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German Pages 173 [174] Year 1981
HANS ULRICH REHHAHN
Die verfassungsrechtliche Problematik konjunkturpolitischer Regelbindungen
Volkswirtschaftliche Schriften Herausgegehen von Prof. Dr. J. Broerm a n n, Berlin
Heft 313
Die verfassungsrechtliche Problematik konj unkturpoli tischer Regelbind ungen
Von
Dr. Hans Ulrich Rehhahn
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1981 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany
© 1981 Duncker
ISBN 3 428 05011 8
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 1980 von der Fakultät der Abteilung für Wirtschaftswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Jürgen Pahlke, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken für seine wertvollen Anregungen, seine Geduld und den großen Freiraum, den er mir bei der Bearbeitung des Themas gewährt hat. Mein Dank gilt auch Herrn Prof. Dr. Paul Klemmer und Herrn Prof. Dr. Horst-Wilfried Bayer, die das Korreferat aus ökonomischer bzw. juristischer Sicht übernommen haben. Hagen, im Juni 1981 Hans Ulrich Rehhahn
Inhaltsverzeichnis I. Problemstellung . . . . . .. . . .......... . . ...... .. .. . . .... . ......... .
15
II. Begriff der Regelbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
16
III. Wirtschaftstheoretische
Grundlagen
der
konjunkturpolitischen
Regelbindung ...... .. ...................... . ................. . ..
19
A. Begriff der Konjunkturschwankungen . . ...... .. .. .. ... ... .. . .
19
B. Empirische Erfassung der Konjunkturschwankungen . . . . . . . . ..
20
C. Gegenwärtiger Stand der Konjunkturtheorie . . . . .. . .... . .. ..
24
1. Multiplikator-Akzelerator-Modell. . ...... .. .... . . .. ........
25
2. Ergänzende Erklärungshypothesen zum unteren Wendepunkt und zum Aufschwung ..... . ....... .. ........... . ...... . ... a) Auslandsnachfrage ............... . .... . . . .... . .. ... .. . . b) Expansive Wirtschaftspolitik . .. . . .. ...... .. .... .. . .. .. . c) Investitionsverhalten .... . ..... .. ..... ... ..... . ......... d) Entwicklung der privaten Konsumnachfrage . .. ..... .. .. 3. Ergänzende Erklärungshypothesen zum oberen Wendepunkt und zum Abschwung ....... . ..... . .............. . ......... a) Auslandsnachfrage . .... .. .. .. .... .... . ... ... .... .. . .... b) Kontraktive Wirtschaftspolitik. .. . . . . . . ... .. . . . . . . .. . . .. c) Investitionsverhalten .... . ....... . ...................... d) Entwicklung der privaten Konsumnachfrage .. .. . . .... ..
28 28 29 30 32 33 34 34 36 38
D. Grundlegende Konzeptionen der Konjunkturpolitik ... .... . .. 39 1. Keynesianischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 40 2. Monetaristischer Ansatz ........ . .. . ..... . ..... .. ....... .. 47 3. Vereinbarkeit von Regelbindungen mit den alternativen konjunkturpolitischen Konzepten ............ . ..... . .......... 50 IV. Darstellung einzelner konjunkturpolitischer Regelbindungen ....
53
A. Auswahl und Gliederung ... . . . ..... .. ..... . ...... .. .........
53
B. Geldpolitische Regeln ... . . ... . . ...... .. . . ... . ........ . . .... .. 1. Warenreservewährung ... . . .. ............ .. .... .. ......... 2. Potentialorientierte Geldmengenregel . .. . .. .. ...... .. . ... ..
54 55 56
10
Inhaltsverzeichnis
c. Wechselkurspolitische Regeln ................................ 60 1. Goldautomatismus ........................................
2. Regeln zur Devisenmarktintervention .............. . . . . . . ..
60 61
D. Finanzpolitische Regeln ...................................... 1. Formula-Flexibility-Ansätze ..............................
63 64
2. Konzept der "Stabilizing Budget Policy" .................. 3. Konjunkturneutraler Haushalt als Regelbindung ..........
68 69
E. Lohnpolitische Regeln ........................................
1. Kostenniveauneutrale Lohnpolitik ........................ 2. Vorschlag einer "Tax-Based Income Policy" .......... . .. ...
73 74 75
F. Regelsysteme ................................................
77
V. Der rechtliche Rahmen der Konjunkturpolitik ..................
83
A. Gesetzliche Grundlagen der Konjunkturpolitik ................ 1. Geldpolitik .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wechselkurspolitik ........................................ 3. Finanzpolitik.............................................. 4. Lohnpolitik ............................................... 5. Regelbindungselemente in konjunkturrelevanten Gesetzen..
83 83 85 87 91 92
B. Verfassungsrechtliche Aspekte der Konjunkturpolitik. . . .. ..... 1. Verfassungsrechtliche Verankerung. . .. . . . .. .. . .. . .. .. .. . .. 2. Grundrechte und Konjunkturpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Konjunkturpolitik und Rechtsstaatsprinzip ................ 4. Verhältnis von Parlament und Regierung .. ,................ 5. Gerichtliche Überprüfbarkeit stabilitätspolitischer Maßnahmen ...................................................... 6. Bundesstaatsprinzip und Konjunkturpolitik 7. Finanzpolitische Autonomie der Gemeinden ................
94 94 96 102 107 110 113 115
VI. Verfassungsrechtliche Probleme der konjunkturpolitischen Regelbindungen ........ ,.......... ,.................................... 119 A. Rechtscharakter konjunkturpolitischer Regelbindungen ........ 119 B. Verfassungsmäßigkeit der geldpolitischen Regeln . . . . . . . . . . . . .. 1. Gesetzgebungskompetenz .................................. 2. Aufhebung der Bundesbankautonomie .................... 3. Grundrechte als Schranken der Geldmengenregeln . . . . . . . . .. a) Offenmarktpolitik ...................................... b) 100 'Ofo-Reserveverpflichtung .............................
120 120 120 123 124 125
Inhal tsverzeichnis
c. Verfassungsmäßigkeit der wechselkurspolitischen Regeln
11 128
1. Gesetzgebungskompetenz .................................. 128
2. Bestehende völkerrechtliche Verpflichtungen .............. 128 3. Einschränkung des exekutiven Handlungsspielraumes .... 130 4. Grundrechtsschranken .................................... 130 D. Verfassungsmäßigkeit der finanzpolitischen Regeln ............ 1. Gesetzgebungskompetenz .................................. 2. Budgetrecht des Parlaments ............................... a) Ausgabenbewilligung ................................... b) Regelung der Steuereinnahmen ........................ c) Festlegung der Verschuldung .......................... d) Unantastbarkeitsklausel des Art. 79 III GG ............ 3. Finanzpolitischer Entscheidungsspielraum der Bundesregierung ...................................................... 4. Grundrechtseingriffe ......................................
131 131 132 132 136 137 138 143 144
5. Bundesstaatliche Schranken ............................... 145 6. Kommunale Finanzautonomie ............................. 146 E. Verfassungsmäßigkeit der lohnpolitischen Regeln ............ 1. Gesetzgebungskompetenz .................................. 2. Gestaltungsmöglichkeiten ................................. 3. Eingriff in das Grundrecht der Koalitionsfreiheit .......... a) Gesetzliche Lohnvorgaben .............................. b) Steuerrechtliche Sanktionen ............................
148 148 148 148 149 151
VII. Anwendungsbereich verfassungskonformer Regelbindungen ...... 153 A. Freiräume und Grenzen konjunkturpolitischer Einzelregeln .... 153
B. Funktionsfähigkeit der Regelsysteme ........................ 154 1. Tarifautonomie und Geldmengenregel .................... 155 2. Diskretionäre Fiskalpolitik und Geldmengenregel 156 VIII. Zukunft der Regelbindungen .... . ............................... 161 Anhang: Konjunkturzyklen in der Bundesrepublik Deutschland
163
Literaturverzeichnis ........................... . ....................... 165
Abkürzungsverzeichnis
AcP: AER: Anm.: AO: AöR: Art.: Aufl.: AWG: BBankG: Bd.: BGBl.: BGHZ: Bek.: BT: BVerfG: BVerfGE: BVerfGG: BVerwG: c.p.: DÖV: Dt.: DVBl.: EWG: EStG: Fußn.: GG: Hrsg.: Jg.: IWF: JZ: Kap.: KapVStG: KStG: KWG: Mass.:
Archiv für die civilistische Praxis The American Economic Review Anmerkung Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Außenwirtschaftsgesetz Gesetz über die Deutsche Bundesbank Band Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bekanntmachung Deutscher Bundestag Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Band, erste Seite der Entscheidung, Fundstelle) Bundesverfassungsgerichtsgesetz Bundesverwaltungsgericht ceteris paribus Die öffentliche Verwaltung Deutsche(r) Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Einkommensteuergesetz Fußnote Grundgesetz Herausgeber Jahrgang Internationaler Währungsfonds Juristenzeitung Kapitel Kapitalverkehrsteuergesetz Körperschaftsteuergesetz Gesetz über das Kreditwesen Massachusetts
Abkürzungsverzeichnis m.E.: m.w.N.: N.J.: NJW: N.F.: OVGE: Rdnr.: Sp.: StabG: SVR: Tz.: u.a.: VerfGHNW: Vol.: VVDStRL:
w: WiSt: WISU WSI: Zeitschr.: zit.:
13
meines Erachtens mit weiteren Nachweisen New Jersey Neue Juristische Wochenschrift Neue Folge Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte Münster und Lüneburg Randnummer Spalte Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Textziffer und andere Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen Volume Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer Wachstumsrate der autonomen Investitionen Wirtschaftswissenschaftliches Studium Das Wirtschaftsstudium Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut des Deutschen Gewerkschaftsbundes Zeitschrift zitiert
I. Problemstellung Regelbindungen werden seit längerer Zeit als Alternative zur fallweise praktizierten Konjunkturpolitik in der Wirtschaftswissenschaft erwogen. Die Erörterung bezieht sich heute nicht mehr auf einzelne Handlungsbindungen, sondern auf ganze Regelsysteme. Die Intensität der Diskussion schwankt in Abhängigkeit von der Konjunktursituation. Ermessenbedingte Handlungsverzögerungen in der Hochkonjunktur lassen die Vorteile von gesetzlichen Handlungspfiichten besonders deutlich werden. Aber auch in den anderen Konjunkturphasen ist das Thema aktuell. Die außenwirtschaftlichen Konzepte einer Stabilisierung der Wechselkurse beinhalten ebenfalls häufig Regelmechanismen. Das Instrument der konjunkturpolitischen Regelbindung bedingt weitgehende rechtliche Änderungen, da in den Kompetenzbereich von Verfassungsorganen eingegriffen wird. Die Frage, welche verfassungsrechtlichen Grenzen einer Verwirklichung von Regelmechanismen entgegenstehen, ist bisher völlig ungeklärt!. Die Beantwortung dieser Problemstellung hat sich die Arbeit zum Ziel gesetzt. Dabei wird vom Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen. Um Bedeutung, Gestaltungsmöglichkeiten und Probleme der Regelbindungen zu erkennen, erscheint es angebracht, auf das Konjunkturphänomen und die theoretischen Grundlagen der Konjunkturpolitik näher einzugehen. Die verfassungsrechtliche Beurteilung von Regelmechanismen schließt den gesamten Problembereich Konjunkturpolitik Grundgesetz ein. Abschließend ist die Frage zu beantworten, inwieweit es verfassungskonforme Regelsysteme gibt, die als Alternative zur diskretionär betriebenen Konjunkturpolitik gelten können. Zunächst ist der Begriff der konjunkturpolitischen Regelbindung zu definieren.
1 Zuerst hat der Wiss. Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen auf dieses Problem hingewiesen. Vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen: Regelmechanismen und regelgebundenes Verhalten in der Wirtschaftspolitik, in: Sammelband der Gutachten von 1948 - 1972, Göttingen 1972, S. 612, 618.
11. Begriff der Regelbindung Eine allgemein anerkannte Definition der Regelbindung hat sich bisher nicht herausgebildet. Einigkeit besteht darüber, daß durch eine Regelbindung Ermessensspielräume im wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozeß aufgehoben werden sollen. Diese Verhaltensbindung steht also im Gegensatz zur üblichen diskretionär (fallweise) betriebenen Politik. über den erforderlichen Umfang der Handlungsbindungen gehen die Meinungen aber auseinander. Der wirtschaftspolitische Entscheidungsprozeß kann in allen Phasen Beurteilungsspielräume aufweisen. Bei der Analyse der wirtschaftlichen Situation kann ein Diagnoseermessen auftreten. Es ist darauf zurückzuführen, daß die Zielformulierung ungenau ist oder die vorhandenen Daten zu jenem Zeitpunkt keine eindeutige Beurteilung der Lage erlauben. Nach der Situationsanalyse stellt sich für die wirtschaftspolitischen Instanzen die Frage, ob überhaupt Maßnahmen ergriffen werden sollen. Das daraus resultierende Entschließungsermessen wird von der Lagebeurteilung und der Prognose der weiteren Wirtschaftsentwicklung bestimmt. Die Festlegung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen beinhaltet die Einschätzung der Wirksamkeit des verfügbaren Instrumentariums und damit ein Auswahlermessen. Folgende Stufen einer wirtschaftspolitischen Handlungsbindung lassen sich unterscheiden1 : -
Nur das Diagnoseermessen wird ausgeschaltet, indem das oder die wirtschaftspolitischen Ziele exakt, d. h. in quantitativen Größen festgelegt und geeignete Meßverfahren zur Analyse der wirtschaftlichen Situation bestimmt werden. Dagegen bleibt es in das Ermessen der Entscheidungsträger gestellt, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen ergriffen werden sollen.
-
Die zweite Stufe der Verhaltensbindung bezieht das Entschließungsermessen ein. Neben die präzise Zielfestlegung tritt die Handlungspflicht. Die Wahl der Instrumente bleibt frei. Für den Fall der Untätigkeit ist eine Begründungspflicht vorzusehen.
1 Vgl. die ähnliche Typologie des Wiss. Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen: Regelmechanismen ... , S. 600 ff.
11. Begriff der Regelbindung
-
17
Die dritte Stufe schließlich umfaßt auch die Auswahl der Maßnahmen. Die Instrumente werden vorgegeben. Eine völlige Ausschaltung des Auswahlermessens bedingt dabei eine Festlegung des Instrumentaleinsatzes nach Art, Zeitraum und Umfang.
Die Festlegung des Begriffs "Regelbindung" ist wie jede Definition werturteilsbehaftet. Als wirtschaftspolitische Regelbindung wird in dieser Arbeit nur die letzte der genannten Stufen verstanden. Um ein Ermessen konsequent auszuschalten, muß die Regel weiterhin dauerhaft und nicht als Einzelfallnorm aufgestellt werden. Eine Regelbindung ist daher eine prinzipiell auf Dauer geltende Norm, in der die Durchführung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen nach Art, Umfang und Dauer vorgeschrieben wird, wobei die Handlungsanweisung entweder an eindeutig fixierte wirtschaftliche Tatbestände geknüpft wird oder unabhängig vom laufenden Wirtschafts geschehen erfolgt. Diese Definition soll näher erläutert werden. Die Beschränkung auf Normen der strikten Handlungsbindung erscheint im Hinblick auf die Themenstellung zweckmäßig. Nur eine derart enge Begriffsfassung trägt dem Grundgedanken der Regelbindung, Ermessensentscheidungen auszuschalten, vollständig Rechnung und läßt ihn einer verfassungsrechtlichen Beurteilung zugänglich werden. Die Definition vermeidet eine Anlehnung an technische Regelkreise, die sonst häufig zur Umschreibung von wirtschaftspolitischen Regeln herangezogen werden. Dabei wird von der Zuordnung von vorgegebenen Maßnahmen zu gemessenen Zielabweichungen gesprochen. Die Wirkungen werden wiederum ständig gemessen (Rückkopplung) und führen nach der Regel gegebenenfalls zu Korrekturen des Instrumentaleinsatzes, bis das gewünschte Ziel erreicht ist. Diese Form der Regelbindung, die praktisch eine Nachbildung der herkömmlichen wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozesse darstellt2 , wird zwar in der hier verwendeten Definition auch erfaßt. Um auch solche Regelvorschläge einzubeziehen, die nicht am laufenden Wirtschaftsgeschehen orientiert sind, erscheint aber die obige Begriffsbestimmung angebracht. Offen geblieben ist bisher, wer Adressat der Verhaltensnorm ist. Gegenstand der Untersuchung sind konjunkturpolitische Regelbindungen. 2 Auf die Verwandtschaft von technischen Regelkreisen und wirtschaftspolitischem Kalkül hat als erster Föhl hingewiesen. FöhL, G.: Volkswirtschaftliche Regelkreise höherer Ordnung in Modelldarstellung, in: H. Geyer, W. Oppelt, Volkswirtschaftliche Regelungsvorgänge im Vergleich zu Regelungsvorgängen der Technik, Beihefte zur Regelungstechnik, München 1957, S. 50.
2 Rehhahn
18
II. Begriff der Regelhindung
Als Adressab~n kommen folglich die Träger der Konjunkturpolitik in Betracht. Dtes sind in erster Linie staatliche Instanzen, die für die Finanzpolitik verantwortlichen Gebietskörperschaften Bund, Länder und Gemeinden, aber auch autonome Einrichtungen wie die Bundesbank für die Geldpolitik. Außerhalb des staatlichen Bereichs fehlen im allgemeinen die Handlungsmöglichkeiten zu gezielten Eingriffen in den konjunkturellen Ablauf. Als Ausnahme sind die Tarifparteien zu betrachten, deren Vereinbarungen konjunkturpolitische Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Neben dem Begriff "Regelbindung" werden in der Literatur andere Formulierungen teils in gleicher, teils in ähnlicher Bedeutung gebraucht, die im folgenden synonym verwendet werden sollen: Regel, regelgebundenes Verhalten, Verhaltensbindung, Handlungsbindung, Regelautomatismus, Regelmechanismus. Dagegen wird unter dem Begriff Regelsystem ein Konzept verstanden, das aufeinander abgestimmte Regeln für mehrere Adressaten enthält. Abschließend ist festzuhalten, daß die obige Definition der Regelbindung weitere Nebenbestimmungen nicht ausschließt, z. B. an bestimmte Bedingungen geknüpfte Suspensionsnormen, Sanktionsmechanismen für den Fall des Nichtbefolgens der Regel oder eine Korrekturregel zur Verbesserung unzureichender Meßverfahren.
111. Wirlschaftstheoretische Grundlagen der konjunkturpolitischen Regelbindung A. Begriff der Konjunkturschwankungen
Unter Konjunkturschwankungen werden im allgemeinen Schwankungen im Auslastungsgrad des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials verstanden1 • Das Konjunkturphänomen ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Es handelt sich um eine auf die gesamte volkswirtschaftliche Aktivität bezogene Erscheinung. Die wirksame Nachfrage schöpft das gesamtwirtschaftliche Angebot im Zeitablauf unterschiedlich aus. Die Entwicklung der Nachfrage im Verhältnis zum Angebot weist zyklische Bewegungen auf. Auf eine Phase sinkender Auslastung folgt eine Phase steigender Auslastung des Produktionspotentials.
-
Als Maßstab der Nachfrageschwankungen dient der Auslastungsgrad des Produktionspotentials. In diesem Punkt weicht die heutige von früheren Definitionen ab, in denen die wirtschaftliche Aktivität in Beziehung zur längerfristigen Wachstumsrate (dem Trend) des Volkseinkommens2 gesetzt wurde. Die Orientierung am Produktionspotential bietet Anknüpfungspunkte für die theoretische Erklärung des Konjunkturphänomens. Da sich über ein oder mehrere Konjunkturzyklen hinweg die Wachstumsraten des Produktionspotentials und der Produktion dekken3 , ergeben sich in der praktischen Erfassung der Konjunkturschwankungen keine wesentlichen Abweichungen. Die alte Anschauung findet auch heute noch Anwendung bei Darstellung und Benennung der Konjunkturphasen innerhalb eines Konjunkturzyklus. Die Konjunkturschwankungen werden dabei idealtypisch als Sinusschwingungen um den Wachstumstrend des Volkseinkommens dargestellt4• 1 Vgl. z. B. Dürr, E.; Neuhauser, G.: Währungspolitik, Konjunktur- und Beschäftigungspolitik, Stuttgart 1975, S. 93; Giersch, H.: Konjunktur- und Wachstumspolitik, Wiesbaden 1977, S. 15. 2 KrelZe, W.: Grundlinien einer stochastischen Konjunkturtheorie, in: Zeitschr. für die gesamte Staatswissenschaft, 115. Jg. (1959), S. 477. 3 Giersch, Konjunktur ... , S. 15. 4 Z. B. WolZ, A.: Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 5. Aufl., München 1976,
S.399. 2*
20
111. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
Eine einheitliche Bezeichnung der Konjunkturphasen hat sich bisher nicht herausgebildet. übereinstimmend wird nur zwischen Aufschwung als Abschnitt der Wachstumsbeschleunigung und Abschwung als Periode der Wachstumsverlangsamung unterschieden. Der Aufschwung wird durch den oberen Wendepunkt, der Abschwung durch den unteren Wendepunkt abgeschlossen. Als Maßstab einer weiteren Untergliederung kann die durchschnittliche Auslastung des Produktionspotentials gewählt werdens. Danach wird der Aufschwung durch eine Phase der "Erholung" eingeleitet, die durch zunehmende, aber noch unterdurchschnittliche Kapazitätsauslastung gekennzeichnet ist. Die anschließende "Expansion" umfaßt die Entwicklung überdurchschnittlicher Kapazitätsauslastung bis zum oberen Wendepunkt. Dieser Punkt muß nicht die völlige Ausschöpfung des Produktionspotentials bedeuten. Der Zustand der höchsten Kapazitätsauslastung kann im Einzelfall über einen gewissen Zeitraum andauern. Das entstehende Plateau kann als "Hochkonjunktur" oder "Boom" bezeichnet werden. Die Abschwungphase setzt mit einer Periode der "Entspannung" ein, in der die Beanspruchung des Produktionspotentials noch überdurchschnittlich hoch ist. Wird die durchschnittliche Kapazitätsauslastung unterschritten, schließt sich die Periode der Abschwächung an. Mit der erneuten Erhöhung des Auslastungsgrades beginnt ein neuer Konjunkturzyklus. B. Empirische Erfassung der Konjunkturschwankungen
Die Konjunkturschwankungen stellen ein komplexes Phänomen dar, das in einer Vielzahl von ökonomischen Größen wie Produktmengen, Preisen, Beschäftigung und Neuverschuldung seinen Niederschlag findet 6 • Die einzelnen Zeitreihen verlaufen aber nicht synchron. Es stellt sich deshalb das Problem, welche Beobachtungsgröße die Konjunktur als Referenzgröße darstellt. Das gebräuchlichste Maß für die wirtschaftliche Aktivität in einer Volkswirtschaft ist das Bruttosozialprodukt zu Marktpreisen7 • Statt des um Preissteigerungen bereinigten d. h. realen Bruttosozialprodukts8 wird im Rahmen der Orientierung der Konjunkturschwankung am Produktionspotential zunehmend das reale Bruttoinlandsprodukt als Meßgröße gewählt 9 • Neben diesen Volkseinkommens5
Tichy, G.: Konjunkturschwankungen, Berlin-Heidelberg-New York 1976,
S.77.
6 Stobbe, A.: Volkswirtschaftslehre I, Volkswirtschaftliches Rechnungswesen, 4. Aufl., Berlin - Heidelberg - New York 1976, S. 25. 7 Stobbe, S. 136. 8 Z. B. Tichy, Konjunkturschwankungen, S. 8. 9 Deutsche Bundesbank, Monatsberichte, 25. Jg., Frankfurt a. M. Okt. 1973. S. 29; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschafUichen Ent-
B. Empirische Erfassung der Konjunkturschwankungen
21
größen wird auch der Index der industriellen Nettoproduktion als Referenzgröße verwendetl°, weil das für hochentwickelte Volkswirtschaften charakteristische Schwankungsphänomen im industriellen Bereich besonders deutlich wird. Gleichwohl können die statistischen Meßgrößen des Volkseinkommens die Konjunktur als gesamtwirtschaftliche Erscheinung besser erfassen. Ausgehend von der Referenzgröße lassen sich vorauslaufende, gleichlaufende und nachlaufende Zeitreihen unterscheiden. Die gleichlaufenden Beobachtungsreihen (z. B. Zahl der offenen Stellen oder Kreditgewährung an Private) dienen der Diagnose der gegenwärtigen Wirtschaftsentwicklung, die nachlaufenden liefern Kontrollwerte über die vergangene Entwicklung. Weitaus größeres Interesse widmet die Konjunkturforschung den vorauseilenden Zeitreihen, den sog. konjunkturellen Frühindikatoren (wie z. B. Angaben über den Auftragseingangll ). Sie ermöglichen von ihrer Konzeption her eine Prognose der künftigen Wirtschafts entwicklung. Die konjunkturpolitisch erforderlichen Maßnahmen können frühzeitig entwickelt werden. Der Mitteleinsatz kann schwächer dosiert werden als bei späteren Eingriffen. Insgesamt wird der Informations- mid Entscheidungslag verkürzt und damit die Erfolgsaussicht eines Konjunkturprogramms erhöht. Auch in Konzepten konjunkturpolitischer Regelbindung stellen die Frühindikatoren als Auslöser wirtschaftspolitischer Maßnahmen einen wesentlichen Bestandteil dar. Ein konjunktureller Frühindikator muß gewisse Anforderungen erfüllen. Neben einem theoretischen Erklärungszusammenhang zwischen Beobachtungsmerkmal und Konjunkturphänomen sollte die Zeitreihe einen zeitlich invarianten Vorlauf gegenüber der Referenzgröße aufweisen. Der Erhebungs- und Aufbereitungszeitraum der Beobachtungsreihe sollte 6 - 8 Wochen nicht überschreiten. Die statistischen Zeitreihen sind häufig nicht so schnell verfügbar. Sie weisen zudem starke erratische Schwankungen auf, die eine Glättung (z. B. gleitende Durchschnittswerte) auf Kosten der Aktualität erfordern. Die Besonderheiten, die trotz der zyklischen Regelmäßigkeit jeden Konjunkturablauf kennzeichnen, wirken sich auch auf den systematischen Vorlauf von statistischen Reihen gegenüber der Referenzgröße aus 12 • Dieses Problem soll durch wicklung (zit. als SVR), Gutachten 1974/75, Stuttgart - Mainz 1974, Anhang V, S. 199. Das Bruttoinlandsprodukt ergibt sich aus dem Bruttosozialprodukt
durch Hinzufügen von Inländereinkommen aus dem Ausland und Abzug von Ausländereinkommen aus dem Inland. 10 So Klemmer, P.: Konjunkturindikatoren, in: Das Wirtschaftsstudium (WISU), 2. Jg. (1973), S. 517. 11 Siehe Teichmann, U.: Grundriß der Konjunkturpolitik, München 1976, S. 51 ff. m. w. N. 12 Giersch, Konjunktur ... , S. 26.
22
!Ir. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
die Konstruktion komplexer Konjunkturindikatoren einer Lösung nähergebracht werden, die aus mehreren Zeitreihen bestehen. Die Frage, welche Reihen ausgewählt werden und auf welche Weise bzw. mit welcher Gewichtung die einzelnen Informationen zusammengefaßt werden sollen13, ist ein Gegenstand der heutigen empirischen Konjunkturforschung. Die Entwicklung von konjunkturellen Frühindikatoren, die den obigen Anforderungen genügen, ist bisher nicht hinreichend gelungen. Ein weiteres Problem bei der empirischen Ermittlung aller Konjunkturindikatoren ergibt sich aus dem Umstand, daß mehrere Einfl.ußfaktoren sich in den ökonomischen Zeitreihen überlagern. Die konjunkturelle Komponente muß herausgefiltert werden. Das kann durch die herkömmliche Zeitreihenanalyse 14 geschehen. Diese Methode geht davon aus, daß die additive Verknüpfung des Trends (langfristige Entwicklung), der mittelfristigen konjunkturellen Komponente, der Saisonkomponente und der irregulären Komponente das Verlaufsbild einer Zeitreihe der volkswirtschaftlichen Aktivität erklärt. Mit Hilfe von mathematisch-statistischen Verfahren wird in der Praxis eine Trendund eine Saisonbereinigung vorgenommen und das Residuum (irreguläre Komponente eingeschlossen) als Konjunkturschwankung interpretiert1 5• Gegen diese Methode wird der Vorwurf erhoben, das vorgegebene Zeitreihenmodell determiniere eine konjunkturpolitische Komponente, die keineswegs mit der Wirklichkeit übereinstimmen müsse 16 • Dieser Gefahr versucht die Spektralanalyse zu begegnen, die die Zeitreihen nach Trendbereinigung in Spektralfunktionen auflöst. Der Anteil der Frequenzen an der Gesamtvarianz der Zeitreihe gibt Aufschluß über die relative Bedeutung der einzelnen Schwingungskomponenten. Damit läßt sich auch ermitteln, inwieweit mittelfristige konjunkturelle Zyklen die Zeitreihe bestimmen. Um die empirische Erfassung des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials, dessen Auslastungsgrad der neueren Konjunkturdefinition als Maß größe dient, rivalisieren in der Bundesrepublik zwei Konzepte. Der Sachverständigenrat ermittelt die Größe als Produkt des jahresdurchschnittlichen Bruttoanlagevermögens im Unternehmenssektor und der trendmäßigen Kapitalproduktivität bei Vollauslastung der Sachkapazitäten17 • Das Konzept der Bundesbank versucht, anstelle des maximalen das durchschnittlich ausgelastete Produktionspotential des 13 Hierzu Klemmer, P.: Probleme und Ansatzpunkte zur Herausarbeitung konjunktureller Frühindikatoren, in: Datascope, 7. Jg. (1976), S. 6 f. 14 Reichardt, H.: Statistische Methodenlehre für Wirtschaftswissenschaftler, 5. Aufl., Qpladen 1975, S. 97 ff. 15 Klemmer, Konjunkturindikatoren, S. 518. 16 Ders., Probleme ... , S. 6. 17 SVR-Gutachten 1974175, S. 199 f.
B. Empirische Erfassung der Konjunkturschwankungen
23
letzten Konjunkturzyklus zu ermitteln18• Diese Größe ergibt sich als abhängige Variable einer Cobb-Douglas-Produktionsfunktion, in die der durchschnittlich genutzte Sachkapitalbestand und das Volumen der geleisteten Arbeitsstunden eingehen. Die Parameterwerte der Funktion werden mit statistischen Methoden geschätzt. Dieser kleine überblick über statistisch-methodische Fragen weist auf eine Reihe von ungelösten Problemen hin, die mit der empirischen Ermittlung des Konjunkturphänomens verbunden sind. Wenn die Meinungen selbst in zentralen Punkten wie der konjunkturellen Referenzgröße auseinandergehen, besteht doch Einigkeit darüber, daß konjunkturelle Schwankungen der wirtschaftlichen Aktivität empirisch feststellbar sind19 • Das genaue Erscheinungsbild der Konjunkturzyklen in der Bundesrepublik hängt von der Wahl der Referenzgröße und der Art der Zeitreihenanalyse ab. Die Verfügbarkeit als durchlaufende statistische Reihe von Halbjahreswerten und der gesamtwirtschaftliche Bezug lassen die Zeitreihe des realen Bruttosozialprodukts zu Preisen von 1962 als geeignete Referenzgröße erscheinen. Kriterium für einen Aufschwung und damit den Beginn eines Konjunkturzyklus soll die Erhöhung der Wachstumsrate über die trendmäßige Wachstumsrate des realen Bruttosozialprodukts sein. Aus den nach der traditionellen Zeitreihenanalyse aufbereiteten Daten20 lassen sich dann folgende Konjunkturzyklen21 ermitteln: 1. Konjunkturzyklus
2. Konjunkturzyklus 2. Hj. 3. Konjunkturzyklus 1. Hj. 4. Konjunkturzyklus 2. Hj. 5. Konjunkturzyklus 1. Hj. 6. Konjunkturzyklus 2. Hj.
- 1. Hj. 1954 - 2. Hj. 1959 - 1. Hj. 1964 - 2. Hj. 1968 - 1. Hj. 1972 - 2. Hj.
1954 1958, 4,5 Jahre Dauer 1964, 5,5 Jahre Dauer 1967, 3,5 Jahre Dauer 1972, 4,5 Jahre Dauer 1975, 3,5 Jahre Dauer
Empirische Untersuchungen, die auf anderen Referenzgrößen bzw. Analysemethoden beruhen, gelangen zu einer ähnlichen Zyklendatierung, wenn auch in der zeitlichen Abgrenzung Unterschiede auftreten22 • Die Dauer der bisherigen Konjunkturschwankungen betrug 3,5 - 5,5 Jahre. Deutsche Bundesbank, Monatsberichte, Okt. 1973, S. 32 ff. Für alle Klemmer, Konjunkturindikatoren, S. 517. 20 Siehe Anhang. 21 Mängel des empirischen Materials erlauben es nicht, den Beginn des 1. Konjunkturzyklus genau zu datieren. 22 Vgl. Ott, A; Wagner, A: Materialien zu den Wachstumszyklen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Ott, A (Hrsg.), Wachstumszyklen, Schriften 18
19
24
111. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Zyklen tritt besonders in den stark abweichenden Amplituden der Schwingungen hervor. Die positiven Abweichungen der Wachstumsraten von der trendmäßigen Wachstumsrate weisen eine nur im 5. Zyklus unterbrochene retardierende Tendenz auf. Dagegen wechseln in den Abschwungphasen starke und schwache negative Abweichungen von der trendmäßigen Wachstumsrate. Negative Wachstumsraten traten bisher selten auf. Die Konjunkturzyklen vollzogen sich i. d. R. als Schwankungen einer positiven Wachstumsrate des Sozialprodukts. Die Ermittlung des Verhältnisses von Aufschwung- und Abschwungphase (Phasenstruktur) innerhalb der einzelnen Zyklen hängt von der Festlegung des Endpunktes des Aufschwungs ab. In der Literatur wird der Wechsel zu sinkenden Wachstumsraten als Maßstab genommen. In diesem Fall ergibt sich ein überwiegen der Abschwungphase im Verhältnis von 65 : 35, das sich nur im 5. Zyklus wohl aufgrund des starken Einbruchs 1966/67 umkehrt23 • Die herkömmliche Auffassung, sinkende aber noch überdurchschnittliche Wachstumsraten als Abschwung zu betrachten, stellt Tichy in Frage. Er sieht diesen Zeitabschnitt der Stabilisierung der Sozialproduktsentwicklung bei einem hohen Grade der Auslastung des Produktionspotentials als eine eigene Konjunkturphase an24 • Unter Einbeziehung dieses Hochkonjunkturplateaus, das im 4. Konjunkturzyklus mit ca. 2 Jahren sehr ausgeprägt ist, ergibt sich ein sehr differenziertes Bild der Phasenstruktur. Der Abschwung nimmt im Durchschnitt nur wenig mehr Zeit als der Aufschwung bei wechselnder Dauer des Hochkonjunkturplateaus in Anspruch. Insgesamt läßt sich festhalten, daß in der Bundesrepublik Konjunkturzyklen nachweisbar sind. Bei abnehmenden Unterschieden in der Dauer der Gesamtschwankungen tritt die Individualität jedes Zyklus in den wechselnden Amplituden und der Phasenstruktur deutlich zutage. C. Gegenwärtiger Stand der Konjunkturtheorie Gegenstand der Konjunkturtheorie ist die Erklärung der Konjunkturzyklen. Bereits in den zwanziger Jahren wurden mehr als 200 Ursachenhypothesen gezählt25 • Die damals übliche monokausale ist einer des Vereins für Socialpolitik, N. F., Bd. 71, Berlin 1973, S. 157 -181; Abels, H.: Eine statistische Analyse der Lag - Beziehungen zwischen kon-
junkturrelevanten, makroökonomischen Zeitreihen für die Bundesrepublik Deutschland, Meisenheim a. GI. 1974, S. 35. 23 Eckey, H.-F.: Strukturorientierte Konjunkturpolitik, Köln 1978, S. 38. 24 Tichy, Konjunkturschwankungen, S. 69 ff. 25 Woll, All~emeipe ... / S. 399.
C. Gegenwärtiger Stand der Konjunkturtheorie
25
multikausalen Erklärung gewichen. Eine einheitliche Konjunkturtheorie hat sich bisher nicht herausgebildet26 • Ein überblick über die gegenwärtige Konjunkturtheorie im Rahmen dieser Arbeit kann deshalb nur die einzelnen häufig vertretenen Ursachenhypothesen in ihrem Zusammenwirken darstellen. Gemeinsamer Ausgangspunkt aller modernen Erklärungsversuche ist die obige Definition der Konjunkturschwankungen. Die zyklischen Schwingungen der wirtschaftlichen Aktivität ergeben sich als Folge von Schwankungen der wirksamen Nachfrage im Verhältnis zum Produktionspotential. Das gesamtwirtschaftliche Angebot wird als trendbestimmt betrachtet. Die Ursachen der Zyklen werden in Bestimmungsgründen der Nachfrage gesucht. Den Investitionsausgaben wird vor den anderen Teilaggregaten der Gesamtausgaben (Auslands-, Konsum- und Staatskäufe) meist eine Schlüsselstellung bei der Erklärung des Konjunkturphänomens eingeräumt27 • 1. Multiplikator-Akzelerator-Modell
Die Wirkungszusammenhänge zwischen Investitionen und Schwankungen des Volkseinkommens versucht das Multiplikator-AkzeleratorModell zu erfassen. Obwohl seine erste Formulierung älter als 40 Jahre ist28, ist dieser Ansatz als Denkmodell einer endogenen, mechanistischen und real wirtschaftlichen Konjunkturerklärung immer noch Grundlage der modernen Konjunkturtheorie21J • Die Kritik an den Annahmen dient als Ausgangspunkt für verfeinerte Hypothesen über die Ursachen der Konjunkturschwankungen. Das Konzept soll in der Version von Hicks 30 kurz beschrieben werden. Der Multiplikator - erster Baustein des Modells - erfaßt die Wirkung einer autonomen Nachfragesteigerung auf das Volkseinkommen. Steigen z. B. die Investitionsausgaben, so wird c. p. in dieser Höhe zusätzlich produziert und Einkommen geschaffen. Gemäß der marginalen Konsumneigung wird ein Teil des Einkommenszuwachses konsumiert. In dieser Höhe entsteht c. p. wiederum Einkommen, das z. T. in Kon26
Dürr; Neuhauser, S. 100.
Ebenda, S. 101. Samuelson, P. A.: A Synthesis of the Principle of Acceleration and the Multiplier, in: The Journal of Political Economy, Vol. 47 (1939), S. 786 ff. 29 Kromphardt, J.: über den heutigen Stand der Konjunkturtheorie, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Bd. 193 (1978), S. 98; Torklus, R. v.: Das Zusammenwirken von Multiplikator und Akzelerator in der Konjunkturtheorie, in: Konjunkturpolitik, 13. Jg. (1967), S. 204. 30 Hicks, J. R.: A Contribution to the Theory of the Trade Cycle, Oxford 1950, 5. Aufl. 1961. 27 28
26
III. Wirtschafts theoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
sumausgaben fließt. Den insgesamt resultierenden Einkommenszuwachs in Relation zu der ursprünglichen Nachfragesteigerung drückt der Multiplikator aus. Wird das Modell einer geschlossenen Volkswirtschaft durch die Gleichungen y = C Y = C
+I
(Entstehungsseite),
+S
(Verwendungsseite),
die Verhaltensgleichung C = c . Y und die Gleichgewichtsbedingung 1= S wiedergegeben, dann ergibt sich aus Y = cY
+ I bei einer Erhöhung der Investitionen um dI durch Differen-
zierung nach der Zeit dY
=
1
-l--dI. -c
Dabei ist Y: Volkseinkommen I : Investitionsausgaben
C: Konsumausgaben S : Ersparnis c: marginale Konsumneigung. 1
Der Muliplikator -1-- ist um so größer, je größer die marginale Kon-c
sumneigung ist. Die Multiplikatorformel kann in unterschiedlicher Weise gedeutet werden31 • Bezeichnet dI einen einmaligen Investitionsstoß, gibt dY die Summe aller Volkseinkommenssteigerungen an. Steht dI für eine dauernde Investitionserhöhung, gibt die Formel die Einkommenssteigerung pro Periode im neuen Gleichgewicht gegenüber der Ausgangssituation an. Hicks geht in seinem Modell von im Zeitablauf wachsenden autonomen Investitionen aus. Das Akzeleratorprinzip - zweiter wesentlicher Baustein des Modells - besagt, daß die Höhe der induzierten Investitionen in konstantem Verhältnis zur Änderung der Nachfrage bzw. der Produktion steht. Bei Hicks bestimmt der Einkommenszuwachs der Vorperiode verbunden mit dem Akzelerator ß die Höhe der induzierten Investitionen
31
Besters, H.: Stichwort "Multiplikator", in: Staatslexikon, Bd. 5, Freibl,lrg
1960, Sp. 849 f.
c. Gegenwärtiger Stand der Konjunkturtheorie
27
Schwankungen können erst aus dem Zusammenwirken von Multiplikator und Akzelerator hergeleitet werden. Das Modell von Hicks läßt sich in folgenden Gleichungen ausdrücken: Konsumfunktion C t = cY t-1 Funktion der autonomen Investitionen I t = 10 (1
+ w)t
Funkion der induzierten Investitionen I;nd =
Definitionsgleichung Y t = Ct
+
ß (Y t - 1 I;nd
+h
Y t - 2)
Daraus ergibt sich die Bestimmungsgleichung des Volkseinkommens Y t = cY t - 1
+ ß (Y t - 1 -
Y t - 2)
+ 10 (1 +w)t.
Als Lösung dieser inhomogenen Differenzengleichung zweiter Ordnung 32 lassen sich mehrere Fälle unterscheiden: c 2:: c
C
wert,
< 2 Vß - ß, ß< 1;
ß= c
2V7f- ß, ß 1;
2:: 2 Vß- ß, ß> 1;
explodierende Schwingungen von Y t, exponentiell explosive Bewegung von Yt ·
Für die Fälle explodierender Bewegungen des Volkseinkommens führt Hicks einen Vollbeschäftigungsplafond als Obergrenze und das Unterlassen von Reinvestitionen als Untergrenze ein. Zykliche Bewegungen des Volkseinkommens können mit Hilfe des Modells von Hicks simuliert werden. Zu Beginn des Auf- und Abschwungs verstärken sich die Wirkungen des Multiplikators und des Akzelerators. Bei den Wendepunkten wirken Multiplikator und Akzelerator entgegengesetzt. Der Multiplikator führt zu gedämpften Zuwachs- (bzw. Kontraktions-)raten des Sozialprodukts. Die induzierten Investitionen reagieren auf eine Veränderung der Wachstumsrate, so daß die Entwicklung des Sozialprodukts schließlich umgekehrt wird. Die Kritik an dem Multiplikator-Akzelerator-Modell greift sowohl die Annahmen über das Konsumverhalten als auch diejenigen über die Investitionsentscheidungen an. Die Determinanten der beiden Funktionen werden als nicht ausreichend angesehen und überdies die Unveränderlichkeit der Verhaltenshypothesen im Zeitablauf bemängelt. 32 Lösung bei Ott, A.: Einführung in die dynamische Wirtschaftslehre, Göttingen 1963, S. 196 ff.
28
III. Wirtschafts theoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
Daraus resultiere eine mechanistische Konjunkturerklärung, die die komplexen und variablen Ursachenkonstellationen nur unzureichend wiedergebe 33 • Die Kritik im Detail ist zugleich Ausgangspunkt für neuere, verfeinerte Erklärungshypothesen zum Konjunkturverlauf. 2. Ergänzende Erklärungshypothesen zum unteren Wendepunkt und zum Aufschwung
Diejenigen Ursachen, die für eine Wiederzunahme der Kapazitätsauslastung verantwortlich gemacht werden, wirken im Aufschwung weiter, so daß eine getrennte theoretische Erklärung des unteren Wendepunktes und des Aufschwungs nicht sinnvoll erscheint34 • Die Auslands- und die Staatsnachfrage35 fehlen im Multiplikator-AkzeleratorModell von Hicks. Gerade diese beiden Komponenten gelten heute aber als wesentliche Triebkräfte auf dem Wege aus der Talsohle. a) Auslandsnachfrage
Die Hypothese, daß gerade in Aufschwungphasen die Zunahme der Exportüberschüsse zu einer entscheidenden Stütze der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage wird, läßt sich für die ersten 4 Nachkriegszyklen in der Bundesrepublik empirisch nachweisen36 • Der Grund für dieses Phänomen liegt nicht allein in der strukturellen Exportorientierung der deutschen Wirtschaft, die bei einer nachlassenden inländischen Nachfrage über die Auslandsmärkte Aufträge zur Stützung des Beschäftigungsniveaus sucht. Entscheidend ist eine entsprechend hohe Nachfrage des Auslands gerade in der Rezession, was in der Regel auf eine gegenläufige Konjunkturentwicklung im In- und Ausland zurückgeführt wird 37 • Eine Hochkonjunktur in anderen Ländern ist verbunden mit Lieferengpässen und Preissteigerungen. Die freien Kapazitäten im Inland bedeuten Lieferfähigkeit und gerade bei längerer Rezessionsdauer eine Preisstabilisierung, die bei festen Wechselkursen (wie in den ersten 4 Nachkriegszyklen) inländische Erzeugnisse billiger als ausländische Produkte werden läßt, so daß die Auslandsnachfrage nach inländischen Erzeugnissen sich erhöht. Dieser Zusammenhang gilt auch bei flexiblen Wechselkursen, wenn der Aufwertungseffekt steigender Exporte durch Kapitalexporte - hervorgerufen durch eine ZinsdiffeVgl. z. B. v. Torklus, S. 230. Anders Tichy, Konjunkturschwankungen, S. 157 ff. 35 Besters, H.: Stabilitätspolitik muß nicht weh tun, in: Die Wirtschaftswoche, 24. Jg. (1970), Heft 48, S. 76. 36 Vgl. Teichmann, S. 21 f. 37 Dürr; Neuhauser, S. 108. 33 34
C. Gegenwärtiger Stand der Konjunkturtheorie
29
renz aufgrund der unterschiedlichen KonjunkturIage - kompensiert wird. Notwendige Bedingung für den Exportimpuls in der Rezession ist aber die Gegenläufigkeit der konjunkturellen Phasen. Die exzessiven Ölpreiserhöhungen 1973/74 erzwangen einen weitgehenden Gleichlauf der Weltkonjunktur, so daß eine derart starke Zunahme der Exportüberschüsse wie in früheren Zyklen nicht mehr beobachtet wurde. b) Expansive Wirtschaftspolitik
Ein Anteil am Bruttosozialprodukt von über 40.0/ 038 ermöglicht es dem Staat, Einfluß auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu nehmen. Die expansive Wirtschaftspolitik wird als zweite wesentliche Determinante des beginnenden Aufschwungs in der Bundesrepublik angesehen. Zur Belebung der Konjunktur steht dem Staat ein reichhaltiges Instrumentarium zur Verfügung, das an dieser Stelle nur in seinen Grundzügen skizziert werden kann. Im Rahmen der antizyklischen Fiskalpolitik kann die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen (z. B. Bauinvestitionen) gesteigert werden, so daß unmittelbar Einkommen entsteht und sich die Effekte des oben abgeleiteten Investitionsmultiplikators ergeben. Zahlungen ohne Gegenleistung - Transferzahlungen an private Haushalte, Subventionen an Unternehmen - steigern ebenfalls die Nachfrage. Da diese übertragungen das Volkseinkommen nicht unmittelbar erhöhen, fällt der Multiplikatoreffekt c. p. geringer aus. Die Steuern können gesenkt werden, wobei je nach Ausgestaltung eine allgemeine Erhöhung des verfügbaren Einkommens (z. B. Senkung der Einkommensteuerschuld) oder eine gezielte SteuererIeichterung (z. B. degressive Abschreibung zur Förderung der Investitionsbereitschaft) möglich ist. Die Geldpolitik vermag durch ein ausreichendes Geldangebot und günstige Zinskonditionen sowohl die staatliche Verschuldung als auch die private Nachfrage zu fördern. Die Ansicht, daß die wirtschaftspolitische Beeinflussung des KonjunkturverIaufs als exogene Konjunkturdeterminante anzusehen ist39 , kann nicht mehr als unumstritten gelten. Neuerdings versucht die "ökonomische Theorie der Politik", die Beziehung zwischen politischen Handlungen und wirtschaftlichen Situationen mit Hilfe des wirtschafts38 Für das Rezessionsjahr 1975 wurde sogar die Rekordmarke von 48,1 6 / 0 errechnet. Kritisch dazu Peffekoven, R.: Begriff und Aussagefähigkeit der Staatsquote, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt), 6. Jg. (1977),
S.210. 39
Dies ist die vorherrschende Meinung. So z. B. Woll, Allgemeine ... , S. 400.
30
UI. Wirtschafts theoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
wissenschaftlichen Instrumentariums zu analysieren40 • Ein Grundgedanke dieser Theorie besagt, daß Politiker aus persönlichem Machtstreben mit unterschiedlichen Programmen um die Wählerstimmen konkurrieren. Eine rezessive Wirtschaftsentwicklung mindert die Wiederwahlchancen der regierenden Partei, weil sie durch eine gezielte Wirtschaftspolitik das Blatt nicht zu wenden vermochte. Eine Regierung wird, besonders vor Wahlen, eine Wirtschaftslage mit hohem Beschäftigungsstand und geringer Inflationsrate anstreben und deshalb in der Rezession eine expansive Wirtschaftspolitik betreiben41 • Nach empirischen Untersuchungen läßt sich ein ausgesprochener "politischer Konjunkturzyklus" nicht nachweisen42 • c) Investitionsverhalten
Verstärkte Exportüberschüsse und die staatliche Nachfragebelebung halten die im Abschwung herrschende Tendenz zur fortschreitenden Unterauslastung des Produktionspotentials auf und geben erste Impulse für den Aufschwung. Allerdings lastet die erstarkte Auslandsund Staatsnachfrage vornehmlich die Kapazitäten bestimmter Branchen (exportorientierte Industriezweige, Bauindustrie) aus. Es fragt sich, ob und wie diese Nachfragestöße weitere Wirtschaftsbereiche erfassen können. Im oben beschriebenen Hicks-Modell reagiert die Konsumnachfrage nach einer Periode auf die Veränderung des Volkseinkommens. Diese Verhaltenshypothese konnte in der Realität nicht bestätigt werden. Die vorhandene Nachfragebelebung führt zunächst zu keiner Erhöhung der Lohneinkommen, da die verbreitete Unterbeschäftigung realen Lohnsteigerungen entgegensteht und eine für die Rezession typische innerbetriebliche Unterbeschäftigung überstunden oder sogar NeueinsteIlungen verhindert. Ein multiplikativer Einkommenseffekt fehlt deshalb in dieser Phase. Da neben den Lohnkosten auch die anderen Kostenbestandteile relativ stabil sind, führen die erhöhten Erlöse zu einer Gewinnexpansion im frühen Aufschwung. Damit wird eine Determi40
Vgl. Downs, A.: Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968;
Frey, B.: Entwicklung und Stand der Neuen Politischen Ökonomie, in: H. P.
Widmaier (Hrsg.), Politische Ökonomie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt a. M. 1974, S. 30 - 63. 41 Schneider, F.: Politisch-ökonomische Konjunkturzyklen: Ein Simulationsmodell, in: Schweizerische Zeitschr. für Volkswirtschaft und Statistik, 110. Jg. (1974), S. 519 - 549. 42 Lenk, R.; Dinket, R.: Fiskalpolitik in der Demokratie. Eine empirische überPrüfung der Theorie vom politischen Konjunkturzyklus für die Bundesrepublik Deutschland, in: Wirtschaftskonjunktur, Monatsberichte des IfoInstituts für Wirtschaftsforschung, 31. Jg. Heft 1, 1979, S. 1 - 16.
C. Gegenwärtiger Stand der Konjunkturtheorie
31
nante des Investitionsverhaltens angesprochen. Der Investition wird eine entscheidende Rolle für die weitere Konjunkturentwicklung zugeschrieben, wobei zwischen Lager- und Anlageinvestitionen zu unterscheiden ist. Lagerinvestitionen sind angesichts des mehrmaligen Umschlags im Jahr häufiger und risikoloser gestaltbar als langfristige Investitionen. Die Unternehmen streben eine bestimmte Relation zwischen Lagerhaltung und Absatz an, die sich im Aufschwung vergrößert und im Abschwung verringert, wie sich in empirischen Untersuchungen herausstellte43 • Eine Zunahme des Absatzes regt deshalb unmittelbar eine überproportionale Zunahme der Lagerinvestitionen an, so daß das Akzelerationsprinzip insoweit prinzipiell Geltung erlangt. Bei Anlageinvestitionen gilt diese enge Bindung an die gegenwärtige Nachfrage nicht. Theoretische und empirische Untersuchungen heben die Gewinnerwartungen als Bestimmungsgrund der Investitionsfunktion hervor4 4 • Die gegenwärtigen Gewinne bestimmen den Finanzierungsspielraum als Nebenbedingung mit. Die Anschaffung von Wirtschaftsgütern mit langer Kapitalbindung hängt in hohem Maße von Risikoerwägungen ab. Ist die vorhandene Kapazität ausgelastet, stellt sich die Frage, ob die künftige Nachfrage die Anlagekosten und darüber hinaus eine betriebsintern gesetzte Mindestrendite deckt. Dies hängt von der Einschätzung der weiteren Konjunkturentwicklung ab. Psychologische Momente, auch als Konjunkturklima bezeichnet, gelangen ins Kalkül45 • Nach einer langen Rezession können die Erwartungen über die zukünftigen Wirtschaftsentwicklungen so pessimistisch sein, daß Erweiterungsinvestitionen unterlassen werden. Der Aufschwung droht dann auszulaufen, bevor die Vollbeschäftigung erreicht ist, ein von der Theorie bisher vernachlässigter46 , aber durchaus denkbarer Verlauf. Eine optimistische Einschätzung der künftigen Nachfrageentwicklung, die durch eine milde Rezession oder durch einen anfangs kräftigen Wiederaufschwung bedingt sein kann, löst bei Vollbeschäftigung der vorhandenen Kapazitäten Erweiterungsinvestitionen aus, die ihrerseits den Auslastungsgrad in den Investitionsgüterindustrien erhöhen. Ein nachfrageinduziertes Investitionsverhalten, das die primären Export- und Staatsimpulse weiterleitet, ist daher nicht ausgeschlossen, wenngleich das psychologische Moment des Konjunkturklimas über die Wirksamkeit dieses Anlagenakzelerators entscheidet. Vgl. Tichy, Konjunkturschwankungen, S. 158. Teichmann, S. 25 ff. m. w. N. 45 Jöhr, W.: Gegenwartsfragen der Konjunkturtheorie, Nationalökonomie und Statistik, Bd. 178 (1965), S. 56 f. 46 Vgl. Tichy, Konjunkturschwankungen, S. 161. 43
44
in: Jahrbücher für
32
III. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
Daneben werden in der Literatur weitere Investitionshypothesen genannt, die eine Wende zum Aufschwung unterstützen. Nach einer längeren Rezession tritt ein verstärkter Ersatzbedarf an Kapitalgütern auf (sog. Reinvestitionswellen)47. Investitionswellen können auch durch revolutionierende Erfindungen 48 oder die Erschließung neuer Märkte 49 ausgelöst werden. Schließlich begünstigen niedrige Zinssätze Projekte mit langer Kapitalbindung bei geringem Risiko wie den Wohnungsbau. Diese Hypothesen können nur flankierende Nachfrageimpulse, nicht aber einen dauerhaften Aufschwung erklären. d) Entwicklung der privaten Konsumnachfrage
Das Einkommen wird als zentraler Bestimmungsgrund der privaten Konsumnachfrage angesehen. Das Einkommen der gegenwärtigen bzw. der vergangenen Periode, wie es die Konsumfunktionen von Keynes 50 bzw. Robertson 51 enthalten, tritt dabei in den Hintergrund. Die Ausrichtung des Verbrauchs am erreichten Konsumstandard oder demjenigen der "Nachbarn" (relative Einkommenshypothese 52 ) und das periodisierte Lebenseinkommen (permanente Einkommenshypothese 53) gelten heute als herrschende Erklärungsansätze. Beide können das empirische Phänomen des "ratchet-effect" erklären. Der Verbrauch geht im Abschwung nicht im gleichen Maße zurück wie das Volkseinkommen, weil das als angemessen betrachtete Konsumniveau nur widerstrebend unterschritten wird. Der Konsum, die größte Nachfragekomponente, dämpft die rezessive Entwicklung. Diese Nachfragestabilisierung ist eine wesentliche Voraussetzung für die Wende zum Aufschwung. Die marginale Konsumneigung ist also entgegen der Annahme des Hicks-Modells im Abschwung nicht konstant. Weitere Impulse sind von der Verbrauchsgüternachfrage im beginnenden Aufschwung nicht zu erwarten, weil die Masseneinkommen noch auf einem niedrigen Niveau liegen. Allenfalls eine Welle von Nachholbedarf an langlebigen Konsumgütern nach einer längeren Rezessionsphase vermag in den betreffenden Branchen expansive Effekte auszulösen. 47
48 49
Giersch, Konjunktur ..., S. 33. Duesenberry, J.: Business Cycles and Economic Growth, New York 1958. Hansen, A.: Business Cycles and Economic Income, New York 1951,
Part I.
50 Keynes, J. M.: The General Theory of Employment, Interest and Money, New York 1936, S. 96. 51 Robertson, D.: Saving and Hoarding, in: The Economic Journal, Vol. 43
(1933), S. 399 - 413. 52 Zuerst Duesenberry, J.: Income, Saving and the Theory of Consumer Behaviour, Cambridge/Mass. 1949. 53 Friedman, M.: A Theory of the Consumption Function, Princeton (N. J.) 1957.
c. Gegenwärtiger Stand der Konjunkturtheorie
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Eine wesentliche Belebung der Konsumnachfrage bringt erst der Anstieg der Lohneinkommen im Verlauf der Expansion mit sich. Die Auslastung der vorhandenen Kapazitäten zieht zunächst verstärkt überstunden nach sich. Die Lohnsumme erhöht sich zusätzlich, wenn im Zuge von Erweiterungsinvestitionen neue Arbeitskräfte eingestellt werden. Der bei Fachkräften frühzeitig beginnende Nachfrageüberhang am Arbeitsmarkt führt zu Effektivlohnsteigerungen. Die Lnhndrift setzt ein. In Tarifverhandlungen werden die Lohnverbesserungen verbindlich fixiert, wobei die Unternehmer angesichts der günstigen Auftragsund Gewinnlage keinen großen Widerstand leisten. Mit der Zunahme der Lohneinkommen läuft eine Änderung des Konsumverhaltens parallel. Das im frühen Aufschwung zögernde Kaufverhalten weicht einem zunehmenden Optimismus über die weitere Konjunkturentwicklung. Die Konsumneigung nimmt wieder zu 54 • Beide Faktoren bewirken eine breite Erhöhung der Konsumnachfrage, die neben den Investitionen ..mr Stütze des Aufschwungs wird. Damit setzt der im Hicks-Modell postulierte kumulative Prozeß ein. Der zusätzliche Konsum erhöht die Kapazitätsauslastung und induziert Lager- und Anlageinvestitionen, die ihrerseits Einkommen schaffen und zu weiteren Konsumausgaben anregen. Gegenüber den starren Verhaltensannahmen des Multiplikator-Akzelerator-Modells ergibt sich insofern eine Modifikation, als die zukünftige Entwicklung zunehmend antizipiert wird. An die Stelle von Kapazitätsanpassung an die gestiegene Nachfrage treten "offensivere Lösungen", die auf die künftige Nachfragesteigerung zugeschnitten sind. Ebenso werden bei der Konsumnachfrage zukünftige Einkommenssteigerungen einbezogen. Immer weitere Bereiche der Volkswirtschaft werden durch diesen kumulativen Prozeß vom Aufschwung erfaßt. Das gesamtwirtschaftliche Produktionspotential wird zunehmend ausgelastet. 3. Ergänzende Erklärungshypothesen zum oberen Wendepunkt und zum Abschwung
Diejenigen Ursachen, die als Erklärung der Wende zu einer abnehmenden Kapazitätsauslastung gelten, wirken auch im Abschwung weiter, so daß eine gemeinsame Behandlung beider Konjunkturphasen gerechtfertigt erscheint. Die Ausgangssituation der Hochkonjunktur ist gekennzeichnet durch eine hohe Kapazitätsauslastung, die sich nach und nach in den meisten Branchen einstellt. Dieser Zustand kann über eine längere Zeit bestehen55 • Die Nachfrage, die vornehmlich von Investitionen und Kon54
Teichmann, S. 37.
3 Rehhahn
34
III. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
sum getragen wird, wächst schneller als das Produktionspotential. Die Konsumenten und Investoren rivalisieren um die knappen Produktionsfaktoren. Die Lieferfristen und die Preise steigert. Die Preisentwicklung kann in dieser Phase sowohl auf den bestehenden Nachfrageüberhang als auch auf eine über die Produktivitätsentwicklung hinausgehende autonome Preissetzung seitens der Unternehmer oder der Tarifparteien zurückgeführt werden (sog. nachfrage- und angebotsorientierte Inflationserklärung). Der kumulative Anstieg des Sozialprodukts vollzieht sich zunehmend in nominellen Steigerungen, während der Output mit einer geringeren Rate wächst. a) Auslandsnachfrage
Unter der gleichen Bedingung wie in der Depression - Gegenläufigkeit der Konjunkturentwicklungen im In- und Ausland - können die Außenwirtschaftsbeziehungen in der Hochkonjunktur zur Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage beitragen. Eine Rezession im Ausland dämpft die Exportnachfrage, während der inländische Nachfrageboom das Importvolumen ansteigen läßt. Eine zunehmende Preisniveausteigerung im Inland verteuert die Exporte und verbilligt relativ die Importe. Die Wirkung dieser Einkommens- und Preismechanismen wird durch flexible Wechselkurse (im vorliegenden Fall eine Abwertung) tendenziell ausgeglichen. Allerdings sind die Kapitalbewegungen mit einzubeziehen. Liegt infolge einer kontraktiven Geldpolitik der Zinssatz im Inland höher als im Ausland, steigt der Kapitalimport und wirkt damit einer Abwertung der Binnenwährung entgegen56 • Der Dämpfungseffekt der außenwirtschaftlichen Komponente sollte allerdings nicht überschätzt werden. Zum einen beruht er auf der Gegenläufigkeit der Zyklen im In- und Ausland. Zum anderen können etwaige Exportausfälle im Boom von der heimischen Nachfrage weitgehend kompensiert werden, so daß - anders als in der Rezession - ein stärkerer Impuls zur Änderung der Kapazitätsauslastung nicht entsteht. b) Kontraktive Wirtschaftspolitik
Die aus dem Verteilungskampf zwischen Lohn- und Gewinneinkommensbeziehern erwachsende Tendenz zur Steigerung der Inflationsrate ruft wirtschaftspolitische Maßnahmen der Regierung hervor. Sie gelten als wesentlicher Faktor der Wende zum Abschwung. 55 Tichy, G.: Empirische und theoretische überlegungen zur neuen Form der Konjunkturschwankungen, in: A. ott (Hrsg.), Wachstumszyklen, S. 145. 56 Dazu Giersch, Konjunktur ... , S. 39 ff.
c. Gegenwärtiger Stand der Konjunkturtheorie
35
Die kontraktiven Instrumente können an dieser Stelle nur kurz umrissen werden. Zur Senkung der übernachfrage können Steuererhöhungen vorgenommen werden, die das verfügbare Einkommen verringern. Der Investitionsboom kann gezielt durch eine Investitionssteuer oder Abschreibungserschwernisse bekämpft werden. Eine Schwäche dieser Maßnahmen besteht in möglichen überwälzungsversuchen der Betroffenen. Eine antizyklische Fiskalpolitik kann aber auch durch eine Senkung der Staatsausgaben betrieben werden. Die Steuereinnahmen, die nicht allein durch den automatischen Stabilisator der Einkommensteuerprogression in der Hochkonjunktur reichlich fließen, werden zum Teil thesauriert. Mit einer restriktiven Geldpolitik kann auf die monetäre Nachfrageentwicklung dämpfend eingewirkt werden. Die Wirkung der Dämpfungsmaßnahmen setzt vielfach erst ein, wenn Engpässe in einer Vielzahl von Sektoren bereits eingetreten sind und die Inflationsrate hoch ist. Dieser Umstand bietet eine mögliche Erklärung dafür, daß der Wachstumspfad des Sozialprodukts zeitweilig an der Kapazitätsgrenze entlangläuft. Eine weitere Ursache kann in dem verspäteten Erkennen der Konjunkturphase liegen (sog. Erkenntnis-lag). Die einzelnen Branchen erreichen die Kapazitätsgrenze nicht gleichzeitig, so daß die Konjunkturindikatoren zu Beginn der Hochkonjunktur kein klares Bild zeichnen. Das maximale Produktionspotential läßt sich im Sinne einer exakten Größe ohnehin nicht ermitteln. Als entscheidender Grund wird allgemein das Zögern der Regierung angesehen, die kontraktiven Maßnahmen zu beschließen (Entscheidungs-lag)57. Angesichts voller Staatskassen kann die Exekutive ohne nachhaltigen Verlust an Popularität die Staatstätigkeit nicht einschränken, solange die Eingriffsnotwendigkeit noch nicht allgemein ersichtlich ist. Auch die Zeitspanne zwischen Durchführung und Wirksamkeit der kontraktiven Maßnahmen (Wirkungs-lag) kann erheblich sein, wenn die Wirtschaftssubjekte sich gegen die Einschränkungen zur Wehr setzen. Die überwälzungsversuche rufen u. U. weitere Preissteigerungen hervor. Ein verstärkter Einsatz antizyklischer Instrumente ist die Folge. Schließlich kann die exzessive Nachfrageentwicklung zwar gestoppt werden. Die starke Dosierung läßt die Wirtschaftspolitik aber zu einem wesentlichen Faktor des Abschwungs werden, zum al die Inflationsrate nur langsam zurückgeht und die Beibehaltung der restriktiven Politik verlangt. Der Globalsteuerung wird von einem Teil der Literatur vorgeworfen, daß sie aufgrund des verzögerten Einsatzes und der ungenauen Dosierung häufige Korrekturen erfordere. Diese "Stop-and-go-policy" führe zu einer Verunsicherung der Wirtschaftssubjekte und sei als Haupt57 BeYfuss, J.: Regelmechanismen Konjunkturpolitisches Konzept der Zukunft? in: Beiträge des Deutschen Industrieinstituts, 8. Jg., Heft 3, Köln 1970, S. 16 f., 26.
3·
36
IH. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
ursache der Konjunkturschwankungen anzusehen58 • Diese zyklenverstärkende Wirkung der diskretionären Konjunkturpolitik wird als wesentliches Argument für konjunkturpolitische Regelbindungen ins Feld geführt. c) Investitionsverhalten
Wie im Aufschwung wird dem Investitionsverhalten im "Boom" eine Schlüsselstellung bei der Erklärung der Wende zum Abschwung zugesprochen59• Im Modell von Hicks wird der Akzelerator mit Erreichen der Kapazitätsgrenze unwirksam. Wenn die Produktion und der Absatz sich kurzfristig nicht mehr vergrößern, werden keine weiteren Anlageinvestitionen angeregt. Bei Lagerinvestitionen ist die gewünschte Relation zum Absatz erreicht. Für weitere Investitionen spricht in der Praxis aber die Erwartung erhöhter Preissteigerungen, die mit zunehmender Inflationsrate auftritt. Ein Vorziehen von Investitionen und eine Sicherung des Vermögens in Sachwerten bietet sich an, solange Absatzmöglichkeiten (Lieferfristen) bestehen. Eine hohe Investitionsnachfrage am Ende der Boomphase erscheint deshalb denkbar. Staatliche Sparmaßnahmen wirken sich vor allem bei öffentlichen Investitionen aus, die die Kapazitätsauslastung in bestimmten Branchen (z. B. Bauindustrie) entsprechend herabdrücken. Diese kontraktiven Impulse setzen sich in den Zulieferindustrien fort. In der Hochkonjunktur entsteht ein Mangel an Arbeitskräften, so daß neue Anlagen nur unter Schwierigkeiten und erhöhten Kosten in Betrieb genommen werden können bzw. geplante Projekte zurückgestellt werden. Die Produktivität neuer Projekte ist relativ niedrig, weil die rentabelsten Projekte frühzeitig realisiert wurden60 • Zunehmende Inflationsraten und die Ungewißheit der weiteren Preisentwicklung erschweren die Berechnung der Rentabilität von Investitionsprojekten. Als wesentliche Ursache der Wende im Investitionsverhalten wird die Verteilungskorrektur zugunsten der Lohneinkommen im Zusammen58 Z. B. Gerber, B.: Stabilitätspolitik, Freiburg 1976, S. 134 ff.; Lundberg, E.: Postwar Stabilization Policies, in: Bronfenbrenner, M. (Hrsg.), Is the Business Cycle Obsolete? New York 1969, S. 495 ff. 59 Z. B. Dürr; Neuhauser, S. 107. 60 Tichy, Konjunkturschwankungen, S. 163. Diese Hypothese ist m. E. fraglich. weil sich im Zeitablauf neue Marktchancen bieten.
c. Gegenwärtiger Stand der Konjunkturtheorie
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wirken mit der staatlichen Kontraktionspolitik gesehen61 • Der Erhöhung der Gewinnquote in der Erholungsphase folgen im Laufe des Aufschwungs Lohnerhöhungen, die über den Produktivitätszuwachs hinausgehen. Sobald diese Kostensteigerungen nicht mehr durch Preiserhöhungen abgefangen werden können, ändert sich die Einkommensverteilung zugunsten der Löhne. Die Preisüberwälzung wird durch das Zusammenwirken einer kontraktiven Geld- und Fiskalpolitik zunehmend verhindert. Dadurch werden mehrere Investitionsdeterminanten betroffen. Die kontraktive Geldpolitik verschlechtert allmählich den Liquiditätsstatus der Unternehmen. Die erwartete Rentabilität der geplanten Investitionen wird aufgrund der Preis- und Kostenentwicklung niedrig eingeschätzt. Dies gilt um so mehr, als bei verringerter Gewinn- und Selbstfinanzierungsquote verstärkt auf teure Kredite zurückgegriffen werden muß. Darüber hinaus drückt die Nachfragedämpfung aufgrund der kontraktiven Fiskalpolitik die Renditeerwartungen. Geplante Investitionen können daher sowohl aus Liquiditäts- als auch aus Rentabilitätsüberlegungen aufgegeben werden. Der Gleichlauf der Tarifabschlüssse und die makroökonomische Wirkungsbreite der Geld- und Fiskalpolitik führen dabei zu einem Investitionsausfall in weiten Bereichen der Volkswirtschaft. Der Verhaltenswandel tritt nicht unmittelbar mit Einsatz der Geldund Fiskalpolitik ein. Die investitionshemmenden Einflüsse kommen bei noch optimistischer Konjunkturstimmung zunächst nicht zur Geltung. Eine plötzlich eintretende Welle pessimistischer Absatzerwartungen in einzelnen Branchen läßt die Investitionsnachfrage zurückgehen. Der kontraktive Impuls setzt sich über Auftragsstornierungen schnell in weiteren Investitionsgütersektoren fort. Die Lagerinvestitionen reagieren besonders sensibel. Angesichts des Nachfragerückgangs erscheint die Lagerhaltung zu groß, so daß zeitweilig überhaupt nichts bestellt wird. Dies treibt den Abschwung weiter voran, so daß neue Lageranpassungen vorgenommen werden. Ein Akzelerationsprozeß der Desinvestition kommt in Gang. Die Anlageinvestitionen werden nach Möglichkeit noch vollendet, neue Projekte im Hinblick auf die fortschreitende Unterauslastung der Kapazitäten aber nicht begonnen. Im weiteren Verlauf des Abschwungs werden vor allem Rationalisierungsinvestitionen getätigt, um unter Wettbewerbsdruck Kostenvorteile zu erringen. Die Inflation, die aufgrund des Preissetzungsverhaltens zunächst noch vorherrscht (Kostendruckinflationshypothese), zwingt zur Beibehaltung der kontraktiven Wirtschaftspolitik. Im fortschreitenden Abschwung 61
Z. B. Kromphardt, J.: Wachstum und Konjunktur, Göttingen 1972, S.
202 ff.
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III. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
führen Liquiditätsengpässe bei Unternehmen mit hohem Fremdkapitalanteil zu Illiquiditätskonkursen, was neben Nachfrageausfällen für Vor- und Zwischenprodukte auch die Freisetzung von Arbeitskräften bedeutet und damit die Konsumnachfrage tangiert. d) Entwicklung der privaten Konsumnachfrage
In der Phase hoher Beschäftigung der Produktionsfaktoren setzen die Gewerkschaften erhebliche Lohnsteigerungen durch. Die verfügbaren Einkommen nehmen zu, auch wenn der Steuer- und Abgabenanteil wächst. über die resultierende Entwicklung der Konsumausgaben geben die oben beschriebenen Konsumhypothesen eine unterschiedliche Auskunft. Nach der "permanent income hypothesis" ändert sich das Konsumniveau nur, wenn die Höhe der Einkommenssteigerung nicht erwartet wurde und nunmehr mit einem größeren Lebenseinkommen gerechnet wird. Nach der Aktual-Einkommens-Hypothese folgt der Konsumzuwachs dem Einkommenszuwachs. Gemäß der relativen Einkommenshypothese vermindert ein Gehaltsempfänger seine Konsumquote, wenn er meint, aufgrund einer Erhöhung seines Verdienstes einen höheren Rang in der Einkommenspyramide zu erlangen. Erkennt er schließlich den Gleichschritt der Lohnentwicklung, erhöht er seine Konsumquote wieder62 • Die empirisch belegbare Konsumausweitung in der Hochkonjunktur kann durch eine aufkommende Inflationsmentalität verstärkt werden, die ein Vorziehen von Käufen gerade langlebiger Konsumgüter hervorruft. Schlägt sich die kontraktive Wirtschaftspolitik schließlich in sinkender Kapazitätsauslastung nieder, stehen die Starrheit der Lohnsätze nach unten und der oben erwähnte "ratchet-effect" einer parallelen Abwärtsbewegung der Konsumnachfrage entgegen. Die durch die weiterlaufende Inflation verursachte Kürzung der Realeinkommen wird im allgemeinen durch die erhöhten Lohnabschlüsse ausgeglichen. Da die Unternehmen bei Nachfragemangel ihre Belegschaft zunächst halten, kann der Konsumstandard weitgehend beibehalten werden. Erst wenn der Mangel an Aufträgen zu Kurzarbeit oder gar zu Entlassungen führt, wirkt sich dies in einer sinkenden Konsumnachfrage aus. Arbeitskräfte können auch durch Illiquiditätskonkurse oder Rationalisierungsinvestitionen freigesetzt werden. Auch wenn die Sozialversicherung die Einkommensausfälle zunächst teilweise deckt, ändert sich bei länger andauernder Arbeitslosigkeit das 62
So Teichmann, S. 30 ff.
D. Grundlegende Konzeptionen der Konjunkturpolitik
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Konsumverhalten. Wegen der Unsicherheit über die weitere Beschäftigung steigt die Sparneigung aus dem Vorsichtsmotiv. Der resultierende Konsumausfall führt nun auch in konsumnahen Sektoren zu einer Verringerung der Lager- und Anlageinvestitionen. Dies hat einen weiteren Beschäftigungsrückgang in den vorgelagerten Wirtschaftsstufen zur Folge. Die Konsumnachfrage, die in der Abschwungphase entsprechend der relativen Einkommenshypothese zunächst stabilisierend auf die Einkommensentwicklung wirkt, kann dem Abwärtstrend der Investitionsnachfrage folgen, wenn längerfristig Unterbeschäftigung auftritt. Diese Entwicklung ist aber nicht zwangsläufig. Wirkt die Wirtschaftspolitik der Überauslastung der Kapazitäten frühzeitig entgegen und führt ein nur kurzer Lohn-lag zu geringen Verteilungskämpfen mit mäßigen Lohn- und Preis steige rungen, sind die Bedingungen für einen gedämpften Abschwung ohne größere Freisetzungseffekte gegeben. Mit diesem Aspekt ist bereits ein wesentlicher Hinweis für die Konjunkturpolitik gegeben. D. Grundlegende Konzeptionen der Konjunkturpolitik
Gegenstand der Theorie der Konjunkturpolitik ist die Frage, welche Maßnahmen geeignet sind, Abweichungen vom angestrebten Auslastungsgrad des Produktionspotentials zu korrigieren oder zu verhindern. Die Lösung dieses Problems setzt Annahmen über die ökonomischen Wirkungszusammenhänge der zu steuernden Volkswirtschaft voraus. über diese Zusammenhänge besteht in der Literatur keine einheitliche Meinung, wie bei der Darstellung der gegenwärtigen Konjunkturtheorie bereits deutlich wurde. Heute lassen sich zwei grundlegende Konzeptionen der Konjunkturpolitik unterscheiden, die keynesianische und die monetaristische. Im Rahmen der Auseinandersetzung dieser beiden Richtungen hat auch die Diskussion "Regelbindungen versus diskretionäre Maßnahmen" Bedeutung erlangt. Um den wirtschaftspolitischen Stellenwert einer regelgebundenen Politik und vor allem die konkreten Regelvorschläge zu verstehen, erscheint eine Darstellung der Grundzüge beider Konzeptionen angebracht.
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III. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
1. Keynesianischer Ansatz63
Grundlegend für die keynesianische Konzeption der Konjunkturpolitik ist die These von der Instabilität des privaten Sektors. Diese äußert sich zum einen in Nachfragerückgängen, die im privaten Sektor - vornehmlich bei den Investitionen - ihren Ursprung haben und zu Unterbeschäftigung führen. Zum anderen sind die Marktkräfte nicht in der Lage, ein Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung wiederherzustellen. Die Ursache wird darin gesehen, daß unvollständige Markttransparenz und Marktrnacht den Marktmechanismus in vielen Sektoren außer Kraft setzen oder stark beeinträchtigen. Der Preis-, Lohn- und Zinsmechanismus funktioniert nicht im Sinne der klassischen Theorie, d. h. bei einer Nachfrageänderung bildet sich kein neuer Gleichgewichtspreis, zu dem der Markt geräumt wird. Statt dessen werden vielfach Preise autonom zu hoch festgesetzt, so daß der Nachfrage ein überangebot gegenübersteht mit der Folge einer Produktions- und Beschäftigungseinschränkung. überspitzt formuliert: An die Stelle der die Vollbeschäftigung sichernden Preisanpassung der Klassik tritt bei Keynes die Unterbeschäftigung hervorrufende Mengenanpassung64• Das Nachfragedefizit auf einzelnen Märkten ruft nach keynesianischen Annahmen über das Verhalten der Wirtschaftssubjekte im gesamten privaten Sektor weitere Nachfrageausfälle hervor. Der Konsum hängt vom Volkseinkommen ab. Sinkt die Nachfrage in einzelnen Sektoren und mit ihr die Produktion und Beschäftigung, ergibt sich ein Rückgang des Volkseinkommens und damit eine allgemeine Konsumeinschränkung. Die Ertragserwartungen gehen bei Nachfrageausfall ebenfalls zurück, so daß Investitionen vielfach zurückgestellt werden. Daraus resultiert ein weiterer Volkseinkommens- und Konsumrückgang. Aus der These von der Instabilität des privaten Sektors folgt, daß zur Erreichung der Vollbeschäftigung eine aktive Prozeßpolitik erforderlich ist, die die aufgetretenen Nachfrageschwankungen kompensiert. Die zur Auswahl geeigneter Maßnahmen erforderlichen Annahmen über die ökonomischen Wirkungszusammenhänge sind im sog. keynesia63 Der Ansatz beruht auf den Überlegungen von John Maynard Keynes in: General Theory of Employment, Interest and Money. Wenn an der richtigen Interpretation seiner Gedanken seit der Studie von A. Leijonhufvud: On Keynesian Economics and the Economics of Keynes, New York 1968, auch Zweifel laut geworden sind, gilt die Deutung, die zuerst von Hicks und Hansen vorgenommen wurde, weiterhin allgemein als keynesianischer Ansatz. Vgl. z. B. Schmitt-Rink, G.: Das Keynes-System: Die wirtschaftspolitischen Konsequenzen, in: WISU, 2. Jg. (1973), S. 274 f. 64 Richter, R.: Die Theorie von Keynes in moderner Sicht, in: WISU, 2. Jg. (1973), S. 170 f.
D.
Grundlegende Konzeptionen der Konjunkturpolitik
41
nischen Standardmodell zusammengefaßt. Es soll in seiner einfachen Version ohne Berücksichtigung von Außenhandel, Staatssektor und zeitlichen Anpassungsvorgängen skizziert werden. Das Volkseinkommen (Y) setzt sich aus Konsum (C) und Investitionen (I) zusammen. y = C
+I
(1).
Der geplante Konsum ist eine Abhängige des Volkseinkommens
c
=
C (Y)
(2).
Da die Einkommen nur konsumiert oder gespart werden können, ist auch die geplante Ersparnis (S) eine Funktion des Volkseinkommens
s
=
S (Y)
(3).
Die geplante Investition ist bei gegebenen Ertragserwartungen eine Funktion des Marktzinses (i) I = I
(i)
(4).
Im güterwirtschaftlichen Gleichgewicht stimmen geplante Produktion und Nachfrage überein, d. h. die geplante Ersparnis entspricht der geplanten Investition S (Y) = I
(5).
(i)
Geldwirtschaftliches Gleichgewicht besteht dann, wenn das Geldangebot der Geldnachfrage entspricht. Während das Geldangebot (M) exogen durch die Notenbank festgelegt wird M = Mo
(6),
wird die Geldnachfrage im keynesianischen System in eine vom Volkseinkommen abhängige Nachfrage für Transaktionszwecke (L1)
und eine Nachfrage nach Spekulationskasse (L2), die vom Marktzins bestimmt wird, unterteilt L 2 = L 2 (i)
(8).
Als Gleichgewichtsbedingung für den Geldmarkt gilt dann L 1 (Y)
+ L2
(i) = Mo
(9).
Ein totales makroökonomisches Gleichgewicht existiert bei dem Volkseinkommen und dem Marktzins, bei denen sowohl reales als auch
42
III. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
monetäres Gleichgewicht herrschen. Graphisch läßt sich dieses Gleichgewicht im IS-LM-Diagramm von Hicks darstellen. Die IS-Kurve ist der geometrische Ort derjenigen Kombinationen von Volkseinkommen und Marktzins, bei denen die Bedingung des güterwirtschaftlichen Gleichgewichts erfüllt ist. Die negative Steigung der Kurve folgt aus den impliziten Verhaltensannahmen in den Gleichungen (3) und (4). Ist die Ersparnis hoch, weil das Volkseinkommen hoch ist, muß die zugehörige geplante Investition ebenfalls hoch sein, was bei gegebenen Ertragserwartungen nur bei einem niedrigen Marktzins der Fall ist. Die LM-Kurve gibt diejenigen Kombinationen des Volkseinkommens und des Marktzinses wieder, bei denen ein geldwirtschaftliches Gleichgewicht herrscht. Die Kurve besteht nach Keynes /Hicks aus drei Bereichen. Im Bereich völlig zinselastischer Nachfrage, der sog. Liquiditätsfalle, existiert ein so niedriger Zinssatz, daß die Wirtschaftssubjekte alle nicht für Transaktionszwecke benötigten Geldmittel in der Spekulationskasse halten, weil sie erwarten, daß der Zins nicht weiter fallen, sondern mittelfristig steigen wird und der Kurs festverzinslicher Wertpapiere - für Keynes die Alternative zur spekulativen Kassenhaltung - sinken wird. Graphisch kommt dieser Sachverhalt in einem Verlauf der LM-Kurve parallel zur Abszisse zum Ausdruck. Der daran anschließende Bereich der LM-Kurve weist eine positive Korrelation von Volkseinkommen und Marktzins auf. Ein steigendes Volkseinkommen verlangt eine höhere Transaktionskasse, die angesichts einer gegebenen Geldmenge nur bei erhöhten Zinsen aus der Kassenhaltung für Spekulationszweckegedeckt werden kann. Die LM-Kurve verläuft schließlich parallel zur Ordinate im sog. klassischen Bereich. Das Volkseinkommen hat eine solche Höhe erreicht, daß alle Geldmittel für Transaktionszwecke gehalten werden. Die Kassenhaltung ist in diesem Bereich unabhängig vom Marktzins. Der Schnittpunkt der IS-Kurve mit der LM-Kurve ergibt die Kombination von Volkseinkommen und Marktzins, bei der ein totales makroökonomisches Gleichgewicht herrscht. Dabei muß es sich nicht um das Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung handeln. Die Keynesianer gehen im Gegenteil davon aus, daß eine hochentwickelte Volkswirtschaft in der Regel zu einem Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung neigt. Da ihrer Meinung nach ein enger Zusammenhang zwischen Beschäftigung, Produktion und Nachfrage besteht, müssen beschäftigungssteigernde Maßnahmen die Nachfrage erhöhen. Auf der Grundlage des oben dargestellten keynesianischen Standardmodells lassen sich die verschiedenen Instrumente auf ihre Nachfrage-
D. Grundlegende Konzeptionen der Konjunkturpolitik
43
wirkungen untersuchen. Dies kann anhand des IS-LM-Diagramms ver.anschaulicht werden. Eine Geldmengenerhöhung - Grundfall der expansiven Geldpolitik - führt zu einer Verschiebung der LM-Kurve in horizontaler Richtung nach rechts. Die Lage des Gleichgewichtspunktes (P) und das Steigungsmaß der IS-Kurve entscheiden über die Nachfragewirkungen. Liegt P im völlig zinselastischen Bereich der Liquiditätsfalle, kommt es zu keinen Nachfrage- und Beschäftigungswirkungen. Die zusätzliche Geldmenge verschwindet bei diesem Zinsniveau in der Spekulationskasse. Liegt P im zinselastischen oder im zinsunelastischen Bereich, fließen zwar zusätzliche Geldmittel in die Transaktionskasse. Der Einkommens- und Beschäftigungseffekt hängt aber von der Reagibilität der Investitionen auf Änderungen des Zinssatzes ab. Die überwiegende Mehrheit der Keynesianer geht von einer relativ zinsunelastischen Investitionsnachfrage aus, weil die Investitionsneigung stärker von der erwarteten Nachfrageentwicklung als vom gegenwärtigen Zinsniveau beeinflußt werde. Die IS-Kurve verläuft entsprechend steil. Im Ergebnis sind also keine größeren Einkommenssteigerungen durch monetäre Impulse zu erwarten. Außerdem wird auf die Unbestimmtheit des zeitlichen Eintretens und der Intensität etwaiger monetärer Wirkungen verwiesen. Hinter der Ansicht der mangelnden Effizienz der Geldpolitik steht die überlegung, daß monetäre Maßnahmen nur indirekt auf die Nachfrage wirken, d. h. vom Verhalten der Wirtschaftssubjekte abhängig sind. Der keynesianische Transmissionsmechanismus läuft über den Marktzins. Diese Variable erscheint wegen der zinsunelastischen Investitionsnachfrage bzw. wegen der unsicheren Reaktionen der Wirtschaftssubjekte zur übertragung monetärer Impulse auf den güterwirtsclmftlichen Bereich wenig geeignet. Dies gilt mit Einschränkungen auch für die kontraktive Geldpolitik. Gelingt eine Geldmengenreduktion unter Ausschaltung eines Geldzufiusses aus dem Ausland, passen die Wirtschaftssubjekte analog dem oben geschilderten Verhalten ihre knappen Kassenmittel der hohen wirtschaftlichen Aktivität an, d. h. sie lösen angesichts steigender Zinsen Spekulationskasse zugunsten von Transaktionskasse auf und weichen außerdem - soweit möglich - auf Near-money-Titel aus. Die Einkommenskreislaufgeschwindigkeit steigt und kompensiert zunächst die Reduktion der Geldmenge. Erst erheblich später kommt es zu Liquiditätsengpässen, die eine Einschränkung der Nachfrage erzwingen. Die Wirksamkeit einer kontraktiven Geldpolitik ist zwar prinzipiell vorhanden, ihr zeitlicher Eintritt aber verzögert und nicht genau vorhersehbar.
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I1I. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
Fiskalpolitische Maßnahmen wirken sich in der Rezession nach keynesianischer Ansicht direkt auf die Beschäftigung aus. Eine Erhöhung der Staatsnachfrage vergrößert die gesamtwirtschaftliche Nachfrage unmittelbar. Eine Senkung der Steuern (besonders der Einkommensteuer) oder zusätzliche Transferausgaben wirken zwar nur bei entsprechenden Reaktionen der privaten Wirtschaftssubjekte nachfragesteigernd. Da die Konsumfunktion aber als die eindeutig stabilste makroökonomische Funktion angesehen wird 65 , gilt die Nachfragewirksamkeit als gesichert. Im IS-LM-Diagramm äußert sich eine expansive Fiskalpolitik in einer horizontalen Parallelverschiebung der IS-Kurve vom Ursprung weg, weil die erhöhte Nachfrage zu einem größeren Volkseinkommen führt. Eine Zunahme des Volkseinkommens würde nur dann ausbleiben, wenn die IS-Kurve die LM-Kurve im zinsunelastischen Bereich schneiden würde. In diesem Falle würde die mangelnde Liquiditätsversorgung eine höhere wirtschaftliche Aktivität verhindern, eine für die Rezession unrealistische Annahme. Der enge Zusammenhang zwischen fiskalpolitischen Maßnahmen und der Gesamtnachfrage bedeutet eine gute Vorhersehbarkeit nicht nur der Primärwirkungen, sondern auch eine größere Sicherheit über den Eintritt weiterer multiplikativer Nachfrageeffekte als bei der Geldpolitik. Aus der engen Beziehung zu den Nachfragegrößen wird auch abgeleitet, daß die Einnahme- und Ausgabevariationen schneller wirken als eine Geldmengensteuerung66 • Im übrigen ermöglicht die differenzierte Gestaltbarkeit fiskalpolitischer Maßnahmen gezielte Eingriffe zur Konjunktursteuerung. Der Einsatz fiskalpolitischer Instrumente zur Nachfragedämpfung stößt auf Schwierigkeiten, die aus den obigen einfachen Modellannahmen nicht abzuleiten sind. Ein Teil der Wirtschaftssubjekte versucht, sein Konsumniveau trotz der Einkommenseinbußen durch Entsparen zunächst aufrechtzuerhalten. Während der Nachfrageausfall infolge verminderter Staatsausgaben unverändert eintritt, ergeben sich die weiteren multiplikativen Nachfragewirkungen in geringerem Umfang als bei der expansiven Fiskalpolitik. Gleichwohl erscheinen finanzpolitische Maßnahmen auch in dieser Situation wirksamer als geldpolitische Aktionen, weil bei der Geldpolitik zunächst überhaupt keine Nachfrageeinschränkung zu erwarten ist.
65 Simmert; D.: Alternative Stabilisierungskonzepte: Fiskalismus kontra Monetarismus, in: C. Köhler (Hrsg.), Geldpolitik - kontrovers, Köln 1973, S.18f. 66 Mackscheidt, K.; Stein hausen, J.: Finanzpolitik I, 2. Aufl., Düsseldorf 1975, S. 87.
D. Grundlegende Konzeptionen der Konjunkturpolitik
45
Insgesamt zieht die große Mehrheit der Keynesianer (die Fiskalisten) fiskalpolitische Maßnahmen geldpolitischen Instrumenten vor. Die Dominanz der Fiskalpolitik ist ein wesentliches Kennzeichen der keynesianischen Konjunkturpolitik. Anzumerken ist, daß das dargestellte keynesianische Standardsystem keine Zeitkomponente enthält. Die abgeleiteten Aussagen über die Wirksamkeit geld- und fiskalpolitischer Instrumente haben komparativstatischen Charakter. Anpassungsprozesse, die unter gewissen Bedingungen zu abweichenden Ergebnissen führen, lassen sich nur in dynamischen Modellen untersuchen. Gerade die keynesianische Richtung hat in der Vergangenheit eine Vielzahl komplexer dynamischer Modelle entwickelt, um die eigene Position zu bestätigen. Schließlich ist auf eine weitere Schwäche des obigen Modellansatzes, die Nichtberücksichtigung von Preisniveauschwankungen, hinzuweisen. Die keynesianische Konzeption der Konjunkturpolitik ist nach dem zweiten Weltkrieg zur Leitlinie für die Stabilisierungspolitik in den westlichen Industrieländern geworden. So trägt auch das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. 6. 1967 67 , das wesentliche Instrumente der Prozeßpolitik in der Bundesrepublik gesetzlich umreißt, eindeutig keynesianische Züge 68 • Seit die keynesianisch geprägte Stabilitätspolitik stärkere konjunkturelle Ausschläge als früher zulassen muß, sieht sie sich einer zunehmenden Kritik ausgesetzt. Soweit diese Kritik sich auf die Handhabung der Wirtschaftspolitik und auf institutionelle Schwierigkeiten bezieht, wird sie auch von den Keynesianern geteilt. Als ein wesentlicher Mangel wird die lange Verzögerung der Entscheidung über den Einsatz restriktiver fiskalpolitischer Maßnahmen in der Boomphase angesehen. Die Ausgabenkürzungen und Einnahmenerhöhungen beschränken die Ansprüche der gesellschaftlichen Gruppen an das Sozialprodukt. Gut organisierte Gruppen kämpfen um die Erhaltung ihres "Besitzstandes", wie er bisher z. B. in Form von Subventionen, Transferzahlungen oder Steuervergünstigungen vorhanden war. Ihre Argumentation wird durch das bereits erwähnte Problem, den augenblicklichen Konjunkturverlauf zutreffend zu diagnostizieren, erleichtert. Deshalb werden kontraktive Maßnahmen häufig erst dann beschlossen, wenn die negativen Auswirkungen des Booms allgemein empfunden werden. Das Problem der richtigen Datierung und Dosie67 BGBL I 1967, S. 582 ff.; Änderung durch Gesetz v. 30. 5. 1971 (BGBL I 1971, S. 1426) und v. 18. 3. 1975 (BGBL I 1975, S. 705). 68 Vgl. hierzu Euba, N.; Francke, H.-H.: Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz im Lichte alternativer theoretischer Grundlagen, in: WiSt, 5. Jg. (1976), S. 104 -108.
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IH. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
rung ist in der Praxis bisher unzureichend gelöst. Die Wahl des richtigen Einsatzzeitpunktes einer Maßnahme setzt Kenntnisse über die Bearbeitungszeit innerhalb der Verwaltung und die Reaktionsbereitschaft der Wirtschaftssubjekte voraus. Empirische Untersuchungen über zeitliche Verzögerungen zeigen erhebliche Schwankungen zwischen neun und achtzehn Monaten 69 • Eine Entscheidung über den Umfang einer Maßnahme erfordert weiterhin eine Prognose der Zielabweichung im Zeitraum bis zur Wirksamkeit des Instruments. Die Treffsicherheit von Prognosen beruht auf gesicherten theoretischen Zusammenhängen, die aber in der Konjunkturtheorie nur lückenhaft vorhanden sind, wie oben gezeigt wurde. Fehlentscheidungen aufgrund der Timing- und Dosierungsprobleme können zur Verstärkung der Zyklen führen. Sobald derartige prozyklische Wirkungen erkennbar werden, bemühen sich die Wirtschaftspolitiker, kompensierende Maßnahmen zu ergreifen. Dadurch kann ein ständiger Wechsel von expansiven und kontraktiven Maßnahmen entstehen. Diese sog. "stop-and-go-Politik" verunsichert, so wird kritisiert7°, die Wirtschaftssubjekte und verhindert ein stetiges Wachstum. Aber auch die entgegengesetzte These wird neuerdings gegen die keynesianische Wirtschaftspolitik ins Feld geführt (die sog. Theorie der rationalen Erwartungen)71. Das gleiche Grundmuster keynesianischer Stabilitätspolitik rufe Lernprozesse und Anpassungsreaktionen bei den Wirtschaftssubjekten hervor, die die Wirksamkeit der Instrumente stark herabsetzen könnten. So würden Investitionen in Erwartung einer staatlichen Investitionszulage aufgeschoben und die Gesamtnachfrage gemindert. Bei Durchführung der Maßnahmen ergebe sich ein kurzfristiger Boom der aufgestauten Nachfrage, aber keine nachhaltige Besserung der Auftragslage. In der Hochkonjunktur werde der Verteilungskampf trotz der Inflationsbeschleunigung deshalb so andauernd geführt, weil jede der beteiligten Gruppen damit rechne, daß die zu erwartende Unterbeschäftigung vom Staat alsbald bekämpft werde. Demnach könnten nur unerwartete Maßnahmen die Wirtschaftssubjekte zu dem gewünschten Verhalten bewegen. Das monetaristische Konzept der Konjunkturpolitik beschränkt sich nicht nur auf eine Kritik der praktischen Wirtschaftspolitik, sondern 69 Hierbei ist nicht nur der Durchführungs- und Wirkungslag, sondern auch der Informations- und Entscheidungslag erlaßt. Dürr; Neuhauser, S. 145. M. Friedman ermittelte sogar lags zwischen 4 und 29 Monaten. Friedman, M.: A Program for Monetary Stability, New York 1959, S. 87. 70 Besters, H.: Regelmechanismen statt konjunkturverstärkender Staatseingriffe, in: Die Freiheit erhalten! Wirtschaftstag der CDU/CSU, Bonn 1969, S. 124, 128. 71 Dazu Woll, A: Keine neue Revolution in Sicht, in: Wirtschaftsdienst, 57. Jg. (1977), S. 59 - 63 m. w. N.
D. Grundlegende Konzeptionen der Konjunkturpolitik
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stellt überdies die grundlegenden theoretischen Positionen des Keynesianismus in Frage. 2. Monetaristischer Ansatz
Der Monetarismus hat sich als Gegenposition zum Keynesianismus entwickelt. Ausgangspunkt des Konzepts ist die These von der relativen Stabilität des privaten Sektors. Impulse, die zu Abweichungen vom Gleichgewicht führen, werden vom marktwirtschaftlichen System in Bewegungen zu einem neuen Gleichgewicht umgeformt. Dieser Ausgleich von Angebot und Nachfrage bei Vollbeschäftigung der Produktionsfaktoren stellt sich nach monetaristischer Ansicht auf allen Märkten (Arbeits-, Güter- und Finanzmärkten) ein, wenn Monopolsituationen beseitigt sind und die Einkommens- und Vermögensverteilung nicht als zu ungerecht empfunden wird72 • Allerdings impliziert der Begriff der Vollbeschäftigung eine dauerhafte sog. "natürliche Unterbeschäftigungsrate" , die durch strukturelle Faktoren erklärt wird. Die Anpassung der Produktionsfaktoren an geänderte Marktbedingungen erfordere Informations- und Transformationskosten, die einer vollen Ausnutzung der Ressourcen entgegenständen73. Die tatsächlich zu beobachtenden kumulativen Prozesse in marktwirtschaftlichen Systemen werden von den Monetaristen auf die keynesianisch geprägte Geld- und Fiskalpolitik zurückgeführt. Die ständigen "Stop-and-go"-Maßnahmen führten zu Irrtümern und Fehldispositionen der privaten Wirtschaftssubjekte74 • Die Ursache dieser fehlerhaften Konjunkturpolitik liege letztlich im falschen theoretischen Fundament. Es wird vor allem kritisiert, daß das keynesianische Konzept den monetären Faktoren zu geringe Bedeutung beimißt. Die empirischen Tests belegen aber nach monetaristischer Ansicht gerade die Wirksamkeit monetärer Impulse, vor allem des Geldmengenwachstums. Dieses Ergebnis wird theoretisch mit Hilfe eines Transmissionsmechanismus erklärt, der vom keynesianischen Kreditkostenmechanismus erheblich abweicht. Ausgangspunkt der überlegungen ist die Hypothese, daß die Wirtschaftssubjekte nach einem Vermögensgleichgewicht streben, bei dem sie ihren Nutzen maximieren75 • Vermögensobjekt ist jedes nutzenstifSimmert, Alternative ..., S. 13. Euba; Francke, S. 107. 74 Duwendag, D.: Die Kontroverse zwischen Fiskalisten und Monetaristen, in: WISU, 1. Jg. (1972), S. 482. 75 Vgl. Förterer, J.: Die stabilitätspolitischen Vorschläge MiIton Friedmans, Berlin 1979, S. 189 ff. 72
73
48
III. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
tende Gut, also Finanzaktiva ebenso wie Investitions- und Konsumgüter oder das Geld, dessen Nutzen mit Transaktions-, Vorsichts- und Spekulationsmotiven begründet wird. Die optimale Vermögensstruktur wird durch die relativen Preise der einzelnen Aktiva und damit durch ihre Renditen bestimmt. Gegenüber keynesianischen Vorstellungen wird auf eine Trennung in Transaktions- und Spekulationskasse verzichtet. Es wird eine Vielzahl von Vermögensobjekten einbezogen gegenüber den Alternativen Kassenhaltung und festverzinsliche Wertpapiere im keynesianischen Standardsystem. Schließlich ist bei den Monetaristen die Konsumnachfrage zinsabhängig. Die übertragung von monetären Impulsen auf den güterwirtschaftlichen Bereich geschieht in der Weise, daß eine Veränderung der Geldmenge c. p. die reale Kassenhaltung der Privaten erhöht und somit zu einer Abweichung von der optimalen Vermögensstruktur führt. Es werden verstärkt festverzinsliche Wertpapiere nachgefragt. Dadurch steigt der Kurs und sinkt die Rendite, so daß sich ein Wechsel in Aktiva mit höherer Rendite lohnt. Von diesen Arbitragevorgängen werden nach und nach alle Vermögensobjekte mit geringerem Liquiditätsgrad erfaßt bis hin zum Realkapital und den Konsumgütern; die genauen Wirkungszusammenhänge gelten aber selbst unter Monetaristen als weitgehend ungeklärt76 . Damit nimmt die Aktivität im güterwirtschaftIichen Bereich zu. Zunächst erhöht sich die Produktion und der Beschäftigungsgrad. über die "natürliche Unterbeschäftigungsrate" hinaus tritt ein derartiger Mengeneffekt nur solange ein, wie Löhne und Preise im güterwirtschaftlichen Bereich noch nicht gestiegen sind. Nach einer gewissen Zeit reagieren die Preise bzw. Faktorenentgelte auf die erhöhte Nachfrage. Die Geldillusion schwindet; die inflationäre Entwicklung wird zunehmend antizipiert. Die Kapazitätsauslastung und der Beschäftigungsgrad sinken wieder77 • Im Ergebnis führt eine Erhöhung der Geldmenge c. p. nach monetaristischer Auffassung kurzfristig zu einer Beschäftigungserhöhung über das "natürliche " Niveau. Langfristig ergibt sich nur eine Steigerung des Preisniveaus. Eine längerfristige Beschäftigungsanhebung läßt sich nur durch eine Beschleunigung der Geldmengenexpansion um den Preis zunehmender Inflation erreichen. Während geldpolitischen Maßnahmen eine kurzfristige Wirkung auf den güterwirtschaftlichen Bereich zugebilligt wird, ist für die Monetaristen "die Fiskalpolitik für sich genommen im großen und ganzen unwirksam"78. Nur wenn eine fiskalpolitische Maßnahme von einer Simmert, Alternative ... , S. 15 f. 77 Giersch, Konjunktur ... , S. 251. 78 Friedman, M.: Die Gegenrevolution in der Geldtheorie, in: P. Kalmbach (Hrsg.), Der neue Monetarismus, München 1973, S. 59. 76
D. Grundlegende Konzeptionen der Konjunkturpolitik
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Variation des Geldmengenwachstums begleitet wird (z. B. wenn zusätzliche Staatsausgaben von der Notenbank finanziert werden), sind nennenswerte realwirtschaftliche Wirkungen zu erwarten, die aber auf die monetären Maßnahmen zurückgeführt werden. Die Dominanz monetärer Impulse wird theoretisch damit erklärt, daß fiskalpolitische Maßnahmen nur die relativen Preise der nicht Geld darstellenden Vermögenstitel beeinflussen und wegen der Substitutionsbeziehungen primär die Struktur, nicht aber die Vermögenshöhe verändern. Variationen der Geldmenge würden über den Realkasseneffekt vor allem den Wert des Vermögensbestandes ändern und seien deshalb von größerer Effizienz79• Als empirischer Beleg dieser These dienen den Monetaristen Konstellationen in den USA 1966 und 1968, in denen geldpolitische über gegenläufige fiskalpolitische Mittel dominierten Bo• Aber auch eine aktive Stabilisierungspolitik in Form der Geldmengenpolitik wird skeptisch betrachtet. Empirische Untersuchungen ergaben, daß geldpolitische Maßnahmen mit einer unterschiedlichen zeitlichen Verzögerung wirken, so daß häufig unerwünschte destabilisierende Effekte auf die Volkswirtschaft ausgehenB1 • Eine kurzfristige diskretionäre Geldpolitik birgt demnach das Risiko verschärfter Konjunkturschwankungen. Aus der These von der relativen Stabilität des privaten Sektors und dem zeitlich streuenden Wirkungslag einer diskretionären Geldmengenpolitik wird deshalb die konjunkturpolitische Folgerung abgeleitet, die Geldmenge mit einer konstanten Rate wachsen zu lassen und auf jede Art der aktiven Kompensation konjunktureller Ausschläge zu verzichten. Dies ist der monetaristische Vorschlag, eine Geldmengenregel an die Stelle von wirtschaftspolitischen Ermessensentscheidungen zu stellen. Ebenso wie der keynesianische Ansatz ist der Monetarismus einer heftigen Kritik ausgesetzt. Wenn diese Diskussion im einzelnen auch nicht behandelt werden kann, bleibt festzuhalten, daß alle wesentlichen Positionen des Konzepts angegriffen werden. Die These von der relativen Stabilität des privaten Sektors wird bestritten. Insbesondere wird eine genügende Flexibilität der Preise und Löhne nach unten in Gegenwart und Zukunft in Zweifel gezogenB2 • Im übrigen läßt eine wirtschafts geschichtliche Betrachtung starke konjunkturelle Schwankungen in vorkeynesianischer Zeit mit einem geringen Staatsanteil erkennenB3• Vgl. Euba; Francke, S. 107. Friedman, Die Gegenrevolution ..., S. 60 f. 81 Friedman, M.: Die optimale Geldmenge und andere Essays, München 1970, S. 238 ff. 79
80
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Z. B. Teichmann, S. 155 f. Schmitt-Rink, S. 276.
4 Rehhahn
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III. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
Die monetaristische Version der übertragung monetärer Impulse in den güterwirtschaftlichen Bereich wird in Frage gestellt. Zum einen wird auf den "black-box-Charakter", die nicht hinreichend geklärten Wirkungszusammenhänge des Transmissionsmechanismus verwiesen84 • Zum anderen wird der postulierten kausalen Einwirkung einer Geldmengenvariation auf das Sozialprodukt die Endogenität der Geldmenge 85 entgegengehalten. Die Portfolioentscheidungen der Privaten und die Kreditschöpfung der Banken, ausgerichtet an der jeweiligen Wirtschaftsentwicklung, bestimmen die Kassenhaltung. In diesem Fall ergibt sich eine umgekehrte Kausalität: die wirtschaftliche Aktivität bestimmt über die Geldrnenge. Die zur Stützung der monetaristischen Hypothese angeführte empirische Evidenz kann als widerlegt gelten. Eine enge Korrelation zwischen Geldrnengenvariation und nachfolgender Änderung des Volkseinkommens ist noch kein Beweis für die behauptete kausale Verknüpfung, wie Tobin, Kareken und Solow nachgewiesen haben86• Es schließt sich die Frage an, ob die Notenbank die Geldrnenge entsprechend dem monetaristischen Vorschlag überhaupt steuern kann. Den Monetaristen wird der Vorwurf gemacht, institutionelle Gegebenheiten zu wenig zu berücksichtigen. Eine Änderung der Geldrnenge über Offenmarkt-Operationen trifft im wesentlichen zunächst das Bankensystem87 • Die Kreditschöpfungsmöglichkeiten werden aber durch die Geschäftsbanken je nach Konjunkturlage unterschiedlich genutzt, wie oben dargelegt, so daß die Wirkung einer Geldrnengenänderung stark herabgesetzt werden kann. Außerdem erscheint es fraglich, ob Near-money-Titel in einern festen Verhältnis zur Geldmenge stehen. Ein Ausweichen auf Near-money-Titel in einer Boomphase steht dem kontraktiven Einfluß der regelgebundenen Geldrnenge entgegen. 3. Vereinbarkeit von Regelbindungen mit den alternativen konjunkturpolitiscben Konzeptionen
Im Hinblick auf die ThemensteIlung der Arbeit bleibt festzuhalten, daß die Keynesianer diskretionäre Maßnahmen, die Monetaristen eine regelgebundene Konjunkturpolitik vorziehen. Die Frage, ob diese Mittelwahl sich als notwendige Konsequenz der theoretischen Konzepte ergibt, ist bisher offengeblieben. 84 Eingehend Poht, R.: Zur Kritik der Theorie der Vermögens struktur und der relativen Preise, in: Kredit und Kapital, 8. Jg. (1975), S. 220 - 244. 85 Katmbach, S. 35 ff. 88 Tobin, J.: Money and Income: Post hoc ergo propter hoc? in: The Quarterly Journal of Economics, Vol. 84 (1970), S. 301 ff.; Kareken, J. and Sotow, R.: Lags in Monetary Policy, in: Commission on Money and Credit (Hrsg.), Stabilization Policies, Englewood Cliffs (N. J.) 1963, S. 14 ff. 87 Sofern wie in der Bundesrepublik üblich - die Offenmarktpolitik mit den Geschäftsbanken abgewickelt wird.
D. Grundlegende Konzeptionen der Konjunkturpolitik
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Die keynesianische These von der Instabilität des privaten Sektors spricht für eine Ermessenspolitik. Da die Konjunkturschwankungen, die im privaten Sektor entstehen, hinsichtlich Ursache, Intensität und Länge als unterschiedlich angesehen werden, erfordern sie ein auf die Verhältnisse des Einzelfalls abgestimmtes Maßnahmenbündel. Eine Regelbindung dieser Maßnahmen wäre nur sinnvoll, wenn die möglichen Ungleichgewichtssituationen exakt und zeitnah erfaßt werden könnten sowie die Wirkung des reichhaltigen keynesianischen Instrumentariums vorauszuberech.nen wäre. Die oben beschriebenen Indikator-, Datierungs- und Dosierungsschwierigkeiten lassen zyklusorientierte Regelmechanismen unpraktikabel erscheinen. Das liegt nicht allein am unzureichenden konjunkturtheoretischen Wissensstand, wenngleich dies als wesentliches Argument gegen derartige Regelbindungen zu betrachten ist88 • Die unstete Verhaltensweise im privaten Sektor bedingt eine zeitliche und quantitative Dosierungsentscheidung unter Unsicherheit. Korrekturen bzw. die schrittweise Annäherung an das Stabilitätsziel sind erforderlich. Entscheidungen unter Unsicherheit verlangen Urteile über die Eintrittswahrscheinlichkeit zukünftiger Datenkonstellationen. Sollen diese Urteile ermessensfrei getroffen werden, ist - wenn dies überhaupt möglich ist - eine Vielzahl von Hilfsregeln aufzustellen. Gleiches gilt für die Korrekturregeln, so daß ein sehr komplexes Regelsystem erforderlich ist, wenn die Instabilität des privaten Sektors ins Kalkül einbezogen wird. Trifft die neuere Kritik an der keynesianischen Konjunkturpolitik zu, die Wirtschaftssubjekte würden sich an die antizyklische Politik gewöhnen und ihr durch Antizipation der Entscheidungen die Wirkung nehmen, erscheint eine antizyklische Regelbindung sogar ausgeschlossen. Das keynesianische Konzept eröffnet zwar genügend Möglichkeiten zur Gestaltung andersartiger Maßnahmen. Diese Kreativität kann aber in Regeln nicht erfaßt werden. Ein weiterer konzeptioneller Grund für eine diskretionäre Politik liegt in der Präferenz für die Fiskalpolitik. Die Staatsausgaben werden ebenso wie die Staatseinnahmen nicht nur zu konjunkturpolitischen Zwecken, sondern auch zur Erfüllung anderer Aufgaben z. B. sozialund strukturpolitischer Art eingesetzt. Diese mehrfache Zielsetzung ist bei der Auswahl konjunkturpolitischer Mittel zu berücksichtigen. In einer konjunkturpolitisch ausgerichteten Regelbindung können derartige Mehrfachfunktionen nicht erfaßt werden. BB Wiss. Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen: Regelmechanismen ... , S. 608, 617, der annimmt, daß aus diesem Grunde die Konstruktion umfassender antizyklischer Regelmechanismen in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist.
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UI. Wirtschaftstheoretische Basis konjunkturpolitischer Regeln
Im Ergebnis läßt sowohl die These von der Instabilität des privaten Sektors als auch die Dominanz der Fiskalpolitik diskretionäre Maßnahmen zweckmäßig erscheinen. Allerdings gibt es eine Reihe von Keynesianern, die diese Gründe für nicht so gravierend halten und zumindest partiell für antizyklische Regelmechanismen (sog. formula flexibility) eingetreten sind89 . Die grundsätzliche Tendenz des privaten Sektors zum Vollbeschäftigungsgleichgewicht erfordert nach monetaristischer Ansicht keine komplizierten Regelsysteme, die unterschiedliche konjunkturelle Konstellationen erfassen. Die Regeln sollen den privaten Sektor primär nur gegenüber destabilisierenden staatlichen Impulsen abschirmen, nicht stabilisieren. Indirekt wird die Stabilität durch die Verringerung der Unsicherheit bei wirtschaftlichen Dispositionen gefördert. Die staatliche Aktivität wird durch eine klare Regelbindung für die Wirtschaftssubjekte berechenbar. Die zu steuernde Geldmenge unterliegt nicht einer Mehrzahl von Zielsetzungen. Sie kann ausschließlich für das Stabilisierungsziel eingesetzt werden. Sie kann als einzelne Variable leichter als die fiskalpolitischen Instrumente einer Regel unterworfen werden. Die Grundpositionen des Monetarismus lassen die regel gebundene Handlungsweise staatlicher Instanzen als logische Konsequenz erscheinen. Zwar ist die Möglichkeit theoretisch nicht auszuschließen, den Instrumentaleinsatz nach monetaristischen Vorstellungen im Rahmen eines diskretionären Handlungsspielraumes durch eine "Politik der ruhigen Hand"90 zu verwirklichen, die auf die Einsichtsfähigkeit der Politiker in die Richtigkeit des Konzepts baut. Dieser Vorschlag kann aber nur als "Second-best-Lösung" gelten, da ein Ermessensspielraum weiter besteht und somit die Unsicherheit der Wirtschaftssubjekte über weitere wirtschaftspolitische Maßnahmen erhalten bleibt. Dagegen erscheint die Regelbindung der politischen Entscheidungsträger dem monetaristischen Konzept adäquat.
89 90
Vgl. Kap. IV. D. 1. So z. B. Giersch, Konjunktur ..., S. 160.
IV. Darstellung einzelner konjunkturpolitischer Regelbindungen A. Auswahl und Gliederung Auf der Basis der konjunkturtheoretischen Zusammenhänge und der grundlegenden Konzepte der Konjunkturpolitik sollen nun einzelne Regelbindungen dargestellt werden. Die Vielzahl der Gestaltungsmöglichkeiten erlaubt keinen vollständigen überblick im Rahmen dieser Arbeit. Die notwendige Auswahl erfolgt unter Regelvorschriften, die in der Praxis verwirklicht oder in der Literatur vorgeschlagen worden sind. Die unterschiedlichen Gestaltungsformen sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie die herausragende Stellung, die einzelnen Vorschlägen in der wissenschaftlichen Diskussion zukommt. Neben den Entwicklungstendenzen ist auf spezifische Schwächen der Regelbindungen einzugehen. Darüber hinaus stellt sich die Aufgabe, die darzustellenden Regelvorschläge so zu gliedern, wie es für die nachfolgende verfassungsrechtliche Untersuchung zweckmäßig erscheint. Unter rein juristischen Gesichtspunkten könnte eine Gliederung nach den Adressaten der Regelvorschriften erfolgen, also nach dem jeweiligen Kompetenzbereich der konjunkturpolitischen Akteure. Eine derart formale Abgrenzung erscheint für sich allein betrachtet zu eng, weil ökonomische Wirkungszusammenhänge über den Kompetenzbereich eines Trägers der Wirtschaftspolitik hinausgehen können. Gleichwohl ist der Gesichtspunkt des Normadressaten für die verfassungsrechtliche Problemstellung von Bedeutung. In der Literatur werden mehrere Abgrenzungskriterien verwendet. Die Differenzierung in trendorientierte (auch als mittelfristig bezeichnete) und zyklusorientierte Regelmechanismen1 spiegelt die oben geschilderte Kontroverse zwischen Monetarismus und Keynesianismus wider. Diese Unterscheidung ist für das Verständnis der Konstruktion und Funktionsweise der Regelvorschläge wichtig. Eine grundlegende Abgrenzung unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist damit 1 z. B. Gerfin, H.: Aufgaben und Hauptprobleme der Wirtschaftsprognostik, insbesondere gesamtwirtschaftlicher Konjunkturprognosen, in: WiSt, 1. Jg.
(1972), S. 189.
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IV. Darstellung einzelner konjunkturpolitischer Regelbindungen
noch nicht gewonnen. So bleibt der Gesichtspunkt der Träger der Konjunkturpolitik völlig außer Betracht. Ein weiterer Vorschlag geht von der Trennung in Regeln für den güter- und geldwirtschaftlichen Bereich aus 2 • Der güterwirtschaftliche Bereich wird nach Nachfragekomponenten (privater Konsum, private Investition, Staatsnachfrage, Auslandsnachfrage) untergliedert. Eine solche Unterscheidung erscheint aber problematisch, weil sich die Wirkungen vieler Maßnahmen, insbesondere der Fiskalpolitik, den einzelnen Nachfragekomponenten nicht exakt zuordnen lassen. So kann eine Einkommensteuererhöhung die Investitionsbereitschaft und/oder den Konsum mindern. Sowohl rechtlich-institutionelle Aspekte als auch ökonomische Sachzusammenhänge werden bei einer Gliederung der Regelbindungen nach Politikbereichen erfaßt. Deshalb soll im folgenden zwischen Geldpolitik, Wechselkurspolitik, Finanzpolitik und Lohnpolitik unterschieden werden. Gewisse Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung der Geldpolitik von den übrigen Teilpolitiken, wird sie - wie üblich - als Summe aller Maßnahmen verstanden, die auf die Variation monetärer Schlüsselgrößen (z. B. Geldmenge, Zins) gerichtet sind. Wechselkurse sind ebenfalls monetäre Schlüsselgrößen. Die besonderen institutionellen und historischen Gegebenheiten rechtfertigen aber eine Trennung von Geldund Wechselkurspolitik. Überschneidungen zwischen Geld- und Finanzpolitik treten im Bereich der Staatsverschuldung auf, die als Teil der Finanzpolitik angesehen werden soll. Bei den Regelvorschlägen in der Literatur wird die strikte Bindung der konjunkturpolitischen Akteure - oben als wesentliches Merkmal einer Regelbindung herausgearbeitet - nicht immer konsequent durchgehalten. Trotzdem werden derartige Ansätze in der Darstellung berücksichtigt, wenn zumindest die Möglichkeit einer völligen Handlungsbindung erwogen wird.
B. GeldpoIitische Regeln Im Mittelpunkt der aktuellen Diskussion um die Regelbindung stehen die Vorschläge Milton Friedmans zur Regulierung der Geldmenge. Gerade in der Geldpolitik wurden Regelmechanismen schon lange vorher erörtert und auch praktiziert. Zu ihnen zählt der Goldautomatismus, der wegen seiner binnen- und außenwirtschaftlichen Komponenten erst bei den wechselkurspolitischen Regeln behandelt wird. 2 Tiedtke, J.: Ist eine bessere Konjunkturpolitik möglich?, in: Blätter für Genossenschaftswesen, 119. Jg. (1973), S. 115.
B. Geldpolitische Regeln
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1. Warenreservewährung
Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Goldautomatismus besitzt der Vorschlag einer Warenreservewährung, der von Grahams und Eucken4 vertreten wurde. Er strebt eine Stabilisierung des Preisniveaus und über diese eine Verstetigung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität an, besitzt also eine konjunkturpolitische Zielsetzung. Indikator der wirtschaftlichen Entwicklung sind die Preise ausgewählter Güter 5, die zugleich Regelungsobjekt sind. Die Regel besteht in einer gesetzlichen Vorschrift an die Notenbank, den Wert dieses Güterbündels durch An- und Verkauf der Waren bzw. von Lagerzertifikaten konstant zu halten. Sinkt der Wert des damals mit 100 Dollar bezifferten Warenkorbs auf 95 Dollar, so muß die Notenbank die Güter zu diesem Preis ankaufen; führen steigende Preise zu einem Wert von 105 Dollar, so muß die Notenbank zu diesem Preis die Güter anbieten. Die stabilisierende Wirkung auf den Geldwert ergibt sich nicht nur über den allgemeinen Preiszusammenhang aus der relativen Preiskonstanz der ausgewählten Güter, auch wenn diese häufig als Input eingesetzt werden. Als entscheidend wird vielmehr die mit den Interventionen einhergehende Geldmengenvariation angesehen. Kauft die Notenbank bei sinkenden Preisen Waren auf, vergrößert sie damit die Geldmenge. Eine größere Geldmenge führt aber nach der Quantitätstheorie zu einer Preissteigerung. Umgekehrt rufen inflationäre Tendenzen über Warenverkäufe eine Kontraktion der Geldmenge und damit automatisch eine Preisberuhigung hervor. Die in diesem Wirkungszusammenhang steckende quantitätstheoretische Annahme der konstanten Geldwnlaufsgeschwindigkeit bietet Anlaß zur Kritik. Den Banken müßte die Fähigkeit zur Geldschöpfung genommen werden, um die Möglichkeit auszuschalten, daß die Steuerung der wirksamen Geldmenge im Wege der Kreditvergabe konterkariert würde. Dies würde erreicht, wenn die Banken Sichteinlagen 1000f0ig durch Zentralbankgeld decken müßten (lOO-per-cent money, Chicago-Plan6 ). Aber selbst bei Durchführung dieser einschneidenden Maßnahmen ergäben sich Zweifel an der Wirksamkeit des Konzepts7 • So haben sich die Preisindizes der im Warenkorb vereinigten Rohstoffe Zuerst Gmham, B.: Storage and Stability, New York 1937. Eucken, W.: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 4. Aufl., Tübingen 1968, S. 261- 264. 3
4
5 Das Güterbündel bestand aus Rohstoffen (z. B. Wolle) und Halbfabrikaten (z. B. Roheisen). 6 Zum Chicago-Plan Hart, A.: The "Chicago-Plan" of Banking Reform, in: The Review of Economic Studies, Bd. 2 (1935), S. 104 ff. 7
Dürr, Neuhauser, S. 43.
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IV. Darstellung einzelner konjunkturpolitischer Regelbindungen
und der Lebenshaltung stark auseinanderentwickelt. Die Rohstoffpreise sind bei leichter Inflation der Verbraucherpreise zeitweise stark gefallen. Eine Regelbindung nach Art der Warenreservewährung hätte über eine starke Geldmengenexpansion die Inflation der Verbraucherpreise angeheizt. Ein weiteres Problem dieses Vorschlages besteht in der Berücksichtigung struktureller Wandlungen (Geschmacksänderung, technischer Fortschritt), die sich im Wert des Güterbündels niederschlagen und nur durch eine andere Gewichtung der verschiedenen Güter zu erfassen wären. Gerade die Ermittlung struktureller Einflüsse bei Preisänderungen ist ein ungelöstes Problem. Schließlich ist zu bedenken, daß eine mit wachsender Wirtschaft zunehmende Geldmenge eine ständige Vergrößerung der Warenläger bedingt und damit zunehmend Produktionsfaktoren bindet. Wegen der genannten Nachteile hat sich der Vorschlag der Warenreservewährung nicht durchsetzen können. Allerdings ist diese Regelbindung im Rahmen des Nord-Süd-Dialogs zwischen Industrie- und Entwicklungsländern erneut in die Diskussion eingeführt wordens. Dabei wird aber nicht auf den Geldmengen-Preis-Mechanismus abgestellt, sondern auf die Minderung von Preisschwankungen der Güter des Warenkorbes zugunsten der Entwicklungsländer - seien diese Bewegungen nun konjunkturell oder strukturell bedingt. 2. Potentialorientierte Geldmengenregel
Unmittelbar zum Regelungsobjekt wird die Geldmenge im Konzept der potentialorientierten Geldmengenregel, das Milton Friedman 1959 vorgelegt hat9 • Obwohl vergleichbare Regeln schon früher veröffentlicht wurden (H. Simons 19361°, C. Warburton 194511), gelang es erst M. Friedman mit diesem Konzept, eine anhaltende Diskussion um Regelbindungen zu entfachen. Ziel des Vorschlages ist die Stabilisierung des Güterpreisniveaus durch Anpassung des Geldangebots an die langfristige Entwicklung der Geldnachfrage. 8 Hart, A.: The Case as of 1976 for International Cornrnodity-Reserve Currency, in: Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 112 (1976), S. 1 - 31. D Friedman, M.: A Program ..., S. 89 ff. 10 Simons, H.: Rules versus Authorities in Monetary Policy, in: The Journal of Political Econorny, Vol. 44 (1936), S. 1 - 30. 11 Warburton, C.: Normal Production, Incorne and Ernployrnent 1945 - 1965, in: The Southern Econornic Journal, Vol. 11 (1945), S. 219 - 245.
B. Geldpolitische Regeln
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Die Geldmenge wird als Zentralbankgeld in den Händen des Publikums plus Sicht- und Termineinlagen bei den Geschäftsbanken definiert. Als langfristige Bestimmungsgründe der Veränderung der Geldnachfrage gelten das Wachstum des Produktionspotentials und die mit wachsendem Volkseinkommen zunehmende Neigung, einen größeren Anteil des Einkommens als Kasse zu halten (sog. Luxusguthypothese). Die Geldmengenregel besteht in einer gesetzlichen Anweisung an die Notenbank, die Geldmenge mit einer konstanten Rate entsprechend der durchschnittlichen Wachstumsrate des Produktionspotentials, vermehrt um die Zuwachsrate der Geldhaltung als Vermögensobjekt, zunehmen zu lassen12 • Die Geldmenge soll allein durch Offenmarktpolitik gesteuert werden. Der Zentralbank wird untersagt, Wechsel zu diskontieren und Kredite an Banken und Nichtbanken zu gewähren. Der Mindestreservesatz wird für Sicht- und Termineinlagen bei Banken auf 100 % festgesetzt, um die Erhöhung der Geldmenge durch Buchgeldschöpfung zu verhindern. Entgegen dem Simons-Vorschlag will Friedman die Einlagen bei der Notenbank verzinsen. Friedman hat seine Regel 1959 für die USA mit 4 Ofo quantifiziert, wobei er von einer jährlichen Wachstumsrate des Produktionspotentials von 3 % und einer vermehrten Kassenhaltung von 1 % 13 ausging. Inzwischen hält er langfristig eine Steigerungsrate von 2 % für wünschenswert14 • Diese setzt sich aus der vermehrten Kassenhaltung gemäß der Luxusguthypothese von 1 Ofo und einer jährlichen Zunahme des Arbeitskräftepotentials von 1 % zusammen - insoweit also eine Abweichung von der obigen Regel. Nur die Faktorpreise sollen mit dieser Regel stabilisiert werden, während Produktivitätssteigerungen sich in sinkenden Güterpreisen niederschlagen sollen. Eine Besonderheit der Geldmengenregel besteht darin, daß kein zyklisch schwankender Indikator existiert. Die quantitative Festlegung der Regel geschieht vielmehr durch eine einmalige diskretionäre Handlung, die Prognose des langfristigen Potentialwachstums und der vermehrten Kassenhaltung. Nur wenn die Schätzung sich als unzutreffend erweist, kommt eine neue diskretionäre Prognose in Betracht1 5• Die wirtschaftstheoretische Basis dieses Vorschlages wurde oben ausführlich dargestellt: Friedman spricht der Geldmenge kurzfristig einen zentralen Einfluß auf den Wirtschaftsablauf zu, der sich wegen der unterschiedlich langen lags aber 12 13 14
Friedman, A Pro gram ... , S. 91. Friedman, A Pro gram ... , S. 100. Friedman, M.: Die optimale Geldmenge und andere Essays, München
1970, S. 70 ff.; Erstveröffentlichung: The Optimum Quantity of Money and other Essays, Chicago 1969. 15 Friedman allerdings ist der Meinung, daß es entscheidend auf die Konstanz der Geldmengenausweitung und nicht auf die genaue Höhe ankommt. Friedman, Die optimale Geldmenge ... , S. 71 f.
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IV. Darstellung einzelner konjunkturpolitischer Regelbindungen
nicht für diskretionäre wirtschaftspolitische Maßnahmen nutzen lasse. Eine stetige Geldmengenexpansion vermeide eine diskretionäre Geldmengenpolitik mit ihren unkontrollierten stabilitätsgefährdenden Impulsen. Sie verstetige die Verhaltensweise der Privaten und lasse Nachfrageüberhänge durch fehlende monetäre Alimentation erst gar nicht entstehen. Die wesentlichen Einwände gegen das theoretische Konzept wurden ebenfalls bereits aufgeführt: Die von Friedman postulierte Stabilität der Geldnachfragefunktion hat sich empirisch als nicht haltbar erwiesen; konjunkturelle Zinsbewegungen üben einen erheblichen Einfluß auf die Geldumlaufsgeschwindigkeit aus. Der monetaristische Transmissionsmechanismus ist weitgehend ungeklärt. Ein weiteres Problem stellt die Kontrolle der wirksamen Geldmenge dar. In den sechziger Jahren haben die Monetaristen eine These aufgestellt, die Friedmans ursprünglichen rigorosen Vorschlag des 100 % -money überflüssig werden läßt. Die von der Zentralbank kontrollierbare Geldbasis (ZentralbankgeId bei den privaten Nichtbanken und den Geschäftsbanken) stehe aufgrund stabiler Verhaltensfunktionen in einem festen Verhältnis zu den übrigen Geldbestandteilen, so daß über die Geldbasis die Geldmenge gesteuert werden könne. Diese Hypothese ist insbesondere von den Vertretern des liquiditätstheoretischen Ansatzes in der Geldtheorie inZweifel gezogen worden16.Nach ihrer Meinung üben die Dispositionen des Publikums über Umfang und Struktur der Bankeinlagen sowie die Portfolioentscheidungen der Geschäftsbanken einen dominierenden Einfluß auf das Geldangebot aus und sind für die Anpassung der Geldmenge an Änderungen der wirtschaftlichen Aktivität im Konjunkturablauf verantwortlich. Demnach ließe sich die Geldmenge nicht exakt genug über die Geldbasis steuern. Empirische Untersuchungen17, die beide Richtungen zur Stützung ihrer Auffassung vorgenommen haben, konnten die Diskussion nicht entscheiden. Es bleibt festzuhalten, daß das Geldbasiskonzept gegenwärtig außerordentlich umstritten ist. Der Sachverständigenrat, ein Verfechter der verstetigten Geldmengenexpansion18 , hat sich zeitweilig für eine Bindung der Kreditvergabe an die Wachstumsrate des Produktionspotentials ausgesprochen19 • Als 16 Vgl. Tobin, J.: Commercial Banks as Creators of "Money", S. 273, 280 f.; Ders.: The Monetary Interpretation of History, S. 478; beide Aufsätze in J. Tobin: Essays in Economics, Vol. 1, Chicago 1971; R. Schittko: Der Liquiditätsansatz in der Geldtheorie, Bochum 1980, insbesondere S. 97 ff. 17 Vgl. die übersicht bei R. Schittko, S. 249 ff. 18 Vgl. SVR-Gutachten 1969/70 Ziff. 252; 1970/71 Ziff. 359 - 369; zuletzt SVR-Gutachten 1979/80, BT-Drucks. 8/3420, Ziff. 179 ff., 306, 314. 19 Siehe SVR-Gutachten 1970/71, Ziff. 359 - 369. Der SVR revidierte mehrheitlich seine Auffassung zugunsten einer Steuerung der Geldmenge im Gut-
B. Geldpolitische Regeln
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Instrumente dieser potentialorientierten Kreditpolitik sollten die Offenmarkt- und die Rediskontpolitik eingesetzt werden. Diese flankierende Regel könnte aber nicht die Kreditvergabe unter Nichtbanken bzw. das Ausweichen des Publikums auf Near-money-Titel verhindern. Dürr hat deshalb vorgeschlagen, neben der Kreditvergabe der Banken diejenigen der Finanzintermediäre (Versicherungen), die Geldsubstitute und die Aktienemissionen an die mittelfristige Wachstumsrate des Sozialprodukts zu binden20 • Ebenso wie bei der Warenreservewährung ergibt eine nähere Betrachtung der Geldmengenregel, daß eine konsequente Steuerung der Geldmenge weitreichende Eingriffe in den Handlungsspielraum der Privaten bedingt, will sie nicht auf umstrittenen Hypothesen aufbauen wie dem Geldbasiskonzept. Dürr hat auch zur Problematik einer unrichtigen Schätzung der Zunahme des Produktionspotentials Stellung genommen. Er hat folgende Korrekturregel vorgeschlagen: Betrage der Quotient offene Stellen! Arbeitslose mehr als 2 und der Quotient AuftragseingängelUmsatz mehr als 1,05 sowie die vierteljährliche Preissteigerungsrate mehr als 0,5 %, müsse die Notenbank die vorgesehene Geldmengenexpansion drosseln21 • Wenn diese Korrekturregel auch nicht präzise genug und ohne Begründung geblieben ist, deckt sie doch eine charakteristische Schwäche der mittelfristigen Regeln auf. Die Prognosen über die wirtschaftliche Entwicklung, auf denen mittelfristige Regeln aufbauen, bergen die Gefahr von Fehleinschätzungen in sich. Um das Risiko einer fehlerhaften Wirtschaftsbeeinflussung in Grenzen zu halten, müssen die Prognosen ständig an Indikatoren der laufenden Wirtschaftsentwicklung überprüft werden. Deshalb tritt die Problematik der Messung konjunktureller Zyklen auch bei mittelfristigen Regelsystemen auf. Der Einwand der Monetaristen, es komme auf die Verstetigung der Geldmengenexpansion als solche und nicht auf die genaue Festlegung der Höhe an, stellt eine unbewiesene These dar2 2 • Der Versuch, etwaige Risiken einer unzutreffenden Prognose durch eine ständige empirische Überprüfung gering zu halten, erscheint deshalb nicht unbegründet.
achten 1972173 Ziff. 394 ff. Vgl. auch die Minderheitsvoten von Köhler, SVRGutachten 1972173 Ziff. 425 - 436; SVR-Gutachten 1973174, Ziff. 382 - 386. 20 Dürr, E.: Konjunkturpolitik, Regelmechanismen, Konzertierte Aktion oder Laissez-faire?, in: Wirtschaftspolitische Chronik, Heft 1 1970, S. 65 f. 21 Dürr, E.: Die Konzeption von Milton Friedman, in: Wirtschaftsdienst, 51. Jg. (1971), S. 311. 22 So der Wiss. Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen: Regelmechanismen ..., S. 610.
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IV. Darstellung einzelner konjunkturpolitischer Regelbindungen
C. Wechselkurspolitische Regeln 1. Goldautomatismus
Die wohl älteste praktizierte Regelbindung ist die Bindung der Geldmenge an Deckungsvorschriften, nach dem hauptsächlich verwendeten Deckungsmedium auch als Goldautomatismus bezeichnet. Diese Dekkungsregel strebt die Stabilisierung des äußeren und sekundär des inneren Geldwertes an23 • Die Notenbank wird gesetzlich verpflichtet, einen fixen Bruchteil der ausgegebenen Währungseinheiten in Gold oder auch Devisen bei der Gold-Devisenwährung zu halten. Der jederzeitige Umtausch einer Banknote in Gold zum festgesetzten Gewicht (und Feingehalt) wird garantiert. Der Goldpreis ersetzt den Indikator anderer Regelbindungen. Die stabilitätskonforme Steuerung des Regelobjekts Geldmenge geschieht auf folgende Weise: Steigt das Preisniveau im Inland, tritt eine Passivierung der Grundbilanz (Bilanz der entgeltlichen und unentgeltlichen Leistungen und des langfristigen Kapitalverkehrs) ein mit der Folge eines steigenden Preises für Devisen. Steigt dieser Wechselkurs nun derart über das durch die Goldparität in den einzelnen Ländern bestimmte Austauschverhältnis, daß die Transportkosten mehr als gedeckt werden, setzt ein Arbitrageprozeß ein. Inländische Banknoten werden bei der Notenbank gegen Gold getauscht, das Gold wird ins Ausland versendet und bei der dortigen Notenbank zur festgesetzten Parität in Landeswährung getauscht. Der sich durch Goldexport ergebende Devisenpreis ist günstiger als derjenige an den Devisenbörsen. Der Goldabfluß ins Ausland zwingt die inländische Notenbank, die Geldmenge gemäß der Deckungsregel mit Hilfe von Diskontsatzerhöhungen einzuschränken, während im Ausland die Geldmenge sich erhöht. Dies führt nach der Quantitätstheorie zu einer proportionalen Preissenkung im Inland bzw. Preissteigerung im Ausland. Die Exporte (und Kapitalimporte) des Inlandes nehmen zu, die Importe ab, der Devisenkurs sinkt wieder, bis ein Ausgleich der Grundbilanz eintritt. Umgekehrt führt eine Deflation im Inland über Goldimporte zu einem Wiederanstieg von binnenländischem Preisniveau und Wechselkursen. Insgesamt bewirken Deckungspflicht und Goldparität im Zusammenwirken mit privaten Arbitrageprozessen die Stabilisierung des inneren und des äußeren Geldwertes. Dieses theoretische Konzept konnte nur teilweise in die Wirklichkeit umgesetzt werden. So versagte regelmäßig die Diskontpolitik zur Re23
Zum folgenden Rose, K.: Theorie der Außenwirtschaft, 6. Aufl., München
1976, S. 87 ff.
c. Wechselkurspolitische Regeln
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gulierung der Geldmenge24• Wurde bei erhöhter wirtschaftlicher Aktivität und entsprechender Kreditnachfrage eine Geldmengenreduktion erforderlich, ließen sich die Banken durch hohe Zinsen nicht vom Wechseldiskont abschrecken. Umgekehrt führte eine Diskontsenkung nicht zu einer höheren Nachfrage nach Zentralbankgeld, wenn die private Kreditnachfrage gering war. Diese empirischen Erfahrungen deuten auf eine Problematik hin, der alle konjunkturellen Regelbindungen ausgesetzt sind, die zu ihrem Funktionieren die Mitwirkung privater Wirtschaftssubjekte benötigen (z. B. die Offenmarktpolitik bei der Geldmengenregel). Ein weiteres Problem liegt in der Goldproduktion. So werden größere Goldfunde für die Inflation um die Jahrhundertwende verantwortlich gemacht. Auch das Produktionsmonopol einzelner Länder wird als Nachteil des Goldstandards anerkannt. Die Quantitätstheorie des Geldes bietet nur eine schwache theoretische Basis für den Goldautomatismus25 • Eine Geldmengenreduktion kann statt des Preisniveaus auch das Realeinkommen senken, so daß die Grundbilanz über die Preiswirkungen nicht ausgeglichen wird. Heute wird der Goldautomatismus weitgehend als überholt angesehen. 2. Regeln zur Devisenmarktintervention
Konstruktionselemente des Goldstandards weist das System der Wechselkurse mit festen Bandbreiten auf, das 1944 im sog. BrettonWoods-Abkommen26 beschlossen und in dieser Form bis 1972 praktiziert wurde. Es sollte u. a. ein ausgeglichenes Wachstum des Welthandels sichern, besaß mit der Verstetigung der außenwirtschaftlichen Nachfragekomponente also auch eine konjunkturelle Ausrichtung. Diese sollte über eine Stabilisierung der Wechselkurse erreicht werden. Regelungsobjekt und Indikator zugleich war der Wechselkurs der einheimischen Währung zur Leitwährung, dem US-Dollar. Es wurde für jede Währung ein bestimmter Wechselkurs festgelegt. Die Regelvorschrift27 bestand darin, daß die Notenbank bei einem Kurs am Devisenmarkt, der über einen bestimmten Prozentsatz hinaus vom fixierten Dollarkurs abwich (dieser Prozentsatz änderte sich von 0,75 Ofo über 1 % 24
25
Vgl. Dürr; Neuhauser, S. 40 f.
K. Rose, S. 90.
26 Abkommen über den Internationalen Währungsfonds vom 1.122. 7. 1944, BGBL II 1952, S. 638 ff. 27 Abkommen über den Internationalen Währungsfonds, Art. IV, Abschnitt
3.
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IV. Darstellung einzelner konjunkturpolitischer Regelbindungen
auf 2,25 Ofo), intervenieren mußte. Gelangte der Dollarkurs (Preis für 1 Dollar in Landeswährung) an die Obergrenze der Bandbreite, mußte die Notenbank zu diesem Kurs so viele Dollar anbieten, wie zu diesem Kurs nachgefragt wurden. Umgekehrt mußte die Zentralbank bei einem Dollarkurs am unteren Interventionspunkt so viele Dollar aufkaufen, wie angeboten wurden; das Angebot bzw. die Nachfrage nach Devisen wurde also an den Interventionspunkten völlig elastisch. Insoweit besteht im Prinzip eine Parallele zwischen Gold- und Dollarparität; die Bandbreiten entsprechen der Spanne der Transportkosten beim Goldstandard. Anders als beim Goldautomatismus ist die Notenbank aber nicht auf die unsichere Mitwirkung privater Wirtschaftssubjekte angewiesen. Das Bretton-Woods-System stellt vielmehr den klassischen Fall der staatlichen Intervention an einem Markt über die Steuerung der Angebots- bzw. Nachfragemenge dar. Waren Notenbanken längere Zeit zu Interventionen am oberen Interventionspunkt gezwungen, bestand für sie die Gefahr, alle Devisenreserven zu verlieren. Für diese fundamentalen Zahlungsbilanzungleichgewichte waren diskretionäre Maßnahmen vorgesehen. Neben einem abgestuften System von Kredithilfen seitens des Internationalen Währungsfonds bestand die Möglichkeit der Abwertung gegenüber der Leitwährung. Bei anhaltenden Interventionen am unteren Interventionspunkt durfte das betreffende Land aufwerten. An fundamentalen Zahlungsbilanzungleichgewichten, besonders der Leitwährung, im Verbund mit zu späten Auf- und Abwertungen und der Währungsspekulation ist das System letztlich gescheitert. Das Regelbindungskonzept der Wechselkursfixierung durch Interventionspfiichten der Notenbanken ist in der Praxis und in der Literatur weiterverfolgt worden. Der heute praktizierte Währungsverbund28 der meisten EG-Staaten, darunter der Bundesrepublik, beruht auf dem gleichen Konstruktionsprinzip wie das Bretton-Woods-Abkommen. Eine Leitwährung wie der US-Dollar existiert in diesem Konzept nicht. An seine Stelle ist eine Europäische Rechnungseinheit (ECU) als Summe von festen Beträgen der verschiedenen EG-Währungen getreten. Die ECU dient als Bezugsgröße für die Fixierung der Wechselkurse. Bei Abweichungen zwischen den beteiligten Währungen über die festgelegten Bandbreiten hinaus nehmen die Notenbanken die oben beschriebenen Interventionen vor, auch wenn eine gesetzliche Verpflichtung nicht besteht. Diskretionäre Auf- und Abwertungen bei dauerhaften Ungleichgewichten gehören zum Konzept. 28
Vgl. zum Aufbau Monatsberichte der Deutschen Bundesbank, 31.Jg. März
1979, Nr. 3, S. 11 ff.
D. Finanzpolitische Regeln
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Die Steuerung von Auf- und Abwertungen durch Regelbindungen wird ebenfalls in der Literatur diskutiert. Zu diesen Ansätzen zählt der Vorschlag einer gleitenden Paritätsanpassung von J. Black29 , der auch im Regelsystem von H. Besters präferiert wird 30 • Er sieht die Bandbreite der Wechselkursabweichung und die Laufzeit als Parameter vor. Eine Bandbreite von z. B. 1 % gilt für 3 Monate. Der durchschnittliche Wechselkurs der vorangegangenen 3 Monate gilt als Mittelkurs. Auf diese Weise wird der Auf- bzw. Abwertungseffekt begrenzt; im Beispiel beträgt er maximal 4 Ofo pro Jahr. Flexible Wechselkurse sind häufig Bestandteil von Regelbindungskonzepten. Die Bestimmung der Devisenkurse durch Angebot und Nachfrage der privaten Wirtschaftssubjekte erfüllt aber nicht die Voraussetzungen der obigen Definition der Regelbindung31 • Es besteht keine Verpflichtung eines Trägers der Wirtschaftspolitik zu bestimmten wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Allenfalls könnte eine Verpflichtung zum Unterlassen von Eingriffen konstruiert werden. Eine solche Argumentation würde den Regelbindungsansatz aber völlig verwischen, weil in einer Marktwirtschaft die Marktprozesse i. d. R. frei von direkten staatlichen Eingriffen sind. Im übrigen kann eine generelle Eingriffsmöglichkeit bei unvorhergesehenen Ereignissen nicht ausgeschlossen werden. Flexible Wechselkurse können also selbst keine Regelbindung sein, sondern nur ein flankierendes Instrument in Regelbindungskonzepten. D. Finanzpolitische Regeln
Lange Zeit wurde die Finanzwirtschaft von einer Regelbindung beherrscht, dem Prinzip des jährlichen Budgetausgleichs. Danach sollten die laufenden Staatsausgaben durch Steuereinnahmen gedeckt werden. Kredite, so die ergänzende Verschuldungsregel, durften ausschließlich bei unvorhergesehenen Ereignissen (z. B. Katastrophen) und für renditebringende Objekte aufgenommen werden. Weder vom Zweck noch von der Wirkung her kann dieser Grundsatz als konjunkturpolitisches Instrument eingestuft werden. Nur bei Vollbeschäftigung und Stabilität des privaten Sektors erbringt dieses Prinzip konjunkturell erwünschte Ergebnisse. Dagegen führen Schwankungen der wirtschaftlichen Aktivität über schwankende Steuereinnahmen zu entsprechenden Bewegun29 Btack, J.: A Proposal for the Reform of Exchange Rates, in: The Economic Journal, Val. 76 (1966), S. 290 f.
30
31
So Tiedtke, S. 115.
Vgl. Kap. 11.
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IV. Darstellung einzelner konjunkturpolitischer Regelbindungen
gen der Staatsausgaben (sog. Parallelpolitik) und damit zu einer Zyklenverstärkung, jedenfalls nach keynesianischer Ansicht. 1. Formula-Flexibility-Ansätze Als erste konjunkturelle Regelbindungen im Bereich der Finanzpolitik können die als "formula flexibility" bezeichneten Vorschläge angesehen werden, die seit Ende des 2. Weltkrieges veröffentlicht werden. Der Begriff bezeichnet allgemein die Vorschläge der regelgebundenen Antizyklik 32 • Ein antizyklischer Regelmechanismus muß die Schwankungen der Wirtschaftstätigkeit ständig erfassen und verarbeiten. Er ist deshalb komplizierter gestaltet als eine mittelfristig orientierte Verhaltensbindung. Zunächst muß der Wirtschaftsablauf durch einen oder mehrere Indikatoren erfaßt werden. Das konjunkturpolitische Ziel (ein- oder mehrdimensional) ist festzulegen, und davon ausgehend sind die Indikatorenwerte, deren Erreichen eine Gefährdung des Ziels signalisiert, zu bestimmen. Mehrere Indikatoren sind zu diesem Zweck entweder zu einer Zeitreihe zusammenzufassen, oder es muß fixiert werden, wieviele Indikatoren ihre kritischen Werte erreichen müssen, um eine Gefährdung anzunehmen. Dem jeweiligen Gefährdungstatbestand sind die kontraktiven bzw. expansiven Maßnahmen zuzuordnen, die nach dem Ausmaß der Gefährdung noch differenziert werden können. Es besteht die Möglichkeit, die einmal ausgelösten Maßnahmen an eine Veränderung der wirtschaftlichen Lage anzupassen. Es muß aber zumindest ein Indikator bestimmt werden, der die Aufhebung der Maßnahmen steuert, wenn die Gefährdung des konjunkturellen Ziels beseitigt ist. Bei diesem Indikator muß es sich nicht unbedingt um einen der Indikatoren handeln, die den Instrumentaleinsatz ausgelöst haben. Schließlich sollte eine Suspensionsklausel vorhanden sein, die den Weg für diskretionäres Handeln in den Fällen freigibt, die vom antizyklischen Regelmechanismus nicht berücksichtigt werden. Denkbar ist dies z. B. in den Fällen, in denen die Indikatoren sich widersprechen, wenn etwa das Start- und Schlußsignal gleichzeitig ertönen. In der Literatur findet sich eine Vielzahl von Formula-flexibility-Ansätzen. Gemessen an dem eben beschriebenen Modell eines voll ausgebildeten antizyklischen Regelmechanismus sind die meisten Vorschläge höchst fragmentarisch 33 • Einige konkrete Regelbindungen sollen skizziert werden, um die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten anzudeuten. 32 Vgl. Wiss. Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen, Regelmechanismen ..., S. 607. 33 Siehe hierzu die Beispiele bei B. Steinbach: Formula Flexibility, Frankfurt 1977, S. 111 ff.
D. Finanzpolitische Regeln
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Ein als "Gong und Pfeife" bezeichneter Vorschlag von A. Hart (19461 1948)34 sieht vor, daß der Startindikator Arbeitslosigkeit (der Gong) bei einer Zahl von 4 Millionen Arbeitslosen in den USA eine Reduktion der Einkommensteuer und der Verbrauchsteuern auslöst, die im Falle der Einkommensteuer mit 1,2 Milliarden Dollar quantifiziert wird. Der Startindikator Preisindex der Lebenshaltungskosten (die Pfeife) leitet bei einem Anstieg von 4 010 innerhalb von 6 Monaten kontraktive steuerliche Maßnahmen ein, die allerdings ebensowenig präzisiert werden wie ein Schlußindikator. Dafür ist eine Suspendierung der Regeln vorgesehen, wenn beide Startindikatoren gleichzeitig ertönen (eine für die USA ab 1970 geltende Konstellation)35. Kritisch ist anzumerken, daß die Verwendung absoluter Größen für eine wachsende Wirtschaft wenig sinnvoll ist. Dieser Vorwurf gilt zum Teil auch gegenüber dem Konzept von Everett E. Hagen (1948)36. Der Startindikator "Anzahl der Beschäftigungslosen" bewirkt eine Reduktion der Einkommensteuersätze bis hin zur Halbierung, wenn die Arbeitslosenzahl für 1 Monat über 6 Millionen bzw. für 3 Monate über 4 Millionen steigt. Eine Anpassung der expansiven Maßnahmen bei sich verschärfender Arbeitslosigkeit wird ins Auge gefaßt, aber nicht quantifiziert. Zur Aufhebung der Expansionspolitik müssen 2 kritische Werte erreicht werden. Die Arbeitslosenzahl muß unter 2,5 Millionen liegen, und der Konsumgüterpreisindex muß innerhalb von 6 Monaten um mindestens 3 (l/o steigen. Die Möglichkeit einer Suspendierung der Regeln wird in Betracht gezogen. Im Jahre 1956 hat Hagen seinen Vorschlag quantitativ geringfügig modifiziert37 • Als alternativer Startindikator wird das Absinken der Lagerbzw. Anlageinvestitionen diskutiert. Die Vereinten Nationen haben 1949 einen Vorschlag über zyklusorientierte Regelmechanismen in der Finanzpolitik unterbreitet 38 • Da dieser an viele Länder gerichtet war, wurde auf eine Quantifizierung verzichtet. Expansive Maßnahmen sind nach dieser Regel zu ergreifen, wenn der Startindikator "saisonbereinigte Arbeitslosenrate" 3 Monate lang den Bereich der Vollbeschäftigung um eine festgelegte Spanne über34 Hart, A.: The Problem of "FuII Employment", Facts, Issues and Policies, in: AER, Papers and Proceedings, Bd. 36 (1946), S. 280 - 290; präzisiert in: Ders., Money, Debt and Economic Activity, 1. Aufl., New York 1948, S. 513 f. 35 Steinbach, S. 117. 36 Hagen, E.: Problems of Timing and Administering Fiscal Policy in Prosperity and Depression, in: AER, Papers and Proceedings, Vol. 38 (1948), S. 421, 424. Das Konzept bezieht sich auf die USA. 37 Hagen, E.: Federal Taxation and Economic Stabilization, in: Joint Economic Committee on the Economic Report, Federal Tax Policy for Economic Growth and Stability, Washington 1956, S. 63 ff. 38 United Nations, Department of Economic Affairs: National and International Measures for Full Employment, New York 1949, S. 40 f., 74, 81 ff.
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IV. Darstellung einzelner konjunkturpolitischer Regelbindungen
schreitet. Als Vollbeschäftigung gilt die niedrigste Arbeitslosenrate, die angesichts struktureller Wandlungen auf die Dauer vernünftigerweise erreicht werden kann. Für die Ermittlung der Arbeitslosenrate sollen nach Möglichkeit konjunkturreagible Sektoren herangezogen werden. Die Maßnahmen sind zu be enden, wenn die Arbeitslosenrate für eine festgelegte Zeitspanne wieder im Vollbeschäftigungsbereich angelangt ist. Als Instrument wird vor allem eine Variation der Freibeträge oder des Tarifs der Einkommensteuer genannt. Auch eine Änderung des Umsatzsteueraufkommens bzw. eine Subventionierung wird nicht ausgeschlossen, während Arbeitsbeschaffungsprogramme skeptisch beurteilt werden. Eine Suspensionsklausel ist für den Fall vorgesehen, daß die Arbeitslosigkeit eindeutig nicht auf einen Nachfrageausfall zurückzuführen ist. Dafür wird der Regierung die Pflicht auferlegt, die Gründe für die Aufhebung der Regel zu erklären. Der Wirkungsmechanismus der beschriebenen antizyklischen Regeln beruht auf dem keynesianischen Konzept. Besonders deutlich wird dies im Vorschlag der Vereinten Nationen, in dem die Ausgabenneigung der Wirtschaftssubjekte ausdrücklich angesprochen wird. Dagegen wird die Quantifizierung der Maßnahmen wie auch der Indikatoren ohne erkennbare theoretische Fundierung vorgenommen. An die Stelle nachprüfbarer Hypothesen treten Zweckmäßigkeitserwägungen der einzelnen Autoren. Dies ist ein Mangel dieser zyklusorientierten Konzepte, der mindestens ebenso schwer wiegt wie das Außerachtlassen von Zielkonflikten. Pack39 versucht in seinem Formula-flexibility-Konzept aus dem Jahre 1968, das theoretische Defizit durch eine empirische überprüfung seiner Vorschläge auszugleichen. Die kritischen Werte seiner Indikatoren sind ex post so gewählt, daß sie konjunkturelle Umschwünge in den USA zwischen 1953 und 1961 frühzeitig erfassen. Das Vorgehen ist methodisch bedenklich. Die Wirkungs zusammenhänge, die diese Datenkonstellation hervorgerufen haben, können sich ändern. Ein Regelbindungssystem ohne theoretische Basis kann frühzeitig gar nicht daraufhin überprüft werden, ob es bei geänderten Wirkungszusammenhängen noch funktioniert. Die Wirksamkeit der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen weist Pack mit Hilfe eines Simulationsmodelles nach. Es ist aber zu bedenken, daß die in das Modell eingegangenen Daten auch Wirkungen der diskretionären Wirtschaftspolitik der damaligen Zeit enthalten. Trotz dieser methodischen Bedenken 39 Pack, H.: Formula Flexibility: A Quantitative Appraisal in: A. Ando; C. Brown; A. Friedlaender (Hrsg.), Studies in Economic Stabilization, Washington 1968, S. 1 - 40; Analyse dieses Konzepts bei B. Steinbach, S. 122 ff.
D. Finanzpolitische Regeln
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erscheint es angebracht, den Ansatz als Beispiel eines neueren detaillierten Beitrages zum Formula-flexibility-Konzept kurz darzustellen. Als Startindikator werden vier als Frühindikatoren bezeichnete Zeitreihen verwendet. Als kritischer Wert wird eine auf den letzten oberen Wendepunkt bezogene Veränderungsrate festgelegt: wöchentliche
Arbeitszeit
der
-
Durchschnittliche -1,75 Ofo
-
Rate der Neueinstellungen - 15 Q/o
-
Rate der Entlassungen (invertierte Zeitreihe) - 25%
-
Auftragseingänge für dauerhafte Güter - 8 0J0.
Arbeitnehmer
Eine expansive Politik 40 setzt ein, wenn 3 der 4 Indikatoren 3 Monate lang ihre kritischen Werte überschreiten. Der Startindikator weist also sowohl in der Betonung von Frühindikatoren als auch in der Aggregationsregel Abweichungen gegenüber älteren Konzepten auf. Als expansive Maßnahme sieht Pack eine Senkung des Eingangssteuersatzes der Einkommensteuer derart vor, daß das Steueraufkommen um 3 0J0 des maximalen Sozialprodukts im letzten Boom sinkt41 • Die Steuersenkung ist aufzuheben, wenn der Schlußindikator "Auslastungsgrad der industriellen Sachkapazitäten" 94 0J0 erreicht. Das Konzept von Pack hätte, wie eine empirische überprüfung bis 1975 ergab42 , in den letzten Jahren nicht mehr reibungslos funktioniert. In zwei Fällen löste das gleichzeitige Ansprechen von Start- und Schlußindikator Fehlalarm aus. Der Vorlauf der Frühindikatoren verringerte sich. Auch die für die Instrumentenwahl maßgebliche Annahme, die maximale absolute Höhe des Sozialprodukts bestimme die Stärke der nachfolgenden Rezession, erscheint nicht schlüssig begründet. Gleichwohl zeigt die Verwendung einer Mehrzahl von Frühindikatoren und der Versuch einer empirischen Verifizierung die Fortentwicklung, die die Konzeption der formula flexibility im Laufe der Zeit genommen hat. Wie in den bisher dargestellten Beispielen werden in den meisten Ansätzen Steuervariationen als Regelungsinstrument bevorzugt. Antizyklische Regelmechanismen lassen sich grundsätzlich auch für StaatsausPack beschäftigt sich nur mit Rezessionsphasen. Pack zeigt insgesamt acht Möglichkeiten auf, die eingeleitete Steuersenkung nach Maßgabe der Konjunkturentwicklung im Zeitablauf zu variieren. 40
41
42
5'
Stein bach, S. 140 ff.
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IV. Darstellung einzelner konjunkturpolitischer Regelbindungen
gaben konstruieren. Im folgenden sollen einige in der Literatur vorgeschlagene Ausgabenkategorien genannt werden. In einem Ansatz der National Planning Association wird die Bezugsdauer der Arbeitslosenunterstützung variiert43 , also auf Transferausgaben abgestellt. Depres und andere fassen ein Arbeitsbeschaffungsprogramm ins Auge 44, Staatsausgaben für Güter und Dienste. Schiff greift diesen Punkt auf, wobei auch staatliche Subventionen an Unternehmen zur Arbeitsplatzbeschaffung in Erwägung gezogen werden45 • Eine Regelbindung für investive Staatsausgaben ist 1976 von Kock, Leifert u. a. gefordert worden46 • Im Hinblick auf die Problematik der Konjunkturpolitik in einem Bundesstaat ist von Shoup angeregt worden, das System der Finanzzuweisungen an Gemeinden derart umzugestalten, daß von der örtlichen Arbeitslosenrate abhängige Bundeszuweisungen gewährt werden 47 • Im Gegensatz zu den bisherigen finanzpolitischen Regelvorschlägen zielen andere Konzepte darauf ab, den gesamten öffentlichen Haushalt ins Kalkül einzubeziehen. 2. Konzept der "Stabilizing Budget Policy"
Ein früher Versuch ist der Ansatz von M. Friedman aus dem Jahre 1948, der als "stabilizing budget policy" bekannt ist48 • Für die Staatsausgaben gilt bis auf die Transferausgaben ein generelles Verbot der antizyklischen Variation. Die übrigen Haushaltsposten sollen ausschließlich an den Bedürfnissen der Bürger nach öffentlichen Gütern ausgerichtet werden. Die Transferausgaben, Friedman denkt vornehmlich an die Arbeitslosenunterstützung, sollen automatisch gegenläufig zum Volkseinkommen schwanken. Bei hohem Be43 National Planning Association: Federal Expenditure and Revenue Policy for Economic Stability, Princeton N. J. 1949; wieder abgedruckt in: Smithies, A.; Butters, J. (Hrsg.), Readings in Fiscal Policy, London 1955, S. 403. 44 Depres, E.; Friedman, M.; Hart, A.; Samuelson, P.; Wallace, D.: The Problem of Economic Instability, in: AER, Vol. 40 (1950), S. 524 f. 45 Schiff, F.: Alternative Tax and Spending Policies 1971 - 1976, in: Giersch, H. (Hrsg.), Fiscal Policy and Demand Management - Fiskalpolitik und Globalsteuerung, Tübingen 1973, S. 191 f. 46 Kock, H.; Leifert, E.; Schmid, A.; Stirnberg, L.: Stabilitätspolitik, Göttingen 1976, S. 82. 47 Shoup, C.: Recession Grant to Ease Tax Shortfall, Letter to the Editor of the New York Times, 14. 1. 1971; zitiert nach: Neumark, F.: Ermessensfreiheit oder Automatismus?, Zürich 1971, S. 15. 48 Friedman, M.: A Monetary and Fiscal Framework for Economic Stability, in: AER, Vol. 38 (1948), S. 245 - 264.
D. Finanzpolitische Regeln
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schäftigungsniveau sind die Ausgaben gering, in der Rezession dagegen hoch. Eine derartige built-in-flexibility ist auch für das Steuersystem vorgesehen, das vor allem auf einer progressiven Einkommensteuer beruhen soll. In der Hochkonjunktur wird ein größerer Anteil der Einkommen durch Steuerzahlungen abgeschöpft als in Phasen konjunktureller Schwäche. Das Steuersystem ist im übrigen so zu bemessen, daß bei Vollbeschäftigung ein ausgeglichenes Budget bzw. ein Budgetdefizit in der Höhe entsteht, das dem notwendigen Geldmengenzuwachs in einer wachsenden Wirtschaft entspricht 49 • Die entstehenden Haushaltsdefizite und -überschüsse werden durch Notenbankkredite und -einlagen ausgeglichen. Die oben genannte 100 Q/o-money-Regel verhindert eine Geldschöpfung durch Kreditinstitute. Eine Änderung der Staatsausgabenhöhe zur Anpassung des Angebots von öffentlichen Gütern an gewandelte Bedürfnisse ist bei entsprechender Änderung des Steuertarifs zulässig. Eine Suspensionsklausel ist für den Kriegsfall vorgesehen. Der Steuerungsmechanismus unterscheidet sich von den oben geschilderten antizyklischen Regelmechanismen durch die Verwendung sog. eingebauter Stabilisatoren (built-in-flexibility). Wenn bei diesem Verfahren auch keine neuen Normen für die wirtschaftspolitischen Akteure in Abhängigkeit von Konjunkturindikatoren Gültigkeit erlangen, besteht doch kein Grund, eine konjunkturpolitisch motivierte built-inflexibility nicht als Regelbindung anzusehen. Sie erfüllt die Definition der Regelbindung. Im Gegensatz zu den vorherigen finanzpolitischen Regeln ist dieses Konzept über ein Verbot der antizyklischen Variation weiter Ausgabenbereiche und die mögliche Einbeziehung der Geldmengenzuwachsrate bereits zum Teil mittelfristig orientiert. Heute gilt das Instrument der built-in-flexibility überwiegend deshalb als unzureichend, weil das stabilitätspolitische Volumen als zu gering angesehen wird und zeitliche Verzögerungen auftreten50 • 3. Konjunkturneutraler Haushalt als Regelbindung
Die gegenwärtig vertretenen Regelbindungen für den Gesamthaushalt knüpfen an die Diskussion um die Budgetkonzepte51 an. Dabei geht es um die Frage, wie die konjunkturellen Wirkungen des öffentlichen 49 Friedman läßt diesen Punkt offen. Siehe Pahlke, J.: Milton Friedmans geldpolitische Vorschläge, in: Sparkasse, 89. Jg. (1972), Heft 8, S. 225. 50 Vgl. z. B. Mackscheidt; Steinhausen, S. 101.
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IV. Darstellung einzelner konjunkturpolitischer Regelbindungen
Haushalts exakt gemessen werden können bzw. welche Gestalt des Budgets als konjunkturneutral bezeichnet werden kann. Das Problem eines adäquaten Meßkonzepts stellt sich zwar unabhängig von Regelbindungen. Die exakte Erfassung konjunktureller Wirkungen öffentlicher Haushalte ist aber unabdingbare Voraussetzung für eine effektive Regelbindung des gesamten Budgets. Ein wissenschaftlich überzeugendes und zugleich praktikables Konzept ist bisher noch nicht entwickelt worden. Gleichwohl ist der Ansatz eines "konjunkturneutralen Haushalts" des Sachverständigenrates mehrfach als Grundlage eines finanzpolitischen Regelmechanismus diskutiert worden, so von Giersch 52 und Rahmann / Rürup53. Inwieweit der Sachverständigenrat 1969 sein Konzept über die Maßstabsfunktion hinaus als Regelbindung verstanden hat, ist umstritten. Zwar wird vorgeschlagen, daß der Bundestag ein eindeutiges System von konjunkturpolitischen Zielen und Mitteln definieren soll, an das sich die Exekutive zu halten hat54 • Für die Finanzpolitik wird eine Orientierung am mittelfristigen Wachstum des Produktionspotentials empfohlen55 • Kurz zuvor wird aber im Gutachten eine Verlagerung konjunkturpolitischer Befugnisse auf die Regierung bei operationaler Zieldefinition durch das Parlament für wünschenswert erachtet56 • Diese etwas zwiespältige Stellungnahme des Sachverständigenrates wird überwiegend als Plädoyer für eine regel gebundene Konjunkturpolitik gewertet57 • Das Konzept des konjunkturneutralen Haushalts vertritt der Sachverständigenrat mit Modifikationen seit 196758• Die als Maßstab und Ziel verwendbare Neutralität des öffentlichen Haushalts liegt vor, wenn im Laufe der Haushaltsperiode der Auslastungsgrad des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotentials durch das Budget nicht verändert wird. 51 Bieh~, D.; Hagemann, G.; Jüttemeier, K.; Leg~er, H.: Konjunkturelle Wirkungen öffentlicher Haushalte, Tübingen 1978. 52 Giersch, H.: Rationale Wirtschaftspolitik in der pluralistischen Gesellschaft, in: E. Schneider (Hrsg.), Rationale Wirtschaftspolitik und Planung in der Wirtschaft von heute, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F., Bd. 45, Berlin 1967, S. 123 ff. 53 Rahmann, G.; Rürup, B.: Der konjunkturneutrale Haushalt als Instrument der Regelbindung?, in: Konjunkturpolitik, 18. Jg. (1972), S. 261 - 273 m.w.N. 54 SVR-Gutachten 1969170, Ziff. 267. 55 SVR-Gutachten 1969170, Ziff. 270. 56 SVR-Gutachten 1969170, Ziff. 267. 57 Vgl. Bundesregierung, Jahreswirtschaftsbericht 1970, BT-Drucks. 6/281, Tz. 9 - 12, S. 7 f.; Schlecht, 0.: Erfahrungen und Lehren aus dem jüngsten Konjunkturzyklus, Vorträge und Aufsätze des Walter Eucken Instituts Nr. 35, Tübingen 1972, S. 46 f.; Institut "Finanzen und Steuern": Zur Verbesserung des konjunkturpolitischen Instrumentariums, Heft 106, Bonn 1974, S. 44 f.; Kritisch: Beyjuss, S. 19; Stein bach, S. 235 f. 58 SVR-Gl,lta