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German Pages 233 Year 1990
Beihefte der Konjunkturpolitik Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung Begründet von Albert Wissler
Heft 36
Die Verwirklichung des EG-Binnenmarktes Auswirkungen und Herausforderungen
Duncker & Humblot · Berlin
Die Verwirklichung des EG-Binnenmarktes
Beihefte der Konjunkturpolitik Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung Begründet von Albert Wissler
Heft 36
Die Verwirklichung des EG-Binnenmarktes Auswirkungen und Herausforderungen
Duncker & Humblot * Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Die Verwirklichung des EG-Binnenmarktes: Auswirkungen und Herausforderungen / [Schriftl.: Herbert Wilkens]. — Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Beihefte der Konjunkturpolitik; H. 36) ISBN 3-428-06821-1 NE: Wilkens, Herbert [Schriftl.]; Konjunkturpolitik / Beihefte
Schriftleiter: Herbert Wilkens
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0452-4780 ISBN 3-428-06821-1
Vorwort In diesem Beiheft wird über den wissenschaftlichen Teil der 52. Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute berichtet. Die Tagung stand unter dem Thema „Die Verwirklichung des EG-Binnenmarktes — Auswirkungen und Herausforderungen" und fand am 27. und 28. April 1989 in Bonn statt. Für die wissenschaftliche Vorbereitung ist Hugo Dicke und Gemot Nerb zu danken. Referate hielten Fernand Braun (Brüssel), Hugo Dicke (Kiel), Roland Döhrn (Essen), Juergen Dönges (Kiel/Köln), Ulrich Everling (Bonn), Georg Koopmann und Hans-Eckart Scharrer (Hamburg), Bernhard Molitor (Bonn), Gernot Nerb (München), Dieter Schumacher (Berlin) sowie Christian Watrin (Köln). Ihre Beiträge sind im folgenden in voller Länge abgedruckt. Die Zusammenfassungen der Diskussionen erstellte Herbert Wilkens. Die 53. Mitgliederversammlung soll am 10. und 11. Mai 1990 in Bonn stattfinden und das Thema „Umweltschutz — Herausforderung und Chance für die Wirtschaft" zum Gegenstand haben. München im Oktober 1989
Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Karl-Heinrich Oppenländer
Inhalt
Christian Watrin Wege zur monetären Integration Zusammenfassung der Diskussion
Hugo Dicke Harmonisierung durch Wettbewerb oder Absprache? Zusammenfassung der Diskussion
Gernot Nerb Wirkungen des EG-Binnenmarktes auf einzelne Branchen und unternehmerische Anpassungsstrategien nach 1992 Zusammenfassung der Diskussion
Ulrich Everling Die rechtliche Gestaltung des EG-Binnenmarktes
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75
Zusammenfassung der Diskussion
92
Bernhard Molitor Probleme der EG-Steuerharmonisierung
97
Zusammenfassung der Diskussion
110
Georg Koopmann und Hans-Eckart Scharrer Die Außenwirtschaftspolitik der Gemeinschaft nach 1992
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Roland Dohm Vollendung des Binnenmarktes — Europa für die Europäer?
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Zusammenfassung der Diskussion
158
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Inhalt
Fernand Braun „Europäische Industriepolitik"
161
Juergen B. Dönges Wieviel Deregulierung brauchen wir für den EG-Binnenmarkt?
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Dieter Schumacher Beschäftigungswirkungen des EG-Binnenmarktes
189
Zusammenfassung der Diskussion
Teilnehmerverzeichnis
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Wege zur monetären Integration Von Christian Watrin, Köln I. Institutioneller Ansatz versus Marktansatz „The money of Belgium, Switzerland, Italy and Greece is the same as that of France". Dieser Satz findet sich, so die britische Wochenzeitschrift The Economist 1 , in Baedekers Reiseführer nach Paris aus dem Jahre 1878. Damals war die Lateinische Münzunion in Kraft. Ihr hatten sich ohne formellen Währungsvertrag noch Spanien, Rumänien, Serbien und Finnland angeschlossen. Die Economist-Redaktion berichtet dies unter Hinweis auf den Delors-Bericht 2 zur Schaffung einer europäischen Währungsunion. Letzterer hat sie in jüngerer Zeit mehrfach Applaus gezollt. Leitet die geplante Vollendung des Binnenmarktes zu Währungsverhältnissen zurück, wie sie — vor allem seit dem Übergang zur Goldwährung (1885) — zum Beispiel in den Teilnehmerstaaten der Lateinischen Münzunion bestanden? Dies ist keine offene Frage. Die Rückkehr zu einem „unpolitischen" Geld wie in der Goldwährung steht nicht zur Debatte. Stattdessen geht es um die Frage, ob und wenn ja, inwieweit ein künftiges europäisches Geld gegen politische Weisungen abgeschirmt werden kann. Weder die Empfehlungen des Europäischen Parlaments 3 , die als Datum für die Einführung der Währungsgemeinschaft das Jahr 1997 vorschlagen, noch der Delors-Bericht, der den Zeitpunkt für die Einführung einer Währungsunion offenläßt, enthalten im Blick auf die zentrale Frage, die langfristige Sicherung der Geldwertstabilität, institutionelle Neuerungen. In beiden Fällen wird die Einführung eines Zentralbanksystems heutiger Prägung auf europäischer Ebene vorgeschlagen. Der Weg zur Währungsunion aber ist angesichts der tiefgreifenden Meinungsunterschiede über den Rang der Geldwertstabilität in Europa und der großen Diskrepanzen zwischen den nationalen Geldpolitiken mit vielen Unwägbarkeiten belastet. 1
The Economist, Vol. 3, No. 7599 vom 22.4.1989, S. 28. Ausschuß zur Prüfung der Wirtschafte- und Währungsunion, Bericht zur Wirtschafts- und Währungsunion in der Europäischen Gemeinschaft, o. O. o. J. (veröffentlicht am 17. April 1989). 3 Siehe u. a. Sitzungsdokumente des Europäischen Parlaments 1989/90. Ausschuß für Wirtschaft, Währung und Industriepolitik über die Entwicklung der europäischen Währungsintegration vom 22.3.1989. 2
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Vor diesem Hintergrund erscheint die Lateinische Münzunion in nostalgisch verbrämtem güldenem Licht. Damals bedurfte es nur eines Münzvertrages, um eine Währungsgemeinschaft zu begründen. Lediglich der Münzfuß und die wechselseitige Anerkennung und Annahme der verschieden nominierten Münzen mußten vereinbart werden 4 . Die Regeln der Goldkemwährung verbrieften dann die Währungsgemeinsamkeit ohne die nationalen Notenbanken zu einer gemeinsamen Zentralbank zu verschmelzen, ja sie schlossen sogar die Möglichkeit ein, auf eine nationale Notenbank zu verzichten. Denn der Münzvertrag begründete ein metrisches Münzmonopol. Dieses läßt ein freies Prägerecht auch durch Private zu. Unter seinen Bedingungen ist lediglich dafür Sorge zu tragen, daß die privaten Münzstätten den Münzfuß einhalten. Diese geringe formale Anforderung hat allerdings weitreichende praktische Konsequenzen für alle Länder, die sich den strengen Regeln einer Goldwährung unterwerfen. Aber auch die Bewunderer der historischen Leistungen der Goldwährung sind nicht unbedingt bereit, heute ihre Wiedereinführung auf internationaler oder europäischer Ebene zu empfehlen. Ein solcher Schritt würde das Weltpreisniveau und damit die wirtschaftliche Stabilität der westlichen Welt — oder analog Europas — von den Hauptproduzenten des Goldes abhängig machen. Daraus folgt allerdings nicht, daß die dem Goldstandard zugrundeliegende Ordnungsidee obsolet wäre. Danach ist ein universell konvertibles Geld eine zentrale Bedingung dafür, daß die gesellschaftlichen Vorteile der Arbeitsteilung weltweit genutzt werden können. Aber auch wenn die Rückkehr zur Goldwährung als Alternative ebenso ausscheidet wie die faszinierenden, noch im Debattierstadium befindlichen Vorschläge zur marktwirtschaftlichen Lösung des Geldwertproblems mittels privater Währungskonkurrenz, so muß doch die Verengung der jüngeren Diskussion auf den institutionellen Ansatz, das Modell einer europäischen Zentralbank mit Einheitswährung, nachdenklich stimmen. Angesichts der Größe der Aufgabe und dem mangelnden Ausbau der politischen Fundamente der Europäischen Gemeinschaft ist zu fragen, ob nicht andere Formen der Währungsintegration eher geeignet wären, das Ziel, die Verbindung von Wanderungs- und Handelsfreiheit mit einer funktionsfähigen Währungsordnung, zu erreichen. In diesem Zusammenhang ist an die fragilen Grundlagen des Vertrages über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu erinnern. Das Datum für die Vollendung des Binnenmarktes (31.12.1992) ist rechtlich nicht verbindlich 5 . Die Bestimmung des § 8a EWGV, nach der der „Binnenmarkt... ein Raum ohne Binnengrenzen" ist, steht unter dem Vorbehalt, daß dies nur im 4 Karl Erich Born, Art. : Münzverträge, in : Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Stuttgart/New York 1980, Bd. 5, S. 288. 5 Eberhard Grabitz (Hrsg.), Kommentar zum EWS-Vertrag, München o. J., S. 38.
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Rahmen einengender Vertragsbestimmungen gilt 6 . So enthält Art. 8c EWGV eine Generalklausel für den Rückgriff auf desintegrierend wirkende Interventionen. Für sie ist mit Ausnahme einer zeitlichen Spezifikation lediglich vorgeschrieben, daß sie „das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes so wenig wie so wenmöglich stören" sollen. Daraus folgt e contrario, daß desintegrative Maßnahmen der EG-Kommission zulässig sind. Außerdem haben die Mitgliedstaaten das Recht, bei sogenannten Zahlungsbilanzkrisen (Art. 106, 108 und 109 EWGV) in den Zahlungsverkehr oder in die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 73 EWGV) eingreifen zu dürfen 7 . Selbst der Binnenhandel kann noch in den Fällen beschränkt werden, in denen zwingende Erfordernisse der Gesundheit und Sicherheit es geboten erscheinen lassen, vor Aufnahme des freien Güterverkehrs die Rechtsvorschriften zu harmonisieren 8 . Schließlich ist die Abschaffung der Steuergrenzen, ein Hauptgrund für das Fortbestehen von Grenzkontrollen, der Einstimmigkeitsregel unterworfen. Vor dem europäischen Binnenmarkt türmen sich somit noch große Hindernisse auf. Vorerst kann von einem „Binnenmarkt ohne Grenzen" nicht im gleichen Sinne gesprochen werden, wie dies bei nationalen Binnenmärkten der Fall ist. Das häufig vorgetragene Argument, der europäische Binnenmarkt bedürfe — in Analogie zu den nationalen Binnenmärkten — der Ergänzung durch eine Währungsunion, verliert dadurch vorerst an Überzeugungskraft. Hinzu kommt, daß die Gemeinschaft keine Rechtsdurchsetzungsgewalt gegenüber Mitgliedstaaten hat und ohne deren Kooperationsbereitschaft machtlos ist. Sie kann folglich nicht nur Urteile des Europäischen Gerichtshofes nicht gegen Mitgliedstaaten vollstrecken 9 , sondern sie steht viel eher als andere Staatengemeinschaften vor der Sezessionsfrage 10. Letztere wird vor allem dort aufgeworfen, wo ein Europa der zwei Geschwindigkeiten empfohlen wird oder wo — wie im Falle der monetären Integration — Lösungen propagiert werden, die nicht alle Länder zu akzeptieren gewillt sind. Dies betrifft besonders die im Delors-Bericht gegebenen Empfehlungen zur monetären Integration. Die dort niedergelegten Vorschläge gehen weit über die in Art. 102 a EWGV enthaltenen Bestimmungen hinaus. Diese sehen lediglich eine nicht näher spezifizierte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf währungspolitischem Gebiet vor. Der Frage nach Alternativen zu 6 Siehe hierzu Bodo Börner, Der deutsche Unternehmer vor dem europäischen Binnenmarkt, in: Der Betrieb, Heft 12 (1989), S.613. 7 Vgl. auch Christine Hasche Preuße, Europäischer Finanzraum — Perspektiven für die Kapitalmärkte, die Finanzindustrien und die Währungspolitik, in: Kredit und Kapital, 1989, S. 141. 8 Dies ergibt sich aus Rd.-Nr. 65 des Weißbuches der Kommission an den Europäischen Rat, hrsg. von der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, o. O. (1985). 9 Siehe hierzu die Hinweise bei Börner, a.a.O., S. 616. 10 Ebenda.
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den weitreichenden Vorschlägen des Delors-Berichtes, dessen Verwirklichung eine grundlegende Revision des EWGV einschließlich der Zustimmung der nationalen Parlamente voraussetzt, kann mithin nicht ausgewichen werden. Grundsätzlich lassen sich zwei Wege der monetären Integration unterscheiden: der institutionelle Ansatz und der Marktansatz. Der institutionelle Ansatz zielt auf die Einführung einer gemeinsamen Zentralbank mit Einheitswährung im Gemeinsamen Markt ab, während der Marktansatz davon ausgeht, daß ein evolutionärer Pfad eingeschlagen und Wettbewerbselemente im monetären Bereich eingeführt und, sofern das möglich ist, beibehalten werden. Allerdings werden Marktlösungen in der öffentlichen Diskussion nur als zweitbeste Alternative angesehen. Das gilt für sehr frühe Vorschläge, freie Güter- und Faktorwanderungen im europäischen Markt mit flexiblen Wechselkursen zu verbinden 11 , ebenso wie für jüngere Vorschläge, eine Parallelwährung einzuführen 12 . Die Präferenz für institutionelle Lösungen in Form einer Wechselkursunion oder einer Einheitswährung mit europäischer Zentralbank erklärt sich aus dem Verdacht, daß wettbewerblich orientierte Konzeptionen den föderalen Charakter eines künftigen Europas betonen und nur einen lockeren Staatenbund statt eines zentral regierten Einheitsstaates anstrebten 13 . Letzterer aber gilt — trotz der vielen Absagen, die dieser Konzeption in der Vergangenheit zuteil wurden — für viele als die einzig mögliche oder zumindest anzustrebende Staatsorganisation zur Verwirklichung der europäischen Idee. M i t allen institutionalistischen Alternativen (und zu ihnen gehören auch die EG-Agrarmarktordnungen) aber verbindet sich von der Position ihrer Befürworter aus gesehen die Hoffnung, ein Stück auf dem Weg zur politischen Union voranzukommen. Die institutionelle Konzeption fand in den ersten fünfundzwanzig Jahren des Bestehens der Gemeinschaft ihren praktisch-politischen Niederschlag in einer wenig erfolgreichen Harmonisierungspolitik. In dieser Phase produzierte die europäische Bürokratie in immer längeren Fristen immer kompli11 Siehe hierzu James E. Meade, Probleme nationaler und internationaler Wirtschaftsordnung, Tübingen/Zürich 1955, S. 164. 12 Aus der Fülle der Literatur sei nur genannt: One Money for Europe, hrsg. von Michele Fratianni/Theo Peeters, London 1978, und das dort abgedruckte „All Saints' Day Manifesto for European Monetary Union", S. 37-51. 13 Zur grundsätzlichen Problematik föderaler versus zentraler Organisationsformen in Europa siehe z. B. Victoria Curzon-Price, 1992: Europe's Last Chance? From Common Market to Single Market. Nineteenth Wincott Memorial Lecture, hrsg. vom Institute of Economic Affairs, London 1988, sowie Bernhard Wieland/Johannes Hoffmann, Binnenmarkt Europa — falsche und richtige Wege. Neue Zürcher Zeitung vom 30./31. Juli 1989, Nr. 174, S. 14.
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ziertere Regelwerke zur Rechtsvereinheitlichung bzw. -angleichung. Da die nationalen Gesetzgebungswerke immer Ausdruck politischer Überzeugungen, aber auch interessenpolitischer Beeinflussung sind, überrascht es nicht, daß Angleichungs- oder Vereinheitlichungsversuche nicht nur politisch äußerst mühsam sind. Gleichzeitig zeigte sich auch, daß es für gleiche oder verwandte Probleme verschiedene Lösungen gibt, die nicht einfach als besser oder schlechter eingestuft werden können, sondern miteinander konkurrieren. So kam es in der Vergangenheit dazu, daß zahlreiche Materien ohne durchgreifenden Erfolg über Jahre hinweg diskutiert wurden. Wurden schließlich verbindliche Beschlüsse gefaßt, so waren sie häufig in der Sache überholt. Die Gemeinschaft geriet dadurch zu Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre in eine institutionelle Krise, die durch eine Renationalisierung von Teilen der Handelspolitik und die ungelösten Probleme des faktisch nicht mehr existenten „gemeinsamen" Agrarmarktes noch verschlimmert wurde. Die Überwindung der integrationspolitischen Stagnation vollzog sich durch das mittlerweile legendäre Cassis de Dijon-Urteil des Europäischen Gerichtshofes, das den Charakter eines „Grundgesetzes" für den freien Warenverkehr angenommen hat, und durch das an die Grundideen dieser Rechtsprechung anknüpfende Weißbuch der EG-Kommission von 1985. Der durch den Übergang zum Prinzip wechselseitiger Anerkennung nationaler Regelungen ausgelöste Stilwandel der europäischen Wirtschaftspolitik läßt einmal die fruchtlosen Harmonisierungsbestrebungen in den Hintergrund treten und rückt zum anderen die Idee in den Vordergrund, daß die wirtschaftliche Integration nicht nur durch erneute Anstrengungen zur Öffnung der Märkte für mehr Wettbewerb, sondern auch durch den Wettbewerb zwischen den Staaten gefördert werden kann. Dies änderte die Rolle der Staaten im bisherigen Integrationskonzept grundlegend. Galt es früher als ausgemacht, daß europapolitische Fortschritte nur über die Verlagerung von nationalen Souveränitätsrechten zur EG-Kommission hin erzielt werden konnten, so setzt die Idee, zwischen den Teilnehmerländern Wettbewerb in der Wirtschaftspolitik zuzulassen, voraus, daß die föderalen Elemente gestärkt statt geschwächt werden. In einem nicht endenden wettbewerblichen Suchprozeß sollen jene Regelungen herausgefunden werden, die sich jeweils als die geeignetsten erweisen, um das letztlich übergeordnete Ziel, ein freiheitliches und prosperierendes Europa, zu erreichen. Der Wettbewerb, der künftig sowohl für Güter und Faktoren als auch für Steuersysteme, Normen und Standards, Standorte und Produktionsbedingungen als regulatives Prinzip gelten soll, wird jedoch mehrheitlich als Ordnungsprinzip für die monetäre Integration abgelehnt. Die Philosophie des Delors-Berichts, der seinerseits völlig in der Tradition steht, daß die Geldschaffung anders als die Produktion von Gütern nicht dem Wettbewerb
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überlassen werden darf 14 , läuft darauf hinaus, daß nur die institutionalistische Lösung, d. h. die Übertragung nationaler geldpolitischer Kompetenzen auf ein europäisches System der Zentralbanken, die sinnvolle Ergänzung zum künftigen Binnenmarkt darstellt. Andere Lösungen, die möglicherweise mehr den realen Gegebenheiten Rechnung tragen, werden damit aus der Diskussion verbannt.
II. Wechselkursfixierung und Kapitalverkehrskontrollen oder freier Geld- und Kapitalverkehr bei Wechselkursänderungen Die gegenwärtige Stufe der monetären Integration wird durch das Europäische Währungssystem (EWS) beschrieben. Die günstige Presse, die ihm in jüngster Zeit zuteil geworden ist, sollte nicht über seine Achillesferse hinwegtäuschen. Ein System der nur im Prinzip festen Wechselkurse ist stets der Gefahr ausgesetzt, bei Verunsicherung der Märkte und plötzlichen Abwanderungen aus abwertungsverdächtigen Währungen in Krisen zu geraten. Es kann sich, genauso wie das Bretton Woods-System in den fünfziger und sechziger Jahren, eine zeitlang als funktionsfähig erweisen. Voraussetzung ist, daß das Leitwährungsland eine verantwortungsvolle Stabilitätspolitik betreibt und daß die übrigen teilnehmenden Länder bereit sind, diese zu akzeptieren, d. h. ihre jeweilige nationale Geldpolitik an der Entwicklung der Leitwährung so zu orientieren, daß Anpassungen der Wechselkurse vermieden werden können. Ob es in diesem Zusammenhang zutrifft, daß im Falle des EWS die Bundesbank eine Hegemonialstellung angestrebt hat oder ob die Schwachwährungsländer versucht haben, ihr internationales Renomée durch eine Hinwendung zu einer stabileren Geldpolitik zu verbessern, das ist eine Frage, die getrost den Historikern überlassen werden kann. Es gibt durchaus rationale, im politischen Interesse einer Regierung liegende Gründe, die geldpolitische Hegemonie eines Landes offen oder stillschweigend durch Befolgen der geldpolitischen Linie der Leitwährung zu akzeptieren. Wichtiger als der Streit um die Asymmetrie des EWS ist die Feststellung, daß ein Regelsystem wie das EWS nicht jenes Maß an Konvergenz der nationalen Wirtschaftspolitiken erzeugt, welches notwendig ist, um Wech14
In der wirtschaftspolitischen Diskussion mehren sich allerdings die Stimmen, daß auch bei der Geldproduktion Wettbewerb möglich sein. Siehe hierzu die Beiträge von Gulio M. Gallaiotti (The Classical Gold Standard as a Spontaneous Order), Lawrence H. White (Competitive Money in Theory and Practice), Richard W. Kahn (Private Money: An Idea Whose Time Has Come), Richard H. Timber lake (The Government's License to Create Money) und anderen auf der siebten Jahreskonferenz des Cäto Institute (Washington, D.C.) zum Thema „Alternatives to Government Fiat Money", die demnächst im Cato-Journal erscheinen.
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selkursstabilität zu garantieren. Es besteht immer die Gefahr, daß es bei Spannungen im System zu sogenannten spekulativen Kapitalbewegungen — d. h. Mißtrauensbekundungen von Bürgern gegen die makroökonomische Politik eines Landes — kommt. Diese werden dann fälschlicherweise meist als Ursache des Problems ausgegeben. Wenn aber bei mehr oder minder freiem Kapitalverkehr, nur im Prinzip festen Wechselkursen und bei Fortbestehen nationaler Zuständigkeiten in der Geldpolitik eine Teilnehmerwährung unter Druck gerät, dann erwarten die Geldbesitzer, daß früher oder später eine Abwertung bevorsteht. Es kann dann, wie die Erfahrungen mit dem Bretton Woods-Abkommen gezeigt haben, zur wilden Flucht aus der abwertungsgefährdeten Währung kommen. In einigen Fällen können die Finanzmärkte — meist allerdings zu Lasten der Geldwertstabilität — durch Devisenmarktinterventionen beruhigt werden; in stürmischen Zeiten — erinnert sei an die Situation im Februar 1973, als die Bundesbank ihre Devisenmarktinterventionen einstellen und zum Floaten übergehen mußte — gelingt dies nicht. Gegen die These, daß auch das EWS nicht besser als das vergangene Bretton Woods-System gegen Schocks gefeit sei, ließe sich zwar einwenden, daß sich die Techniken der Bekämpfung von „spekulativen" Kapitalbewegungen mittlerweile verbessert hätten, daß ferner Währungskredite zur Kursstabilisierung leichter erhältlich und daß schließlich Zinssatzänderungen bei den abwertungsverdächtigen Währungen ebenso wie kleinere Realignments innerhalb der Bandbreiten hilfreich seien. Außerdem könnte angeführt werden, daß der für 1990 vorgesehene Abbau von Kapitalverkehrskontrollen, von dem vor allem die Schwachwährungsländer betroffen sind, das öffentliche Vertrauen in die Stabilität der Wechselkurse stärke, da die Marktteilnehmer dann wüßten, daß die Kosten des Abweichens vom Stabilitätspfad der jeweils stabilsten Währung für die betreffende Notenbank (im Hinblick auf die Aufnahme von Währungskrediten und das Abfließen von Währungsreserven) höher würden. Es bleibt allerdings fraglich, ob Interventionen gegen die Marktkräfte letztlich erfolgreich sind. Deshalb kann nicht ausgeschlossen werden, daß auch das EWS dann den Weg von Bretton Woods geht, wenn die Bereitschaft der Beteiligten fehlt, ihre Politik auf Wechselkursstabilität auszurichten. Ob es sich hierbei um eine ernstzunehmende Gefahr handelt, hängt davon ab, wie — von heute aus gesehen — die Rückwirkungen des Übergangs zum freien Kapitalverkehr für die Schwachwährungsländer einzuschätzen sind. Die Situation ist zwiespältig. Im EWS haben sich möglicherweise in jüngerer Zeit Spannungen aufgebaut, die ein Realignment nahelegen 15 . Der Druck in 15 Siehe hierzu u.a. Bayerische Landesbank Girozentrale, Europäisches Währungssystem: Ausgleichsventil blockiert, in: Deutsche Bundesbank. Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 69/1989, S. 3.
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diese Richtung kann im Zuge der geplanten weiteren Liberalisierung des Kapitalverkehrs zunehmen. In der langen wissenschaftlichen Diskussion über die Folgen des Abbaus der Kapitalverkehrskontrollen für das EWS sind allerdings die empirischen Befunde nicht eindeutig 16 . Es gab Zeiten, in denen Kapitalverkehrskontrollen anscheinend ohne Bedeutung waren. In anderen Zeiträumen hingegen — besonders bei Abwertungsverdacht — nahm ihre Bedeutung offenbar zu. Ferner sind die abwanderungsbereiten Kapitalbesitzer listenreich und findig, und der ECU ist in Schwachwährungsländern eine legale Möglichkeit, Kapitalexporte zu tätigen. Kann daraus geschlossen werden, daß Kapitalverkehrskontrollen in Europa praktisch keine Rolle spielen und faktisch schon freie Kapitalmärkte bestehen? Zumindest im gegenwärtigen Zeitpunkt wäre das verfrüht. Außerdem sehen die EG-Richtlinien für die Kapitalmarktliberalisierung den Rückgriff auf „temporäre" Schutzklauseln — was nichts über deren tatsächliche Dauer besagt — vor. Zumindest die politisch Verantwortlichen bringen damit zum Ausdruck, daß der freie Binnenmarkt für Kapital nach ihrem Urteil vorerst nicht uneingeschränkt zu verwirklichen ist. Damit ergibt sich, daß aus der Sicht des institutionellen Modells die monetäre Integration Europas vor allem durch zwei Gefahren bedroht ist: die Möglichkeit des Rückgriffs auf Kapitalverkehrskontrollen oder auf Wechselkursänderungen gemäß den EWS-Regeln. Gleichzeitig hat die Möglichkeit zur erneuten Entliberalisierung der Kapitalmärkte oder zur Wechselkursänderung die Folge, daß die Bereitschaft der Schwachwährungsländer vermindert wird, sich an den Zielen eines echten Binnenmarktes unter Einschluß der monetären Märkte zu orientieren. Außerdem vermittelt sie den Märkten auch nicht jene Erwartungssicherheit, die notwendig ist, um künftig sog. spekulative Kapitalbewegungen zu vermeiden. Ordnungspolitisch gesehen besteht mithin eine labile Situation. Soll sie korrigiert werden, so bieten sich vier Optionen an: 1. die dauerhafte Fixierung der Wechselkurse bei weiterbestehender Möglichkeit, Kapitalverkehrskontrollen zu nutzen, 2. die Festlegung auf uneingeschränkt freien Kapitalverkehr und freie Konvertibilität bei gleichzeitigem Offenhalten der Möglichkeit zur Wechselkurskorrektur, 3. die Währungsunion, die sowohl den Verzicht auf das Wechselkursinstrument als auch auf Kapitalverkehrskontrollen impliziert und 4. der Wettbewerb der Währungen im Binnenmarkt. Der erste Weg, die Fixierung der Wechselkurse, schließt angesichts der geltenden Rechtslage nicht aus, daß es erneut zur Fragmentierung und 16
Siehe hierzu u. a. Joerg Mayer, Capital Liberalization and the European Monetary System (Paper prepared for the International Monetary Fund, Nov. 1988), S. 73 ff.
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Desintegration des Binnenmarktes durch Kapitalverkehrskontrollen kommt. Wenn es politisch nicht machbar erscheint, daß Defizitländer im EWS sich jenseits kurzfristiger Zahlungsbilanzhilfen beim Auftreten interner Ungleichgewichte einer Geldmengenkontraktion unterwerfen und daß Überschußländer eine Geldmengenexpansion hinnehmen, dann bedeutet die weiterhin bestehende nationale Verfügbarkeit des Instruments der Kapitalverkehrskontrollen, daß mit der Möglichkeit seines Einsatzes gerechnet werden muß. Da Kapitalverkehrskontrollen schwer zu exekutieren sind, kommt es immer wieder zu Devisenkontrollen, die dann ihrerseits auf die Handelsströme durchschlagen. Der zweite Weg, die Sicherung des uneingeschränkt freien Kapitalverkehrs bei weiter fortbestehender Möglichkeit zur Wechselkursänderung, ist zwar nicht voll im Einklang mit der Philosophie des EWS, nach der prinzipiell feste Wechselkurse den Vorrang haben. Aber zwei Gründe sprechen dafür, daß freier Geld- und Kapitalverkehr unter den gegebenen Umständen wichtiger ist als Wechselkursstabilität: a) Sofern es sich in einem Festkurssystem wie dem EWS als unmöglich herausstellt, durch ein entsprechend hohes Zinsniveau der Schwachwährungsländer bestehende Paritäten im Wechselkursverbund auf Dauer zu verteidigen, ist es besser, die Wechselkurse zu ändern, als kostspielige und in der Regel nutzlose Devisenmarktinterventionen zu lancieren oder den Binnenmarkt durch Devisen- und Kapitalverkehrskontrollen erneut zu segmentieren. b) Außerdem unterwerfen offene Kapital- und Devisenmärkte die jeweilige nationale Geldpolitik durch die erleichterte Zu- und Abwanderung von Kapital einer externen Kontrolle durch die privaten Geld- und Kapitalbesitzer. Diese Kontrolle könnte noch verstärkt werden, wenn durch EGRecht gesetzlich verankert würde, daß alle EG-Bürger jede EG-Währung halten, Verträge in jeder beliebigen EG-Währung schließen und zusätzlich nach Wunsch Geldwertsicherungsklauseln in jeder Währung vereinbaren können. Es entstünde dann ein starker Druck auf die geldpolitischen Behörden, von geldwertgefährdenden Aktionen wegen des damit verbundenen Kapitalabwanderungsrisikos Abstand zu nehmen. Allerdings wüchse in einer solchen Konstellation voraussichtlich auch die politische Bereitschaft, durch gemeinsame Absprachen zwischen den wichtigsten Währungen den aufkeimenden Währungswettbewerb zu verhindern und die nationalen Geldpolitiken auf eine gemeinsame Inflationsrate hin zu koordinieren. Es ist fraglich, ob der Druck in Richtung einer inflationistischen Koordinierung nationaler Geldpolitiken dadurch gemindert werden kann, daß dem Rat der Notenbankgouverneure das Instrument der Wechselkursänderungen anvertraut wird und daß er dieses als „technische Steuergröße" handhabt. Vielmehr ist anzunehmen, daß hier ähnliche Probleme wie im derzeitigen 2 Konjunkturpolitik, Beiheft 36
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EWS auftreten. Sie können bei freiem Kapitalverkehr nur durch eine stärkere Flexibilität der Wechselkurse vermieden werden, womit aber zu einer Form des Währungswettbewerbs übergegangen wird. Wie immer man den ersten oder zweiten Weg bewertet, die nach wie vor bestehende Verfügung über beide Instrumente wirkt destabilisierend auf die wirtschaftliche Integration. Eine auf Wechselkursstabilität hin angelegte Politik würde daher ihre Wirksamkeit verstärken, wenn sie Wechselkursänderungen ausschließen könnte, auch wenn der Preis unter den gegenwärtigen Umständen in einer temporären Entliberalisierung des gemeinsamen Kapitalmarktes bestehen kann. Eine auf Kapitalmarktintegration hin angelegte Politik aber sollte unwiderruflich auf Kapitalverkehrskontrollen verzichten, um so die Vorteile des großen Makrtes zu nutzen und gleichzeitig die Furcht vor der „Mausefalle" zu nehmen. Angesichts dieser Sachlage mag es verwundern, daß zumindest in der politischen Diskussion der Hauptakzent auf der dritten Option liegt. Sie läuft auf die Abschaffung beider Instrumente hinaus. Denn eine europäische Währungsunion bedeutet ja, daß — wie der Delors-Bericht (Ziffer 22) formuliert — drei Bedingungen zu erfüllen sind: erstens die uneingeschränkte und irreversible Konvertibilität der Teilnehmerwährungen, zweitens die vollständige Liberalisierung des Kapitalverkehrs und die volle Integration der Banken und sonstigen Finanzmärkte und drittens die Beseitigung der Bandbreiten und unwiderrufliche Fixierung der Wechselkursparitäten. In einem solchen Szenario haben Wechselkursänderungen und Kapitalverkehrskontrollen genausowenig Platz wie zwischen Leer und Sindelfingen. Gleichzeitig handelt es sich jedoch um die anspruchsvollste Lösung des Problems der monetären Integration Europas. Nicht zu Unrecht ist daher in neuerer Zeit vielfach auf die zahlreichen Probleme, die eine Währungsunion aufwirft, hingewiesen worden. Dies führt unmittelbar zur Frage, inwiefern die vierte Option — der Währungswettbewerb im Binnenmarkt — eine sinnvolle Alternative zur Währungsunion darstellt.
III. Europäische Währungsunion 1. Europäisches System der Zentralbanken (ESZB) und Einheitswährung Die durch den Delors-Bericht eingeleitete Diskussion über eine europäische Währungsunion ist durch eine finale Betrachtungsweise geprägt. Das Ziel vor Augen, sollen alle Schritte Zwischenstationen auf dem Weg sein, an dessen Ende neben der Vollendung des Binnenmarktes die gemeinsame Währung und die gemeinschaftlich betriebene Geldpolitik stehen. Nicht mehr die so oft kritisierte kurze Sicht, sondern die lange, eventuell jähr-
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zehntelange Sicht soll alles künftige wirtschafts- und währungspolitische Handeln bestimmen. Der Delors-Bericht und der Werner-Bericht von 1970 bringen diese Haltung dadurch zum Ausdruck, daß sie eine Revision des EWG-Vertrages in der Weise fordern, daß die EG-Länder sich sowohl auf das Ziel als auch auf den Weg zur gemeinsamen Währung schon in der Stunde des Aufbruchs festlegen. Die Währungsgemeinschaft aber soll stufenweise durch die Errichtung einer als Europäisches System der Zentralbanken (ESZB) bezeichneten gemeinsamen Notenbank geschaffen werden. Nach einer Vorbereitungsphase auf der ersten Stufe sollen am Ende der zweiten Stufe die nationalen Zuständigkeiten in Sachen Geldpolitik endgültig auf die neue Einrichtung übergehen. Dieser Schritt soll gleichzeitig mit einer Vergemeinschaftung wichtiger Teile der nationalen Wirtschaftspolitiken verbunden sein 17 . Das europäische Zentralbanksystem soll trotz aller Anleihen beim vermeintlich föderal verfaßten amerikanischen Federai Reserve System im Kern straff zentralistisch organisiert sein. Seine Politik soll die allgemeine Wirtschaftspolitik auf EG-Ebene unterstützen, sofern dies mit dem Ziel der Preisstabilität, das besonders hervorgehoben wird, vereinbar ist. Dabei wird — eher implizit — eine keynesianisch verstandene Geld- und Fiskalpolitik zugrundelegt (Ziff. 30 und 33). Gegenüber diesen Aspekten werden in der öffentlichen Diskussion die ordnungspolitisch zwar wichtigen, aber politisch anfälligeren Elemente eines künftigen ESZB hervorgehoben: seine Verpflichtung auf die Sicherung der Preisstabilität, seine Unabhängigkeit von politischen Weisungen des Ministerrates oder nationaler Regierungen und sein föderativer Aufbau. Nur an einer Stelle geht der Delors-Bericht über diese geläufige Konzeption des Notenbankwesens hinaus. Eine Anregung des Werner-Berichtes indirekt aufgreifend wird neben einem generellen Verbot der Notenbankfinanzierung von Staatsausgaben die Festlegung von Obergrenzen für Budgetdefizite und die Begrenzung ihrer Finanzierung durch Kredite postuliert. Die Erfahrungen mit den nach dem Ende des Goldstandards in allen westlichen Ländern entstandenen Notenbankverfassungen des diskretionären Typs sind unter dem Hauptziel, der Geldwertsicherung, keineswegs ermutigend. Zwar lassen sich mit Blick auf die Sicherung der Geldwertstabilität Stabilitätsunterschiede zugunsten der nicht weisungsgebundenen Notenbanken beobachten. Sie sind, besonders wenn sie unter den Bedingungen freier Konvertibilität und freien Kapitalverkehrs operieren, zusätzlich den externen Kontrollen durch die Abwanderungsmöglichkeiten der Geldnutzer 17
Delors-Bericht, Ziff. 27. Siehe hierzu auch Peter Bofinger, Zum „Bericht zur Wirtschafts- und Währungsunion in der Europäischen Gemeinschaft des Ausschusses zur Prüfung der Wirtschafts- und Währungsunion" (Delors-Bericht), in: Kredit und Kapital (erscheint demnächst). 2*
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unterworfen. Außerdem unterliegen sie bei Pressefreiheit einer beachtlichen Kontrolle durch die tägliche Berichterstattung. Dennoch erweisen sich diese beiden Kontrollmechanismen auch unter günstigen Umständen als zu schwach, um inflationäre Entwicklungen zu verhindern. Das gilt um so mehr für Notenbanken, die bisher hinter dem Anspruch auf Bewährung am internationalen Markt zurückgeblieben sind. Die von ihnen bereitgestellten Währungen zählen zu den Schwachwährungen. Ihre Inflationsraten sind im langfristigen Vergleich erheblich höher als die Inflationsraten der Notenbanken, die dem internationalen Währungswettbewerb ausgesetzt sind. Institutionell sind daher die Vorkehrungen zur Sicherung der Preisstabilität in den Plänen zur Währungsunion nur als bedingt geeignet zu werten. Das Delors-Papier enthält keinerlei Innovation, die geeignet wäre, die Geldwertstabilität im Rahmen einer künftigen europäischen Zentralbank besser zu sichern, als in den herkömmlichen Systemen, ja es fordert nicht einmal, daß das ESZB nach außen hin offen ist und sich dem Wettbewerb an den internationalen Finanzmärkten stellen muß. In diesem Zusammenhang wird lediglich auf internationale Politikkoordination, nicht aber auf die Sicherung des freien Devisen- und Kapitalverkehrs abgestellt (Ziff. 35-38). Das schließt nicht aus, daß unter glücklichen Umständen oder durch fähige Geldpolitiker temporär Erfolge erzielt werden oder daß das angestrebte Europäische Zentralbanksystem vom Standpunkt inflatorischer europäischer Länder eine erhebliche Verbesserung darstellt. Die aus deutscher Sicht vorgebrachte Sorge, daß eine vergemeinschaftete Geldpolitik in eine Inflationsgemeinschaft einmündet, ist damit jedoch keineswegs hinfällig 18 .
2. Schrittweise Vergemeinschaftung der Geldpolitik oder Uno actu-Lösung Die genannten Pläne zur Währungsintegration sprechen sich für eine schrittweise Übertragung der geldpolitischen Kompetenzen nationaler Instanzen auf die neuzuschaffenden Organe aus. Das Delors-Papier ist in diesem wichtigen Punkt allerdings widersprüchlich. Einerseits wird eine immer mehr bindende Koordinierung der Geldpolitik in der Übergangsphase zur europäischen Zentralbank gefordert. Andererseits heißt es jedoch, daß in Sachen Geldpolitik bis zum endgültigen Eintritt in die Währungsunion die Letztzuständigkeit bei den nationalen Notenbanken verbleibt 19 . 18 Zu den Bedingungen für eine stabilitätsorientierte Geldpolitik siehe das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium vom 20. und 21. Januar 1989 zum Thema Europäische Währungsordnung, in: Bundesanzeiger vom 3. März 1989, Ziff. 5. 19 Siehe hierzu die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium zum Delors-Bericht vom 5. Juni 1989, Ziff. 3.
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Die Alternative zur schrittweisen Kompetenzübertragung ist die Uno actu-Lösung, eine A r t großer Sprung, bei dem die geldpolitischen Kompetenzen in einem Schritt von der nationalen in die europäische Zuständigkeit überwechseln, wenn die Zeit dafür „reif 11 ist 20 . Ein solches Vorgehen lehnt der Delors-Bericht implizit ab. Die von ihm empfohlene Vorgehensweise wirft zahlreiche Fragen auf. Hierzu zählen die bekannten Probleme der Ex-ante Koordination wie der Einigung über Rang und Gewicht des Ziels „Preisstabilität" im Vergleich zu anderen Zielen, Analyse und Einigung hinsichtlich der Ausgangssituation, Festlegung der zu ergreifenden Maßnahmen, Kontrolle der Befolgung des Vereinbarten und gegebenenfalls Festlegung und Durchsetzung von Sanktionen bei Vorstößen. Politisch wirft der Vorschlag das Problem auf, daß die Verantwortung für geldpolitisches Mismanagement nicht mehr zugeordnet werden kann 2 1 . Dies kann durchaus von denjenigen, die die Führungsrolle der D M als Leitwährung im gegenwärtigen EWS ablehnen, so gewollt sein. Denn eine teilweise vergemeinschaftete Geldpolitik böte inflationistischen Bestrebungen einen größeren Spielraum, da europäische Kompromisse eingegangen werden müßten. Ob unter diesen Umständen die zweite Stufe eines Europäischen Zentralbanksystems mit der Errichtung einer gemeinsamen Notenbank überhaupt je zum Abschluß gebracht wird, ist fraglich. Im Vergleich dazu läßt sich der Alternative, daß es bis zum endgültigen Übertritt in eine gemeinsame Währung bei der nationalen Zuständigkeit und Verantwortung bleiben soll, entgegenhalten, daß dies faktisch eine Vertagung der monetären Integration auf den Sankt-Nimmerleins-Tag bedeute. Das wäre aber nur dann ein berechtigter Vorwurf, wenn keine anderen konvergenzerzeugenden Mechanismen am Werk wären. Offene europäische Geld- und Kapitalmärkte wären jedoch ein solches unterstützendes Mittel, wobei im weiteren Verlauf der Entwicklung auf Schutzklauseln beim Kapitalverkehr endgültig verzichtet werden sollte. Eng verwandt mit diesem Vorschlag ist die Empfehlung, das EWS zu härten 22 . Sie setzt voraus, daß dem politischen Drängen nach mehr Symmetrie in den derzeitigen Anpassungszwängen des EWS nicht nachgegeben wird, d. h. daß nicht durch erweiterte Kreditfazilitäten, durch Interventionen in Gemeinschaftswährungen, durch gemeinschaftliche Finanzierung intramarginaler Interventionen, durch gemeinschaftliches „Monitoring" auf der Basis verbindlicher Indikatoren und erst recht nicht durch Vergemeinschaf20
Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zur Europäischen Währungsordnung, a.a.O., Ziff. 12. 21 Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats zum Delors-Bericht, a.a.O., Ziff. 2 und 3. 22
Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zur Europäischen Währungsordnung, a.a.O., Ziff. 12.
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tung (eines Teils) der Währungsreserven in einem Europäischen Währungsfonds der Zwang zur Anpassung in den inflationsträchtigen Ländern abgebaut wird. 3. Intraeuropäische Finanztransfers und Finanzhilfen Die Schritte auf dem Weg zum Binnenmarkt auf der einen und eine erfolgreiche Stabilitätspolitik auf der anderen Seite werden — gleichgültig ob letztere eher durch Politikkoordination oder durch die Zwänge des freien Geld- und Kapitalverkehrs zustandekommt — voraussichtlich dazu führen, daß strukturelle Ungleichgewichte in den EG-Ländern stärker sichtbar werden als bisher. Aufgrund dieser Erwartung werden im Delors- und im Werner-Bericht erhebliche Mittel zur Beseitigung solcher Ungleichgewichte gefordert. Vorgesehen ist eine nachhaltige und nötigenfalls weitere Aufstockung der Gemeinschaftsfonds auf dem Wege nach Europa (Ziff. 33). In jedem wirtschaftlich und monetär integrierten Raum treten sektorale und regionale Strukturprobleme auf. Ursache solcher realen Störungen können Nachfragerückgänge nach Produkten einzelner Regionen, das Auftreten technologischer Rückstände in einzelnen Gebieten, Unterschiede in der Produktivitätsentwicklung und anderes sein. Zu fragen ist daher, inwieweit Transfers in der Übergangsphase und, sofern man dem Delors-Bericht folgt, auch nach Vollendung der Währungsintegration, notwendig und erfolgversprechend sind. Bei weiter bestehenden Nationalstaaten — dies ist ja die unausgesprochene Prämisse der angestrebten Wirtschafts und Währungsunion — dürften derartige Transfers politisch außerordentlich belastend sein, da sie Anlaß zu permanenten Verteilungsauseinandersetzungen zwischen den Mitgliedsländern böten. Überdies schwächt die Ausicht auf Subventionen von Dritten nach aller Erfahrung die Bereitschaft zur wirtschaftlichen Anpassung, so daß wachsende Strukturfonds die anstehenden Probleme sogar eher verschlimmern als lösen. Ähnliches gilt für die Sorge, daß eine gemeinsame Währung einzelne Staaten veranlassen könnte, ihre Verschuldung nach oben zu treiben. Der Delors-Bericht sieht hier neben dem Ausschluß des Zugangs zu Notenbankkrediten wirksame Obergrenzen für die Haushaltsdefizite der einzelnen Mitgliedsländer vor (Ziff. 33). Ersteres ist zwingend erforderlich, letzteres kann durchaus den Märkten überlassen bleiben, sofern sichergestellt ist, daß die einzelnen Regierungen nicht aus einer falsch verstandenen Solidarität die Haftung für ihre wechselseitigen Schulden übernehmen 23 . Unter dieser 23 Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats zur Europäischen Währungsordnung, a.a.O., Ziff. 14.
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Voraussetzung wird auf den Finanzmärkten wie überall zwischen kreditwürdigen und weniger kreditwürdigen öffentlichen Schuldnern unterschieden. Risikoprämien setzen sich durch. Im Fall einer europäischen Solidarhaftung hingegen werden sich verschwenderische Staaten zu Lasten der stabilitätsorientierten bereichern und das Ganze gefährden.
I V . Währungskonkurrenz als Alternative zur Währungsunion Die Pläne für eine Währungsunion sind von der Idee getragen, daß auf institutionellem Wege an die Stelle der bestehenden Nationalbanken eine im Prinzip gleichgestaltete europäische Notenbank tritt. Die angestrebte Vergemeinschaftung der geldpolitischen Willensbildung auf europäischer Ebene bringt dies deutlich zum Ausdruck. Daß es im Harmonisierungsprozeß ebenso wie in der Endstufe eines europäischen Systems der Zentralbanken um Machtfragen geht, sollte nach der langen Diskussion um die Asymmetrie des Europäischen Währungssystems und der mit ihm unvermeidlich verbundenen Vorherrschaft einer Leitwährung deutlich sein. Kritische Beobachter orten gerade hier das Motiv für die politischen Initiativen von französischer Seite. Sie betreffen einerseits das Maß an gemeinsamer europäischer Geldwertstabilität bzw. die Höhe der gemeinsamen Inflationsrate und andererseits das Maß an währungspolitischer Offenheit gegenüber der übrigen Welt. Ohne Zweifel klaffen die in den Partnerländern hierzu gehegten Vorstellungen weit auseinander. Den traditionell an Devisen- und Kapitalverkehrskontrollen und inflatorischer Geldpolitik interessierten Ländern stehen jene Staaten gegenüber, die — nicht zuletzt aus der Erfahrung des Scheiterns keynesianischer Beschäftigungskonzepte — für weltoffenen Handel und Geldwertstabilität eintreten und mit dieser Politik überzeugende Erfolge errungen haben. Die politischen Spannungen in einer künftigen europäischen Zentralbank, in der vermutlich unterschiedliche Überzeugungen in diesem Punkte aufeinandertreffen, dürften daher beträchtlich sein. Zu fragen ist deswegen, ob es — den Willen zur Schaffung eines europäischen Binnenmarktes mit freiem Handel und freier Faktorwanderung vorausgesetzt — Alternativen zur Währungsunion gibt, die gleichzeitig einen besseren Schutz gegen die Gefahren einer Inflationspolitik auf europäischer Ebene bieten. Gesetzt den Fall, es käme in naher Zukunft zur Liberalisierung der Kapital- und Devisenmärkte sowie zur freien Konvertibilität aller europäischen Währungen, dann stiege die Interdependenz der nationalen Geldpolitiken erheblich. In diesem Fall würden Unterschiede im Grad der Geldwertstabilität, soweit sie nicht durch Differenzen in den Zinssätzen aufgefangen werden, Kapitalbewegungen auslösen, die ihrerseits die Schwachwährungsländer unter Druck setzten.
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Die im Delors-Bericht angelegte Antwort auf diese Situation ist die gemeinsame Absprache der nationalen Geldpolitiken in den neu zu bildenden Gemeinschaftsorganen. Faktisch bedeutet dies, daß politische Kompromisse über die Höhe der gemeinsamen Inflationsrate eingegangen werden müssen. Die ordnungspolitische Alternative hierzu wäre der Wettbewerb der europäischen Währungen entsprechend der vierten Option. Ohne Zweifel geht von der Idee, die Geldwertstabilität dem Urteil der Marktteilnehmer und nicht den monetären Entscheidungsinstanzen zu überantworten, eine erhebliche Faszination aus. Die Möglichkeit der Abwanderung von und der Zuwanderung zu einem Markt ist im Bereich der Güter und Faktoren der stärkste Hebel, um den Wettbewerb effizient zu gestalten und seinen gesellschaftlich positiven Wirkungen zum Durchbruch zu verhelfen. Auf dieser Idee baut auch das Weißbuch der EG-Kommission von 1985 auf, das ein solches Vorgehen auch für den Wettbewerb der nationalen Wirtschaftspolitiken postuliert. Offen ist jedoch die Frage, ob die gesellschaftlichen Vorteile des Wettbewerbs auch für die monetäre Seite gelten. Vielfach wird angenommen, daß bei uneingeschränkter Geld- und Kapitalverkehrsfreiheit ein DM-Block entsteht. Theoretisch wird dies mit der zunehmend umstrittenen Behauptung begründet, daß die Bereitstellung von Geld ein natürliches Monopol sei. Wenn dies zutrifft, dann kommt es zu einem effizienten Verdrängungswettbewerb, der am Ende nur eine Währung übrigläßt. Ob es sich hier jedoch wirklich um ein natürliches Monopol handelt, kann nur im Markt festgestellt werden. Aussagen über die grundsätzlichen Wirkungsmechanismen lassen sich dennoch treffen. Wenn Währungswettbewerb zugelassen wird, dann stehen sich am Markt unterscheidbare Währungen gegenüber. Bei Geld- und Kapitalverkehrsfreiheit werden sich ihre Kurse täglich an Märkten bilden, die ihrerseits unter dem Druck der Abwanderung in die jeweils stabilste Währung stehen. Ob sich die Geldnutzer in einer solchen Situation zum Halten einer, zweier oder auch mehrerer Währungen entschließen, ist eine offene Frage. So können zwischen ihnen die Meinungen darüber auseinandergehen, welche Währung die stabilere ist. Sofern die Vorteile in einer Währung zu kontrahieren groß sind, kann auch der Fall eintreten, daß sich eine einzelne Währung durchsetzt. Somit sind beide Möglichkeiten von Bedeutung. Kommt es zu einem auf Dauer ablaufenden Wettbewerbsprozeß, ohne daß sich eine einzelne Währung durchsetzt, so gäbe es kein europäisches Geld. Ein politisches Einigungssymbol wie „Europa", „Monnet", ECU oder sonst ein Geldname würde fehlen; aber die Geldwertstabilität wäre durch die Konkurrenz der Währungen besser gewährleistet als in einer auf Politikkoordination und gemeinsamer Beschlußfassung gegründeten europäischen Zentralbank. Ferner würde sich der Spielraum für Wechselkursänderungen
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vermutlich erheblich verringern, so daß ordnungspolitisch eine Annäherung an eine Währungsgemeinschaft stattfände. Bei erfolgreichem Verdrängungswettbewerb hingegen entstünde am Ende eine dominante Währung. Sofern ihr Währungsmonopol „bestreitbar" ist, würde die potentielle Konkurrenz in Richtung einer stabilen Geldwertpolitik wirken. Sind die Markteintrittskosten jedoch sehr hoch oder werden sie durch Gesetzgebungsakte auf europäischer Ebene nach oben getrieben, dann hätte die aus dem Wettbewerb als Monopolist hervorgegangene Währung nur noch geringe Vorteile gegenüber einem im Wege der institutionellen Verschmelzung nationaler Notenbanken entstandenen Währungsmonopol. Die Geschichte eines aus dem Wettbewerb hervorgegangenen Währungsmonopols wäre allerdings eine Geschichte des Wettbewerbs um Geldwertstabilität. Der allgemeine Nutzen der Geldwertstabilität wäre jedermann deutlich vor Augen geführt worden. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß ähnliche Erfahrungen im Rahmen einer institutionalistischen Lösung gesammelt werden. Sie dürfte vom ersten Tag ihres Bestehens politischen Konflikten um die Höhe der gemeinsamen Inflationsrate ausgesetzt sein.
Zusammenfassung der Diskussion Referat Watrin Hoflmann weist auf eine weitere überlegenswerte Alternative hin: Freier Kapitalverkehr könnte mit einer Situation bei den Wechselkursen verbunden werden, wo bestimmte Währungen mehr oder weniger fest aneinander gebunden sind und im Verhältnis zu den übrigen größere Flexibilität herrscht. Das würde es möglich machen, Überlegungen in die Betrachtung einzubeziehen, die auf das alte Mundell'sche Konzept der optimalen Währungsgebiete zurückgehen. Es sei ja bereits in den 60er Jahren untersucht worden, inwieweit es sinnvoll ist, Währungen in bestimmten Räumen zusammenzubinden und in anderen frei floaten zu lassen. Für eine Reihe von kleinen Ländern könne es im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft durchaus sinnvoll sein, dort festere Bindungen einzugehen, um größere Währungsräume zu schaffen, während ein Land wie die Bundesrepublik gegenüber dem Rest zumindest für eine gewisse Zeit eine größere Flexibilität haben könne. Willgerodt gibt zu bedenken, man müsse vom „politischen Geld" Abschied nehmen, andernfalls alle Pläne für eine europäische Währungsunion zunichte würden. Deshalb sei zu fragen, ob der Euro-Keynesianismus, wie er im Delors-Bericht angestrebt werde, überhaupt diskutabel ist. Er selbst hält ihn für undiskutabel, denn dann müsse von allen Vorstellungen Abschied genommen werden, jenseits des Ziels der Preisniveaustabilität andere Ziele in wesentlichem Umfang berücksichtigen zu können. Schairer widerspricht der Feststellung Watrins, daß uns noch Lichtjahre von der Währungsunion trennten. Er sehe das nicht unbedingt so. Die Erfahrungen mit dem Europäischen Währungssystem sollten die Ökonomen eigentlich dazu bringen, bestimmte Urteile, die früher einmal ziemlich einmütig über das Europäische Währungssystem gefällt wurden, neu zu überdenken. Die Entwicklungsgeschichte des EWS lasse es heute als erstaunlich erscheinen, daß es überhaupt noch da ist. Das EWS habe in einer Situation außerordentlich hoher Inflationsraten und Inflationsdifferenzen begonnen — Inflationsdifferenzen von 15 Prozentpunkten zwischen Italien und der Bundesrepublik. Dann sei es erst von einem Ölpreisschock und dann von dem Verfall des Ölpreises getroffen worden; später von der Dollarstärke und der Dollarschwäche. Wenn man das alles vorher gewußt hätte, hätte kein Mensch jemals gewagt, das Europäische Währungssystem zu schaffen. Tat-
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sächlich habe es erstaunlich gut funktioniert, und man könne konstatieren — das sei für die Überlegungen hinsichtlich der Währungsunion vor allem wichtig —, daß sich die Stabilitätsorientierungen innerhalb des EWS wesentlich aneinander angeglichen haben. Die am Beginn enormen Inflationsdifferenzen — sicherlich durch extreme Schocks verursacht — seien abgebaut worden. Auch in den währungspolitischen Konzeptionen etwa zwischen Frankreich und der Bundesrepublik sei man sich inzwischen sehr viel nähergekommen. Das habe sicher mit der von Watrin angesprochenen Währungskonkurrenz zu tun. Die Tatsache, daß mit der Bundesbank sozusagen ein Stabilitätsmaßstab in der Gemeinschaft existierte, an dem sich die anderen orientieren mußten, habe sicherlich dazu beigetragen. Die Frage sei, inwieweit mit dem Verzicht auf einen solchen Anker beim Übergang zu einer Währungsunion möglicherweise auch das ganze System instabiler wird. Im Delors-Bericht seien hinsichtlich der institutionellen Ausgestaltung einer europäischen Währungsbehörde bzw. eines europäischen Zentralbanksystems sehr weitgehend die Modelle der Bundesrepublik übernommen worden: mit der Orientierung an der Geldwertstabilität bei Unterstützung der allgmeinen Wirtschaftspolitik, mit der persönlichen oder politischen Unabhängigkeit der Mitglieder des Zentralbankrats, mit dem Verbot der Budgetfinanzierung. Und Dinge wie Freiheit des Kapitalverkehrs gegenüber Drittländern stünden auch nicht im Bundesbankgesetz. Man könne nun einmal nicht sämtliche Risiken schon von vornherein dadurch ausscheiden, daß man Widerstände gegen diese Risiken kodifiziert, sondern man müsse ein gewisses Maß von Vertrauen darein setzen, daß eine europäische Zentralbank, die das Ziel der Geldwertstabilität in den Statuten hat, diesem Ziel auch nachkommen werde. Steuer nimmt diese Provokation von Scharrer auf: Sicherlich habe das EWS besser funktioniert als erwartet; man müsse sich aber fragen, warum. Da sei sicherlich anzuerkennen, daß die vielfach zitierten sogenannten Schwachwährungsländer Anpassungsbereitschaft in Richtung auf mehr Stabilität erkennen ließen. Die Frage sei nur, ob ein Kausalzusammenhang zum EWS besteht oder ob diese Anpassungsbereitschaft nicht andere Ursachen hatte. Die Nicht-EWS-Länder hätten schließlich ebenso große, ja zum Teil noch größere Stabilisierungsfortschritte gemacht. Also könne nicht das EWS die Ursache gewesen sein. Überdies sei festzustellen, daß die Fassade zwar schön aussehe, daß es aber hinter der Fassade starke Spannungen gebe — bei allen Konvergenzfortschritten. Frankreich und Italien beispielsweise bezeichneten die Stabilisierungsbemühungen der Bundesbank als eine deflatorische Politik. Sie forderten unter dem Stichwort „Asymmetrie des Systems" ein Verlassen der Symmetrie, was ja heiße, eine Aufweichung des Systems zu fordern, u. a. durch mehr Kreditfazilitäten. In die Reihe der Beweise gehöre auch die Anmerkung des französischen Finanzministers, die
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Geldpolitik einer Europäischen Gemeinschaft sollte politisch kontrolliert werden und nicht in die Hände einer unabhängigen Notenbank gelegt werden. Wenn auch der Delors-Bericht sich wesentliche Forderungen der deutschen Seite zu eigen machte, so sollte man auch hier unterscheiden zwischen der Fassade und Spannungen hinter der Fassade. Angesichts dessen müsse man davon ausgehen, daß der Bericht nicht unbedingt die Auffassung der Mehrheit des Ausschusses darstellt und schon gar nicht das einstimmige Votum des Ausschusses, sondern daß dies ein mehr taktisches Zugeständnis gewesen sei, um die Mitarbeit der deutschen Seite zu erwirken. Helmstädter fügt hinzu, die Spannungen seien ja auch schon vor der Fassade sichtbar, und zwar von britischer Seite. Watrin geht auf den ersten Vorschlag ein, daß man in Europa vielleicht zwei oder drei Währungssysteme oder Währungsblöcke entstehen lassen könnte: Das sei ja teilweise schon unterwegs, gehe allerdings dann auch über die Grenzen der Europäischen Gemeinschaft hinaus. Völlig neue Probleme stellten sich, wenn man die gesamteuropäische Perspektive ins Auge fasse. Dies mit dem Mundell'schen Modell in Verbindung zu bringen, habe er allerdings große Schwierigkeiten. Er sehe immer noch keine Möglichkeit in der ganzen Diskussion, zufriedenstellend zu sagen, wie denn nun ein optimaler Währungsraum abzugrenzen wäre. Deshalb sei diese Idee kaum in die Realität zu transponieren. Hier könne man eigentlich nur abwarten, was sich herausbilden und was den beteiligten Ländern als vorteilhaft oder weniger vorteilhaft erscheinen werde. Wenn man schon etwa einen Pfund-Raum, einen D-Mark-Raum und vielleicht auch noch eine Franc-Zone bekäme, würde sich das Problem der Schutzklauseln verschärfen. Nicht mehr nur einzelne Länder — wie jetzt in der Liberalisierungsrichtlinie für den Kapitalmarkt vorgesehen —, sondern dann auch Ländergruppen könnten die Schutzklauseln in Anspruch nehmen. Phasen der erneuten Fragmentierung des gemeinsamen Marktes seien dann absehbar. Hinsichtlich der Beurteilung des Europäischen Währungssystems stellt Watrin noch einmal klar, daß es einen institutionellen Mangel habe und daß dieser auch bei glücklichen Erfahrungen nicht geleugnet werden könne. Dieser institutionelle Mangel bestehe darin, daß sich einzelne Länder der Disziplin, der sie sich jetzt freiwillig unterwerfen, genauso wieder entziehen können. Daß es in den letzten Jahren gutging, hänge mit politischen Einstellungen zusammen, aber jeder wisse, wie leicht sich diese politischen Einstellungen und vielleicht auch bestimmte wirtschaftspolitische Modeströmungen wieder ändern könnten. Zu dem Loblied auf die Bundesbank bemerkt Watrin, als Bürger in Europa würde er natürlich sein Geld in dem Bereich anlegen, den die Deutsche Bundesbank regiert. Andererseits habe die Bundesbank in ihrem Bericht
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über 40 Jahre D-Mark selber darauf hingewiesen, daß der Geldwert nicht gesichert werden konnte und daß die D-Mark zwei Drittel ihres Wertes verloren hat. Das habe so gewichtige Konsequenzen gehabt — zumindest für diejenigen, die sich gegen solche Entwicklungen nur unzureichend schützen können —, daß er glaube, Notenbanksysteme des diskretionären Typus leisteten nicht das, was sie zu leisten sich bemühen, nämlich die Sicherung der Geldwertstabilität. Er wolle damit nicht einzelne Personen bezichtigen, sondern der Tatsache Rechnung tragen, daß auch eine regierungsunabhängige Notenbank derart in das wirtschaftspolitische Geflecht eines Landes einbezogen ist, daß sie bestimmten Strömungen und Entwicklungen keinen Widerstand leisten kann. Er erinnert daran, daß man vor rund zehn Jahren oft die Theorie gehört habe, daß eine fünfprozentige Inflationsrate unvermeidbar sei; das habe zumindest für einige Jahre als feststehender Glaubenssatz gegolten, und in ihm komme das ganze Dilemma der Situation zum Ausdruck. Den Einwänden von Steuer und auch Helmstädter stimmt Watrin zu. Die Spannungen seien sehr groß, und im Europäischen Währungssystem sei die Tatsache, daß man seine Regeln nicht anerkennen will, Ausdruck der grundlegenden institutionellen Instabilität. Zur Position der Engländer bemerkt Watrin, daß ihr mehr pragmatischer Blickwinkel in Sachen Europas seine großen Vorzüge habe und daß der Vorwurf an die Engländer, insbesondere an die gegenwärtige Regierung, europafeindlich zu sein, unberechtigt sei. Er gehe zunächst einmal von den eindeutigen Erklärungen aus, daß man auf der Basis des Weißbuchs stehe, daß man also die Vollendung des europäischen Binnenmarktes bis 1992 schaffen und die damit zusammenhängende Politik durchführen wolle. Die Engländer verträten heute im Grunde genommen das, was in der deutschen Diskussion zu Beginn des europäischen Marktes, Ende der 50er Jahre, erörtert wurde, nämlich die Frage einer mehr institutionell orientierten oder einer mehr marktorientierten Koordination. Es scheine, als ob die Engländer sich sehr viel mehr, als die Deutschen das heute tun, auf die Idee konzentrieren, daß der gemeinsame Markt eben ein Markt sei, daß es sich also um marktliche Koordinationsmechanismen handele und daß man diese marktlichen Koordinationsmechanismen ausbauen müsse. Watrin äußert Verständnis dafür, wenn Lawson und andere darauf hinwiesen, daß Großbritannien ζ. B. bei der Freiheit des Kapitalverkehrs schon erhebliche Vorleistungen erbracht habe. Das sei sicherlich auch im britischen Interesse geschehen, aber er sieht darin auch die pragmatische Vernunft der Engländer. Sie wollten den ersten Schritt, nämlich das Gelingen der Geld- und Kapitalmarktintegration, erst einmal hinter sich bringen, ehe sie weitere Schritte gingen. Franzmeyer erinnert an das Oberthema „Die Verwirklichung des EG-Binnenmarktes". Einen Aspekt habe er in dem Vortrag vermißt: Den Zusam-
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menhang zwischen der monetären bzw. der Kapitalmarkt-Integration einerseits und der Herstellung der Freiheiten in den sonstigen Bereichen — nämlich beim Güter- und Leistungsverkehr — auf der anderen Seite. Das Referat enthalte hierzu nur den Satz, daß nach aller Erfahrung eine verstärkte Integration der Märkte auch zu starken Ungleichgewichten führen würde, und es sei in diesem Zusammenhang intendiert, das durch öffentliche Finanztransfers zu kompensieren. Es sei aber fraglich, ob derartige Ungleichgewichte zwangsläufig entstehen müßten. Es sei zu überlegen, wie die Integration der Güter- und Dienstleistungsmärkte auf die Leistungsbilanzen der Mitgliedstaaten und auch auf die Kapitalbilanzen wirken werde, und zwar in den einzelnen Direktinvestitions-Strömen, den Kapitalströmen usw. Gegen eine unausweichliche Herausbildung großer Ungleichgewichte spräche die Erfahrung mit der starken wirtschaftlichen Dynamik, die ζ. B. in Spanien durch die Integration ausgelöst wurde. Spanien habe ja als eines der eher rückständigen Länder innerhalb der Gemeinschaft gegolten. Sehr viele Direktinvestitionen seien inzwischen dorthin gegangen. Auch übergeordnet angelegte Arbeiten wie der Padoa-Schioppa-Bericht zeigten, daß es durchaus nicht ausgemachte Sache ist, daß die peripheren Regionen und die schwächeren Länder da ins Hintertreffen geraten müßten. Der Bericht führe zwar auch sehr viele Aspekte an, die dafür sprechen, bezeichne aber auch Aspekte, die in einem Binnenmarkt zugunsten der peripheren Zonen wirken. Hier bestehe noch Forschungsbedarf, und es könne nicht einfach behauptet werden, daß das so sei. Der zweite Aspekt sei ein mehr politisch-institutioneller: Wenn sich die Bundesrepublik aufgrund zu starker Vorbehalte im Hinblick auf die Herstellung der Wirtschafts- und Währungsunion — weil sie die Aufweichung des Stabilitätsstandards befürchet — sehr attentistisch zeigte, würden dann nicht auf der anderen Seite diejenigen Länder, denen gerade daran gelegen ist, auf dem monetär-institutionellen Gebiet vorzupreschen — etwa Frankreich und möglicherweise auch Italien —, sozusagen ein A l i b i dafür geliefert bekommen, letztlich nicht mitzumachen bei der Integration der Güter- und Dienstleistungsmärkte, weil sie das Ganze als ein institutionell-politischökonomisches Paket ansehen? Willgerodt macht auf einen Zusammenhang aufmerksam, der in der Diskussion viel zu wenig beachtet worden sei: Es sei nicht möglich, Kapitalverkehrskontrollen bilateral in einem geschlossenen Raum wirksam zu machen; Geld sei liquider als Güter. Wenn man Kapitalverkehrskontrollen als Notbremse innerhalb der Gemeinschaft weiter beibehalten wollte wie bisher, dann segmentierte sich die Gemeinschaft in unterschiedliche Räume, die auch gegenüber Drittländern Kapitalverkehrskontrollen nach Maßgabe ihrer Zahlungsbilanzentwicklung einführen müßten. Die Finanzmärkte seien aber heute in einem Maße integriert, daß ohnehin die Wirksamkeit der
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Kapitalverkehrskontrollen weitgehend aufgehoben sei. Hier gäbe es Illusionen; in Frankreich und Italien etwa bestehe noch die Meinung, daß man sich mit diesem Instrument an der vollen Konvertierbarkeit vorbeidrücken könnte. Die Italiener versuchten es ja nach wie vor, und zwar mit sehr drastischen Maßnahmen, und in Frankreich sei auch keine Rede davon, nach englischem und deutschem Muster vollständig zu liberalisieren. Im Augenblick gehe der Streit darum, ob die Quellensteuer von Frankreich und Italien als politisches Instrument benutzt wird, um das Zustandekommen des gemeinsamen Marktes zu verhindern. Nachdem die übrigen Länder die Quellensteuer alle ablehnten oder — wie die Bundesrepublik Deutschland — abschaffen wollten, stünden in diesem Punkt Frankreich und Italien allein. Die Engländer würden sie unter keinen Umständen einführen, nämlich wegen der internationalen Kapitalmarktverflechtungen und des Standorts London als entscheidendes Dienstleistungszentrum. Ebensowenig die Luxemburger. Für die Franzosen und Italiener stelle sich die schwierige Frage, ob sie daran die Liberalisierung des Kapitalverkehrs scheitern lassen sollten. Die Franzosen hätten ausdrücklich zur Bedingung gemacht, daß die Quellensteuer eingeführt wird. Wenn das Instrument der Kapitalverkehrskontrollen — wie geplant — als Übergangsmethode weiterhin erlaubt würde, müßten die betreffenden Länder jeweils gegenüber der ganzen Welt Kapitalverkehrskontrollen einführen. Sie zerstörten damit auf diesem Gebiet nicht nur den gemeinsamen Markt, sondern sie segmentierten damit auch Europa finanzwirtschaftlich gegenüber der übrigen Welt. In Frankreich gäbe es Bestrebungen, die französischen Börsen — übrigens im Unterschied zu den rückständigen deutschen Börsen — stärker zu beleben. Sie hätten auch Erfolge. Es könne sein, daß in Frankreich ein Sinneswandel einträte, abhängig von den politischen Veränderungen dort. Es sei abzuwarten, ob der neue Impuls, der sich in Frankreich bemerkbar macht — auch als Konkurrenz gegen London usw. gedacht —, stärker sein werde als die protektionistischen Strömungen. Willgerodt plädiert für die Öffnung Europas zur übrigen Welt. Wenn die Kapitalverkehrskontrollen abgeschafft würden, sei es unmöglich, weiter Fortress-Europe-Politik zu machen. Heimstädter fragt nach Definitionsunterschieden innerhalb des Kapitalverkehrs: Es seien wohl mehr die finanzwirtschaftlichen Transaktionen relativ nahe am Geldmarkt betroffen, die auch spekulativ mit Währungserwartungen zusammenhängen, und weniger der längerfristige Kapitalverkehr, der auch Ressourcen-Transfer im realen Sinne einschließt. Watrin stellt dazu klar, daß er durchaus beides meint. Zu Franzmeyers Hinweisen bemerkt Watrin: Mit einem Partner, der sagte, wenn man nicht die Währungsunion eingehe, sei er nicht bereit, die Binnenmarktliberalisierung zu machen, würde er bestimmt keine Währungs-
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union eingehen. Die Binnenmarktliberalisierung sei ein schmerzfreies Programm gegenüber den Konsequenzen, die eine Währungsunion haben werde, besonders wenn man sie auch noch auf dem politischen Weg der schrittweise bindenden Koordinierung und Verhaltensabstimmung mit der gleichzeitig überlappenden Zuständigkeit einer sich dann etablierenden europäischen Zentralbank zustande bringen wollte. Es seien unvorstellbare Reibungen zwischen den verschiedenen Instanzen möglich. W i e das Binnenmarktprogramm wirkt und inwieweit das Binnenmarktprogramm überhaupt eine Währungsunion voraussetzt, darüber sei die Meinung zumindest unter deutschen Ökonomen wohl ziemlich klar. Sogar im Delors-Bericht stehe wohl an irgendeiner Stelle, daß eine Währungsunion nicht zwingend sei für die Durchsetzung des Binnenmarktprogramms der EG. Darüber, wie sich der Markt nach innen gestalten wird, sei natürlich schwer eine Prognose abzugeben. Es bestünden ja selbst in der Bundesrepublik noch erhebliche regionale Ungleichgewichte. In Frankreich und Italien seien sie noch greifbarer, und viel größere Abstufungen fände man in Richtung der Süderweiterung. Es hänge nun alles davon ab, wie sich die Wanderungen von Kapital und von Unternehmerfähigkeiten in diesem künftigen Gebilde niederschlagen würden. Darüber seien kaum genaue Aussagen möglich. Überdies hänge vieles davon ab, wie groß die Bereitschaft zur Strukturanpassung ist. Wenn die Delors-Kommission die Verdoppelung der Strukturfonds begrüßte und eine weitere Verdoppelung in naher Zukunft anvisierte, dann bauten sich doch erhebliche Volumina auf. Je mehr Strukturfonds eingerichtet würden, um so geringer werde zumindest die politische Bereitschaft zur Strukturanpassung, und die Durchführung des Binnenmarktprogramms hänge ja von der tatsächlichen Bereitschaft zur Strukturanpassung ab. In der Bundesrepublik gäbe es Beispiele genug, die zeigten, wie es sogar in einem schon lange integrierten Raum zu großen politischen Schwierigkeiten kommen kann, und in Europa nähmen natürlich auch gern die Schwächeren eine Freerider-Position ein.
Harmonisierung durch Wettbewerb oder Absprache?
Von Hugo Dicke, Kiel Gäbe es einen Preis für die international größte wirtschaftspolitische Leistung, der Vorschlag läge in der Luft, diesen der Kommission der EG für ihre Anstrengungen anzuerkennen, den Binnenmarkt zu vollenden. Ihr Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes und der Bericht über die Kosten eines nicht vollendeten Binnenmarktes haben Zweifler an dem Erfolg der EG-Integration zu einer Minorität werden lassen. Optimisten in Wissenschaft und Wirtschaft beherrschen die Diskussion. Sie sehen in der verstärkten wirtschaftlichen Integration der jetzt 12 Partnerstaaten eine Chance für mehr Produktion und Beschäftigung. Das Urteil deutscher Wirtschaftswissenschaftler über die gesamtwirtschaftlichen Effekte der Vollendung des Binnenmarktes ist einhellig positiv; nur in der Prognose der Höhe der quantitativen Effekte tun sich Divergenzen zwischen Wissenschaftlern auf. Unternehmensleitungen knüpfen Befragungen zufolge an das Binnenmarktprogramm in der weit überwiegenden Zahl positive Erwartungen. Im parlamentarischen Raum gibt es eine breite Unterstützung. Lediglich die Bevölkerung ist nach einer Umfrage von Allensbach mehrheitlich skeptisch. Ist die EG ein Phönix aus der Asche? Dieser Eindruck drängt sich jedem auf, der sich an die Lage der EG Anfang dieses Jahrzehntes erinnert. Titel wie „Die EG, war es ein Irrtum?" — so ein Vortrag von Gaston Thorn 1 — oder „Die EG vor der Entscheidung" — so der Titel eines Buches von Karl Kaiser und Cesare Merlini 2 — oder „Wege für einen dauerhaften europäischen Wirtschaftsaufschwung" von Albert und Ball 3 sind Dokumente einer Zeit voller Skepsis gegenüber einer erfolgreichen Zukunft der EG. Der Erfolg der EG-Kommission wurde sicherlich begünstigt durch eine bessere Konjunktur der Wirtschaft. Im Konjunkturaufschwung nimmt erfahrungsgemäß der Wettbewerbsdruck ab und damit auch die Neigung von Regierungen, Schutzmaßnahmen zu verteidigen. Dem Binnenmarktpro1
Gaston Thorn , Die EG, war es ein Irrtum? Europa Archiv. Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Bonn (39) 1984. 2 Karl Kaiser/ Cesare Merlini, Die EG vor der Entscheidung. Bonn 1983. 3 M. Albert/J. R. Ball, Wege für einen dauerhaften Aufschwung der Europäischen Wirtschaft in den achtziger Jahren. Europäisches Parlament, Arbeitsdokumente 1983-1984, 31. August 1983. 3 Konjunkturpolitik, Beiheft 36
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gramm mag darüber hinaus zugute gekommen sein, daß der Markt als Entscheidungsmodell und als Entdeckungsverfahren weltweit erheblich an Reputation gewonnen hat. Die Mitgliedstaaten haben sich — wie schon einmal im EWG-Gründungsvertrag — eine Frist gesetzt, innerhalb der sie dafür sorgen wollen, daß alle Maßnahmen zur Vollendung des Binnenmarktes getroffen werden. Das Fristende, der 31. Dezember 1992, ist nicht rechtsverbindlich. Es wird jedoch kaum daran gezweifelt, daß bei diesem zweiten Anlauf die Marktvollendung innerhalb des ökonomischen Planungshorizontes vollbracht sein wird. Veränderte Entscheidungsverfahren des Ministerrats lassen raschere Beschlußfassung erwarten. Einstimmigkeit ist nicht mehr bei allen Fragen, sondern nur bei Entschlüssen über die Steuern, die Freizügigkeit und die Rechte und Interessen der Arbeitnehmer vorgesehen. Eine wichtige Rolle bei der Marktvollendung hat der Europäische Gerichtshof gespielt. Dieser hat die Gültigkeit der individuellen Rechte der Wirtschaftsbürger auf Ausübung der im EWG-Vertrag garantierten fünf Freiheiten gegen den durch das Vertragsrecht nicht gedeckten Widerstand nationaler Regierungen in verschiedenen Urteilen bekräftigt. Das grundsätzliche Recht des Wirtschaftsbürgers, für die von ihm nachgefragte oder angebotene Leistung unter den Wirtschaftsbürgern in der EG diejenigen auszuwählen, die ihm nach Qualität und Preis als die günstigsten Anbieter oder Nachfrager erscheinen, unabhängig von deren Sitz innerhalb der EG, ist das Kernanliegen der Verträge zur Gründung der EGKS und der EWG und damit auch des Binnemarktprogramms. 4 Der dem EWG-Vertrag mit der Einheitlichen Europäischen Akte neu hinzugefügte Artikel 8a enthält in der Sache eigentlich nichts Neues. Es heißt dort: „Der Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist". Der Gemeisame Markt, der im Jahr 1970 termingerecht als vollendet galt, sollte nichts anderes gewährleisten, als eben diesen freien Verkehr gemäß den Vertragsbestimmungen. Neu ist das Wort Binnenmarkt. Es scheint sehr viel größere 4
Sowohl der EGKS-Vertrag als auch der EWG-Vertrag aus den 50er Jahren enthielt in verschiedenen Bestimmungen diese Grundvoraussetzung eines Marktes. Im EGKS-Vertrag finden sich diese Voraussetzungen insbesondere in den Artikeln 2, 3, 4 und 60. Im EWG-Vertrag ist es insbesondere Artikel 3, der das Recht des EG-Wirtschaftsbürgers auf unbehinderte grenzüberschreitende wirtschaftliche Transaktionen verankert. Einschränkungen der Freiheit sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes nur zulässig, wenn sie aus zwingenden Erfordernissen gerechtfertigt sind. Hierzu zählen nach Artikel 36 und nach 100a EWGVertrag Erfordernisse des nationalen öffentlichen Wohls (öffentliche Ordnung, Sicherheit, Gesundheit, Umweltschutz etc.). Darüber hinaus gibt es weitere zwingende Erfordernisse, etwa Zahlungsbilanzkrisen (Artikel 109), die in verschiedenen Artikeln der EWG- und EGKS-Verträge sowie durch die Rechtsprechung festgelegt sind.
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Strahlkraft als das Wort Gemeinsamer Markt zu haben, und es wurde schon gemutmaßt, vor allem in diesem Wortwechsel läge das Erfolgsgeheimnis des Binnenmarktprogramms begründet. Die Bestimmungen des Vertrages haben die institutionelle Ausgestaltung des EG-Wirtschaftsraumes zum Gegenstand. Die Frage, wie der Binnenmarkt institutionell ausgestaltet sein soll, ist somit von entscheidender Bedeutung. Das Programm zur Vollendung des Binnenmarktes könnte auch ein Programm zur Schaffung institutioneller Voraussetzungen eines gemeinsamen Marktes heißen. Institutionelle Regelungen können ein die Märkte stützendes Korsett sein, sie können aber ebenso wie eine Garotte wirken. Die Bestimmungen des Ministerrats zur Ausgestaltung des Agrarmarktes und des Kohle- und Stahlmarktes mögen als Beispiel dafür dienen, wie durch Rechtsvorschriften Marktkräfte daran gehindert werden, den Wohlstand zu mehren und nicht den Bestand unverkäuflicher Waren. Für die übrigen Wirtschaftsbereiche, mit Ausnahme vor allem des Verkehrs und des Kapitalverkehrs, ist im EWG-Vertrag vorgesehen, daß Zölle und mengenmäßige Beschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung abgeschafft werden. Abweichend von diesem Verbot sind Beschränkungen zulässig, die gemäß Artikel 36 aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind. Soweit nationale Rechts- und Verwaltungsvorschriften allgemeiner A r t oder Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuer, die Verbrauchsabgaben und sonstige indirekte Steuern der Errichtung oder dem Funktionieren des Binnenmarktes entgegenstehen, so sollen diese gemäß Artikel 100a E WG-Vertrag auf Vorschlag der Kommission in Zusammenarbeit mit dem europäischen Parlament und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses harmonisiert werden. Die Kommission soll in ihren Vorschlägen in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau ausgehen. Von dem erlassenen Gemeinschaftsrecht kann ein Mitgliedstaat abweichen, wenn er dies durch Gründe gemäß Artikel 36 oder durch Schutzbedürfnisse im Bereich Umwelt oder Arbeitswelt rechtfertigen kann. Im Lauf des Jahres 1992 sollen alle nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes relevant sind und für die keine Harmonisierung erfolgt ist, erfaßt werden, und der Rat kann beschließen, daß diese Vorschriften den Vorschriften eines anderen Mitgliedslandes gleichwertig sind. Die Kommission hat in ihrem Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes angekündigt, daß sie schon bei ihren Vorschlägen von der Vermutung der Gleichwertigkeit von Rechtsvorschriften, Normen und Stan3*
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dards ausgehen will und nur noch Wesentliches vom Gemeinschaftsrecht erfaßt werden soll. Soweit möglich, soll sich die Harmonisierung darauf beschränken, Mindestanforderungen zu definieren. Der Erlaß von Gemeinschaftsrecht ist also kein Selbstzweck und kein Erfolg an sich, wie es jüngst vom EG-Kommissar Schmidhuber behauptet wurde. 5 Das harmonisierte Recht ist an seinem Beitrag für die Mehrung des Wohlstands in der EG insgesamt und in jedem einzelnen Mitgliedsland zu messen. Außerdem sollten dritte Länder keine Wohlfahrtseinbußen erleiden. Damit der Markt funktionieren kann, also knappe Ressourcen in die von den Konsumenten am höchsten bewerteten Verwendungsbereiche gelangen können, müssen Eigentumsrechte definiert und Vertragsfreiheit garantiert sein, wie dies beispielsweise das Grundgesetz tut (das es aber zugleich zuläßt, daß diese Garantien durch Sondervorschriften in großen Wirtschaftsbereichen eingeschränkt werden). Zwischen diesen Grundvoraussetzungen und dem sonstigen Recht auf der einen Seite und der Höhe der Transaktionskosten der Privaten auf der anderen Seite gibt es eine enge einseitige Beziehung. Die Rechtsordnung kann die Transaktionskosten senken, aber auch das Gegenteil, Kostenerhöhungen bewirken. Ferner können sie dafür sorgen, daß negative Externalitäten der privaten Produktion vermindert oder, im Gegenteil, erhöht werden. Mit einem Wort: Es gibt effiziente und weniger effiziente Rechtsordnungen. Unterschiede in den für alle Sektoren geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie in den allgemeinen direkten und indirekten Steuern zwischen EG-Staaten bedeuten für sich genommen noch keineswegs, daß ein Markt ohne Binnengrenzen nicht funktionieren würde und diese Rechtsvorschriften harmonisiert werden müssen.6 Sind die Grenzbäume beseitigt, so wird bei einem System fester Wechselkurse der Preismechanismus dafür sorgen, daß in einem Land mit einer vergleichsweise ineffizienten Rechtsordnung und hohen direkten und indirekten Steuern die immobilen Produktionsfaktoren bei sonst gleicher Produktivität niedriger entlohnt werden als 5 „Gerade im Bereich des Binnenmarktes ist die einheitliche Rechtsetzung durch die Gemeinschaft ein Wert an sich." Peter M. Schmidhuber, Der Binnenmarkt 1992 —Eine Herausforderung für die Gesetzgebung der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten. „Europa-Archiv", Folge 3/1989. 6 Diese These, bezogen auf die Steuern, wurde aufgestellt in: Europäische Gemeinschaft Kohle und Stahl. Hohe Behörde, Bericht über die durch Umsatzsteuer aufgeworfenen Probleme auf dem Gemeinsamen Markt. Verfaßt von dem gemäß Beschluß der Hohen Behörde Nr. 1/53 vom 5. März 1953 gebildeten Sachverständigenausschuß. Vorsitzender war Jan Tinbergen. Sie hat in gleicher Weise Relevanz für allgemeine Rechtsvorschriften und nicht nur für steuerliche Vorschriften. Diese These, in normatives Gewand gekleidet, wird allgemein als Ursprungslandprinzip bezeichnet. Im Vergleich zum Bestimmungslandprinzip hat es Vorteile bei der Stimulierung von Integrationsprozessen. Siehe Herbert Giersch, Der EG-Binnenmarkt als Chance und Risiko. Kieler Diskussionsbeiträge, 147, Kiel, Dezember 1988, S. 12 ff.
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in einem Partnerstaat mit einer effizienteren Ordnung und niedrigeren Steuern. Werden die Preise der immobilen Faktoren nicht im Ausmaß des nach dem Abbau der Grenzbäume eintretenden Preisrückgangs für inländische Waren- und Dienstleistungen gesenkt, so nimmt die Beschäftigung bzw. Nutzung immobiler Faktoren ab. Im System flexibler Wechselkurse wird der Außenwert der Währung eines solchen Landes sinken. Damit Währungen aufgewertet, immobile Faktoren höher entlohnt oder mehr beschäftigt werden können, müssen Staaten ihre Rechtsvorschriften effizienter gestalten und die direkten und indirekten Steuern bzw. ihr Angebot an öffentlichen Gütern verändern. Es kommt dann zur Harmonisierung durch Wettbewerb. Was die Rechtsvorschriften in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz anbetrifft, von denen es im EWGVertrag heißt, daß die Kommission bei Vorschlägen für harmonisiertes Recht von einem hohen Schutzniveau ausgehen soll, so ist keineswegs sicher, daß eine Rechtsangleichung durch Absprache die Wohlfahrt der Mitgliedsländer erhöht. Schon aufgrund des unterschiedlichen Entwicklungsstandes der Partnerstaaten werden sich die Wohlfahrtsfunktionen unterscheiden. Kosten und Nutzen der Vorschriften für Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz, Verbraucherschutz oder für Arbeitnehmerrechte werden aufgrund abweichender Präferenzen und Produktivitäten unterschiedlich bewertet. Beispielsweise werden Länder mit hoher Präferenz der Beschäftigten für Nettolöhne und dem damit zu erwerbenden Warenkorb nicht bereit sein, zugunsten höherer Sicherheit und stärkerer Informations- und Mitbestimmungsrechte im Betrieb auf Lohn zu verzichten. Auch was den Verbraucherschutz anbetrifft, so wird dieser nur zu höheren Kosten der Produktion und zu höheren Verbraucherpreisen möglich sein. Länder, deren Gesetzgeber keinen solchen Verbraucherschutz für wohlfahrtsmehrend halten, haben auch niedrigere Produktionskosten und Verbraucherpreise. Die Einfuhr von Waren und Dienstleistungen oder Niederlassungen aus Ländern mit niedrigerem Verbraucherschutz dürften in einem Land mit hohem Verbraucherschutz allenfalls die Nachfrage einer Minderheit befriedigen. Wäre es eine Mehrheit, die einen niedrigeren Verbraucherschutz wünscht, so würde diese sich wohl in einem demokratischen Rechtsstaat durchgesetzt haben. Die Niederlassung von Unternehmen aus Ländern mit geringeren Rechten der Beschäftigten auf Information oder Mitbestimmung oder geringerer Sicherheit des Arbeitsplatzes und am Arbeitsplatz wird in einem Land mit starken Rechten der Beschäftigten nur bei einer Minderheit der Erwerbspersonen Anklang finden, und Abwerbung dürfte nur durch Kompensation des geringeren Schutzes durch höhere Entgelte möglich sein. Wenn hinlänglich kenntlich gemacht ist, daß die Güter oder Arbeitsplätze von Unternehmen aus einem Land mit niedrigerem Schutz stammen, die inländischen Konsumenten und Erwerbspersonen ihre Wahl also wohlinformiert und freiwillig treffen, so sind solche Einfuhren und importierte Arbeitsplätze wohlfahrts-
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mehrend. Stellt sich im nachhinein heraus, daß es nicht eine Minderheit ist, die solche wenig geschützten (billigen) Waren und unsichere (höher bezahlte) Arbeitsplätze vorziehen, sondern vielmehr eine Mehrheit, so wird dieser Mitgliedsstaat seine Gesetzgebung ändern können. Diese Möglichkeit besteht natürlich auch in allen anderen Rechtsbereichen. Bei Erzeugnissen, deren Produktion oder Konsum Schäden verursachen, die nicht auf die vertragsschließenden Parteien beschränkt bleiben, sondern unbeteiligten Dritten im Inland (nicht aber im Ausland) schaden, ohne daß sich diese technisch dagegen schützen können, sind national unterschiedliche Rechtsvorsschriften gemeinsamen Vorschriften vorzuziehen, es sei denn, solche Schäden fielen in jedem Land in gleicher Höhe an. Bei lokalen Umweltschäden oder Schäden im Straßenverkehr ist dies wenig wahrscheinlich. Drittschäden dürften in Abhängigkeit vom Niveau der Produktion und des Verbrauchs sowie von der Besiedlungsdichte und der Verkehrsdichte vielmehr in jedem Mitgliedstaat unterschiedlich hoch sein oder aufgrund unterschiedlicher Präferenzen unterschiedlich hoch bewertet werden. Nicht zuletzt höheres Verkehrsaufkommen, geringere Landesgröße und somit höhere Verkehrsdichte in der Bundesrepublik bedingen, daß rund 1/3 aller Verkehrsopfer der EG Opfer des deutschen Verkehrs sind. 7 Auch die Belastungen der deutschen Bürger durch Lärm und Abgase nicht nur im Straßenverkehr sind stärker als im Durchschnitt der übrigen EG. Diese negativen externen Effekte privater Tätigkeit zu verringern, muß sinnvollerweise den nationalen Organen überlassen bleiben. Nutzungsgebühren oder Ersatz des Verursacherprinzips durch das Prinzip der Gefährdungshaftung im Haftpflichtrecht sind ordnungspolitisch geeignete Methoden, negative Externalitäten zu verringern. Die Vorschläge der Bundesregierung zur Einführung einer Nutzungsgebühr für Straßen oder einer Kfz-Steuer nach Maßgabe des Schadstoffausstoßes zielen in die richtige Richtung. Sie ermöglichen eine Nutzungspolitik der Umwelt nach Maßgabe lokaler Knappheiten und Präferenzen. Die Forderung nach Harmonisierung des Schutzes für die Umwelt, die Gesundheit oder die Sicherheit kommt der Forderung gleich, die Preise für Boden in der EG zu vereinheitlichen. Auch hier gibt es ja von Land zu Land unterschiedliche Knappheiten und Präferenzen. Selbst wenn die Wohlfahrtsfunktionen zwischen den Ländern keine Unterschiede aufwiesen und alle Regierungen tatsächlich auch Wohlfahrtsziele verfolgten, wären eine Zentralisierung der Gesetzgebungsmacht und eine Harmonisierung der allgemeinen Rechtsvorschriften sowie der allgemeinen Steuervorschriften nicht in jedem Fall einer Nichtharmonisierung überlegen. Eine Harmonisierung wird in den Fällen nicht benötigt, in denen die Rechtsvorschriften des einen Landes keine Auswirkung auf die Wohlfahrt eines anderen Landes haben. W i r d berücksichtigt, daß Regierungen sich 7
Siehe Europastat, Revue 1977-1986, Luxemburg 1988, S. 219 f.
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bezüglich der Wohlfahrtswirkung von Rechtsvorschriften irren können oder daß sie sich erst gar nicht als Maximierer der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt verstehen, 8 so stellt eine Integration von Gesetzgebungskompetenzen eine größere Gefahr dar für die Wohlfahrt der Gruppe als eine national unabhängige Gesetzgebung. W i e empirische Untersuchungen zeigen, verletzen Regierungen durch Sonderrechtsvorschriften, die beispielsweise in der Bundesrepublik Wirtschaftsbereiche mit einem Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung von über 50 v H erfassen, das Ziel, für einen größtmöglichen Wohlstand zu sorgen. 9 Eine Harmonisierung solcher Rechtsvorschriften wird die Wohlfahrtseinbußen aber eher noch vergrößern, wie die Beispiele von Agrar- und Stahlpolitik nahelegen. Im Agrarbereich wurde das System deutscher Marktordnungen übernommen mit nachteiligen Folgen auch für die übrigen Staaten, die durch den höheren Finanzierungsbeitrag der Bundesrepublik zum EG-Haushalt nicht kompensiert werden. 10 Für den Bereich des Verkehrs hat die Kommission einen Krisenmechanismus vorgeschlagen, der als Ersatz nationaler Marktordnungen gedacht ist und, würde er vom Ministerrat beschlossen, die Wohlfahrt in der EG senken würde. Dagegen ist in allen Fällen, in denen die Wohlfahrt von Partnerstaaten durch Rechtsvorschriften eines Landes vermindert werden kann, eine Zentralisierung von Gesetzgebungskompetenz auf EG-Organe ökonomisch vernünftigt. 11 Grenzüberschreitende negative Extemalitäten der Produktion und des Konsums, Beeinträchtigungen der individuellen Freiheiten im grenzüberschreitenden Verkehr durch Mißbrauch privater oder staatlicher Machtstellungen sind Beispiele, wo die Schaffung von harmonisiertem Recht durch Organe der EG zweckmäßig ist. Transaktionen werden nicht nur durch Rechtsvorschriften, sondern auch durch technische und soziale Normen und Standards beeinflußt. Normen und Standards sind nicht rechtsverbindlich. Sie sind jederzeit wandelbar. 8
In diesem Fall ist eine nationale Ent-Regelung der Wirtschaft geboten. Hierzu siehe: Juergen B. Dönges, Wieviel Deregulierung brauchen wir für den Binnenmarkt? Referat, 52. Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftler Institute e. V., 27./28. April in Bonn. 9 Juergen B. Dönges/Klaus-Werner Schatz, Staatliche Interventionen in der Bundesrepublik Deutschland. Umfang, Struktur, Wirkungen. Kieler Diskussionsbeiträge, 119/120, Kiel, Mai 1986. 10 Vgl. Hugo Dicke et al., EG-Politik auf dem Prüfstand. Wirkungen auf Wachstum und Strukturwandel in der Bundesrepublik. Kieler Studien, 209, Tübingen 1987, S. 71 ff. 11 Jan Tinbergen hält eine Zentralisierung darüber hinaus für angebracht, wenn Maßnahmen der einzelnen Länder eine Wohlfahrtserhöhung eines anderen Landes bewirken können. Fälle, in denen dies (ex ante) erwartet werden kann, dürfte es in der Wirklichkeit kaum geben. Vgl. Jan Tinbergen, Wirtschaftspolitik, Freiburg im Breisgau 1968, S. 232 ff.
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Ausländischen Anbietern von Waren und Dienstleistungen oder auch Investoren erschweren Normen den Zugang zu den Märkten, auf denen ihre Normen sich (noch) nicht durchgesetzt haben. Über technische Normen wird oftmals gesagt, daß sie nicht-tarifäre Handelshemmnisse darstellen, die das Wachstum des Intra-EG-Handels maßgeblich beeinträchtigen, und es ist erklärtes Ziel der EG-Kommission, für eine Angleichung der Normen in Partnerstaaten der EG zu sorgen. Die Kommission möchte aber im Unterschied zur bisherigen Harmonisierungspraxis auf die Ausarbeitung technischer Details verzichten. Sie will sich darauf beschränken, wesentliche Ziele und die zwingenden Erfordernisse einer Sachmaterie zu regeln und die Ausarbeitung von Details europäischen Organisationen der Privatwirtschaft überlassen. 12 Nun ist zu vermuten, daß die an der Normung Beteiligten — in der Bundesrepublik sind es oftmals ehrenamtlich tätige Mitarbeiter von Unternehmen — selbst daran interessiert sind, nur wesentliches in die Normen aufzunehmen. Dieses Interesse ist im übrigen schon dadurch gegeben, daß das Deutsche Institut für Normung e. V. die Kosten der Normungsarbeit aus den Verkaufserlösen der Normenblätter auf einem Markt decken muß, der von der Konkurrenz der Normeninstitutionen anderer Länder bedroht ist. 1 3 Normen enthalten im wesentlichen Begriffsbestimmungen, Benennungen, Baugrundsätze, Berechnungsunterlagen, Einheiten, Formelgrößen, Formen und Abmessungen, aber auch Güte- und Lieferbedingungen, Kennzeichnungen, Eigenschaften und Zusammensetzungen von Stoffen, Verfahren zum Messen, Prüfen, Auswerten sowie Vorschriften und Grundsätze. Der sich ändernde Stand der Technik und des Rechts sowie der Wandel der Konsumentenbedürfnisse, Veränderungen der Preisrelationen der Kostengüter und nicht zuletzt die Konkurrenz der anderen Normungsinstitute erfordern eine fortlaufende Überarbeitung der Normen. Nahezu alle Länder der Welt, die Normen aufstellen, sind in der Internationalen Organisation für Normung (ISO) und der Internationalen Elektrotechnischen Kommission (IEC) zusammengeschlossen. Im Jahr 1986 gab es insgesamt 10 549 internationale Normen bzw. Normentwürfe und nur 1 058 der von der EG Kommission mit der Regelung von Details beauftragten Europäischen Normeninstitute, des Europäischen Komitees für Normung (CEN) und des Europäischen Komitees für elektrotechnische Normung (CENELEC). 14 Es hat den Anschein, daß mit der europäischen Normung eine zweite Ebene zwischen 12
Siehe hierzu auch: Fernand Braun, Die Europäische Gemeinschaft auf dem Weg zu einem gemeinsamen Binnenmarkt, in: Die Europäische Gemeinschaft in der Weltwirtschaft. Edition Dräger-Stiftung, Baden-Baden 1987, S. 141. 13 Vgl. DIN, Deutsches Institut für Normung e. V., Geschäftsbericht 1986/87. Zur Konkurrenzsituation im besonderen siehe Deutscher Normenausschuß, Memorandum Förderungsplan Normung Übersee, Berlin 1968. 14 DIN, Geschäftsbericht 1986/87.
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weltweiter Normung und nationaler Normung der EG-Partnerstaaten geschaffen werden soll. Eine Integration der bisher unabhängigen nationalen Anbieter von Normen in Europa ließe den Wettbewerb nicht unberührt. Ob diese Änderung die Wohlfahrt der Mitgliedstaaten der EG und darüber hinaus der Drittstaaten erhöht, scheint unsicher. Die vorangegangene Analyse hat gezeigt, daß Harmonisierung durch Absprache nur bei solchen institutionellen Regelungen eindeutig vorteilhaft ist, bei denen anderenfalls negative Wohlfahrtswirkungen nationaler Politik auf Partnerländer zu erwarten sind. Die vom EWG- und EGKS-Vertrag angeführten Gründe für ein mögliches Versagen des gemeinsamen Marktes — unterschiedliches Schutzniveau in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umwelt, Konsum sowie unterschiedliche Steuern, sind nicht generell stichhaltig. Die Kommission der EG scheint diesen Standpunkt zu teilen. In ihrem Weißbuch hat sie den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nationaler Vorschriften und Tatbestände aufgestellt. Es heißt dort: „Wenn ein Erzeugnis in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden ist, ist nicht einzusehen, warum es nicht überall in der Gemeinschaft ungehindert verkauft werden sollte. Die Ziele nationaler Rechtsvorschriften — wie der Schutz menschlicher Gesundheit, des menschlichen Lebens und der Umwelt — decken sich in den meisten Fällen". Von den ursprünglich 300 Vorschlägen des Weißbuchs der Kommission sind in der Zwischenzeit mehrere zurückgezogen oder mit anderen zusammengefaßt worden. Bis Ende 1988 hatte sie etwa 90 Prozent der verbliebenen 279 Vorschläge dem Rat zur Entscheidung vorgelegt. Ende 1988 hatte der Ministerrat davon 127 Maßnahmen, das sind etwa 46 Prozent, verabschiedet. Lassen die vorliegenden 127 Beschlüsse nun erkennen, daß die Kommission ihr neues Integrationskonzept von der gegenseitigen Anerkennung nationaler Rechtsvorschriften in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit und Umwelt durchzusetzen vermochte und solche nationalen Eingriffe in den grenzüberschreitenden Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital beseitigt hat, die ökonomisch nicht gerechtfertigt sind? Eine Auswertung hat folgendes Bild ergeben: 15 Etwa zwei Drittel der vom Rat angenommenen Vorschläge hat die Harmonisierung rechtlicher Regelungen zum Gegenstand, bei denen negative Auswirkungen unterschiedlicher Regelungen auf die Wohlfahrt von Partnerstaaten nicht zu befürchten sind. Es handelt sich dabei überwiegend um Rechtsvorschriften über technische Eigenschaften von Waren. Es werden Stoffe von A wie Aromen über Κ wie Konfitüren, U wie vor dem Führersitz angebrachte Umsturzvorrichtungen an land- und forstwirtschaftlichen Schmalspurzugmaschinen auf Rädern — eine 100 Seiten starke Richtlinie, 15
Hugo Dicke, Das Programm zur Vollendung des Binnenmarktes — Versuch einer Zwischenbilanz. Kieler Arbeitspapiere, 364, Kiel, März 1989.
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die der deutsche Bundestag zu beraten sich geweigert hat — bis zu Ζ wie Zichorienextrakte geregelt. Allenfalls könnte es hier angebracht sein, daß die EG-Organe für mehr Transparenz über die Qualitätsunterschiede von Waren aus den verschiedenen Herstellungsländern sorgen und ansonsten aber auf die ökonomische Vernunft der im Eigeninteresse handelnden Nachfrager vertrauen. Dies gilt um so mehr, als die EG-Richtlinie zum Produkthaftpflichtrecht, deren Umsetzung in deutsches Recht bevorsteht, mit dem Ersatz des Verursacherprinzips durch das Prinzip der Gefährdungshaftung die Durchsetzung von Ansprüchen auf Ersatz von Schäden wesentlich erleichtert. Nur ein kleiner Teil der verabschiedeten Kommissionsvorschläge dient gemeinsamen präventiven Zwecken, der Verbesserung des Informationsaustauschs oder zielt auf einen Abbau von Wettbewerbsbeschränkungen. Richtlinien zum Kapitalverkehr und zum Transportwesen haben zum überwiegenden Teil einen Abbau von nationalen Markteingriffen zum Ziel. Eine unmittelbare, signifikante Auswirkung auf Produzenten, Konsumenten oder den Staat ist im Fall der Bundesrepublik Deutschland allenfalls bei etwa 20 Richtlinien zu erwarten. Die bisherigen Schritte zur Schaffung der institutionellen Voraussetzungen des gemeinsamen Marktes dürften daher die hochgeschraubten Erwartungen hinsichtlich der Chancen für mehr Wohlstand noch nicht ganz rechtfertigen. Damit diese in Zukunft erfüllt werden, bedarf es noch größerer Anstrengungen zur Durchsetzung der fünf Freiheiten in allen Wirtschaftsbereichen ohne Ausnahme. Dies würde durch Wettbewerb zu effizientem gemeinsamen Recht führen. Außerdem wäre ein stärkerer Ausbau der Kompetenzen zur Bekämpfung grenzüberschreitender negativer Extemalitäten von Produktion, Verkehr und Konsum nützlich. Die vom Ministerrat erlassenen Richtlinien sind nicht unmittelbar in den Mitgliedstaaten rechtswirksam. Vielmehr müssen die Richtlinien erst noch durch die legislativen Körperschaften in das jeweilige nationale Recht umgesetzt werden. Dabei kommt es nur darauf an, daß die in den Richtlinien vorgegebenen Ziele erreicht werden. Welche Instrumente für die Zielrealisierung am besten geeignet sind, ist eine Frage, deren Beantwortung den nationalen Parlamenten überlassen bleibt. Die Antworten mögen unterschiedlich ausfallen, was den Grad der Zielrealisierung nicht unberührt lassen dürfte. Auch hinsichtlich der Anwendung und Durchsetzung des neuen nationalen Rechts dürfte es Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten geben. W i e das „Maastricht-Projekt" — eine Untersuchung im Auftrag der Kommission — gezeigt hat, wird die Wirksamkeit des EG-Rechts nach der Anpassung des nationalen Rechts, also in der Phase der Anwendung durch die Mitgliedstaaten, vornehmlich durch das Verhalten der Bürger und der nationalen Gerichte bestimmt. Die Kommission sah sich bislang außerstande, vertragskonformes Verhalten der Mitgliedstaaten hinreichend zu
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kontrollieren oder gar zu erzwingen; über Mittel physischer Gewaltanwendung verfügt sie nicht. Zwischen der gemeinsamen Rechtsordnung, der nationalen Rechtsordnung und der Wirtschaftsordnung — letztere beschreibt im Sinne Max Webers 1 6 die tatsächlichen Bestimmungsgründe wirtschaftlichen Verhaltens — werden also auch nach dem 1.1.1993 große Divergenzen bestehen bleiben. Die Unterschiede in den Wirtschaftsordnungen sind empirisch noch kaum erforscht, obwohl sie nach der Beseitigung der Grenzbäume für die Intensität des Standortwettbewerbs von entscheidender Bedeutung sind. Harmonisierung von nationalen Rechtsordnungen, Konventionen und Sitten durch Wettbewerb und nicht durch Absprache ist insoweit nicht nur eine Forderung, die die Vernunft gebietet, sondern eine Seinsaussage, die noch viele Jahrzehnte Gültigkeit haben wird.
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Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. 5. rev. Aufl., Tübingen 1976, S. 181 ff.
Zusammenfassung der Diskussion Referat Dicke Indem er auf Dickes Lob für die EG-Kommission und ihre Erfindung des Binnenmarktes eingeht, bemerkt Flandorffer, dieser Orden gebührte eigentlich mehr dem Europäischen Gerichtshof mit seinem berühmten Cassis-deDijon-Urteil. Dieses Urteil habe für jeden, der den Wettbewerb als das beherrschende Prinzip in der Gemeinschaft unterstützen will, das Grundprinzip herausgestellt. Die Kommission sei inzwischen auf dieses Prinzip grundsätzlich eingeschwenkt, nämlich die Anerkennung der jeweiligen Standards. Allerdings sei auch von Dicke selbst eine Reihe von Beispielen genannt worden, wo das fatale Harmonisierungsbedürfnis der Kommission immer wieder durchschlägt. Es sei zu befürchten, daß auf Dauer die Tendenz wieder dahin gehen werde, in der Europäischen Gemeinschaft möglichst doch alles zu harmonisieren und damit aus der Kommission eine oberbürokratische Behörde zu machen, die alles zu regeln versucht. Dies sei nicht zuletzt in der Bundesrepublik zu beobachten. Man denke ζ. B. an die angestrebten Regelungen zum Schutze des deutschen Handwerks oder zum Schutze der deutschen Versicherungswirtschaft. Diese Tendenzen seien sicherlich — zum Teil für andere Bereiche — auch in anderen Ländern zu beobachten. Bürokratische Regelungen bedeuteten aber den Tod des Binnenmarktes und auch den Tod einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung innerhalb der Gemeinschaft. Everling erwidert, Flandorffer überschätze wohl eher die Möglichkeit, zum Ursprungslandprinzip überzugehen, vor allem auch bei den produktbezogenen Regelungen. Die Schwierigkeiten zeigten sich zum Beispiel im Bereich der Normen. Vor einigen Jahren rauschte durch den Blätterwald, die Kommission sei völlig aus dem Ruder gelaufen; sie hatte für Schleppersitze an land- und forstwirtschaftlichen benzingetriebenen Nutzkraftfahrzeugen — oder ähnlich, schon der Titel sei entsetzlich gewesen — eine Richtlinie vorgelegt, der viele Seiten Anlagen mit Kurven, Berechnungen und dergleichen beigefügt waren. Und die Ursache: deutsche Berufsgenossenschaften hätten herausbekommen, daß sie viele Bandscheibenschäden regulieren mußten. Daraufhin sei ein Institut für Arbeitsphysiologie aufgefordert worden, einen Schleppersitz zu konstruieren, der die Bandscheiben schont. Die Berufsgenossenschaften hätten dann erklärt, sie ersetzten Schäden auf diesem Gebiet nur noch, wenn diese Schleppersitze verwendet würden. Die
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Folge: ausländische Produkte seien hier nicht mehr zu vermarkten gewesen. Weitere Folge: die Kommission habe sich beschwert und wollte ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Nun regte die Bundesregierung an, eine Rechtsangleichung auf der deutschen Basis vorzunehmen, und die deutsche, über die Berufsgenossenschaften eingeführte, wie man sagt: „unverbindliche" Regelung, die in der Praxis verbindlich war, sei als EG-Vorschlag auf den Tisch gelegt worden; sie sei im übrigen heute geltendes Recht. Aus diesem Beispiel folgert Everling daß jeder Mitgliedstaat, sobald die Probleme produktbezogen werden, entweder auf eigene Regelungen verzichten muß, oder man komme um die Harmonisierung nicht herum. Flandorffer entgegnet, es sei nichts dagegen einzuwenden, wenn eine Berufsgenossenschaft so etwas machte. Es sei aber die Frage, ob die Gemeinschaft, hier die Kommission, in solchen Fällen ein harmonisiertes Recht setzen müßte. Um im Beispiel zu bleiben: Wenn die Lendenwirbel der Spanier oder Portugiesen etwas widerstandsfähiger wären, sollte man ihnen doch die Möglichkeit lassen, einen anderen Sitz zu nehmen! (Heiterkeit) Eberling wirft ein, daß man dann gerade nicht zu dem Ursprungsprinzip überginge, das doch alle haben wollten. Wenn man im gemeinsamen Markt haben wollte, daß jede Ware, die in einem Mitgliedstaat im Verkehr ist, auch in anderen Staaten frei von rechtlichen Hindernissen kursieren kann, dann müsse man hier ansetzen. Flandorffer präzisiert, der deutsche Traktorbenutzer, der interessiert daran ist, daß er weiterhin den Schutz seiner Berufsgenossenschaft hat, werde sicherlich darauf achten. Aber ein Amateur-Bauer werde vielleicht sagen: ich bin sowieso nicht in der Berufsgenossenschaft, dann brauche ich auch nicht einen solchen Sitz. Weshalb also in solchen Fällen harmonisierte Vorschriften?! Besonders interessant findet Scharrer, daß es hier nicht um staatliche Eingriffe geht — Verkaufsverbote —, sondern darum, daß eine halbstaatliche oder nicht-staatliche Organisation wie die Berufsgenossenschaft Recht setzt, das in der Praxis den freien Warenverkehr zumindest erst einmal erschwert. Einen Schritt weiter könne man sich vorstellen, daß irgendwelche private Versicherungen Schäden nicht ersetzten, sofern der Autoanschnallgurt nicht irgendwelchen Grundsätzen entspräche. Dann ergäbe sich rasch eine Konkurrenz der Systeme: die Deutschen hätten bestimmte Vorstellungen, die Franzosen vielleicht ganz andere. In der Praxis liefe das darauf hinaus, daß in dem betreffenden Land nur dieser eine Gurt oder nur dieser eine Sitz verkauft werden könnte, unabhängig von irgendwelchen Rechtsvorschriften. Das interessante Problem sei dabei, wie weit nicht-staatliche Eingriffe am Ende dazu zwingen, doch staatlicherseits bzw. auf Gemeinschaftsebene zu harmonisieren.
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Döhrn weist auf die Voraussetzungen hin, die Dicke bezeichnet hatte, damit sein Wettbewerb der Systeme funktioniert. Dazu gehörte einmal die Fiktion des informierten Konsumenten, zweitens sei er von der Annahme ausgegangen, daß es nur lokal begrenzte externe Effekte gibt, drittens habe er implizit unterstellt, daß Unterschiede in Produkten für Konsumenten auch spürbar sind, und viertens habe er vernachlässigt, daß eine Interdependenz von Rechtsvorschriften besteht. Das Ideal sei sicherlich, mit einem in Deutschland gekauften, in Belgien zugelassenen, von einem spanischen Fahrer — der in Portugal sozialversichert ist — gelenkten Lkw in Europa Güterverkehr betreiben zu können. Dagegen stünden aber vielfältige Abhängigkeiten. Bei der Frage, ob Europa durch Wettbewerb oder durch Harmonisierung zustande kommt, müßten in jedem Einzelfall solche Voraussetzungen geprüft werden. Die zitierte Planung von Harmonisierungsvorschriften sei wohl sehr eindrucksvoll; nur müsse man im einzelnen sehen, was denn von diesen Harmonisierungsvorschriften berührt wird. So gäbe es heute schon vier Harmonisierungsvorschriften über die Bekämpfung der Schweinepest. In manchen Marktsegmenten gäbe es sicherlich begründete Harmonisierungserfordernisse. Andere Bereiche, die zum Teil ein sehr großes Marktspektrum abdeckten, schlügen in der Rechnung nur mit einer einzigen Richtlinie zu Buche (z. B. die Maschinenrichtlinie). Hier könne man sich bei gegenseitiger Anerkennung auf die Setzung von Mindeststandards beschränken. Helmstädter weist auf den Widerspruch zwischen zwei Prinzipien hin: Das Ursprungslandprinzip sei ein Herstellerprinzip ; andererseits gebe es Anwendungsrechtsprinzipien. Man gehe eigentlich davon aus, daß, wenn das eine festgelegt ist, das andere sich im Prozeß von allein harmonisieren wird und daß dies günstiger sei, als ad hoc und ex ante zu harmonisieren, weil das Bürokratie bedeute. Diese Hoffnung auf eine automatische Anpassung sei allerdings nicht immer berechtigt. Es werde harte Gegensätze bei der Verwirklichung geben, wo es gar nicht anders gehen werde, als daß man harmonisierte. Willgerodt meint, es komme auf die juristische Seite an. Wenn die Berufsgenossenschaft nur unter der Bedingung zahlte, daß ein bestimmter Sessel auf dem Trecker angebracht ist, würde derselbe Effekt erzielt, als wenn man den Inlandsmarkt von Treckern mit anderen als den vorgeschriebenen Sesseln durch Einfuhrkontrollen völlig freihalten würde. Hätte der Staat die patemalistische Vorstellung, daß er den Bürger gegen seine eigenen Handlungen schützen muß, so müsse er in diesem Fall vom Ursprungslandprinzip abgehen. Wenn man aber davon ausginge, daß der Bürger vernünftig genug ist, sich die richtige Rechtskonstruktion aus den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten selber auszuwählen, dann könne man getrost das Ursprungslandprinzip einführen. Die Harmonisierung rechtlich so durchzuführen, daß
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man sämtliche Rechtsvorschriften addierte, die die einzelnen Länder in unterschiedlicher Qualität haben, führte tatsächlich zum Ende des gemeinsamen Marktes. Denn die Regulierungsdichte sei so groß und vor allen Dingen seien die Differenzen der Regulierung so groß, daß — alles kumuliert — so viele Kontrollen in den Verkehr eingeführt werden müßten, daß praktisch von gemeinsamem Markt und Bürgerfreiheit keine Rede mehr sein könnte. Selbstverständlich gäbe es auch Fälle sinnvoller Harmonisierung; pragmatisches Vorgehen sei hier die einzige Lösung. Willgerodt denkt dabei nicht nur an die Umweltschutz-Fragen bzw. die umweltrelevanten Wirkungen auf andere Länder, etwa die Verschmutzung des Rheins durch die Franzosen. Es sei völlig klar, daß Harmonisierung hier nötig ist. Frau Körber-Weik knüpft daran an: Es klinge sehr schön, wenn es heiße, der Wettbewerb regelte im Zweifel die Differenzen und bewirkte die Harmonisierung von allein, es gäbe dann einen Zwang zur Rechtsangleichung. Aber es stelle sich die Frage: W i e ist es, wenn man die Konsequenzen nicht hinnehmen will, d. h. wenn eine Harmonisierung in Richtung auf PräferenzStrukturen erfolgt, die man nicht akzeptiert? Ebenso sei nach den Wirkungen bei Externalitäten zu fragen, etwa im Umweltschutz, wo zwar allgemein die Überzeugung bestehe, daß mehr Umweltschutz erforderlich sei, wo man aber nicht bereit sei, die Kosten zu tragen. Franzmeyer verweist dazu auf das Faktum, daß nach der Einheitlichen Europäischen Akte, nämlich nach dem neuen Art. 100a Abs. 4 des Vertrages, ein Land, das glaubt, daß bei essentiellen Belangen des Umweltschutzes seinem Anspruch nicht Genüge getan wird, befugt sei, höhere Maßstäbe zu setzen. Das gelte natürlich dann auch für Produktstandards. Das heiße aber doch, daß auch in einem künftigen gemeinsamen Markt, der ja gerade dadurch charakterisiert sein sollte, daß keine Binnengrenzkontrollen mehr stattfinden, gleichwohl doch wieder welche stattfinden müßten, wenn ein bestimmtes Land bei einem bestimmten Produkt Sonderbestimmungen einführte. Bei Katalysator-Autos und dergleichen könne man sich ja noch eine relativ einfache Kontrolle vorstellen, aber bei Mehrweg-Flaschen etwa funktioniere das schon nicht mehr. Dicke warnt vor der Tendenz, die Urteilskraft und Konsequenz des informierten Bürgers zu unterschätzen. Sowohl im Vertragswerk der EG als auch in vielen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs sei dagegen ein Vertrauen auf den informierten Bürger zu erkennen. Information sei das erstbeste Mittel, um die Bürger in ihrem eigenen Interesse zu leiten. Überall da, wo man sich informieren kann — etwa über die Zusammensetzung des Bieres —, könne man es auch dem Konsumenten überlassen, sich zu entscheiden, aber auch nur da! Nur dort, wo Verträge zwischen zwei Parteien Drittwirkungen haben, sei staatliches Handeln geboten. Schon Wilhelm von
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Zusammenfassung der Diskussion
Humboldt habe gesagt, der Staat solle die Freiheiten nur da einschränken, wo es innere Zwistigkeiten oder äußere Feinde gebieten. Zu den produktbezogenen Regelungen und dem Traktorenbeispiel weist Dicke darauf hin, daß es auch Konkurrenz zwischen Versicherungen geben müsse. Es sei vielleicht falsch, eine Pflicht-Berufsgenossenschaft zu haben; außerdem könne man wohl in einem anderen Land eine Versicherung finden, die einen Treckersitz versichert, der die Bandscheiben lädiert. Ansonsten spreche es sich auch bei den Landwirten herum, daß man mit seinen Bandscheiben länger wirtschaften kann, wenn man einen gefederten Sitz nimmt. Der Konsument suche nach Informationen und nutze sie. Zum Externalitätenproblem merkt Dicke an, er habe es durchaus berücksichtigt.
Wirkungen des EG-Binnenmarktes auf einzelne Branchen und unternehmerische Anpassungsstrategien nach 1992
Von Gernot Nerb, München
Die Schaffung eines Europäischen Binnenmarktes ist eine politische Zielsetzung; ihre Realisierung liegt jedoch hauptsächlich in den Händen der Unternehmen. Ein hochrangiger Vertreter der EG-Kommission hat es vor kurzem auf den Punkt gebracht, als er meinte, nur rund ein Drittel der erhofften Wachstums- und Beschäftigungseffekte hinge direkt von der Umsetzung der knapp 300 Maßnahmen des Weißbuchs zur Vollendung des EG-Binnenmarktes ab; die restlichen zwei Drittel der Wirkungen wären dagegen die Folge von erwarteten, weitgehend autonomen Unternehmensentscheidungen. Diese Vorüberlegungen rechtfertigen die starke Betonung betriebswirtschaftlicher Elemente in meinem Referat. Um strategische Entscheidungen mit Blick auf EG 92 zu treffen, müssen sich die Unternehmen zunächst ein Bild von den möglichen Auswirkungen des EG-Binnenmarktes auf ihre Branche machen. Wenn es auch nach dem heutigen Informationsstand unmöglich ist, eine eindeutige Antwort auf die Fragen nach der branchenmäßigen, wie nach der regionalen Betroffenheit zu geben, so lassen sich doch sehr brauchbare Anhaltspunkte aus einer Arbeit von Buigues und Ilzkovitz ableiten 1 . Ihre Grundthese lautet: Nicht-tarifäre Handelshemmnisse (ζ. B. nationale Normen, Bevorzugung nationaler Anbieter bei öffentlichen Ausschreibungen) haben oft erhebliche Preisunterschiede zwischen den Mitgliedsländern entstehen lassen und zu einer geringeren Intensität des Warenaustauschs in der Gemeinschaft (aus EG-Mitgliedsländern und Drittländern) geführt, als ohne solche Hemmnisse zu erwarten gewesen wäre. Diese Hypothese wird überprüft anhand von a)
detaillierten Preisvergleichen,
b)
Fallstudien und Unternehmensumfragen, die im Rahmen des CecchiniBerichts durchgeführt worden sind und
c)
Analysen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Branchen. 1
ausgewählter
P. Buigues/F. Ilzkovitz, The Sectoral Impact of the Internal Market, Commission of the European Communities, 1988 (internes Papier der EG-Kommission). 4 Konjunkturpolitik, Beiheft 36
50
Gernot Nerb
Ein Nachteil der von Buigues und Ilzkovitz vorgelegten Arbeit liegt darin, daß sie sich nur auf das verarbeitende Gewerbe und nur auf die EG insgesamt bezieht. Aufgrund einer Reihe von Untersuchungen i m Dienstleistungssektor (vor allem einschlägige Arbeiten i m Rahmen des Cecchini-Berichts) ist es jedoch möglich, die Aussagen über die voraussichtliche Betroffenheit auf andere Sektoren auszudehnen. Eine Spezifizierung dieser Aussagen getrennt nach Mitgliedsländern ist derzeit noch nicht möglich. Entsprechende Untersuchungen werden zur Zeit i m Auftrag der EG-Kommission durchgeführt (in der BR Deutschland durch das Ifo-Institut) und sind voraussichtlich i m Herbst 1989 abgeschlossen. Erste Ergebnisse dieser Studien sprechen dafür, daß sich an den grundsätzlichen Aussagen der Buigues/Ilzkovitz-Studie auch auf Länderebene nichts wesentliches ändern wird. Insgesamt konnten in der Studie auf der Basis dieser Kriterien von insgesamt 120 untersuchten Industriegruppen (3-stellige NACE-Gliederung) 40 identifiziert werden, die durch die Vollendung des EG-Binnenmarktes überdurchschnittlich stark beeinflußt sein dürften. Diese 40 Industriegruppen vereinigen etwa die Hälfte der gesamten industriellen Wertschöpfung in der EG auf sich. Bei den restlichen 80 Industriegruppen, die die andere Hälfte der Wertschöpfung in der Industrie ausmachen, handelt es sich vorwiegend um Produkte, deren Markt sehr fragmentiert ist. Es eröffnen sich starke Differenzierungsmöglichkeiten und es herrschen kleine Unternehmen mit geringem Marktanteil vor. Die Einführung des europäischen Binnenmarktes wird in diesen Produktfeldern nur geringe Auswirkungen auf die Unternehmen haben. Nicht-tarifäre Handelshemmnisse spielen nur eine marginale Rolle i m Verhältnis zu Faktoren wie Geschmacksunterschiede der Konsumenten aufgrund lokaler und regionaler Eigenheiten. Indirekt können sich allerdings auch auf diese Gruppe der Unternehmen Auswirkungen ergeben, sofern vor- oder nachgelagerte Bereiche vom EGBinnenmarkt tangiert werden. Da hier der Grad der Betroffenheit jedoch meist gering sein wird, soll das Schwergewicht der Analyse auf jene 40 Industriegruppen gelegt werden, für die nicht-tarifäre Handelshemmnisse von größerer Bedeutung sind. Um mehr allgemeingültige Aussagen machen zu können, wird versucht, diese Industriegruppen in Kategorien einzuteilen, die jeweils typische Merkmale hinsichtlich der Marktsituation und der möglichen unternehmerischen Anpassungsstrategien aufweisen. Bei aller Problematik, die damit verbunden ist, zum Teil sehr heterogene Gruppen in ein Schema zu pressen, erscheint dieses Vorgehen doch als ein interessanter Weg, die möglichen Auswirkungen des EG-Binnenmarktes zu systematisieren. Im einzelnen wird zwischen vier großen Kategorien unterschieden (vgl. Abb. 1).
Wirkungen des EG-Binnenmarktes auf einzelne Branchen
51
Sektorale Auswirkungen des EG-Binnenmarktes Β hoch
A « Warenaustausch in der EG Β — Preisdifferenzen in der EG
Β
Abbildung 1
Kategorie 1: Wachstumsindustrien — begünstigt durch bisherige Vergabepraxis der öffentlichen Auftraggeber (Anteil an der idustriellen EG-Wertschöpfung: 6,1 %) Es handelt sich hierbei um Industriegruppen, die derzeit einen mehr oder weniger starken Schutz durch das öffentliche Auftragswesen im jeweiligen Mitgliedsland genießen. Trotzdem besteht hier ein intensiver Warenaustausch in der europäischen Gemeinschaft und die Preisunterschiede sind relativ gering. Die Erklärung für diesen auf den ersten Blick bestehenden Widerspruch liegt in der starken Konkurrenz aus Drittländern. Im Regelfall handelt es sich bei Industriegruppen dieser Kategorie um Wachstumsbereiche, wie ζ. B. Büromaschinen, Datenverarbeitungsgeräte und -einrichtungen sowie Geräte der Telekommunikation und der Medizintechnik. Als Hauptstrategien bieten sich für Unternehmen dieser Branchen in der EG an, im Bereich Forschung und Entwicklung zu kooperieren und Kostensenkungsprogramme vorzunehmen, um die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt — vor allem gegenüber Anbietern aus den USA und aus Japan — zu erhöhen. 4*
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G e o t Nerb
Kategorie 2: National weitgehend abgeschottete Märkte (Anteil an der industriellen EG-Wertschöpfung: 6,4 %) Hierunter fallen Industriegruppen mit hohen nicht-tarifären Hemmnissen, einem relativ geringen Grad des Warenaustauschs in der europäischen Gemeinschaft und erheblichen Preisunterschieden in den einzelnen EGMitgliedsländern. In der Regel sind diese Produktmärkte wenig offen für Importe aus Drittländern. Industriegruppen in dieser Kategorie sind ζ. B. pharmazeutische Produkte, aber auch so unterschiedliche Erzeugnisgruppen wie Dampfkessel, Eisenund Straßenbahnen, Schaumweine, Brauereierzeugnisse sowie Soft-Drinks. Die Anpassungsstrategien sind selbstverständlich in diesen sehr unterschiedlichen Branchen nicht einheitlich. Als gemeinsame Elemente lassen sich jedoch herausarbeiten: In erheblichem Maße eine interne und externe Umstrukturierung, eine Erhöhung der technischen Effizienz und eine verstärkte Marketingaktivität, um Absatzchancen in anderen EG-Mitgliedsländern zu nutzen. Insgesamt kann festgehalten werden, daß die Auswirkungen des EG-Binnenmarktes in dieser Kategorie von Erzeugnisgruppen sehr groß sein werden. Konzentrationstendenzen im Wege von Fusionen, Aufkäufen bzw. Zusammenlegen bisheriger Produktionsbetriebe werden ζ. B. besonders in den Bereichen Herstellung von Dampfkesseln sowie im Waggon- und Lokomotivenbau ausgeprägt sein. Kategorie 3: Strukturell
gefährdete Branchen
(Anteil an der industriellen EG-Wertschöpfung: 5,6 %) Ähnlich wie in Kategorie 2 sind die nicht-tarifären Handelshemmnisse hoch. Anders als in Kategorie 2 sind die Preisunterschiede hier jedoch relativ gering; dies liegt hauptsächlich an der starken Konkurrenz aus Drittländern. Industriegruppen, die hierunter fallen, sind ζ. B. Schiffbau, elektrische Maschinen (ζ. B. Generatoren), Isolierdraht und Kabel, aber auch Nahrungsund Genußmittelsparten wie Teigwaren sowie Kakao, Schokolade und Süßwaren. Der einheitliche Binnenmarkt in Europa wird ohnehin angelegte Strukturanpassungsprozesse beschleunigen. Die primäre Strategie der Unternehmen dieser Branchen muß darin liegen, durch in- und externe Umstrukturierung die technische und ökonomische Effizienz zu steigern. Von besonderer Bedeutung ist in dieser Gruppe vor allem die Handelspolitik der EG gegenüber Drittländern, speziell gegenüber den Schwellenländern.
Wirkungen des EG-Binnenmarktes auf einzelne Branchen
53
Kategorie 4: Industriebranchen mit ausgeprägten Preisunterschieden zwischen den Mitgliedsländern trotz bereits hohem Warenaustausch (Anteil an der industriellen EG-Wertschöpfung: 30,8 %) In dieser Kategorie sind die nicht-tarifären Handelshemmnisse zwar geringer als in den anderen drei Kategorien. Der Warenaustausch innerhalb der Gemeinschaft ist zudem hoch; trotzdem bestehen aber noch erhebliche Preisunterschiede zwischen den EG-Mitgliedsländern (über 10 %). Die Industriegruppen konzentrieren sich auf Verbrauchsgüterbranchen wie ζ. B. Herstellung von Schuhen, Bekleidung, Schmuck, Spiel und Sportgeräten etc., umfassen aber auch Bereiche wie chemische Grundstoffe und Pkw. Die Auswirkungen des EG-Binnenmarktes werden bei Erzeugnissen dieser Kategorie im Durchschnitt geringer sein als in den drei anderen Fällen. Wegen des großen Gewichts dieser Kategorie sind sie trotzdem — gesamtwirtschaftlich betrachtet — beachtlich. Die Öffnung der Binnengrenzen wird zu einer spürbaren Verringerung der heute noch bestehenden Preisunterschiede bei ein- und derselben Produktgruppe innerhalb der EG führen. Dazu wird vor allem der noch regere Warenaustausch — einschließlich vermehrter Reimporte — beitragen. In der ersten Runde wird eine tendenzielle Preisangleichung vor allem Auswirkungen auf die zum Teil sehr unterschiedlichen Handelsspannen in den EG-Mitgliedsländern haben. Mittelund längerfristig werden hiervon jedoch erhebliche Effekte auch auf die Produktionsbetriebe in der Gemeinschaft ausgehen: Zum einen wird sich der Zwang zu Kosteneinsparung verstärken, um trotz geringerer Gewinnspanne pro Einheit die Rentabilität des Unternehmens zu gewährleisten und zum anderen sind die Möglichkeiten einer Preisdifferenzierung nach nationalen Märkten wesentlich eingeschränkt. In Tab. 1 findet sich eine Zuordnung der 40 vom EG-Binnenmarkt — in positiver oder negativer Hinsicht — besonders betroffenen Industriegruppen auf diese 4 dargestellten Hauptkategorien. Es sei hier nochmals betont, daß sich diese Untersuchung nur auf die Industrie in der EG insgesamt bezieht. Ohne hier im Detail den Nachweis erbringen zu können, läßt sich dieses Schema aber auch auf andere Wirtschaf tsbereiche übertragen: Der Güterkraftverkehr ist ζ. B. der Gruppe 2 (d. h. bisher besonders stark durch nicht-tarifäre Hemmnisse abgeschüttete Bereiche) zuzuordnen. Der Bergbau gehört in Gruppe 3, d. h. zu den strukturschwachen Branchen, deren Existenz hauptsächlich durch ein wesentlich preisgünstigeres Weltmarktangebot gefährdet ist.
2
1
Konsequenzen des Binnenmarkts
Medizinische Geräte
372
Gernot Nerb
· Intensiver Warenaustausch zwischen ^ΐι ^orsc^unSun(* Ent8 den EG-Ländern und hoher Grad der - , , Λ Α , ... Offenheit der EG-Märkte für Anbieter ' £ di eum ΐοΐβ^,ί" 8 aus Drittländern . ,.u ° , ,1 τλ η· 1 " menim r* .n . . u· j · j Weltmarkt. Der Binnen• Geringer Preisunterschied in der EG markt ibt den euro äischen aufgrund starker Konkurrenz aus Dritt. ^ , ι_ ländern Firmen eine Gelegenheit, eine starke Position im Weltm • Sterk wachsende Nachfrage (Wachs. ι , ν zu gewinnen, 6 tumsbranchen) • ,High Tech'-Bereiche • Mäßige bis substantielle Kosteneinsparung möglich durch »Economies of Scale' • Hoher Grad der Konzentration • Niedrigere Produktivität der europäischen Firmen im Vergleich zu den amerikanischen bzw. japanischen Firmen.
Pharmazeutische Produkte • Hohe nicht-tarifäre Hemmnisse (öf- · Erhöhung des Handels zwiHerstellung von Heizkesseln fentliche Beschaffung und Normen) sehen den EG-Ländern Eisenbahnen u. Straßenbahnen * Schwacher Warenaustausch zwischen · Restrukturierung (besonders Schaumweine den EG-Ländern u. geringe Offenheit bei Herstellung von HeizkesBrauerei u. Mälzwirtschaft der EG-Märkte für Anbieter aus Drittsein u. von Eisenbahnen) »Soft Drinks' ländern · Erhöhung der technischen • Hoher Grad der Konzentration Effizienz • Substantielle Kosteneinsparung mög- · Verringerung der Preisunterlich durch Ausnutzung der .Economies schiede of Scale' · Der Einfluß des Binnenmarkts auf diese Gruppe ist sehr groß.
Telekommunikation
257 315 362 425 427 428
Hauptmerkmale
Büromaschinen, Datenverarbeitungs- · Hohe nicht-tarifäre Hemmnisse (öf- · Restrukturierung gerate und -einrichtungen fentliche Beschaffyng Normen) · Kooperation (vor allem im Be-
344
330
Kate- NACE Industriebranchen gorie Nummer
Klassifikation der Industriebranchen nach den Hauptmerkmalen und möglichen Konsequenzen der Vollendung des Binnenmarkts — Europäische Gemeinschaft insgesamt —
Tabelle 1
54
247 248 251 256
4
Glas und Glaswaren · Mäßige nicht-tarifäre Hemmnisse · Der Handel wird den günstigKeramikwaren (Normen und administrative Hemmsten Anbieter der EG bevorzusr Chemische Grundstoffindustrie nisse) gen und damit eine tendenzielle ST Andere chemische Produkte für indu- · Hohe Penetrationsrate der Importe Angleichung der Herstellerstrielle und landwirtschaftliche Zwecke · Preisunterschied über 10 % preise in der EG bewirken. s Landwirtschaftliche Maschinen · Substantielle Kosteneinsparung Mittel- und längerfristig ReMetallbearbeitungsmaschinen möglich durch .Economies of Scale' strukturierung der ProduktionsTextilmaschinen betriebe zu erwarten. Ô Maschinen für Nahrungsmittelproduktion, für chemische Erzeugnisse u. für ähnliche Industrien Anlagen für Bergbau, Eisen- und StahlIndustrien Antriebsmaschinen Rundfunk u. Fernsehgeräte Elektrogeräte Herstellung von Lampen und elektrisehen Leuchten Bau und Montage von Kraftwagen Raumfahrtgeräte Wollaufbereitung Baumwollspinnerei Teppiche Herstellung von Schuhen Bekleidung Heimtextilien Verarbeitung von Gummi Schmuck Foto- und Filmbedarf sowie Zubehör Spielwaren und Sportgeräte
Isolierdrähte und Kabel · Siehe Merkmale der Gruppe 2, ausge- · Restrukturierung Elektrische Maschinen nommen, daß der Preisunterschied ge- · Erhöhung der technischen und Schiffbau ringer (unter 10 %) ist, und daß beim ökonomischen Effizienz, aber Teigwaren (Nudeln etc.) Schiffbau und bei elektrotechninicht so stark wie bei Gruppe 2 Kakao, Schokolade und Süßwaren sehen Produkten der Handel der EG- · Bedeutung der Handelspolitik Länder Drittländern eine größere Rolle der EG gegenüber Drittländern spielt als der Handel zwischen den EG-Ländern
Quelle: Buignes P./Ilzkovitz F., The Sectoral Import of the Internal Market, Commission of The European Communities, 1988.
351 364 431 432 438 451 453 455 481 491 493 494
326 345 346 347
325
321 322 323 324
341 342 361 417 421
3
8
s
SP 3 g-
8 g ÜT g g-
2? g g &
oro
^
56
G e o t Nerb
Die Finanzdienstleistungen (Banken und Versicherungen) können in der Mehrzahl der Mitgliedsländer der Kategorie 4 (keine besonders hohen nichttarifären Barrieren, trotzdem deutliche Preisunterschiede) zugeordnet werden; in einigen Mitgliedsländern (ζ. B. Spanien, Italien) war der Bankensektor bisher jedoch weitgehend vor dem internationalen Wettbewerb geschützt und wird sich erheblichen Anpassungsprozessen — ähnlich wie für die Industriebranchen in Gruppe 2 beschrieben — unterziehen müssen. Nach diesen Überlegungen zur Betroffenheit der eigenen Branche durch den EG-Binnenmarkt muß sich jedes Unternehmen darüber im klaren sein, welcher der folgenden Markt-Grundtypen für das jeweilige Geschäftsfeld zutreffend ist, für das eine Strategie im Blick auf 1992 entwickelt werden soll:
A. Volumenmärkte Es handelt sich um Märkte mit schwachen Differenzierungsmöglichkeiten und starken Vorteilen für Marktführer. Die Rentabilität hängt auf diesen Märkten wesentlich vom Marktanteil ab; es dominieren Großunternehmen. Die Weltnachfrage wächst meist stark und die Ausgaben für F&E sind hoch. Fusionen und Unternehmenskooperationen sind daher häufig notwendige Bedingungen für eine (Wieder)-Eroberung von Marktanteilen. Diese Aussage gilt ζ. B. für eine Reihe von sog. „Zukunftsindustrien" wie ζ. B. Luft- und Raumfahrt, Telekommunikation, elektronische Halbleiter (d. h. Industriebranchen der Kategorie 1 des weiter oben vorgestellten Schemas). Die Vollendung des europäischen Binnenmarktes ist eine Chance für die Unternehmen dieser Gruppe, ihren europäischen Basismarkt besser zu beherrschen, bevor sie auf die Weltmärkte übergreifen können. Um dort bestehen zu können, müssen sie häufig erst eine ausreichende Größe in allen relevanten Bereichen (ζ. B. bedienter Markt, F&E-Aufwendungen etc.) erlangen. Hierauf ist u. a. bei der Ausgestaltung einer europäischen Fusionskontrolle zu achten.
B. Spezialisierungsmärkte Große Differenzierungsmöglichkeiten und starke Vorteile für Marktführer charakterisieren die Unternehmen der zweiten Marktgruppe. Kleine und große Unternehmen koexistieren auf Märkten, die durch eine hohe Technologieintensität gekennzeichnet sind. In Marktnischen können selbst kleine und neugegründete Firmen eine starke Marktposition erreichen. Strategievariablen sind Breite der Produktpalette und Größe des Absatzmarktes.
Wirkungen des EG-Binnenmarktes auf einzelne Branchen
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Die Möglichkeit, einen größeren europäischen Markt ohne nicht-tarifäre Hindernisse bedienen zu können, ist von entscheidender Bedeutung, da dies einen positiven Einfluß auf die Diffusion und Übernahme neuer Technologien und Produkte hätte.
C. Stagnationsmärkte Die Unternehmen dieser Gruppe sind mit schwachen Differenzierungsmöglichkeiten und geringen Vorteilen für die Marktführer konfrontiert. Die Produktionstechnologie ist allgemein zugänglich und die Mindestunternehmensgröße für eine optimale Kostenstruktur bereits bei den meisten Firmen erreicht. Viele Unternehmen arbeiten mit Verlust auf diesen Märkten, die stark von der Konkurrenz der neu-industrialisierten Länder bedroht sind. In diesem Fall löst der europäische Binnenmarkt nicht die Probleme der europäischen Unternehmen. Es gilt vielmehr, sich entweder der Konkurrenz der neuen Wettbewerber zu stellen, oder sich — was sicher die schlechtere Lösung wäre — durch Handelsbarrieren auf Gemeinschaftsebene zu schützen. Auf die Marktform „fragmentierte Märkte" soll hier nicht weiter eingegangen werden, da bereits weiter oben darauf hingewiesen wurde, daß in diesem Bereich die Einführung des europäischen Binnenmarktes nur relativ geringe Auswirkungen auf die Unternehmen haben wird. Auf diesen fragmentierten Märkten, die von starken Differenzierungsmöglichkeiten und schwachen Vorteilen für Marktführer gekennzeichnet sind, herrschen kleine Unternehmen mit geringem Marktanteil vor. Die Marktzutrittskosten und Skalenerträge sind gering. Die vielfältigen Differenzierungsmöglichkeiten verändern sich rasch im Laufe der Zeit.
Entwickeln von Unternehmensstrategien Durch Kombination der aus der Betroffenheit der jeweiligen Produktgruppe, wie auch der vorherrschenden Marktform resultierenden Anforderungen lassen sich in den Unternehmen angemessene Strategien für 1992 entwickeln. Bevor einige zentrale Strategievarianten für ein Modellunternehmen diskutiert werden, soll kurz der „Bewußtseinsstand" in den Unternehmen angesprochen werden. W i e aus Abb. 2 hervorgeht, erwartete laut einer Ifo-Telefonumfrage im Dezember 1988 fast die Hälfte der Industriefirmen „mit Sicherheit" Auswirkungen des EG-Binnenmarktes auf das eigene Unternehmen; rd. ein Viertel der befragten Industriefirmen hielt direkte
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Gemot Nerb
Auswirkungen von „EG 92" auf das eigene Unternehmen für „nicht wahrscheinlich" und ein weiteres Viertel für „wenig wahrscheinlich bzw. noch nicht abzusehen". Dieses Ergebnis deckt sich mit der weiter oben diskutierten These, wonach rd. die Hälfte der Industrieunternehmen spürbar von EG 92 betroffen sein wird und zu einer Anpassung der Unternehmensstrategien angehalten ist, um die Chancen des EG-Binnenmarkts voll zu nutzen bzw. mögliche Nachteile abzuwenden. Im Handel und in der Bauwirtschaft sah sich gemäß derselben Umfrage nur jeweils rd. ein Drittel der Unternehmen (jeweils 35 %) durch den Binnenmarkt direkt betroffen. Die erforderlichen Anpassungsstrategien werden je nach Einzelfall schwergewichtig auf eine interne Umstrukturierung (ζ. B. Straffung des Produktsortiments) oder eine externe Umstrukturierung (ζ. B. Beteiligung, Fusion, um notwendige Betriebsgröße zu erreichen) abzielen. Häufig sind jedoch Maßnahmen aus beiden Strategie-Kategorien erforderlich.
Erwartete Auswirkungen des EG-Binnenmarktes auf das eigene Unternehmen (in %) mit Sicherheit
Quelle Ifo-Telefonumtrage 19Θ8
Abbildung 2 Beispiele von strategischen Überlegungen eines mittelständischen Industrieunternehmens im Hinblick auf „EG 1992"
Rechts- und Organisationsform des Unternehmens. Im Blick auf 1992 ist ζ. B. zu überlegen, ob die heutige rechtliche Struktur eines Familienunternehmens mit starker Abhängigkeit der Geschäftsführung von einzelnen Gesellschaftern noch optimal ist. Möglicherweise bietet eine Kapitalgesellschaft (ζ. B. die wohl in Kürze mögliche Form einer europäischen GmbH oder AG) mehr Vorteile. Gleichgültig wie die rechtliche Struktur des Unternehmens geregelt ist, wird es in vielen Klein- und Mittelbetrieben notwendig
Wirkungen des EG-Binnenmarktes auf einzelne Branchen
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sein, Bereichsverantwortlichkeiten präziser zu definieren (anstelle einer alleinigen Leitungsbefugnis des Inhabers). Bei Finanzierungsentscheidungen empfiehlt es sich, stärker die Möglichkeiten des größeren Marktes zu nutzen und sich nicht ausschließlich nur auf die Empfehlungen der Hausbank zu verlassen. Schließlich ist es meist ratsam, eine strategische mittelfristige Unternehmensplanung einzuführen, wenn bisher ohne oder nur mit sehr kurzfristigen Zielvorgaben gearbeitet worden ist. Personalbereich In vielen Unternehmen besteht die Notwendigkeit zu in- oder externen Schulungsprogrammen. Dabei geht es nicht nur um die Verbesserung der Fremdsprachenkenntnisse der Mitarbeiter, sondern vor allem um eine stärkere geistige Durchdringung der Absatz- und Beschaffungsmärkte in den verschiedenen EG-Mitgliedsländern. Häufig fehlt es in den Unternehmen an Mitarbeitern mit Auslandserfahrung. Daher ist heute bereits ein „head hunting" nach solchen Kräften im In- und Ausland festzustellen. Oft ist es für verschiedene Aufgaben des Unternehmens sinnvoller, fallweise oder laufend eine externe Beratung einzuschalten, als eigene Spezialisten auf Dauer einzustellen. Materialwirtschaft In diesem Unternehmensbereich lassen sich mögliche Strategieänderungen im Blick auf 1992 so umreißen: —
Zentralisierung des Einkaufs (ζ. B. Zusammenschluß zu Einkaufsgemeinschaften, Reduzierung der Lieferantenzahl), um günstigere Konditionen zu erzielen.
—
Zentrallager (evtl. Gemeinschafts-/Fremdlager) anstelle ausschließlich eigengenutzter dezentraler Kleinlager.
—
Fremdvergabe des Transports anstelle eines eigenen Werkverkehrs, der bei dem zu erwartenden Druck auf die Frachtraten eventuell betriebswirtschaftlich nicht mehr sinnvoll ist. Nutzung des „just-in-time"Konzepts, um die Lagerkosten zu reduzieren.
—
Stärkere Nutzung des Einkaufs bei preisgünstigeren Lieferanten in anderen EG-Ländern. Nach einer Ifo-Telefonumfrage vom April 1989 gaben in Industrie und Handel, in der Bauindustrie sogar fast die Hälfte der Unternehmen an, sie beabsichtigen, im Zuge des EG-Binnenmarktes ihre Bezüge von Waren und Dienstleistungen aus dem EG-Ausland zu verstärken, vor allem aus Frankreich (vgl. Abb. 3).
60
Gernot Nerb
Beabsichtigen Sie im Zuge des EG-Binnenmarktes Ihre Bezüge von Waren und Dienstleistungen aus dem EG-Ausland zu verstärken? Industrie
Industrie, Handel und Bau JA: 35,0%
J A : 31,6%
N E I N : 65.0%
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Wirkungen des EG-Binnenmarktes auf einzelne Branchen
61
Produktion —
Ein zentrales Thema ist die Überprüfung der Fertigungstiefe. Oft kann es betriebswirtschaftlich sinnvoll sein, die Wertschöpfungskette zu verkürzen und verstärkt Komponenten bzw. Dienstleistungen von außen zu beziehen. In größeren Unternehmen gibt es heute bereits den „make or buy manager".
—
Ein weiteres Strategiefeld ist das Produktprogramm. Hier stellt sich vor allem die Frage, ob das bisherige Sortiment gestrafft werden sollte, um stärker die Vorteile der Mengendegression der Stückkosten bei größeren Serien zu nutzen. In vielen Branchen kann jedoch die umgekehrte Strategie erfolgreicher sein, nämlich noch mehr Spezialprodukte in das Sortiment aufzunehmen, für die der bisherige nationale Markt zu klein war, der große EG-Binnenmarkt jedoch Erfolgschancen bietet. Laut einer Ifo-Umfrage vom Mai 1988 planten 44 % der befragten Industrieunternehmen ihr Produktsortiment i m Blick auf „EG 92" zu ändern,· Strategien zur Standardisierung des Sortiments (d. h. Straffung) und Ausweitung in Richtung einer stärkeren Spezialisierung hielten sich dabei in etwa die Waage; nach Branchen differenziert, ergaben sich jedoch deutliche Unterschiede.
—
Andere Strategieüberlegungen im Produktionsbereich betreffen eine forcierte Rationalisierung und/oder Produktionsverlagerungen in andere EG-Länder bzw. Kooperationsvereinbarungen mit anderen Unternehmen. W i e die oben angesprochene Ifo-Umfrage zeigte, steht das Rationalisierungsmotiv im Durchschnitt der deutschen Industrie eindeutig im Vordergrund (49 % der Unternehmen); jedes fünfte deutsche Industrieunternehmen plant eine Produktions-Kooperation mit Unternehmen in anderen EG-Ländern und knapp jedes zehnte Unternehmen beabsichtigt, eine (teilweise) Verlagerung der Produktion in andere EG-Mitgliedsländer (vgl. Abb. 4).
Vertrieb Strategische Neupositionierungen im Vertrieb gehören nach verschiedenen Umfragen zu den wichtigsten Strategiefeldern bei den Vorbereitungen für „EG 92". U. a. stellt sich die Frage, ob — wie heute häufig der Fall — der ausländische Markt über einen ausländischen Generalimporteur bearbeitet werden soll, oder ob eine eigene Vertriebsorganisation i m jeweiligen EGMitgliedsland aufgebaut werden sollte. Letzteres hätte den Vorteil einer größeren Marktnähe des Unternehmens und einer direkteren Steuerung der Vertriebsaktivitäten als dies bei Einschaltung eines Generalimporteurs möglich ist. Denkbar ist auch, statt eines eigenen Vertriebsapparates i m Ausland
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G e o t Nerb
Ausrichtung der Produktionsstrategie in der BRD mit Blick auf Europa 1992 (in %)
insgesamt
Rationall· sierung
Kapazitaets- Verlagerung Kooperations ausbau in d. EG vereinb
Quelle: Ifo-Innovatloneteet 1988
Abbildung 4 mit anderen Unternehmen beim Vertrieb zu kooperieren. Wie die schon mehrfach zitierte Ifo-Strategie-Umfrage vom Mai 1988 ergeben hat, planten 41 % der Industrieunternehmen ihre Vertriebsstrategien mit Blick auf den EG-Binnenmarkt neu auszurichten. Im Vordergrund stand der Aufbau eigener Vertriebswege (28 $>); fast jedes fünfte Unternehmen (17 %) plante eine Vertriebskooperation im EG-Ausland. Ebenfalls rd. ein Fünftel der Industrieunternehmen beabsichtigte, sich mehr als heute an internationalen Messen im EG-Raum zu beteiligten vgl. Abb. 5).
Forschung und Entwicklung Ein wichtiger positiver Aspekt des EG-Binnenmarkts ist darin zu sehen, daß sich in einem größeren einheitlichen Markt Forschung und Entwicklung in den Unternehmen effizienter organisieren lassen. Bisher erforderten allein unterschiedliche Normen — d. h. einmal ganz abgesehen von Produktdifferenzierungen aufgrund anderer Kundenbedürfnisse — eine Vielzahl länderspezifischer Produkte; hierdurch wurden tendenziell die Entwicklungskosten in die, Höhe getrieben. Außerdem ist der Entwicklungsaufwand für
Wirkungen des EG-Binnenmarktes auf einzelne Branchen
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Ausrichtung der Vertriebsstrategien in der BRD mit Blick auf Europa 1992 (in %) 50 41 40
30
20
10
0
insgesamt
eigene über koop. Vertriebswege Untern.
über Dienstl untern.
EG-Messe beteiligung
Quelle: Ifo-Innovatloneteet 1988
Abbildung 5 Produkte, die auf kleine Märkte zugeschnitten sind, meist hoch und kann damit den Innovationsprozeß erheblich behindern. Wie die angesprochene Ifo-Strategie-Umfrage vom Mai 1988 ergeben hat, beabsichtigte ein Drittel der Industrieunternehmen, die F&E-Aktivitäten im Blick auf 1992 zu überdenken. Jeweils 15 % der Unternehmen planten bei F&E eine Kooperation mit inländischen bzw. ausländischen EG-Partnern einzugehen. Weitere 20 % zielten in erster Linie auf eine Intensivierung der internen F&E-Aktivitäten ab und nur eine verschwindend kleine Zahl von Firmen (1 %) wollte selbständig, d. h. ohne Kooperationspartner, F&E-Aktivitäten in anderen EGLändern beginnen (vgl. Abb. 6).
Generelle Auswirkungen des EG-Binnenmarktes in den Unternehmen
(Ergebnisse von Unternehmensumfragen) Bereits Ende 1987 führte Ifo eine Umfrage in der Industrie durch, um die voraussichtlichen Konsequenzen von Unternehmensstrategien und Markteinflüssen auf Stückkosten und Umsatzvolumen herauszufinden.
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Schwerpunkte der Stückkostenreduzierung bei Verwirklichung des Binnenmarktes - in % der Betriebe, die eine Stückkostenred. erwarten Absatz Produktion Beschaffung Finanzierung Marketing Versicherung 0
10
20
H
30
BRD
40
50
60
H l EG
Quelle: EQ-Blnnenmarktumfrage, 1987
Abbildung 6
Die Hälfte der deutschen Industrieunternehmen (52 %) rechnete danach mit niedrigeren Stückkosten, wenn die bislang in der EG noch bestehenden Handelshemmnisse abgebaut sind. Die andere Hälfte der Firmen erwartete meist keinen Einfluß; steigende Stückkosten aufgrund des EG-Binnenmarkts wurden nur von 1 % der Firmen befürchtet. Soweit eine Stückkostensenkung erwartet würde, belief sie sich auf durchschnittlich rd. 4 %,· darunter waren aber auch einige Firmen, die eine Einsparmöglichkeit von mehr als 10 % der Stückkosten sahen. Bezogen auf die gesamte deutsche Industrie, also einschließlich jener Hälfte, die mit keiner Änderung rechnete, bzw. sogar einen Anstieg befürchtete, ergab sich eine voraussichtliche Stückkostenreduzierung von knapp 2 %. Die Quellen der Stückkostenreduzierung wurden in Deutschland wie in den anderen EG-Ländern vor allem in der Distribution, d. h. in erster Linie bei Transport- und Lagerkosten, gesehen. In den anderen Untemehmensbereichen, wie Produktion, Beschaffung, Finanzierung, Marketing und Versicherung zeichneten sich nach Ansicht der deutschen Firmen in geringerem Maße als in den meisten anderen EG-Ländern Einsparmöglichkeiten ab (vgl. Abb. 7).
Wirkungen des EG-Binnenmarktes auf einzelne Branchen
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Ausrichtung der FuE-Strategien in der BRD mit Blick auf Europa 1992 (in %) 33 30
20
10
0 Aktivitäten
Kooperation
Kooperat.
in d. EG
Quelle: Ifo-Innovatlonstest 1988
Abbildung 7
Was die voraussichtlichen Auswirkungen auf das Absatzvolumen anbelangt, wurde im Inlandsgeschäft kaum ein positiver Impuls erwartet (Saldo + 9), wohl aber beim Absatz in anderen EG-Ländern (Saldo + 63) und in geringerem Maße auch bei der Ausfuhr in Nicht-EG-Länder (Saldo + 27). Insgesamt erwarteten jene rd. zwei Drittel der deutschen Industriefirmen, die mit einer Absatzausweitung rechneten, einen Anstieg des Umsatzvolumens von durchschnittlich rd. 8 %. Etwa 4 % der Betriebe befürchteten Absatzeinbußen von durchschnittlich jeweils 11 % und das restliche knappe Drittel der Betriebe erwartet keine Auswirkungen auf den Absatz. Bezogen auf die gesamte deutsche Industrie ergab sich eine voraussichtliche Absatzsteigerung um 5 %. Die Gründe für die erwartete Umsatzausweitung wurden in erster Linie in der höheren preislichen Wettbewerbsfähigkeit infolge der Kostenreduzierung gesehen; in Deutschland war dieser Anteil höher als im EG-Durchschnitt (vgl. Abb. 8). Es folgten „neue regionale Absatzmärkte" und die „Verbesserung sonstiger nicht preislicher Wettbewerbsbedingungen" (wie attraktivere Produkte, Verkürzung der Lieferfristen, Verbesserung des Kundendienstes etc.) sowie schließlich ein „generell schnelleres gesamtwirt5 Konjunkturpolitik, Beiheft 36
66
Gernot Nerb
Hauptgründe für die erwartete Steigerung des Umsatzvolumens - in % d e r B e t r i e b e , d i e m i t e i n e r
Höher© Wettbewerbsfähigkeit
Λ
·
Umsatzsteigerung rechnen
;
;
.
J
-
60
39
Neue Absatzmärkte
Sonstige Wettbewerbsbedingungen Schnelleres Wachstum
Ι 36 39
wmmmmmâ
Ausscheiden von Mitbewerbern
34
23
10 J
Ο
10
20
• i BRD
30
40
^
L
50
60
EQ
Quelle: EQ-Binnenmarktumfrage. 1987
Abbildung 8
schaftliches Wachstum" dank des EG-Binnenmarktes; kaum ins Gewicht fiel dagegen der Grund „Ausscheiden von Mitbewerbern". Die relativ wenigen deutschen Industriebetriebe, die Umsatzeinbußen befürchteten (1 %), sahen den Grund in zunehmendem Preiswettbewerb und im Erscheinen von neuen Mitbewerbern. Einen guten Überblick über die voraussichtliche Betroffenheit von ausgewählten Industriebranchen gibt Abb. 9. Wie hieraus hervorgeht, ist nach Ansicht der Firmen mit einer überdurchschnittlichen Kostensenkung und Umsatzsteigerung vor allem in Teilen der Elektroindustrie, der Feinmechanik und Optik sowie der Kunststoffverarbeitung zu rechnen. Der Maschinenbau nimmt bei diesem Vergleich eine mittlere Stellung ein. Chancen und Risiken des EG-Binnenmarktes aus der Sicht der Unternehmen
In der deutschen Industrie waren nach der Ifo-Erhebung vom Herbst 1987 die Firmen, die im großen Binnenmarkt mehr Chancen als Risiken sahen,
68
Gemot Nerb
deutlich in der Mehrheit. Positive Einschätzungen überwogen sowohl hinsichtlich der Auswirkungen auf das eigene Unternehmen (Saldo + 45) wie für die gesamte deutsche Volkswirtschaft (Saldo + 43). Auch in den anderen EG-Ländern, in denen dieselben Fragen an die Industrieunternehmen gerichtet wurde, ergab sich ein ähnlich positives Ergebnis (EG-Durchschnitt: Saldo + 49 für das eigene Unternehmen und + 36 für die gesamte Volkswirtschaft) 2. Erfahrungsgemäß stellen die Unternehmen bei Fragen nach Chancen und Risiken — ähnlich wie bei der Beurteilung der Geschäftslage —nicht nur auf die Nachfrage, sondern auch auf die Ertragsentwicklung ab. Die per saldo positiven Antworten in der Industrie lassen vermuten, daß die Unternehmen offensichtlich von einem geringeren preisdämpfenden Effekt ausgingen als im Cecchini-Bericht unterstellt. Nach neueren Unternehmensumfragen des Ifo-Instituts zu schließen, hat der Optimismus der Industrieunternehmen im Hinblick auf den EG-Binnenmarkt seit der Umfrage im Herbst 1987 leicht nachgelassen; es überwogen in der Industrie aber weiterhin die positiven Stimmen. Zu einem ähnlichen Ergebnis für die Industrie kam auch die im Frühjahr 1989 durchgeführte Umfrage des DIHT, die mit einer etwas anderen Fragestellung auf die Auswirkungen des EG-Binnenmarktes hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen abzielte (Industrie: Saldo + 11). In den anderen untersuchten Sektoren der DIHT-Umfrage 1989 ergab sich allerdings ein ungünstigeres Bild (Bauwirtschaft — 10; Großhandel + 3; Einzelhandel — 2; Verkehrsgewerbe — 24; Hotel- und Gaststättengewerbe + 25; alle untersuchten Sektoren + 8; jeweils Saldo, d. h. Differenz). Daß sich die deutschen Unternehmen auch nach der in letzter Zeit wieder aufkommenden „EG-Skepsis" in der Bevölkerung per saldo positive Auswirkungen auf den eigenen Betrieb und die Volkswirtschaft erhoffen, geht aus einer relativ aktuellen Ifo-Telefonumfrage bei Unternehmen der Industrie, der Bauwirtschaft und des Handels vom März 1989 hervor. Auf die Frage, ob der EG-Binnenmarkt die weithin erwarteten Vorteile bringen wird, antworteten knapp zwei Drittel mit einem klaren „ja" oder zumindest „ja, vielleicht" (vgl. Abb. 10). Dieses insgesamt positive Urteil steht nicht im Gegensatz zu der — wohl realistischen — Erwartung, daß bis Ende 1992 der EG-Binnenmarkt noch nicht voll realisiert sein dürfte, da in einigen Bereichen mit längeren Übergangsregelungen zu rechnen sei. Unterstrichen wird das Interesse der Wirtschaft an einem einheitlichen wirtschaftlichen Binnenraum dadurch, daß rd. 60 % der Befragten eine europäische Währungsunion mit einer einheitlichen Währung für sinnvoll halten. Die Wirtschaft scheint die 2
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Untersuchung über die „Kosten der NichtVerwirklichung Europas", Forschungsergebnisse, Bd. 3, Luxemburg 1989 (unter Saldo ist die Differenz der positiven und negativen Meldeanteile zu verstehen).
Wirkungen des EG-Binnenmarktes auf einzelne Branchen
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Erfolgschancen des EG-Binnenmarktes aus der Sicht der Unternehmen Ist der Tremin 1992 für die Vollendung des Binnenmarktes realistisch?
Wird der Binnenmarkt die weithin erwarteten Vorteile bringen?
Ist eine europ. Währungsunion mit einer einheitl. Währung sinnvoll?
je 59%
nein, später 75%
V
vielleicht 7% eher nicht θ%
(Antworten der Industrie-, Bau- und Handelsunternehmen In %)
Quelle: Ifo-Telefonumfrage, März 1989
Abbildung 10 Herausforderung EG 1992 angenommen zu haben; die hierdurch bereits entstandene und sich wohl noch verstärkende Eigendynamik verspricht —vielen politischen und wissenschaftlichen Bedenkenträgern zum Trotz — die im Cecchini-Bericht anvisierten Wachstums- und Beschäftigungsziele doch noch zu erreichen.
Zusammenfassung der Diskussion Referat N e r b
Ho ff mann stellt mehrere Fragen: Erstens, wie soll nachgewiesen werden, daß eine Fusionierung erforderlich ist? Die Feststellung, in der Gruppe 1 seien Fusionierungen erforderlich, um Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen, reiche ohne einen Nachweis nicht aus. Die zweite Frage bezieht sich auf die Kausalaussage, daß Marktführerschaft zu hoher Rendite führt. Es sei zumindest fraglich, ob nicht umgekehrt hohe Rendite zur Marktführerschaft führt. Drittens bezieht sich Hoffmann auf Nerbs Aussage, daß etwa 35 % der Unternehmen Vorteile im gemeinsamen Binnenmarkt sähen. Man dürfe nicht die Vorteile für die Konsumenten außer Acht lassen. Wenn nur etwa 25 % der Unternehmen eine Gewinnverbesserung erwarten, sei das vielleicht sogar als positives Zeichen zu werten, denn es bedeute, daß ein Teil der Vorteile an die Konsumenten weitergegeben werde. Schließlich fragt Hoffmann, ob auch herausgefunden wurde, weshalb 60 % der Unternehmen — ein enorm hoher Prozentsatz — sich für eine einheitliche Währung aussprechen. Ob vielleicht von ihnen die Transaktionskosten so hoch eingeschätzt würden, daß sie eine einheitliche Währung für vorteilhaft ansähen? Helmstädter bezieht sich auf Untersuchungsergebnisse eines Verlages und eines Münsteraner Instituts, nach denen die Auswirkungen des Binnenmarktes in anderen Branchen typischerweise für größer gehalten werden als in der eigenen Branche der Befragten. Er fragt, ob ähnliches auch bei der Ifo-Befragung festgestellt wurde. Eine zweite Frage bezieht sich auf die Anreicherung des Leistungsangebots des Verkehrsgewerbes. Sie sei als eine Reaktion auf die Regulierung dieses Marktes zu verstehen, und sie sei schon lange vor den Binnenmarktdiskussionen eingetreten. Sie sei somit nicht als eine Vorwärtsstrategie zu erklären, um im europäischen Markt bestehen zu können. Dicke schließt hier an und verweist auf ein Hauptproblem bei der Analyse von Integrationswirkungen: Die Trennung dessen, was sich normalerweise vollziehen würde, von dem eigentlichen Integrationseffekt. Nerbs Versuch, nicht ex post, sondern ex ante zu sagen, was sich ändern werde und wie die Unternehmen reagieren würden, sei insofern besonders schwierig, und es
Zusammenfassung der Diskussion
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stelle sich die Frage, inwieweit die dargestellten Erwartungen eindeutig binnenmarkt-bestimmt sind, inwieweit also zusätzliche und nicht auch bisher ohnehin schon ablaufende Prozesse geschildert worden seien. Scharrer knüpft an die Frage von Hoffmann zur Gruppenbildung, und zwar Gruppe 1, an: Hier, so sei gesagt worden, führe die Konzentration zu wettbewerbsfähigeren Unternehmen. Es stelle sich die Frage, wieso durch die Fusion von zwei Unternehmen — speziell im Bereich Telekommunikation die Firmen Siemens und Plessey — plötzlich ein wettbewerbsfähiges Unternehmen herauskommen sollte. Scharrer sieht die Wettbewerbsschwäche dieser Firmen nicht so sehr in ihrer mangelnden Größe, sondern darin, daß sie eine falsche Marktstrategie betrieben hätten, indem sie sich auf die öffentlichen Beschaffungsmärkte im Binnenland ausgerichtet und die internationale Entwicklung aus den Augen verloren hätten. Die Gefahr bestehe darin, daß sie das, was sie bisher auf nationaler Ebene betrieben hätten, künftig auf europäischer Ebene betreiben und wiederum den internationalen Wettbewerb dabei aus dem Auge verlieren würden. Es sei dann abzusehen, daß sie nach Marktschutz suchen würden. Scharrer schließt eine Bemerkung zu der Aussagekraft der letzten Befragung an. Die Relevanz sei zumindest zweifelhaft, wenn 25 % der Unternehmen glauben, daß der Binnenmarkt verwirklicht wird, 75 % aber überhaupt nicht damit rechnen. Man müsse davon ausgehen, daß viele der Anstrengungen die als Vorbereitung auf den Binnenmarkt geleistet werden, sich zu ökonomischen Vorteilen ummünzen werden, unabhängig davon, ob die Gesetzgebung nachkommt oder nicht. Gerade die Unternehmensstrategien, die im Referat aufgezeigt wurden, wirkten ja genau in der Richtung, daß unabhängig von dem Datum 31. 12. 1992 die Unternehmen sich auf einen verschärften Wettbewerb einstellen und durch Rationalisierung, Stärkung des Vertriebswesens und vielleicht auch raschere Umsetzung von technologischem Know-how in marktfähige Produkte sich auf diesen Markt einstellen. Die entsprechende Frage stelle sich auch hinsichtlich der einheitlichen Währung. Es sei nicht einmal sicher, ob die Unternehmen überhaupt wüßten, was die Währungsunion ist, wenn man sie hierzu fragte. (Heiterkeit) Darunter könne sich jeder etwas anderes vorstellen. Zumindest müßte man da eine Nebenbedingung bezeichnen: eine Währungsunion mit stabiler Währung oder mit flexibler Währung oder was immer. Diesen Gedanken führt Franzmeyer weiter: Die Einschätzung eigener Kostendeckungsspielräume hänge ja ganz davon ab, welches Referenzmodell der Befragte hat. Es sei nur dargestellt worden, daß die Unternehmen gesagt hätten, unter den Bedingungen des Binnenmarktes schätzten sie die Folgen so und so ein. Nun sei ja auch der Binnenmarkt eine hochkomplexe Sache. Er erschöpfe sich nicht in der Einführung der vier Freiheiten; sonst
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Zusammenfassung der Diskussion
brauchte man nicht ein so großes Weißbuch. Es gäbe eine Fülle von Deregulierungs-Wahrscheinlichkeiten. Es komme für die Beurteilung der Ergebnisse ganz darauf an, welche Fragen den Unternehmen gestellt wurden, bzw. wie ihnen das Referenzmodell dargelegt wurde. Koopmann schließt an die Bemerkung von Dicke zum Integrationseffekt an: Global zu sagen, die Produktstrategie werde sich ändern, wenn der Binnenmarkt kommt, die Fertigungstiefe werde geringer werden, es werde mehr ausgelagert, erscheine ihm etwas unscharf, ob nach Branchen differenziert worden sei und ob dabei die Branchen nach dem Grad ihrer Betroffenheit durch den Binnenmarkt gestaffelt oder eine A r t Rangskala dieser Branchen erstellt wurde? G. Müller bezieht sich auf eine Andeutung Nerbs, der die Schätzungen des Cecchini-Berichts bezüglich der Preisentwicklung für unwahrscheinlich hielt, insbesondere daß sich wohl kaum eine derart stabile Preisentwicklung ergeben würde. Das müsse auch Konsequenzen für die Schätzung der Wachstumseffekte des Binnenmarktprogramms nach sich ziehen; sie müßte wohl niedriger ausfallen, zumindest was die erhofften endogenen Prozesse, die sich nach diesem Bericht aus der Preisentwicklung ergeben, anbelangt. Nerb antwortet hierauf, im Cecchini-Bericht sei eine wesentlich rigorosere Wettbewerbspolitik unterstellt, als sie nach allen bisherigen Erfahrungen durchzusetzen sein werde. Deshalb sehe er die Schätzung von 5 % als eine Obergrenze an, die nur bei einer erheblichen Verschärfung der marktwirtschaftlichen Kräfte möglich wäre. Die Effekte in Richtung auf Wachstum und Beschäftigung würde er aber nur wenig modifizieren. Die Bandbreite sei ja ohnehin ± 30 % bei allen Schätzungen im Cecchini-Bericht. Vielleicht sei bei der Schätzung der Preisentwicklung etwas optimistisch vorgegangen worden, um auch hier ein zusätzliches Verkaufsargument zu haben, begleitendexpansiv den Binnenmarkt zu fördern, gerade in der Anfangsphase, ohne inflationäre Probleme fürchten zu müssen. Aber die Frage sei natürlich, ob tatsächlich soviel Marktwirtschaft und Wettbewerb allgemein gewünscht und durchsetzbar sind. Zur Frage der Gruppenbildung faßt Nerb die Antworten auf verschiedene Anmerkungen zusammen. Sie konzentrierten sich im wesentlichen auf die Gruppe 1, also die Gruppe der High-Tech-Unternehmen, die heute schon einen regen Warenaustausch haben, die aber durch das öffentliche Auftragswesen begünstigt sind. Wenn nun verstärkt Ausschreibungen kämen, müßten größere Unternehmen ihre Strategie erheblich ändern. Das sei jetzt schon der Fall; es gebe zum Teil bereits — für manche schockierend — Schubladenpläne. Nach allen bekannten Untersuchungen zu Rendite, Wettbewerbsfähigkeit und Größe gebe es Volumenmärkte — dazu gehöre die Telekommunikation —, wo die Unternehmen einen gewissen Marktanteil haben müßten, um auf dem Weltmarkt mithalten zu können. Da werde
Zusammenfassung der Diskussion
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ein Unternehmen wie Plessey mit 2 % wahrscheinlich allein nicht mithalten können, es sei denn, es fände auf diesem Volumenmarkt einige Nischen, die natürlich überall existierten. Aber das sei dann nur eine Ausweg-Strategie für einige wenige, jedoch nicht für Großunternehmen wie etwa Siemens. Die Frage, ob eine hohe Rendite zur Marktführerschaft führt, oder ob es umgekehrt ist, sei die Frage nach der Henne und dem Ei. Aber etwa im Nahrungsmittelbereich sei nachweisbar, daß Großunternehmen wesentlich effizienter Marketing und Werbung betreiben können, daß sie deutlich niedrigere Stückkosten haben und auch den Einkauf ganz anders rationalisieren können — bessere Bedingungen bekommen — als andere Unternehmen. Wenn man auf dem Weltmarkt mit solchen Großunternehmen zu tun habe, könne man sich in Europa nicht abkapseln und Firmen nur auf die Nischen verweisen. Anders sei es in vielen Investitionsgüterbereichen, und hier könne man auch davon ausgehen, daß die Gewinne sich erhöhen werden. Oft handele es sich um SpezialUnternehmen, die es auf ihrem ganz kleinen Segment zu einer Internationalen Marktführerschaft gebracht hätten. Sie könnten ohne irgendeine Fusion auch den Binnenmarkt gut überleben. Aber überall, wo Unternehmen kein starkes Profil haben, müßten sie etwas ändern. Das gelte im übertragenen Sinne auch für Dienstleistungsbereiche, Kommunen, für ganze Regionen. Sie alle müßten ihre spezifischen Vorteile herausarbeiten, ein Profil gewinnen, um die Chancen stärker nutzen zu können als der Durchschnitt. Die Fragen hinsichtlich Service-Anreicherung beantwortet Nerb mit der grundsätzlichen Feststellung, der Binnenmarkt sei überwiegend nur ein Beschleuniger von Prozessen, die ohnehin gekommen wären, die zum Teil schon angelegt waren. Man könne auch durchaus erkennen, daß bisherige Tabus plötzlich wieder diskussionsfähig sind: Man gehe im Zuge des Binnenmarktes an Bereiche heran, an die man sich vorher aus verschiedensten Gründen nicht herangewagt hätte. Insofern bringe der Binnenmarkt Dynamik in den Prozeß. Gelegentlich höre man ja auch, es sei auf jeden Fall eine phantastische Marketing-Leistung der Kommission gewesen, dieses Programm in jener Weise zu lancieren und diese Dynamik auszulösen. Nerb verteidigt schließlich die Sinnhaftigkeit der Firmenbefragung. Die Frage, ob an die Realisierung des Binnenmarktes geglaubt werde, sie nur deshalb gestellt worden, um herauszufinden, ob die Firmen, selbst wenn sie das negativ sehen, trotzdem davon ausgingen, daß sie sich in ihren Aktionen auf den Binnenmarkt einstellen müßten. Das Untersuchungsergebnis sei gewesen, daß eine enorme Eigendynamik festzustellen ist, unabhängig von dem Datum 1992. Hinsichtlich der Währung sei eine ganze Batterie von Fragen gestellt worden. Bei der i m Referat aus Platzgründen allein erwähnten Frage habe es
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Zusammenfassung der Diskussion
sich nur um eine Eingangsfrage gehandelt. Es sei interessant, daß die Firmen noch wesentlich stärker als die Politiker über die reine Wirtschaftsgemeinschaft hinausgehen wollten. Im Unternehmerlager — insbesondere im Lager der mittleren und kleineren Unternehmen — sei eine wesentlich stärkere Dynamik und auch Europa-Aufgeschlossenheit festzustellen als ζ. B. in vielen wissenschaftlichen Zirkeln. Zu der Frage nach dem Referenzmodell für die Kostenerwartungen erläutert Nerb, um diese Frage zu stellen, sei den Firmen zunächst einmal genau vorgeführt worden, welche nichttarifären Barrieren es heute noch geben könnte. Dann sei nach der tatsächlichen Behinderung im Warenaustausch gefragt worden. Erst nach zahlreichen Vorfragen sei dann die entscheidende Frage gestellt worden: Wenn diese Barrieren im Zuge des Binnenmarktes wegfallen würden, wie würde sich das auf ihre Stückkosten auswirken? Die Ergebnisse habe er im Referat vorgeführt. Wichtig sei, nachdem soviel von der Eigendynamik abhänge, die Einschätzungen der Wirtschaft regelmäßig in Erfahrung zu bringen. Das gelte gerade auch im Hinblick auf 1992, um zu sehen, ob diese Eigendynamik sich fortsetzt oder ob es — was niemand hoffe — doch wieder zu einem Euro-Pessimismus kommt, der in letzter Zeit wohl wieder etwas mehr en vogue zu sein scheine.
Die rechtliche Gestaltung des EG-Binnenmarktes Von Ulrich Everling, Bonn
1. Einleitung Rechtlich ist der Binnenmarkt nicht leicht zu fassen. Die erste Reaktion einiger Juristen auf die Einheitliche Europäische Akte (EEA) war deshalb auch skeptisch, und viele wußten wenig damit anzufangen. So hat ein prominentes ehemaliges Mitglied des Europäischen Gerichtshofes unmittelbar nach Bekanntwerden der Pläne einen Aufsatz veröffentlicht, in dem die EEA schon im Titel als „eine ernste Gefahr für den Gemeinsamen Markt" bezeichnet wird 1 . In einem der führenden Kommentare wird schlicht erklärt, daß der Binnenmarkt mit dem im Vertrage bisher vorgesehenen Gemeinsamen Markt identisch sei 2 . Noch vor wenigen Wochen hat ein Autor mit besonders plastischer Ausdrucksweise den Binnenmarkt als „Huhn in Pfauenfedern" bezeichnet 3 . Derartige Äußerungen mögen teilweise voreilig oder undifferenziert sein. Sie sind aber verständlich als Ausdruck des Erstaunens von Europarechtlern darüber, daß mehr als fünfzehn Jahre nach Vollendung des Gemeinsamen Marktes, dessen Regeln der Gerichtshof unmittelbare Wirkung zuerkannt und in einer progressiven Rechtsprechung ausgebaut hat, die Errichtung eines Binnenmarktes als eine völlig neue Entwicklung proklamiert wird. Rechtlich handelt es sich aber beim Binnenmarkt um nicht mehr und nicht weniger als um eine Fortentwicklung des Gemeinsamen Marktes, die seit langem in Gang ist und bereits zu einem Handelsaustausch und zu einer wirtschaftlichen Verflechtung geführt hat, die früher unvorstellbar waren. Die mit der EEA eingeleitete politische Aktion hat sie in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gehoben und eine weitreichende Erwartungshaltung hervorgerufen. Um den rechtlichen Gehalt der Entwicklung zu erfassen, muß die Darstellung an die bisher für den Gemeinsamen Markt maßgebenden Regelungen anknüpfen. 1
P. Pescatore, Die „einheitliche Europäische Akte" — Eine Gefahr für den Gemeinsamen Markt, EuR 1986, S. 153. 2 E. Grabitz in dem von ihm herausgegebenen Kommentar zum EWG-Vertrag, München, Loseblatt 1983 ff., Art. 8ar Anm. 3. 3 B. Börner, Der deutsche Unternehmer vor dem europäischen Binnenmarkt, Der Betrieb 1989, S. 613.
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Ulrich Everling
2. Die Regelungen des Gemeinsamen Marktes Nach dem EWG-Vertrag, von dem hier allein die Rede sein soll, waren die Freiheiten des Gemeinsamen Marktes für Waren, für Dienstleistungen, für unselbständig und selbständig Tätige sowie — begrenzt — auch für Kapital bis zum Ende der Übergangszeit am 31.12.1969 herzustellen. Direkte Beschränkungen wurden alsbald beseitigt, ebenso Diskriminierungen von Einfuhren im Vergleich zu inländischen Waren und von EG-Ausländern im Vergleich zu Inländern. Der Gerichtshof hat das Diskriminierungsverbot streng angewendet und zugleich dem einzelnen das Recht zugebilligt, sich insoweit unmittelbar auf den Vertrag zu berufen 4. Damit waren die Hindernisse im Gemeinsamen Markt aber für die Praxis noch nicht vollständig beseitigt. Die nationalen Vorschriften über die Herstellung oder Vermarktung von Waren, die unterschiedslos für inländische und eingeführte Erzeugnisse gelten, stellen praktische Hindernisse für die Einfuhr von Waren dar. Der Gerichtshof hat in seiner bekannten, an die Urteile Dassonville und Cassis de Dijon anknüpfenden Rechtsprechung entschieden, daß derartige Vorschriften auf eingeführte Waren grundsätzlich nicht angewendet werden dürfen, sofern sie nicht aus den in Art. 36 EWGV genannten Gründen vor allem der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit oder aus zwingenden Erfordernissen des Verbraucherschutzes, des unlauteren Wettbewerbs und neuerdings auch des Umweltschutzes gerechtfertigt sind 5 . Damit hat der Gerichtshof vorbehaltlich nationaler Regelungen, die aus den genannten Gründen des Gemeinwohls weiterhin angewendet werden können, das Ursprungsprinzip anerkannt; Waren, die in einem Mitgliedstaat im freien Verkehr sind, dürfen grundsätzlich auch in den anderen vermarktet werden. Der Gerichtshof hat in der Folgezeit in einer behutsamen Fallrechtsprechung die nationalen Regelungen daraufhin überprüft, ob die genannten Gründe des Gemeinwohls eine Einschränkung des gemeinschaftsrechtlichen Gebots der Öffnung der Grenzen rechtfertigen. Dabei hat sich ergeben, daß die Vorbehalte doch gewichtiger als erwartet sind und daß die Anwendung des Ursprungsprinzips keineswegs zu einem Kahlschlag im nationalen Wirtschaftsrecht führt, wie das zum Teil, je nach Standpunkt, befürchtet oder erhofft wurde. 4
Vgl. hierzu die Nachweise in den Kommentaren zum EWG-Vertrag von E.
Grabitz (Fn. 2), sowie von H. v. d. Groeben/H. v. Boeck/J. Thiesing/C. D. Ehlermann (Hrsg.), 3. Aufl., Baden-Baden 1983. 5
Nachweise bei H. Matthies und R. Wägenbaur in: Grabitz (Fn. 2) und Groeben/-
Boeckh/Thiesing/Ehlermann (Fn. 4), jeweils Erl. zu Art. 30 ff. Zum Umweltschutz vgl. Urteil vom 20.9.1988, Rs 302/86, Dänemark (Getränkeflaschen), noch nicht in Slg.
Die rechtliche Gestaltung des EG-Binnenmarktes
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Vor allem führt diese Rechtsprechung aber zu Inländerdiskriminierungen; nur die eingeführten Waren werden von der Anwendung der Vorschriften des Einfuhrstaates befreit, die inländischen bleiben ihnen unterworfen, so daß erhebliche Nachteile im Wettbewerb entstehen können 6 . Es ist dann Sache des nationalen Gesetzgebers, die notwendigen Folgerungen zu ziehen. In krassen Fällen dürfte bereits die Anwendung des Gleicheitsgrundsatzes des nationalen Rechts dazu führen, daß die günstigeren Regelungen, die auf Einfuhrwaren angewendet werden, auch auf die inländischen Erzeugnisse erstreckt werden müssen. Solange das nicht geschehen ist, können sich die inländischen Unternehmen der ausländischen Konkurrenz nicht anpassen. Der vielbeschworene Wettbewerb der Systeme führt also — mindestens zeitweilig — zu Wettbewerbsverfälschungen zu Lasten der von strengeren Regelungen betroffenen inländischen Unternehmen 7 . Eine Lösung dieses Dilemmas ist nur durch Rechtsangleichung möglich. Sie hat bereits seit langem eingesetzt und schon vor dem Erlaß der Einheitlichen Europäischen Akte einen außerordentlichen Umfang angenommen 8 . Ähnlich ist der Gerichtshof bei den Dienstleistungen vorgegangen. Nach seiner Rechtsprechung finden auf die vorübergehende Tätigkeit im anderen Lande die Rechtsvorschriften des Aufnahmelandes nur insoweit Anwendung, als sie „durch das allgemeine Interesse gerechtfertigt sind und diesem Interesse nicht bereits durch die Rechtsvorschriften Rechnung getragen wird, denen der Leistungserbringer in seinem Heimatland unterliegt" 9 . Auch hier hat der Gerichtshof in einer Fallrechtsprechung versucht, Klarheit zu schaffen. Wichtigstes neueres Beispiel ist das Urteil über die Dienstleistungen der Sachversicherungen 10 . Der Gerichtshof hat das im Mitglied6
Vgl. U. Kleier, Freier Warenverkehr (Art. 30 EWG-Vertrag) und die Diskriminierung inländischer Erzeugnisse, RIW 1988, S. 623; U. Fastenrath, Inländerdiskriminierung, JZ 1987, S. 170; M.-A. Reitmaier, Inländerdiskriminierungen nach dem EWGVertrag, Kehl 1984; H. Weis, Inländerdiskriminierung zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Verfassungsrecht, N J W 1983, S. 2721. 7
E. J. Meckmäcker/M.
Lutter/U. Everling, Europäischer Binnenmarkt im Wettbe-
werb der Rechtssysteme, Institut für deutsches, europäisches und internationales Wirtschaftsrecht, Bielefeld 1989. 8
Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei H. C. Taschner, Rechtsangleichung in der Bewährung?, in: Gedächtnisschrift für Leontin-Jean Constantinesco, Köln 1983, S. 765, sowie die Übersichten in den jährlichen Gesamtberichten der Kommission. Vgl. ferner T. Bruha, Rechtsangleichung in der Europäischen Gemeinschaft — Deregulierung durch „Neue Strategie"?, ZaöRV Bd. 46,1986, S. 1 ; er gibt die Zahl der bis 1985 verabschiedeten Rechtsangleichungsrichtlinien mit 871 an, wobei allerdings die häufigen Änderungsrichtlinien mitgezählt sind. 9
Zusammenfassendes Urteil vom 17.12.1981, Rs. 279/80, Webb (Verleih von Arbeitskräften), Slg. 1981, S. 3305. Vgl. U. Everling, Sur la jurisprudence recente de la Cour de Justice en matière de libre prestation des services rendu dans d'autres Etats membres, Cah. dr. eur. 1984, S. 3. 10 Urteil vom 4.12.1986, Rs. 205/84, Bundesrepublik Deutschland (Versicherun-
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Ulrich Everling
Staat der Leistungsempfänger bestehende allgemeine Interesse am Schutz der Versicherungsnehmer — vereinfacht ausgedrückt — nur für Massengeschäfte des täglichen Lebens anerkannt und nur insoweit die Anwendung des Aufsichtsrechts dieses Mitgliedstaats zugelassen; i m übrigen hat er die Kontrolle der Versicherungsunternehmen i m Sitzstaat als ausreichend angesehen. Anders ist das aber bei der unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit von Personen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen. Sie werden in die Wirtschaft des Tätigkeitslandes integriert und müssen sich deshalb grundsätzlich auch seinen Rechtsvorschriften unterwerfen. Hier gilt deshalb in der Regel die Inländerbehandlung. Arbeitnehmer können in anderen Mitgliedstaaten wie Inländer Arbeit suchen und dort unter denselben Bedingungen wie Inländer und mit den gleichen sozialen Rechten tätig sein. Ebenso ist es beim Niederlassungsrecht der Selbständigen und Unternehmen. Grundsätzlich findet das Berufs- und Gewerberecht des Aufnahmelandes Anwendung 1 1 . Die Unterschiede der in den Mitgliedstaaten bestehenden Regelungen können in der Praxis zu erheblichen Schwierigkeiten bei der Aufnahme und Ausübung von Tätigkeiten führen, weil die Berufstätigen die in anderen Mitgliedstaaten gestellten Anforderungen wegen ihres unterschiedlichen Ausbildungsganges oft nicht ohne weiteres erfüllen können. Auch in diesem Bereich ist deshalb Rechtsangleichung erforderlich. Sie ist für eine Reihe von Tätigkeiten bereits durchgeführt 12 , nunmehr wurde auch eine globale Anerkennung der Diplome beschlossen 13 . Schließlich ist noch auf den steuerlichen Grenzausgleich hinzuweisen, der nach Art. 95, 96 EWGV zulässig ist und nach vorherrschender, am Prinzip des Bestimmungslandes orientierter Auffassung nur nach einer weitgehenden Harmonisierung der Steuersätze aufgehoben werden kann.
gen), Slg. 1986, S. 3755; dazu H. P. Schwintowski, Europäisierung der Versicherungsmärkte i m Lichte der Rechtsprechung des EuGH, N J W 1987, S. 521 ; U. Hübner, Die Dienstleistungsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft und ihre Grenzen, JZ 1987, S. 330. 11 Aus einigen Urteilen in Grenzfällen wurden teilweise weitergehende Folgerungen gezogen; vgl. E. Steindorff, Reichweite der Niederlassungfreiheit, EuR 1988, S. 19. Vgl. aber Urteil vom 12.2.1987, Rs 221/85, Belgien (Laboratorien), Slg. 1987, S. 719, 737. 12
Vgl. die Nachweise in den oben genannten Kommentaren (Fn. 2 und 4). Erl. zu Art. 52 ff. 13 Vgl. Richtlinie des Rates vom 21.12.1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen, Abi. 1988 Nr. L 19/16.
Die rechtliche Gestaltung des EG-Binnenmarktes
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Angesichts dieser fortbestehenden Vorbehalte hat der Gerichtshof den Gemeinsamen Markt als „binnenmarktähnlich" bezeichnet 14 und dahin umschrieben 15 , daß er es abstellt „auf die Beseitigung aller Hindernisse i m innergemeinschaftlichen Handel mit dem Ziele der Verschmelzung der nationalen Märkte zu einem einheitlichen Markt, dessen Bedingungen denjenigen eines wirklichen Binnenmarktes möglichst nahe kommen."
3. Konzeption des Binnenmarktes A n diesem Punkt setzt die Einheitliche Europäische Akte mit ihrer Forderung nach Errichtung des Binnenmarktes an. Nach Art. 8a EWGV trifft die Gemeinschaft „die erforderlichen Maßnahmen, um bis zum 31. Dezember 1992 gemäß den vorliegenden Artikeln, den Artikel 8b, 8c und . . . (es folgen die Artikel über Rechtsangleichung) unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Vertrages den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen."
Der Binnenmarkt wird im folgenden Absatz umschrieben, er „umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist."
A n diesen Formulierungen ist vieles, wenn nicht sogar alles zweifelhaft. Sie sind, wie die meisten Bestimmungen der EEA, beklagenswert mangelhaft redigiert, wohl weil jede juristische Überarbeitung die erzielten Kompromisse gefährdet hätte. Der Binnenmarkt soll ein „Raum ohne Binnengrenzen" sein, was wohl bedeuten muß, daß keine Grenzkontrollen mehr stattfinden. Aber schon dies wird durch den Zusatz „gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages" relativiert. Der Vorschlag der Kommission sah demgegenüber noch vor, daß der freie Verkehr „unter denselben Bedingungen wie in einem Mitgliedstaat" gewährleistet sein soll 16 . Gleichwohl wird man die Bezugnahme auf den Vertrag nicht dahin deuten können, daß Art. 8a EWGV gegenüber den bisherigen Bestimmungen keine weitergehenden Ziele setzt. Aus den begleitenden Erklärungen der Politiker und vor allem aus dem Weißbuch der Kommission, das der EEA zugrunde 14 Urteil vom 25.10.1977, Rs 26/76, Metro (Selektives Vertriebssystem), Slg. 1977, S. 1875, Nr. 20. 15 Urteil vom 5.5.1982, Rs 15/81, Schul (Umsatzsteuer auf Gebrauchtwaren), Slg. 1982, S 1409, Nr. 33.
16
Vgl. B. Langeheine, in: Grabitz (Fn. 2), Art. 100a Anm. 21.
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lag 17 , ergibt sich, daß jedenfalls alle tatsächlichen Hindernisse und insbesondere die Kontrollen an den Binnengrenzen beseitigt werden sollen. Nach der Vorgeschichte, vor allem der Rechtsprechung des Gerichtshofs wird man noch weiter gehen müssen; auch solche Vermarktungshindernisse, die nicht zu Grenzkontrollen oder Grenzhindernissen führen, sondern auf im Inland kontrollierten Rechtsvorschriften beruhen, sollen in einem Raum ohne Binnengrenzen beseitigt werden. Die Einschränkung, die die Formulierung durch die Verweisung auf die „Bestimmungen des Vertrages" enthält, muß wohl dahin verstanden werden, daß jedenfalls die im Vertrag vorgesehenen Verfahren anzuwenden sind und daß den Mitgliedstaaten die Berufung auf die angeführten Vorbehalte, die der Vertrag enthält, nicht automatisch genommen wird. Daraus ergibt sich bereits, daß mit dem Datum vom 31.12.1992 keine direkten Rechtsfolgen verbunden sind. Das folgt auch aus den übrigen Bestimmungen der EEA, insbesondere aus der Berichtspflicht der Kommission nach Art. 8b EWGV über den Stand der Arbeiten und vor allem aus Art. 100b EWGV, der Regeln für den Fall festlegt, daß die notwendigen Arbeiten bis Ende 1992 nicht vollendet worden sind. Er sieht Beschlüsse zur gegenseitigen Anerkennung der noch nicht angeglichenen Regelungen vor, woraus sich ergibt, daß sie nicht automatisch wegfallen 18 . Angesichts des völlig unbestimmten Anwendungsbereichs einer derartigen Automatik wäre sie auch praktisch nicht vollziehbar. Die Mitgliedstaaten haben demgemäß in einer Erklärung zur Schlußakte im Anschluß an die Bekräftigung ihres „festen politischen Willens", die notwendigen Beschlüsse bis zum 1.1.1993 zu fassen, festgestellt, daß „die Festsetzung des Termins 31. Dezember 1992 . . . keine rechtliche Wirkung" mit sich bringt. Die Rechtswirkung von gemeinsamen Erklärungen im Rahmen des Gemeinschaftsrechts ist zwar umstritten; im Zusammenhang mit einem Änderungsvertrag zum EWG-Vertrag, der als internationaler Vertrag geschlossen wurde, wird man sie aber als verbindliche Auslegungsregel zu betrachten haben 19 . Schließlich sei noch hervorgehoben, daß auch die verwendeten Begriffe unklar sind. W e n n etwa in Art. 8a EWGV allgemein von dem freien Verkehr von Personen gesprochen wird, so fragt sich, ob damit wirklich über den Kreis der durch den EWG-Vertrag erfaßten Personen jeder in der Gemeinschaft Ansässige ohne Rücksicht darauf, ob er Arbeitnehmer oder Selbstän17
Vgl. Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat über die Vollendung des Binnenmarktes, Dok. Kom (85) 310 endg., Brüssel 14.6.1985. 18 In der Literatur besteht darüber Einigkeit. Vgl. H. J. Glaesner, Die Einheitliche Europäische Akte, EuR 1986, S. 119; E. Grabitz (Fn. 2), Art. 8a, Anm. 5. 19
Vgl. A. G. Toth, The Legal Status of the Declarations Annexed to the Single European Act, CMLRev. 1986, S. 803.
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diger oder deren Familienangehöriger ist und ob er die Staatsangehörigkeit eines EG-Mitgliedstaats besitzt, begünstigt werden soll. Dafür könnte der beabsichtigte Fortfall der Binnengrenzen sprechen; die Bezugnahme auf die „Bestimmungen des Vertrages" deutet aber eher auf ein restriktives Verständnis. Die Kommission hat zur Ausführung der Bestimmung nunmehr Vorschläge für ein umfassendes Aufenthaltsrecht aller Angehörigen von Mitgliedstaaten vorgelegt, von dem nur Sozialhilfeempfänger ausgenommen sein sollen; Ausweisung soll in schwerwiegenden Fällen weiterhin zulässig sein. Ohne Grenzkontrollen ist eine Überwachung der Beschränkungen allerdings schwierig.
4. Rechtsangleichung als Mittel zur Verwirklichung des Binnenmarktes Als Instrumente für die schrittweise Verwirklichung des Binnenmarktes werden in Art. 8a EWGV vor allem Bestimmungen über die Rechtsangleichung genannt. Das entspricht der bereits vor der EEA eingeleiteten Entwicklung. Die Aufzählung ist allerdings teils unrichtig, teils unvollständig. Die Vorschrift über den gemeinsamen Zolltarif und seine Aussetzung (Art. 28) gehört nicht hierher, andere Vorschriften wie die über die Angleichung der Schutzvorschriften des Gesellschaftsrechts (ARt. 54 Abs. 3g) fehlen, aber insoweit wird global auf die „sonstigen Bestimmungen des Vertrages" verwiesen. Als Neuregelung ist besonders Art. 100a EWGV von Bedeutung. Er sieht, „soweit in diesem Vertrag nichts anderes bestimmt i s t . . . für die Verwirklichung der Ziele des Artikels 8a" Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften des Mitgliedstaaten vor, „die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben." Neu ist an dieser Regelung vor allem, daß Mehrheitsbeschlüsse des Rates vorgesehen sind, während der bisher für die Rechtsangleichung in erster Linie maßgebende Art. 100 EWGV Einstimmigkeit fordert. Nach der neueren Praxis des Rates muß davon ausgegangen werden, daß der Rat solche Mehrheitsbeschlüsse tatsächlich faßt. Einen „Luxemburger Beschluß", durch den nach einer verbreiteten Meinung den Mitgliedstaaten ein Vetorecht zugebilligt sein soll, hat es bekanntlich niemals gegeben; in Luxemburg wurde im Gegenteil festgestellt, daß sich die Vertreter der Mitgliedstaaten über die Frage nicht geeinigt haben 20 . In der Praxis wurde allerdings im Anschluß an die Luxemburger Auseinandersetzung weitgehend, abgesehen vor allem von Haushalts- und Besoldungsfragen, einstimmig entschieden. Aber rechtlich abgesichert war diese Praxis nicht, der Gerichtshof hat stets 20
Vgl. R. Lahr, Die Legende vom „Luxemburger Kompromiß", Europ-Archiv 1983, S. 223; ferner R. Streintz, Die Luxemburger Vereinbarung, München 1984. 6 Konjunkturpolitik, Beiheft 36
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die rechtliche Wirkung derartiger, vom Vertrag abweichender Verfahren verneint. Nach der Erweiterung der Gemeinschaft auf zwölf Mitglieder stellte sich bald heraus, daß sie bei strikter Anwendung der Einstimmigkeit nicht mehr funktionsfähig ist. Der Rat ging daher zunehmend dazu über, mit Mehrheit zu beschließen 21 . Vollends ist das seit Inkrafttreten der EEA der Fall. Diese hat sich ausdrücklich zur Anwendung des Mehrheitsprinzips bekannt, indem sie es in einer Reihe von Bestimmungen des Vertrages, in denen bisher einstimmige Beschlüsse vorgesehen waren, eingeführt hat. Damit dürfte das angebliche Luxemburger Veto endgültig vom Tisch sein. Eine weitere wichtige Änderung besteht darin, daß durch Art. 100a EWGV für die Rechtsangleichung das Verfahren der Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament eingeführt wird, durch das dessen Stellung wesentlich gestärkt wird. Danach legt bekanntlich der Rat zunächst auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments einen gemeinsamen Standpunkt fest. Zu diesem findet dann eine zweite Lesung im Parlament statt, über deren Ergebnis sich der Rat nur noch unter erschwerten Bedingungen hinwegsetzen kann 2 2 . Dadurch wird die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, eigene Standpunkte und Interessen durchzusetzen, noch weiter beschränkt, als es bereits durch das Mehrheitsprinzip geschieht. Weiter können nunmehr zur Rechtsangleichung auch Verordnungen erlassen werden, während bisher nur Richtlinien vorgesehen waren. Das ist eher fragwürdig, denn Bestimmungen des für das Wirtschaftsleben maßgebenden Rechts, um die es in diesem Zusammenhang geht, sollten dem Bürger gegenüber im allgemeinen in der ihm bekannten Form und Ausdrucksweise festgelegt und in den Rahmen der sonst geltenden Vorschriften eingefügt werden. In einer Erklärung zur Schlußakte wurde deshalb festgehalten, daß die Kommission in der Regel Richtlinien vorschlagen wird. Die weitere Praxis bleibt abzuwarten.
5. Abgrenzung der Ermächtigungen zur Rechtsangleichung Schwierige Fragen ergeben sich bei der Abgrenzung des Anwendungsbereiches des Art. 100a EWGV, die vor allem wegen der Zulässigkeit von Mehrheitsbeschlüssen wichtig ist. Da sowohl Art. 8a EWGV als auch die Eingangsworte des Art. 100a EWGV auf die sonstigen Bestimmungen des Vertrages verweisen, ist davon auszugehen, daß sämtliche speziellen Vor21
Vgl. J. - L Dewost, Le vote majoritaire: Simple modalité de gestion on enjeu politique essentiel?, Festschrift für Pierre Pescatore, Baden-Baden 1985, S. 167. 22 Vgl. H. J. Glaesner, Das Verfahren zu Zusammenarbeit (Art. 149 Abs. 2 EWGV), EuR 1988, S. 121; R. Bieber, Das Gesetzgebungsverfahren der Zusammenarbeit gemäß Art. 149 EWGV, N J W 1989, S. 1396.
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Schriften, die zu einer Rechtsangleichung ermächtigen, als Sondervorschriften vorgehen. Das gilt vor allem für das Berufs- und Gewerberecht (Art. 57) und das Gesellschaftsrecht (Art. 54 Abs. 3g), ferner für Beschränkungen des Personenverkehrs (Art. 56). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist auch davon auszugehen, daß die Rechtsangleichung im Rahmen gemeinsamer Politiken wie Agrarpolitik, Verkehrspolitik, Kapitalverkehr und Handelspolitik nach deren Regeln zu beschließen ist 2 3 . Absatz 2 des Art. 100a EWGV bekräftigt die Ausnahme audrücklich für die Steuern und die Freizügigkeit. Bei den indirekten Steuern ergibt sie sich bereits aus Art. 99 EWGV; für direkte dürfte eine Harmonisierung ohnedies kaum in Betracht kommen. Die Ausnahme für die Freizügigkeit könnte nach dem Wortlaut als Verweisung auf die Arbeitnehmer nach Art. 48 EWGV verstanden werden, denn dort wird dieser Begriff verwendet. Die Texte in den anderen Sprachen zeigen jedoch, daß alle Personen wie in Art. 8a EWGV gemeint sind, und das ist auch allein sinnvoll. Für Personen, die nicht EG-Angehörige und nicht Erwerbstätige oder deren Familienangehörige sind, muß also weiter auf Art. 100 oder Art. 235 EWGV zurückgegriffen werden, sofern deren Voraussetzungen erfüllt sind; andernfalls sind Vereinbarungen außerhalb des Vertrages notwendig. Die weiter genannte Ausnahme für Rechte und Interessen der Arbeitnehmer verweist in erster Linie auf Art. 118a EWGV, dessen Formulierung ebenfalls außerordentlich unklar ist. Er scheint im wesentlichen die Arbeitsschutzvorschriften zu erfassen 24. Soweit er nicht eingreift, muß die Harmonisierung auch hier auf Art. 100 und 235 EWGV, bei der Mitbestimmung i m Gesellschaftsrecht vor allem auf Art. 54 Abs. 3g EWGV, der Mehrheitsbeschlüsse vorsieht, gestützt werden 25 . Abgrenzungsprobleme bestehen vor allem auch gegenüber dem neuen Kapitel Umweltrecht. Eine sinnvolle Lösung dürfte wohl nur darin bestehen, daß alle produktbezogenen Umweltregelungen nach Art. 100a EWGV vereinheitlicht werden können, während für die übrigen die Art. 130r ff EWGV gelten 26 . 23 Vgl. Urteile vom 23.2.1988, Rs 68/86 sowie Rs 131 /86, Großbritannien (Verwendung von Hormonen sowie Mindestnormen für Käfige von Legehennen), beide noch nicht in Slg. 24 Vgl. B. Jansen, in: Grabitz (Fn. 2), Art. 118a, Anm. 3. Auch bei Art. 118a scheint ein Übersetzungsfehler vorzuliegen; die Umschreibung des Anwendungsbereichs ist wegen des Zusatzes „insbesondere" i m deutschen Text völlig unklar. 25 Vgl. die Nachweise bei M. Lutter, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Aufl., München 1984. 26 L. Krämer, Einheitliche Europäische Akte und Umweltschutz: Überlegungen zu einigen neuen Bestimmungen i m Gemeinschaftsrecht, in: H.-W. Rengeling (Hrsg.), Europäisches Umweltrecht und europäische Umweltpolitik, Köln 1988, S. 137. Demgegenüber wollen es H.-J. Glaesner, ebenda, S. 10, und wohl auch E. Grabitz (Fn. 2),
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Wichtig ist wegen der unterschiedlichen Regelung der Beschlußfassung im Rat aber vor allem die Abgrenzung zu Art. 100 EWGV, der allgemeinen Rechtsangleichungsvorschrift. Im Verhältnis zu ihr ist Art. 100a EWGV nach seinen Eingangsworten Sondervorschrift 27 . Art. 100 ermächtigt zur Angleichung derjenigen Vorschriftne, „die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken". Art. 100a spricht, wie bereits angeführt, von Vorschriften, „die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes" zum Gegenstand haben. Art. 100 EWGV wurde in der Praxis dahin ausgelegt, daß er auch zur Angleichung der Wettbewerbs« und Rahmenbedingungen der Wirtschaft dienen kann, weil sich diese auf das „Funktionieren des Gemeinsamen Marktes" auswirken können 2 8 . Art. 100a EWGV nimmt dagegen ausdrücklich auf Art. 8a EWGV Bezug, der die Freiheit von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital als Inhalt des Binnenmarktes bezeichnet, und erfaßt die Vorschriften, die dessen Funktionieren „zum Gegenstand" haben, also sich nicht nur „unmittelbar auswirken". Da für Personen, Dienstleistungen und Kapital, wie dargelegt, Sondervorschriften gelten, betrifft Art. 100a Regelungen des Warenverkehrs. Soweit das Weißbuch der Kommission, auf das sich die Mitgliedstaatén in der Schlußakte bezogen haben, weitergehende Angleichungen vorsieht, fallen sie in aller Regel ebenfalls unter andere Vorschriften des Vertrages. Dem Sinn und Zusammenhang der Bestimmungen dürfte demnach nur die Auslegung gerecht werden, daß Art. 100a EWGV für alle produktbezogenen Regelungen gilt, also für solche, die die Beschaffenheit oder Vermarktung von Waren regeln 29 . Richtlinien zur Angleichung allgemeiner Regelungen des Wirtschaftsrechts wie etwa der Produkthaftung, des Kaufrechts, der Vorschriften über unlauteren Wettbewerb, des Haustürverkaufs und der Werbung müssen weiterhin auf Art. 100 gestützt und damit einstimmig verabschiedet werden, und bei derartigen Regelungen scheint es auch angebracht, den allgemeinen Konsens zu suchen. Bei einer weitergehenden AusArt. 130s, Anm. 20 ff. auf die schwerpunktmäßige Zielsetzung einer Regelung abstellen — ein subjektives und daher unbrauchbares Kriterium. W i e hier D. Scheuing, Umweltschutz auf der Grundlage der Einheitlichen Europäischen Akte, EuR 1989, S. 152, 189. 27 Vgl. B. Langeheine, Rechtsangleichung unter Art. 100a EWGV — Harmonisierung vs. nationale Schutzinteressen, EuR 1988, S. 235.
28
Vgl. H. C. Taschner, in: Groeben/Boeckh/Thiesing/Ehlermann (Fn. 4), Art. 100
Anm. 25 ff. 29
Die gegenteilige Ansicht von E. Grabitz (Fn. 2), Art. 8a, Anm. 3, und B. Lange-
heine, in: Grabitz (Fn. 2), Art. 100a, Anm. 20 ff., argumentiert begriffsjuristisch mit einer der Entstehungsgeschichte widersprechenden Gleichsetzung von Gemeinsamem Markt und Binnenmarkt und verkennt dessen teils weitergehenden, teils beschränkteren Gegenstand.
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legung des Binnenmarktes wäre auch seine Verwirklichung bis zum 31.12.1992 völlig unrealistisch. Eine bedenkliche Vorschrift enthält Art. 100a in seinem Absatz 4. Danach kann ein Mitgliedstaat, wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit eine Harmonisierungsmaßnahme erlassen hat, einzelstaatliche Bestimmungen anwenden, die durch „wichtige Erfordernisse i m Sinne des Artikels 36", also vor allem aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, „oder in bezug auf den Schutz der Arbeitsumwelt oder den Umweltschutz gerechtfertigt" sind. Die Bestimmung ist nicht nur sprachlich mißlungen, sondern enthält beklagenswerte Formulierungsmängel, die Anlaß zu vielen Streitigkeiten geben werden. Darauf kann nicht i m einzelnen eingegangen werden 30 . Es sei nur bemerkt, daß die Bestimmung als Ausnahmeregelung eng auszulegen ist. Das gilt vor allem für die Voraussetzungen, so daß nur überstimmte Mitgliedstaaten handeln dürfen, ferner für den Gegenstand, so daß nur bereits bestehende Regelungen beibehalten werden dürfen, und schließlich für das Verfahren, so daß der Kommission eine volle Prüfungskompetenz zustehen muß. Besonders bedenklich ist, daß die Bestimmung keine Befristung vorsieht. Die Abweichungen von den angeglichenen Regelungen dürfen also, wenn der Gerichtshof die Bestimmung nicht einschränkend interpretiert, wofür er wenig Anhalt i m Text findet, auch noch nach dem 31.12.1992 beibehalten werden. Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, daß der Rat dann, wenn bis 1992 nicht alle vorgesehenen Angleichungen vorgenommen sind, beschließen kann, die in den Mitgliedstaaten noch unterschiedlich geltenden Vorschriften global gegenseitig anzuerkennen. Dadurch würde insoweit allgemein das Ursprungsprinzip eingeführt. Es ist aber schwer vorstellbar, daß die Mitgliedstaaten in den besonders sensiblen Bereichen, in denen eine Rechtsangleichung trotz aller Bemühungen bis dahin nicht gelungen ist, zu einer derartigen globalen Regelung bereit sein werden. Das ist wohl nur in Einzelfällen denkbar, wenn die Mitgliedstaaten die Nachteile, die ihnen durch eine Rechtsangleichung entstehen könnten, für bedenklicher halten als diejenigen einer Einfuhr ausländischer Waren, die ihren Vorschriften nicht voll entsprechen.
30
Zur Auslegung vgl. B. Langeheine (Fn. 27); G. Meier, Einheitliche Europäische Akte und freier Warenverkehr, Ν J W 1987, S. 537 ; J. F/ynn, How will Article 100 A (4) work? A Comparison with Article 93, CMLRev. 1987,S. 689; F. Montag, Freier Warenverkehr und Einheitliche Europäische Akte, RIW 1987, S. 935.
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6. Ausmaß der Rechtsangleichung im Binnenmarkt Die Rechtsangleichung hat sich in der Vergangenheit als mühsam und langwierig erwiesen. Rechtsvorschriften beruhen auf Traditionen und Wertungen; sie sind Antworten auf wirtschaftliche und soziale Probleme des betreffenden Landes, sie schaffen Besitzstände, die später schwer zu beseitigen sind, und berühren wirtschaftliche Interessen. Die Kommission versuchte deshalb seit Ende der siebziger Jahre, sie auf wichtige, vor allem wirtschaftlich vordringliche und machbare Vorhaben zu beschränken und bekannte sich im Weißbuch zu einem „Wettbewerb, der nur von den notwendigsten Rahmenbestimmungen abgestützt werden sollte" 31 . Als allgemeine Leitlinie wird man das gerade von einer liberalen Wirtschaftsauffassung her unterschreiben können. Die Praxis zeigt aber doch ein anderes Bild. Bereits das Weißbuch enthält einen kaum noch übersehbare Liste von Vorschlägen, die vorgelegt werden sollen, und die Öffentlichkeit wird in kurzen Abständen von Meldungen über immer neue Vorschläge oder verabschiedete Regelungen erschreckt. In der Praxis zeigt sich nämlich, ähnlich wie bei der Cassis de Dijon-Rechtsprechung des Gerichtshofs, daß die Vorbehalte aus Gründen des Gemeinwohls, die zu einer übereinstimmenden Regelung zwingen, doch viel gewichtiger sind, als es gemeinhin angenommen wird. Außerdem scheint, wie häufig bei derartigen umfassenden Vorhaben, die Selbstaufladung des Prozesses in der Bürokratie dazu zu führen, daß ein Bedürfnis nach immer neuen Regelungen entsteht. In welchem Ausmaß die Rechtsangleichung vorangetrieben wird, weil die nationalen Behörden nicht bereit sind, Abweichungen von ihren Regelungen zu tolerieren, zeigt die Praxis ständig 32 . Gleichwohl ist eine Begrenzung erforderlich. Noch vor einiger Zeit war jede gelungene Angleichung als Integrationserfolg zu begrüßen. Angesichts des Ausmaßes, den sie inzwischen angenommen hat, muß aber nunmehr über die angemessene Verteilung der Aufgaben und Kompetenzen in der Gemeinschaft nachgedacht werden. Diese ist nur föderal gegliedert funktionsfähig. Die Mitgliedstaaten bestehen weiterhin fort und fühlen sich als Träger der Gemeinschaft. Aber angesichts der Interdependenz aller öffentlichen Aufgaben ist eine Beschränkung der Regelungen auf Gemeinschaftsebene schwer zu verwirklichen. Von den zahlreichen Regelungen, die zur 31 32
Weißbuch (Fn. 17), Nr. 56.
Ein typisches Beispiel zeigt die Antwort der Kommission auf die Anfrage des Abg. Seefeld i m Europäischen Parlament, ob die Mitnahme von belegten Brötchen nach Dänemark als Reiseproviant verboten sei. Die Kommission hält das wegen der Gefahr der Verbreitung von Tierseuchen für gerechtfertigt und kündigt eine Strategie zu deren Bekämpfung, verbunden mit einer Vereinheitlichung der Kontrollen an den Außengrenzen der Gemeinschaft an,· vgl. Abi. 1989 Nr. C 103/4.
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Verwirklichung des Binnenmarktes getroffen werden müssen, gehen starke zentralisierende Wirkungen aus. Ein aktuelles Beispiel für diese Problematik bilden die Erörterungen über den Vorschlag einer Richtlinie über die Dienstleistungen im Rundfunkbereich 33 . Die Gemeinschaft ist befugt und sogar verpflichtet, die Freiheit grenzüberschreitender Leistungen zu regeln, und dazu gehört auch die Einspeisung von Programmen in Kabelnetze. Sie ist dabei auch befugt, übereinstimmende Regeln über die Unterbrechungen durch Werbung, über Anforderungen der öffentlichen Ordnung, etwa des Jugendschutzes, oder auch urheberrechtliche Fragen zu treffen, denn unterschiedliche nationale Regelungen dieser Fragen können die grenzüberschreitenden Leistungen behindern. Aber soweit es um die sachlichen Inhalte der Programme geht, sollte sich die Gemeinschaft zurückhalten und dem Pluralismus, wie er in jedem föderalen Gebilde bestehen muß, Raum geben. Auch rechtlich besteht hier eine Grenze der Zuständigkeit der Gemeinschaft 34 . Ähnliche Probleme stellen sich zum Beispiel im Bildungsbereich. Die Gemeinschaft ist sicherlich dazu berufen, Arbeitnehmern den gleichberechtigten Zugang zu allen Bildungseinrichtungen in den Mitgliedstaaten, in denen sie tätig sind, zu öffnen. Sie soll auch darüberhinaus Diskriminierungen beseitigen, so wie es der Gerichtshof entschieden hat. Aber die eigentlichen Bildungsinhalte und die Organisation des Bildungswesens sind Sache der Mitgliedstaaten 35 . Für eine Begrenzung der Angleichungen im Interesse eines Wettbewerbs der Systeme, der zu einem deregulierenden Effekt führt, besteht wenig Raum 36 . Diesen Wettbewerb kann es in der Tat nicht geben, soweit es um Interessen des allgemeinen Wohls, also um den Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit, Umweltschutz, Verbraucherschutz, lauteren Wettbewerb oder ähnliche Güter geht. Das ist, wie die Rechtspre33
Vgl. aus der umfangreichen Literatur mit weiteren Nachweisen die Beiträge in J. Schwarze (Hrsg.), Fernsehen ohne Grenzen, Baden-Baden 1985, sowie E.-J. Mestmäcker (Hrsg.), Offene Rundfunkordnung, Gütersloh 1988. 34 So läßt sich die Zuständigkeit der Gemeinschaft zur Festlegung eines „europäischen Programmanteils" sicher nicht mit der Notwendigkeit begründen, die „Beschäftigung in den kulturschaffenden Industrien" zu sichern, wie es die Kommission in der Begründung ihres Vorschlages getan hat; vgl. Dok. KOM (86), 146 endg. vom 29.4.1986. Dazu U. Everling, Gestaltungsbedarf des europäischen Rechts, EuR 1987, S. 226. 35 Vgl. Urteil vom 13.2.1985, Rs 293/83, Gravier, Slg. 1985, S. 606. Dazu T. Oppermann, Europäisches Gemeinschaftsrecht und deutsche Bildungsordnung, Bonn 1987; H. Avenarius, Zugangsrechte von EG-Ausländern im Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland, NVwZ 1988, S. 385. Vgl. auch Urteil vom 30.5.1989, Rs 242/87, Kommission/Rat (Erasmus-Programm), noch nicht in Slg. 36 Vgl. oben Fn. 7.
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chung des Gerichtshofs gezeigt hat, bei den meisten produktbezogenen Regelungen mindestens in gewissem Umfang der Fall. Aber selbst dort, wo der Gerichtshof das Tor für diesen Wettbewerb der Systeme geöffnet hat, bestehen nur begrenzte Chancen, auf Rechtsangleichungen zu verzichten. Ein Beispiel bietet das Urteil über das Reinheitsgebot des Bieres 37 . Danach ist die Bundesrepublik verpflichtet, Bier, in dem andere Rohstoffe als Hopfen, Malz, Wasser und Hefe verwendet wurden, zur Einfuhr und Vermarktung unter der Bezeichnung „Bier" zuzulassen, insbesondere also auch Bier mit Maiszusatz. Aber die Kennzeichnung kann verlangt werden, damit der Verbraucher informiert ist und eine angemessene Wahl treffen kann. Damit stellt sich schon wieder ein Bedürfnis nach einer Angleichung, denn unterschiedliche Kennzeichnungsregelungen können Handelshemmnisse darstellen. Ebenso hat das Bier-Urteil anerkannt, daß nicht alle Zusatzstoffe, die im eingeführten Bier enthalten sind, vom Einfuhrland hingenommen werden müssen. Auch insoweit ergibt sich ein Bedürfnis für Rechtsangleichung; sie ist bereits eingeleitet. Ein Wettbewerb der Rechtssysteme bleibt also begrenzt. Einen solchen Wettbewerb mit dem Ziel, zu einer Deregulierung zu kommen, kann es auch nicht bei ordnungspolitischen Vorschriften geben, etwa bei der Fusionskontrolle oder den Wettbewerbsregeln. Ebenso ist er bei arbeitsrechtlichen oder umweltpolitischen Fragen nicht vorstellbar. Das öffentliche Interesse fordert in diesen wie in anderen Bereichen, notfalls eine Benachteiligung der inländischen Unternehmern in Kauf zu nehmen, weil der langfristige Vorteil einer angemessenen Politik die kurzfristigen Nachteile überwiegt. Auch dies mag man aus allgemeiner volkswirtschaftlicher Sicht in langfristiger Perspektive als Wettbewerb der Systeme bezeichnen. Es ist aber eher gefährlich, weil die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die entstehen können, zu Anpassungszwängen in die falsche Richtung führen können. Insofern dürfte sich doch eine Angleichung empfehlen. A m ehesten kommt ein Wettbewerb der Systeme noch bei den privatrechtlichen Rahmenbedingungen der Wirtschaftstätigkeit in Betracht, etwa beim Kaufrecht, vielleicht auch beim Gesellschaftsrecht, obwohl dort die Rechtsangleichung allgemein gefordert wird. Insgesamt gesehen dürfte die Chance, mit dem Durchbruch zum Binnenmarkt zugleich auch über einen solchen Wettbewerb zu einer Deregulierung zu kommen, wohl doch geringer sein, als manchmal erhofft wird.
37
Urteil vom 12.3.1987, Rs 178/84, Bundesrepublik Deutschland (Reinheitsgebot des Bieres), Slg. 1987, S. 1227; vgl. C. Moench, Reinheitsgebot für Bier, N J W 1987, S. 1109; H. Hohmann, Das Reinheitsgebot und der europäische Binnenmarkt, JZ 1987, S. 959.
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7. Hindernisse bei der Verwirklichung des Binnenmarktes Schließlich ist die Frage zu stellen, welche Hindernisse der Verwirklichung des Binnenmarktes entgegenstehen. Dazu soll nicht untersucht werden, welche Harmonisierungschancen in den einzelnen Bereichen, vor allem bei der Mehrwertsteuer und den Verbrauchssteuern 38 , bestehen und wie umfangreich die „Verlustliste" Ende 1992 sein wird, denn das läßt sich nicht voraussagen. Vielmehr soll auf einige Randprobleme hingewiesen werden, die gelöst werden müssen, um einen wirklichen Binnenmarkt herzustellen. Dabei soll die schwierigste Frage, nämlich die Kontrolle des Verkehrs von Personen im offenen Binnenmarkt, vor allem auch der Drittlandsangehörigen 39 , und die Bekämpfung des Handels mit Drogen und Waffen ausgeklammert werden, da sie bereits Gegenstand politischer Verhandlungen ist. Auch unabhängig davon stellen sich vielfältige Fragen in einem Raum ohne Grenzkontrollen. Zunächst wirft der Außenhandel Fragen auf. Bekanntlich bestehen immer noch nationale Einfuhrkontingente, Gemeinschaftskontingente werden teilweise national aufgeteilt, und die Beschränkungen bei der Ausfuhr werden noch durch die Mitgliedstaaten angewendet 40 . In diesem Bereich ist gemeinschaftliches Handeln erforderlich. Andernfalls müßte nämlich die Schutzklausel der Art. 115 EWGV weiter angewendet werden, um Verkehrsverlagerungen zu vermeiden. Sie ist aber ohne Grenzkontrollen kaum praktikabel. Die Kommission hat daher in ihrem Weißbuch eine Beseitigung nationaler und regionaler Quoten gefordert und strebt, soweit das nicht gelingt, Kontrollen durch Zusammenarbeit der Verwaltungen an 41 . Aber auch in dieser Form wäre die angestrebte Freiheit im Binnenmarkt nicht voll verwirklicht. Der Beobachter fragt sich auch, wie künftig die Anwendung des Protokolls über den innerdeutschen Handel sichergestellt werden soll. Bisher ist es gelungen, mit Mengenbegrenzungen, mit der Preispolitik der DDR und mit einer Beeinflussung der Importeure größere Verkehrsverlagerungen zu vermeiden. Für den Fall von Störungen steht den anderen Mitgliedstaaten nach 38
Vgl. R. Parsche/B. Seidel/D. Teidmann, Die Beseitigung von Steuergrenzen in
der Europäischen Gemeinschaft — Vorteile und Probleme einer Harmonisierung von Mehrwertsteuer und Verbrauchersteuern i m europäischen Binnenmarkt, Berlin 1988. 39
A. Wilke, Vollendung des EG-Binnenmarktes und Asylrecht, ZRP 1989, S. 225; K. Hailbronner, Ziele und Schranken einer europäischen Asylrechtskoordinierung, N V w Z 1989, S. 303. 40
Vgl. dazu U. Everling, Das Recht in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen der EG, in: M. Hilf/E.-U. Petersmann, GATT und Europäische Gemeinschaft, Baden-Baden 1986, S. 175, 194. 41
Weißbuch (Fn. 17), Nr. 35. Vgl. C. Neme, 1992 et la clause de l'article 115: A quand une politique commerciale commune? Rev M C 1988, S. 578.
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dem Protokoll eine Schutzklausel zur Verfügung. Wenn deren Anwendung nicht mehr durch Grenzkontrollen sichergestellt werden kann, stellt sich die Frage, ob etwaige Schwierigkeiten durch Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden ausgeräumt werden können 42 . Weiter sei auf den Währungsausgleich in der Landwirtschaft hingewiesen. Solange die Anstrengungen, die neuerdings wieder zur Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion eingeleitet worden sind, noch nicht zu festen, unveränderlichen Wechselkursen geführt haben, lassen sich auch künftig währungspolitische Spannungen im Agrarmarkt nicht ausschließen, die einen Ausgleich erfordern. Wenn dieser aber nicht mehr an der Grenze überwacht werden kann, entstehen erhebliche Risiken für Umgehungen. Vermutlich muß dann über Ersatzmechanismen nachgedacht werden, vor allem wird nach Ausgleichszahlungen gerufen werden. Auch bei der Anwendung der Marktordnungen stellen sich Fragen. So ist etwa bei der Milchmarktordnung zu entscheiden, ob weiterhin nationale Quoten angewendet werden können, deren Aufteilung in den Mitgliedstaaten teilweise nach unterschiedlichen Systemen und Referenzjahren vorgenommen wird. Insbesondere fragt sich, ob der Quotenhandel über die Grenze in einem wirklichen Binnenmarkt ausgeschlossen werden kann. Die Ausfuhr wirft im Binnenmarkt ebenfalls Probleme auf. Sie durfte auch zwischen den Mitgliedstaaten bisher nach Art. 36 EWGV zum Schutze des nationalen Kulturgutes von künstlerischem geschichtlichem und archäologischem Wert beschränkt werden. Besonders für die Mittelmeerländer mit ihren unübersehbaren Schätzen aus der Antike, aber auch für die anderen Staaten stellen sich kaum lösbare Fragen, wenn eine Grenzkontrolle nicht mehr möglich ist. In diesem Falle bewirkt eine Rechtsangleichung mit gemeinsamem Handeln nach außen wenig, weil auch der innergemeinschaftliche Handel unterbunden werden soll. Dafür muß ebenfalls eine enge Zusammenarbeit der Verwaltungen eingerichtet werden. Kaum erörterte Fragen stellen sich bei den Grenzgängern. Wer in einem Mitgliedstaat wohnt und im anderen berufstätig ist, wird teilweise in letzterem als beschränkt steuerpflichtig behandelt, so daß ihm die personenbezogenen Steuerminderungsgründe verloren gehen, sofern er nicht auch im Wohnsitzstaat Einkommen hat 4 3 . Ist das in einem Binnenmarkt tragbar? Nimmt man noch die nationalen Maßnahmen hinzu, die aufgrund des Absatzes 4 des Art. 100 EWGV beibehalten werden dürfen 44 , so zeigt sich, 42
Vgl. F. Homarui, Innerdeutscher Handel und EG-Binnenmarkt, DeutschlandArchiv 1989, S. 301. 43 Vgl. G. Sass, Gleichbehandlung von beschränkt Steuerpflichtigen mit unbeschränkt Steuerpflichtigen aufgrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, Steuer und Wirtschaft 1988, S. 362. 44
Vgl. oben bei Fn. 30.
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daß auch unabhängig von den zahlreichen Auseinandersetzungen über Inhalt und Umfang der Harmonisierung, wie sie etwa im Bereich der Steuern stattfinden, noch zahlreiche Fragen offen sind, deren Lösung zur Verwirklichung des angestrebten „wirklichen" Binnenmarktes erforderlich ist.
8. Schlußbemerkung Der Überblick dürfte gezeigt haben, daß sich die rechtliche Gestalt des europäischen Binnenmarktes erst in Umrissen abzeichnet. Zahlreiche Fragen zur Auslegung der neuen Vertragsbestimmungen sind offen und müssen zu gegebener Zeit vom Gerichtshof geklärt werden, zahlreiche Regelungen werden gerade getroffen oder müssen noch getroffen werden. Die Bedeutung dieser Vertragsbestimmungen und Regelungen geht weit über die Beseitigung der Binnengrenzen hinaus. Sie bilden Grundlage und Rahmen für die Wirtschaftspolitik, die künftig im Binnenmarkt, und zwar zunehmend vereinheitlicht, betrieben werden wird. Von ihrer Ausgestaltung hängt deshalb in erheblichem Umfang ab, ob diese Wirtschaftspolitik marktwirtschaftlich und weltoffen ausgerichtet werden kann. Durch die Regelungen wird ferner die künftige Struktur der Gemeinschaft vorgeprägt, insbesondere ihr mehr oder weniger föderaler Charakter. Mit der rechtlichen Gestaltung des Binnenmarktes werden deshalb wichtige Weichen für die weitere Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft gestellt.
Zusammenfassung der Diskussion Referat Everling Willgerodt macht auf eine anscheinende Harmonisierungsnotwendigkeit aufmerksam: Wenn der gemeinsame Markt in dem Sinne hergestellt würde, daß alles, was einmal in den gemeinsamen Markt hineingekommen ist, im ganzen Markt gehandelt werden darf, entstehe das Problem der Behandlung der Einfuhren aus Drittländern. Es könnte sich dann ein Freihandelszoneneffekt ergeben, wenn die einzelnen Länder nach wie vor unterschiedliche Vorschriften hätten, aber jede dieser Vorschriften für das Gesamtgebiet gültig wäre. Dann würde an der Stelle, die für die Einfuhr von den außenstehenden Lieferanten für die günstigste gehalten wird, die Ware eingeführt, um sie anschließend in den ganzen gemeinsamen Markt weitergelangen zu lassen. Das scheine darauf hinauszulaufen, daß eine Harmonisierung der Vorschriften erforderlich ist. Im übrigen ist Willgerodt der Überzeugung, daß man differenzieren muß zwischen den Dingen, die harmonisiert werden müssen, und solchen, bei denen — entgegen dem, was Everling gesagt habe — ein Wettbewerb der Rechtssysteme sehr wohl möglich wäre. Ein großer Teil der nationalen Regulierungsvorschriften diene nicht dem Schutz des Bürgers, sondern der Wettbewerbsbeschränkung zugunsten der Produzenten. Es handele sich um verkappte Zölle und verkappte Monopolisierungstendenzen in großer Zahl, die nur der Öffentlichkeit gegenüber als Schutz des Bürgers präsentiert würden. Hier sollte die Konkurrenz der Rechtssysteme durchaus greifen. Willgerodt greift ein sehr wichtig werdendes Beispiel heraus: Die heilige Kuh mancher deutschen Juristen sei der Anlegerschutz bei Wertpapieren, der die deutsche Börse praktisch so demoliert habe, daß die deutschen Finanzgeschäfte in London und Luxemburg stattfänden, weil der Bürger hinsichtlich der Anlage seines Vermögens für zu dumm gehalten werde, um beurteilen zu können, was es mit einem Wertpapier auf sich hat. Willgerodt befürwortet nicht die Abschaffung sämtlicher Regulierungen auf diesem Gebiet, aber das, was in Deutschland geltendes Recht ist, scheint ihm mehr von Vorstellungen der merkantilistischen Obrigkeitsstaatlichkeit beherrscht zu sein als von Vorstellungen eines vernünftigen Anlegerschutzes. Hoffmann fordert Willgerodt auf, seine Vorstellungen zu verdeutlichen. Wenn man den im ersten Punkt erläuterten Freihandelseffekt hätte und dann eine Harmonisierung anstrebte, bestünde immer die Gefahr, daß es
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eine protektionistische Harmonisierung würde. Das entspräche sicherlich nicht Willgerodts Vorstellungen. Willgerodt fürchtet, die Interessenten würden auf den Umlenkungseffekt so reagieren, daß sie den gemeinsamen Markt nicht zulassen würden. Das technische Problem ließe sich ohne Grenzkontrollen kaum lösen. Nerb weist darauf hin, daß die Öffnung des öffentlichen Auftragswesens, der Zwang zur europaweiten Ausschreibung es gebiete, eine Institution rechtlicher Art einzuführen, die angrufen werden kann, wenn sich hier Verstöße ergeben. Er fragt nach den Vorstellungen des Europäischen Gerichtshofs, welche zusätzliche Instanz hier eingezogen werden soll. Die Unternehmen sähen ja häufig den großen Nachteil des Europäischen Gerichtshofs darin, daß es sich um eine sehr hehre Institution mit sehr langen Zeiten der Erledigung handele. Entsprechend kostspielig sei es, dort ein Verfahren einzuleiten. Es sei ja schon etwas geschehen in der Richtung, eine zweite Instanz einzurichten, aber gerade für das öffentliche Auftragswesen müßte etwas Schlagkräftigeres entstehen. Dönges fragt nach der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs in Fragen des Lebensmittelschutzes. Everling habe gesagt, dies sei ein Bereich, in dem man einen Wettbewerb der Regelungssysteme nicht zulassen könne, weil der Bürger Anspruch habe, vor Gefährdungen durch gesundheitsschädliche importierte Produkte geschützt zu werden. Die Frage sei: Welche Vorstellung hat ein Richter beim Europäischen Gerichtshof hinsichtlich des Verantwortungsbewußtseins der Regierungen einzelner Mitgliedsländer gegenüber deren Bevölkerung? Ob man annehmen müsse, daß überall dort, wo nicht gerade Deutschland ist, die Regierungen das alles etwas lässig nähmen. Die Evidenz werde offenbar nicht zur Kenntnis genommen; nämlich die Tatsache — so Dönges —, „daß Millionen von Deutschen jedes Jahr ihren Urlaub in südeuropäischen Mitgliedsländern verbringen und von dort überhaupt keine Gesundheitsschäden mitbringen". Dennoch werde Aktivismus gefordert, und im Hintergrund schwinge immer die Vorstellung: natürlich nach deutschem Niveau. Everling geht zunächst auf das Problem der Einfuhr aus Drittländern ein. Vermarktungsregelungen seien ja keine Handelsinstrumente, sollten es jedenfalls angeblich nicht sein, insbesondere auch nach den Regeln des GATT nicht. Wenn also im gemeinsamen Markt Regelungen über die Zulassung von Kraftfahrzeugtypen getroffen würden, dann müßten sie vorsehen, daß eine Zulassung in Flensburg auch von allen anderen Staaten des gemeinsamen Marktes anerkannt wird. Solche Regelungen gälten auch in vielen Bereichen bzw. würden in vielen Bereichen angestrebt. So dürfe ja auch ein Fahrzeug, das bei einer nationalen Stelle zugelassen wird, im gesamten gemeinsamen Markt als Typ verkauft werden. Welche Rechtfertigung bestünde nun, von einem japanischen Hersteller zu verlangen, daß er die
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Zulassung des betreffenden Kraftfahrzeugtyps in jedem EG-Mitgliedstaat erwirkt? Vom GATT her wäre das sicherlich verboten. Die einheitliche Wirkung für die gesamte Gemeinschaft habe aber seinerzeit nur durchgesetzt werden können, weil die Ausnahmeklausel eingeführt wurde, die jedem Mitgliedsland in Sonderfällen den Schutz des eigenen Marktes ermöglicht. Zeitungsberichten zufolge werde jetzt in verschiedenen Vorschlägen, vor allem wohl hinsichtlich der Banken, von der Kommission das Reziprozitätsprinzip verlangt. Das wäre eine deutliche Abweichung von Grundprinzip. Everling stimmt der Auffassung zu, daß oft die öffentliche Ordnung — Gesundheit und ähnliches — vorgeschoben wird für industrielle oder sonstige Schutzinteressen; nur sei das wirklich sehr schwer festzustellen. Man könne kaum erwarten, wenn es im deutschen, doch nun wirklich ausgebildeten System nicht zu schaffen ist, in dem zitierten Beispiel den Vorhang wegzuziehen, daß das in der Gemeinschaft gelingen könnte. Man müsse es aber dennoch versuchen. Nur träten in Brüssel als deutsche Vertreter diejenigen auf, die für die deutsche Regelung im Innern eingetreten sind. Es sei also sehr schwer, von Brüssel aus Probleme zu lösen, die in der Bundesrepublik selbst nicht zu lösen wären. Zu der Frage nach den Entscheidungen bei Lebensmitteln gibt Everling zu bedenken, daß ein Richter nach dem Recht zu entscheiden und nicht die politischen Instanzen zu ersetzen hat. Den Juristen überrasche immer wieder, daß bei den Naturwissenschaftlern nicht etwa immer übereinstimmende Meinungen herrschten, sondern die Meinungen genauso geteilt seien wie bei den Juristen. Was gesundheitsschädlich ist und was nicht, sei unter den Ernährungswissenschaftlern enorm umstritten, was aus der Diskussion über die Grenzwerte für die Strahlenbelastung und andere Schadstoffbelastungen deutlich werde. Hier hätten die Richter entschieden: solange das Schutzniveau international nicht vereinheitlicht ist, seien die Mitgliedstaaten noch frei, das Schutzniveau, das sie bei ihrer Bevölkerung anwenden wollen, zu bestimmen. Diese Regel sei allerdings eingegrenzt: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, keine Willkür, keine Ermessensüberschreitung und dergleichen. Es sei wirklich sehr schwer zu beurteilen, warum bestimmte Spritzmittel bei einer Sorte Obst nicht zugelassen werden, während sie bei einer anderen in der ganzen Gemeinschaft verwendet werden dürfen. Der Richter müßte dann Sachverständige hören, die ihm im Zweifel auch nicht viel weiterhelfen könnten. Everling meint, hier sei an manchen Punkten die Grenze der Justitiabilität erreicht. Beim Bier habe der Gerichtshof ζ. B. entschieden, es sei unverhältnismäßig, daß die Deutschen sämtliche Zusatzstoffe verbieten, obwohl sie etwa beim obergärigen Bier Saccharose zulassen, obwohl sie beim W e i n vielerlei Dinge zulassen, ohne daß die Bevölkerung dabei Scha-
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den nimmt, und obwohl sie in allen möglichen Getränken — in den Mineralwassern — bestimmte Stoffe zulassen, die im Bier verboten sein sollen. Das sei sicher unverhältnismäßig. Andererseits werde man bei einigen Stoffen, gerade solchen, die im englischen Bier enthalten sind, doch etwas nachdenklich (Heiterkeit). Aber es stelle sich die Frage: Wenn die Sensibilität in England noch nicht soweit ist wie in den anderen Staaten, soll sich dann der Richter an die Stelle des Politikers setzen und das alles wegfegen? Hier sei sicherlich die Grenze des Richters gegenüber der Politik erreicht. Zu den öffentlichen Aufträgen bemerkt Everling, eine Regelung existiere schon seit fast zwanzig Jahren, sie sei nur nicht richtig angewendet bzw. die Anwendung sei nicht richtig kontrolliert worden. Ob die neue Regelung sich besser bewähren werde, müsse man abwarten. Ausgenommen seien bisher Institutionen wie Bundesbahn und Bundespost gewesen, einfach wegen der unterschiedlichen Rechtsform in den einzelnen Mitgliedstaaten. (Kann man Aufträge einer Aktiengesellschaft auch als öffentliche Aufträge behandeln?) Über diese Probleme sei man erst jetzt hinweggekommen. Nun komme es darauf an, die Anwendung der Vorschriften zu kontrollieren. Der Gerichtshof habe in einigen Fällen schon entschieden. In einem irischen Fall hätten sich nicht berücksichtigte Anbieter bei der Kommission beschwert, und diese habe dann ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Iren eingeleitet. Wichtig wäre es, den einzelnen Unternehmen einen Rechtsschutz gegen die Versagung eines öffentlichen Auftrags einzuräumen. Bisher habe die Firma kein Klagerecht gehabt, wenn sie einen öffentlichen Auftrag nicht erhalten hatte, weil das als privatrechtlicher Auftrag konstruiert war. Man könne nun einmal nicht auf Abschluß eines privaten Vertrags klagen. Aber im Verhältnis zu öffentlichen Auftraggebern existiere hier eine wunde Stelle.
Probleme der EG-Steuerharmonisierung
Von Bernhard Molitor, Bonn
Im Mittelpunkt meines Referates steht die Harmonisierung der Steuern. Wegen der Kürze der Zeit möchte ich dabei das Hauptgewicht auf die indirekten Steuern legen. Dabei muß dies natürlich — schon i m Hinblick auf die notwendige Einnahmeentwicklung des Staates zur Erfüllung seiner Aufgaben — immer auch vor dem Hintergrund der Gesamtsteuereinnahmen gesehen werden. Um Verständnis bitte ich hier, daß ich mich auf grundsätzliche Fragen beschränke, zumal die Diskussion in Brüssel über technische Details überhaupt noch nicht richtig begonnen hat.
I. Im Weißbuch der Europäischen Kommission zur Vollendung des Binnenmarkte heißt es u.a. : „Europa steht am Scheideweg. Entweder wir gehen mutig und entschlossen weiter oder wir fallen in die Mittelmäßigkeit zurück". Die Europäische Gemeinschaft hat sich deshalb durch die einheitliche Europäische Akte vom 1. Juli 1987 ihren Weg für die künftige Entwicklung vorgegeben. Durch den Abbau der technischen, rechtlichen und steuerlichen Hindernisse soll ein Raum ohne Grenzen geschaffen werden, der einen ungehinderten Austausch von Personen, Waren, Diensten und Kapital ermöglicht. Nur durch offene Grenzen zwischen den EG-Ländern — aber auch zu den Weltmärkten — können die Vorteile der Arbeitsteilung sowohl für die Europäische Gemeinschaft als auch für die anderen Handelspartner voll genutzt werden. Ein solcher Markt für rund 320 Millionen Einwohner führt unter dem Druck eines dynamischen Wettbewerbs zu —
Kostenabbau durch den Verzicht auf Grenzkontrollen,
—
einer besseren Nutzung der gesamtwirtschaftlichen Ressourcen,
—
einem größeren und vielfältigeren Waren- und Dienstleistungsangebot,
—
tendenziell niedrigeren Preisen,
—
stärkeren Impulsen für mehr Wachstum, höhere Beschäftigung, größeren Wohlstand und letztlich auch zu einer günstigeren Entwicklung der öffentlichen Einnahmen.
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II. Ein wesentlicher Baustein zur Schaffung eines offenen europäischen Marktes ohne Grenzkontrollen und ohne gravierende Wettbewerbsverzerrungen ist der Verzicht auf Steuergrenzen und eine Harmonisierung der Steuern in den Bereichen, in denen bisher durch die Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs erhebliche Steuerumgehungsmöglichkeiten unter Ausnutzung des Steuergefälles verhindert werden konnten. Höhe und Struktur der Steuern haben dabei wichtige Einflüsse auf — — — —
die die die die
Leistungsbereitschaft und das Leistungsniveau, staatliche Aufgabenerfüllung, Produktionsstruktur und den Produktionsstandort sowie Preisbildung.
Für eine Annäherung der Steuersysteme und der Steuerumsätze sind grundsätzlich zwei Lösungswege denkbar. Einmal kann die Harmonisierung der Steuern den Marktkräften überlassen werden. Zum anderen können sich die Regierungen auf eine Harmonisierung der indirekten Besteuerung verständigen. Praktisch könnte der erste Ansatz etwa so aussehen: Man schafft die Kontrollen an der Grenze ab; die Verbraucher können ungehindert ihre Produkte überall in der Gemeinschaft zum jeweiligen Steuersatz beziehen; d. h. die Steuer fällt dort an, wo die Waren bezogen werden. Wenn man davon ausgeht, daß die Verbraucher und anderen Abnehmer Steuerunterschiede zu ihren Gunsten nutzen und die Staaten wenigstens nicht ganz leer ausgehen wollen, werden sie dazu neigen ihre Steuersätze den jeweils niedrigsten anzupassen. Dadurch dürfte sich eine generelle Tendenz zu Steuersenkungen ergeben, die im Extremfall sogar die Abschaffung bedeuten kann. Dabei wäre zu befürchten, daß —
die Steuereinnahmen rascher und massiver sinken, als dies zur Erfüllung wichtiger staatlicher Aufgaben erwünscht ist,
—
unter dem Anpassungsdruck auf absehbare Zeit kaum noch eine Entlastung bei den direkten Steuern erfolgen kann, die zur Stärkung des Wachstums und der Beschäftigung als erforderlich erachtet wird. So würde eine von vielen Ländern und internationalen Institutionen als notwendig anerkannte Steuerpolitik unmöglich.
Eine Annäherung der Steuersätze durch Marktkräfte begünstigt außerdem die wirtschafts- und finanzstärkeren Staaten, weil sie im Wettbewerb um niedrigere Steuersätze leichter mithalten können. Damit würden sich wahrscheinlich erhebliche Verwerfungen bei den Handelsströmen, den Produktionsstandorten und den Einkommen ergeben. Es käme nicht zu einer gleichmäßigeren Wirtschaftsentwicklung in der Gemeinschaft, sondern der Abstand zwischen den wirtschaftlich stärkeren und schwächeren Mitglied-
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Staaten dürfte sich vergrößern. Dies würde den Ruf nach wesentlich größeren Transferzahlungen von den stärkeren an die schwächeren Länder über den Gemeinschaftshaushalt oder auf anderem Wege lauter werden lassen. Aus diesen kurzen kritischen Anmerkungen zu einer Annäherung der Steuersätze über den Markt darf jedoch nicht die Schlußfolgerung abgeleitet werden, die administrativ notwendigen Harmonierungsschritte zu einer rundum perfekten Lösung mit einer Ausweitung der Bürokratie und der Stärkung des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft zu verbinden oder auf den Markt bei der Harmonisierung ganz zu verzichten. Die Harmonisierungsregelungen müssen sich daher auf die wichtigsten Punkte konzentrieren und sich flexibel in bestehende Strukturen einpassen. Sie dürfen Marktprozesse nicht behindern. Auch sollten sie nicht zu einer Erhöhung der Steuerlast in den Volkswirtschaften führen. Zu sehen ist dabei, daß die Verringerung der Handlungsspielräume der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik, die mit der Harmonisierung bestimmter Steuern verbunden ist, durch die vielfältigen Vorteile, die sich aus dem Wegfall der Grenzkontrollen ergeben, für Verbraucher und Investoren sowie im Ergebnis auch für die Staatshaushalte auf Dauer mehr als aufgewogen werden.
III. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft hat zur Steuerharmonisierung mehrere Richtlinienentwürfe vorgelegt: —
zur Harmonisierung der indirekten Steuern (Mehrwertsteuer und Sonderverbrauchsteuern) ,
—
für die Vereinheitlichung der Kapitalertragsbesteuerung und
—
für Teilbereiche bei den direkten Steuern.
Im Jahre 1987 schlug sie für die Mehrwertsteuer ein Zweisatzsystem mit Bandbreiten vor. Dabei sollten die Regelsätze der einzelnen Mitgliedstaaten zwischen 14 und 20 % und die ermäßigten Steuersätze zwischen 4 und 9 % liegen. Sie geht dabei von dem sog. modifizierten Bestimmungslandprinzip aus, d. h. im Ergebnis sollen die Steuereinnahmen den Staaten zufließen, in denen der Verbrauch stattfindet. Die Wirtschafts- und Finanzminister der EG hatten zunächst den EG-Ausschuß für Wirtschaftspolitik zu einer Stellungnahme aus ökonomischer Sicht aufgefordert 1. Bei dieser Arbeit gab es im wirtschaftspolitischen Ausschuß ein erstaunliches Maß an Übereinstimmung. Vor allem wurde die Auffassung bestätigt, daß ein Binnenmarkt nur ohne Grenzkontrollen und mit einer 1
Ausschuß für Wirtschaftspolitik der Europäischen Gemeinschaften; Wirtschaftliche Aspekte der Annäherung der indirekten Steuern, Brüssel 1988.
τ
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gewissen Harmonisierung im Bereich der indirekten Steuern funktionieren kann. Bei der Mehrwertsteuer hielt der Ausschuß — wie die Kommission — die Festlegung von zwei Mehrwertsteuersätzen — einen generellen Satz und einen ermäßigten Satz (jeweils mit Bandbreiten) — für zielgerecht. Die Verringerung der Zahl der Steuersätze erleichtert die Verwaltung des Systems und führt zu größerer Effizienz. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt übrigens eine neue IWF-Studie. Die Reduzierung der Steuersatzunterschiede zwischen den Ländern ermöglicht sowohl auf der Ebene der Mitgliedstaaten als auch auf der Ebene der Gemeinschaft eine neutralere Besteuerung der Waren. Auch wird auf eine Verminderung steuerbedingter Preisunterschiede in der Gemeinschaft hingewirkt. Die Spannen bei der Mehrwertsteuer ermöglichen andererseits Flexibilität bei der Anpassung. Allerdings sind Handelsverlagerungen, ζ. B. im grenzüberschreitenden Verkehr, nicht völlig auszuschließen2. Es zeigt sich bereits jetzt, daß vom gemeinsamen Binnenmarkt ab 1993 ein Druck auf Annäherung der Umsatzsteuer ausgeht. So haben ζ. B. die Niederlande ihre Umsatzsteuer kürzlich auf 18,5 % gesenkt. Zugleich sind — was besonders bemerkenswert ist — die Franzosen inzwischen bereit, auf ein Zweisatzsystem überzugehen, dessen Regelsatz etwa auf dem Niveau der Niederländer liegen könnte. Gleichzeitig verzichten sie damit auf den „Luxussteuersatz". Andererseits darf nicht übersehen werden, daß es nicht nur Überlegungen zur Senkung der Mehrwertsteuersätze gibt. So hat der wirtschaftspolitische Ausschuß des Europäischen Parlamentes empfohlen, die Bandbreite für den Mehrwertsteuerregelsatz höher festzulegen, als es die Kommission vorschlägt, nämlich auf 16 bis 22 %. Länder mit hohen Mehrwertsteuersätzen würden es sicherlich gerne sehen, wenn so die Meßlatte höher angelegt wird. Eine Festlegung der Untergrenze auf 16 % würde die Bundesrepublik Deutschland (mit z. Zt. 14 %), das Vereinigte Königreich (z. Zt. 15 %) aber auch Luxemburg und Spanien (z. Zt. 12 %) zur Erhöhung ihrer Regelsätze zwingen. Erfolgt die Angleichung der Mehrwertsteuersätze entsprechend den Kommissionsvorschlägen, so ergeben sich daraus für die Bundesrepublik Deutschland keine generellen Probleme, da sie beim Regelsatz am unteren Ende und beim ermäßigten Steuersatz etwa in der Mitte der vorgeschlagenen Bandbreiten liegt. Für mehrere Mitgliedstaaten ergeben sich jedoch 2 Die Bedeutung von leichten Abweichungen in den Sätzen sollte nicht übertrieben werden; auch die USA kennen zum Teil beträchtliche Unterschiede zwischen den sales-taxes der Einzelstaaten.
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auch generell erhebliche Auswirkungen auf Preise, Realeinkommen und Steuereinnahmen der öffentlichen Hand. Bei Ländern mit überdurchschnittlich hohen Mehrwertsteuersätzen (ζ. B. Dänemark, Italien, Irland) führt eine Senkung zu tendenziell niedrigeren Preisen, höheren Realeinkommen aber auch zu niedrigeren Steuereinnahmen. Da einige dieser Länder gleichzeitig mit erheblichen Haushaltsproblemen zu kämpfen haben, werden sie nicht umhin können, einen Ausgleich über höhere direkte Steuereinnahmen zu suchen. Dies widerspricht an sich der Tendenz, Steuerentlastungen im wesentlichen bei den direkten Steuern zu suchen, um dadurch die Leistungs- und Investitionsanreize zu verstärken. In jedem Falle sollten deshalb im wesentlichen die Bereiche belastet werden, die aus der Senkung der Mehrwersteuer den eigentlichen Nutzen ziehen, d. h. die privaten Haushalte, nicht dagegen der Unternehmenssektor. In den Ländern, die die Mehrwertsteuer erhöhen müssen, ζ. B. Luxemburg, werden sich demgegenüber Preissteigerungen, niedrigere Realeinkommen und höhere Steuereinnahmen ergeben; Ausgleich wäre dann durch eine Senkung der direkten Steuern insbesondere zugunsten der privaten Haushalte zu suchen3. Besondere Probleme stellen sich in Großbritannien, das für bestimmte Erzeugnisse des Grundbedarfs Null-Sätze bei der Mehrwertsteuer (mit Vorsteuerabzug) kennt; ähnliche Probleme gibt es aber auch in Portugal, Spanien und Dänemark. Großbritannien hat es aus sozialpolitischen Erwägungen bisher stets abgelehnt, von seinen Null-Sätzen bei den Gütern des Grundbedarfs abzugehen. Die Diskussion in den Fachgremien hat in den letzten Monaten jedoch gezeigt, daß neben der Null-Satz-Problematik Großbritanniens auch andere Mitgliedstaaten erhebliche Probleme bei der Steuerharmonisierung im Bereich des ermäßigten Steuersatzes haben. Hier gibt es — insbesodere aus sozialen Gründen — ein ganzes Bündel unterschiedlicher Regelungen über umsatzsteuerbefreite Leistungen, Null-Sätze mit Vorsteuerabzug oder ganz geringe Mehrwertsteuersätze. Dafür nur ein Beispiel: Den Kommissionsvorschlag, Energieerzeugnisse für Heizungs- und Beleuchtungszwecke dem ermäßigten Steuersatz zu unterwerfen, haben einige Staaten wegen der sozialpolitischen Implikationen begrüßt, andere Staaten — dazu gehört auch die Bundesrepublik — haben ihn wegen der negativen Auswirkungen auf die Energieeinsparpolitik und 3
Allerdings weisen unsere Luxemburger Kollegen darauf hin, daß sie eine negative Einnahmeelastizität bei der Mehrwertsteuer erwarten, weil bei einer Angleichung der Mehrwertsteuersätze der Absatz an ausländische Besucher erheblich abnehmen würde.
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wegen der damit verbundenen Einnahmeausfälle mit Nachdruck widersprochen. In Bereichen der umsatzsteuerbefreiten Waren- und Dienstleistungen, der Null-Sätze und der ermäßigten Steuersätze wird es besonders viel Verhandlungsgeschick und Geduld bedürfen, die 12 EG-Mitgliedstaaten auf eine einheitliche Linie zu verpflichten. Andererseits dürften gerade in diesen Bereichen in erheblichem Umfang Spielräume für zeitlich befristete Übergangslösungen geben, da nur in relativ geringem Umfang Wettbewerbsverzerrungen oder Strukturverschiebungen im Handel zu befürchten sind. Allerdings wird die Höhe des Mehrwertsteuer-Regelsatzes von der Höhe des ermäßigten Steuersatzes und vom Umfang der umsatzsteuerbefreiten Bereiche mitbestimmt 4 . Damit den Mitgliedstaaten die im innergemeinschaftlichen Handel anfallenden Umsatzsteuereinnahmen entsprechend dem Verbrauchsort gesichert werden, hat die Kommission ein Clearing-System vorgeschlagen. Ohne ein solches Verrechnungssystem hätten Mitgliedstaaten mit Importüberschüssen im EG-Handel — wegen des Vorsteuerabzuges — mit erheblichen Einnahmeverlusten in ihren Haushalten zu rechnen. Allerdings hat die Kommission bis jetzt für ihr Clearing-Modell in keinem Mitgliedstaat Zustimmung gefunden. Nach den bisherigen Vorstellungen der Kommission soll jeder einzelne grenzüberschreitende Umsatz nachprüfbar erfaßt und die Mehrwertsteuereinnahmen sozusagen auf den Pfennig genau auf die jeweiligen Verbrauchsländer verteilt werden. Die Verwirklichung dieses Vorschlages würde einen riesigen Verwaltungsaufwand, mehr Bürokratie und auch erhebliche Kosten mit sich bringen. Die Sicherung der nationalen Einnahmen ist sicherlich ein zentrales Anliegen bei der Harmonisierung der Umsatzbesteuerung in der EG; aber nicht jeder Verwaltungsaufwand oder sonstige erhebliche Behinderungen des Austausches von Waren und Diensten ist m. E. deshalb akzeptabel. Eine Alternative könnte ζ. B. darin bestehen, Umsatzsteuer grundsätzlich erst beim Übergang der Ware zum Verbraucher zu erheben und zwar mit dem an dieser Stelle geltenden Umsatzsteuersatz („Bestimmungslandprin4
Eine überschlägige Kalkulation der Wirkungen auf das deutsche MehrwertSteuer-Aufkommen bei Beibehaltung der derzeitigen Steuersätze und Zuordnung entsprechend dem Kommissionsvorschlag zum ermäßigten Steuersatz bzw. Umsatz steuerbefreigung führt zu Mindereinnahmen von 6 — 7 Mrd. D M p.a.; dem stünden Mehreinnahmen aus höheren Verbrauchsteuern von etwa 2 Mrd. D M gegenüber. Müßte der Saldo von rd. 5 Mrd. D M über Mehrwertsteuer-Einnahmen ausgeglichen werden, so würde dies eine Anhebung des Regelsatzes um mindestens einen halben Prozentpunkt zur Folge haben.
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zip"). Alle grenzüberschreitenden Geschäfte zwischen Gewerbetreibenden blieben mehrwertsteuerfrei. Ein solches Modell stellt sicher nicht eine hundertprozent perfekte Lösung dar; aber sie dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Lösung mit geringem Verwaltungsaufwand bei vollständigem Verzicht auf Ausgleichszahlungen und Grenzkontrollen darstellen. Sollte dabei durch den Erfindungsreichtum der Steuerzahler ein paar Prozente des gesamten Umsatzes nicht dem „richtigen" Fiskus zufließen, so dürfte dies wohl nicht zu sehr ins Gewicht fallen. Ein anderer Weg könnte z.B. in einer Schätzung der von einem Land als zuviel und von einem anderen Land als zu wenig eingenommenen Einnahmen anhand der Außenhandelsstatistik vorgenommen werden,· Probleme ergeben sich dann vor allem bei den Dienstleistungen. Eigene Vorstellungen zur umsatzsteuerlichen Behandlung des grenzüberschreitenden gewerblichen Warenverkehrs (Warenverkehr zwischen Umsatzsteuerpflichtigen) gibt es auch bei der französischen, britischen und belgischen Administration.
IV. Bei den ^onderverbrauchsteuern' sind die Kommissionsvorschläge von 1987 an dem verbrauchsteuerlichen Idealfall (d. h. praktisch punktgenaue Harmonisierung) ausgerichtet; d. h. einheitliche Besteuerung innerhalb der EG. Bei den Sonderverbrauchsteuern mißt die Bundesregierung lediglich der Angleichung der Mineralölsteuer auch wegen ihrer Auswirkungen auf die Energie-, Verkehrs- und Umweltpolitik besondere Bedeutung zu. Bei den anderen Sonderverbrauchsteuern sind Annäherungen wünschenswert, Vereinheitlichungen jedoch nicht zwingend. In diesem Sinne hat sich auch der Ausschuß für Wirtschaftspolitik in seinem bereits erwähnten Bericht ausgesprochen. Mit diesen Steuern werden in der Tat vorrangig nationale fiskalische, sozial- und gesundheitspolitische Ziele verfolgt. Fiskalisch gesehen hat jede dieser Einzelsteuern im Vergleich zum Mehrwertsteueraufkommen eine nur geringe Bedeutung. Daher kann man ihre Harmonisierung eher den Marktkräften überlassen, soweit diese Steuern jeweils als wirklich unverzichtbar angesehen werden (ζ. B. Kaffee-, Tee-, Zucker-, Salzsteuer). Auch in den USA gibt es hinsichtlich der spezifischen Verbrauchsteuern (ζ. B. bei Tabak und Alkohol) unterschiedliche Steuersätze zwischen den Staaten. Selbst in der Bundesrepublik gibt es bei Alkohol für bestimmte Regionen gewisse Steuerprivilegien.
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Allerdings sollte eine Lösung nicht zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten führen und der steuerliche Ertrag aus dem inländischen Verbrauch der Erzeugnisse möglichst auch dem jeweiligen inländischen Fiskus zufließen. Auf keinen Fall darf sich daraus aber ein Argument für die Beibehaltung von Grenzkontrollen herleiten. Der Ausschuß für Wirtschaftspolitik hat in diesem Zusammenhang den Vorschlag gemacht, für Produkte, die auf nationaler Ebene in den Handel kommen, besondere Steuerkennzeichen einzuführen, die auch von inländichen Exporteuren erworben werden können. Sie bestehen in mehreren Ländern bereits für einige Erzeugnisse wie ζ. B. Tabak oder Alkohol. Für alle spezifischen Verbrauchsteuern hat die Kommission vorgeschlagen, die Steuersätze in ECU festzusetzen. Dieser Vorschlag ist sehr zweischneidig. Wechselkursanpassungen oder gar Leitkursanpassungen im EWS hätten unmittelbare Auswirkungen auf die Höhe des Verbrauchsteueraufkommens in den Mitgliedstaaten. Entscheidungen über Leitkursanpassungen könnten bei einer solchen Koopelung zusätzlich erschwert werden, was aus wirtschaftspolitischen Gründen nicht erwünscht ist. Noch problematischer ist die Idee der Kommission, die Verbrauchsteuersätze regelmäßig und automatisch an die allgemeine Preisentwicklung in der Gemeinschaft anzupassen, um auch bei einer mengenabhängigen Besteuerungsgrundlage den Steueranteil am Preis der Ware konstant zu halten. Solche Vorschläge sind schon deshalb nicht brauchbar, weil die durchschnittliche Preisentwicklung in der Gemeinschaft nichts über die Preisentwicklung in den einzelnen Ländern aussagt; im Ergebnis liefe eine solche Entscheidungsautomatik in den Ländern mit höherer Preisstabilität im Vergleich zum Durchschnittspreisniveau in der Gemeinschaft auf eine überdurchschnittliche Anhebung der Verbrauchsteuern hinaus. Die unter der Indexierung liegende Philosophie steht m. E. auch im offenkundigen Widerspruch, dem Stabilitätsziel in der Gemeinschaft einen hohen Stellenwert einzuräumen. Preisindex-abhängige Entscheidungen führen letztlich zur Verfestigung und Verschärfung inflationärer Entwicklungen. Der mögliche gesamtwirtschaftliche Schaden aus einer solchen Regelung steht in keinem Verhältnis zu dem eventuellen Entscheidungsaufwand, wenn erforderlich erscheinende Anpassungen jeweils von Fall zu Fall auf Ratsebene unter Beachtung des Budgetbedarfs der Mitgliedstaaten beschlossen werden. Die Bundesregierung hat aus guten Gründen auf alle automatischen Indexbindungen verzichtet.
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V. Der britische Schatzkanzler Lawson hat im September letzten Jahres eine Alternative zu den Vorschlägen der Kommission für die Harmonisierung der Mehrwertsteuer und der spezifichen Verbrauchsteuern vorgelegt. Danach soll es für den gewerblichen Warenverkehr bei einem Grenzausgleich für die Mehrwertsteuer und die spezifichen Verbrauchsteuern bleiben (Entlastung der Waren bei der Ausfuhr aus einem Mitgliedstaat und Belastung bei der Einfuhr in einen anderen Mitgliedstaat). Die Verfahren zur Durchführung des steuerlichen Grenzausgleichs sollen jedoch vereinfacht und beschleunigt werden. Für den privaten Reiseverkehr werden substantielle und progressive Erhöhungen der geltenden Freimengen bis hin zur Abschaffung aller Begrenzungen mit Ausnahme von Tabakwaren und alkoholischen Getränken vorgeschlagen; d. h. der Bürger soll im Prinzip unbeschränkt dort einkaufen können, wo es ihm am günstigsten erscheint. Die Notwendigkeit, Grenzkontrollen beizubehalten, wird mit gesundheits- und sicherheitspolitischen Argumenten begründet (Rauschgift, Waffen, Tabak, Alkohol etc.). Damit bliebe im Kern der Grenzausgleich im gewerblichen Warenverkehr erhalten. Lediglich im privaten Reiseverkehr soll durch drastische Erhöhung der Freigrenze dem Markt mehr Freiraum gewährt werden; aber dort will Großbritannien selbst die für diesen Bereich typischen Waren (Tabakerzeugnisse und alkoholische Getränke) ausschließen. Außerdem bleiben im gewerblichen Straßengüterverkehr ohne die notwendige Harmonisierung verkehrsspezifischer Abgaben (insbesondere Mineralölsteuer) alle Probleme bestehen. So sind sowohl die Bezeichnung „market-based-approach" als auch die Beweggründe „mehr Deregulierung und Stärkung des Wettbewerbs" problematisch. Nur eine Reduzierung der Grenzkontrollen und -formalitäten wird dem Anspruch an einen Raum ohne Binnengrenzen nicht gerecht. Für die Unternehmen ist in einem wirklichen Binnenmarkt entscheidend, daß sie ihren Warenaustausch entsprechend den Regeln des innerstaatlichen Handel, d. h. ohne jegliche Grenzkontrolle abwickeln können. Bei dem britischen Vorschlag mag die Insellage Großbritanniens eine Rolle gespielt haben, bei der die grenzüberschreitenden Handels- und Warenströme ausschließlich über einige wenige Kontrollpunkte abgefertigt werden.
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VI. Die Erörterung der Kommissionsvorschläge über die Harmonisierung der indirekten Steuern sowohl auf politischer Ebene als auch in den Fachgremien haben gezeigt, daß sie in der ursprünglichen Fassung nicht konsensfähig sind; aber auch die britischen Vorschläge finden keine Zustimmung. Bei der informellen Tagung auf Kreta im September des vergangenen Jahres haben sich die EG-Finanzminister daher für mehr Flexibilität bei der Harmonisierung der indirekten Steuern ausgesprochen. Das seit Beginn dieses Jahres mit der Steuerharmonisierung betraute Mitglied der Kommission, Frau Scrivener, hat inzwischen deutlich gemacht, daß die Kommission in fast allen Punkten zu mehr Flexibilität bereit ist. Das gilt ζ. B. für die Spannen, die Zuordnung zum ermäßigten Steuersatz, die Fragen der NullSätze oder Umsatzsteuerbefreiungen sowie für geeignete Übergangsregelungen. Bei den Sonderverbrauchsteuern hält sie abweichend von ihren bisherigen Vorschlägen jetzt auch andere Modelle und Lösungsansätze grundsätzlich für denkbar, soweit sie dem Binnenmarktziel 1992 nicht widersprechen; d. h. weder zu wesentlichen Wettbewerbsverzerrungen beitragen noch die Beibehaltung von Grenzkontrollen erforderlich machen. Selbst beim Clearing-System, dem entscheidenden Eckpunkt für die Finanzminister, ist die Kommission bereit, von ihrem umfassenden Ansatz abzurücken und weniger bürokratische und perfektionistische Lösungen anzustreben. So soll das ursprünglich geplante Clearing-house zumindest insoweit verkleinert werden, als Warenlieferungen zwischen verbundenen Unternehmen von der Umsatzsteuer befreit sind. Ein solcher Vorschlag hätte jedoch erstens Definitionsprobleme im Hinblick auf „verbundene Unternehmen" zur Folge und würde zweitens dazu führen, daß zwei Systeme nebeneinanderher existieren. Dann wäre es schon besser, wenn gleich alle Lieferungen zwischen Gewerbetreibenden von der Umsatzsteuer befreit werden.
VII. Ein einheitlicher Binnenmarkt setzt die volle Freizügigkeit des Kapitalverkehrs voraus. Sie ist für 1990 beschlossen (mit etwas längeren Fristen für Spanien, Portugal und Griechenland). Die volle Freizügigkeit des Kapitalverkehrs innerhalb der EG ist politisch von einigen Ländern, insbesondere Frankreich, an eine Annäherung der Besteuerung der Kapitalerträge zwischen den Mitgliedstaaten geknüpft worden. Einen Vorschlag für die Vereinheitlichung der Besteuerung der Kapitalerträge hat daher die Kommission i m Februar dieses Jahres vorgelegt. Eckpunkt der Vorschläge ist die
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Erhebung einer Quellensteuer mit mindestens 15 % spätestens ab Jahresmitte 1990. Auf diese Steuer kann verzichten, wer durch Kontrollmitteilungen an die Finanzämter die Besteuerung der Zinserträge sicher stellt. Obwohl auch die Bundesregierung sich ursprünglich für eine gemeinschaftsweite Ausdehnung des Quellensteuerprinzips ausgesprochen hat, werfen die Kommissionsvorschläge auch für die Bundesrepublik Probleme auf. So überschreitet der von der Kommission vorgeschlagene Mindestsatz von 15 % den in der Bundesrepublik normierten Quellensteuersatz 5 . Die vorgeschlagene Alternative, ein Kontrollmitteilungssystem einzuführen, hat die Bundesregierung bereits bei Einführung der deutschen Quellensteuer — im Gegensatz zur Opposition im deutschen Bundestag — strikt abgelehnt. Er würde die Verlagerung von Kapital ins Ausland mit Sicherheit noch stärker begünstigen als eine mäßige Quellensteuer. Der härteste Widerstand gegen eine Vereinheitlichung der Kapitalertragsteuersätze kommt von Luxemburg und Großbritannien, die darin einen erheblichen Nachteil für das Standing ihrer Kapitalmärkte sehen. Der luxemburgische Premierminister hat erst jüngst wieder erklärt, daß die Quellensteuerpläne abgelehnt werden, da sie die Kapitalwanderung innerhalb der EG nicht verhindern können „und letztlich dazu führen", daß das Kapital außerhalb der EG einen „schützenden Ort" suche. Auch die Niederlande wenden sich gegen den Vorschlag, nachdem sie vor zwei Jahren ein Kontrollmeldeverfahren eingeführt haben. Neben diesen zentralen Diskussionspunkten gibt es sowohl Anerkennung für die Bemühungen der Kommission, die großen Spannen der bestehenden Kapitalertragsteuersätze anzunähern, als auch erheblichen Verhandlungsbedarf in einzelnen Punkten. So ζ. B. für uns insbesondere —
die steuerliche Behandlung der Eurobonds für die die Kommission keine Quellensteuer erhoben wissen will,
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die Behandlung von Zinserträgen auf Sparbücher mit gesetzlicher Kündigungsfrist, hier sieht die Kommission Befreiungsmöglichkeit nur vor, wenn grundsätzlich von der Steuerpflicht befreit wird und
—
die Abgeltungswirkung der Quellensteuer auf Erträge aus Lebensversicherungen, deren Zulässigkeit im Richtlinienvorschlag nicht entnommen werden kann.
5 Inzwischen ist die deutsche Quellensteuer mit Wirkung ab 1.7.1989 wieder abgeschafft worden. Außerdem ist nicht zu erwarten, daß es innerhalb der EG zur Einführung einer einheitlichen Quellensteuer kommt.
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Bernhard Molitor
VIII. Im Wettbewerb um Produktionsstandorte wird bei wachsender Annäherung der unterschiedlichen Rahmenbedingungen in der Europäischen Gemeinschaft auch den steuerrechtlichen Vorschriften immer größere Bedeutung zukommen. Zwar bleiben direkte Steuern von der Abschaffung der Grenzkontrollen im wesentlichen unberührt, und Änderungen der Steuerbelastung schlagen sich nicht unmittelbar in den Preisen nieder. Aber von den direkten Steuern gehen erhebliche Auswirkungen auf die Kapitalströme und die Allokation der Produktionsfaktoren aus. Es besteht im Zusammenhang mit der Vollendung des Binnenmarktes keine generelle Notwendigkeit, eine grundlegende Diskussion über die Harmonisierung der direkten Steuern, insbesondere der Einkommen- und Körperschaftsteuern zu führen. In Randbereichen besteht allerdings ein Bedarf — und dies unabhängig von der Abschaffung der Grenzkontrollen. Dabei geht es vor allem um die steuerliche Behandlung von Konzernen, die grenzüberschreitend tätig sind, sowie um die steuerliche Vermögensbewertung bei grenzüberschreitenden Fusionen. Die Kommission hat deshalb eine sog. Mutter-Tochter-Richtlinie, eine Fusionsrichtlinie und eine Richtlinie zum Schiedsverfahren vorgelegt.
IX. Die EG-Steuerharmonisierung hat erhebliche Bedeutung für die nationale Haushaltspolitik. Sie führt zu einer Einschränkung der nationalen Finanzautonomie und kann sich je nach dem innerstaatlichen Verteilungsgefüge der Finanzmasse auf die anderen öffentlichen Ebenen — bei uns Länder und Gemeinden — auswirken. Die zur Vermeidung von Handelsverlagerungen vorrangige Harmonisierung der indirekten Steuern führt andererseits zu einer tendenziellen Angleichung der Steuerstruktur im Verhältnis direkte zu indirekten Steuern in der Gemeinschaft. Dies ist grundsätzlich ein positiver Beitrag zu mehr Konvergenz in der Politik in der Gemeinschaft, kann aber andererseits auch den Abbau des Einkommen- und Wohlstandsgefalles in der EG erschweren. Insbesondere bei finanzschwachen Mitgliedstaaten werden die Möglichkeiten beschränkt, über die direkten Steuern zusätzliche Leistungs- und Investitionsanreize zu schaffen. Die dafür notwendigen Abstriche bei den Staatsausgaben brauchen jedenfalls Zeit, wie wir aus unseren eigenen Erfahrungen wissen. Ein Weg, dieses Problem zu lösen, sind längere Übergangsfristen für diese Länder, wie wir sie ja auch bei der Kapitalverkehrsliberalisierung haben. Das gilt vielleicht auch für die Abschaffung der Null-Sätze in Großbritannien und bei
Probleme der EG-Steuerharmonisierung
109
bestimmten Geschäften in anderen Ländern (ζ. B. Grundstückgeschäften bei uns). Entscheidend ist aus meiner Sicht, daß vor 1992 die Bestimmungen über die Steuerharmonisierung im Amtsblatt der Gemeinschaft steht. Bei allen Problemen, die die Steuerharmonisierung insbesondere bei den indirekten Steuern stellt, sollten wir nicht übersehen, daß wir früher schon in der Gemeinschaft mindestens ebenso, vielleicht sogar noch schwierigere Harmonisierungsprobleme auf steuerlichem Gebiet gelöst haben. Ich möchte hier an die gemeinschaftsweite Einführung des Mehrwertsteuersystems erinnern, die für alle Mitgliedstaaten mit Ausnahme von Frankreich eine grundlegende Umstellung ihres Umsatzsteuersystems bedeutete. W i r können aber aus den Diskussionen in Japan und den USA sehen, wie schwierig politisch und technisch eine solche Umstellung tatsächlich ist. Es ist offenkundig, daß vom Binnenmarkt schon jetzt spürbare Impulse auf das Unternehmensverhalten ausgehen. Wichtig ist es, diesen Elan zu wahren und zu stärken. Dies setzt Kompromißbereitschaft in Brüssel voraus. Es wäre für alle Mitgliedstaaten mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden, wenn das einmal gesetzte Ziel, das sich mehr und mehr von der Wirtschaft zu eigen gemacht wird, durch Uneinigkeit in der Steuerharmonisierungsfrage wieder zunichte würde. Die Bundesregierung hat mehrfach erklärt, daß sie bereit ist, aktiv am inneren Ausbau des gemeinsamen europäischen Marktes und dazu auch grundsätzlich bei der Harmonisierung der Steuern mitzuarbeiten. Gerade im Bereich der Steuern könnte die Europäische Gemeinschaft den Beweis antreten, daß ohne ausufernde Bürokratie und ohne wachsende Steuerbelastung in den Mitgliedstaaten eine einheitliche Grundstruktur an steuerlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden kann. Es sollte auch in diesem Zusammenhang nie vergessen werden, daß die wirtschaftliche Entwicklung, eine pluralistische Gesellschaft, eigenständige Kulturen, ihr Lebenselexier aus Vielfalt und nicht aus der perfekten Einheitlichkeit beziehen. Der spanische Außenminister hat dies treffend vor dem Europäischen Parlament anläßlich der Übernahme der spanischen Präsidentschaft in der EG zum Ausdruck gebracht. „Die Gemeinschaft braucht für ihr Fortbestehen eine interne Dynamik, eine kreative Spannung. Meines Erachtens haben wir diesen Zustand erreicht, jedoch müssen wir mit Weitsicht voranschreiten. Dies erfordert Mut, und zwar den M u t zum Blick in die Zukunft. Man kann nicht durch die Geschichte schreiten und dabei nur in den Rückspiegel schauen."
Zusammenfassung der Diskussion
Referat Molitor Klemmer geht auf die Unterscheidung zwischen formeller und materieller Rechtsangleichung ein. Sie sei auch in bezug auf die Steuern sehr wichtig, bestehe doch in den verschiedenen Mitgliedsländern ein erheblicher Unterschied im Deklarierungsverhalten, im Prüfverhalten und auch im Bearbeitungsverhalten der Behörden. Eine Steuerharmonisierung sei letztlich nur dann gewährleistet, wenn ein Steuerprüfer von Neapel in Düsseldorf prüft und der Steuerprüfer von Düsseldorf in Neapel. Im Zusammenhang mit einer Steuerharmonisierung in Europa sollte dieser Tatbestand nicht bagatellisiert werden. Möglicherweise führe er zu einer Anpassung der Steuersysteme in Richtung auf indirekte Steuern. Siebert bezweifelt, daß man voll darauf vertrauen könnte, daß beim Wettbewerb der indirekten Steuern über eine Abwertung bei den Ländern, die hohe Steuersätze haben, und eine Aufwertung bei den Ländern mit relativ niedrigen Umsatzsteuersätzen ein Spielraum für Unterschiede in den Mehrwertsteuersätzen gehalten werden könnte. Denn diese Unterschiede würden ja Handelsumlenkungen bewirken, sie würden die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Länder neu definieren, und teilweise würde dies wiederum die Wechselkurse beeinflussen. Die schwachen Länder seien ja nicht zuletzt auch deshalb im Hinblick auf das EWS unter Druck, weil sie ihre Budgetdefizite zu beseitigen haben und dann die staatlichen Ausgaben letztlich durch eigene Steuereinnahmen finanzieren müssen. Giersch meldet grundsätzliche Zweifel an, daß Einheitlichkeit und Harmonisierung in der EG ein Wert an sich sein könnte. Aus der Vielfalt lasse sich vielmehr eine ganze Menge von Erkenntnissen gewinnen, auch im Hinblick auf optimale Steuersysteme. Man solle die Chance nutzen, aus einem Wettbewerb der unterschiedlichen Steuersysteme das zu lernen, was man für die zukünftige Gestaltung wissen muß. Hätte es z.B. nicht das Experiment mit der Steuersenkung in den Vereinigten Staaten gegeben, dann wäre es wahrscheinlich auch nicht zu den Initiativen in Europa gekommen. Alles einheitlich zu machen, brächte Europa einen traurigen Verlust an Experimentiermöglichkeiten. Giersch weist ferner darauf hin, daß die Harmonisierung von Teilbereichen eigentlich gar nicht entscheidend sein könne, nur vordergründig
Zusammenfassung der Diskussion
111
scheine es so. Er nennt als Beispiel die aktuelle Diskussion um die Unternehmensbesteuerung: Würde man die Unternehmenssteuern senken, so dürfte es Überwälzungsvorgänge geben, denn es ergäben sich dann größere Lohnerhöhungsspielräume. Fortwälzungs- und Rückwälzungsprozesse machten die Vereinheitlichung spezieller Aspekte zu einem Phantom, dem man nachjagte, wobei die an sich gegebenen Experimentiermöglichkeiten verlorengingen. Stattdessen gelte es den Wettbewerb zu stärken, um Innovationen und neue Erkennntnisse zu erreichen. Noch einen anderen Gesichtspunkt rückt Giersch in den Vordergrund: Das Referat habe sich so angehört, als sei der Wettbewerb der Steuersysteme im Hinblick auf eine Verringerung der Steuereinnahmen allenthalben etwas Gefährliches für die Erfüllung von Staatsaufgaben, von denen stillschweigend unterstellt worden sei, sie seien gegeben. Man sollte aber doch hoffen, daß dieses Europa im Hinblick auf seine künftige Entwicklung durchaus profitieren könnte von einem Wettbewerb um niedrigere Steuersätze und damit auch um Einsparungsmöglichkeiten bei den Staatsausgaben. Denn niemand könne sagen, der Staatssektor hätte seine optimale Größe erreicht. Auch auf diesem Gebiet sollte eine Experimentiermöglichkeit gegeben sein. Man sollte geradezu hoffen, daß sich in Europa etwas ergibt wie in den Vereinigten Staaten: Dort existiere eine Region wie Massachusetts, wo die Steuern hoch seien und das Angebot an öffentlichen Gütern besonders groß und reichhaltig, und gar nicht weit entfernt davon gebe es einen anderen Staat — etwa New Hampshire —, wo eine andere Politik betrieben werde. Die Leute gingen dorthin, wo sie das richtige Menü vorfinden. Europa sollte sich die Chance wahren, auch aus der Vielfalt des Angebots an öffentlichen Gütern und aus der Unterschiedlichkeit der Steuern das herauszufinden, was für die Bevölkerung am besten und am wichtigsten ist. Die westliche Zivilisation sei ja gerade aus der Vielfalt entstanden, die in Westeuropa gegeben war, verglichen mit der Einheitlichkeit in den großen Imperien des eurasischen Blocks im Osten — oder auch in China. Gerade diese Konkurrenzsituation zwischen kleinen Staaten in Europa weise auf die Fruchtbarkeit einer föderalistischen Struktur hin. Die unterstellte Betonung der Einheitlichkeit stehe also der europäischen Tradition diametral entgegen. Helmstädter meldet Zweifel an der angekündigten allgemeinen Preissenkungstendenz an, die aus dem „Steuerwettbewerb" folgen soll. Die Wirkungen hingen zunächst einmal von den Preiselastizitäten ab. Es scheine ihm nicht erwiesen, daß auf jeden Fall ein Preisdruck ausgelöst würde. Es könnte auch umgekehrt sein; es könnten sich Mehreinnahmen ergeben, wenn man die Steuern erhöhte, weil eben Nachfragestarrheiten vorhanden seien. Insbesondere dann, wenn die Staaten ein gemeinsames, korporativistisches Handeln an den Tag legten, bestehe eher diese Tendenz. Man dürfe also
112
Zusammenfassung der Diskussion
nicht aus dem allgemeinen Wettbewerbsgedanken schließen, was Staaten, die die Steuerhoheit haben, hinsichtlich ihres Steuerverhaltens tun werden. Im ganzen findet auch Helmstädter es völlig richtig, daß Vielfalt den Markt belebt. Aber es sei nun einmal auch Rahmen- und Ordnungspolitik erforderlich, und da müsse Einheit herrschen. Diese Frage sei unter Ökonomen wohl noch nicht ganz ausdiskutiert. Einheitliche Steuersätze anzustreben, sei ordnungs- und rahmenpolitisch nicht falsch. Natürlich sollte der richtige einheitliche Rahmen gelten. Was dann innerhalb dieses Rahmens geschieht, könnte wieder sehr vielfältig sein. Aber aus der Vielfalt von Steuersystemen gleich schon auf wettbewerbliche Aktivitäten zu schließen, die wünschenswerte Ergebnisse herbeiführen würden, wenn nicht Unternehmen und Marktkräfte, sondern bürokratische und politische Entscheidungsgremien am Werk wären: Dies sei eine problematische Schlußfolgerung. Es könne auch das Gegenteil herauskommen. Scharrer bemerkt, seit den Anfangs jähren der Gemeinschaft und auch seit dem Werner-Bericht habe die steuerpolitische Diskussion eine bemerkenswerte Wandlung durchgemacht. Damals seien wohl alle davon ausgegangen, daß zur Herstellung des gemeinsamen Marktes eine sehr weitgreifende Harmonisierung erforderlich sei, nicht nur im Bereich der indirekten Steuern, sondern auch im Bereich der direkten Steuern, sogar bis hin zu den Sozialversicherungsbeiträgen. Von Harmonisierung der direkten Steuern spreche heute niemand mehr, von Harmonisierung der Sozialversicherungssysteme ebenfalls nicht, und im Bereich der Harmonisierung der indirekten Steuern sei man doch einen ganzen Schritt weitergekommen. Die Kommission sei mit ihren Bandbreiten-Vorschlägen von dem ursprünglichen Punktziel abgegangen. Im Bereich der indirekten Verbrauchsteuern denke man heute über Banderolen-Lösungen oder ähnliches nach. Damit scheine die Herstellung des Binnenmarktes und der Wegfall der Grenzkontrollen in greifbare Nähe gerückt zu sein, zumindest aus steuerlicher Sicht. Es sei nun fraglich, inwieweit man noch einen Schritt weitergehen und sagen könnte, daß zumindest im Bereich des ermäßigten Steuersatzes vermutlich keine Harmonisierung nötig wäre. Es handele sich ja in aller Regel um Verbrauchsgüter des täglichen Lebens, und vermutlich werde niemand eine lange Reise in Kauf nehmen, um sich in einem Nachbarland mit Brot oder ähnlichem zu versorgen, nur weil dort der Mehrwertsteuersatz etwas niedriger ist. Bei langlebigen Gebrauchsgütern könnte es natürlich schon zu Verkehrsverlagerungen kommen, obwohl auch hier interessant sei, daß innerhalb der belgischluxemburgischen Wirtschafts- und Währungsunion ein beträchtliches Steuergefälle besteht mit 19 % in Belgien und 12 % in Luxemburg. Scharrer meint, man solle weitaus pragmatischer als bisher an die Dinge herangehen und vielleicht zu einer Form von Steuerstrukturen kommen, die auch die geographische Nähe mit in Betracht zieht. Für Irland sei das
Zusammenfassung der Diskussion
113
Problem der Steuerumgehung sicher ein anderes als für zwei unmittelbar benachbarte Mitgliedstaaten. Man könne sich also durchaus auch noch wesentlich breitere Bandbreiten vorstellen. Molitor bemerkt zu Klemmers Hinweis, hinterzogen werde natürlich bei direkten und bei indirekten Steuern. Was er zum Prüfverhalten gesagt habe, gelte also für beide Stuerarten. Die Studie des IWF zeige sehr deutlich, wie stark die Steuerhinterziehung gerade bei der Mehrwertsteuer ist. Auch deshalb habe er (Molitor) immer dafür plädiert, nicht so leichtfertig mit Angeboten hinsichtlich einer Erhöhung der Mehrwertsteuersätze zu sein. In manchen Ländern — ζ. B. Belgien — komme ein großer Teil der Handwerker überhaupt nur, wenn der Auftraggeber einverstanden ist, daß keine Rechnung geschrieben wird. Das Problem werde es allerdings immer geben, und es handele sich eigentlich um eine Frage von Standortvorteilen und Standortnachteilen. Oft sei es so etwas wie allgemeine Ethik, den Staat wenigstens bis zu einem bestimmten Prozentsatz zu betrügen. Bei derartigen Standorteigentümlichkeiten könne man einen Ausgleich durch Wechselkurse und ähnliches erwarten. Zu den Bemerkungen von Giersch meint Molitor, hier liege wohl ein MißVerständnis vor. Er sei durchaus für Vielfalt; aber um die Grenzen zu beseitigen und die Kosten der Grenzkontrollen zu vermeiden, müsse bei den indirekten Steuern ein System gefunden werden, das den Ausgleich innerhalb der Gemeinschaft ermöglicht. Bei den direkten Steuern bestehe das Problem gar nicht, und er habe den Eindruck gehabt, einige von Gierschs Beispielen hätten sich auf direkte Steuern bezogen. Das heutige System der indirekten Steuern sei ein System, das Grenzkontrollen voraussetzt und die entsprechenden Kosten bedingt. Um einen einheitlichen Binnenmarkt zu erreichen, müsse bei den indirekten Steuern eine Lösung gefunden werden. Die Tendenz gehe dahin, wenigstens aus den indirekten Steuern die Einnahmen zu haben und Senkung eher bei den direkten Steuern vorzunehmen. Dieser allgemeine Trend sei auch vom Sachverständigenrat seit vielen Jahren vertreten worden. Er sehe von dieser Seite her einfach nicht die Möglichkeit, einen Wettbewerb in Richtung auf niedrige Steuersätze zu machen. Kein Finanzminister könne dies akzeptieren. Giersch betont dagegen nochmals die Möglichkeit, die Wechselkurse entsprechend anzupassen. Dagegen wendet Molitor ein, die Wechselkurse könne man nur einmal anpassen, nicht ständig. Giersch verweist demgegenüber auf das Beispiel Dänemarks: Wenn heute wegen des überhöhten Mehrwertsteuersatzes von 22 % zuviele Dänen in Schleswig-Hostein kauften, weil sich das beim gegenwärtigen Stand wegen des Unterschiedes lohne, dann müßten die Dänen abwerten. Nach einer entsprechenden Abwertung 8 Konjunkturpolitik, Beiheft 36
114
Zusammenfassung der Diskussion
werde der Wettbewerbsnachteil der überhöhten indirekten Steuern verschwinden. Molitor mag dem nicht zustimmen, weil er die Dynamik des Prozesses berücksichtigen will: Die Abwertung bedeute natürlich auch höhere Importpreise. Gerade in der Verflechtung eines gemeinsamen Marktes würde sich dann in Dänemark eine Tendenz zu einer Inflationsbeschleunigung einstellen. Entsprechend stark müßte dann vorgehalten werden — mit um so stärkeren Wirkungen, auch in Richtung auf eine Lohn-Preis-Spirale. Siebert verweist auf die Konsequenz für die Geldpolitik und fragt Molitor, was denn tragisch daran wäre, wenn ein Land, das eine Abwertung erfährt, in seiner Geldpolitik etwas restriktiver sein muß. Molitor erwidert, er könne sich einiges vorstellen, was tragisch wäre — unter Wachstums- und ähnlichen politischen Aspekten —, wenn nicht eine andere Möglichkeit gefunden würde, das Thema dadurch zu lösen, daß eine Verständigung untereinander erfolgte. Es sei fraglich, ob nicht der dynamische Prozeß — selbstverständlich einschließlich Geldpolitik — volkswirtschaftlich wesentlich kostspieliger wäre als der Prozeß einer Einigung zwischen Regierungen auf bestimmte Steuersätze. Auf die Frage von Siebert, ob sich diese Befürchtung auf den Transfermechanismus bezieht, verweist Molitor auch auf den Inflationsmechanismus: Preis-Lohn-Spirale, eine Geldpolitik, die vielleicht unter diesen Umständen besonders restriktiv sein muß. Hieraus könnten sich natürlich auch volkswirtschaftliche Kosten ergeben. Auf den Aspekt der Vielfalt eingehend, bemerkt Molitor, auch er sei sehr für eine Verschiedenartigkeit der Steuersysteme und der Ausgabenschwerpunkte. Aber wenn man die Grenzkontrollen beseitigen wollte, brauche man diese Vielfalt vor allen Dingen im Bereich der direkten Steuern, der Sozialversicherungsabgaben und ähnlicher Dinge. Man sollte aber nicht übersehen, daß sich dann Verlagerungen einstellen würden — Beispiel: Standortverschiebung des Diamantenhandels von Antwerpen auf Amsterdam —, aber hinzu komme noch, daß jedes Vergehen unter hohe Strafe gestellt werden müßte und daß die Grenzkontrolle den Regierungen die Hoffnung geben müßte, daß sie die Schuldigen dabei erwischen könnten, auch wenn die Kontrollen nur punktuell durch Stichproben erfolgte. A n der niederländisch-belgischen Grenze sei das offensichtlich, aber es gelte sogar für die luxemburgisch-belgische Grenze.
Die Außenwirtschaftspolitik der Gemeinschaft nach 1992 Von Georg Koopmann und Hans-Eckart Scharrer, Hamburg
1. Einleitung Die Außenwirtschaftspolitik der Europäischen Gemeinschaft entwickelt sich schrittweise und nicht in Sprüngen. Auch der Jahreswechsel 1992/93, an dem die EG in das Stadium des Binnenmarktes eintreten will, bedeutet für die Außenwirtschaftspolitik keine Wendemarke. Dennoch hat die Binnenmarktinitiative im Ausland, aber auch in Europa selbst, Befürchtungen erweckt, die Gemeinschaft solle zu einer „Festung Europa" ausgebaut werden. Versuche des Europäischen Rates1, der EG-Kommission 2 oder einzelner ihrer Vertreter 3 , diese Befürchtungen zu zerstreuen, waren kaum erfolgreich, gelegentlich sogar eher kontraproduktiv 4 . Läßt sich tatsächlich ein Hang zu mehr Protektionismus konstatieren? Im folgenden soll zunächst die Position der Gemeinschaft in der weltwirtschaftlichen Verflechtung beschrieben und anschließend gefragt werden, welche Entwicklungen in der Handelspolitik der EG sich abzeichnen.
1 Vgl. ζ. B. Erklärung des Europäischen Rates zur internationalen Rolle der Europäischen Gemeinschaft, Rhodos, 2.-3.12.1988, abgedruckt in: EG-Nachrichten, Berichte und Informationen, Dokumentation, Nr. 19 vom 5.12.1988. 2 Vgl. marktes, marktes Oktober
ζ. B. Europa als Partner: die außenwirtschaftliche Dimension des Binnenin: Bulletin der EG, H. 10/1988, S. 10 ff.; Nach der Vollendung des Binnen1992: Europa als Partner, Informatorische Aufzeichnung Nr. Ρ — 117, 1988.
3
Vgl. ζ. B. Horst G. Krenzier, Zwischen Protektionismus und Liberalismus. Europäischer Binnenmarkt und Drittlandsbeziehungen, in: Europa-Archiv, Folge 9/1988, S. 241 ff.; Willy de Clercq, 1992: The Impact on the Outside World, Europäisches Forum Alpbach, Economic Symposium, August 29,1988; Jacques Delors, Programmrede vor dem Europäischen Parlament am 17.1.1989, abgedruckt in: EG-Nachrichten, Berichte und Informationen — Dokumentation, Nr. 3 vom 7.2.1989. 4 Vgl. ζ. B. Horst G. Krenzier, Europäischer Binnenmarkt setzt Signale für den Welthandel. Drittstaaten müssen gegenseitigen Zugang gewährleisten, EG-Nach-
richten Nr. 13 vom 29.3.1988; Willy de Clercq (Fn. 3). 8*
116
Georg Koopmann und Hans-Eckart Scharrer
2. Die Gemeinschaft in der Welt Die Europäische Gemeinschaft ist gleichzeitig die bedeutendste Handelsmacht und der größte Auslandsinvestor in der Welt. Der EG-Anteil am Weltexport (ohne Intrahandel der EG) betrug 1987 20,3 %, während die USA und Japan 12,6 bzw. 11,9 % des Weltexports auf sich vereinigten 5 . Gemessen am BIP beläuft sich der EG-Export in Drittländer auf etwa 10 %; die Exportquote liegt damit in der Gemeinschaft ähnlich hoch wie in Japan und etwa doppelt so hoch wie in den USA (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1 Exportquote der EG und ihrer Mitgliedstaaten 1972
!:
L
a l l e Güter® 1985 1980
1987
1972
I ildustriegtil t e r 1985 1980
BR D e u t s c h l a n d Prankreich Großbritannien Italien
8,9 5,2 10,1 6,5
12,0 7,4 12,2 8,2
14,8 8,6 11,4 9,5
12,4 6,4 10,0 6,8
12 2 7,6 11,9 12,2
14,5 10,9 14,3 14,6
18,2 13,6 14,3 19,6
Belgien/Luxemburg Niederlande D&nemark Irland
10,3 9,8 11,0 6,1
13,7 11,9 12,1 12,4
18,4 14,1 16,1 17,4
14,2 10,9 13,0 14,3
11,3 13,2 22, 3 6,3
17,0 17,3 23,2 10,2
25,5 19,2 30,7 15,4
Griechenland Spanien Portugal
3,2 3,7 7,6
7,2 4,7 7,6
6,6 7,1 10,3
4,3 4,4 7,7
4,0 5,7 13,9
8,3 6,3 10,3
8,5 10,0 12,6
EG i n s g e s a m t
7,8
10,0
11,5
10,3
11,0
13,4
16,6
nachrichtlich: USA Japan
4,1 9,4
8,1 12,3
5,2 13,3
5,5 9,6
5,2 10,5
9,0 13,2
7,4 15,0
a b
Export i n D r i t t l ä n d e r Export i n D r i t t l ä n d e r
Quelle:
i n % des B I P . i n % der Bruttoproduktion
HWWA-Welthandelsmatrix;
IMF:
International
des V e r a r b e i t e n d e n Financial
Gewerbes.
Statistics.
Die Gemeinschaft ist nicht nur auf dem Exportmarkt stark repräsentiert, sondern auch relativ offen gegenüber Importen, wenn man als Maßstab der Offenheit den Anteil der Importe am Binnenmarkt nimmt und nur den (mit den Importen konkurrierenden) Verarbeitenden Sektor betrachtet. Im Jahre 1985 erzielten Importe aus Drittländern in der EG einen Marktanteil von 13%. Dieser Grad der ausländischen Marktdurchdringung entspricht dem der USA (zu einem Zeitpunkt, da die amerikanischen Importe unter dem
5
In den 80er Jahren ist der Weltexportanteil der Zwölfergemeinschaft von 18,8 auf 20,3 % gestiegen, nachdem er zuvor kräftig gesunken war (Weltexportanteil 1973: 21,3 %). Berechnet nach Angaben in GATT: International Trade 87-88, Vol. II, Tabellen A A 10 und AB 8.
Die Außenwirtschaftspolitik der Gemeinschaft nach 1992
117
Eindruck des starken Dollar boomartig angeschwollen waren) und liegt um das Zweieinhalbfache über dem Marktanteil der Industriewarenimporte in Japan (vgl. Tabelle 2). Tabelle 2 Binnenmarktanteil der Industriegüterimporte aus Drittländern in der EG und einzelnen Mitgliedstaatena 1972
1980
1985
6, 5, 9, 7,
7 2 9 7
10, 8, 12, 10,
2 0 0 3
12,5 9,6 13,1 13,3
Belgien/Luxemburg Niederlande Dänemark Irland
9, 11. 20, 8,
4 0 4 2
17, 18, 22, 12,
3 6 1 1
22,4 21,9 25,6 16,0
Griechenland Spanien Portugal
11, 2 6, 3 13,0
12,0 5, 0 9, 5
9,7 6,9 9,9
EG i n s g e s a m t
7, 8
10,7
12,8
nachrichtlich: USA Japan
6, 1 4, 2
8,8 5,6
12,5 5,2
BR D e u t s c h l a n d Frankreich Großbritannien Italien
a
Binnenmarktanteil = Import . / . Export).
Quelle :
Import
in
% von
(Bruttoproduktion
+
HWWA-Welthandelsmatrix.
Tabelle 3 Direktinvestitionen einzelner EG-Länder im Auslanda Hill. $ 1980-87 1970-79
% OECD 1980-87 1970-79
BR D e u t s c h l a n d Frankreich Großbritannien Italien
2207 1071 4580 296
5200 3876 12422 1764
8,3 4,0 17,1 1,1
8,7 6,5 20,7 2,9
Belgien/Luxemburg Niederlande Spanien
425 2243 96
706 4763 370
1,6 8,4 0,4
insgesamt
10918
29101
nachrichtlich: USA Japan
12279 1585
14977 7693
a b
% BIP 1980-87 1970- - 7 9 0,, 5 3 0,, 34 2,r 0 3 0,, 1 6
0,69 0,63 2,43 0,36
1,2 8,0 0,6
1,,34 2,,65 0,,10
1,27 3,12 0,20
40,9
48,6
0,, 8 0
1,05
45,9 5,9
25,0 12,8
0,, 7 6 0,, 3 0
0,42 0,60
Durchschnittliche j ä h r l i c h e Kapitalabflüsse für Direktinvestitionen, OECD ohne Dänemark, G r i e c h e n l a n d , I r l a n d , I s l a n d , P o r t u g a l u n d d i e S c h w e i z u n v o l l s t ä n d i g e r Daten f ü r d i e s e L&nder.
wegen
Quelle: IMF: Balance of Payments S t a t i s t i c s ; I n t e r n a t i o n a l F i n a n c i a l S t a t i s t i c s .
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Georg Koopmann und Hans-Eckart Scharrer
Parallel zu der hohen Handelsverflechtung sind in den 80er Jahren die Direktinvestitionen im Ausland (einschließlich EG-Partnerländern) sprunghaft angestiegen (vgl. Tabelle 3). Die aggregierten Kapitalabflüsse für die Direktinvestitionen jener acht Mitgliedstaaten (Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien, Italien, Belgien, Luxemburg, Niederlande, Spanien), die entsprechende Daten veröffentlicht haben, erhöhten sich zwischen den Zeiträumen 1970-79 und 1980-87 von jährlich 10,9 auf 29,1 Mrd. $. Ihr Anteil an den gesamten Direktinvestitionen der OECD-Länder expandierte von 41 auf 49 % und entwickelte sich damit ähnlich dynamisch wie der Anteil Japans (der sich von 6 auf 13 % erhöhte), während die USA von 46 auf 25 % zurückfielen. Gleichzeitig nahmen die Direktinvestitionen der acht Länder erheblich schneller zu als ihr Sozialprodukt. Der Koeffizienz Kapitalabflüsse/BIP stieg von 0,8 auf 1,1 %, in Japan von 0,3 auf 0,6 %·, in den USA sank er von 0,8 auf 0,4 %. Hingegen hat die Gemeinschaft als Anlageregion für ausländische Investoren viel von ihrer früheren Bedeutung verloren (vgl. Tabelle 4). Die durchschnittlichen jährlichen „inward investments" sind zwar von den 70er zu den 80er Jahren von 9,0 auf 16,2 Mrd. $ gestiegen, verglichen mit den gesamten in der OECD getätigten Direktinvestitionen bedeutet dies aber einen Anteilsrückgang von 57 auf 37 %. Auch gemessen am BIP sind die Kapitalzuflüsse für Direktinvestitionen gefallen, nämlich von 0,7 auf 0,6 %. Demgegenüber haben die USA in den 80er Jahren erheblich mehr Auslandsinvestitionen angezogen als im vergangenen Jahrzehnt. Ihr OECD-Anteil schnellte von 26 auf 54 % empor, und auch die Relation zum BIP hat sich von Tabelle 4 Ausländische Direktinvestitionen in einzelnen EG-Ländern a Mill. $ 1980-87 1970-79
% OECD^ 1980-87 1970-79
% BIP 1980-87 1970-79
1436 1433 3260 571
898 2797 5929 1228
9,0 9,0 20,5 3,6
2,0 6,4 13,5 2,8
0,35 0,45 1,44 0,31
0,12 0,45 1,16 0,25
864 907 577
1278 1805 2293
5,4 5,7 3,6
2,9 4,1 5,2
2,73 1,07 0,60
2,29 1,18 1,26
insgesamt
9048
16228
56,8
37,1
0,66
0,59
nachrichtlich: USA Japan
4081 126
23541 421
25,6 0,8
53,5 1,0
0,25 0,02
0,66 0,03
BR D e u t s c h l a n d Frankreich Großbritannien Italien Belgien/Luxemburg Niederlande Spanien
a b
!
Durchschnittliche j ä h r l i c h e Kapitalzuflüsse für Direktinvestitionen, OECD ohne Dänemark, G r i e c h e n l a n d , I r l a n d , I s l a n d , P o r t u g a l und d i e S c h w e i z u n v o l l s t ä n d i g e r Daten für diese Länder.
Quelle: IMF: Balance of Payments S t a t i s t i c s ; I n t e r n a t i o n a l F i n a n c i a l
wegen
Statistics.
Die Außenwirtschaftspolitik der Gemeinschaft nach 1992
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0,3 auf 0,7 % mehr als verdoppelt. In Japan sind die Direktinvestitionen aus dem Ausland nach wie vor unbedeutend. Sie entsprachen in den Jahren von 1980 bis 87 nur 0,03 % des japanischen BIP (gegenüber 0,02 % in den 70er Jahren) und 1 % der gesamten „inward investments" der OECD (nach 0,8 % im Zeitraum von 1970 bis 79). Die betrachteten Direktinvestitionsströme in die und aus den EG-Mitgliedstaaten enthalten auch die innergemeinschaftlichen Kapitalbewegungen, deren systematische Ausklammerung wegen unvollständiger Daten nicht möglich ist. Vorliegenden Angaben zufolge 6 haben die innergemeinschaftlichen Direktinvestitionen erheblich geringere Bedeutung als der innergemeinschaftliche Handel. So gingen beispielsweise in der ersten Hälfte der 80er Jahre die deutschen Direktinvestitionen nur zu weniger als einem Drittel in andere EG-Staaten (Exportanteil knapp 50 %), hingegen zu nahezu zwei Fünfteln in die USA (Exportanteil unter 10 %). Ähnlich liegen die Verhältnisse in Frankreich, und in Großbritannien ist das Übergewicht der USA bei den Direktinvestitionen noch wesentlich größer. Die hohe gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Exportes in Drittländer und die dynamische Präsenz auf Drittlandsmärkten durch Direktinvestitionen begründen ein starkes Interesse der Gemeinschaft an offenen Weltmärkten, zumal einige Drittlandsmärkte, namentlich im asiatisch-pazifischen Raum, hohe Zuwachsraten versprechen. Freilich ist dieses Interesse nicht in allen Mitgliedstaaten gleich stark. Dies liegt an unterschiedlichen Strukturen des Außenhandels, an unterschiedlich hoher internationaler Wettbewerbsfähigkeit und auch an ideologischen bzw. ordnungspolitischen Differenzen. Zu den „freihändlerischen Musketieren" 7 in der EG zählt neben Dänemark und den Niederlanden an erster Stelle die Bundesrepublik Deutschland. Mehr als ein Drittel der gesamten Drittlandsexporte der EG entfällt auf die Bundesrepublik, erheblich mehr, als die beiden nächstgroßen Exporteure — Großbritannien und Frankreich — zusammen in Länder außerhalb der Gemeinschaft liefern. Gemessen am gesamten deutschen Export, einschließlich der Ausfuhren in Gemeinschaftsländer, ist der Export in Drittländer in den 80er Jahren zwar zurückgegangen — von 51 % (1980) auf 47 % (1987) — , doch liegt der Anteil nach wie vor weit über dem EG-Durchschnitt. Tatsächlich kam es in nahezu allen EG-Ländern zu einem Anteilsrückgang der Drittländer; lediglich Dänemark und Irland bilden bemerkenswerte Ausnahmen (vgl. Tabelle 5). 6 7
Vgl. dazu Eurostat, Balance of payments — geographical breakdown, versch. Jgg.
Vgl. Gerhard Abel, Die Bundesrepublik Deutschland als GATT-Mitglied und EG-Mitglied, in: Meinhard Hilf/Ernst-Ulrich Petersmann (Hrsg.), GATT und Europäische Gemeinschaft, Baden-Baden 1986, S. 80.
Georg Koopmann und Hans-Eckart Scharrer
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Tabelle 5 Export der EG und ihrer Mitgliedstaaten in Drittländer
1972 ER Deutschland Frankreich Großbritannien Italien
23061 10203 16256 8366
u m $ 1980
IuduuUlegüter
a l l e Güter 1987
1972
% Welt 1980
97755 138700 49498 56626 65628 66860 37512 51179
49,9 39,5 66,8 45,1
50,9 44,5 57,3 48,3
47,2 39,6 51,0 43,9
22268 9686 15192 8075
1987
1972
1987
1972
% Welt 1980
1987
91643 133709 46808 54245 57247 60424 36668 50198
50,1 41,8 66,8 45,8
50,2 45,8 59,2 48,9
47,3 41,6 52,6 44,3
Kill $ 1980
Belglen/Luxentourg Niederlande Dflnemark Irland
3829 4717 2386 342
17271 20116 8037 2016
21132 23349 13136 4206
23,9 27,2 55,3 21,7
26,8 27,2 48,9 23,8
25,5 25,2 53,2 26,3
3403 4369 2225 232
15241 19006 7318 1613
19092 21555 11569 3793
23,0 29,4 57,0 20,3
26,1 30,7 50,6 21,8
25,5 26,7 54,5 26,0
Griechenland Spanien Portugal
399 1950 656
2647 9948 1919
2161 12373 2697
45,8 51,3 50,7
51,5 47,7 41,5
33,1 36,2 28,9
222 1804 625
2099 9395 1851
1753 11566 2605
40,3 55,9 52,3
50,6 50,3 41,7
34,0 38,1 28,8
72166 312346 392419
45,0
45,3
41,3
68099 288889 370508
46,1
46,1
42,2
BG gesamt
Quelle: ΗΛΛ-Welthandelanatrlx .
Tabelle 6 Industriegüterimport der EG und ihrer Mitgliedstaaten aus Drittländern
1987
Tnr% utrt-T-i