge und organisationssoziologischen Wirkweisen von Produktionsweisen unternahm E. Terray. Der historische Materialismus vor dem Problem der linearen und segmentaren Gesellschaften, in: Ders., Zur politischen Ökonomie der „primitiven" Gesellschaften, Frankfurt/M. 1974, S. 93—187 in Auseinandersetzung mit der Studie von C. Meillassoux zur Anthropologie Economique des Gouro. L. H. Morgan (Anm. 26), S. 6 begründet die staatlich organisierte „civitas" auf Territorium und Eigentum, die „societas" aber auf „relations purely personal".
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- und Legitimitätsformen
23
waltungsapparaten beruhen: „Das Erscheinen des Staates — d. h. einer festen, von der Gesellschaft losgelösten und über ihr stehenden Gewalt — fällt mit dem Entstehen einer Aristokratie zusammen, die zugleich Instrument und Hauptnutznießerin dieser neuen Gewalt ist" 60 . Die Ableitung der Staatsbildung aus der Eigentumsbildung wird freilich dann zu einem Fetisch, wenn andere Faktoren wie Kriege, Eroberungen, Sklavenjagden oder andere externe Einflüsse (wie der islamischen Theokratie) nicht berücksichtigt werden. Obgleich die Herausbildung organisierter und zentralisierter Staaten in Afrika keinesfalls generell auf die Einwirkung der Araber und Berber zurückgeführt werden kann61, so sind diese Einflüsse in den am Südrand der Sahara entstandenen Königreichen und Stadtstaaten historisch nachgewiesen. Zahlreiche Anthropologen haben eine „Eroberungstheorie" bzw. eine Theorie des „Eroberungsstaates" entwickelt, die das Entstehen von Staaten aus Eroberungen ableitete, weil sie im Innern der segmentären Gesellschaften keine hinreichenden Bedingungen für eine Staatsgründung entdecken konnten62. Auch Engels leitete die Staatsgründung, freilich neben anderen Faktoren, ab aus „der Eroberung ungeheurer fremder Gebiete, die sich nicht durch den Sippenverband beherrschen lassen" 63 . Es ist zwar plausibel, daß Eroberungen zum Aufbau von Herrschaftsstrukturen zur Kontrolle über eroberte Menschen und Territorien führen bzw. die Jagd auf Menschen oder die Abwehr von Sklavenjägern die Herausbildung des Kriegshandwerks und von Kriegerkasten beschleunigen, aber als einziger Erklärungsgrund für die Entstehung von Staaten wird die Eroberungstheorie ebenso falsch wie die Eigentumstheorie64. Im historischen Einzelfall können interne Bedingungen und externe Einflüsse staatsbildend gewesen sein, wobei allein schon die Bedrohung von außen oder die bloße Nachbarschaft zu einem organisierten Staatswesen zur Institutionalisierung von Herrschaft führen konnten. Als weitere Varianten der Staatsbildung sind die Sezession aus einem Staatsverband oder die freiwillige Unterwerfung von kleinen Gesellschaften denkbar und historisch belegt65. 60/. 81 62
63 64
65
Suret-Canale ( A n m . 7), S. 1 2 0 ; v g l . auch K. Eder\ Z u r Systematisierung der Entstehungsbedingungen v o n Klassengesellschaften ( A n m . 17), S. 21 fF. Dazu neigt O. Bertaux ( A n m . 1 , 1 3 ) , S. 3 3 f f . u n d S. 5 3 f f . Zusammenfassend G. Balandier ( A n m . 22), S. 1 6 5 ff. F. Engels ( A n m . 34), S. 1 6 4 f f . V g l . die K r i t i k v o n R. L. Carneiro: Eine Theorie zur Entstehung des Staates, i n : K. Eder ( A n m . 17), S. 1 5 8 f f . ; M. Fortes/E. E. Evans-Pritchard ( A n m . 21), S. 9 zur „Eroberungstheorie". H. S. Lewis: The Origins of A f r i c a n K i n g d o m s , i n : Cahiers d'Etudes Africaines, Heft 2 3 (1966) differenziert diese u n d weitere Ursachen v o n Staatsgründungen.
24
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
Die ökonomische Anthropologie liefert Erklärungshypothesen, die der Suche nach der Entwicklungsgeschichte der afrikanischen Gesellschaften sowie nach den Bedingungen von Herrschaftslosigkeit und Herrschaftsbildung den methodischen Weg weisen, deren historische Verifizierung und Falsifizierung aber die Grenzen von Generalisierungen aufgezeigt haben. W. L. Bühl weist zutreffend darauf hin, daß „evolutionistische Rekonstruktionen . . . ihre Plausibilität viel eher aus unserer Phantasielosigkeit als aus der . . . zu beobachtenden Vielfalt der das politische System tragenden sozialen, ethnischen, lokalen, kulturellen usw. Prozesse" beziehen 66 . II. 4 Der „traditionelle Staat" und das „Heilige Königtum" Die Dichotomisierung in staatslose und staatlich organisierte Gesellschaften droht nicht nur, Zwischenstufen und Übergänge in ein typologisches Prokrustesbett zu pressen, sondern auch die historische Vielfalt der „primitiven Staaten" auf das Vorhandensein einer „zentralisierten Autorität" zu reduzieren. Dann erhalten sowohl Gesellschaften, wenn sie nur einen Häuptling mit erblichen Herrschaftsfunktionen und einigen Beamten haben, wie „afrikanische Despotien" mit einem differenzierten Herrschaftsapparat, das Etikett „Staat". Das klassifikatorische Problem besteht also zunächst in einer differenzierteren Bestimmung der Strukturmerkmale, die ein staatlich organisiertes Gemeinwesen sowohl von segmentär-akephalen Gesellschaften wie von den verschiedenen Varianten von chiefdoms unterscheiden. Mit diesem Staatsbegriff kann dann auch zwischen Häuptlingstum und Königtum unterschieden werden, falls diese Titulatur überhaupt eine über die Größe des Territoriums hinausreichende Bedeutung haben soll67. Eine innerhalb eines bestimmten Gebiets bestehende und von den dort lebenden Menschen anerkannte politische Autorität markiert diese Unterscheidung ebensowenig wie das in Anlehnung an Max Webers Staatsdefinition häufig bemühte Monopol der legitimen Gewaltanwendung — zumal gerade in „Eroberungsstaaten" diese Legitimität zweifelhaft sein kann. Soutballs Erfindung des „segmentären Staates", in dem die Machtstruktur mehr pyramidal-dezentralisiert denn hierarchisch-zentralisiert organisiert und die Systemeinheit mehr rituell als durch die Befehlsgewalt der zentralen Autorität hergestellt wird 68 , problematisiert auch die Bestimmung 66 67
68
W. E. Bühl (Anm. 15), S. 193. Für J. Maquet (Anm. 38), S. 90 ist Häuptling, wer seine Untertanen allein und direkt regieren konnte, während der König sein Reich nur mittels Beamten und Delegation von Herrschaftsfunktionen regieren konnte. Zu dieser und weiteren Staatsdefinitionen vgl. die vorzügliche Zusammenfassung von G. Balandier (Anm. 22), S. 137—171.
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- und Legitimitätsformen
25
von Staatlichkeit nach der gängigen Dreielementenlehre oder nach der Minimalbedingung, daß eine Regierung vorhanden ist, die mittels eines Verwaltungsapparates in dem von ihr beanspruchten Herrschaftsgebiet Entscheidungen durchsetzen kann. Dennoch kann von Staat nur dann gesprochen werden, wenn sich innerhalb eines Territoriums „ein besonderes, differenziertes und dauerhaftes Organ politischen und administrativen Handelns" konstituiert hat. Das Territorialprinzip hat dabei eine weiterreichendere als nur räumliche Bedeutung: die Überlagerung der personalen Verwandtschaftsbeziehungen als politisches Organisationsprinzip durch ein bürokratisch-entfremdetes Territorialprinzip. Wenn eine politische Einheit durch Eroberungen über die Grenzen einer Verwandtschaftsgruppe hinauswuchs oder die Verwandtschaftsorganisation durch die Vergrößerung der Clans unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrach 69 , wurde die lineage-Struktur durch eine territoriale Verwaltungsorganisation überlagert, aber selten völlig verdrängt. Das Beispiel von Buganda zeigt besonders plastisch einen solchen Antagonismus zwischen staatlicher Verwaltungshierarchie und der Clanorganisation, der nur durch den Kabaka in der doppelten Eigenschaft als König und Clanoberhaupt überbrückt werden konnte. Zur historischen Bestimmung des „traditionellen Staates" und zu seiner Abgrenzung gegenüber segmentären Vorformen reichen jedoch auch diese Organisationsprinzipien noch nicht aus. Zu seiner Genese gehören — wie der vorstehende Abschnitt gezeigt hat oder schon in Morgans Unterscheidung zwischen societas und civitas angedeutet ist 70 — die Fundierung auf Eigentum (nicht im europäisch-privatrechtlichen Sinne, da Land keinen disponsiblen Warencharakter hatte, sondern mehr im Sinne der Privatisierung von Nutzungsrechten, die vor allem die Nutznießung von Arbeitskraft einschlössen) und der Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts, die Institutionalisierung von sozialer Ungleichheit und die Herausbildung von Machteliten, die über den Herrschaftsapparat verfügen und ihn zur Aufrechterhaltung dieser Ungleichheit benutzen. Dieser so beschriebene „traditionelle Staat" muß schließlich durch weitere Eigenschaften und Besonderheiten vom „modernen Staat" unterschieden werden. Balandier führt neben der wesentlich geringeren Struktur-funktionalen Komplexität und fehlenden säkularen Rationalität an: eine zerbrechliche territoriale Grundlage, eine strukturelle Heterogenität infolge der Einverleibung unterschiedlich strukturierter Teilgesellschaften, eine beständig durch Rebellion 69 70
Vgl. L. A. White-. The Evolution of Culture, New York 1959, S. 310. Vgl. Anm. 59.
26
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
und Machtkämpfe bedrohte Stabilität, geringe administrative Effizienz und Nachlassen der Befehlskraft mit zunehmender Entfernung vom Machtzentrum, Rekrutierung des Verwaltungspersonals aus persönlich abhängigen Würdenträgern, eine patrimoniale Personalisierung von Macht und Autorität, eine Vermischung von privaten und öffentlichen Interessen, das Überwiegen von Verwandtschafts-, Schwägerschafts- und Klientelbeziehungen71. In diesem Katalog sind bereits Elemente enthalten, die eine spezifische Form der Organisation und Legitimation von Herrschaft begründen. Bei der anthropologischen Rekonstruktion dieser Formen entstanden wiederum zahlreiche Verzerrungen und Klischees. So weist Maquet sowohl Häuptlingen wie Königen gleichermaßen sakrales Wesen, absolute Rechte und erbliche Legitimität zu72. Es war jedoch nach allen historischen Erkenntnissen mehr die Ausnahme als die Regel, daß Könige — ganz abgesehen von Häuptlingen in weniger durchorganisierten Territorien — „unumschränkte Rechte" hatten und „keiner menschlichen Instanz" Rechenschaft abzulegen hatten. Der von G. P. Murdock in Anlehnung an Wittfogels „orientalische Despotie" konstruierte Typ der „afrikanischen Despotie", gekennzeichnet durch Absolutismus, Gotteskönigtum und eine territoriale Bürokratie73, war allenfalls im Königreich von Abomey, in dem sich der Monarch von institutionellen Kontrollen befreien und über den aus dem einträglichen Monopol im Sklavenhandel finanzierten Staatsapparat verfügen konnte74, in anderen Königreichen aber nur in Zeiten äußerer Bedrohung (z. B. in Buganda und Zululand) verwirklicht. Auch das „Schwarze Byzanz" der Nupe war keine absolutistische Theokratie75. Gerade das sakrale Königtum, in dem der König als Vertreter der Götter auf Erden galt, war zwar in der Regel erblich, aber durch institutionalisierte Kontrollen irdisch gebunden76. In den personalen Klientelbeziehungen bestand allein durch die Wechselwirkung von Schutz und Loyalität eine Barriere gegen Tyrannis. Vielfach war der König ohne Zustimmung der Königsmutter (wie G. Balandier (Anm. 22), S. 164; zum „Klientelismus" vgl. R. Lemarchand: Political Clientelism and Ethnicity in Tropical Africa: Competing Solidarities in Nation Building, in: APSR, Bd. 66 (1972), S. 68—90. 72 /. Maquet (Anm. 38), S. 890. 73 G. P. Murdoch (Anm. 10), S. 36 ff. führt noch 15 weitere Akzidenzien des Hoflebens eines Gotteskönigs an. 74 Vgl. P. F. Gonidec: Les systèmes politiques africains, Bd. 1, Paris 1971, S. 27ff.; /. Lombard (Anm. 11), S. 57ff. 75 Vgl. S. F. Nadel-. A Black Byzantium: The Kingdom of the Nupe of Nigeria, London 1942. 76 Vgl. E. Haber land-. Das Heilige Königtum, in: B. Freudenfeld (Hrsg.), Völkerkunde, München 1960, S. 80. 71
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- und Legitimitätsformen
27
bei den Ashanti und Swazi) und der wichtigsten Notablen weder auf den Thron gekommen noch auf dem Thron handlungsfähig. Vielfach verfügten allein die Priester (wie die bakabilo der Bemba oder die abiiru in Ruanda) über den mystischen Geheimcode der Dynastie, dessen Deutung und Einhaltung erst Herrschaftsakte oder Thronfolgen sanktionierte. Den historischen Erkenntnissen angemessener ist die folgende Rollenbeschreibung eines in eine Hierarchie eingeordneten und durch sie kontrollierten Monarchen: „This hierarchy of authority implies that the King, like the subordinate chiefs in descending order of importance must govern only with and through his council and not alone. Thus the margin for any arbitrary arrogation of power by a chief over subjects is in practice made narrow" 77 . Die ethnologische Forschung erkundete in den meisten afrikanischen Königreichen ein kunstvolles Institutionengefüge, das keine absolutistische Tyrannis zuließ und als ultima ratio gegen despotische Willkür vielfach auch den Königsmord legitimierte78. Die Aristokratien und Kriegerkasten, auf die sich das Königtum in der zentralen und regionalen Verwaltung, in Krieg und Frieden stützte, und die Priesterkasten, die den Ahnenkult pflegten und den Götterwillen interpretierten, waren immer potentielle Stützen eines Konkurrenten aus dem Königsclan oder Usurpators. Balandier weist darauf hin, daß der Mythos nicht nur zur Sanktionierung der bestehenden Ordnung, sondern auch zur Legitimierung von Opposition und Rebellion eingesetzt wurde: „Der politische Wettbewerb findet seinen Ausdruck in der Anrufung der Geister wie auch in der Zauberei; der ersteren bedienen sich die Inhaber der Macht, der letzteren jene, die die Machthaber ablehnen und deren Verfehlungen auf das Wirken von Zauberern zurückführen" 79 . II. 5 Legitimation von Herrschaft Die afrikanischen Häuptlinge und Könige legitimierten ihre Herrschaft in der Regel durch die unilineare (patri- oder matrilineare) Abstammung vom Gründer der Dynastie, dem die rituell gepflegten Kollektiworstellungen einen göttlichen Ursprung zuschrieben. Ihr sakrales Wesen resultierte aus dieser direkten — wenn auch häufig fiktiven —- Beziehung zum Gründerahnen: „Von göttlichem Wesen, ist die Person des Häuptlings geheiligt und muß durch zahl77
78 79
T. O. Elias: Government and Politics in Africa, New York 1961, S. 18; dieser Interpretation schließt sich F. Olisa Awogu (Anm. 2), Kap. 2 nach der Auseinandersetzung mit verschiedenen Positionen an. Vgl. P. Trappe (Anm. 22), S. 27. G. Balandier (Anm. 22), S. 123.
28
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
reiche Tabus und Verbote geschützt werden. Die obersten Gottheiten sind Gegenstand intensiver Kulte und Zeremonien, die alle lokalen Gemeinwesen mobilisieren und zu einer ideologischen, von den Hohenpriestern und dem Häuptling beherrschten Gemeinschaft integrieren, die allein Zugang zu den übernatürlichen Mächten haben, die ihrerseits wiederum den materiellen Wohlstand, den Sieg über die Feinde usw. sichern" 80 . Man kann jedoch aus zahlreichen Untersuchungen folgern, daß der Erfolg eines Regierenden, die Sicherheit und die Wohlfahrt der Untertanen zu sichern, wichtiger als seine dynastisch vermittelte religiös-mystische Legitimität war. Das Fehlen eindeutiger Erbfolgeregeln und die Hinnahme von Sukzessionswirren, in denen der fähigste Prätendent erst gefunden werden sollte, weisen auf das letztendliche Überwiegen von pragmatischen Effizienzregeln hin, die dem Systemüberleben dienten. In manchen Gesellschaften mußte sich der alternde oder schwache König selbst vergiften, um das Volk vor Unheil zu bewahren. Die kultische Bindung des Wohlergehens des ganzen Volkes an die Person des Häuptlings oder Königs entband dieses vom Gehorsam, wenn sich der Zorn der Götter und des Ahnherrn in Unbilden aller Art äußerte: „Häufen sich Mißwuchs und Dürre, kommen die Heuschrecken in großen Schwärmen, sind die eigenen Kämpfer im Krieg unterlegen und neigt sich das Waffenglück immer den Feinden zu, so wird das Volk von Unruhe ergriffen. Erst die Entfernung des Königs bringt das Spiel der Naturmächte wieder ins Gleichgewicht" 81. J. Lombard unterscheidet — in etwas eigenwilliger Abwandlung der von M. Weber formulierten Legitimationstypen — zwischen zwei grundlegenden Konzeptionen von politischer Autorität und Legitimitätsperzeptionen: einer „charismatischen" Legitimität, die auf der Gegenseitigkeit von Pflichten und Leistungen beruht und bei Nachlassen des Schutzes, den die Klientel vom Patron erwartet, schwindet; einer auf Erblichkeit beruhenden und sakral fundierten „traditionellen" Legitimität, die zur Ausformung und Institutionalisierung von autokratischer Herrschaft neigt82. Legitimationskonflikte manifestierM. Godelier ( A n m . 16), S. 1 2 1 ; v g l . /. Lombard ( A n m . 11), S. 7 7 : „Enfin la vie sociale et politique traditionnelle était marquée par un ensemble de pratiques rituelles, auxquelles le peuple était associé et qui renforçaient à ses yeux la valeur mystique du chef". 81 E. Haberland ( A n m . 76), S. 86. 82/. Lombard ( A n m . 11), S. 65 faßt zusammen: „ 1 . L'autorité à fondement charismatique, essentiellement précaire, déléguée par le peuple à celui qui est susceptible de lui apporter aide, protection et, au besoin, certains avantages qu'il peut accorder grâce à sa f o r t u n e ou à ses p o u v o i r s magiques. Cette f o r m e d'autorité repose sur un contrat qui ne dure qu'autant que les partis sont à même 80
Präkoloniale Gesellschafts-, Herrschafts- und Legitimitätsformen
29
ten sich regelhaft entweder in Rebellionen83 oder in Abspaltungen, die mangels fixierter Grenzen und kodifizierter Landrechte einen permanenten Prozeß der Segmentation ermöglichten. Jede Gesellschaft hatte einen von spezifischen Bedingungen beeinflußten Kodex von Legitimitätsbegründungen, Nachfolgeregeln und Verhaltensnormen für Regierende und Regierte, der allenfalls in heuristischen Idealtypen erfaßt werden kann. Der Versuch, die verschiedenen Legitimitätstypologien (von M. Weber, G. Ferrero, C. J. Friedrieb, D. Easton oder D. Sternbergerf4 auf den präkolonialen afrikanischen Kulturraum zu übertragen, stößt zunächst auf den Verdacht des Eurozentrismus der Begriffsbildung bzw. des Begriffsimperialismus. Da aber diese Legitimationslehren eine universale Gültigkeit und eine universalhistorische Fundierung beanspruchen, müssen sie auch in Afrika den Validitätstest bestehen. Dies gelingt — trotz aller Kritik 85 und allen Versuchen der Verfeinerung, historischen Aktualisierung und ideologiekritischen Sensibilisierung — immer noch am ehesten Max Webers Legitimitätstypen, hinter denen sich nicht nur eine auf den europäisch-atlantischen Okzident beschränkte und allenfalls mit einigen exotischen Beispielen angereicherte Universalgeschichte verbirgt. Der Typus der „traditionalen Herrschaft", beruhend auf dem „Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen" 86 , verbindet die Legitimationsgrundlage des „Heiligen Königtums" mit der der Gerontokratie in segmentären Gesellschaften, in denen die Eiders als „beste Kenner der heiligen Traditionen" Autorität gewannen87,
83 84 85
86 87
de remplir leurs obligations réciproques et qui évoque plus des liens de clientèle que de dépendance politique. Il semble que c'était là l'ancienne conception africaine de l'autorité politique. 2. L'autorité à fondement traditionnel et à caractère héréditaire, celle qu'on retrouve dans les royautés africaines, où le pouvoir a revêtu une nature sacrée. Selon les cas, l'organisation politique est devenue autocratique ou bien soumet toujours le chef de l'Etat au contrôle des organes créés à cet effet, mais dans tous les cas ce dernier apparaît comme une des plus hautes valeurs religieuses de la société". M. Gluckman: Custom and Conflict in Africa, Oxford 1955, S. 45 ff. spricht von einem „Prozeß der ständigen Rebellion". Eine vorzügliche Zusammenfassung liefert P. Graf Kielmansegg : Legitimität als analytische Kategorie, in: PVS, Bd. 12 (1971), S. 374ff. Vgl. u. a. D. Sternberger: Max Webers Lehre von der Legitimität, in: W. Röhricht (Hrsg.,), Macht und Ohnmacht des Politischen, Festschrift für M. Freund, Köln 1967. M. Weber : Wirtschaft und Gesellschaft, Köln/Berlin 1956, S. 159. Zur Rolle des Wissens als autoritätsstiftender Kraft vgl. C. Meillassoux (Anm. 17), S. 42 ff.
30
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
aber mangels eines Verwaltungsstabes keine Herrschaft mit Zwangsgewalt ausübten. Freilich gewinnt gerade aus der afrikanischen Überlieferung die von Graf Kielmannsegg getroffene Unterscheidung zwischen der Tradition als Geltungsgrund und der Tradition, die Geltung erhält, eine spezifische Bedeutung 88 : auch in Afrika konnte sich Herrschaft nicht allein auf Tradition stützen, sondern bedurfte des ständigen Effizienznachweises. Auf diese erfolgsabhängige Bedingtheit von Autorität und Legitimität verweist — in Übereinstimmung mit dem von Haberland begründeten Typus des „heiligen Königtums" und mit Lombards Unterscheidung zwischen charismatischer und traditioneller Herrschaft — Webers Typus der charismatischen Herrschaft, beruhend auf einer außeralltäglichen Qualität des Charismaträgers, die jedoch durch die alltägliche Erfahrung des Mißerfolgs und den möglichen Entzug der Gefolgschaft gefährdet war. Der Begriff des Charismas, der „geheimnisvolle, nicht erwerbbare personale Kräfte (bezeichnet), die unabhängig von allen geltenden Ordnungen, unter Umständen und häufig auch gegen sie, Vollmacht verleihen" 89 , blieb auch in der wissenschaftlichen Diskussion immer geheimnisvoll und umstritten, dennoch bis heute mangels äquivalenter Begriffsvarianten unverzichtbar. Auch Sternbergers Begriff der „numinosen Legitimität", der Webers Legitimitätstypologie differenzieren sollte und die „göttliche Eingebung, Divination, Inspiration oder direkte Offenbarung" als eigentümliche Legitimationsquelle von derjenigen der „Göttlichkeit, der göttlichen Abkunft und der göttlichen Einsetzung des Herrschers" unterscheidet90, vermag weder das Problem der begrifflichen Präzisierung zu lösen noch den Anspruch einzulösen, eine größere historische Vielfalt zu erschließen. Dies gilt, obwohl der Charisma-Begriff wie das Attribut „traditionell" meist völlig unspezifisch für irgendwelche irrationalen, religiösmystischen Vorstellungen und Praktiken gebraucht werden und — bezogen auf Afrika -— als „traditionell" letztlich alles bezeichnet wird, was präkolonial zu verorten ist91. Es dürfte immer ein vergebliches Bemühen bleiben, die Vielfalt von Rechtfertigungsgründen und Legitimitätsquellen auf wenige „reine Typen" zu verdichten, besonders dann, wenn ein universaler Geltungsanspruch erhoben wird. 88
89 90
91
P. Graf Kielmannsegg (Anm. 84), S. 378: „Tradition als Geltungsgrund heißt, daß etwas gilt, weil es als geltend überliefert ist; weil es vor unserer Zeit auch schon galt". Ebenda, S. 379. D. Sternberger: Arten der Rechtmäßigkeit, in: Grund und Abgrund der Macht, Frankfurt/M. 1962, S. 16. V g l . / . Lombard (Anm. 11), S. 13.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
31
Bis heute dreht sich die legitimitätstheoretische Semantik im eurozentrischen Kreis, während gleichzeitig die wissenschaftliche Entdeckung der außereuropäischen Welt über diesen Kreis hinausweist. Die Erkenntnis vom Pluralismus der Legitimitätsgründe allein erschließt uns noch keine buntere Welt 92 , solange wir Legitimitätsbegriffe haben, die nur Teilelemente eines universalen Phänomens in einem historischen und kulturellen Teilbereich des Universums erschließen oder mit einem Universalitätsanspruch überladen werden, aber nur eine Universalität vortäuschen. Besonders das „schwarze" Afrika, das durch den Kolonialismus zur Peripherie der europäischen Geschichte wurde, muß erst noch für die politische Theorie entdeckt werden — und zwar in seiner durch den Kolonialismus deformierten Originalität, die reich ist an Vielfalt und Erfindungsgabe, das Zusammenleben von Menschen zu organisieren. 92
So die Erwartung von D. Sternberger
(Anm. 90), S. 27 f.
III. Theorien und Praxis von Kolonisation und
Dekolonisation
Nach der intensiven Imperialismusdebatte in Sozial- und Geschichtswissenschaft, die nicht nur theoriegeschichtlich durch die Wiederentdeckung der sozialistischen und liberalen Imperialismuskritiker (von Hobson, Hilferding, Kautsky über Lenin, Luxemburg, Sternberg bis Buchariri), sondern auch durch eine Fülle historischer Arbeiten über Subjekte und Objekte der imperialistischen Expansion fundiert, freilich nicht selten auch simplifiziert wurde, besteht zumindest ein weitgehend methodischer Konsens, daß die Analyse des Kolonialismus/Imperialismus an der sozio-ökonomischen (d. h. nicht allein ökonomischen) Entwicklung der industrialisierenden Metropolen und zugleich an ihrer ungleichen Entwicklung anzusetzen hat; daß Kolonisation immer als Funktion der Interessen der Kolonialmacht zu begreifen ist und die kolonisierte Gesellschaft immer ein Instrument in der Hand dieser Kolonialmacht blieb, wie auch immer sie ihre Herrschaft zu rechtfertigen verstand 1 . Die kolonial-historische Forschung hat trotz unterschiedlicher Ansätze und Folgerungen gezeigt, daß sich Ursachen und Triebkräfte der kolonialen Expansion nicht auf einen einfachen Nenner bringen lassen: weder auf den Nenner des Ökonomischen, den marxistische Autoren überbewerten, noch auf den Nenner des Politischen, dem 1
Vgl. G. Balandier: Die koloniale Situation: ein theoretischer Ansatz, in: R. von Albertini (Hrsg.), Moderne Kolonialgeschichte, Köln/Berlin 1970, S. 106ff.
32
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
z. B. Fieldhouse ökonomische Gesichtspunkte unterordnet 2 . Dieser Primatstreit erweist sich als ziemlich müßig, weil ökonomische und politische Faktoren sowohl bei der Expansion wie bei der Beherrschung der eroberten Territorien zusammenwirkten. Die Arbeiten von R. Robinson)J. Gallagher3, W. J. Mommsen4, H. Brmschwig5 oder G. Ziebura haben gezeigt, daß nationalistische Triebkäfte, strategische Interessen (Weg nach Indien) und machtpolitisches Prestigedenken neben dem ökonomischen Konkurrenzkampf um Anlagefelder für Überschußkapital, Absatzmärkte für die expandierende Industrieproduktion und Liefergebiete von Rohstoffen im „scramble for Africa" zusammenwirkten, im Einzelfall überwogen oder zurücktraten 6 . G. Ziebura zeigt, wie Frankreich durch Konkurrenzangst und den Versuch, die inneren Schwächen durch Kraftakte nach außen zu kompensieren, in die koloniale Expansion getrieben wurde 7 . Diese ökonomischen, politischen und auch sozialpsychologischen Triebkräfte des Imperialismus und ihre kontroverse Interpretation können hier nicht in der gebotenen Differenzierung untersucht werden. Hier stehen die Methoden der Kolonialverwaltung im Vordergrund, die zusammen mit Kolonialwirtschaft und Missionen die koloniale Geschichte prägte und die nachkoloniale Entwicklung präformierte. Theorie und Praxis der Kolonialverwaltung sind in Bezug zu diesen Triebkräften und Zielen des Kolonialismus, diese aus der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Ausgangssituation in den Metropolen zu erklären. Die im „Kommunistischen Manifest" vorausgesagte eine Welt, die sich die kosmopolitische Bourgeoisie nach ihrem Bilde schaffe, war nicht so einheitlich, weil diese Bourgeoisie als nationale mit verschiedenen Interessen nicht so einheitlich war. Wir geben uns aber nicht mit der Deutung von M. Crowder zufrieden, daß die französischen Kolonialdoktrinen Ausdruck des französischen Nationalcharakters und der revolutionären politischen 2
3 4
5
6
7
D. K. Fieldhouse: Imperialism: An Historiographical Revision, in: The Economic History Review, Bd. 14 (1961/2), S. 208. R. RobinsonlJ. Gallagher-. Africa and the Victorians, London 1961. W.J. Mommsen: Nationale und ökonomische Faktoren im britischen Imperialismus vor 1914, in: HZ, Bd. 206 (1968), S. 618—664. H. Brunschwig : Mythes et réalités de l'impérialisme colonial français (1871— 1914), Paris 1960. Vgl. R. von Albertini (Anm. 1), S. 23ff; F. Nuscheier-. Dritte Welt und Imperialismustheorie, in: Civitas, Bd. 10 (1971), S. 41 ff. G. Ziebura-. Interne Faktoren des französischen Hochimperialismus 1871— 1914, in: Ders. und H.-G. Haupt fHrsg.j, Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich seit 1789, Gütersloh 1975, S. 282—330; vgl. auch H. Körner-. Kolonialpolitik und Wirtschaftsentwicklung: Das Beispiel Französisch Westafrikas, Stuttgart 1965, S. 231 ff.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
33
Tradition gewesen seien8, sondern gehen von der These aus, daß sie — und noch stärker die kolonialpolitische Praxis — zwar von dieser Tradition beeinflußt wurden (besonders von der Eigenerfahrung des administrativen Zentralismus), aber wesentlich aus der relativen Schwäche und Konkurrenzfähigkeit des französischen Kapitalismus resultierten, der sich keine „doppelte Treuhandschaft" mit handelspolitischen open doors leisten konnte und bereits in der Zollordnung von 1892 den merkantilistischen Kolonialpakt erneuerte. Vor dem I. Weltkrieg investierte zwar auch das französische Kapital nur wenig in dem neugewonnenen afrikanischen Kolonialreich9, und dann nur dort, wo der Staat Garantien gab oder eine rasch profitable Ausbeutung möglich war. Wie die britische (und deutsche) Regierung Nutzung und Verwaltung der Kolonien zunächst Chartered Companies überließ, um Personal und Kosten zu sparen, so überließ auch die französische Regierung weite Gebiete des afrikanischen Kolonialreiches Konzessionsgesellschaften („Chartes"), die eine brutale Raubwirtschaft betrieben und die Bevölkerung ganzer Regionen dezimierten. Aber die nach dem I. Weltkrieg unter dem Einfluß A. Sarrauts proklamierte und nach der Weltwirtschaftskrise schrittweise realisierte mise en valeur, die sowohl wirtschafdiche Inwertsetzung der Kolonien für die krisenanfällige Metropole wie Erschließung und Entwicklung bedeutete10, erforderte auch eine stärkere administrative Penetration, die dann zentralistisch, hierarchisch, einheitlich und konsequent-repressiv die koloniale Herrschaft organisierte. Andererseits ist es schon eine kolonialgeschichtliche Binsenweisheit, daß das britische Verwaltungsprinzip der indirect rule (sofern es überhaupt praktiziert wurde und sich in der Praxis noch von der französischen administration directe unterschied) nicht so sehr auf einem besonderen Respekt der Briten vor anderen Kulturen oder einem höheren Grad der Philanthropie beruhte, sondern sowohl als pragmatische Nodösung zu gelten hat, in dem riesigen afro-asiatischwestindischen Empire den Verwaltungsaufwand zu beschränken, wie aus der ökonomischen Überlegenheit und handelspolitischen Saturierung, die Freihandel erlaubten, herzuleiten ist. Gallagherj Robinson haben auf den Zusammenhang zwischen Art und Intensität ökonomischer Interessen und von Herrschaftsbeziehungen hinge8 9 10
M. Crorvder: Indirekte Herrschaft — französisch und britisch, in: R. von Albertim (Anm. 1), S. 224. Vgl. D. K. Fieldhouse: Economics and Empire 1830—1914, London 1973, S. 57 f. Vgl. R. von Albertini: Dekolonisation. Die Diskussion über Verwaltung und Zukunft der Kolonien 1919—1960, Köln und Opladen 1966, S. 312ff. 3
Wahl der Parlamente: Afrika
34
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
wiesen 11 : wo nur ein einfacher Tauschhandel stattfand, genügte eine lockere Form der Kontrolle in Form von Protektoratsverträgen oder mittels Konzessionsgesellschaften; wo aber größere Investitionen im extraktiven Sektor oder eine weiße Besiedlung möglich und lohnend erschienen, wurde im Rahmen einer engeren staatsrechtlichen Bindung und Kontrolle eine Kolonialbürokratie aufgebaut, die die Landnahme, infrastrukturelle Erschließung (Eisenbahnen) und die Rekrutierung von Arbeitskräften für die Kolonialwirtschaft organisieren konnte. Elsenhans betont (für Frankreich) als Funktion der politischen Herrschaft neben dem Schutz von Investitionen die Abschließung des Kolonialmarktes gegenüber der Konkurrenz; und er verdeutlicht zugleich ein Kernmotiv der politischen Dekolonisation: die Erübrigung formeller Herrschaft und ihrer materiellen und politischen Folgekosten durch die strukturelle Anbindung der kolonialen Ökonomien an die dominante Ökonomie der Metropole mit einer für diese noch günstigeren Kosten-NutzenVerteilung 12 . Für unseren Zusammenhang ist zunächst die Frage von zentraler Bedeutung, wie die administrative Penetration erfolgte und die Kolonialherrschaft gegründet und begründet wurde. D. A.. Low hat eine kolonialideologisch aufschlußreiche Typologie „imperialer Ausgangssituationen" mit folgenden drei Grundtypen gebildet: 1. Eine Imperialmacht beseitigt eine bestehende politische Autorität; 2. sie läßt diese Autorität unter imperialer Kontrolle weiterbestehen; 3. sie muß dort, wo sie Gesellschaften ohne staatliche Organisation vorfand, politische Autorität schaffen13. Er geht zwar davon aus, daß jede Kolonialmacht versucht habe, an vorhandenen Legitimitätsvorstellungen anzuknüpfen und Unterstützung von traditional legitimierten Autoritätsträgern zu erhalten14, ordnet aber typologisch und zugleich klischeehaft den ersten Typ kolonialer Herrschaftsbildung der französischen Kolonialpolitik und den zweiten Typ der britischen Kolonialpolitik zu. Mit dieser Typenbildung von kolonialen Herrschaftsverhältnissen geht eine idealisierend-apologetische Rechtfertigung einher. Low behauptet nicht nur (und illustriert seine Thesen vornehmlich an der Etablierung der britischen Herrschaft in Uganda), daß GroßbritanJ.GallagherjR. Robinson: Der Imperialismus des Freihandels, in: H.-U. Wehler (Hrsg.), Imperialismus, Köln/Berlin 1970, S. 184f. 12 H. Elsenhans-. Frankreichs Algerienkrieg 1954—1962, München 1974, S. 265— 300. 13 D. A.. Low: Der zum Sprung ansetzende Löwe, in: R. von Albertim (Anm. 1), S. 86. 14 Ebenda, S. 97.
11
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
35
nien seine imperiale Autorität auf einer „traditionellen Legitimität" aufgebaut und sich in die Legitimationsvorstellungen der eroberten Völker eingefügt und nicht nur darauf geachtet habe, in seine „imperiale Autoritätsstruktur Institutionen mit traditionaler Legitimität einzubauen, wo immer solche bestanden", sondern bei ihrem Fehlen immer bemüht gewesen sei, „irgend jemanden mit wenigstens einer Spur von traditioneller Autorität — ritueller, orakelhafter, militärischer oder gerontokratischer — zu finden und ihn zum Chief zu machen"15. Er begreift diese „traditionelle Legitimität" auch dann als ungebrochen, wenn die britischen Eindringlinge die regierenden Könige und Häuptlinge durch kooperationsbereite Usurpatoren ersetzten, weil die Inanspruchnahme fremder Hilfe als ganz normal und legitim gegolten habe16. Er übersieht zwar nicht die Gewaltanwendung bei Aufbau und Sicherung der Kolonialherrschaft, aber gibt dieser nicht nur die Rechtfertigung der kolonialen Friedenssicherung, sondern auch die Weihe der „traditionellen Legitimität": ,,. . . für viele war das Recht auf Eroberung ganz legitim, und die Tradition bei vielen dieser Völker akzeptierte die Rolle eines Satelliten ebenfalls als durchaus legitim" 17 . Diese Argumentation läuft auf die Schlußfolgerung hinaus, daß sich die koloniale Eroberung und Unterwerfung — besonders nach britischer Methode — bruchlos in die „traditionellen" Autoritätsstrukturen und Legitimitätsvorstellungen einfügen lasse. Der Legitimationsbegriff wird hier aus einer Bejahung von Herrschaft reduziert auf ein widerstandsloses Erdulden und die Einsicht in die militärische Überlegenheit des Okkupanten und in die eigene Unterlegenheit. Die zahlreichen Versuche des antikolonialen Widerstandes in der kolonialen Frühphase, die zahlreiche „Strafexpeditionen" herausforderten, lassen kaum den von Low gezogenen Schluß zu, daß die Kolonialvölker ihre Unterwerfung als eine legitime perzipierten. A. B. Davidson hat sich kritisch mit dieser Art von Belegen und Illustrationen auseinandergesetzt, die für die segen- und friedenbringende Wirkung und Akzeptierung der Kolonialherrschaft angeführt werden18. Die in Lows Typologie implizierte und in zahlreichen anderen kolonialhistorischen Studien zugrunde gelegte Unterscheidung zwischen der britischen und französischen Kolonialverwaltung muß hier aufge16 16 17 18
Ebenda, S. 90. Ebenda, S. 92. Ebenda, S. 95. Vgl. A. B. Davidson: African Resistance and Rebellion against the Imposition of Colonial Rule, in: T. O. Ranger (Hrsg.), Emerging Themes of African History, London usw. 1968, S. 177—188. 3»
36
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
griffen werden, weil aus diesen Unterschieden nicht nur eine unterschiedliche Überlebensfähigkeit traditioneller Gesell schafts- und Herrschaftsformationen in der Kolonialperiode, sondern auch eine unterschiedlich institutionelle Entwicklung im nachkolonialen Afrika abgeleitet werden. Zudem findet in der nachkolonialen Bewertung kolonialer Herrschaftsmethoden ein bemerkenswerter Revisionismusstreit statt, in dessen Verlauf sowohl das Werturteil der metropolitanen Kolonialhistoriker aus apologetischer Selbstgerechtigkeit wie das Selbstverständnis der afrikanischen Führungsgruppen aus der antikolonialistischen Heroisierung zu einer Neubewertung der Methoden und Effekte der Kolonialverwaltung hinausführen. Eine Kritik des Kolonialismus, die Traditionalität nicht mit Rückständigkeit oder Primitivität im pejorativen Sinne und Modernität nicht mit „those types of social, economic, and political systems that have developed in Western Europe and North America"19 gleichsetzt, gerät vor das Dilemma, eine auf Konservierung der vorgefundenen Strukturen und Traditionen abzielende Kolonialpolitik prinzipiell schonender zu beurteilen als eine auf Europäisierung hinzielende Assimilationspolitik, die prinzipiell die Zerstörung nicht-assimilationsfähiger Struktur- und Kulturelemente impliziert. Wer aber die Kernprobleme der postkolonialen Entwicklung in den afrikanischen Staaten nicht in den kolonialen Hypotheken, sondern vielmehr in den Überbleibseln des „traditionellen Afrika" entdeckt — und zu dieser Annahme neigen nicht nur die Modernisierungstheoretiker, sondern auch die Modernisierungsideologen afrikanischer Eliten —, entgeht nicht der Konsequenz, eine koloniale Modernisierungspolitik mittels Überlagerung oder gar Zerstörung präkolonialer Strukturen, Wertmuster und Verhaltensweisen anders zu bewerten als die auf Konservierung bedachten Kultur- und Sozialanthropologen, die das Loblied auf die britische Kolonialpolitik sangen. Diese kolonialkritische Schizophrenie, das Schwanken zwischen einer kulturanthropologischen Nostalgie und der Einsicht in die Notwendigkeit und Unausweichlichkeit des Struktur- und Kulturwandels, durchzieht die nachkoloniale Diskussion über das französische und britische Modell der Kolonialverwaltung in Schwarzafrika. Während das britische Konzept der indirect rule zunächst als geniale und progressive Lösung gefeiert wurde, die Kolonialherrschaft mit den vorgefundenen Herrschafts- und Legitimationsgrundlagen zu verknüpfen und die Eigenheit und Eigenständigkeit der afrikanischen Kulturen zu bewahren, wurden aus der postkolo-
19
So S. N. Eisenstadt-. Modernization: Protest and Change, Englewood Cliffs 1966, S. 1.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
37
nialen Perspektive Anspruch und Ziel der französischen Assimilationspolitik, unter den bürger- und menschenrechtlichen Postulaten Afrikaner zu schwarzen Franzosen umzuerziehen, als progressiv bewertet20. Ein ähnlicher Bewertungskonflikt zeichnete sich schon vor dem I. Weltkrieg in der französischen Diskussion über Assoziation und Assimilation ab. Damals galt die Idee der Assoziation, die auf Erhaltung bestehender Strukturen und Institutionen und Nutzung als administrativer Unterbau abzielte, als liberal und progressiv gegenüber einer assimilatorischen Strategie21. Wie schon Marx dem britischen Imperialismus in Indien eine revolutionäre Rolle zubilligte, weil er die Idylle des Dorfes und die Fesseln von Religion und Tradition zerstört und die kulturellen Werte und sozialen Verhaltensweisen radikal verändert habe22, so erhält nachträglich auch die „zivilisatorische Mission" des französischen Imperialismus eine positive Deutung — nicht zuletzt in Sengbors Eurafrika-Idee. Eines der bemerkenswertesten Dokumente für diesen Ziel- und Bewertungskonflikt stellt die vielzitierte Lugard Memorial Lecture dar, in der der ehemalige französische Generalgouverneur H. Deschamps Vor- und Nachteile seiner Assimilations-Konzeption und der britischen indirect rule aufzurechnen versuchte. Während er in der französischen Kolonialpolitik das verspätete und „auf Zehenspitzen" erfolgte Eindringen der französischen Revolution nach Afrika entdecken zu können glaubte, verglich er die britischen Kolonien mit Naturschutzparks, in denen die „traditionellen Gesellschaftsordnungen mit ihren säkularen Strukturen, dem dekorativen Zeremoniell, der Würde ihrer Gebaren, die Tragsessel, Kronen und geweihten Stühle" zur Freude der Ethnographen und der in britischen Traditionen heimischen Kolonialbeamten weiter florieren konnten23. Der Apologet der Assimilation hielt dem Protagonisten der indirect rule {Lugard) entgegen, daß nicht diese vom „Zauber der Vergangenheit" und der Anziehungskraft eines „primitiven Zeitalters" beeinflußte koloniale Pflege der traditionellen Institutionen, sondern die „große Revolution" des französischen Kolonialismus Afrika aus dem Mittelalter in die moderne Welt geführt und die Kolonien besser auf die Unabhängigkeit vorbereitet habe. 20
21 22
23
Vgl. F. Ansprenger: Wege zur Unabhängigkeit, in: H. BestersjE. E. Boesch (Hrsg.), Entwicklungspolitik. Handbuch und Lexikon, Berlin/Mainz 1966, S. 108 ff. Vgl. R. von Albertini-, Dekolonisation (Anm. 10), 332ff. Vgl. K. Marx-. Die britische Herrschaft in Indien, in: MEW, Bd. 9, S. 127— 133; vgl. S.Avineri (Hrsg.): Karl Marx on Colonialism and Modernization, London 1968. H. Deschamps-, Und nun, Lord Lugard?, in: R. von Albertini (Anm. 1), S. 212.
38
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
Die Genese einer afrikanischen Elite mit einer sowohl antikolonialistischen wie „anti-feudalen" Kampfrichtung gegen die Native Rulers hat zwar die Kritik von Deschamps bestätigt und die der indirect ruleDoktrin zugrunde liegende Überzeugung widerlegt, Afrika „mit Hilfe seiner traditionellen Eliten und seiner überlieferten Formen" weiterentwickeln zu können, aber sein versöhnliches Patt zwischen Vorund Nachteilen britischer und französischer Kolonialpolitik kann allenfalls pensionierte Kolonialbeamte befriedigen. Diese Vergleiche zwischen Kolonialdoktrinen blieben häufig im Vergleich von Prinzipien und Idealtypen stecken, die die Realtypen wenig erhellten24; fast immer wurden sie an den nordnigerianischen Emiraten, der „Baumschule" von Lugards Theorie25, und am Senegal orientiert und dann zutreffend „fundamentale Unterschiede" konstruiert26. Nur aus diesen Idealtypen konnte abgelesen werden, daß die Rolle der Häuptlinge in den beiden Vergleichssystemen „total verschieden" gewesen sei; daß die britischen Kolonisatoren die traditionelle Autorität und Legitimität möglichst wenig angetastet, die Franzosen aber ignoriert hätten; daß zwischen britischen Kolonialbeamten und einheimischen Autoritäten ein respektvolles „Beraterverhältnis", in den französischen Kolonien aber ein eindeutiges Herr-Knecht-Verhältnis bestanden habe27. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß sich die jeweilige Methode der Unterwerfung und Verwaltung mehr aus der jeweils vorgefundenen Situation heraus ergab und pragmatische Mischformen typischer als die konstruierten Idealtypen waren28. Die nicht auf Idealtypen reduzierte Kenntnis dieser Unterschiede der kolonialen Verwaltungsmodelle ist nicht nur wichtig zum Verständnis der kolonialen, sondern auch der nachkolonialen Entwicklung 21
25 26 27
28
Vgl. besonders die Kritik von H. Brunschwig (Anm. 5) an den Mythen des französischen Kolonialismus; außerdem G. Balandier-. Les mythes politiques de colonisation et de décolonisation en Afrique, in: CIS, Bd. 33 (1962), S. 85— 96. So D. A. Low (Anm. 1), S. 88. So der Senegal-Spezialist M. Crowder (Anm. 1), S. 220. So M. Crowder (Anm. 1), S. 221 f.; vgl. auch /. S. Coleman: Politics in SubSaharan Africa, in: G. A. Almond/J. S. Coleman, The Politics of the Developing Areas, Princeton 1960, S. 257: „The classic distinction is between the British policy of .indirect rule', in which traditional authorities were recognized and permitted to exercise a fairly wide range of customary powers under administrative supervision and statutory regulations on the one hand, and the French policy of .direct rule', in which traditional authorities, if used at all, were regarded only as subordinate officials in a monolithic colonial administration". Vgl. die Zusammenfassung von R. von Albertini (Anm. 1), S. 18, der hier weniger grundsätzlich und idealtypisierend argumentiert als durchgängig in „Dekolonisation" (Anm. 10).
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
39
im anglophonen und frankophonen Afrika. Sie erhalten ihre historische Relevanz durch den Tatbestand, daß die heutigen afrikanischen Staaten samt und sonders koloniale Kreationen sind: Kolonien und nicht vorkoloniale Gesellschaften wurden zu Staaten, koloniale Verwaltungsgrenzen zu Staatsgrenzen, koloniale Amtssprachen zu Staats- und Verkehrssprachen. Der Kolonialismus zerriß einerseits durch seine willkürliche Grenzziehung zahlreiche Völker und fügte andererseits etwa 1000 identifizierbare soziale Einheiten in zunächst künstlichen Staatsgebilden zusammen; er hat Afrika nicht so sehr balkanisiert, wie ihm besonders Nkrumah anlastete, sondern in administrative Retorten eingefaßt; er hat — um das architektonische Bild der Nationbildung von K. W. Deutsch zu übernehmen29 — nicht nur territoriale Außenmauern, bürokratische Stützpfeiler und ein administratives Dach, sondern auch eine soziale, kulturelle und politische Infrastruktur geschaffen und hinterlassen, die deutliche Prägemerkmale der ehemaligen Imperialmacht zeigt. Kolonialverwaltung, Kolonialwirtschaft, Missionen und Missionsschulen kommt also nicht nur ein kolonialgeschichtliches Interesse, sondern als Gestaltungsfaktoren des aktuellen politischen Prozesses eine zeitgeschichtliche Bedeutung zu. Hier steht die Kolonialverwaltung im Mittelpunkt, die sowohl die Kolonialherrschaft wie den Übergang zu self-government organisierte und die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen der ökonomischen und kulturellen Penetration Schwarzafrikas schuf. Eine wichtige Fundquelle für diese Thematik bildet die umfassende Dekolonisationsanalyse von Rudolf von Albertini30, die jedoch gelegentlich einer interpretatorischen Kritik bedarf.
III. 1. Großbritannien Das afrikanische Colonial Empire umfaßte in Westafrika: Nigeria, Goldküste, Sierra Leone, Gambia und die beiden Mandatsterritorien von Togoland und Nordkamerun; in Ost- und Zentralafrika: Somaliland, Uganda, Kenia, Njassaland, Nord- und Südrhodesien, das Mandatsgebiet von Tanganyika und das Protektorat von Sansibar; im südlichen Afrika: die drei High Commission Territories von Basutoland (Lesotho), Swaziland und Bechuanaland (Botswana); im Indischen Ozean: Mauritius und die Seychellen. Diese Dependencies (nach gängiger, wenn auch staatsrechtlich nicht korrekter Sprach29 80
K. W. Deutsch : Some Problems in the Study of Nation Building, in: K. W. DeutschlW. J. Foltz (Hrsg.), Nation Building, New York 1963, S. 3. R. von Albertini-, Dekolonisation (Anm. 10) sowie: Moderne Kolonialgeschichte (Anm. 1) macht zentrale Beiträge in deutscher Sprache zugänglich.
40
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
regelung) hatten einen sehr unterschiedlichen Rechtsstatus, der in der Regel aus der Art der Besitzergreifung resultierte. Dabei ist noch zu unterscheiden — wie im Falle von Gambia, Sierra Leone, Nigeria und der Goldküste •— zwischen den zu „Colonies" erklärten Küstenstreifen mit der gesamtterritorialen Hauptstadt und den zu Protektoraten erklärten jeweiligen Hinterlanden. Der jeweilige staatsrechtliche Status hatte jedoch weniger Einfluß auf die Verwaltungspraxis als die vorgefundene politische Struktur — wenn man von den Protektoraten über Ägypten, Sudan und Sansibar absieht. Rechdich bildeten die „Kolonien", präziser die Kronkolonien, das eigentliche Dependent Empire, dessen Einwohner zwar britische Untertanen ('subjects), aber nicht britische Staatsbürger waren. Wichtig war in dieser Kategorie die Unterscheidung zwischen settled und conquered
bzw. ceded colonies-. während die Siedler in den settled colonies (Süd-
rhodesien ab 1923 und in Kenia bis zur umstrittenen DevonshireErklärung von 1923) seit dem Durham Report von 1839 das Anrecht auf eine Repräsentatiwerfassung nach britischem Muster mit interner Autonomie mit in das Siedlungsgebiet nahmen, blieben im „Kronkolonie-System" der conquered}ceded colonies alle Kompetenzen beim imperialen King in Parliament, vertreten durch den Gouverneur. Die Protektorate (Ägypten, Sudan), Colonial Protectorates (das Hinterland von Nigeria, Gambia, Sierra Leone und der Goldküste, Somaliland, Uganda und Buganda, Njassaland, Nordrhodesien und Barotseland), die teilweise auf Verträgen zwischen der britischen Krone und einheimischen Potentaten, meistens aber auf offener oder nur vertraglich kaschierter Eroberung beruhten31, die Protected States (Sansibar, Basutoland und Swaziland), die nominell nur die Kontrolle der Außenbeziehungen an den Protektor abtraten, sowie die Mandatsgebiete des Völkerbundes bzw. der UNO waren rechtlich nicht annek-
tiert und wurden unter dem British Foreign Jurisdiction Act von 1890
verwaltet. Dieses Gesetz, dessen Präambel die imperiale Kontrolle auf „Vertrag, Schenkung, Gewohnheit, Duldung und andere gesetzliche Gründe" begründete, gab allen möglichen Formen britischer Kontrolle den Segen der Legalität. Aber wie diese Formen auch immer rechtlich definiert wurden, die Ausübung der Kontrolle in den „Kolonien" und Protektoraten, falls nicht unter indirect ra/e-Status oder dem Sonderstatus des Protected State stehend, folgte dem einheitlichen „Kronkolonie-System", und dieses beruhte auf zwei Prinzipien: der Unterordnung der kolonialen Legislative (Legislative Council) unter die Kolonialexekutive und deren Unterordnung unter die imperiale Re-
31
Dieser Aspekt verschwindet in der juristischen Klassifikation der Dependencies durch M. Wight-. British Colonial Constitutions, London 1952, S. 5ff.
Theorien und Praxis v o n Kolonisation und Dekolonisation
41
gierung in London. Das Westminster Parlament konnte für das gesamte Empire Gesetze erlassen, die „Krone" (d. h. die Regierung und im engeren Sinne das Colonial Office) durch Rechts- und Verwaltungsverordnungen (Orders in Council, Letters Patents, Instructions etc.) regulierend und kontrollierend einwirken. Die besonderen Merkmale der britischen Kolonialverwaltung bestanden erstens in der großen administrativen Autonomie der jeweiligen Territorialverwaltung32 und in der Autokratie des Kolonialgouverneurs: „The governor is the central institution of British colonial government"33. Im Höchstmaß der Autonomie der britischen Kolonialverwaltungen, die die Herausbildung einer Individualität eines jeden Kolonialterritoriums zuließ, liegt ein gewichtiger Unterschied zu der französischen „monolithischen" und zentralistischen Verwaltungspyramide, über die nahezu alles von Paris aus dekretiert wurde. Die bereits in der Verordnung von 1765 zur Gründung der ersten afrikanischen Kronkolonie von Senegambia enthaltene Anweisung, die amerikanische Modellverfassung „as far as difference of circumstances will permit" einzurichten, blieb Methode der pragmatischen britischen Kolonialpolitik34. a) Treuhandschaft und Indirect Rule Die Grundidee des britischen Colonial Empire war die bereits von Edmund Burke in der parlamentarischen Auseinandersetzung mit Warren Hastings Machenschaften in Indien in die Kolonialdiskussion eingeführte Trust- oder Treuhandidee, die seit John Locke und der Bill of Rights von 1688 zu den staatsrechtlichen Fundamentalprinzipien gehört: daß das imperiale Parlament von Westminster als der letztverantwortliche Treuhänder (trustee) für das Wohl der eigenen und der eroberten Völker zu fungieren habe. Freilich durchzog diese Idee, daß die Kolonisatoren eine moralische Verpflichtung für das Wohl der Kolonisierten haben, schon die Werke der spanischen Kolonialethiker, die antikolonialistische Literatur der Aufklärung und des Anti-Slavery-Movement35. R. von Albertini hat in seiner Analyse der Kolonialdoktrinen gezeigt, wie dieses Trusteeship-Prinzip nach Arrondierung der Kolonialreiche zum kolonialpolitischen Schlagwort 32
33 34
35
V g l . / . D. Fage\ Ghana. A Historical Interpretation, Madison 1959, S. 1 7 1 : „. . . that each colonial government was to have a considerable degree of autonomy, in that most administrative decisions and most laws were to be within the colony itself rather than by the Colonial Office and Parliament in London". M. Wight (Anm. 31), S. 16. Vgl. H. Blood-. Parliaments in Small Territories, in: A. Burns (Hrsg.), Parliament as an Export, L o n d o n 1966, S. 253. Vgl. H. Krauss\ Das Doppelte Mandat. Z u r Entwicklung der kolonialen Mandatsidee, in: Civitas, Bd. 1 (1962), S. 86.
42
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
wurde, in Art. 22 des Völkerbund-Statuts institutionalisiert und internationalisiert und durch F. D. Lugards „Dual Mandate in British Tropical Africa" von 1922 zur offiziellen Doktrin der britischen Afrikapolitik in der Zwischenkriegszeit wurde 36 . Dieses „zweifache Mandat" verpflichtete die Kolonialmächte zu einer doppelten Verantwortung, nämlich „als Treuhänder gegenüber der Zivilisation für die angemessene Entwicklung der tropischen Rohstoffquellen und als Treuhänder für die Wohlfahrt der eingeborenen Völker" zu fungieren 37 ; es sollte also sowohl die kolonisierten Völker vor blanker Ausbeutung schützen wie die Bedürfnisse der Industriestaaten nach Rohstoffen und Absatzmärkten befriedigen. Lugards Doktrin war engstens mit der britischen Freihandelsidee verbunden. Die Politik der „Offenen T ü r " sollte „gleiche Möglichkeiten für den Handel anderer Länder und einen unbeschränkten Markt für den eingeborenen Erzeuger" sichern38 und durch diese Nutzenverteilung gleichzeitig — und ganz im Sinne des liberal-freihändlerischen Glaubens an eine harmoníapraestabilita—die Interessen zwischen Kolonialmächten und Kolonien aussöhnen 39 . Aber nicht nur Frankreich entzog sich dieser zweifachen Verpflichtung, indem es die Kolonien zollpolitisch an die eigenen Interessen band, Plantagen aufbaute und Zwangsarbeit einsetzte, sondern auch Großbritannien, das tatsächlich bis 1932 Freihandel praktizierte, vergewaltigte die proklamierten Prinzipien, wenn — wie in Kenia, Nord- und Südrhodesien — Siedler Land beanspruchten und Arbeitskräfte benötigten: dann wurden das beste und verkehrsmäßig erschlossene Land konfisziert, die „Eingeborenen" in Reservate abgedrängt und dort mittels Hütten- und Kopfsteuer zu einer nur verdeckten Form der Zwangsarbeit rekrutiert 40 . Auch weniger spektakuläre Fälle der Landnahme, Steuer- und Rekrutierungspolitik von Arbeitskräften, sei es das vergebliche Bemühen des Swazi-Königs, beim britischen Trustee das in Freibeutermanier geraubte Land einzuklagen, oder die brutale Absicherung des der Sklaverei ähnlichen Identgeschäftes auf Mauritius, ließen sich kaum mit Trusteesbip vereinbaren. Man muß Dual Mandate nicht prinzipiell als wohlfeile Verbrämung kolonialistischer Interessen verdammen 41 , aber die Widersprüche 36 87 38 39
40 41
Vgl. R. von Albertini (Anm. 10.), S. 101 ff. F. D. Lugard-. The Dual Mandate in British Tropical Africa, 3. Aufl., Edinburgh/London 1926, S. 391. Ebenda, S. 61. Vgl. die Interpretation von H. Krauss (Anm. 35), S. 98ff.; umfassender R. Schneebeli: Die zweifache Treuhänderschaft. Eine Studie über die Konzeption der britischen Kolonialherrschaft, Zürich 1958. Vgl. R. L. Buell: The Native Problem in Africa, New York 1928. So versucht R. von Albertini (Anm. 10), S. 105 einer Pauschalkritik zu begegnen.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
43
zwischen Prinzipienerklärungen, Apologien und der kolonialen Praxis aufzeigen. Man kann auf die Z}m>«.rÄ/>v-Erklärung vom Dezember 1923 verweisen, in der die britische Regierung im Streit mit den weißen Siedlern und Asiaten in Kenia mit Berufung auf die unveräußerliche Treuhandschaft das Prinzip der „paramountcy of native interests" formulierte, den Siedlern trotz Rebellionsdrohungen den Dominion-Status verweigerte und damit den Kikuyu, Luo, Kamba usw. das Schicksal der Matabele und Mashona in Südrhodesien ersparte. Aber gleichzeitig muß man hinzufügen, daß diese Erklärung den tatsächlichen Vorrang der Siedlerinteressen über weitere Jahrzehnte nicht abänderte und die Dual Policy des konservativen Kolonialministers Amery, die den ökonomischen Vorrang und die politische Dominanz der weißen Siedler mittels Segregationsmaximen absicherte, nicht verhindern konnte42. Man kann auf den erfolgreichen Versuch von Gouverneur Cameron, der unter Berufung auf das Mandatsstatut und Treuhandgebot eine größere weiße Besiedlung Tanganyikas verhinderte, oder den erfolglosen Versuch des Empire Resources Development Committee verweisen, entsprechend der französischen mise en valeur mittels einer rigorosen Nutzung der Kolonien die ökonomischen Nachkriegsprobleme des Mutterlandes lösen zu helfen. Die koloniale Law and Order-Politik erlaubte nicht nur den in Bergbau, Exportwirtschaft und Handel eindringenden Kolonialunternehmen, die am Eigenprofit und nicht an der „paramountcy of native interests" interessiert waren, genügend Handlungsspielraum43, sondern setzte bei Arbeitskonflikten, zur Aufrechterhaltung der Arbeitsdisziplin oder Einhaltung der häufig diskriminierenden Arbeitskontrakte ihre Repressionsmittel zugunsten der „European interests" ein. Die Länderanalysen dieses Handbuches zeigen an vielen Beispielen, daß Trusteeship doch mehr eine defensive Legitimationsformel denn eine Richtschnur für die praktische Kolonialpolitik war. Das in dieser Formel implizierte Verwandtschaftsverhältnis zwischen Trustee und Clientel ließ letztlich keinen realen Unterschied zum belgischen Paternalismus im Kongo oder zum unverblümten Herrn-KnechtVerhältnis im französischen Kolonialbereich erkennen. Kolonialer Friede und koloniale Gewalt lagen ungeachtet der proklamierten Kolonialdoktrinen überall eng beieinander44. 42 43 44
Vgl. dazu die vorzügliche Zusammenfassung von R. von Albertini (Anm. 10), S. 174 ff. Auf diesen Aspekt hatte — wenn auch am Fall Burmas — schon /. S. Furnivall: Colonial Policy and Practice, Cambridge 1948 hingewiesen. Diese Einheit von Gewalt und Frieden verdeutlicht D. A. Low (Anm. 1), S. 95.
44
Einleitung (Franz Nuscheier/Klaus Ziemer)
Das britische Trusteeship-Vimzvp hatte neben dem kolonial-wirtschaftlichen Nutzungsvorbehalt einen prinzipiellen ordnungspolitischen Vorbehalt: möglichst wenig Intervention in die vorgefundenen Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen, Schutz und Bewahrung der Kultur der eroberten Gesellschaften. Hier liegt die Verknüpfung zwischen Trusteeship und dem Prinzip der indirect rule, die Lugard theoretisch herstellte und in Nordnigeria praktizierte: indirect rule wurde vor allem unter seinem Einfluß zum Markenzeichen britischer Kolonialpolitik, nicht nur in Westafrika, sondern auch im übrigen Colonial Empire. R. von Albertini hat die Prinzipien, wie sie von Lugard entwickelt, von C. L. Temple dogmatisiert, von D. Cameron modifiziert und von M. Perham verteidigt wurden, zusammengefaßt: „Indirect Rule sollte heißen, daß diese (traditionellen Institutionen und Autoritäten, Verf.) nicht nur als Werkzeug und Sprachrohr verwendet wurden, sondern wirklich regierten. Die vorgefundene Gesellschaft mit ihren Institutionen, Autoritäten, Rechten und Sitten wird akzeptiert, schrittweise modernisiert, um die Funktionen der Lokalverwaltung erfüllen zu können. Der Eingeborene soll seiner Umgebung nicht entfremdet werden, sondern in ihr seine neue Entwicklungsmöglichkeit finden, die Eingriffe der Kolonialmacht sollen ,along indigenous lines' erfolgen. Ziel ist nicht die Angleichung an das Mutterland, sondern eine Förderung der Bevölkerung im Rahmen der eigenen afrikanischen Zivilisation" 45 . Bemerkenswert apodiktisch bei einer ansonsten sehr differenzierten Interpretation ist in dieser Zusammenfassung vor allem die These, daß die Häuptlinge nicht nur als „Werkzeug und Sprachrohr" oder als „bloße Exekutivorgane" wie in anderen Kolonialgebieten benutzt wurden, sondern „wirklich regierten". Diese These läßt sich weder schlüssig aus den Werken der indirect /-»/¿-Theoretiker noch aus der Praxis der Kolonialverwaltung, nicht einmal aus dem nordnigerianischen Demonstrationsmodell ableiten. Weder die Erklärung von Lugard, daß „the policy of the Government was that these Chiefs should govern their people, not as independent but as dependent rulers" 46 , noch die Aussage von Cameron, daß „the British Government rules through these native institutions which are regarded as an integral part of the machinery of government" 4 7 , läßt den definitiven Schluß zu, daß es sich bei diesem Konzept nicht nur um eine administrative Instrumentalisierung der traditionellen Autoritäten und Delegation von Verwaltungsaufgaben zum Zwecke der Personal46 46 47
Ebenda, S. 150. Nach M. Perham-. Lugard, Bd. II. London I960, S. 469. D. Cameron-. Principles of Native Administration and Their Application, London 1934, S. 1.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
45
und Kostenersparnis und gleichzeitig der leichteren Durchsetzung der imperialen Kontrolle handelte; daß indirect ruh mehr war als eine idealisierende Rationalisierung von Zweckmäßigkeiten oder gar Notwendigkeiten. Lehrreich ist das Beispiel des Ashanti-Königreichs, dessen König exiliert und dessen Territorium zunächst direkter Kontrolle unterstellt wurde, bis die Störungen von law and order die Wiedereinsetzung des Königs (1924) und die Einführung von indirect rule nahelegten. D. A. Low trifft den Wesenskern der britischen Verwaltungspraxis: „Die Briten benutzten den Eingeborenenstaat als Instrument ihrer Autorität und überließen gleichzeitig der lokalen einheimischen Autorität die Kontrolle über Dinge, an denen sie keine Interessen hatten" 4 8 . Auch Lord Hailej, der geradezu autoritative Experte für die in Afrika praktizierten kolonialen Verwaltungssysteme, wies auf die in der Praxis schwindenden Unterschiede hin 49 . In der kolonialen Situation der meisten britischen Kolonien verschwanden diese idealtypisch konstruierten Unterschiede besonders dann und dort, — wie im Süden und Südosten Nigerias, im Norden Sierra Leones und der Goldküste, in Gambia und in weiten Teilen Ost- und Zentralafrikas außerhalb der wenigen Königreiche und durchorganisierten Gesellschaften — wo solche „traditionellen Autoritäten" erst durch Einsetzung von Häuptlingen und Abgrenzung von Häuptlingsbezirken geschaffen wurden. Der eingesetzte Häuptling konnte aber nicht als „Träger und Repräsentant der traditionellen Autorität" gelten, der „die Einheit von Vergangenheit und Gegenwart, von Verstorbenen und Lebenden verkörpert und somit sakralen Charakter trägt" 5 0 . Er war eben kein „traditioneller", sondern ein von kolonialen Gnaden eingesetzter „government chief", zudem häufig in einem künstlich arrondierten Bezirk. Aber auch der „traditionelle" Häuptling amtierte nicht allein kraft „traditioneller" Legitimität, sondern kraft Anerkennung durch die fremden Eroberer; er mußte im eigenen Namen verordnete Befehle erlassen und durchsetzen, weil er sich zwar mit kolonialer Rückendeckung gegen die Opposition seiner Untertanen, aber nicht gegen die Auflagen der District Commissioners wehren konnte: „This new arrangement led to divided loyalty to the people and to the colonial administration. With the obvious risk of being removed from office, should loyalty to the 48 49 60
D. A. Low (Anm. 1), S. 89. Äußerst lehrreich ist auch die von Low (S. 88) zitierte Rede Lugards an die besiegten Emire Nordnigerias. Lord Hailey. An African Survey, Rev. Ed. 1956, London 1957, S. 414ff. So R. von Alberlini (Anm. 10), S. 150f. in Zusammenfassung der Ideen von Lugard; zur geringen „traditionellen" Legitimität der „government chiefs" v g l . / . Tosh: Colonial Chiefs in a Stateless Society: A Case-study from Northern Uganda, in: J AH, Bd. 14 (1973), S. 4 7 3 ^ 9 0 .
46
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
colonial administration be in question, the traditional ruler became more and more an agent of the colonial administration" 61 . Lombard unterstreicht die diskreditierende Wirkung dieser „doppelten Repräsentativität" der Häuptlinge als Repräsentanten des eigenen Volkes gegenüber der Kolonialverwaltung und deren Repräsentanten gegenüber dem eigenen Volk, wobei letztere Funktion im Konfliktfall aus Selbsterhaltungsinteresse obsiegte62. Die britische Methode der Nutzung vorgefundener Institutionen war sicherlich subtiler, aber nicht weniger wirksam und bei Konflikten nicht weniger autoritär als der französische Verwaltungszentralismus. Gegen die Einordnung der indirect ra/i-Konzeption unter die Dekolonisationsstrategien spricht schließlich, daß sie zumindest ursprünglich keinen Weg zur Unabhängigkeit weisen, sondern die Kolonialherrschaft auf sichere und kostensparende Grundlagen stellen sollte. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die klassischen Werke zur indirect rule, neben Lugards Standardwerk und zahlreichen Reden und Schriften vor allem Camerons „Principles of Native Administration and Their Application" von 1934, C. L. Temples „Native Races and Their Rulers" von 1918 und M. Perhams „Native Administration in Nigeria" von 1937 primär an den nordnigerianischen Emiraten orientiert waren. Eben an diesen „Naturschutzparks", in denen sich unter britischem Schutz eine „direct rule of the Fula Emirs" ausbildete63, setzte in den ausgehenden 30er Jahren eine heftige inner britische Kritik ein, die wesentlich die Kolonialdoktrin der Labour Party beeinflußte54. Teilweise wandte sich diese Kritik nur gegen die geradezu theologische Dogmatisierung der indirect ruleDoktrin, die die von ihr ermöglichten oder bewirkten Fehlentwicklungen nicht zur Kenntnis nehmen wollte66. Als Fehlentwicklungen wurden zunehmend einerseits die Autokratisierung der durch indirect rule abgeschirmten und protegierten Native Rulers, andererseits der Zerfall „traditioneller" Autorität und Legitimität erkannt: daß das Wohlwollen der District Commissioners die im Konzept hochbewertete Zustimmung der Untertanen erübrigte, weil diese sich ihrer Eiders bei Unfähigkeit, Korruption oder Willkür nicht mehr nach traditionellen Methoden entledigen konnten; die Unfähigkeit der häufig unter großen Mühen eingerichteten Native F. Olisa A-Wogu: Political Institutions and Thought in Africa, New York usw. 1975, S. 111. 52 /. Lombard (Anm. II, 11), S. 18ff. 53 A. V. Murray. The School in the Bush, London 1929, S. 278. 54 Vgl. dazu die Zusammenfassung von R. von Albertini (Anm. 10), S. 155ff. 55 So z. B. Lord Hailey. Some Problems Dealt with in The African Survey, in: International Affairs, März 1939, S. 210f. 51
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
47
Authorities, die in der Regel mit greisen Analphabeten besetzt waren, die die District Commissioners aus der ihnen zugedachten Rolle als „Ratgeber" in die von Kontrolleuren und Exekutoren zwang; die Native Treasuries und Native Courts als institutionelle Säulen der Native Administration häufig zu privaten Finanzquellen der Native Rulers wurden. Der wohl entscheidende und von Deschamps zutreffend hervorgehobene Strukturfehler der indirect rule war jedoch, daß sie systembedingt unfähig war, die aufkommende afrikanische Bildungsschicht zu integrieren. Diese von den Kolonialbeamten als „bush gentlemen" verspotteten „educated Africans" waren sowohl diesen wie den Native Rulers suspekt, weil sie einen Fremdkörper in ihrer Herrschaftsallianz bildeten. Von Albertini spricht deshalb von einer konservativen und retardierenden Tendenz der indirect rule, die sich nun als eine Barriere gegen die postulierte „Entwicklung von innen heraus" und zugleich als Präventive gegen eine antikolonialistische Mobilisierung erwies 56 , Gunnar Mjrdal entschiedener von einer „kolonialen Taktik . . ., die Macht der lokalen feudalen Herrscher und anderer sozialer Klassen zu stärken, die ein Interesse an der Erhaltung des Status quo hatten" 57 . Obgleich gerade diese afrikanische Bildungsschicht befähigt gewesen wäre, die vielfach funktionsunfähigen Native Authorities als Unterbau des kolonialen Verwaltungssystems funktionsfähig zu machen und schrittweise auch überlokale politische Funktionen zu übernehmen, wie ja im Trusteeship-Vnn.'zvp vorgesehen, das zumindest konzeptionell auf ein Herauswachsen der Schutzbefohlenen aus dem imperialen Vormundschafts-Mündel-Verhältnis hinzielte, wurde sie aus den „tribal areas" in die Städte, in untergeordnete Verwaltungspositionen oder in den Erziehungsbereich abgedrängt und in sowohl antikolonialistische wie „anti-feudale" Opposition getrieben:,, Die Indirect Rule hat in gewisser Hinsicht das Gegenteil davon gebracht, was ursprünglich beabsichtigt und worauf man so stolz war. Sie hat zwar die traditionellen Führer und Autoritäten ,regieren' lassen, aber gleichzeitig gerade die aufsteigenden Schichten politisch neutralisiert, die für die Zukunft wichtig sein mußten. Diese wurden aber mehr und mehr zu den Sprechern der afrikanischen Bevölkerung, sosehr sich auch die Administration dagegen sträubte, ihnen als einer kleinen Minderheit, die sich aus den Stammestraditionen und -Ordnungen gelöst hatte, einen Repräsentativcharakter zuzugestehen" 58 . Man muß die Situation Afrikas in der Zwischenkriegszeit nicht völlig verkennen und kein doktrinärer Anti-Kolonialist sein, wenn 56 67 58
(Anm. 10), S. 156ff. G. Myrdal: Internationale Wirtschaft, Berlin 1958, S. 126. R. von Albertini (Anm. 10), S. 159.
48
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
man die Leistungen der indirect rule nicht so positiv bewertet wie R. von Albertini bzw. dessen eigene Kritik im Fazit schwerer gewichtet. Zwar wurden Sozialstrukturen, afrikanische Institutionen und Lebensformen, religiöse Traditionen und Rechtsvorstellungen nicht voreilig zerstört, aber nur einer langsameren Desintegration, Deformation und Dekadenz überlassen; zwar wurden kleine Gemeinschaften in größere überführt oder an größere Ordnungssysteme gewöhnt, aber diese bürokratisch verordnete Integration blieb künstlich und oberflächlich, da indirect rule ja gerade auf die Bewahrung einer „traditionellen" Identität abzielte59; es wurde zwar ein politischer Erziehungsprozeß eingeleitet, dessen Effekte aber in eine andere als die gewollte Richtung zielten; zwar wurden die traditionellen Strukturen respektiert, aber auch „Museen der Traditionalität" gepflegt, in denen die „Entwicklung von innen heraus" gehemmt wurde; zwar wurden die Häuptlinge als Repräsentanten ihrer Gemeinschaften anerkannt, aber als Exekutoren der kolonialen Ordnungs-, Steuer- und Rekrutierungspolitik diskreditiert und ihres sakralen Charismas entblößt. Wenn darauf hingewiesen wird, wie leicht Sekou TourS als Folge der französischen Indifferenz gegenüber den traditionellen Autoritäten das Häuptlingswesen in Guinea abschaffen konnte60, so sollte auch darauf hingewiesen werden, daß sich auch in Tanganyika, in Ghana oder Kenia kein Widerstand der Bevölkerung gegen seine Abschaffung erhob. Freilich muß hinzugefügt werden, daß diese Diskreditierung der Häuptlinge als koloniale Hilfsbeamten nur eine unter vielen Ursachen für ihren Autoritäts- und Legitimationsverlust war (vgl. Kap. IV). b) Emanzipation und Repräsentation Indirect rule beschränkte die politische Mitwirkung der Afrikaner, vielmehr ihrer geborenen und ernannten Eiders, auf lokale Angelegenheiten minderer Bedeutung. Ihre Hauptaufgabe der Steuereinziehung war dabei eine mehr koerzive denn partizipatorische Tätigkeit. Die wesentlichen „Eingeborenenfragen" wie Art und Höhe der Steuer, Bodenzuteilung, Regelung der Produktion und Vermarktung, Arbeitsverhältnisse, sektorale und regionale Verteilung von Investitionen etc. behielt sich die Kolonialverwaltung vor, die diese Maßnahmen weitgehend selbständig treffen konnte. Selbst dann, wenn 59
60
Der nigerianische Staatsrechtler B. O. Nwabue^e-. Constitutionalism in the Emergent States, London 1973, S. 90f. weist daraufhin, daß die britische Politik in Nigeria gerade nicht auf die Integration von Süden und Norden, sondern trotz administrativer Verklammerung auf die Erhaltung einer getrennten, gegen die Integration gerichteten Identität abzielte.
Vgl. M. Crowder (Anm. 1), S. 223.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
49
die Metropole durch Orders in Council Verfassungsfragen regelte, ging in der Regel die Initiative vom jeweiligen Kolonialgouverneur aus. Indirect rule schloß konzeptionell repräsentative Institutionen aus, wenn man von regionalen Versammlungen der Häuptlinge in District und Province Councils absieht; die politische Mitwirkung der „gemeinen Eingeborenen" war der Tradition im jeweiligen Königreich oder Häuptlingsbezirk überlassen. Den indirect rule-Protagonisten erschien Repräsentation und Partizipation durch Wahl als eine artfremde Institution und Prozedur. Mit der Kritik an indirect rule von seiten britischer Kolonialkritiker und der afrikanischen Bildungsschicht ging die Forderung nach einer Beteiligung der Afrikaner im zentralen Legislative Council einher. Erste Ansätze zu ihrer Mitwirkung wurden in Westafrika schon sehr früh unternommen: in der Goldküste und in Gambia wurden bereits 1889 einheimische Honoratioren als Unofficials ernannt, 1925 in Nigeria und in der Goldküste mit direkten und indirekten Wahlen experimentiert, allerdings nur in den Küsten„Kolonien". Die koloniale Verfassungsentwicklung erfolgte in West- und Ostafrika mit deutlichen Tempounterschieden, aber folgte einem einheitlichen Muster mit lokalen Variationen je nach ethnischer Zusammensetzung der Bevölkerung und der „traditionellen" politischen Organisation der Afrikaner. Auch die afrikanischen Dependencies erhielten ungeachtet ihres Rechtsstatus bald nach Abschluß der „Pazifizierung", territorialen Arrondierung und Etablierung einer Zentralverwaltung neben einem Executive Council einen Legislative Council, die beide unter dem Vorsitz des Gouverneurs tagten und nur seine Beschlüsse beraten, aber nicht rechtlich binden konnten. In der ersten Phase bestand auch im Legislative Council eine Mehrheit von höheren Kolonialbeamten („official majority"), die weisungsgebunden waren und Dissens gegenüber dem Gouverneur allenfalls zu Protokoll geben konnten — falls sie den Konflikt mit dem allgewaltigen Gouverneur wagten. The Governor in Council handelte nach Konsultation mit dem Council seiner Untergebenen in alleiniger Verantwortung gegenüber dem parlamentarisch verantwortlichen Kolonialminister in London. Ein quasi-repräsentatives Element wurde erst durch die Ernennung von Unofficials in den Legislative Council eingefügt. Aber auch diese unojficial minority, die nicht mehr weisungsgebunden war, kam nur durch Ernennung durch den Gouverneur, der in der Auswahl der „Repräsentanten" freie Hand hatte, zustande. Die Ernennung beschränkte sich in den afrikanischen Kolonien in der Regel zunächst auf Mitglieder der „weißen Kolonie", nur in Westafrika wurden auch „loyale" Afrikaner (häufig Kreolen) honoriert. Dieser Repräsentation 4 Wahl der Parlamente: Afrika
50
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
durch Ernennung folgte in einem nächsten Schritt die Ernennung auf Vorschlag durch relevante Interessengruppen, wobei dieser Vorschlag den Gouverneur wiederum nicht rechtlich verpflichtete. M. Wight unterscheidet in diesem Stadium zwei Formen der Repräsentation: communal representation der ethnischen, kulturellen und konfessionellen Gruppen und corporate representation „funktionaler" Gruppen, d. h. vor allem der in der Handelskammer organisierten Wirtschaftsinteressen : „Corporate representation has been in the past the appropriate form of representation for European interests throughout a mercantile empire" 61 . Erst nach dem I. Weltkrieg wurden auch Vertreter anderer Korporationen wie Gewerkschaften und Missionen, aber immer weißer Hautfarbe, ernannt. Angesichts der Kompetenzen und Funktionen des Legislative Council hatten diese Repräsentationsformen nur symbolische Bedeutung: er war nur ein Deliberationsorgan und trat nur selten und dann nur zur Entgegennahme von Botschaften des Gouverneurs zusammen; er blieb in Ost- und Zentralafrika bis nach dem II. Weltkrieg ein exklusives Organ der weißen, allenfalls noch asiatischen Minderheit, das nur dann politisches Gewicht erhielt (wie in Kenia und Nordrhodesien), wenn zwischen Siedlern und Kolonialverwaltung Differenzen bestanden. Nach dem II. Weltkrieg erfolgte allerdings eine Entwicklung im Zeitraffertempo, die innerhalb eines Jahrzehnts mehrere Etappen durchlief, die z. B. in Westindien jeweils Jahrzehnte benötigten. Die weiteren Entwicklungsstufen des Repräsentativsystems waren: 1. Teilweise Wahl der unofficial minority, in Afrika zunächst nur innerhalb der weißen (in Ostafrika auch asiatischen) Minderheit, während dem qualitativen Sprung der Wahl von weißen und schwarzen Unofficials, der in Ost- und Zentralafrika erheblich später als in Westafrika erfolgte, Vor- und Zwischenstufen mit indirekten und gemischten Wahlverfahren vorgeschaltet wurden. 2. Schrittweise Ablösung der official majority durch eine unofficial majority aus ernannten und — innerhalb der ethnischen Kommunitäten nach verschiedenen Verfahren — gewählten Abgeordneten. Dieses Entwicklungsstadium wurde auf den Begriff des semirepresentative government gebracht. 3. Bildung einer Mehrheit von (direkt und indirekt) gewählten Unofficials gegenüber Officials und ernannten Unofficials im Stadium des representative government, allerdings unter Fortbestehen der Autokratie des Gouverneurs. „Der diametrale Gegensatz zwischen einer solchen, jeder politischen Verantwortung leeren und im Grunde der Executive völlig untergeordneten Institution und einer parla61
M. Wight (Anm. 31), S. 24.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
51
mentarischen Legislative, die als letzte Kontrollinstanz der Executive der höchste Träger der politischen Verantwortung ist, liegt auf der Hand" 62 . 4. Ablösung des Gouverneurs als Vorsitzender des Legislative Council durch einen gewählten Speaker und symbolische Umbenennung zur Legislative Assembly. 5. Schrittweise Ablösung der nur dem Gouverneur und der imperialen Regierung verantwortlichen Kolonialbürokratie durch parlamentarisch verantwortliche Minister, die vom nichtverantwortlichen Gouverneur berufen und entlassen wurden. Dieser behielt in diesem Stadium des semi-responsible government nicht nur den Vorsitz im Ministerrat, sondern auch weitgehende Reservatrechte und schließlich ein generelles Vetorecht gegenüber allen Entscheidungen von Legislative Assembly und Ministerrat. Diese Kompetenzverteilung änderte auch nicht die Übergabe des Vorsitzes im Ministerrat an einen Chiefminister. 6. Responsible government, d. h. interne Autonomie und weitgehende Aufhebung der imperialen Kontrolle, allerdings mit in der Verfassung verankerten Einschränkungen (wie im Falle Südrhodesien) und Garantien (z. B. Reservierung von Parlamentssitzen und Eigentumsgarantien für die Minderheiten); parlamentarische Verantwortlichkeit eines Kabinetts unter Leitung eines Premierministers; Inter-Organ- sowie Intra-Organ-Beziehungen, kodifizierte Konventionen und Prozeduren nach dem Westminster Muster. Die Studien von M. Wigbt63, die Fallstudien über die Legislative Councils der Goldküste64, von Nigeria65 und Nordrhodesien66 sowie die Analysen der Entwicklung des Repräsentativsystems der einzelnen Kolonien in diesem Handbuch zeigen, daß der Legislative Council ein äußerst flexibles Instrument in Händen der Kolonialverwaltung und der verfassunggebenden Metropole war, auf Forderungen relevanter und artikulationsfähiger Gruppen dosiert zu reagieren; daß die zahlreichen Zwischenstadien genutzt wurden, um Konzessionsbereitschaft zu demonstrieren, ohne die imperiale Kontrolle infrage stellen zu lassen; daß das Institut der Wahl zunächst mit einem so hohen Besitz- und Bildungszensus und bürokratischen Hindernissen H. N. Weiler : Legislative Council und Indirect Rule, in: G.-K. Kindermann (Hrsg.), Kulturen im Umbruch, Freiburg i. Br. 1962, S. 375. 63 The Development of the Legislative Council 1606—1945, London 1946. 64 M. Wight-. The Gold Coast Legislative Council, London 1947; H. N. Weiler (Anm. 62), S. 365—393. 65/. Wheare: The Nigerian Legislative Council, London 1950. 66/. W. Davidson : The Northern Rhodesian Legislative Council, London 1948. 62
4*
52
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
belastet wurde, daß die Masse der nicht-weißen Bevölkerung ausgeschlossen blieb und die gewünschte selektive Repräsentation gesichert wurde; daß die Verfassungsgeber aber in der letzten Dekolonisationsphase den außerparlamentarisch organisierten Druck des afrikanischen Nationalismus auch durch eine Serienproduktion von Verfassungen nicht mehr institutionell kanalisieren konnten. Verfassungsund Wahlrechtskonzessionen waren dann nur noch ein Vehikel des Kampfes um die Unabhängigkeit. Die nach 1945 von der Labour-Regierung vorsichtig eingeleiteten Verfassungsreformen waren nicht evolutionäre Früchte von Kolonialdoktrinen, sondern reagierten auf den wachsenden Druck von Organisationen, die sich außerhalb des kolonialen Institutionensystems organisierten und sich zunehmend als „national" etikettierten, d. h. gesamtterritoriale und antikoloniale Ziele jenseits der Native A.uthorities formulierten. Die afrikanische Elite, die von britischen Lehrern und an britischen Universitäten von der Vorbildhaftigkeit des britischen Repräsentativsystems überzeugt worden war, wollte sich nun nicht mehr auf „afrikanische Wege" der politischen Entwicklung verweisen lassen, die irgendeinmal in ferner Zukunft67 zu self-government führen sollten. Diese Entwicklung des afrikanischen Nationalismus soll im nächsten Kapitel umfassender untersucht werden. Für die verfassungspolitische Dekolonisation waren die Unruhen an der Goldküste von 1948, in der die Verfassungsentwicklung schon am weitesten vorangeschritten war, ein entscheidender Wendepunkt, weil sie London anzeigten, daß der afrikanische Nationalismus keine Sache von wenigen intellektuellen Intransigenten mehr war und weder durch Repression noch durch kleine Korrekturen der Zusammensetzung des Legislative Council gebändigt werden konnte. Die „Theologie" von indirect rule mußte endgültig aufgegeben, die Funktionen von Häuptlingen auf gewählte District Councils übertragen und die repräsentative Basis des Legislative Council über den Kreis von ernannten Notablen hinaus erweitert werden. Erstaunlich und ideologiekritisch höchst aufschlußreich war, wie schnell nun auch Annahmen, Überzeugungen und Rechtfertigungen wechselten. Galt eben noch als geradezu selbstverständlich und vernünftig, daß das westliche Repräsentativsystem für Afrika ungeeignet sei bzw. die Afrikaner für seine Übernahme unreif seien, so erschien nun kein anderer Weg zur Dekolonisation denkbar als die schrittweise Verpflanzung eben dieser Institutionen. Nun galten das Westminster Modell auch für Afrika geeignet und Afrikaner als genügend lernfähig, Demokratie und Parlamenta67
So M. Perham noch 1945: Education for Self-government, in: Foreign Affairs, Bd. 24 (1945/6), S. 130—142.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
53
rismus zu erlernen68. Zunächst wurden aber nur in Ghana und Nigeria ausreichende Voraussetzungen für self-government (brauchbare Verwaltungsstrukturen und ein qualifiziertes einheimisches Verwaltungspersonal, politische Führungsgruppen mit Regierungsfähigkeit, ausreichendes Entwicklungspotential zum eigenstaatlichen Überleben) vermutet. c) Representative Government und Self-Government Den nach 1948 zunächst nur in Westafrika und auf lokaler Ebene durchgeführten Wahlen (sofern Afrikaner beteiligt waren) wurde die Funktion zugedacht, durch die Modernisierung und Demokratisierung der Native Authorities der innerbritischen und afrikanischen Kritik an den Degenerationserscheinungen von indirect rule zu begegnen und gleichzeitig den afrikanischen Nationalisten Wind aus den Segeln ihrer Agitation zu nehmen. Wahlen sollten den Legitimationsverlust der traditionellen Institutionen und Autoritätsträger kompensieren, die Afrikaner mit unterschiedlichen Wahlverfahren und die Notablen mit überlokalen Aufgaben und parlamentarischen Prozeduren vertraut machen. Den Grundsatz dieser Strategie, den sich die Labour-Regierung zu eigen machte, formulierte Gray Cowan\ „An efficient and democratic system of local government is in fact essential to the healthy political development of the African territories; it is the foundation on which their political progress must be built" 69 . Dabei mußte nicht nur die beabsichtigte Kombination von „traditionellen" Notablen und gewählten („modernen") educated Africans, sondern auch die Herauslösung der Chiefs, deren Autorität und sakrale Legitimität ganz und gar auf lokale Gemeinschaften bezogen war, aus diesem lokal-personalen Bezug und ihre Betrauung mit „nationalen" Aufgaben und Mitwirkung in überlokalen Repräsentativkörperschaften zu Rollen- und Legitimitätskonflikten führen70. Andererseits war diese Außenorientierung und Befassung mit territorialen Angelegenheiten die bare Voraussetzung für die politische Integration und das Entstehen einer Nation aus einer heterogenen Vielfalt von Völkern. In der Regel gingen die nationalistisch-antitraditionalistischen Unabhängigkeitsbewegungen mehr oder weniger radikal über den Repräsentations- und Führungsanspruch der Häuptlinge 68
69
70
Vgl. D. Austin: Großbritanniens Vermächtnis in Afrika, in: Probleme der Demokratie heute, Tagung der D V P W in Berlin, Herbst 1969, Opladen 1971, S. 468 f. L. G. Cowan \ Local Government in West Africa, London 1958, S. 62; zusammenfassend wiederum R. von Albertini (Anm. 10), S. 253 ff. Zur „Territorialisierung" politischer Autorität vgl. / . Lombard (Anm. II, 11), S. 98 ff.
54
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemet)
hinweg, den besonders die britische Kolonialverwaltung bis zuletzt anerkannte und zu institutionalisieren versuchte. Nur in einigen wenigen indirect r#/i-Territorien wie in Nordnigeria, Buganda und Swaziland verstanden es die traditionalistischen Gruppen, auch die importierten „modernen" Institutionen (Parlamente) und Organisationen (Parteien) zur Festigung ihrer Rolle zu benutzen71. Zwischen dem Embryonalstadium von representative government in Form von Kommunalwahlen bei äußerst restriktivem Wahlrecht und dem Endstadium von allgemeinen, direkten und geheimen Wahlen wurden in den einzelnen Territorien sehr unterschiedliche Wahlverfahren praktiziert: teilweise wurden herkömmliche Akklamationsverfahren wiederbelebt wie auf den Pitsos in Basutoland, teilweise die „modernen" Wahltechniken aus dem Mutterland importiert, häufig in Städten direkte und im Hinterland indirekte Wahlen unter Einschaltung der Häuptlinge abgehalten. Die in den Länderbeiträgen beschriebenen Variationen waren ungemein vielfältig. Der politische Erziehungseffekt dieser Wahlen mußte jedoch gering bleiben, solange die Masse der Bevölkerung durch eine Vielzahl von Qualifikationen ausgeschlossen und das System der indirekten Wahlen auf die Notablen der Native Authorities zugeschnitten blieb. Wahlrecht galt noch nicht als Bürgerrecht, sondern als ein Nachweis für „Zivilisation", die an Besitz und Einkommen, Mitgliedschaft in Native Authorities, manchmal am reiferen Alter (mit 30 oder 40 Jahren), häufig an besonderen Treuenachweisen in öffentlichen und privaten Diensten und schließlich an einem bestimmten Bildungsgrad gemessen wurde. Alle diese Restriktionen hatten eine Präventivfunktion gegen die meist junge, noch nicht arrivierte und „politisch unreife" Gefolgschaft der „Nationalisten". Auch nach der allmählichen Einführung des allgemeinen Wahlrechts waren die von der Kolonialverwaltung konstruierten Verfahren so kompliziert und perfektioniert, daß sie die völlig unerfahrenen Wähler abhielten, Demokratie zu üben. W. J. M. Macken^ie weist darauf hin, daß die Kolonialbeamten so sehr auf einen korrekten und vom Wahlgesetz vorgeschriebenen Ablauf der Wahlen achteten, weil sie eigentlich der Möglichkeit geordneter Wahlen mißtrauten und ihre Vorgesetzten Erfolgsmeldungen erwarteten72. Nachdem die Entscheidung gefallen war, Afrika nicht mehr auf „afrikanischen Wegen", sondern auf dem verfassungspolitischen Weg, den die weißen Dominions und Indien gegangen waren, zur Unabhängigkeit zu führen, Zu dieser „dynamics of continuity" vgl. C. S. Whitaker: A Dysrhythmic Process of Political Change, in: World Politics, Bd. 19 (1967), S. 190—217. 72 W. J. MackenzielK. Robinson (Hrsg.): Five Elections in Africa, London 1960, Conclusion, S. 464. 71
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
55
gehörte die Abhaltung ordnungsgemäßer Wahlen zu den wichtigsten Verwaltungsaufgaben: sie waren zunächst Übungen mit einem großen Verwaltungsaufwand und geringen politischen Wirkungen. Die Registration als Voraussetzung des aktiven und passiven Wahlrechts wurde an zahlreiche Nachweise des Alters, der Residenz, der Bildung, des Einkommens oder der Erfüllung der Steuerpflicht gebunden, die bei dem kaum entwickelten Urkundenwesen zu einem bürokratischen Kraftakt (mit vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten) und häufig zu einem lästigen Spießrutenlaufen von Wahlwilligen führten. Zahlreiche Berichte von Electoral Commissions zeigen, daß häufig auch die Wahlbeamten das Bündel von Regeln nicht erklären und handhaben konnten. Zudem wurde die Registration häufig als ein Versuch der Verwaltung mißverstanden, Steuern einzutreiben (zumal dann, wenn die Steuerregister zugleich als Wahlregister dienten) oder Truppen zu rekrutieren. Erst als Parteien, die häufig vor Wahlen entstanden, diese als Instrument der Emanzipation und zugleich als Mittel des Machtgewinns gegenüber Konkurrenten benutzten, Wahlwerbung betrieben und Registrations- und Wahlhilfe leisteten, wurden diese Barrieren überwunden, die zunächst zu geringen Wahlbeteiligungen und diese zur Bestätigung von Vorurteilen über die demokratische Unreife der mehrheitlich analphabetischen Bevölkerung geführt hatten. Die Neigung britischer Kolonialverwaltungen, möglichst das reine britische Wahlsystem mit Einzelwahlkreisen einzuführen, führte häufig entweder zu erheblichen Disproportionalitäten in der Größe der Wahlkreise oder zu „tribalistischen" Spannungen in ethnisch gemischten Wahlkreisen; die britische Eigenart, auf Wahlzetteln nur Kandidaten und keine Parteien aufzuführen, erschwerte den Wahlakt, indem für jeden Kandidaten ein Symbol gefunden und eine separate Urne aufgestellt werden mußte, und die Arbeit der Parteien73. Während in Westafrika die technischen Probleme überwogen74, komplizierten und verzögerten in Ost- und Zentralafrika politische Probleme die Entwicklung eines Repräsentativsystems mit afrikanischer Beteiligung; während sich in Westafrika — mit Ausnahme der absurden Kolonialstruktion des gambischen „Blinddarms der Madame Großbritannien" — die Dekolonisation in einer sich überstürzenden Dialektik zwischen antikolonialistischem Druck der „nationalistischen" Organisationen und reaktiven Konzessionen vollzog und innerhalb eines guten Jahrzehnts — statt in dem noch vor kurzem vorgesehenen halben Jahrhundert — von semi-representative zu respon73 74
Ebenda, S. 474. Vgl. D.J. R. Scott: Problems of West African Elections, in: What are the Problems of Parliamentary Government in West Africa?, London 1958, S. 65—78.
56
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
sible government führte, standen der politischen Emanzipation der Afrikaner in Ost- und Zentralafrika massive Siedlerinteressen entgegen, die in Westminster und Whitehall und besonders in der Conservative Party einflußreiche Lobbies hatten. Als Ghana bereits unabhängig war, kämpfte diese Allianz noch erfolgreich für eine weiße Suprematie und gegen ein Wahlrecht für die Afrikaner als Hebel von majority rule. Die Formel „equal rights for civilized men" erwies sich als wirksame Agitationsformel der Siedler und Rechtfertigungsformel der auf „paramountcy of native interests" verpflichteten Metropole. Das Diktum von W. Churchill von 1922, daß die europäischen demokratischen Prinzipien „keineswegs für die Entwicklung der asiatischen und afrikanischen Völker geeignet" seien75, wurde in diesem Teil Afrikas auch nach der Entwicklung der asiatischen und westafrikanischen Völker entlang diesen Prinzipien immer noch bemüht. Hier gerieten Begriff und Ziel des self-government in ein dekolonisationspolitisches Dilemma, weil die Z^mw^zVi-Erklärung von 1923 nicht in politisches Handeln umgesetzt wurde: „Während in Westafrika Trusteeship und Self-government konzeptionell eine Einheit bildeten und unmittelbar aufeinander bezogen waren, insofern als sich die Kolonialherrschaft mit der Vorbereitung auf Selbstregierung legitimierte, hat sich in Ostafrika bereits in der Zwischenkriegszeit die schwerwiegende Frage gestellt: wem sollte Self-government zukommen? Den weißen Siedlern, die sich auf die Durham-Tradition berufen konnten, oder der schwarzen Bevölkerung, deren Interessen zu vertreten London sich verpflichtet hatte?" 76 . In der Zentralafrikanischen Föderation, die 1953 von der konservativen Regierung in London gegen starke Opposition in Großbritannien selbst und gegen den Widerstand der artikulationsfähigen afrikanischen Organisationen in den drei Föderationsterritorien und entgegen dem Trustee¿/fe^-Prinzip, das in die neue Partnership-YotmA verpackt wurde, gegründet worden war, bedeutete self-government nicht Emanzipation, sondern Kontrolle der afrikanischen Bevölkerungsmehrheit mit dem Ziel, white supremacy langfristig zu sichern. War es in Westafrika bemerkenswert, wie schnell die britische Metropole nach dem II. Weltkrieg die Bedenken gegen die Transplantation des Westminster Modells aufgab, so war es nicht weniger bemerkenswert, wie sie in Ost- und Zentralafrika versuchte, mit künstlichen Konzeptionen von schwarz-weißer Partnerschaft und „multi-racial communities" und komplizierten Verfassungs- und Wahlrechts75 76
Vgl. E. Huxley. White Man's Country, London 1935, Bd. 2, S. 113 ff. R. von Albertini (Anm. 10), S. 267.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
57
konstruktionen die Forderungen der Siedler und Afrikaner, die sich beide auf widerstreitende Kolonialdoktrinen berufen konnten, auszusöhnen. Diese Aussöhnung setzte allerdings voraus, daß den Afrikanern allgemeines und gleiches Wahlrecht (one man — one vote) versagt werden mußte. Es bedurfte der Mau Mau-Rebellion und der Drohung eines langen Guerilla-Kampfes, der militanten Unruhen in Nordrhodesien und Njassaland (1959), der internationalen Kolonialkritik und der Gefährdung des eben entstehenden Multi-racial von Commonwealth, um auch die konservative Macmillan-Regietung der Notwendigkeit zu überzeugen, den „wind of change" und die „Westafrika-Politik" auch in Ost- und Zentralafrika und gegen den Widerstand der Siedler und ihrer britischen Lobbies durchzusetzen. Die Inkonsequenz dieser Dekolonisationsstrategie in Südrhodesien, eingeleitet durch die Konzession von responsible government im Jahre 1923, fortgesetzt durch die Tolerierung einer systematischen Rassendiskriminierung und ein widersprüchliches Taktieren zwischen Prinzipienerklärungen und politischen Maßnahmen, führte zur Illegal Declaration of Independence von 1965. Das „Rhodesien-Problem" ist eine Hypothek der britischen Kolonialpolitik, der „Hochverrat" von Ian Smith die Strafe für die Veräußerung der unveräußerlichen Trusteeship-Verpflichtung77. Die Versuche einer legalen Lösung des britisch-rhodesischen Verfassungskonflikts von den Tiger-Proposals über die Fearless-Proposais bis zum Abkommen vom November 1971 (vgl. Rhodesien-Beitrag) spielten noch einmal das ganze Instrumentarium von Verfassungs- und Wahlrechtsregeln durch, um die 1963 in den „Fünf Prinzipien" formulierten Ziele von majority rule und politischer Gleichberechtigung der Afrikaner zu retten, ohne die Interessen der Siedler zu opfern. Da diese Lösung in Rhodesien ebensowenig möglich ist wie sie in Kenia möglich war, ist die revolutionäre Geburt eines schwarzen Zimbabwe unausweichlich. Daß das international geächtete Minderheitsregime so lange überleben konnte, liegt nicht nur an der wirtschaftlichen und militärischen Unterstützung durch Südafrika und am Unterlaufen der UN-Sanktionspolitik durch Kapital- und Handelsinteressen, sondern auch an der Schwäche und gegenseitigen Paralysierung der „nationalistischen" Opposition der Afrikaner. Hier wird eine Pathologie des afrikanischen Nationalismus sichtbar, die in anderen afrikanischen Staaten schon durch die Heroisierung und Mythologisierung des Unabhängigkeitskampfes überlagert und verdrängt wurde. Mit dieser Mythologie des Unabhängigkeitskampfes entwickelte sich in Großbritannien ein selbstbelobigender Mythos des friedlichen 77
Vgl. F. Nuscheier-. Der britisch-rhodesische Verfassungskonflikt, in: VRÜ, Jg. 1973, S. 407—427.
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
58
Übergangs vom Colonial Empire zum Multi-racial Commonwealth, dieses mehr durch das Band der Sprache als durch das Symbol der „imperialen Krone" zusammengehaltenen Vereins gemeinsamer Erinnerungen. Der britische Genius, der indirect rule erfand, wurde nun seiner Genialität gerühmt, ein riesiges Kolonialreich ohne schmerzhafte Abnabelungs- und Geburtswehen zur Unabhängigkeit geführt zu haben. Aber „das Gelingen der Emanzipation im Commonwealth hing nicht allein, vielleicht nicht einmal überwiegend von den Plänen der Londoner Regierung, der Umsicht des jeweiligen Kolonialministers und dem Geschick des Gouverneurs", sondern von Programm und Führung der nationalen Befreiungsbewegungen ab78. Dieser Mythos läßt vergessen, daß prominente Führer der afrikanischen Befreiungsbewegung wie Nkrumah, Kenyatta, Kaunda oder Banda im Gefängnis saßen und als „prison graduates" zu antikolonialistischen Heroen wurden; daß die britischen Kolonien aufgrund ungelöster Integrations- und Verfassungsprobleme, auch als Folge von indirect rule, schwierige Startjahre mit Bürgerkrieg (in Nigeria) und bürgerkriegsähnlichen Spannungen (in Malawi, Uganda, Lesotho), Sezessionsbewegungen (in Buganda, Barotseland und in den drei Großregionen Nigerias) durchstehen mußten; daß das verfassungspolitische Vermächtnis des Westminster Modells trotz der Beibehaltung des zeremoniellen Dekors und Rituals in wenigen Jahren zur Verfassungsgeschichte wurde. Großbritannien hat gerade noch rechtzeitig den „wind of change" erkannt und sich nicht gegen diesen Wandel gestellt, aber es gebührt ihm nicht allein der Lorbeer für eine welthistorische Leistung, die die afrikanischen Führungsgruppen ermöglichten. III. 2 Frankreich Zumindest auf theoretischer Ebene herrschte in der Zielsetzung gegenüber den Kolonien in Frankreich vom 19. Jahrhundert bis nach dem II. Weltkrieg eine Spannung zwischen den Prinzipien „Assimilation" und „Assoziation". Bereits das bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts wieder weitgehend zerstörte erste französische Kolonialreich war neben dem „pacte colonial", d. h. der absoluten Unterordnung der Kolonien unter die ökonomischen Interessen der Metropole, auf das Axiom gegründet, die Kolonien bildeten einen Teil Frankreichs und seien daher dessen Gesetzgebung und straffem administrativen Zentralismus unterworfen. Der bereits früh praktizierte Grundsatz, mit der Taufe würden die Eingeborenen zu „zivilisierten" 78
F. Ansprenger
(Anm. 20), S. 132.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
59
und mithin den Franzosen gleichgestellten Menschen, wurde in der Aufklärung modifiziert und säkularisiert in dem Gedanken, alle Menschen seien vernunftbegabt und potentiell gleich und bedürften zur Aktualisierung ihrer Möglichkeiten allenfalls der entsprechenden Anleitung. Im 19. Jahrhundert mit der zivilisatorischen Mission Frankreichs verbunden, bildete die Vorstellung, über einen gewissen Erziehungsprozeß ließen sich alle Bewohner der von Frankreich beherrschten Gebiete zu Franzosen machen, also assimilieren, einen wesentlichen Bestandteil der Rechtfertigungsideologie für den Aufbau des zweiten französischen Kolonialreiches. Verfassungsrechtlich relevant wurde dieser Gedanke erstmals in Art. 6 der Verfassung von 1795, nach dem alle französischen Kolonien einen integralen Bestandteil der Republik bildeten und denselben Verfassungsgesetzen unterworfen waren79. Die institutionellen Konsequenzen dieses Prinzips — u. a. Vertretung der überseeischen Gebiete in den Französischen Nationalversammlungen ab 1789 — wirkten auch nach der Aufhebung der Verfassung weiter. Bereits in den Anfangs) ahren der Restauration setzte unter den Kolonisten der damaligen französischen Überseegebiete die Forderung nach Wiedergewährung politischer Rechte ein, insbesondere nach Partizipation an territorialen und metropolitanen Institutionen. Ein Gesetz vom 24. April 1833 gab daraufhin allen frei geborenen Personen bzw. solchen, die legal ihre Freiheit erworben hatten — das von Napoleon 1802 wieder rückgängig gemachte Verbot der Sklaverei wurde, z. T. gegen den heftigen Widerstand der Colons, erst 1848 endgültig durchgesetzt —, in den französischen Kolonien zivile und politische Rechte. Erst mit der Revolution von 1848 entfaltete sich der Assimilationsgedanke auch auf institutioneller Ebene wieder voll. Selbst unter dem Zweiten Empire, das 1852 die 1848 wieder hergestellte Vertretung der „alten" Kolonien in der Französischen Nationalversammlung erneut zurücknahm, blieben einige Prinzipien wie die direkten Kompetenzen des Mutterlandes im Bereich der Gesetzgebung, der lokalen Verwaltung, des Pressewesens u. a. intakt. Ihre eigendiche Bedeutung gewann die Assimilationstheorie jedoch in den ersten Jahren der Dritten Republik, als der inzwischen weit verbreitete, z. T. bewußt an der „gemeinsamen römischen" Tradition anknüpfende kulturmissionarische Gedanke der civilisation française und die einsetzende Eroberung des „zweiten" französischen Kolonialreiches dem Konzept der Assi79
Vorausgegangen waren freilich die erst durch die Sklavenaufstände in der Karibik erzwungene Abschaffung der Sklaverei sowie die Anarchie nach Einführung der Selbstverwaltung in einigen überseeischen Gebieten, vgl. H. Deschamps: Méthodes et doctrines coloniales de la France, Paris 1953, S. 84ff.
60
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
milation eine neue politische Relevanz verliehen80. Überzeugteste Verfechter der Assimilation sowohl unter zivilisatorischen wie politisch-zentralisierenden Aspekten waren Vertreter der französischen Linken, zu Beginn der III. Republik besonders der Republikaner, die u. a. die Repräsentation der „alten" Überseegebiete in den metropolitanen Institutionen nun für immer durchsetzten. In Frage gestellt wurde das Prinzip der Assimilation auf theoretischer Ebene mit der Ausbildung der Evolutionstheorie gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Sozio-kulturelle, ökonomische und politische Differenzierungen wurden teilweise auf einen Sozialdarwinismus reduziert und die Unvereinbarkeit bestimmter höherer mit niedrigeren Rassen propagiert, die nie die Stufe der französischen Zivilisation würden erreichen können und deshalb in ihrem sozialen und kulturellen Kontext belassen werden sollten. Eingeflossen sind diese Gedankengänge in die von starkem technischen Fortschrittsglauben getragenen Werke französischer Kolonialtheoretiker nach 1871. 1874 postulierte Leroy-Beaulieu81: da Frankreich kein Emigrationsland sei, müsse die „moderne" Kolonisation im Gegensatz zur „klassischen" (Auswanderung) darin bestehen, in die rückständigen Gebiete Kapital und Techniker zu exportieren. Durch die so ermöglichte volle Ausnutzung der natürlichen Ressourcen solle der kolonisierten Bevölkerung geholfen werden, sich allmählich dem zivilisatorischen Fortschritt anzunähern. Auf staatsrechtlicher Ebene sollte bei diesem paternalistischen Konzept82, nach dem die überlegene Rasse die unterlegene lenkt und anleitet, die Annexion durch ein Protektorat abgelöst werden. Als mögliche Vorbilder für eine Umsetzung der Verbindung zwischen französischen Behörden und Repräsentanten der autochthonen Eliten wurden die niederländische Eingeborenenpolitik und die britische indirect rule studiert83. Deutlicher als bei Leroy-Beaulieu mischte sich bei Jules Harmand, der die „Assoziationstheorie" am klarsten ausformulierte84, imperiales Herrschaftsstreben mit kultureller Hybris, die eine umfassende soziale, kulturelle, ökonomische und politische Emanzipation der Bevölkerung der kontrollierten Gebiete allenfalls in sehr ferner Zukunft in Erwägung zog. Das primäre Interesse der französischen Republik sollte immer einBelege f ü r die Reflexionen über die „Psyche des französischen V o l k e s " und seine kulturmissionarische Sendung bei R. F. Betts: Assimilation and Association in French Colonial Theory, 1 8 9 0 — 1 9 1 4 , N e w Y o r k 1 9 6 1 , S. 2 4 f f . 81 P. Leroy-Beaulieu: D e la colonisation chez les peuples modernes, Paris 1 8 7 4 . 8 2 In der englischen Literatur w i r d das Begriffspaar „Assimilation-Assoziation" meist durch „Identität" u n d „Paternalismus" ersetzt; vgl. Th. Hodgkin: Nationalism in Colonial Africa, L o n d o n 1956, S. 35. 83 Siehe R. F. Betts ( A n m . 80), S. 3 6 ff. 84/. Harmand: Domination et colonisation, Paris 1 9 1 0 .
80
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
61
deutiger in der ökonomischen Nutzung der Kolonien liegen. So postulierte Albert Sarrauts Konzept einer mise en valeur der Kolonien85 eine „Arbeitsteilung" zwischen den Überseegebieten und der Metropole, wobei jede Kolonie im Rahmen einer Planwirtschaft auf bestimmte Produktionen spezialisiert werden sollte. Die Kolonialdoktrinen stimulierten zwar die öffentliche Meinung in Frankreich, doch dienten bei der Umsetzung in die Praxis allenfalls ihre Zielsetzungen als vage Orientierungspunkte. Die offizielle französische Kolonialpolitik schwankte lange Zeit zwischen den Konzeptionen von „Assimilation" und „Assoziation". In der konkreten Anwendung in den Überseegebieten war indessen kaum eine echte Unterscheidung zwischen beiden Theorien möglich, da sich die französische KolonialVerwaltung auch dort, wo formal ein Protektoratsverhältnis bestand, unter allen möglichen Vorwänden in interne Angelegenheiten einmischte. Z. T. flagrantes Brechen geschlossener „Protektorats-" und „Freundschaftsverträge" und ihre Umwandlung in direkte koloniale Unterwerfung wurden dadurch erleichtert, daß die französische Regierung bzw. ihr Verwaltungsapparat in kolonialen Angelegenheiten fast ohne jede Kontrolle waren. Das Senatus-Consult von 1854 unterstellte die Überseegebiete bis auf die „alten" Kolonien (Réunion, Antillen und Französisch Guayana) einer „Spezialgesetzgebung", d. h. es bedurfte eines eigenen Beschlusses des Parlaments, wenn Gesetze auch auf die Kolonien Anwendung finden sollten. Bei der Indifferenz bzw. sogar Antipathie einer breiten Öffentlichkeit gegenüber „kolonialen Abenteuern", die seit den mißglückten Unternehmungen Napoleons III. in Mexiko und auf der Krim diskreditiert waren, mischte sich das Parlament kaum in Fragen der Verwaltung und Ausbeutung der Kolonien ein, sondern beschränkte sich im wesentlichen darauf sicherzustellen, daß die Ende des 19. Jahrhunderts vielfach als ökonomisches Risiko betrachtete Unterwerfung neuer Kolonien den französischen Haushalt nicht belastete. Das Finanzgesetz von 1900 legte fest, daß die Kolonien ihre eigenen Ausgaben bis auf die für das Militär selbst aufbringen mußten. Die koloniale Expansion Frankreichs war so einer Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit weitgehend entzogen. Auch die juristischen Maximen für die administrative Penetration der neu eroberten Gebiete wurden bereits zu Beginn der III. Republik durch einfaches ministerielles Dekret formuliert. Die Bevölkerung der französischen Kolonien wurde in zwei Klassen eingeteilt: Französische citoyens mit allen zivilen und — im Rahmen der für die Kolonien gültigen Gesetzgebung — politischen Rechten auf der einen und 85
A. Sarraut: La mise en valeur des colonies françaises, Paris 1923.
62
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
französische sujets auf der anderen Seite, denen politische Rechte innerhalb des Institutionensystems der Französischen Republik zunächst gänzlich versagt waren und die im Zivilrecht weiterhin ihrer traditionellen Gesetzgebung unterstanden. Zugleich waren die sujets zu Zwangsarbeit verpflichtet, bei der sich drei große Gruppen unterscheiden lassen: 1) „Travail public obligatoire", d. h. bereits in der Präkolonialzeit übliche, zum tradierten Alltag gehörende Arbeiten für die Dorfgemeinschaft, 2) bestimmte Arbeitsleistungen (prestations), die z. B. beim Straßenbau erbracht werden mußten, von denen man sich aber durch entsprechende Geldzahlungen befreien konnte, und 3) Militärdienst im „deuxième contigent". Da nur ein geringer Teil der zum Militär Eingezogenen Militärdienst im eigentlichen Sinne ableistete („premier contigent"), wurden die übrigen zu öffentlichen Bauvorhaben herangezogen 86 . Das Eintreiben von Steuern, die Erbringung der Arbeitsleistungen u. a. konnte die Verwaltung aufgrund des 1877 eingeführten indigénat durchsetzen, einer besonderen Strafgesetzgebung, die der Administration erlaubte, gegen sujets ohne Gerichtsverfahren sofort Strafen bis zu 15 Tagen Haft in Westafrika, in Kamerun sogar bis zu 10 Jahren, Geldbußen bis 100 F u. a. zu verhängen 87 . Da auch das unerlaubte Überwechseln von einer Kolonie in eine andere, die Teilnahme an Versammlungen von mehr als 24 Personen u. ä. mit entsprechenden Sanktionen belegt werden konnte, wurde das indigénat zum wichtigsten juristischen Instrument der Disziplinierung der autochthonen Bevölkerung im Afrika südlich der Sahara. Die institutionelle Absicherung der französischen Dominanz in den annektierten Territorien wurde zwar mehrfach modifiziert, war in ihren wichtigsten Prinzipien aber seit Anfang des 20. Jahrhunderts festgelegt. Um das riesige Gebiet, das mit über 4 Millionen km 2 mehr als achtmal so groß wie Frankreich war, bei dem geringen Verwaltungspersonal und den mangelhaften Kommunikationsmöglichkeiten unter möglichst straffer Kontrolle der metropolitanen Administration zu halten und eine unter den gegebenen Umständen möglichst einheitliche Entwicklung zu ermöglichen, wurden 1895 die zunächst vier, bis 1922 dann acht Kolonien in der „Föderation" Französisch Westafrika (AOF = Afrique Occidentale Française) zusammengefaßt, die 1904 ihre endgültige Gestalt erhielt. Analog wurde 1910 Französisch Äquatorialafrika (AEF = Afrique Equatoriale Française) als Zusammenschluß der Territorien östlich von Niger bis zum Kon86
87
Vgl. R. Schachter-Morgenthau-. Political Parties in French Speaking West Africa, Oxford 1964, 3. Aufl. 1970, S. If. Ebenda, S. 5f.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
63
g088 gegründet, womit nicht zuletzt die Macht der Konzessionsgesellschaften in AEF gemindert werden sollte, deren brutale Raubwirtschaft zu den schlimmsten Auswüchsen des Kolonialismus zählte89. AOF wie AEF entsprachen in ihrer Yerwaltungsstruktur dem rigiden Zentralismus der Metropole. Geleitet wurden beide „Föderationen" von einem Generalgouverneur, der direkt dem Kolonialminister unterstellt war und seinerseits die Spitze einer administrativen Hierarchie darstellte, die in den einzelnen Kolonien vom Gouverneur über den französischen Kreiskommandanten bis hin zur autochthonen Verwaltung ( C b e f f e r i e traditionnelle) reichte. Die Beamten jeder Verwaltungsebene konnten nur mit der ihnen jeweils direkt übergeordneten Instanz korrespondieren. Alleiniger Inhaber der legislativen, exekutiven und militärischen Kompetenzen der französischen Republik in AOF bzw. AEF war der Generalgouverneur, der diese Vollmachten an die Gouverneure der einzelnen Kolonien delegierte. Die exekutive Omnipotenz des Generalgouverneurs wurde kaum eingeschränkt durch einen in AOF 1904, in AEF 1910 gebildeten Conseil de gouvernement, der aus rund 20 Personen bestand90, nur einmal im Jahr zusammentrat und auf rein konsultative Kompetenzen beschränkt war. In diesem Gremium beschloß der Generalgouverneur unter anderem den Haushalt von AOF (bzw. AEF) und die Budgets der einzelnen Territorien. Analog zum Conseil de gouvernement wurde in jeder Kolonie ein Conseil d'administration mit ebenfalls rein beratender Kompetenz gebildet, der vom betreffenden Gouverneur in 20 einzeln aufgezählten Fällen (darunter als wichtigsten die Beratung des Budgets und der Steuergesetzgebung) zu konsultieren war. Der Verwaltungsrat setzte sich nach der Reform von 1920 neben Beamten (Staatsanwalt, Militärkommandant, Chef der Verwaltungsabteilungen u. a.) aus dem Präsidenten der Handelskammer des Hauptorts der Kolonie und je zwei ernannten französischen citoyens und zwei sujets, die fließend Französisch sprechen mußten, zusammen, wobei ab 1925 in Dahomey, der Elfenbeinküste, dem Französischen Sudan und Guinea je drei sujets von einem höchst restriktiv bestellten Wahlkörper gewählt wurden91. Die zwei bzw. drei Vertreter der Französisch Kongo, Gabun, Oubangui-Chari und Tschad; AOF umfaßte Senegal, Mauretanien, Französisch Sudan, Obervolta, Elfenbeinküste, Niger, Guinea und Dahomey. 89 Vgl. C. Coquery- Vidrovitch : Le Congo français au temps des grandes compagnies concessionnaires 1898—1930, Paris 1972. 90 Zum größten Teil beamtete Mitglieder, so die Gouverneure der betreffenden Kolonien, die Chefs der einzelnen Verwaltungszweige, der Generalstaatsanwalt, der Kommandeur der Truppen u. a. 91 Sujets, die bestimmten französischen Beamtengruppen angehörten; Chefs de province, de canton oder de groupements de cantons; patentierte Kaufleute, die die 88
64
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
citoyens wurden in denselben Kolonien ab 1925 von der Landwirtschafts-, Industrie- und/oder Handelskammer benannt. Der Conseil d'administration verfügte damit zwar über eine breitere „repräsentative" Basis, aber über geringere Kompetenzen als der Legislative Council in den britischen Kolonien92. Eine mächtige pressure group, die z. T. der Verwaltung ihren Willen aufoktroyieren konnte, bildeten die genannten Organisationen der Kolonialwirtschaft. In metropolitanen Institutionen waren die afrikanischen Territorien äußerst schwach repräsentiert. Während Algerien, Réunion und die vier senegalesischen „Gemeinden" seit Beginn der III. Republik im französischen Parlament vertreten waren, beschränkte sich die Partizipationsmöglichkeit der französischen citoyens in den anderen Territorien auf die Wahl weniger Vertreter in den Conseil supérieur des colonies. Das 1883 geschaffene und ursprünglich nur aus Beamten zusammengesetzte Gremium (ab 1937: Conseil supérieur de la France d'Outre-Mer) setzte sich nach den Reformen von 1920, 1927 und 1929 aus drei Sektionen zusammen: dem Haut conseil colonial, der über die allgemeine Kolonialpolitik zu beraten hatte; dem aus Vertretern der regionalen Wirtschaftsgruppen gebildeten und mit den Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Metropole und den Kolonien befaßten Conseil économique des colonies sowie dem Conseil de législation coloniale. Alle drei Gremien hatten rein konsultative Kompetenzen, und nur die letzten beiden mußten jährlich mindestens einmal zusammentreten. Dem Haut conseil colonial gehörten neben dem amtierenden Kolonialminister und seinen Vorgängern, den früheren Generalgouverneuren, den Präsidenten der regionalen Wirtschaftsgruppierungen und einer Anzahl hoher Beamter auch 14 auf vier Jahre nach allgemeinem Wahlrecht von den Franzosen der nicht im Parlament repräsentierten Kolonien gewählte Abgeordnete sowie zehn vom Kolonialminister ernannte „Eingeborene" an93. Auch auf kommunaler Ebene verfügten die schwarzafrikanischen Kolonien nur über minimale Rechte. Außer in den „vier Gemeinden" Senegals erhielt bis zum Zweiten Weltkrieg keine Stadt in AOF oder AEF volles französisches Kolo-
82 93
Bedingungen zur Wahl der Handelskammer erfüllten; Eigentümer von städtischen Grundstücken, deren Wert auf mindestens 5000 F geschätzt wurde; ländliche Grundeigentümer, deren Besitz eine vom Gouverneur festzulegende Größe überstieg; Angehörige der Ehrenlegion oder Inhaber einer Militärmedaille; v o m Gouverneur benannte sujets, die „der französischen Sache besondere Dienste geleistet" hatten; ferner war ein Alter von mindestens 25 Jahren und mindestens einjährige Wohnsitznahme in der betreffenden Kolonie erforderlich. Vgl. L. G. Cowan : Local Government in West Africa, New Y o r k 1958, S. 52. Vgl. H. Blet : Histoire de la colonisation française, Bd. 3 : France d'Outre-Mer. L'Oeuvre coloniale de la troisième République, Grenoble 1950, S. 52.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
65
nialrecht, was bedeutete, daß in den Städten, die überhaupt zur commune mixte erhoben wurden, sowohl Bürgermeister als auch Gemeinderat ernannt wurden. Die afrikanische Bevölkerung, die außer den drei von einem eng begrenzten Wahlkörper in einigen Kolonien von AOF gewählten sujets im Verwaltungsrat des betreffenden Territoriums und außer den völlig bedeutungslosen Conseils de notables indigènes über keinerlei „repräsentative" Institutionen verfügte, kam mit der französischen Verwaltung zunächst auf Kreisebene in Kontakt. Die Cercles (in einigen Gegenden auch Province oder Département) bzw. ihre Unterteilungen, die Subdivisions, waren diejenigen territorialen Einheiten, auf der die von der Verwaltungsspitze kommenden Direktiven in die Praxis umzusetzen waren. Aufgrund der großen Entfernungen und der schlechten Kommunikationswege blieb dem (zivilen) französischen Kreis- bzw. Subdivisionskommandanten oft nicht nur die praktische Umsetzung von Anweisungen selbst überlassen; er hatte auf seiner Ebene auch Initiativen im Bereich des Gesundheitswesens, des Straßenbaus, der Landwirtschaft etc. zu ergreifen und wurde für die afrikanische Bevölkerung zum eigentlichen Repräsentanten der Kolonialmacht. a) Die Cbefferie traditionnelle Wichtigstes Bindeglied zwischen der afrikanischen Bevölkerung und der französischen Kolonialverwaltung wurden die afrikanischen Häuptlinge. Der im Französischen für diese Gruppe gebräuchliche Terminus Chefferie ist inhaltlich nicht eindeutig definiert und kann sowohl einen präkolonialen Typ politischer Organisation mit einem erblichen Häuptling an der Spitze als auch die von der französischen Kolonialmacht z. T. geschaffene, mit ihr verbundene und von ihr abhängige Institution einer autochthonen Verwaltung bezeichnen. Am praktikabelsten scheint die von Lombard vorgeschlagene Begriffsbestimmung, nach der unter Chefferie eine durch die Verwaltungseinheit formierte soziale Gruppierung gefaßt wird, an deren Spitze ein autochthoner „Chef" als Angehöriger (Agent) der Verwaltung gestellt ist94. Die Position der Chefferie innerhalb des gesamten Verwaltungssystems war mehreren pragmatischen Änderungen unterworfen, die sich nur z. T. auf der Linie „Assimilation-Assoziation" bewegten. Juristisch war noch in der Zeit nach dem II. Weltkrieg umstritten, ob die Chefs Privatpersonen seien, deren Autorität sich die französische Verwaltung zunutze mache, oder ob sie durch die Ernennung durch die französische Verwaltung und die Unterstel94/. 5
Lombard (Anm. II, 11), S. 16, Anm. 5. Wahl der Parlamente: Afrika
66
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
lung unter deren Sanktionen nicht zu Angehörigen der Verwaltung geworden seien und damit ihren dem traditionellen autochthonen Recht verhafteten Status transzendierten 95 . Nach einer Konsolidierungsphase der französischen Herrschaft in Westafrika führte Generalgouverneur William Ponty 1909 auch in AOF die rund zehn Jahre zuvor von Galliéni in Madagaskar erstmals angewandte politique des races ein, nach der auf lokaler Ebene jeweils autochthone, der betreffenden Ethnie angehörende Chefs einzusetzen waren. Die Franzosen sollten dabei darauf achten, daß Machtmißbrauch seitens der Chefferie verhindert wurde und daß bei den Ethnien, die vor der Ankunft der Franzosen von anderen Stämmen unterworfen waren, die ursprünglichen Häuptlinge wieder ihre Position zurückerhielten. Motiviert waren diese Regelungen durch eine republikanische, antimonarchische Gesinnung der französischen Kolonialpolitiker und durch das Bestreben der Kolonialmacht, die autochthonen Institutionen zu „demokratisieren" und in möglichst direkten Kontakt mit der Bevölkerung zu treten. Die geringe Zahl des französischen Verwaltungspersonals sowie die harten, im I. Weltkrieg unerträglich anschwellenden von der autochthonen Bevölkerung zu erbringenden Leistungen in Arbeit, Naturalien und Geld führten in vielen Gegenden zu einem Zusammenbruch der Kolonialverwaltung und offener Rebellion, was z. T. neue militärische „Pazifizierung" durch die Franzosen erforderlich machte. Die Circulaire des AOF-Generalgouverneurs General Van Vollenhoven vom 15. 8. 1917 gab daher die für die Franzosen in Madagaskar zwar überwiegend positive, in Afrika dagegen weithin katastrophale politique des races auf und forderte die Restituierung einer effizienten autochthonen Chefferie, bei der gegebenenfalls wieder auf die vor der Ankunft der Franzosen bestehenden Ordnungen zurückzugreifen sei. Zugleich wurde jedoch betont, daß die Chefferie nur Hilfsinstrument der französischen Verwaltung, dieser klar untergeordnet und in jeder Hinsicht weisungsgebunden sei. Die in Van Vollenhovens Circulaire formulierten Prinzipien führten in den Territorien von AOF wie AEF zu einer weitgehenden Vereinheitlichung der Struktur der autochthonen Chefferie. Zur Schlüsselebene, auf der die Instruktionen der französischen Verwaltung für die Afrikaner in konkrete Politik umzusetzen waren, wurde der Kanton. Die Chefs de canton, auf Vorschlag des betreffenden Kreiskommandanten vom Gouverneur ernannt, waren aus einem Personenkreis zu rekrutieren, der von den traditional zu Häuptlings86
Vgl. die betreffenden Urteile des Conseil du contentieux administratif de l'A. O. F. •vom 1. 4. 1947, in: Penant, Jg. 1958, S. 154 und des Arrêté de la cour d'appel d'Abidjan vom 9. 2. 1953, in: RJP 11 (1957), S. 146.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
67
ämtern legitimierten Familien über alphabetisierte Notable bis zu Afrikanern reichte, die ihre Loyalität gegebenenfalls den Franzosen als anciens combattants oder im Verwaltungsdienst unter Beweis gestellt hatten. Aufgabe der Kantonschefs war es vor allem, die Anweisungen des Kreiskommandanten an die Dorfchefs weiterzugeben, die Rekrutierung junger Männer zur Musterung sicherzustellen, Standesamtsregister für Steuern und Arbeitsleistungen zu führen und die öffentliche Ordnung zu gewährleisten. Die Chefs de village bzw. in den Städten die Chefs de quartier verfügten über die Polizeigewalt, mußten Steuern einziehen, Verkehrswege instand halten, ansteckende Krankheiten melden und besaßen in gewissem Umfang Friedensgerichtsbarkeit. Ernannt wurden die Dorf- bzw. Quartierchefs vom Kreiskommandanten auf Vorschlag des Dorfrates oder der Familienchefs bzw. der commission de quartier, wobei die Absetzung durch den Kreiskommandanten — rein formal — ebenfalls nur nach Rücksprache mit dem betreffenden Gremium erfolgen konnte. Während die Dorfchefs einen Teil der Steuern für sich einbehalten durften, erhielten die Chefs de canton und de quartier einen Sold von der Kolonialmacht. Chefs supérieurs bzw. Chefs de province wurden die Führer mächtiger Reiche der Präkolonialzeit, doch wurden ihre Kompetenzen sehr weit beschnitten, so daß ihre Bedeutung selten die eines Kantonschefs überstieg. Bildete die Chefferie somit die entscheidende Kommunikationsebene zwischen der französischen Kolonialverwaltung und der autochthonen Bevölkerung, so war ihre Position innerhalb des sich ausbildenden Kolonialsystems aufgrund der sich ständig verstärkenden sozioökonomischen und politischen Transformationsprozesse zugleich am gefährdetsten. Gegenüber der eigenen Ethnie vielfach traditional legitimiert und daher für die Franzosen „repräsentativ" für die betreffende Gruppe, mußten die Häuptlinge zugleich ihre Loyalität gegenüber der Kolonialverwaltung ständig unter Beweis stellen, wollten sie nicht riskieren, von den Franzosen abgesetzt zu werden —• eine Möglichkeit, von der häufig Gebrauch gemacht wurde. Ediche Chefs zogen es daher zur Wahrung ihrer traditionalen Legitimität lange Zeit vor, der Kolonialverwaltung gegenüber „Strohmänner" als Chefs auszugeben 96 . Ihre Stellung zwischen dem traditionalen und dem kolonialen politischen System setzte sie ständig der Gefahr aus, durch zu starkes Engagement für die eine Seite ihre „Repräsentativität" für die andere zu verlieren. Dies betraf insbesondere diejenigen Häuptlinge, deren präkoloniale Legitimation primär charismatisch war und auf einer auf Gegenseitigkeit beruhenden „Überein96
Vgl. R. Delavignette: 5*
Le service africain, Paris 1946.
68
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
kunft" basierte: Die politische Klientel war dem Chef so lange ergeben, als er aufgrund von Glück oder magischen Kräften Schutz und Vorteile gewähren konnte97. Die zunehmende Ungleichgewichtigkeit der „Repräsentationsfunktion" und die fast völlig einseitige Funktionsbestimmung des Chefs als Teil der kolonialen Administration untergruben die traditional legitimierte Autorität der Chefferie aber auch bei den Ethnien, bei denen sie zuvor diffuse Kompetenzen im politischen, sozialen, religiösen und ökonomischen Bereich ausgeübt und damit ihre meist erbliche Herrschaft — trotz vielfach bestehender Kontrollorgane — auch sakral legitimiert hatten. Die Monopolisierung der politischen Kompetenzen bei der Kolonialmacht und der daraus resultierende Verlust autogener Interventions- und Zwangsmittel der Häuptlinge tangierten zugleich die religiösen Fundamente der Häuptlingsautorität und entzogen ihr damit die wichtigste Basis (zu den sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Veränderungen vgl. Kap. IV). b) Institutionelle Reformen von 1945¡6 Die Teilnahme von rund 100000 Soldaten aus Schwarzafrika in einem für die Existenz Frankreichs entscheidenden Krieg, die der Bevölkerung der Kolonien jahrelang zugemuteten ökonomischen Belastungen und das durch die Kriegsereignisse geschärfte und auf größere Emanzipation drängende politische Bewußtsein der autochthonen Eliten machten eine Reorganisation des französischen Kolonialreiches in Afrika unumgänglich. Zur Lösung der — in der Terminologie des Krisensyndroms der amerikanischen Modernisierungstheorien gesprochen — Légitimations- und Partizipationskrise des sozioökonomischen und politischen Systems der französischen Herrschaft in Afrika befürwortete bereits die „Konferenz von Brazzaville" Anfang 1944 eine Wiederbelebung der Prinzipien der Assimilationstheorie. Die Konferenz, der nur die Verwaltungsspitzen der Kolonien unter Vorsitz des Kolonialkommissars der Regierung des „Freien Frankreich" (René Pleven) angehörten, sollte aus der Praxis der kolonialen Administration Vorschläge für die zu erwartende verfassungspolitische Neuordnung nach Kriegsende erarbeiten, legte aber faktisch schon wesentliche Grundentscheidungen fest. So wurde von vornherein eine auf Unabhängigkeit der afrikanischen Territorien zielende Entwicklung ausgeschlossen. Das Kolonialreich sollte zwar zu einer „Fédération française" umgestaltet und die Metropole einerseits sowie die Gesamtheit der Überseegebiete andererseits einander — etwa auf parlamentarischer Ebene — klar gegenübergestellt werden. 97
V g l . / . Lombard (Anm. II, 11), S. 1 8 f . und S. 65.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
69
Eine echte Abgabe von Kompetenzen der Metropole an die Kolonien war damit jedoch nicht verbunden 9 8 . Implizit war mit diesen Vorschlägen das während des II. Weltkriegs vom damaligen Generalgouverneur von A E F , Félix Eboué, formulierte Konzept, die autochthonen (präkolonialen) politischen Institutionen wieder zu beleben", abgetan, und die Französischen Nationalversammlungen verhalfen 1945/46 der in Brazzaville eingeleiteten Renaissance des Assimilationsgedankens auf individueller wie institutioneller Ebene zum endgültigen Durchbruch. Bereits die provisorische Regierung hatte mit den Ordonnanzen vom 17. bis 22. 8. 1945 verfügt, daß sämtliche französischen Überseegebiete in der Nationalversammlung vertreten sein sollten. Dieses Prinzip wurde von nun an nicht mehr in Frage gestellt. Den Schlußpunkt dieser Entwicklung setzte die sogenannte Loi Lamine Guèje v o m 7. 5. 1946, die allen Einwohnern der Überseegebiete die volle französische Staatsbürgerschaft zuerkannte („Caracalla-Konstitution"), die genaue Ausführung dieser Bestimmung freilich eigenen Gesetzen überließ. Immerhin wurden v o n 1946 an durch entsprechende Gesetze und Dekrete politische Rechte wie Presse-, Organisations- und Versammlungsfreiheit, die im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur für die vier „alten" Kolonien (die neuen Ûbersee-Départements und teilweise die Küstenstädte Senegals) gegolten hatten, auf alle Überseegebiete außer Indochina ausgedehnt. Zur Beschäftigung im öffentlichen Dienst mußten nun alle in den französischen Überseegebieten ansässigen Personen (nicht nur metropolitane Franzosen) zugelassen werden 100 . Die Verleihung der französischen Staatsbürgerschaft implizierte nicht die Übernahme des französischen Zivilrechts; vielmehr behielten die Autochthonen insbesondere in Fragen des Familienrechts das statut personnel coutumier. Die somit primär als Gleichstellung im öffentlichrechtlichen Bereich zu wertende französische Staatsbürgerschaft wurde für die Bewohner der Überseegebiete politisch jedoch dadurch weitgehend entwertet, daß auch in der IV. Republik die Zweiteilung des Wahlkörpers beibehalten und der autochthonen Bevölkerung das allgemeine Wahlrecht bis 1956 verweigert wurde. Bereits die Provisorische Regierung hatte für die Wahl zur Ersten Verfassung98
9S 100
f
Vgl. die Analyse der Vorschläge der Konferenz von Brazzaville bei H. K. Weinbuch: Entkolonisierung und föderales Prinzip im Spiegel der Französischen Gemeinschaft, Berlin 1968, S. 78ff. F. Eboué-. La nouvelle politique indigène pour l'A. E. F., Algier 1945. Zur Ausdehnung der Staatsbürgerschaft und den Anwendungsgesetzen siehe F. Borella-. L'évolution politique et juridique de l'Union Française depuis 1946, Paris 1958, S. 174ff.
70
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus Ziemer)
gebenden Nationalversammlung im Herbst 1945 die Wählerschaft in den Überseegebieten in französische citoyens einerseits und in bestimmte, zahlenmäßig zunächst sehr kleine Gruppen Autochthoner 1 0 1 andererseits eingeteilt, die je Wahlkreis meist je einen Abgeordneten wählten. Versuche der afrikanischen Abgeordneten, dieses als Diskriminierung empfundene Zwei-Klassen-Wahlrecht zu beseitigen, scheiterten — abgesehen von den Bestimmungen zur Wahl der Abgeordneten von A O F in die Französische Nationalversammlung — 1946 am Widerstand der Koloniallobby. Selbst die maßvollen Reformen nach dem II. Weltkrieg, neben der Gewährung der französischen Staatsbürgerschaft vor allem die formelle Aufhebung der Zwangsarbeit, veranlaßte die sich in den Etats Généraux de la Colonisation Française organisierenden Vertreter der französischen Kolonialinteressen (colons, Repräsentanten der Handelshäuser u. a.) zu scharfen Protesten. Sie mobilisierten starke Kräfte, um in der Zweiten Verfassunggebenden Nationalversammlung weitere Reformen zu verhindern bzw. die seit Kriegsende erlassenen rückgängig zu machen 102 . Erst das „Rahmengesetz" von 1956 (s. u.) hob das Zwei-KlassenWahlrecht auf. Der Wahlkörper wurde bis zu diesem Zeitpunkt kontinuierlich erweitert 103 , doch dominierten unter den afrikanischen Wahlberechtigten bis 1951 fast überall die städtischen „modernen Eliten". Erst mit der ebenfalls durch die Loi Cadre verfügten Einfüh101
102 103
Wahlberechtigt waren in AOF, AEF, Kamerun, Togo und der Französischen Somaliküste 12 Gruppen französischer sujets bzw. „administrés" beiderlei Geschlechts: 1. Notables évolués, für die Kriterien je Territorium durch Règlement definiert wurden; 2. ehemalige und augenblickliche Mitglieder von „lokalen Versammlungen" (Conseil de gouvernement, conseil tTadministration, conseil municipal, Handels-, Industrie- und Landwirtschaftskammer); 3. ehemalige und augenblickliche Mitglieder des Vorstandes von Gewerkschaften und Kooperativen bzw. eingeborener Genossenschaften; 4. Mitglieder der Ehrenlegion und Inhaber militärischer Verdienstmedaillen ; 5. pensionierte und aktive Verwaltungsbeamte; 6. Inhaber von Bildungszertifikaten (vom Elementarschulabschluß aufwärts); 7. ehemalige und aktive Mitglieder eingeborener Gerichte; 8. „Ministres des cultes"; 9. ehemalige Offiziere und Unteroffiziere ; 10. Teilnehmer am I. oder II. Weltkrieg; 11. zur Handelskammer aktiv wahlberechtigte Kaufleute; 12. Angehörige der Chefferie. Vgl. hierzu F. Ansprenger : Politik im Schwarzen Afrika, Opladen/Köln 1961, S. 69 ff. Die Liste der Wahlberechtigten wurde für die Nationalversammlung der IV. Republik durch das Gesetz 46—2152 vom 5. 10. 1946 erweitert um Personen, die mindestens zwei Monate in einem Staatsbetrieb arbeiteten bzw. eine Arbeitskarte besaßen; alle Inhaber eines Handels-, Handwerks-, Pflanzeroder Industriepatents; bestimmte Kategorien von Immobilienbesitzern; Inhaber eines Jagd- oder Führerscheins. Gesetz 47—1606 vom 27. 8. 1947 bezog alle Personen in das Wahlrecht ein, die Arabisch lesen konnten, Gesetz 51—• 586 vom 23. 5. 1951 dehnte das Wahlrecht u. a. auf Haushaltsvorstände und Mütter von mindestens zwei Kindern aus.
Theorien und Praxis von Kolonisation und Dekolonisation
71
rung des allgemeinen Wahlrechts wurde der Widerspruch zu Art. 82 der Verfassung der IV. Republik beseitigt, nach dem die Beibehaltung des statut personnel im zivilrechtlichen Bereich in keinem Falle staatsbürgerliche Rechte und Freiheiten einschränken dürfe. Die Repräsentation der überseeischen Gebiete in parlamentarischen Versammlungen der Metropole blieb trotz der während der IV. Republik vorgenommenen leichten Erhöhung zahlenmäßig weit unter dem Quantum zurück, das sich bei konsequenter Anwendung des Assimilationsprinzips proportional zur Bevölkerungsstärke hätte ergeben müssen. Die Haltung breitester Kreise der französischen Öffentlichkeit war in dieser Frage durch die Warnung Edouard Herriots gekennzeichnet, Frankreich drohe eine „Kolonie seiner Kolonien" zu werden104. So kamen 1955 nur 83 der 627 Abgeordneten der Nationalversammlung (13,2 %) und 74 der 320 Senatoren (23,1 %) aus Übersee (einschließlich Algeriens und der Ûbersee-Départements). Bei einer Bevölkerungszahl von 43 Mio. in der Metropole, 35 Mio. in den Übersee-Territorien und -Départements sowie 8 Mio. in Algerien entfiel in der Metropole ein Abgeordneter in der Nationalversammlung auf 79000, in Übersee dagegen auf ca. 520000 Einwohner. Bei Anwendung eines einheitlichen Proporzes hätten Algerien über 100 und den übrigen Gebieten in Übersee über 400 Abgeordnete zustehen müssen105. Deutete die Repräsentation der Bevölkerung der überseeischen Territorien in den metropolitanen Institutionen auf eine wenn auch „gebremste" Assimilation, so waren in der Konstruktion des französischen Kolonialreiches nach der Verfassung der IV. Republik auch gegenläufige Tendenzen enthalten. Nach der Präambel setzte sich die Union Française aus „Nationen und Völkern" zusammen, was sogar eine Abkehr vom vollständigen Assimilationskonzept zu implizieren schien und den Weg in Richtung auf eine Dekolonisation zumindest nicht verstellte. Die der Union Française zugedachte, in der Praxis freilich nie ausgefüllte Funktion bestand darin, die auf Unabhängigkeit zielenden Kräfte insbesondere in Indochina weiterhin in den französischen Staatsverband zu integrieren. So waren in der Französischen Union Gebiete mit unterschiedlichem Status zusammengefaßt. Neben der Metropole und den Ûbersee-Départements, in denen die Assimilation vollendet war, die Übersee-Territorien, „assoziierte Territorien" (die unter UN-Mandat stehenden französischen Gebiete von Togo und Kamerun), „assoziierte Staaten" (die französischen 104 105
So Herriot in der Sitzung der Zweiten Verfassunggebenden Nationalversammlung vom 27. 8. 1946, JOANC Débats, S. 3334. Zahlenangaben nach F. Borella (Anm. 100), S. 188.
Einleitung (Franz Nuscheler/Klaus
72
.
u -O
PÜ
oo
t> Ov , t-H Vi •
.
a o W
. TH
d o
I O
"o W
n
U SN
w V 0
1
s .
. -5tl> CN ^ T-H » ' u o 0 ^
. CS .
CS IT) o\
Ü,
^
O £u G .0 '•w
z
u M u
3 : ui ;
>,
n
N
ih
a o w d
0 W
o
,
M T-H
es
lO
o m TH
VO Tt- CO CO VO CM
o CO
a a
$ LO
cs VO
r cs
CS 1 CO
^i r i
CS
1
\ o
o cs
CO cs
t-H N m - co r»
r CO
C CS S
i n
3 er _ ^ ö o .¡j W^ üC °K g
CS
o, « Q a G - ^ -1
, Vi 3 o O
6 .8
IH ( rt « PH C
Q. 60
«d
3 er =
S i> ! o 3 Pi >• CS ü J «o 0> I Q G
»,
.§ .8 tß »
.>3 n> 60'w
e
u
-o G U
T3 fl
„
VI
u : JS
—I . Ü ÖD'«
'S""
o
P « ¡2.
a
.2 u
s
ri VJ ON C/3
a u B - â
g - g
S
3
CO 00 \o >o
C\ a\ tco
so SO Cv
CO — I Ov
o
C\ VO
\£> v o
un r G\ C\
t— tj- *+j « c« o u OO S E su MU p p
** "s N ü « f U «L U C a5 S 8
s .8
T3 e « i-i
oo in vo C\ Cv
rm - —« .S a « «
y .52 :0 ë « Ü w
G — A
bo C 3 1-1 u E c
5S C/3 [L, H S
oo C/3
" < ja ¡3
424
Hanspeter
S es ^ T-< Ii")
rH m i-i t-H
t* co in 00 o COo COT-H
vo •t CM C in CO Oin oCv 00 -H V O— tcm t - vo CO CM TT-H
o vo
W
a C M in r-
W •d
^vo H in 00 VO in in ov"00 rO T-lvo o mV Tt-
rTIOV C O CM
C M ihCM O OV t-Vinvo00 vo T-H t~* co CMin
co nvow m in iV n rH - Q[C "o C in -5t^ rftH
co m VO co l-l
n(ONi^ in N IN IH O TH - co1-HcvCO
rcm - rV ,-HTH r-O VO O 00 vC co r - O VO vo COin CO
u ÖÖ — C-v *T H -1 T V CH vO t-h t-< CMCM
« .ä J3 OV s ^ 3 d o co
V OO O C v
in c\ . «h
HH^DO m ri- ^-m
M bo B -u Iu Pi U U 1) W Ü « es ° -3
C M C < O NO V O1 O V CM
in vo
vo
ov O v ov m
m cm oo cm
CM O 00O_v C C Tfv Noijfm
00 TjVC Tj-
•rH O __ OV cv co m oo r- vo--«!CM ov f- ov
CM CM
•w irj •81 •a-2
>2 ww
co r— r - o 00 OV co r~ in 00 o r - o Tt- 00 CM CM00 OV 00 o C TjT-« T-i T-i CO OC M CM 00
43 o •ä-ä *w u WW . vo cm cv ^iC MCM CM m m cm m vo r-Moo C C M VO OC CM M \o C CMCM
uM " e 60 3 to Xi -S ou rs u u uJJ -Q
a a c u > -8 8 -SP »o '3 «« tt ¡a« «o-a s „ -s-s^i 1-1 Hld So 00 SO Tt> 00 «">
cs CS SCO O os
CS 00 s-1 CS O o CS co co —¡>cn «HOOl C« 3_ Ä M71 ü CO _ 'gOvfl
u _ U
«J
e
| B 2 qj C3 ^
-3 -B „ o U i^i G „• 3
«
8
w
u bo 3) §
3
g =9 " ' S M *0 S u "ü J3 •S m W "9 « B B
so G 3 vi •u
s
G
>•
iS ^
^
Hanspeter Mattes
430
W ¡jj Tl- oo
i—i < ! P i oo w w
ÜÜ hJ
£
N
NO CO CO T-< T-< yQ O Tj- o\ ^ v m cm ¡ C
in CS CO l ON " CO CS
0 0
60 rt
IS .UD
1—1CS r- G\ H o C MiC M — iTf 00 TI- CM
-H Cs M sl T-HC Ol-H T 00 r- COo in C t- Cs •trH 00 Cs l©-H C 00 Cs l-H m -H CMSOin COf00 lrm Cs o 1-t o — C M CO 00 C TJS-C STI- 00 oo cmoT-t — o\ so l-H O T-t OO MrtMC TH - S T-t r- 00 m COO C COin r- m CMvo COC -t CM00
6
M)J3 •8< c/5
*-