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German Pages 319 [321] Year 2022
Henning de Vries
Die Strafverfolgung internationaler Verbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof Eine Rekonstruktion ihrer Struktur in der Weltgesellschaft
VELBRÜCK WISSENSCHAFT
Henning de Vries Die Strafverfolgung internationaler Verbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof
Henning de Vries
Die Strafverfolgung internationaler Verbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof Eine Rekonstruktion ihrer Struktur in der Weltgesellschaft
VELBRÜCK WISSENSCHAFT
Herausgegeben vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr.
Erste Auflage 2022 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2022 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-302-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung: Die Strafverfolgung internationaler Verbrechen durch den IStGH . . . . . . . . . . . . . 12 Erstes Kapitel: Das Kooperationsverständnis des Völkerrechts in seiner historischen Entwicklung . . . . . . 28 I. Kooperation im horizontalen und vertikalen Modus . . . 31 II. Die staatliche Souveränität als Grundlage des horizontalen Modus der Kooperation . . . . . . . 39 III. Der europäische Zivilisationsstandard: Parallelität der Modi horizontaler und vertikaler Kooperation . . . . . . . . . . . . . . 46 IV. Internationale Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 V. Zwischenfazit: Vom horizontalen zum vertikalen Modus der Kooperation . . . . . . . . 69 Zweites Kapitel: Die Institutionalisierung internationaler Strafverfolgung in der Weltgesellschaft . . . . 73 I. Die internationale Strafverfolgung im Spiegel des Mikro-Makro-Problems . . . . . . . . . . . . 75 II. Makrodetermination: Die globale Diffusion des institutionellen Musters internationaler Strafverfolgung . 85 III. Emergente Strukturbildung: Die globale Vernetzung des institutionellen Musters internationaler Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 IV. Zwischenfazit: Das institutionelle Muster internationaler Strafverfolgung . . . . . . . . . . . 97 Drittes Kapitel: Der IStGH und seine Umwelt. Komplementarität staatlicher Souveränität und internationaler Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . 101 I. Strukturrekonstruktion in der Präambel des Römischen Statuts . . . . . . . . . . . . . . 103
II. Parenthese: Die Begründung des Römischen Statuts als völkerrechtlichen Vertrag . . . . . . . . . . . . 117 1. Einstieg in die Sequenzanalyse: Titel und Untertitel . . 117 2. Parenthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 III. Von der völkerrechtlichen Kooperationsstruktur zum Prinzip der Komplementarität . . . . . . . . . 123 1. Global-historischer Kontext . . . . . . . . . . . 123 2. Konzeption und Straflosigkeit internationaler Verbrechen . 132 3. Staatliche Strafverfolgung im Völkerrecht . . . . . . 142 4. Der Internationale Strafgerichtshof . . . . . . . . 147 IV. Strukturhypothese: Komplementarität internationaler und nationaler Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Viertes Kapitel: Die Legitimation internationaler Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . 159 I. Spannungsreiche Komplementarität: Die Afrikanische Union, die USA und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen . . . 161 II. Legitimationsdefizit internationaler (Straf-)Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . 172 III. Legitimationsbeschaffung durch Organisation und Verfahren in der Weltgesellschaft . . . . . . . . 187 IV. Zwischenfazit: Legitimation durch Verfahren der internationalen Strafverfolgung . . . . . . . . . 201 Fünftes Kapitel: Situationskonstruktion der Verfahren in der Weltgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 204 I. Die Verfahren des IStGH und ihre Rekonstruktion nach der dokumentarischen Methode . . . . . . . . 205 II. Die Situation in Kenia (1): Überweisung an die Vorverfahrenskammer . . . . . . . . . . . . . 212 1. Der organisationale Bezug: Dokumentkopf . . . . . 213 2. Präsupposition einer Situation: Dokumenttitel . . . . 215 3. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 4. Entscheidung des Präsidiums . . . . . . . . . . 220 5. Zwischenfazit: Verfahrensauftakt . . . . . . . . . 225 III. Die Situation in Kenia (2): Antrag des Anklägers, Ermittlungen einzuleiten . . . . . . . . . . . . . 227 1. Dokumentkopf, -titel und Adressaten . . . . . . . 229 2. Antragseinleitung . . . . . . . . . . . . . . . 230 3. Hintergrund des Verfahrensantrags . . . . . . . . 235 4. Im Antrag ausgewertete Informationsquellen . . . . 241
5. Formalrechtliche Bedingungen: Gerichtsbarkeit, Zulässigkeit und Interesse der Gerechtigkeit . . . . . 244 6. Materiellrechtliche Bedingung: Verbrechen innerhalb der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs . . . . 252 7. Antragsabschluss . . . . . . . . . . . . . . . 254 8. Zwischenfazit: Von der Präsupposition der Situation zur hinreichenden Grundlage für Ermittlungen in der Situation . . . . . . . . . . . . . . . . 256 IV. Die Situation in Kenia (3): Entscheidung der Vorverfahrenskammer über den Antrag des Anklägers . . 257 V. Zwischenfazit: Die Verfahren des IStGH zwischen Präsupposition und Konstruktion der Situation . . . . . 260 Sechstes Kapitel: Rekonstruktion der Struktur internationaler Strafverfolgung durch den IStGH in der Weltgesellschaft . . . . . . . . . . . . . 264 I. Die Struktur der internationalen Strafverfolgung . . . . 266 1. Struktur und Ereignis . . . . . . . . . . . . . . 266 2. Spezifizierung kommunikativer Anschlussmöglichkeiten . . 269 3. Generalisierung der Erwartungsstruktur . . . . . . 273 II. Die Verbindlichkeit der institutionalisierten Struktur internationaler Strafverfolgung . . . . . . . . . . . 280 Fazit: Struktur, Institutionalisierung und Verbindlichkeit der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH . . . . 288 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . .
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Danksagung Für dieses aus meiner Dissertation hervorgegangene Buch möchte ich meinen Betreuern Prof. Dr. Alfons Bora und Prof. Chris Thornhill herzlich danken. Die Gespräche mit Beiden habe ich stets als bereichernd und als ermutigend empfunden. Daneben haben mich die Kolleg:innen aus dem Kolloquium und der Research Class des Arbeitsbereichs Recht und Gesellschaft an der Universität Bielefeld immer wieder dazu angeregt, meine Argumente kritisch zu prüfen und zu schärfen. Der Gruppe aus Gina Jacobs, Greta Herzogenrath und Fabio Schiebel danke ich für ihre Ausdauer, die Präambel des Römischen Statuts mit mir Wort für Wort analysiert zu haben. Insbesondere durfte ich Fabio Schiebel über diese Analyse hinaus zumuten, kontinuierlich Argumente und Texte mit mir zu diskutieren. Für diese Geduld und Bereitschaft danke ich ihm herzlich. Darüber hinaus hat es mir das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) als wissenschaftlichen Mitarbeiter ermöglicht, die Dissertation fertigzustellen. Vor allem der freundschaftlich-kollegiale Austausch im Projektbereich der sozialwissenschaftlichen Einsatzbegleitung und -dokumentation unter der Leitung von Dr. Anja Seiffert hat hierzu beigetragen.
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Abkürzungsverzeichnis AU Afrikanische Union BVR Beweis- und Verfahrensregeln des IStGH CIPEV Commission of Inquiry into Post-Election Violence CREAW Centre for Rights Education and Awareness FIDA-K Federation of Women Lawyers – Kenya HLKO Haager Landkriegsordnung i.V.m. in Verbindung mit ICG International Crisis Group Internationale Komitee des Roten Kreuzes ICRC Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda ICTR ICTY Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien ILC International Law Commission IMT Internationaler Militärgerichtshof IStGH Internationaler Strafgerichtshof Kenya African Democratic Union KADU KANU Kenya African National Union KNCHR Keynan National Commission on Human Rights Lord Resistance Army LRA OCHA Office for the Coordination of Humanitarian Affairs OHCHR Office of the High Commissioner for Human Rights RS Römisches Statut TLP Transnational Legal Process UNFPA United Nations Population Fund UNICEF United Nations International Children’s Emergency Fund UNIFEM United Nations Devlopment Fund for Women VN Vereinte Nationen WVRK Wiener Vertragsrechtskonvention
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Abbildungsverzeichnis Abbildung 1. Thomas Hobbes Leviathan 1651. Abbildung 2. Neo-institutionelle Makrodetermination nach Meyer et al. 1997: S. 151. Abbildung 3. Das Komplementaritätsprinzip nach Art. 17 RS. Abbildung 4. Karikatur Victor Ndulas aus Kenia vom 27. März 2013. Abbildung 5. Karikatur Victor Ndulas aus Kenia vom 30. März 2015. Abbildung 6. Karikatur aus dem Blog »Duck of Minverva« vom 5. Dezember 2012; zuerst bei cnsNews.com erschienen. Abbildung 7. Karikatur aus der New York Times von Heng Kim Song (16.09.2018). Abbildung 8. Ablauf des Vorverfahrens nach Dokumenten und Vorschriften. Abbildung 9. Karte Kenias (ezilon maps 2009). Abbildung 10. Presidency 2009: Briefkopf. Abbildung 11. Presidency 2009: Dokumenttitel. Abbildung 12. Presidency 2009: Adressaten. Abbildung 13. Presidency 2009: Abs. 1. Abbildung 14. Presidency 2009: Abs. 2. Abbildung 15. Presidency 2009: Abs. 3. Abbildung 16. Presidency 2009: Abs. 4. Abbildung 17. Presidency 2009: Abs. 5. Abbildung 18. Presidency 2009: Unterschrift. Abbildung 19. Antragsgliederung. Abbildung 20. Zeitstrahl des Verfahrenshintergrunds. Abbildung 21. Gerichtsbarkeit nach Art. 53 I (a) RS. Abbildung 22. Zulässigkeit nach Art. 53 I (b) RS. Abbildung 23. Interesse der Gerechtigkeit nach Art. 53 I (c) RS. Abbildung 24. Vorschriften 49.1 und 49.2 der Geschäftsordnung des IStGH. Abbildung 25. Vorverfahrenskammer 2010: Inhaltsverzeichnis der Entscheidung.
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Einleitung: Die Strafverfolgung internationaler Verbrechen durch den IStGH Das Völkerrecht hat sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1939– 1945) zu einer neuen internationalen öffentlichen Ordnung gewandelt. Eine damit verbundene internationale Gerichtsbarkeit entwickelt diese globale Rechtsordnung kontinuierlich weiter. Bis zur Arbeitsaufnahme des permanent eingerichteten Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) im Jahr 2002 stellte die internationale Strafverfolgung von Individuen eine Ausnahme von der staatlichen Strafverfolgung dar. Auf den Nationalsozialismus in Deutschland und den Zweiten Weltkrieg folgte das Internationale Militärtribunal (IMT) 1945. Nach dem Völkermord der Hutu an den Tutsi 1994 etablierte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (VN) den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR). Die Sezessionskriege im ehemaligen Jugoslawien veranlassten den VN-Sicherheitsrat im Jahr 1993 zur Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). Diese ad hoc Tribunale folgten auf einzelne Ereignisse, in denen die jeweiligen Staaten nicht mehr in der Lage oder willens waren (vgl. Art. 17 Römisches Statut), eine strafrechtliche Verfolgung von Individuen zu gewährleisten. Aus dieser Ausnahmeerscheinung einer Strafgerichtsbarkeit außerhalb eines Staates ist mit dem IStGH eine dauerhafte Regel geworden. Individuen sind im Zuge dieser Entwicklung direkt und ohne Vermittlung durch den Staat strafrechtlich verfolgbar geworden (Cogan 2011: 346 ff.). Der IStGH durchbricht damit dauerhaft die Souveränität der Staaten über die individuelle Strafverfolgung (vgl. Art. 25 Römisches Statut). Diese Entwicklung des Völkerrechts und die mit ihr verbundene internationale Gerichtsbarkeit stehen im Zentrum dieser Arbeit und werden anhand der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH untersucht. Die sich wandelnden Verhältnisse zwischen dem Völkerrecht, internationalen Gerichten, Staaten und Individuen werfen die Frage auf, wie diese internationale öffentliche Ordnung möglich wurde. Philip Allott beschreibt diese Entwicklung als eine beginnende »metamorphosis of the international system« (2001: 14), deren Ergebnis »the emergence of a universal legal system« (2001: 14) ist. Neben völkerrechtlichen Grundprinzipien, öffentlichem Recht, Verwaltungsrecht, Wirtschaftsrecht und transnationalem Recht differenziert sich das Völkerstrafrecht als Teil dieser emergierenden internationalen öffentlichen Ordnung aus (Allott 2001: 16 f.). Obwohl die Menschenrechtsentwicklung vom Völkerstrafrecht rechtsdogmatisch, aber auch als Phänomenbereich zu trennen ist, verweist sie wie andere Rechtsbereiche auf die 12
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emergierende internationale öffentliche Ordnung. Die Menschenrechte haben sich in verschiedenen regionalen völkerrechtlichen Vereinbarungen wie der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker, der Amerikanischen Menschenrechtskonvention oder der Arabischen Charta der Menschenrechte und Verträgen im Rahmen der Vereinten Nationen verbreitet (United Nations 2021: Human Rights). Dazu sind verschiedene Gerichtshöfe wie der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte oder der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker entstanden (vgl. Thornhill 2018a: 176 ff.; Cogan 2011: 334 ff.). Vor diesem Hintergrund einer emergierenden internationalen öffentlichen Ordnung konstatiert Bruno Simma die Entwicklung von der bilateralen Staatenordnung zu einer internationalen Gemeinschaft »on its way to being a true public international law« (Simma 2009: 268). An diese Beobachtung schließen Benedict Kingsbury und Megan Donaldson an (2011: 80). Sie argumentieren für eine internationale öffentliche Ordnung mit zwei Eigenschaften: Zum einen besteht sie nicht vorrangig aus Staaten als Akteuren, sondern aus verschiedenen »public entities operating under public law« (Kingsbury/Donaldson 2011: 80). Die öffentlichen Entitäten sind demnach in eine öffentliche Ordnung eingebunden. Zum anderen erhält die Öffentlichkeit selbst eine wachsende Bedeutung für das Völkerrecht (Kingsbury/Donaldson 2011: 80). Es ist eine »openness to all to know« (Kingsbury 2009: 48) gemeint, damit handelt es sich nach Kingsbury um ein notwendiges Element des Rechts in Demokratien. Das öffentliche Recht ist durch die Gesellschaft erarbeitet und betrifft die Gesellschaft als solche (Kingsbury 2009: 31). Kingsbury unterscheidet im Hinblick auf das Verwaltungsvölkerrecht die Öffentlichkeit von der Allgemeinheit des Rechts. Er argumentiert, dass die Allgemeinheit kein notwendiges Kriterium für dieses Recht sein kann. In einer internationalen öffentlichen Ordnung ist diese Allgemeinheit nicht erreichbar, weil das Recht vor allem für spezifische Fallanwendungen gebraucht wird. Gleichzeitig kann ein allgemein geltendes Verwaltungsvölkerrecht nicht ohne einen entsprechenden politischen Apparat abgestützt werden. Daher ist das Kriterium der Allgemeinheit des Rechts allein in spezifischen und demokratischen Rechtsordnungen umsetzbar (Kingsbury 2009: 51 f.). In Anbetracht der Expansion und Ausdifferenzierung des Völkerrechts wird befürchtet, dass das Völkerrecht fragmentiert und dadurch seine Einheit und Kohärenz verliert (Simma 2009: 270; Kingsbury/Casini 2009: 332 f.). »But the new developments in the law did not point to unity. The more powerfully they dealt with international problems – problems of economics, development, human rights, environment, security – the more they began to challenge old principles and institutions« (Koskenniemi 2007: 4). Fragmentierung beruht auf der Annahme, dass 13
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es eine Einheit der Rechtsordnung gibt. Die zunehmende Ausdifferenzierung dieser Einheit wird mit dem Konzept der Fragmentierung als Problem gedeutet (Cogan 2017: 123; Fischer-Lescano/Teubner 2006). Dagegen sieht Simma darin »the result of a transposition of functional differentiations of governance from the national to the international plane« (Simma 2009: 270). Diese Perspektive formuliert auch Koskenniemi (2007: 4) und fügt hinzu, dass die Fragmentierung oder Einheit des Völkerrechts beobachterrelativ sei (Koskenniemi 2007: 25). Pablo Holmes sieht in dieser rechtswissenschaftlichen Fragmentierungsdiagnose einen Anschluss für die Soziologie von Niklas Luhmann, der eine Weltgesellschaft und ihre interne Differenzierung beschreibt (Holmes 2011: 113). Holmes argumentiert, dass diese Parallelität in der Wahrnehmung sozialer Inklusion begründet ist. Sowohl in der soziologischen Konzeption einer Weltgesellschaft als auch in der rechtswissenschaftlichen Beschreibung einer internationalen öffentlichen Ordnung besteht der Anspruch einer vollständigen Inklusion. Darauf basieren die Selbstbeschreibung des Rechtssystems und der politischen Systems (Holmes 2011: 114). Luhmann fasst Inklusion »als eine Form […] der sozialen Berücksichtigung von Personen« (2015a: 620) auf und sieht in der Spezifikation dieser Form einen Ausdruck sozialer Ordnung (Luhmann 2015a: 621). Der Anspruch sozialer Inklusion ist vor allem Demokratien inhärent (Thornhill 2018a: 3 f.). In Demokratien besteht ein enger Zusammenhang von Recht und Politik: »As a result, legislation is the central element of democracy, and the legitimacy of democracy depends on its claim to channel the will of the people or the nation, through the legislative organs of government, into law« (Thornhill 2018a: 8). Das Individuum tritt in dieser Konstellation als Bürger auf, wenn es im Rahmen einer öffentlichen Ordnung Rechte verliehen bekommt. Es entsteht zwischen dem Staat und dem Bürger eine Wechselbeziehung. Der Bürger beansprucht Rechte und der Staat braucht für die Legitimation öffentlicher Autorität die Inklusion der Bürger (Thornhill 2018a: 10). Das Völkerrecht differenziert sich aus. Es koppelt sich dabei zunehmend von rein zwischenstaatlichen Verträgen ab und bildet sich in Entscheidungen internationaler Gerichte und Organisationen fort. Mit dem 20. Jahrhundert und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Zahl internationaler Organisationen und Gerichte kontinuierlich angewachsen. Sie sind auf einzelne Fachthemen und -bereiche spezifiziert, in denen sie im Zuge eines globalen Koordinationsbedarfs einer internationalen Gemeinschaft entstanden sind (Iriye 2004; March/Olsen 1998). In Anbetracht dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie der soziale Inklusionsanspruch gewährleistet werden kann (Holmes 2011: 118 f.). Kingsbury hatte diesen Aspekt mit der Allgemeinheit des Rechts aufgegriffen und damit angedeutet, dass die generelle soziale Inklusion durch ein auf Allgemeinheit abstellendes Völkerrecht ohne ein legitimierendes 14
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politisches System nicht garantiert werden kann. Die Ausdifferenzierung der Menschenrechte und ihr universeller Geltungsanspruch untermauern die »Abkopplung des Rechts […] von nationalstaatlich fixierten Grenzen« (Bonacker 2003: 121; Thornhill 2018a: 172 f.). Diese Entwicklung kann jedoch nicht nur als Expansion über den Staat hinaus verstanden werden. Chris Thornhill argumentiert, »that most societies did not develop a stable, political system until domestic institutions coalesced with the global legal system« (2018: 190). In gleicher Weise nimmt Harold Hongju Koh an, dass nationale Identitäten und Interessen durch völkerrechtliche Rechtfertigungsdiskurse geprägt werden (Koh 1997: 2602). Zum einen folgt daraus die Frage, wie Politik und Recht auf der weltgesellschaftlichen Ebene zueinander in Verhältnis stehen (Bonacker 2003: 122). Zum anderen ist offen, ob die Erklärung von einer weltgesellschaftlichen Makroebene oder einer nationalstaatlichen Mikroebene ausgehen kann. Gunther Teubner geht deswegen davon aus, dass sich »Verfassungsprobleme […] außerhalb der Grenzen des Nationalstaats in transnationalen Politikprozessen und zugleich außerhalb des institutionalisierten Politiksektors in den »privaten« Sektoren der Weltgesellschaft« (Teubner 2012: 12) stellen (Teubner 2011: 190). Die Konstitutionalisierung einer internationalen öffentlichen Ordnung schließt an die Beobachtung der zunehmenden Fragmentierung des Völkerrechts an. Die fehlende Kopplung der internationalen öffentlichen Ordnung an ein politisches System soll durch eine Konstitutionalisierung des Völkerrechts bzw. seiner Teilbereiche aufgefangen werden (Teubner 2015; 2007). Das Vorbild ist die Beziehung von Recht und Politik im demokratischen Rechtsstaat. Davon ausgehend stellt sich die folgende Frage: »Können Verfassungen zentrifugale Dynamiken der Teilsysteme in der Weltgesellschaft wirksam bekämpfen und dadurch zur gesellschaftlichen Integration […] beitragen« (Teubner 2012: 15)? Die analytische Perspektive mit dem Begriff des Konstitutionalismus fragt demnach ebenso nach einer Verhältnisbestimmung nationaler und internationaler Rechtsordnung. Darüber hinaus wird in Anbetracht der Fragmentierung des Völkerrechts der Fokus daraufgelegt, wie soziale Inklusion und Legitimation in einzelnen Rechtsbereichen gewährleistet werden können oder scheitern (Hitzel-Cassagnes/Meisterhans 2009; Neves 2017, 2009, 1998; Thornhill 2020, 2017). Dieser Wandel des Völkerrechts zu einer internationalen öffentlichen Ordnung verändert die Rolle des Staates, internationale Gerichte und Organisationen und des Individuums. Die staatliche Souveränität besteht innerhalb dieser internationalen öffentlichen Ordnung (Bonacker 2003: 124 ff.). Sie ist sowohl durch Rechte als auch Pflichten gebunden. »Sovereignty is a fundamental problem for political and legal theory« (Lindahl 2001: 180). Lindahl beschreibt Souveränität als heteronom und 15
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als autonom. Zum einen zeigt Souveränität eine Heteronomie an, weil sie eine politische Einheit von oben zum Ausdruck bringt. Zum anderen bedeutet Souveränität Autonomie, da soziale Inklusion in kollektiver Selbstregierung von unten ermöglicht (Lindahl 2001: 175). Lindahl fragt daher, wie die Institutionalisierung der normativen Ordnung des Völkerrechts möglich ist (2001: 176). »›We‹ constitute and ›we‹ are con stituted; ›we the people‹ are pouvoir constituant and pouvoir constitué« (Lindahl 2001: 179). Mit dieser Formulierung greift Lindahl die Frage des Konstitutionalismus auf und bezieht sie auf die staatliche Souveränität. Diese bewegt sich zwischen der nationalen und internationalen Rechtsordnung. Das Paradox der staatlichen Souveränität liegt darin, dass die Souveränität einerseits von der externen Wahrnehmung abhängt und andererseits normativer Ausdruck für Unabhängigkeit sowie Selbstbestimmung einer Nation ist (Koskenniemi 2009: 225). Dies wiederholt die Problemstellung, dass zwischen Mikro- und Makroebene kein eindeutiger Kausalzusammenhang feststellbar ist. Darüber hinaus erzeugen zwei Rechtsordnungen die Herausforderung ihres Überlappens. »When legal orders overlap, the content of overlapping norms is the same in both orders, but, crucially, such norms have different grounds of validity« (Lindahl 2001: 172). Diesen Rechtsplura lismus hat auch John Griffiths beschrieben und bezeichnete damit »any social field, in which behavior pursuant to more than one legal order occurs« (Griffiths 1986: 2). Thomas Duve hat diesen Rechtspluralismus in globalhistorischer Perspektive untersucht und gezeigt, dass er überall auftaucht, wo Verhältnisse zwischen Rechtsordnungen offen oder ungeklärt sind (Duve 2017; 2016; 2012). Koskenniemi führt Studien zum Rechtspluralismus auf drei Quellen zurück: lokales Recht, Rechtspraktiken in der modernen Gesellschaft und die Koexistenz einheimischen Rechts und importierten Rechts während des Kolonialismus und der Globalisierung (Koskenniemi 2007: 22; siehe weiterführend zum Rechtspluralismus Viellechner 2013; Michaelis 2009; Tamanaha 2008). In dieser sich ausdifferenzierenden und pluralistischen internationalen öffentlichen Ordnung haben internationale Gerichte und Organisationen wachsende Entscheidungskompetenzen (Cottrell/Trubek 2012; Koch 2008; Checkel 2001; Finnemore/Sikkink 1998; March/Olsen 1989). Dieses Phänomen wird mit dem Begriff »Global Governance« erfasst. Es bezieht sich zum einen auf globale Koordinationsaufgaben und zum anderen auf die »Koordination von Handlungen auf allen Ebenen sozialer Interkation bis hin zur globalen Ebene« (Dingwerth/Pattberg 2006: 378). Das Mikro-Makro-Problem tritt wieder auf und scheint damit eine grundlegende Problemstellung in der internationalen öffentlichen Ordnung zu markieren. Global Governance »kann in diesem Sinne als eine Antwort auf die Schwierigkeiten bestehender politischer Theorien verstanden werden, empirischen Transformationen im Weltmaßstab 16
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gerecht zu werden« (Dingwerth/Pattberg 2006: 381; Zürn 2018). Ohne die Kopplung an ein politisches System resultiert daraus ein »accountability deficit in the growing exercise of transnational regulatory power« (Kingsbury et al. 2005: 16). Michael Barnett und Martha Finnemore beschreiben internationale Organisationen als Bürokratien und zeigen, »they use their authority to orient action and create social reality« (2004: 6). Sie bieten damit eine anschlussfähige Perspektive für Kingsburys Arbeiten zum Verwaltungsvölkerrecht. Daraus resultiert in demokratietheoretischer Perspektive die Frage nach der Legitimation internationaler Organisationen und Gerichte sowie ihrer Entscheidungen (von Bernstorff 2009; Deitelhoff 2009; Somek 2009). Das Individuum tritt als Träger von Rechten und Pflichten unter dem Völkerrecht auf, ohne dass der Staat als vermittelnde Instanz wirksam werden kann (Peters 2016: 33). Als Wendepunkt zu dieser Entwicklung gilt das Ende des Zweiten Weltkriegs (Thornhill 2018a: 190; Cogan 2011: 333; Koh 1997: 2614 ff.). Neben der Menschenrechtsentwicklung kommt dem entstehenden Völkerstrafrecht nach den Nürnberger Prozessen für die individuelle Verantwortung unter dem Völkerrecht eine besondere Bedeutung zu (Peters 2016: 20). Die individuelle völkerstrafrechtliche Verantwortung markiert den Bruch mit der durch die staatliche Souveränität garantierten Immunität (Peters 2016: 117). Daraus hat sich ein neues Verhältnis des Völkerrechts und des staatlichen Rechts ent wickelt: »The preventive and repressive implementation of the prohibitions of international criminal law is in principle the responsibility of both domestic and international bodies« (Peters 2016: 122). Das Völkerstrafrecht stellt eine eigenständige Grundlage für die internationale und nationale Strafverfolgung dar. Die internationale Strafverfolgung durch den IStGH liegt im Kern dieser Problemstellungen. Es markiert eine emergierende internationale öffentliche Ordnung, innerhalb derer die Rollen von Staaten, internationalen Gerichten wie Organisationen und Individuen neu ausgehandelt werden. Der IStGH steht vor der Herausforderung, die Straflosigkeit internationaler Verbrechen zu bekämpfen. Daraus resultiert die Frage, wie das bisher aus dem Nationalstaat bekannte Verhältnis von Recht und Politik auf dieser weltgesellschaftlichen Ebene bestimmt wird. Allerdings ist dabei keine kausale Entwicklung vom Nationalstaat zur Weltgesellschaft festzustellen. Das Makro-Mikro-Problem stellt sich auch dahingehend, wie die internationale Strafverfolgung durch den IStGH von der weltgesellschaftlichen Ebene bis zu den Verfahren mit dem Staat, anderen internationalen Organisationen sowie Individuen koordiniert wird. Im Zuge dessen ist unklar, wie der IStGH die soziale Inklusion mit einem globalen Geltungsbereich, aber partieller Gerichtsbarkeit gewährleistet. Unter diesem Gesichtspunkt steht der IStGH in der Kritik. Die Afrikanische Union wirft dem IStGH westlichen Imperialismus vor, 17
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weil der Gerichtshof seine Ermittlungen auf den afrikanischen Kontinent konzentriert und weitaus seltener die Auseinandersetzung mit westlichen Staaten sucht. Über diesen Vorwurf hinaus sehen sich der IStGH und auch die ad hoc Tribunale der Kritik ausgesetzt, Siegerjustiz zu betreiben (Steinke 2018; Kaleck 2012). Im Nachgang eines gewaltsamen Konflikts ermöglicht die juristische Aufarbeitung durch den IStGH die internationale Legitimation der Siegerseite (vgl. Teitel 2002: 29; Kastner 2009). Zugleich kontrollieren die Sieger den Zugang zu Beweisen und Aussagen, sodass der Ermittlungsfokus auf den Verlierern des gewaltsamen Konflikts liegt. Wie lässt sich diese Problemstellung der internationalen öffentlichen Ordnung für die internationalen Strafverfolgung durch den IStGH in einem Analysedesign konzeptualisieren? Der Ausgangspunkt der dauerhaften internationalen Strafverfolgung liegt im 1998 ausgehandelten Römischen Statut (RS) als Gründungsdokument des IStGH und als erste umfassende Kodifizierung des Völkerstrafrechts. Dieser völkerrechtliche Vertrag stellt einen Meilenstein für eine lang vorausgehende Institutionalisierung der Völkerstrafrechtsordnung und ihre Entfaltung durch den IStGH dar. Die individuelle strafrechtliche Verfolgung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und dem Verbrechen der Aggression (= Angriffskrieg) durch den IStGH (Art. 5 RS) beruht nicht mehr allein auf dem Staat, sondern findet in einem globalen Kontext statt. Dieser soll begrifflich als Weltgesellschaft erfasst werden. In einer weltgesellschaftlichen Perspektive ist Gesellschaft nicht mehr an den Staat gebunden, sondern ist über dessen territoriale Grenzen hinaus zu einem weltweiten Kommunikationsraum expandiert und hat emergente Strukturen wie die internationale öffentliche Ordnung ausgebildet (vgl. Wobbe 2000: 5 f.). Die Weltgesellschaft ist damit der Rahmen, innerhalb dessen das Verhältnis von staatlicher und internationaler Strafgerichtsbarkeit in Bezug auf schwerste individuelle Verbrechen untersucht werden kann. Das Ergebnis dieser Untersuchung beschreibt, wie sich die Struktur der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH in der Weltgeschafft gebildet hat. Die Struktur internationaler Strafverfolgung ist durch einen vertikalen Modus der Kooperation definiert. Einerseits entstanden im historischen Verlauf die internationalen Verbrechenstatbestände, die die Staaten im Römischen Statut mit dem Anspruch globaler Geltung, aber partieller Gerichtsbarkeit auf der Ebene der Weltgesellschaft institutionalisiert haben (vgl. Crawford 2012: 687 f.; Zimmermann 2006). Andererseits vertreten die Staaten kraft ihrer Souveränität den Standpunkt, allein für ihre Staatsbürger verantwortlich zu sein. Die Strafverfolgung internationaler Verbrechen befindet sich gegenüber der staatlichen Souveränität in der Vertikalen. Sie ist den auf der Horizontalen gelegenen souveränen Staaten übergeordnet, weil die Staaten zur Verfolgung internationaler 18
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Verbrechen und auch zur Zusammenarbeit mit dem IStGH verpflichtet sind. Der IStGH nimmt dort die Strafverfolgung auf, wo die Staaten dieser Pflicht nicht nachkommen (können). Diese Darstellung trifft ceteris paribus auch auf jeden anderen ad hoc internationalen Strafgerichtshof zu. Diese Struktur bietet den Rahmen für die Strafverfolgung internationaler Verbrechen, innerhalb dessen der IStGH und die Staaten sie umsetzen. Die Weltgesellschaft ist im Gegensatz zum IStGH und den Staaten nicht entscheidungsfähig, aber sie determiniert über ihre Struktur die Entscheidungsprämissen des IStGH, der Staaten und anderer in der Strafverfolgung internationaler Verbrechen. Die Verpflichtung der Staaten zur Zusammenarbeit mit dem IStGH (Art. 86 RS) und das Prinzip der komplementären Gerichtsbarkeit des IStGH zur staatlichen Gerichtsbarkeit (Art. 17 RS) umreißen diese Entscheidungsprämissen auf der organisationalen Ebene. Beide Erwartungen weisen in unterschiedliche Richtungen. Einerseits sind die Staaten zur Zusammenarbeit mit dem IStGH verpflichtet. Andererseits können sie sich durch die Komplementarität des IStGH zu ihrer eigenen Gerichtsbarkeit von dieser entledigen, solange die Staaten die Standards des Völkerstrafrechts einhalten. Die formale Struktur schafft damit erst das Konfliktpotential zwischen IStGH und den Staaten in der organisationalen Ausführung der Strafverfolgung. Das Konfliktpotential entfaltet sich dann, wenn der IStGH ein Verfahren aufnimmt, weil er die Komplementaritätsfrage zu seinen Gunsten entschieden hat. Zu Beginn eines Verfahrens muss der IStGH die Zulässigkeit seiner Ermittlungen begründen und damit die Zuständigkeit des Staates zurückweisen. Gleichzeitig ist der IStGH auf die Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Staat angewiesen, weil der Gerichtshof weder über eine Polizei noch über andere Mittel verfügt, um sich vor Ort durchsetzen zu können. In den Verfahren verbinden sich die weltgesellschaftlichen Strukturen und die organisationale Ausführung mit der konkreten Situation in einem Staat. Die Verfahren des Gerichtshofs finden in der Weltgesellschaft statt. Gleichzeitig ist der IStGH ihr Veranstalter und der jeweilige Staat kann nur noch Teilnehmer am Verfahren sein. Diese Konstellation folgt aus dem vertikalen Modus der Kooperation, weil sich der Gerichtshof für die Strafverfolgung internationaler Verbrechen in der konkreten Situation der staatlichen Souveränität überordnet. Die Konsequenzen dieser Entwicklung spiegeln sich auf der weltgesellschaftlichen, organisationalen und Verfahrensebene wider. Die Unterscheidung dieser drei Ebenen lehnt sich an Niklas Luhmanns Idee der sozialen Differenzierung in Gesellschaft, Organisation und Interaktion an (2015a). Darüber hinaus bezieht sich die These des vertikalen Modus der Kooperation auf die Überlegungen von Bettina Heintz zur Makrodetermination weltgesellschaftlicher Strukturen (Greve/Heintz 2005; Heintz 2004). Zwischen den Ebenen besteht ein 19
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Reproduktionsverhältnis. Indem internationale Verbrechen als Herausforderung auf der weltgesellschaftlichen Ebene emergieren, entsteht der Bedarf, diese Herausforderung zu bewältigen. Dafür sind zunächst allein Staaten und nach ihrem Versagen in Jahrhunderten staatlich organisierter Konflikte und Kriege auch als internationale Organisationen Strafgerichtshöfe beteiligt. Allerdings müssen sie für jedes Ereignis ein Verfahren eröffnen, um Zuständigkeiten, den Ereignisverlauf und die Rollenverteilung für die Anklageerhebung zu klären. Über die drei Ebenen hinweg arbeiten die jeweiligen Instanzen die Herausforderung in ein bearbeitbares Maß klein und schleifen gleichzeitig die Lasten der anderen Ebenen mit. Dieses Argument geht mit der Emergenz weltgesellschaftlicher Strukturen davon aus, dass diese Strukturen irreduzibel sind (Schwarz 2016; Greve/Heintz 2005; Wobbe 2000). Sie treten jeweils als Umwelt des IStGH und des Verfahrens auf und kommen als kleingearbeiteter Ausschnitt dieser Umwelt im IStGH und im Verfahren wieder vor. Die Struktur internationaler Strafverfolgung ist aus historischen Prozessen entstanden und gibt in konkreten rechtlichen Erwartungen die Pfadabhängigkeiten von diesem historischen Prozess an (vgl. Luhmann 2015a: 430 f.; Luhmann 2015b: 11 ff.; Pierson 2004). Dieser rechtssoziologische Zugang eröffnet eine eigenständige Perspektive auf das Völkerrecht sowie die internationale Gerichtsbarkeit im Allgemeinen und die internationale Strafverfolgung durch den IStGH im Besonderen. Den Wandel durch die emergierende internationale öffentliche Ordnung beschreiben Geschichts-, Politik- und Rechtswissenschaft sowie die Soziologie aus ihrer jeweiligen fachdisziplinären Perspektive. Daher fehlen »resonanzfähige, responsive Reflexionstheorien« (Bora 2016: 269). Alfons Bora meint damit Theorien, die sowohl für die Rechtswissenschaft als auch die Soziologie anschlussfähig sind und »Lernmöglichkeiten« (Bora 2016: 269) eröffnen. Obwohl er diesen Mangel im Hinblick auf die deutsche Rechtssoziologie konstatiert, steht auch die internationale Forschung zum Völkerrecht vor einer ähnlichen Problemstellung. Martti Koskenniemi führt die Verständnisschwierigkeit zwischen Soziologen und Rechtswissenschaftlern auf Folgendes zurück: »they have had difficulty to integrate their descriptive and normative commitments into analytical studies about the content of the law« (2006: 1). Daraus folgert Koskenniemi ebenso wie Bora, dass die fachdisziplinären Studien keine gegenseitige Relevanz und Resonanz entwickeln. Daher stehen Juristen vor dem Dilemma, dass sie die Probleme anspruchsvoller Theoriebildung vermeiden und sich auf Dogmatik stützen. Allerdings bringt die Dogmatik ständig Probleme hervor, »which seem capable of resolution only if one takes a theoretical position« (Koskenniemi 2006: 3). Koskenniemi versucht daher, das Völkerrecht als eigenständige Disziplin zu verstehen (2006: 16). Dafür fasst er die Herausforderung einer Völkerrechtwissenschaft in die Unterscheidung von Apologie und Utopie: 20
EINLEITUNG
»A law which would lack distance from State behaviour, will or interest would amount to a non-normative apology, a mere sociological description. A law which would base itself on principles which are unrelated to State behaviour, will or interest would seem utopian, incapable of demonstrating its own content in any reliable way« (Koskenniemi 2006: 17).
Wenn das apologetische Recht sich nicht vom tatsächlichen Verhalten der Staaten und internationalen Organisationen sowie Gerichte unterscheidet, fehlt die legitimatorische Grundlage und Begrenzung der internationalen öffentlichen Ordnung. Eine solche Ordnung wäre unter diesem Gesichtspunkt kaum vorstellbar, weil die gesellschaftliche Funktion des Rechts, Erwartungssicherheit zu gewährleisten (Luhmann 2018: 124 ff.; 2015b: 73 ff.), nicht erfüllt werden könnte. Koskenniemi teilt diese Folgerung und nimmt daher an, dass sich Recht in Politik auflösen würde (2006: 18). Demgegenüber ist das utopische Recht völlig unabhängig von Politik. Es ist ein Naturrecht, welches der sozialen Wirklichkeit vorausgeht und legitime Interessen bestimmt (Koskenniemi 2006: 18). Apologie und Utopie orientieren sich an der Unterscheidung der Normativität von der Faktizität des Rechts: »To show that an international law exists, with some degree of reality, the modern lawyer needs to show that the law is simultaneously normative and concrete – that it binds a State regardless of that State’s behaviour, will or interest but that its content can nevertheless be verified by reference to actual State behaviour, will or interest« (Koskenniemi 2006: 17).
Die Normativität des Rechts verweist auf seine Eigenständigkeit, ohne in eine völlige Utopie zu verfallen. Die Faktizität des Rechts bindet es an die soziale Wirklichkeit zurück. Allerdings entstehen kontinuierliche Widersprüche darin, beide Seiten zu kombinieren (Koskenniemi 2006: 68). Koskenniemi steht damit vor einem methodologischen Problem, wie die internationale öffentliche Ordnung zwischen normativer Utopie und faktischer Apologie erfasst werden kann. Diese Problemstellung beruht darauf, dass in dieser sich zunehmend ausdifferenzierenden und pluralistischen Völkerrechtsordnung ein legitimierendes politisches System fehlt. Die Normativität des Völkerrechts kann nicht aus einem demokratischen Rechtsstaat bezogen werden. Wie kann der normative Anspruch der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH, die Straflosigkeit internationaler Verbrechen zu beenden, vor dem Hintergrund dieser Widersprüche beschrieben werden? Niklas Luhmann hat vorgeschlagen, auf die Unterscheidung der Normativität von der Faktizität zu verzichten. Stattdessen soll anhand der Lernbereitschaft normatives und kognitives Erwarten unterschieden werden. Normatives Erwarten ist dann lernresistent und bezeichnet 21
EINLEITUNG
»kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen« (Luhmann 2008: 43), während kognitives Erwarten Lernbereitschaft bezeichnet (Luhmann 2008: 43). Wenn eine normative Erwartung enttäuscht wird, dann ist es möglich, an ihr festzuhalten (Luhmann 2018: 133 f.). Diese Begriffseinstellung hat den Vorteil, normatives Erwarten und ihre Institutionalisierung auf der Ebene der Weltgesellschaft, der Organisation und der Verfahren faktisch beobachten zu können. Diese theoretische Einfassung der Strafverfolgung internationaler Verbrechen verlangt, den gesamten Phänomenbereich einschließlich der rechtlichen Erwartungen als empirischen Gegenstand zu verstehen (vgl. Cotterrell 1998: 181). Die rechtlichen Erwartungen sind ebenso Moment einer sich entfaltenden und fortschreibenden sozialen Wirklichkeit wie die Verfahren (vgl. Luhmann 2008: 43). An der Erwartungsstruktur der Strafverfolgung lassen sich die weltgesellschaftlichen Prozesse ihrer Entstehung ablesen. Das Völkerstrafrecht entstand in einem Prozess, in dem die Definition der völkerstrafrechtlichen Verbrechen erst auf ihre Begehung folgte und sich stabilisierte. Das Recht ist damit ein Ausdruck für institutionalisierte Orientierungspunkte der Weltgesellschaft und ermöglicht, Verhalten in Bezug auf die sich entwickelnden und normativ stabilisierenden Erwartungen zu beschreiben. Die vorliegende Analyse verfällt damit weder in eine Apologie noch in eine Utopie. Es ist nicht erforderlich, auf die analytische Kontrastfolie von Recht und Politik zurückzugreifen (vgl. Werle/Vornbaum 2015; Van Ooyen 2002). Sie führt mit Blick auf die von Koskenniemi formulierte methodologische Problemstellung zu einer einseitigen Zuordnung der Aktivitäten des IStGH und zu keiner Erklärung des Phänomens internationaler Strafverfolgung durch den IStGH. Der Fokus auf Macht bzw. Politik unterminiert die Relevanz formaler Strukturen und die durch das Recht stabilisierten Erwartungen, auf die sich selbst die im Medium der Macht kommunizierten Entscheidungen beziehen. Allein Recht zu beobachten, verschließt die Aushandlungs- und Entscheidungsschwierigkeiten insbesondere in hochpolitischen Fragen der strafrechtlichen Verfolgung von Staatsvertretern und der Abstimmung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Beide Perspektiven gegeneinander zu setzen, verstellt die Möglichkeiten, in der weltgesellschaftlichen Perspektive die Struktur empirisch auszuleuchten. Um die Struktur internationaler Strafverfolgung zu beschreiben, dient die Beobachtung des Rechts dazu, die Stabilisierung normativen Erwartens festzustellen. Erst innerhalb dieses Rahmens entstehen die Aushandlungsfragen im vertikalen Modus der Kooperation zwischen internationaler Strafverfolgung und staatlicher Souveränität auf der organisationalen und der Verfahrensebene. Alle drei Ebenen zu untersuchen, schließt Recht und Politik als nebeneinander bestehende Funktionen der (Welt-)Gesellschaft ein. 22
EINLEITUNG
Die empirisch begründete Antwort auf die Leitfrage nach der Struktur internationaler Strafverfolgung durch den IStGH muss alle drei Ebenen (Weltgesellschaft, Organisation und Verfahren) bearbeiten. Der Ausgangspunkt sind die historische Rekonstruktion des vertikalen Modus der Kooperation und die theoretische Erfassung durch die Weltgesellschaftstheorie (Erstes und Zweites Kapitel). Daraufhin zeigt die Analyse der Präambel des Römischen Statuts als Gründungsdokument des IStGH, ob sich die auf der Ebene der Weltgesellschaft rekonstruierte Struktur in der Präambel widerspiegelt (Drittes Kapitel). Diese Analyse bietet die Grundlage, die Ausübung der Strafverfolgung durch den IStGH in Konkurrenz zum Staat unter dem Gesichtspunkt der Legitimation zu diskutieren. Die Last der Legitimationsfrage liegt vor allem auf den Verfahren, weil der IStGH über die Komplementarität seiner eigenen zur staatlichen Gerichtsbarkeit entscheidet. Auf der Verfahrensebene verbinden sich die weltgesellschaftlichen sowie organisationalen Umweltbedingungen mit der konkreten Situation und bilden eine spezifizierte Struktur internationaler Strafverfolgung aus. Eine Analyse eines Vorverfahrens des Gerichtshofs zeigt diesen Zusammenhang auf (Viertes und Fünftes Kapitel). Schließlich dient die Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse einer theoretischen Reflexion, wie sich die Struktur internationaler Strafverfolgung durch den IStGH auf den sozial differenzierten Systemebenen und damit in der Weltgesellschaft rekonstruieren lässt und wie verbindlich diese Struktur ist. Im Hintergrund der letzten Frage steht die Problemstellung der internationalen öffentlichen Ordnung. Der Mehrwert einer gesellschaftstheoretischen Perspektive gegenüber dem Kontrast von Recht und Macht bleibt bestehen, weil dies stets im Nebeneinander der Perspektiven eingeschlossen ist und auf die Struktur jeder Ebene zurückführt. Die Struktur beschreibt den Möglichkeitshorizont, aus dem die verschiedenen Kommunikationsadressaten ihre kommunikativen Anschlüsse auswählen. Sie umfasst die Selektivität dieser Selektionen, aber nicht die Selektion selbst (Luhmann 2015a: 430 f.). Diese bleibt kontingent. Die abschließende theoretische wie empirische Reflexion auf den Strukturbegriff gibt den Horizont an, vor dem Gesellschaft die Möglichkeiten auswählt, um mit völkerstrafrechtlichen Verbrechen umzugehen. Auf diese Weise bietet die Arbeit eine empirisch fundierte Reflexionstheorie an (Sechstes Kapitel). Das erste Kapitel behandelt die historische Rekonstruktion des völkerrechtlichen Kooperationsverständnisses in seiner Entwicklung vom horizontalen zum vertikalen Modus. Die Unterscheidung der vertikalen von der horizontalen Kooperation ist bereits Gegenstand verschiedener Konzeptionen. Die Diskussion dieser verschiedenen Konzepte steckt den Rahmen für die Rekonstruktion ab und zeigt mit dem Fokus auf Kooperation den interdisziplinären Ansatzpunkt auf. Die historischen Prozesse legen dar, wie das Völkerrecht zwischen Staaten als Kriegsvölkerrecht 23
EINLEITUNG
aufgekommen ist. Von diesem Völkerrecht im horizontalen Modus entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein vertikaler Modus der Kooperation. In diesem Modus konnte das Völkerstrafrecht entstehen, weil es ermöglichte, sich dem Prinzip souveräner Gleichheit als Abwehr äußerer Eingriffe überzuordnen. Die historische Rekonstruktion erfasst verschiedene Rechtsbereiche. Rechtsdogmatisch sind diese Bereiche streng kategorial zu trennen. Allerdings zielt die Analyse darauf ab, das völkerrechtliche Kooperationsverständnis in historischen Prozessen zu identifizieren. Dafür müssen Problemstellungen der internationalen öffentlichen Ordnung wie das Souveränitätsparadox und das Verhältnis der Staaten untereinander sowie zu internationalen Organisationen und Gerichten empirisch fundiert beschrieben werden. Sie ergeben sich in historischen Prozessen, die dem Völkerstrafrecht vorausgehen. Daher müssen sie der Gegenstand der historischen Rekonstruktion sein, damit ein umfassendes Bild des völkerrechtlichen Kooperationsverständnisses gezeichnet werden kann. Es wird vermutet, dass Kooperation sich im historischen Verlauf gewandelt hat und sich der vertikale und horizontale Modus darin analytisch unterscheiden. Der jeweilige Modus der Kooperation erfasst die historisch beobachtete Form der Kooperation konzeptuell. Souveräne Staaten stehen in einem horizontalen Modus der Kooperation zueinander, weil sie sich als formal gleich anerkennen und damit das Prinzip der gegenseitigen Nichteinmischung begründen. In diesem horizontalen Modus handeln Staaten auf diplomatischen Wegen miteinander völkerrechtliche Verträge und Vereinbarungen aus. Eine internationale Strafverfolgung findet wegen der Betonung staatlicher Souveränität keinen Platz. Den vertikalen Modus der Kooperation etablieren die Staaten mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dieser Modus führt zur Horizontalen die Vertikale ein, die neben einer Orientierung an staatliche Souveränität die internationale Strafverfolgung ermöglicht. Nicht nur die Nürnberger Prozesse, sondern auch die Gründung der Vereinten Nationen sowie die drauffolgenden Entwicklungen lassen trotz des Kalten Krieges vermuten, dass die staatliche Souveränität in eine neue internationale Ordnung eingeflochten ist. Den Übergang zu diesem Modus kennzeichnet im 19. und 20. Jahrhundert die Hochzeit des europäischen Kolonialismus sowie Imperialismus und die beiden Weltkriege. Diese Zeit ist durch humanitäre Katastrophen geprägt, die die Entwicklung des Völkerstrafrechts angetrieben haben. Im zweiten Kapitel hebt die Theorie der Weltgesellschaft die historische Rekonstruktion auf die erste Ebene, um die makrodeterministische Struktur internationaler Strafverfolgung zu beschreiben. Mit ihr wird das herausgearbeitete völkerrechtliche Kooperationsverständnis zu einem soziologischen Ordnungsproblem reformuliert. Die Theorie der Weltgesellschaft in ihrer systemtheoretischen und ihrer neo-institutionalistischen 24
EINLEITUNG
Variante stellt auf die Ausweitung kommunikativer Reichweite und die Diffusion institutioneller Muster ab. In diesem Begriffsverständnis fallen mit der Umstellung des Kooperationsmodus kommunikative Grenzen. Staaten haben sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nur dann als souverän und kooperationsfähig verstanden, wenn sie aus Sicht der europäischen Staaten einen bestimmten »Stand der Zivilisation« erreicht hatten. »Zivilisierung«, »Zivilisationsstandard« oder »Zivilisierungsmission« sind zeitgenössische Begriffe der europäischen Staaten des 18., 19. und 20. Jahrhunderts über die Entwicklung von Staaten. Vereinbarungen wie die Genfer Konvention zum Umgang mit verwundeten Soldaten oder die Haager Landkriegsordnung galten allein für europäischwestliche Staaten. Der europäische Zivilisationsstandard definiert die Grenze kommunikativer Erreichbarkeit, weil die Verletzung dieser Verträge in außereuropäischen Konflikten nicht als solche gewertet wurde. Auch in Konflikten wie dem preußisch-französischen Krieg (1870/71) oder dem Ersten Weltkrieg (1914–1918), die in Europa und auch dem Rest der Welt stattfanden, lassen sich erhebliche Schwierigkeiten feststellen, Folgen an Vertragsverletzungen zu knüpfen. Die Vertikale fehlt, um die staatliche Souveränität auszubalancieren. Mit den erschreckenden Katastrophen der Kriege und der Kolonialisierung fällt mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Zivilisationsstandard als Grenze. Die vielfältigen Unabhängigkeitsbewegungen, aber auch die Entstehung einer internationalen Strafverfolgung mit den Nürnberger Prozessen sind Indiz für die Ausweitung kommunikativer Reichweite und die Umstellung auf einen vertikalen Modus der Kooperation. Im konzeptuellen Verständnis des vertikalen Modus der Kooperation ist eine Alternative zur Ausübung der Strafgerichtsbarkeit durch den Staat vorstellbar, die durch die fehlende territoriale Staatlichkeit keine kommunikativen Grenzen kennt. Für das dritte Kapitel steht die organisationale Ebene der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH im Vordergrund. Tritt die weltgesellschaftliche Struktur wieder auf und wenn ja, in welcher Weise bedingt sie die Strafverfolgung durch den IStGH? Eine Untersuchung des Prinzips der Komplementarität und der Präambel des Römischen Statuts gibt Aufschluss über die formalisierten Umweltbeziehungen des IStGH zu Staaten und den Vereinten Nationen und damit über die aus der weltgesellschaftlichen Umwelt eingebaute Struktur. Die Analyse des Prinzips der Komplementarität aus Art. 17 RS ermöglicht, den Bezug der weltgesellschaftlichen Struktur auf der organisationalen Ebene zu verorten. Im Zuge dessen ist der IStGH zum einen als Organisation zu konzeptualisieren und zum anderen als solche in Bezug zur Weltgesellschaft zu setzen. Durch diese wechselseitige Beziehung zwischen der Weltgesellschaft und dem IStGH im vertikalen Modus der Kooperation bietet sich eine erste empirische Prüfung dieser Strukturüberlegung an. Die Untersuchung der Präambel des Römischen 25
EINLEITUNG
Statuts als Gründungsdokument des IStGH arbeitet nach dem Verfahren der Objektiven Hermeneutik die den Text hervorbringenden Regeln heraus. Das Analyseverfahren beruht auf einem kontextfreien Zugang zum Material und sichert die Ergebnisse durch eine Gruppe sachfremder Teilnehmer ab. Die Analyseergebnisse zeigen, ob die Staaten den vertikalen Modus der Kooperation dem IStGH unterlegt haben. In der Konsequenz dokumentiert das Römische Statut die individuelle Strafbarkeit auf der Grundlage des Völkerstrafrechts auf der Welt und damit ein verändertes Verständnis staatlicher Souveränität innerhalb einer rechtlich basierten Weltordnung. Mit dem vierten Kapitel rücken die legitimatorischen Zweifel an der Strafverfolgung durch den IStGH in den Fokus. Die für die Verfahren zu klärende Frage der Gerichtsbarkeit ist Gegenstand eines Aushandlungsprozesses, in dem der IStGH und der jeweilige Staat die Legitimation ihrer eigenen Gerichtsbarkeit suchen. Die formalisierten Umweltverhältnisse zu den Staaten und den Vereinten Nationen sind exemplarisch zu beobachten und hinsichtlich ihrer Konflikte anhand der sie erzeugenden Struktur zu beschreiben. In dieser Hinsicht melden vor allem Vertreter demokratietheoretischer und konstitutionalistischer Perspektiven Bedenken zur Legitimation internationaler Spruchkörper an. Diesen legitimatorischen Zweifel ist zunächst Luhmanns Vorschlag der »Legitimation durch Verfahren« (2017a) entgegenzusetzen. Luhmann zeigt, wie Teilnehmer an innerstaatlichen Verfahren auf Entscheidungen hinarbeiten und sie legitimieren. Dieser Vorschlag lässt sich auf außerstaatliche Verfahren erweitern und zugleich in die Strukturbildung der Weltgesellschaft einordnen. Das fünfte Kapitel umfasst die Analyse eines Verfahrens des Gerichtshofs. Gegenstand der Analyse ist das Vorverfahren. Im Auftakt des Verfahrens verknüpfen sich die weltgesellschaftlichen und organisationalen Umweltbedingungen mit der konkreten Situation als Verfahrensgegenstand. Das Verfahren entfaltet zwischen den Umweltbedingungen und der Situation seine Struktur, die es für das Ermittlungs- und schließlich das Klageverfahren spezifiziert. Die Analyseergebnisse des Vorverfahrens zeigen, wie sich die Struktur internationaler Strafverfolgung auf der Verfahrensebene bildet. Das ausgewählte Verfahren der Situation in Kenia eignet sich, weil die Materialgrundlage vollständig ist. In vielen der anderen Verfahren fehlen Dokumente oder Dokumentteile. Die Besonderheit Kenias wegen der vorwiegend monistischen Verfassungsinterpretation gegenüber dem Völkerrecht steht gegenüber der Argumentationsweise des Gerichtshofs im Hintergrund. Die Analysemethodik in Anlehnung an die dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack richtet sich wie die Objektive Hermeneutik darauf, die den Text und damit die soziale Wirklichkeit hervorbringende Regel herauszuarbeiten. 26
EINLEITUNG
Im sechsten Kapitel folgt die Formulierung der empirischen und theoretischen Ergebnisse. Im Hinblick auf den Begriff der Struktur und seiner Institutionalisierung sind die gewonnenen Erkenntnisse noch einmal zu reflektieren. Im Vordergrund steht dabei vor allem die soziale Differenzierung der Gesellschaft in Weltgesellschaft, Organisation und Verfahren. Die Struktur internationaler Strafverfolgung ist sowohl auf der Ebene der Weltgesellschaft als auch in der Weltgesellschaft zu finden. Die Weltgesellschaft hat eine doppelte Bedeutung, die zum einen das umfassendste soziale System und zum anderen eine Ebene in der Systemdifferenz bezeichnet. Die Struktur internationaler Strafverfolgung muss sowohl auf den Ebenen als auch – für eine abschließende Ergebnisformulierung – in der Weltgesellschaft beschrieben werden. Daran anknüpfend lässt sich die Frage stellen, wie verbindlich diese Struktur internationaler Strafverfolgung durch den IStGH ist. Diese Frage bietet die Möglichkeit, über die formulierten Ergebnisse hinauszublicken und im Hinblick auf die Problemstellung der internationalen öffentlichen Ordnung weiteres Forschungspotential zu markieren. Das Fazit gibt einen Überblick über die Argumentation der Arbeit, benennt die einzelnen Ergebnisse und schließt mit der zuvor erarbeiteten Ergebnisformulierung.
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Erstes Kapitel: Das Kooperationsverständnis des Völkerrechts in seiner historischen Entwicklung Das Römische Statut sieht vor, dass die Vertragsstaaten nach Art. 86 RS zur Zusammenarbeit mit dem IStGH verpflichtet sind. Das Kooperationsverständnis dieser Verpflichtung entstand in der historischen Entwicklung des Völkerrechts. Die historischen Entwicklungspfade zu skizzieren, beleuchtet das Rechtsverständnis des Völkerstrafrechts und ist damit Voraussetzung dafür, die Strafverfolgung durch den IStGH zu beobachten. Der Fokus liegt dabei darauf, wie sich das Kooperationsverständnis des Völkerrechts von einem horizontalen Modus zu einem vertikalen Modus entwickelt hat. Hierzu lohnt sich der Blick auf den Wortlaut des Art. 86 RS: »Die Vertragsstaaten arbeiten nach Maßgabe dieses Statuts bei den Ermittlungen von der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechen und bei deren strafrechtlicher Verfolgung uneingeschränkt mit dem Gerichtshof zusammen« (Art. 86 RS).
Diese Vorschrift steht am Beginn von Teil 9 des Römischen Statuts mit dem Titel »Internationale Zusammenarbeit und Rechtshilfe«. Sie drückt explizit eine Verpflichtung der Vertragsstaaten aus und charakterisiert diese als »uneingeschränkt«. Staatliche Souveränität kann damit nicht der Abwehr strafrechtlicher Verfolgung durch den IStGH dienen (vgl. Kreß/Prost 2016a: 2017). Mit der Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit dem IStGH haben die Staaten ihre souveräne Strafgewalt eingeschränkt. Die rechtliche Erwartung fußt auf einem Verständnis staatlicher Souveränität, das nicht mehr von einem undurchdringlichen Schutzschirm für Individuen ausgeht. Diese Veränderung staatlicher Souveränität betrifft alle Staaten, da der IStGH in jedem Staat nach Art. 13 RS Ermittlungen aufnehmen darf. Dieser Artikel regt die Frage an, wie diese Erwartung an die Zusammenarbeit entstanden ist. Diese potenzielle Weltstrafgerichtsbarkeit begründet einen vertikalen Modus der Kooperation, weil die internationale Strafverfolgung als übergeordnetes Rechtsinteresse zur staatlichen Souveränität definiert ist. Von diesem vertikalen Modus der Über-/Unterordnung ist der horizontale Modus zu unterscheiden. Dieser horizontale Modus beruht auf der formalen Gleichrangigkeit staatlicher Souveränität. Erst mit der im historischen Verlauf erfolgten Umstellung des Modus von horizontaler zu vertikaler Kooperation ist der IStGH möglich geworden und kann auf dieser Grundlage Individuen ohne Vermittlung durch den Staat strafrechtlich verfolgen. 28
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
Diese These des vertikalen Modus der Kooperation braucht einige konzeptuelle und methodische Klärungen, bevor die historische Rekon struktion umsetzbar ist. Überlegungen zum Kooperationsbegriff sind nicht neu: Die politikwissenschaftliche Fachdisziplin der Internationalen Beziehungen hat einen anarchiebedingten Kooperationsbegriff geprägt, der das Staat-zu-Staat-Verhältnis in den Vordergrund rückt. Demgegenüber hat die internationale Jurisprudenz einen Ansatz entwickelt, mit welchem sie zwischen vertikaler und horizontaler Kooperation unterscheidet. Im Anschluss an diese Unterscheidung haben Lea Brilmayer (1991) und Harold Hongju Koh (1991) diskutiert, inwieweit diese Unterscheidung die Anwendung des Völkerrechts in nationalen Gerichtsentscheidungen erklärt. Diese verschiedenen konzeptuellen Fassungen des Kooperationsbegriffs beziehen sich auf den gleichen Gegenstand globaler Ordnungsvorstellung. Die Unterscheidung eines vertikalen und eines horizontalen Modus bietet einen anschlussfähigen Ausgangspunkt für die verschiedenen Disziplinen, um das interdisziplinäre Potential des rechtssoziologischen Ansatzes zu entfalten. Die Modi dienen mit ihrer Unterscheidung zwischen Über-, bzw. Unterordnung (vertikal)/Gleichrangigkeit (horizontal) als Analyseschema für die historische Rekonstruktion (I.). Der Gegenstand dieser historischen Rekonstruktion ist das Verhältnis der staatlichen Souveränität zur internationalen Strafverfolgung. Die staatliche Souveränität entsteht zuerst. Sie beginnt mit der einsetzenden Trennung des Geistlichen und Weltlichen im Investiturstreit (1057– 1122) zwischen dem Papst und dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (Böckenförde 1991: 94). Von diesem Ereignis lässt sich über den Westfälischen Frieden von 1648 nachzeichnen, wie sich politische Gebilde in Europa von der christlichen Einheitsvorstellung zu souveränen Staaten verselbstständigt haben. Die Rekonstruktion rückt die Entwicklung nach dem Westfälischen Frieden in den Vordergrund. Die zeitgenössischen Überlegungen zur Staatswerdung und das Verhältnis zu anderen Staaten zielen auf eine formale Gleichrangigkeit ab und schließen im Fall der Piraterie eine Verfolgung außerhalb der Staaten aus. Dieser horizontale Modus beruht in der Entstehung des souveränen Staates auf naturrechtlichen Vorstellungen einer natürlichen Gemeinschaft der Staaten und Menschen. In diesem frühen horizontalen Modus entwickelt sich das Staat-zu-Staat-Verhältnis, ohne dass diese Staaten bereits völkerrechtliche Verträge oder Vereinbarungen im großen Umfang schließen, um ihre Beziehungen zu regeln. Die staatliche Souveränität wird in allen Rechtsbereichen relevant. Um die Entwicklung des völkerrechtlichen Kooperationsverständnisses umfassend nachvollziehen zu können, müssen andere Rechtsbereiche untersucht werden, die vor dem Völkerstrafrecht entstanden sind. Auf diese Weise werden die kategorialen Unterschiede der Rechtsbereiche nicht eingeebnet, aber übergreifende Entwicklungen aus historisch-soziologischer Perspektive erfasst (II.). 29
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
Im 19. Jahrhundert verändert sich dies aufgrund des aufkeimenden europäischen Imperialismus und den damit einhergehenden kolonialen Bestrebungen. Die europäischen Staaten verfestigen den horizontalen Modus der Kooperation nach der Französischen Revolution von 1789 im Wiener Kongress 1815. Dieses europäische Gleichgewicht ist durch das Prinzip souveräner Gleichheit geprägt. Außerhalb Europas etablieren die europäischen Staaten einen vertikalen Modus der Kooperation. Sie erkennen keine anderen Staaten als souverän an und begründen dies mit der mangelnden Zivilisierung im Vergleich zu Europa. Die europäischen Staaten schließen die von ihnen nicht als souverän anerkannten Staaten von völkerrechtlichen Verträgen und Vereinbarungen aus. Die außereuropäischen Staaten waren vom entstehenden Kriegsvölkerrecht in der Genfer Konvention von 1864 und den Verträgen der Haager Friedenskonferenzen ausgeschlossen. Diese Verträge schufen eine positivrechtlich gesetzte Vereinbarung darüber, was im Krieg erlaubt und verboten sein soll. Allerdings waren diese Regeln nicht mit Sanktionen versehen und bildeten daher noch kein Völkerstrafrecht. Die Parallelität des horizontalen und vertikalen Modus der Kooperation verstellt trotz der Gräuel außerhalb Europas und der Kriege in Europa bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die Möglichkeit, eine internationale Strafverfolgung zu gründen (III.). Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs legten die Siegermächte den Grundstein für eine neue Weltordnung, in der die Souveränität nicht mehr an einem Zivilisationsstandard bemessen wird. Die Vereinten Nationen bilden den organisatorischen Rahmen für die integrierte staatliche Souveränität in einer Weltordnung, die sich dem Frieden und der internationalen Sicherheit widmet (Art. 1 und Art. 2 VN Charta). Im Zuge dieser Neuordnung beschlossen die Siegermächte, die von deutschen Funktionären im Nationalsozialismus verübten Verbrechen zu ahnden. Die Nürnberger Prozesse entstanden als erste Ausnahme von der souveränen Strafgewalt des Staates und schufen mit den Nürnberger Prinzipien die Grundlage für das Völkerstrafrecht. Diese angestoßene Entwicklung einer internationalen Strafverfolgung mündete schließlich in der Gründung des IStGH. Die Parallelität des horizontalen und des vertikalen Modus der Kooperation bleibt bestehen. Die Modi sind allerdings in eine Weltordnung integriert und begründen nicht mehr zwei unterschiedliche Ordnungsmodelle. Die völkerrechtlichen Verträge und Vereinbarungen wie das Römische Statut oder die Charta der Vereinten Nationen normieren das Verhältnis der Modi und gewährleisten damit die Stabilität dieser Ordnung. Sie geben damit die Struktur für Aushandlungsprozesse zwischen dem IStGH und den Staaten über die Ausübung der Gerichtsbarkeit vor (IV.). Die historische Rekonstruktion zeigt im Ergebnis die Abhängigkeit der Strafverfolgung internationaler Verbrechen von der globalen 30
KOOPERATION IM HORIZONTALEN UND VERTIKALEN MODUS
Entwicklung der Weltordnung auf. Zum einen weist dieses Ergebnis die Pfadabhängigkeit der Strafverfolgung internationaler Verbrechen nach und zum anderen wirft es die Frage danach auf, in welchem konzeptuellen Rahmen diese Weltordnung zu erfassen ist. Der vertikale und der horizontale Modus sind ab Mitte des 20. Jahrhunderts in einer Weise miteinander verschränkt, die im Gegensatz zur Parallelität dieser Modi im 19. Jahrhundert die internationale Strafverfolgung ermöglicht (V.).
I. Kooperation im horizontalen und vertikalen Modus Die Zusammenarbeitspflicht der Vertragsstaaten mit dem IStGH ist Ausdruck der Emergenz einer internationalen öffentlichen Ordnung. Allerdings folgt daraus nicht der Anschluss an Konzepte wie Fragmentierung, Rechtspluralismus oder Konstitutionalisierung. Stattdessen soll die Unterscheidung eines vertikalen und eines horizontalen Modus den Ausgangspunkt für eine resonanzfähige und empirisch fundierte Theoriebildung bieten. Jan Klabbers greift die Debatte um die internationale öffentliche Ordnung unter den Begriffen Fragmentierung, Rechtspluralismus und Konstitutionalisierung auf und nennt zudem Vertikalisierung. Neben Staaten treten internationale Organisationen und Gerichte auf, die ebenso Recht oder zumindest Standards setzen (Klabbers 2009: 13; siehe dazu auch Abbott/Snidal 2000). »Verticalization, by definition, carries a sense of hierarchy with it, and the argument can increasingly be heard that international law is moving in this direction. This is symbolized not least by the emergence of international criminal law as a branch of international – criminal law, after all, in presupposing the existence of a public order and someone to speak for that public order, presupposes a strong notion of hierarchy to begin with« (Klabbers 2009: 15).
Vertikalisierung zeigt für Klabbers eine Tendenz zur Konstitutionalisierung an (Klabbers 2009: 15). In Anbetracht der zunehmenden Vielfalt rechtssetzender Instanzen und der Ausdifferenzierung des Völkerrechts beurteilt Klabbers wie Koskenniemi (2007) die Fragmentierung für eine mögliche Sichtweise auf die Entwicklung des Völkerrechts (Klabbers 2009:14). Allerdings verbindet er damit keine zwingend negative Bewertung. Mit einer zunehmenden Vertikalisierung könnte die Fragmentierung »lose some of its risks because it would, on the constituionalist view, always be subject to higher imperatives« (Klabbers 2009: 16). Ob mit einem vertikalen Modus der Kooperation eine Konstitutionalisierung einhergeht, bleibt offen. Allerdings verknüpft Klabbers die Debatte um die internationale öffentliche Ordnung mit dem Begriff der Vertikalisierung. Dies öffnet die Möglichkeit, auf diese Debatte in der 31
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
reflektierenden Ergebnisformulierung wieder Bezug zu nehmen (Sechstes Kapitel und Fazit). Vertikalisierung in Bezug auf Hierarchie zu thematisieren, wirft die Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen Staaten, internationalen Organisationen sowie Gerichten und Individuum auf. In dieser Hinsicht lässt sich ein Bezug zur Frage herstellen, wie die Kooperation unter diesen drei Akteuren strukturiert ist. Vertreter der politikwissenschaftlichen Fachdisziplin Internationaler Beziehungen fokussieren das Verhältnis der Staaten zueinander und beschreiben die Bedingungen dieser Kooperation. An diesen Ausgangspunkt für den verfolgten interdisziplinären Ansatz lassen sich innerhalb der Politikwissenschaft weitere Anschlüsse wie zur Internationalen Politischen Ökonomie oder anderen Strömungen der Internationalen Beziehungen herstellen. Allerdings besteht hier der Fokus darauf, diesen Ausgangspunkt herauszuarbeiten und eine Verbindung zur Soziologie des Völkerrechts herzustellen. Nach Robert Axelrod und Robert Keohane setzt Kooperation eine Situation konfligierender und komplementärer Interessen voraus (1985: 226). »In such situations, cooperation occurs when actors adjust their behavior to the actual or anticipated preferences of others« (Axelrod/ Keohane 1985: 226). Kooperation findet unter den Bedingungen der Anarchie statt. Es fehlt eine Hierarchie in Form einer Regierung (Axelrod/Keohane 1985: 226). Dieses Verständnis von Kooperation unterstellt einen rationalen Akteur, der mit Kooperation bestimmte Ziele erreichen will und so schließlich besser als zuvor dasteht (Milner 1992: 468, 489). Axelrod hat die Grundlage hierfür mit der Anwendung des Gefangenendilemmas auf internationale Kooperation geschaffen (2006). In ähnlicher Weise beschreibt Robert Putnam Diplomatie und innerstaatliche Politik als Zwei-Level-Spiel (1988). Joseph Grieco präsentiert aus der realistischen Theorie Internationaler Beziehungen heraus eine Analyse internationaler Kooperation mit einem erweiterten Gefangenendilemma (1988). Douglas North bezieht sich auf diese spieltheoretischen Ansätze und bietet eine eigene Institutionentheorie an, mit der er diese Theorien rationalen Entscheidens in Frage stellt (1990). Diese Ansätze illustrieren, wie sich Staaten im horizontalen Modus der Kooperation verhalten. Sowohl die spieltheoretische Annahme als auch die Beschreibung von Kooperation unter den Bedingungen der Anarchie sind voraussetzungsreich. Beide Annahmen unterstellen weitgehende Verhaltensprämissen für Staaten. Die genannten Autoren kombinieren für das staatliche Verhalten Rationalismus und Egoismus miteinander, weil sich Staaten unter den Bedingungen der Anarchie nur selbst helfen können (Milner 1992: 483 f.). Anarchie begründet eine Differenz zwischen innerstaatlichem und internationalem Bereich (Milner 1992: 489). Diese Unterscheidung kann jedoch nicht Voraussetzung für die Kooperation mit dem IStGH sein, weil Staaten nicht als einheitliche und undurchdringliche Akteure 32
KOOPERATION IM HORIZONTALEN UND VERTIKALEN MODUS
auftreten. Staaten sind neben anderen Akteuren der territoriale Schauplatz für die internationale Strafverfolgung. Die Strafverfolgung des IStGH lässt sich nicht auf ein auf der Außenseite des Staates zu behandelndes Thema reduzieren. Die Konzeption der Anarchie verstellt den Blick auf die soziale Wirklichkeit, indem sie diese unter bestimmte Bedingungen stellt. Die Verhaltensprämissen führen dieses Problem konsequent fort, indem sie die Anarchie als Rahmen voraussetzen. In der liberalen Theorie internationaler Beziehungen wird die Unterscheidung zwischen dem hierarchisch geordneten nationalen Bereich und der Anarchie des Internationalen teilweise in Zweifel gezogen (Ikenberry 2019: 21). »In a hierarchical international order, states are integrated vertically with highly defined superordinate and subordinate positions« (Ikenberry 2019: 26).
Obwohl dies der Idee vertikaler Kooperation entspricht, geht I kenberry weiterhin davon aus, dass auch in hochkomplexen komplexen und integrierten internationalen Ordnungen die strukturellen Bedingungen stets auf der Anarchie beruhen würden (2019: 30). Ein Konstitutionalismus wäre nur möglich, wenn ein 1. Konsens und Partizipation der Staaten gewährleistet sind, 2. Regeln und Institutionen autoritativ bindende Grenzen für die Machtausübung setzen können und 3. die beiden vo rausgehenden Elemente durch ein politisches System abgesichert werden (Ikenberry 2019: 30 f.). Diese Argumentation eröffnet aus einer demokratietheoretischen Perspektive die Kritik an internationalen Institutionen und Organisationen, weil in jedem Fall für die dritte Bedingung ein globales äquivalent zum Staat fehlt, aber trotzdem autoritativ bindende Regeln und Institutionen wie das Völkerstrafrecht und der IStGH entstehen, ohne dass ein genereller und explizit artikulierter Konsens vorliegt (siehe Viertes Kapitel I.). Aber auch für diese liberale Theorie internationaler Beziehungen bleiben die Machtbeziehungen und damit der oben referierte Kooperationsbegriff Voraussetzungen (Ikenberry 2019: 36 ff.). Dies eröffnet Vertretern realistischer Theorien internationaler Beziehungen die Möglichkeit zur Kritik. Sie kritisieren an Vorstellungen der zuvor vorgetragenen Liberal International Order, dass sie sich nur die Verhältnisse unter Demokratien bezieht und damit nicht alle Staaten einschließt (Glaser 2019: 64). Daher können globale Institutionen und Regeln einen Staat nicht binden, wenn die Gefahr von Verlusten zu hoch sind (Glaser 2019: 66). Daraus folgt eine Dichotomie zwischen Universalismus und Partikularismus: »This belief, which says that every individual on Earth has the same set of basic rights, is what underpins the universalistic dimension of libe ralism. This universalistic or transnational perspective stands in marked contrast to the profound particularism of nationalism, which is built on 33
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
the belief that the world is divided into discrete nations, each with its own culture« (Mearsheimer 2019: 36).
Aus diesem Kontrast zwischen einer Horizontalen souveräner Staaten und der Vertikalisierung mit der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH setzt die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen an. Die Rekonstruktion weltgesellschaftlichen Struktur kann vor diesem Hintergrund nicht mit der strukturellen Voraussetzung der Anarchie und den damit verbundenen Rationalitätsannahmen der Theorien internationaler Beziehungen operieren. Allerdings muss der von diesen Theorien herausgearbeitete Widerspruch gleichzeitigen Universalismus und Partikularismus als Ausgangspunkt der Rekonstruktion dienen, um zu zeigen, aufgrund welcher Bedingungen die Strafverfolgung durch den IStGH mit diesem Widerspruch möglich ist. Einen Weg zur Bewältigung dieser Herausforderung zu skizzieren, zeichnet den hier entwickelten rechtssoziologischen Ansatz aus. Neuere Arbeiten in den internationalen Beziehungen bieten erste Alternativen zu einer anarchischen Beschreibung der globalen Ordnung und den Rationalitätsannahmen der klassischen Theorien internationaler Beziehungen an (Albert 2016; Anghie 2004; Keene 2004). Ayşe Zarakol untersucht die Anerkennung von Staaten als souverän. Der Staat ist darauf angewiesen, dass er als souverän anerkannt wird: »it needs to be sovereign over its subjects […] and it needs to be sovereign for its subjects« (Zarakol 2018: 856). Diese Anerkennung kann einem Staat jedoch verwehrt werden. In diesem Fall kann ein Staat sich nicht auf das rechtliche Prinzip souveräner Gleichheit beziehen und tritt anderen Staaten gegenüber nicht als formal gleich auf (Zarakol 2021; 2018: 850). Daraus folgt, dass Souveränität keine selbstverständliche Voraussetzung für einen Staat in den internationalen Beziehungen darstellt. Die notwendige rechtliche Anerkennung als souverän zeigt, dass es eine »structural impossibility of actors being recognised in the ways they want to be« gibt (Zarakol 2018: 850). Edward Keene argumentiert in ähnlicher Weise und zeigt auf, dass die Wahrnehmung als zivilisiert im 19. Jahrhundert für diese Anerkennung entscheidend war: »By the late nineteenth century, international lawyers and diplomats considered it perfectly reasonable that there should be one kind of political and legal order for the ‘family of civilized nations’ and another for the uncivilized world beyond« (Keene 2004: 120). Diese Unterscheidung zivilisiert/unzivilisiert arbeitet Antony Anghie in Bezug auf den europäischen Imperialismus und Kolonialismus aus (2004). Die Bedeutung der Unterscheidung zivilisiert/unzivilisert für die Entwicklung des völkerrechtlichen Kooperationsverständnisses wird in Unterkapitel III. aufgezeigt. Hier ist festzuhalten, dass Souveränität nicht als selbstverständlich im Anarchiekonzept vorausgesetzt werden kann. Es handelt 34
KOOPERATION IM HORIZONTALEN UND VERTIKALEN MODUS
sich um einen Anerkennungsprozess, der von bestimmten Bedingungen wie Zivilisation abhängig ist. Das Konzept der Anarchie wird damit durch einen interdisziplinären Ansatz »[b]uilding upon economic, sociological, legal, philosophical and historical insights about the intertwined logics of formal equality and vertical stratification« (Zarakol 2017: 1 f. [Änderung durch H.d.V]) in Frage gestellt. Es wird durch das Interessen an Hierarchien ersetzt, die als »any system through which actors are organised into vertical relations of super- and subordination« (Zarakol 2017: 1) verstanden werden. Diese Bewegung in der Disziplin der Internationalen Beziehungen lässt sich parallel mit Klabbers Blick auf die international öffentliche Ordnung darstellen: »The previous emphasis on state sovereignty, resulting in the image of international law as a horizontal legal order made up of equals, so the argument goes, is slowly giving away to a conception of international law as more vertical organized« (Klabbers 2009: 14). Die politikwissenschaftlichen Forschungsansätze verweisen mit dem Kooperationsbegriff innerhalb der Anarchie auf eine Form sozialer Ordnung. Die mit dem Anarchiekonzept verbundenen Prämissen dieser Beschreibung werden zunehmend hinterfragt, indem eine interdisziplinäre Perspektive angestrebt und vor allem historisches Material herangezogen wird. Für die Soziologie des Völkerrechts fordert Chris Thornhill dies ebenfalls ein: »global sociology requires a deep historical memory in order to explain contemporary global conditions« (2018b: 376). Die verschiedenen Forschungsansätze weisen konzeptionell in Richtung einer Vertikalisierung im Völkerrecht, die von einer Horizontalen formaler Gleichheit abgegrenzt wird. Das Völkerrecht entfaltet sich als Moment einer sozialen Wirklichkeit, für die es einerseits strukturierend wirkt und durch die es andererseits erst seine Form entwickelt. Kooperation nach einem vertikalen und einem horizontalen Modus zu unterscheiden, eröffnet die Möglichkeit, im völkerrechtlichen Kooperationsverständnis weltgesellschaftliche Ordnungsbildung zu reflektieren. Wie sind vertikaler und horizontaler Modus der Kooperation in Bezug auf das Völkerstrafrecht zu verstehen? Claus Kreß und Kimberly Prost unterscheiden in ihrem Kommentar des Römischen Statuts zwischen zwei unterschiedliche Kooperationsansätze für das Völkerstrafrecht: horizontaler und vertikaler Ansatz. Sie benutzen diese beiden Ansätze, um die Zusammenarbeitspflicht nach Art. 86 RS auszulegen (Kreß/Prost 2016b: 2008 f.). Der horizontale Ansatz charakterisiert Zusammenarbeit als ein Nebeneinander der Staaten, die aufgrund ihrer Souveränität allein für ihr jeweiliges Staatsgebiet und ihre Bürger zuständig sind. Die Zusammenarbeit bezieht sich nur auf Angelegenheiten, die diesen Zuständigkeitsbereich überschreiten. Bei der strafrechtlichen Verfolgung von flüchtigen Personen über die eigenen Staatsgrenzen hinaus können Staaten zusammenarbeiten, um diesen Personen 35
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
habhaft zu werden. Die konkrete Ausgestaltung einer solchen horizontalen Kooperation unter Staaten findet in völkerrechtlichen Verträgen statt, in denen die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien festgelegt werden. Mit Verträgen stimmen Staaten ihre Interessen aufeinander ab und schützen sie gleichzeitig für die Zusammenarbeit (Kreß/Prost 2016b: 2008 f.; vgl. von Arnauld 2016: 78 f.; Simma 2015). Die Kooperation lässt sich dagegen unter folgender Bedingung als vertikal beschreiben: Wenn die Staaten nicht nur ihre Zuständigkeitsbereiche gegeneinander abgrenzen und interessengesteuert zusammenarbeiten, sondern ein von den Staaten abgelöstes und übergeordnetes (rechtliches) Interesse besteht, für das sie zusammenarbeiten (Kreß/Prost 2016b: 2008 f.; Brilmayer 1991; vgl. Herdegen 2019: 60 f.). Diese konzeptuellen Überlegungen gehen insbesondere auf das Urteil der Berufungskammer des Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien zurück: »54. Secondly, the implementing legislation of the International Tribunal’s Statute enacted by some States […] provides that any order or request of the International Tribunal should be addressed to a specific central body of the country, which then channels it to the relevant pro secutorial or judicial agencies. It may be inferred from this that any order or request should therefore be addressed to that central national body. Clearly, these laws tend to apply to the relations between national authorities and the International Tribunal the same approach that they normally adopt in their bilateral or multilateral treaties of judicial cooperation. These treaties are, of course, between equal sovereign States. Everything is therefore placed on a ›horizontal‹ plane and each State is concerned with its sovereign attributes when it comes to the fulfilment of prosecutorial or judicial functions. It follows that any manifestation of investigative or judicial activity (the taking of evidence, the seizure of documents, the questioning of witnesses, etc.) requested by one of the contracting States is to be exercised exclusively by the relevant authori ties of the requested State. This same approach has been adopted by these States vis-à-vis the International Tribunal, in spite of the position of primacy accruing to the International Tribunal under the Statute and its ›vertical‹ status alluded to above […]. However, whenever such implementing legislation turns out to be in conflict with the spirit and the word of the Statute, a well-known principle of international law can be relied upon to prevent States from shielding behind their national law in order to evade international obligations« (ICTY Berufungskammer 1997: Judgement Prosecutor v. Tihomir Blaskic Abs. 54).
Dieses Zitat zeigt, dass die vorangestellte Herausforderung des IStGH, auf die Zusammenarbeit mit den Staaten angewiesen zu sein, auch auf andere internationale Strafgerichtshöfe zutrifft. Diese Herausforderung ist ein Grundthema internationaler Strafverfolgung. Die Beschreibung von Kooperation von Keohane und Axelrod bezieht sich gegenüber 36
KOOPERATION IM HORIZONTALEN UND VERTIKALEN MODUS
dieser Beschreibung auf das Staatenverhalten und ist nicht auf die rechtliche Lösung einer praktischen Problemstellung ausgerichtet. Sie stellen in Anlehnung an Koskenniemi zunächst Apologie und Utopie dar. Trotzdem beziehen sich beide Erklärungsansätze auf das Verhältnis von Akteuren – insbesondere Staaten – zueinander. Anarchie und horizontaler Ansatz gehen von der formalen Gleichrangigkeit der Staaten aus. Dagegen drückt der vertikale Ansatz ein Über-/Unterordnungsverhältnis des internationalen Strafgerichtshofs zu den Staaten aus. Ein auf dem Konzept der Anarchie basierende Beschreibung lässt ein Über-/Unterordnungsverhältnis nicht zu. Die rechtliche Erwartungsstruktur scheint dies jedoch so anzulegen, denn sowohl der ICTY als auch die Kommentatoren des Römischen Statuts bringen diese Interpretation zum Ausdruck. Auch in anderen Fällen wird sie diskutiert und ähnlich thematisiert (Kadelbach 23 ff.). Kadelbach bezieht die Frage der Über- bzw. Unterordnung direkt auf die internationale Rechtsordnung: »It addresses the very structure of the international legal order, namely whether the fundamental character of the rules at issue is such as to place them on a higher rank with the consequence that they prevail over ›ordinary” international law« (Kadelbach 2006: 25).
An diese Frage einer Über- bzw. Unterordnung knüpft die Debatte zwischen Lea Brilmayer und Harold Hongju Koh an: Lea Brilmayer hat die Unterscheidung horizontal/vertikal in Bezug auf die Anwendung des Völkerrechts in US-amerikanischen Gerichten genutzt. Sie argumentiert, dass das horizontale Modell die Teilnehmerstruktur auf das Staat-zuStaat-Verhältnis begrenze (Brilmayer 1991: 2292). Sie begründet diese Annahme, indem sie auf Jeremy Bentham (1748–1832) verweist, der das Völkerrecht als rein zwischenstaatliches Recht definierte. Daraus ergibt sich die Unterscheidung des internationalen vom nationalen Recht, weil sich das Völkerrecht auf internationale Beziehungen und das nationale Recht auf das Staat-Individuum-Verhältnis beschränkt. Diese Auffassung ist als Dualismus bekannt und grenzt sich vom Monismus ab, der eine Analogie beider Verhältnisse annimmt (Brilmayer 1991: 2293). Diese sogenannte »domestic analogy« (Brilmayer 1991: 2293) findet sich bei verschiedenen frühen Völkerrechtlern wieder (siehe Zweites Kapitel: II.). Das Völkerrecht und das nationale Recht gründen sich im Dualismus auf unterschiedlichen Quellen. Das Völkerrecht hat das Naturrecht zur Grundlage. Allerdings geht damit nach Brilmayer auch das Problem einher, dass dieses natürliche Völkerrecht nur so lange Bestand hat, wie dieses Recht auf die Homogenität der westlichen, christianisierten und in diesem Verständnis zivilisierten Welt ruht. Diese naturrechtliche Grundlage kann jedoch nicht die Bindung der Staaten sichern, sodass der völkervertragliche Konsens zur alternativen Lösung wurde (Brilmayer 1991: 2294). Auch bei Brilmayer ist damit die 37
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
methodologische Problemstellung zwischen faktischer und normativer Verbindlichkeit und Legitimation des Völkerrechts präsent (vgl. Einleitung; ausführlicher diskutiert im Vierten Kapitel). Das vertikale Modell begründet nach Brilmayer keinen Ausschluss von Nicht-Staaten, sondern schließt insbesondere Individuen explizit ein (Brilmayer 1991: 2295). Das vertikale Modell ergänzt das horizontale Modell (Brilmayer 1991: 2296). Die Analogie zwischen Völkerrecht und staatlichen Recht setzt das vertikale Modell voraus (Brilmayer 1991: 2298). In diesem vertikalen Modell sind die Staaten nicht wie in der anarchiebedingten Kooperation frei, weil sie in ein übergeordnetes Sollen integriert sind (Brilmayer 1991: 2307). Mit Blick auf die Anwendung des Völkerrechts in amerikanischen Gerichten folgert Brilmayer, dass es beim Völkerrecht nicht allein um politische Entscheidungen der Staaten geht, sondern dieses in den nationalen Gerichtsurteilen Wirkung entfaltet. Dem müssen sich auch die Staaten unterordnen (Brilmayer 1991: 2314). Harold Hongju Koh kritisiert die Unterscheidung in vertikale und horizontale Kooperation. Er weist daraufhin, dass diese Unterscheidung im Widerspruch zu einer monistischen Vorstellung des Völkerrechts steht. Im Gegensatz zum Monismus trennt der Dualismus die Außenbeziehung unter Staaten von staatlichen Beziehungen zu Individuen. Die Vertikale stellt in diesem dualistischen Verständnis die letztere Beziehung dar, während die erstere als Horizontal charakterisiert wird (Koh 1991: 2379). Koh macht deutlich, dass nach den Nürnberger Prozessen völkerrechtliche Rechte und Pflichten des Individuums in einer Staats-zu-Staat-Beziehung nicht aufgehoben sind. Mit der Unterscheidung vertikal/horizontal können Individuen jedoch nicht mehr das Verbrechen der Aggression zur Anklage bringen oder deswegen angeklagt werden, weil Krieg zwischen Staaten stattfindet (Koh 1991: 2378). Dass das Verbrechen der Aggression jedoch diese individuelle Dimension einschließt, bedeutet nach Koh, dass es keine rein horizontalen Fälle gebe (Koh 1991: 2377). Der Widerspruch besteht demnach darin, auf der einen Seite nach einer monistischen Vorstellung eine globale Anspruchsgrundlage zu behaupten und auf der anderen Seite mit der Unterscheidung vertikal/horizontal den Dualismus je nach Fall wieder einzuführen. Aufgrund dessen bietet die Unterscheidung keinen Mehrwert (Koh 1991: 2377). Zumindest der letzte Punkt trägt nicht, denn wegen des Widerspruchs eignet sich die Unterscheidung, um die Struktur der Strafverfolgung internationaler Verbrechen zu beschreiben. Sie erklärt zum einen, dass Staaten ihre Souveränität gegen die Vertikale behaupten, und begründet zum anderen, dass sowohl staatliche als auch internationale Spruchkörper das Völkerrecht als Grundlage für ihre Urteile benutzen können (vgl. Brilmayer 1991: 2314). Den vertikalen Modus der Kooperation als Kombination der Vertikalen und Horizontalen über B rilmayer hinaus in einer Weltgesellschaft zu denken, öffnet den Blick für die Aushandlungsprozesse 38
DIE STAATLICHE SOUVERÄNITÄT ALS GRUNDLAGE
unter der Erwartung, internationale Verbrechen zu verfolgen, und dabei nach Art. 86 RS zusammenzuarbeiten. Dieser Widerspruch zwingt die Untersuchung dazu, nicht auf der Ebene der Weltgesellschaft stehen zu bleiben, sondern über die organisationale Ebene zu jedem Verfahren, die Aushandlung des Widerspruchs nachzuvollziehen. Dieser produktive Umgang mit dem Widerspruch horizontaler und vertikaler Kooperation ermöglicht es im Folgenden, die methodologische Problemstellung apologetischer und utopischer Beschreibung zu überwinden und das Potential rechtssoziologischer Forschung zu entfalten. Der erste Schritt hierzu ist es, die Unterscheidung des völkerrechtlichen Kooperationsverständnisses horizontal/vertikal historisch zu rekonstruieren. Die Entstehung einer internationalen Strafverfolgung gegenüber staatlicher Souveränität war erst nach den großen humanitären Katastrophen des 19. und 20. Jahrhunderts möglich. Außerdem basieren die Modi auf bestimmten Annahmen eines monistischen oder dualistischen Verhältnisses des nationalen Rechts zum Völkerrecht. Diese Unterscheidung taucht in unterschiedlichen Varianten im historischen Verlauf auf. Der Standpunkt, den die Völkerrechtler zur domestic analogy einnehmen, ist für die internationale Strafverfolgung relevant, weil nur in einer monistischen Vorstellung Individuen als völkerrechtliche Subjekte möglich sind. Die Unterscheidung zwischen Monismus und Dualismus ist nicht Grundlage des vertikalen oder horizontalen Modus der Kooperation. Die Modi – insbesondere der vertikale Modus – beschreiben nur die Struktur der Kooperation auf der Grundlage des von Koh geschilderten Widerspruchs. Sie rechnen damit ein, dass Staaten auf eine dualistische Vorstellung für die eigene Strafverfolgung pochen, während andere Staaten bereitwillig den IStGH zu Ermittlungen einladen oder der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Ermittlungen anweist. Die historische Rekonstruktion zeigt auf, wie sich das völkerrechtliche Kooperationsverständnis vom horizontalen zum vertikalen Modus wandelte.
II. Die staatliche Souveränität als Grundlage des horizontalen Modus der Kooperation Der historische Ausgangspunkt für den Modus horizontaler Kooperation liegt im Westfälischen Frieden von 1648. Die unterschiedlichen politischen Gebilde innerhalb und außerhalb des Heiligen Römischen Reiches verhandelten formal gleichrangig miteinander. Diese in Münster und Osnabrück ausgehandelten Friedensverträge bereiteten den Weg für eine internationale Ordnung, die den Staat zum Grundelement internationaler Beziehungen machte (Herdegen 2019: 20 f.). Damit ging das Prinzip staatlicher Souveränität einher, welches Staaten die Hoheit über das 39
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
jeweilige Staatsgebiet und die Staatsbürger zuschreibt. Zugleich handelt es sich auch um ein Prinzip souveräner Gleichheit: par in parem non habet imperium. Die Gleichheit bezieht sich auf die Souveränität der einzelnen Staaten und ist nicht mit einer Forderung nach tatsächlicher Gleichheit verbunden (von Arnauld 2016: 135 f.). Dieses Ergebnis beruht u.a. auf dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648), der seine Ursprünge im Konflikt der Konfessionalisierung des Christentums hatte. Der Kampf um die Einheit der Christenheit und der damit einhergehende Eingriff in Staaten, um diese Einheit zu erzwingen, führten im Westfälischen Frieden zum Prinzip souveräner Gleichheit, das diesen Kriegsgrund zukünftig ausschließen sollte (von Arnauld 2016: 9 f.). Diese Entwicklung zum souveränen Staat als Grundelement internationaler Beziehungen und dem Prinzip souveräner Gleichheit ermöglichte den horizontalen Modus der Kooperation. In der Entscheidung für ein Nebeneinander souveräner Staaten ist die Vertikale wie etwa die Einheit der Christenheit als übergeordnetes Interesse explizit ausgeschlossen (vgl. Vesting 2013: 81). Die res publica christiana war bereits im 15. Jahrhundert der communitas omnium gentium gegenübergestellt worden. Die Konfessionalisierung des Christentums und das im Augsburger Frieden vom 25. September 1555 formulierte und durch den Westfälischen Frieden bestätigte cuius regio, eius religio hat die Verselbstständigung politischer Gebilde zu souveränen Staaten begünstigt und die seit dem Investiturstreit begonnene Differenzierung von Geistlichen und Weltlichen vollendet (Münkler 2020: 800; Böckenförde 1991). Für Europa hat der Westfälische Frieden die Konfessionalisierung des Christentums als Kriegsgrund ausgeschlossen und den Krieg zu einer Angelegenheit zwischen Staaten gemacht (Münkler 2020: 817). Der Westfälische Frieden hat damit auch die völkerrechtliche Entwicklung langfristig beeinflusst (Duchhardt 2012a; 2012b). Souveränität und Staatlichkeit entstehen nicht im Westfälischen Frieden, aber er befördert ihre Entwicklung. Die theoretische Grundlage des Souveränitätsbegriff hat Jean Bodin (1529–1596) bereits vor dem Westfälischen Frieden ausgearbeitet. Er betonte die alleinige Amtsgewalt des Staates nach innen (Bodin 1606 [1576]: 84). Bodin hatte seinen Souveränitätsbegriff bereits vor dem Frieden auf ein weltliches Gemeinwohl gegründet und damit eine weltliche Alternative zum religiösen Heilsversprechen vorbereitet: »Commonweale is a lawfull gouernment of many families, and of that which unto them in common belongth, with a puissant soueraigntie« (Bodin 1606 [1576]: 1).
An diese Überlegung schließt Hugo Grotius (1583–1645) seine Arbeit »ad belli ac pacis« von 1625 an. Grotius ist ebenfalls vom Dreißigjährigen Krieg und insbesondere vom achtzigjährigen Unabhängigkeitskrieg 40
DIE STAATLICHE SOUVERÄNITÄT ALS GRUNDLAGE
der Niederländer gegen die Spanier (1568–1648) geprägt. Er tritt für eine Trennung von göttlichem Recht, Naturrecht und der Laws of Nations ein (2012 [1625]: 9, 12, 15). Grotius beschreibt das göttliche Recht als das perfekte Recht, demgegenüber existiert das Naturrecht als »the law of men in their relation with one another« (2012 [1625]: 15). Das göttliche Recht ist eine Quelle für das Naturrecht, jedoch wird es nach Grotius nur durch Gott ausgeübt (Grotius 2012 [1625]: 15). Das Naturrecht ist damit ein auf den Prinzipien der Natur beruhendes objektives Recht, während das positive Recht im Allgemeinen und das Völkerrecht im Besonderen auf Konsens beruht (Grotius 2012 [1625]: 9, 12). Grotius stützt (politische) Vereinigungen, wie sie Bodin beschreibt, auf eine rechtliche Grundlage: »If no association of men can be maintained without law, […] surely also that association which binds together the human race, or binds many nations together, has need of law« (Grotius 2012 [1625]: 7).
In Grotius Verständnis sind Naturrecht und positives Recht als weltliches Recht die Grundlage dieser Vereinigungen wie den aufkommenden Staaten. Das göttliche Recht ist nur eine Quelle, aber kann nicht konkret die menschlichen Verhältnisse regeln. Thomas Hobbes geht noch einen Schritt weiter, indem er den Staat und die Souveränität durch einen Vertrag einer Person mit allen anderen Personen begründet. Diesen Gedanken hat er in der Ikonographie seines Leviathans 1651 veranschaulicht:
Abbildung 1. Thomas Hobbes Leviathan 1651.
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DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
Diese Darstellung folgt zwei Jahre auf das Ende des englischen Religions- und Bürgerkriegs (1642–1649) und drei Jahre auf den Westfälischen Frieden. Der aus den Einzelnen zusammengesetzte Souverän ist Ausdruck der von Bodin definierten Souveränität als Amtsgewalt (1606 [1576]: 84), die auf einer wohl geordneten Gemeinschaft beruht, wie sie Hobbes ikonographisch darstellt und in seinen vertragstheoretischen Überlegungen diskutiert. »Nature (the Art whereby God hath made and governes the World) is by the Art of man, as in many other things, so in this also imitatet, that it can make an Artificial Animal. […] Art goes yet further, imitating that Rational and most excellent worke of Nature, Man. For by Art is crea ted that great LEVIATHAN called a COMMON-WEALTH, or STATE, (in Latin CIVITAS) which is but an Artificiall Man; though of greater stature and strength than the Naturall, for whose protection and defence it was intended, and in which, the Soveraignty is an Artificiall Soul, as giving life and motion to the whole body« (Hobbes 1651: 9; [Hervorhebungen im Original]).
Bodin, Grotius und Hobbes befinden sich mit ihren Publikationen im 17. Jahrhundert an der Schwelle zur Aufklärung. Sie suchen nach einer alternativen Grundlage zur göttlichen Begründung der Welt im Allgemeinen und der Verselbstständigung politischer Gebilde zu souveränen Staaten im Besonderen. Souveränität, Recht und Gemeinwohl verwenden die Autoren als Konzepte, um diese Suche zu beschreiben, in der eine weltliche Ordnung erreicht werden soll. Die Welt aller drei Autoren ist vom Dreißigjährigen Krieg (1618–1648), dem englischen Bürger- und Religionskrieg (1642–1649), dem achtzigjährigen Unabhängigkeitskrieg der Niederländer gegen die Spanier (1568–1648), dem französisch-spanischen Krieg (1635–1659) sowie dem mantuanischen Erbfolgekrieg zwischen Frankreich und den Habsburgern (1628–1631) gekennzeichnet (siehe für Hobbes Koselleck 1973: 18 ff.). Diese Kriege enden in der Mitte des 17. Jahrhunderts, allerdings haben sie einen starken Eindruck bei den Autoren hinterlassen. Grotius spricht sich daher in seinem Werk deutlich für ein Recht im Krieg aus: »Least of all should that be admitted which some people imagine, that in war all laws are in abeyance. On the contrary, war ought not to be undertaken except for the enforcement of rights; when once undertaken, it should be carried on only within the bounds of law and good faith« (Grotius 2012 [1625]: 7).
Grotius formuliert mit dieser Aussage einen Anspruch an das Völkerrecht für das Gebot der Nichteinmischung und Regeln im Krieg. Das Kriegsvölkerrecht geht dem Völkerstrafrecht voraus, weil das Kriegsvölkerrecht ein zwischenstaatliches, im horizontalen Modus realisierbares Recht ist. Grotius zeigt diese Denkmöglichkeit auf, dennoch vergehen 42
DIE STAATLICHE SOUVERÄNITÄT ALS GRUNDLAGE
über 250 Jahre, bevor Staaten völkerrechtliche Verträge hierzu aushandeln. Allerdings entwickelten im Anschluss an Grotius verschiedene Autoren die Idee der Laws of Nations weiter und kombinierten sie mit der Hobbes’schen Vorstellung des Leviathans. Matthew Tindal (1657–1733) hat diese Gedanken folgendermaßen formuliert: »The Laws of Nations are certain Rules and Customs observed by Nations in their entercourse with another; which upon the account of their evident and common Profit, as they are necessary for their maintaining a mutual Correspondence, have been constantly practised by them, and are esteemed as Sacred. They are built upon no other Foundation than the general Good of Societies, to which a mutual Correspondence, that could not be upheld but by observing these Rules, is highly necessary« (Tindal 1694: 4).
Die Laws of Nations werden als erkennbare Regeln und Gewohnheiten gedeutet und bilden auf diese Weise eine Einheit. Die Laws of Nations haben ihren Ursprung im Naturrecht (Tindal 1694: 5). »The Law of Nature […] is nothing else but that mutual Aid and Alliance, which by reason of their common Necessities one Man owes to another, without the observance of which Mankind could not well subsist« (Tindal 1694: 5).
Staaten und Personen werden analog gedacht und begründen damit eine natürliche Verpflichtung. Die communitas omnium gentium kann aufgrund dieser Analogie von den Staaten repräsentiert werden. Das »Commonweal« bei Bodin, »Justice« bei Grotius, der Leviathan bei Hobbes und »the Foundations of general Good of Societies« bei Tindal sind Schlagworte, die die Suche nach einem weltlichen Fundament für die entstehende staatliche Ordnung umschreiben und zugleich ein allgemeines (Staats-)Ziel benennen sollen. Im Westfälischen Frieden einigten sich die verschiedenen Herrscher Europas auf die territoriale Aufteilung der europäischen Landmasse. Allerdings blieb die Frage über die Herrschaft der See unbeantwortet. Die sich ausdehnenden Kolonialreiche stellen im Zuge des souveränen Anspruchs auf ein bestimmtes Territorium auch die Frage nach dem Eigentum an den Meeren. Dagegen plädierte Hugo Grotius für die Freiheit der Meere: »Our purpose is shortly and clearly to demonstrate that it is lawful for the Hollanders, that is the subjects of the confederate states of the Low Countries, to sail to the Indians as they do and entertain traffic with them. We will lay this certain rule of the law of nations (which they call primary) as the foundation, the reason whereof is clear and immutable: that it is lawful for any nation to go to any other and to trade with it« (Grotius 2004 [1609]: 10).
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DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
Grotius tritt in dieser einleitenden Passage nicht nur für die Freiheit der Meere ein, sondern verknüpft dieses auch mit dem Interesse der Holländer. Dieses Plädoyer Grotius ist mit Blick auf die Vorrede zu diesem Werk »Mare Liberum« von 1609 auch in den niederländischen Unabhängigkeitskrieg eingebettet. In der Vorrede adressiert Grotius die christlichen Herrscher Europas und insbesondere die Spanier, um das Unrecht über die Beschränkung des Handels anzuprangern (Grotius 2004 [1609]: 5 ff.). Der englische Autor John Selden (1584–1654) antwortete Grotius mit seinem Werk »Mare clausum« 1618 und adressiert sein Buch »To The Supreme Autoritie Of The Nation The Parlament of the Common- wealth of England« (Selden 1652 [1618]: 6). Der Begriff des Commonwealth findet hier bereits Verwendung. Außerdem nimmt Selden direkten Bezug auf die Kontroverse zwischen den Niederländern und den Engländern über die Hoheit der Meere und stellt den diplomatischen Verkehr zwischen diesen dar (Selden 1652 [1618]: 467 ff.). Selden tritt für die Herrschaft Englands über die See ein und weist daher den Anspruch der Niederländer und insbesondere Grotius Forderung nach der Freiheit der Meere entschieden zurück. An dieser Diskussion über den Status der Meere wird deutlich, dass das Meer vor allem durch Selden als äquivalent zum Land betrachtet wird. Daraus leiten sich verschiedene Herrschaftsansprüche der Briten, Spanier, Portugiesen und Niederländer ab. Portugal sowie die vereinigten Königreiche Kastilien und Aragon schlossen im offenen Wettbewerb um Kolonien 1479 den Vertrag von Alcáçovas und 1494 den Vertrag von Tordesillas, um den Ausbruch offener Feindschaft in der Nutzung der Meere und Kolonien zu verhindern. Der Anspruch auf die Besitzherrschaft über das Meer ist nicht neu. Das Römische Imperium nannte das Mittelmeer mare nostrum und Venedig betrachtete die Adria als ihr mare clausum. Allerdings wird dieser Anspruch zu einer rechtlich oder kriegerisch lösbaren Frage für die Souveränität eines Staates. In dieser Hinsicht stellen dann Piraten den größten Affront gegen einen Souveränitätsanspruch dar, weil sie einerseits für die Freiheit der See eintreten und andererseits nicht einmal souverän sind. In Anlehnung an Hobbes sorgen Piraten für die Rückkehr zum Naturzustand. Daher stehen sie dem Souveränitätsgedanken diametral entgegen. »So a Man that breaks the common Rules of Honest and Justice, which are essential to the well-being of Mankind, by robbing but one Nation, may justly be termed hostis humanis generis; and that Nation has the fame right to punish him, as if he had actually robbed all Nations« (Tindal 1694: 28).
Der Bezug zur Nation bzw. zum Staat ist ausschlaggebend für die Bestrafung als Sache des jeweiligen Staates. Zugleich ist der Staat das Opfer, 44
DIE STAATLICHE SOUVERÄNITÄT ALS GRUNDLAGE
welches wegen der Verletzung seiner Rechte den Piraten bestrafen darf. Die Piraterie wird als Angriff auf die souveräne Gewalt des Staates gewertet und betrifft insofern auch alle anderen Staaten. Der Ausdruck »hostis humanis generis« bezieht sich nicht auf die Menschheit unabhängig von Staaten (vgl. Fernández 2012). Sie ist kein eigenes rechtlich geschütztes Interesse, sondern wird durch die Nation als Ausdruck der Einheit der Bürger eines Staates repräsentiert (vgl. Stichweh 2000: 50). Im sich konsolidierenden souveränen Staat ist selbst das zwischenstaatliche Recht erst im Entstehen begriffen. Da die Piraterie als Angriff auf den Staat gewertet wurde, bedurfte es keines zusätzlichen völkerrechtlichen Vertrags. Die Verletzung der Souveränität rechtfertigt die Ahndung für alle Staaten (Martienz 2012: 119). Sie sind gleichrangig, bzw. gleichermaßen betroffen. Piraterie tritt aus der Ordnungsvorstellung der souveränen Staaten heraus und ist auf der Horizontalen souveräner Staatlichkeit nur durch ihre Bekämpfung zu behandeln. Die ersten Überlegungen zu Verbrechen gegen die Menschheit sowie Kriegsverbrechen kommen schrittweise im ausgehenden 19. Jahrhundert auf (von Lingen 2018: 37). Das Völkerstrafrecht als Korpus eigenständiger internationaler Verbrechen hat im horizontalen Modus keinen Platz. Am Beispiel der Piraterie zeigt sich auch ein geteiltes Verständnis der Staaten von Souveränität. Christian Wolff (1679–1754) stützt diese Interpretation in seinem Werk »The law of nations treated according to the scientific method« von 1749, indem er Naturrecht und Law of Nations nicht mehr unterscheidet, weil er die Staaten wie bei Hobbes angelegt als gleichrangige, freie Individuen betrachtet: »Since nations in their relations with each other use no other law than that which has been established by nature, a separate treatment of the law of nations and the law of nature might seem superfluous. But those, indeed, who feel thus do not weigh the laws of nations in scales that are perfectly balanced. Nations certainly can be regarded as nothing else than individual free persons living in a state of nature, and therefore the same duties are to be imposed upon them, both as regards themselves and as regards others, and the rights arising therefrom, which are pre scribed by the law of nature and are bestowed on individual humans, to the extent that they are by nature born free, and are united by no other bond than that of nature. And so whatever right arises and whatever obligations result therefrom, come from that unchangeable law which has its source in human nature, and thus the law of nations is undoubtedly a part of the law of nature, and therefore it is called the natural law of nations, if you should look at its source, but the necessary, if you should look at its power to bind. And this is a law common to all nations, so that any nation which does anything contrary to it, violates the common law of all nations, and does a wrong« (Wolff 2017 [1749]: 7).
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DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
Aus der Beschreibung von Staaten als freie Individuen folgert Wolff – wie zuvor Tindal –, dass die Staaten dazu berechtigt sind, gegen Verletzungen der Souveränität vorzugehen. Die staatliche Souveränität ist die Begründung sowohl für die Verfolgung von Piraterie als auch anderer Vergehen. Die europäischen Staaten schließen damit andere Akteure aus, weil sie eine Bedrohung für das Prinzip der souveränen Gleichheit darstellen. Dieses über die Jahrhunderte entwickelte rechtliche Prinzip bildet die Grundlage für die Zusammenarbeit der Staaten und der Beschreibung dieser als horizontalen Modus der Kooperation. Emer de Vattel (1714–1767) drückt diesen Grundgedanken folgendermaßen aus: »the object of the great society established by nature between all nations is also the interchange of mutual assistance for their own improvement and that of their condition« (Vattel 1834 [1758]: 10; [Hervorhebungen im Original]).
Vattel prägt den Ausdruck »society of nations« (1834 [1758]: 10) und hebt die für das 17. Jahrhundert dargestellte Idee der Vereinigung der Menschen zu Staaten auf die zwischenstaatliche Ebene. Auch dieser Gedanke beruht auf der Gleichrangigkeit der Staaten aufgrund ihrer Souveränität. Der bis hierhin etablierte horizontale Modus der Kooperation gründet sich auf naturrechtlichen Vorstellungen. Diese Vorstellungen sind eine erste Antwort auf die vollzogene Differenzierung des Geistlichen und des Weltlichen, die die moderne Staatswerdung ausgelöst hat. Das Prinzip souveräner Gleichheit dient in diesem Prozess einer allgemeinen Regulierung eines entstehenden staatlichen Außenverhältnisses. Die Verfolgung von Piraten fällt in die Zuständigkeit des souveränen Staates und zeigt damit, dass die Staaten in diesem frühen horizontalen Modus der Kooperation noch nicht in der Lage sind, normative Erwartungen in ihren Beziehungen zu etablieren. Die Idee des Commonwealth überlässt es den Staaten, neben christlich-moralischen Leitlinien ihre Verhältnisse auszubuchstabieren. Vom Völkerstrafrecht kann nicht einmal im Ansatz die Rede sein, allerdings entsteht eine Perspektive auf zwischenstaatliches Recht, das auf naturrechtlichen Vorstellungen eines sich konsolidierenden souveränen Staats beruht und damit das Verständnis der Kooperation im horizontalen Modus prägt.
III. Der europäische Zivilisationsstandard: Parallelität der Modi horizontaler und vertikaler Kooperation Dieses naturrechtliche Law of Nations bildet die Grundlage für das Law of Civilized Nations im 18. und 19. Jahrhundert (von Lingen 2018: 39 ff.), in der der völkerrechtliche Vertrag und damit die zwischenstaatliche Zusammenarbeit eine größere Rolle spielen. Während Tindal noch 46
DER EUROPÄISCHE ZIVILISATIONSSTANDARD
dafür argumentierte, dass eine Verletzung des Laws of Nations alle Nationen betrifft, genügt diese naturrechtliche Vorstellung nach der Amerikanischen und Französischen Revolution nicht mehr. Die Vereinigung der Bevölkerung zu einem Staat unter einem souveränen Monarchen ist nicht das gleiche Commonwealth, welches die Amerikanische und Französische Revolution anstreben. Der implizite naturrechtliche Konsens löst sich auf (vgl. Luhmann 2013: 36). Deshalb beginnen die Staaten, ihren Konsens in völkerrechtlichen Verträgen explizit festzuhalten, und schaffen damit die positivrechtlich gesetzte Grundlage für das heutige Völkerrecht. Die europäischen Staaten versuchen, nach der Französischen Revolution die alte Stabilität wieder zu gewinnen. Während sie innerhalb Europas das europäische Gleichgewicht im horizontalen Modus etablieren, zwingen sie Staaten und Völkern außerhalb Europas einen vertikalen Modus der Kooperation auf. Die Genfer Konvention von 1864 ist ein beispielhafter Ausgangspunkt für einen nur innerhalb Europas geschlossenen Vertrag. Baden, Belgien, Dänemark, Frankreich, Hessen, Italien, die Niederlande, Portugal, Preußen, die Schweiz, Spanien und Württemberg unterzeichnen als die ersten zwölf Staaten die Konvention. Viele weitere Staaten folgen innerhalb weniger Jahre und etablieren die Konvention innerhalb Europas. Diese Staaten stellen damit verwundete Soldaten unter Schutz und billigen dem Roten Kreuz einen Sonderstatus in Kriegen zu. Diese völkerrechtliche Vereinbarung dient der horizontalen Kooperation von Staaten auch in Kriegszeiten (Roberts 2020; Roberts 2019; von Lingen 2018: 79 f.). Es handelt sich um positivrechtlich gesetztes Kriegsvölkerrecht und markiert dadurch den Unterschied zur naturrechtlichen Vorstellung des Rechts. Allerdings stellte der Präsident des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes Gustave Moynier Verletzungen der Genfer Konvention im Zuge des preußisch-französischen Kriegs 1870/71 fest. Er forderte auf Basis der Genfer Konvention die Ahndung der Verletzungen durch deutsche und französische Soldaten als Kriegsverbrechen (vgl. Satzger 2018: 312). Die Civilized Nations hatten zwar Recht vereinbart, aber sich wenig um seine Umsetzung bemüht. Dennoch wird an der Forderung Moyniers sichtbar, dass das vertragliche Völkerrecht als Grundlage für eine internationale Strafverfolgung im 19. Jahrhundert denkbar wird (von Lingen 2018: 80). Gegenüber dem Umgang mit der Piraterie beschränkt sich der horizontale Modus nicht allein auf die Sicherung der staatlichen Souveränität, sondern erschließt auch das Kriegsrecht und damit das spätere humanitäre Völkerrecht als Themenfelder für eine Zusammenarbeit. Diese Zusammenarbeit leitet sich nicht vom abstrakten Rechtsprinzip der Souveränität ab, sondern bedient sich des Vertrags zur konkreten Ausgestaltung. Während der Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 arbeiteten die Staatenvertreter dreizehn Verträge aus, um Regeln für den 47
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Krieg festzulegen. Die damals ausgehandelte Haager Landkriegsordnung (HLKO) stellt bis heute einen wichtigen Teil des humanitären Völkerrechts dar (von Lingen 2018: 102). In diesem Vertrag von 1907 werden der Kombattantenstatus, der Umgang mit Kriegsgefangenen, die Mittel der Kriegsführung usw. reguliert. Für den Verbrechenstatbestand des Kriegsverbrechens bildet die Haager Landkriegsordnung die Grundlage, auch wenn sie selbst keine Sanktionen für Verstöße vorsieht (HLKO 2016). Sie begründet Kriegsvölkerrecht, aber kein Völkerstrafrecht. Dieser sich langsam vollziehende Wandel vom ius ad bellum zum ius in bello setzt noch nicht den Krieg als gerechtfertigtes Mittel politischen Handelns außer Kraft (Herdegen 2019: 24; Langewiesche 2019: 27 f.). Allerdings folgt dieses ius in bello mit seiner vertragsrechtlichen Ausgestaltung der Vorstellung eines Laws of Civilized Nations. Deutlicher Ausdruck des von europäischen Staaten selbst gesetzten Zivilisierungsstandards findet sich in der Martens-Klausel des zweiten Haager Abkommens: »Until a more complete code of law is issued, the High Contracting Parties think it right to declare that in cases not included in the Regulations adopted by them, inhabitants and belligerents remain under the protection and empire of the principles of international law, as they result from usages established between civilized nations, from the laws of humanity, and the requirement of the public conscience« (Hague Convention II 1899: Präambel).
Wie schon bei Tindal taucht der Begriff »humanity« wieder auf. Allerdings steht er auch hinter den hier als »civilized« auftretenden Nationen. Das öffentliche Bewusstsein wird für das Recht – wie auch heute in der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) verankert – durch die Rechtsgelehrten vertreten (vgl. von Lingen 2018: 35). Der universalistische Gedanke der »humanity« ist damit eingerahmt von der europäischen Zivilisierungsidee, weil die Teilnahme am Rechtsverkehr und damit vereinbarter Zusammenarbeit in Abhängigkeit vom Zivilisierungsstandard gesetzt wird (Koskenniemi 2004: 73). Diese Idee entfaltet sich in der anhaltenden Kolonialisierung der Welt durch europäische Staaten. Die von den Kolonisten wahrgenommenen Unterschiede wurden in ein Weltbild übertragen, in dem die europäischen Staaten an der Spitze eines Entwicklungspfades voranschreiten. Ein Staat konnte nur als souverän anerkannt werden, wenn er aus Sicht der europäischen Staaten mit ihnen gleichziehen konnte. Dieser Kerngedanke des europäischen Zivilisierungsstandards führte Biologen und Soziologen im 19. Jahrhundert dazu, Erklärungen für die wahrgenommenen Unterschiede zu entwickeln. Sie beriefen sich bei diesen Erklärungen häufig auf rassistische Vorstellungen. Damit kündigt sich ein anderer Modus vertikaler Kooperation an, als ihn Kant im Jahr 1795 mit der Idee des »Ewigen Friedens« (1984 [1795]) vorgeschlagen hatte. 48
DER EUROPÄISCHE ZIVILISATIONSSTANDARD
Die 1859 von Charles Darwin (1809–1882) publizierte Evolutionstheorie führte alsbald zur Idee des Sozialdarwinismus, die Herbert Spencer (1820–1903) mit der Formel »survival of the fittest« (1864: 444 f.) zugeschrieben wird. Diese Entwicklung wie auch Herbert Spencers Arbeiten zur sozialen Evolution führten zu einem Ideengemisch, das durch erschreckende Erfahrungen europäischer Missionierungsversuche in Afrika von aufgeklärtem Humanismus zu Rassismus umschlug (Koskenniemi 2004: 70).1 Bereits in Spencers 1847 publizierter »Theory of Population« hält der Biologismus Einzug in die Erklärung von Gesellschaft: »We find, then, that the co-ordination of actions is a definition of Life, which includes alike its highest and its lowest manifestations; and not only so, but expresses likewise the degree of Life, seeing that the Life is high in proportion as the co-ordination is great« (Spencer 1847: 7).
Spencer ebnet mit dieser Definition bereits den Weg für eine Über-/Unterordnung von Leben, indem er einen Grad des Lebens in Abhängigkeit vom Maß der Koordination einführt. Diese Definition führt er folgenderweise fort: »Individuation and Reproduction are antagonistic« (Spencer 1847: 13). Auf Basis dieser Unterscheidung stellt Spencer den Bezug zur Arbeitsteilung her, weil die Arbeitsteilung eine in seinem Verständnis höhere Koordination erlaubt (Spencer 1847: 20). »Thus we see that in its most active form the ability to multiply is antago nistic to the ability to maintain individual life, not only as preventing increase of bulk, but also as preventing organization – not only as prevention homogeneous co-ordination, but as preventing heterogeneous co-ordination« (Spencer 1847: 20).
Dies bietet die Grundlage für ein rassistisches Homogenitätsverständnis der Nation, in dem die sich als bessere Form der Koordination verstehende Nation als übergeordnet ansieht. Diese Überlegungen formuliert Spencer auf folgende Weise im Hinblick auf den Zivilisierungsgrad aus: »That an enlargement of the nervous centres is going on in mankind, is an ascertained fact. Not alone from a general survey of human progress – not alone from the greater power of self-preservation shown by civilized races, are we left to inter such enlargement; it is proved by actual measurement. The mean capacities of the crania in the leading divisions of the species have been found to be –
1 Der Rassismus tritt jedoch nicht erst mit diesen Arbeiten auf. Die Black- Live-Matters-Bewegung im Jahr 2020 hat bei verschiedenen historischen Persönlichkeiten, zu denen auch Kant zählt, Rassismus diskutiert und die Entfernung ihrer Statuen aus dem öffentlichen Leben gefordert (beispielhaft für diese Debatte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: Willaschek 2020; Wolff 2020).
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In the Australian . . . 75 cubic inches. “ African . . . 85 “ Malayan . . . 86 “ “ “ Englishman . . . 96 “ showing an increase in the course of the advance from the savage state to our present phase of civilization, amounting to nearly 30 per cent on the original size« (Spencer 1847: 32).
Spencer stellt zwischen physiologischen Merkmalen und Entwicklungsstand eine Kausalbeziehung her. Er folgert daraus eine unterschiedliche Phase der Zivilisation (Spencer 1847: 33) und bietet eine Begründung für Herrschaft aufgrund rassischer Überlegenheit. »From the beginning, pressure of population has been the proximate cause of progress. It produced the original diffusion of the race. It compelled men to abandon predatory habits and take to agriculture. It led to the clearing of the earth’s surface« (Spencer 1847: 35).
Damit liefert er die Grundlage für die Einheit der Nation und einem rassistisch ausgeprägten Nationalismus, der sich als bessere Form der Koordination anderem Leben überordnet. Diese Vorstellung hatte nicht nur innerhalb Europas eine Konkurrenzsituation der Nationen verschärft, sondern auch außerhalb Europas den Zivilisationsstandard für die Begründung der Kolonialherrschaft befördert. Spencer drückt in dem angezeigten Zitat einen solchen Zivilisationsstandard aus. Der Zivilisationsstandard wurde zu einer kulturellen Errungenschaft im Kant’schen Sinne erhoben, die durch Bildung und andere Eigenschaften errungen werden kann: »The foundations of international law resides thus in the undesirable and necessary fact of the existence of a durable and legally recognized community among States that have attained or exceeded a certain level of civilization« (Bonfils/Fauchille 1898: 5). »They form a community of nations that is united by religion, customs, morality, humanity, science as well as the advantages of commercial relations, together with the habit of forming alliances and concluding treaties with each other« (Bonfils/Fauchille 1898: 17 f.).
Diese Aussagen aus einem völkerrechtlichen Lehrbuch des 19. Jahrhunderts zeigen die Vermischung von Evolutions- und Zivilisationsvorstellung. Der Zivilisationsstandard bestimmt dabei auch den Geltungsbereich des Rechts, da das Law of Civilized Nations nur für diese zivilisierten Nationen entworfen wurde (von Lingen 2018: 40). Auf den Haager Friedenskonferenzen tauchten nicht nur souveräne Staaten auf, sondern auch jene, die sich um die Souveränität bewarben. Die Teilnahme an der Konferenz diente u.a. China, Persien und Siam dazu, als zivilisiert anerkannt zu werden (von Lingen 2018: 104 f.; vgl. Osterhammel 50
DER EUROPÄISCHE ZIVILISATIONSSTANDARD
2020: 585). Der horizontale Modus der Kooperation war in seiner Entwicklung seit dem Westfälischen Frieden auf die Erwartung der Souveränität begrenzt. Daraus entwickelte sich im Verständnis der Europäer ein Klub souveräner Staaten, die die Mitgliedschaft nur an jene vergaben, die aus ihrer Sicht gleichwertig in einem qualitativen und nicht mehr in einem formalen Verständnis waren. Daraus ließ sich ein europäischer Rassismus und Imperialismus in der Kolonialisierung der Welt begründen. Auch in der Strafrechtswissenschaft hielt der Biologismus Einzug und veranlasste Franz von Liszt (1851–1919) zu folgender Ausführung: »Die primitive Strafe als, wenn auch nur mittelbarer, Ausfluß des Arterhaltungstriebes muß von allem Anfange an gesellschaftlichen Charakter tragen, als soziale Reaktion gegen soziale Störungen erscheinen. Sowenig das bellum omnium contra omnes als Urzustand der Menschheit anderswo als in der ungeschichtlichen Spekulation vergangener Zeiten erstiert hat, ebensowenig hat es in der Geschichte der Menschheit eine aller gesellschaftlichen Elemente entkleidete Privatsache gegeben. Der Mensch tritt als πολιτιχσγ in die Weltgeschichte ein: was etwa vorherging, fällt auch vom Standpunkte des Darwinismus und gerade von diesem, vor die Menschwerdung« (von Liszt 1883: 11 f.).
Bei von Liszt werden nicht nur die Bezugnahmen zum Darwinismus und Zivilisationsstandard deutlich, darüber hinaus grenzt er seine Gedanken von Thomas Hobbes Naturzustandsidee ab. Der hypothetische Naturzustand und das Naturrecht haben ihren Status für die Begründung von Recht und Gesellschaft verloren. Stattdessen wird im Zuge der Evolutionstheorie das Differenzierungsprinzip befördert, welches Spencer und Durkheim in der modernen Arbeitsteilung identifizieren. Die Unvereinbarkeit von Sozialvertrag und Arbeitsteilung drückt Emile Durkheim (1858–1917) explizit in seinem Werk »Über soziale Arbeitsteilung« von 1893 aus (2012 [1893]: 256). Er bezieht sich auf die Vielzahl tatsächlich abgeschlossener Verträge (2012 [1893]: 176 f.). Durkheim folgt der bei Spencer angelegten Unterscheidung zwischen Individuum und Reproduktion in der Form Individuum und Gesellschaft. »Im Bewußtsein eines jeden von uns gibt es zwei Bewußtseinszustände; den einen, den wir mit der ganzen Gruppe gemeinsam haben und der folglich nicht uns gehört, sondern der lebendigen und in uns wirkenden Gesellschaft; den anderen, der im Gegenteil dazu in uns das repräsentiert, was uns persönlich und unterscheidbar eigen ist und uns dadurch zu einem Individuum macht« (Durkheim 2012 [1893]: 181).
Auf der Grundlage dieser Unterscheidung formuliert er als Bindeglied von Gesellschaft und Individuum die organische Solidarität durch Arbeitsteilung:
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DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
»Die Gesellschaft wird fähiger, sich als Ganzes zu bewegen, während zugleich jedes ihrer Elemente mehr Eigenbewegungen hat. Diese Solidarität ähnelt jener, die man bei den höheren Tieren beobachten kann. Jedes Organ hat dort seine eigene Physiognomie und seine Autonomie, und trotzdem ist die Einheit des Organismus um so größer, je stärker die Individualisierung der Teile ausgeprägt ist. Aufgrund dieser Analogie schlagen wir vor, die Solidarität, die sich der Arbeitsteilung verdankt, organische Solidarität zu nennen« (Durkheim 2012 [1893]: 183).
Durkheim rezipiert damit den Biologismus, den Spencer und von Liszt bereits formuliert haben. Er folgert daraus eine Erklärung für den Zusammenhalt von Gesellschaft trotz zunehmender Individualisierung. Wie auch Spencer und von Liszt verknüpft Durkheim die Entwicklungsvorstellung mit Zivilisation: »Je primitiver die Gesellschaften sind, desto ähnlicher sind die Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen. […] Bei den zivilisierten Völkern dagegen unterscheiden sich zwei Individuen untereinander auf den ersten Blick, ohne daß dazu eine Einführung nötig wäre« (Durkheim 2012 [1893]: 185 f.).
Diese Ausführungen verbindet Durkheim mit dem bereits bei Spencer zitierten Vergleich der Physiognomie (Durkheim 2012 [1893]: 186). Die Zivilisierungsidee ist im 19. Jahrhundert mit dem Biologismus verwoben und dient der Diagnose verschiedener Entwicklungsstadien, um die Welt außerhalb Europas zu erfassen und innerhalb Europas auf Nationalisierung und Industrialisierung zu reagieren. Durkheim bietet mit der organischen Solidarität eine Erklärung für den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft, damit bedient er sich einer ähnlichen Metapher wie Hobbes beim Leviathan, der durch Menschen auf der Grundlage eines hypothetischen Vertrags zusammengesetzt wird. Die vorgestellten Autoren betrachten den Staat als ein Ineinandergreifen von Gewebe und Organen, durch das der Staat eine eigene Persönlichkeit erhält (vgl. Koskenniemi 2004: 80). Im deutschen Sprachraum formten sich bis zur vollständigen Entgleisung im Nationalsozialismus daraus die Begriffe »Geistes- und Charaktergemeinschaft« (Bluntschli 1881), »Volksgeist« usw. Diese in der historischen Rechtsschule des 19. Jahrhunderts geprägten Begriffe beruhen nach Böckenförde auf zwei Annahmen: Zum einen, dass »das Recht […] ebenso wie Sprache, Sitte und Kultur, organische Lebensäußerung eines konkreten Volkes« (1991: 12) ist und zum anderen, dass diese Lebensäußerung »in einer übergreifenden historischen Kontinuität« (1991: 12) eingeflochten ist (siehe hierzu ausführlicher für die historische Rechtsschule von Savigny (1814) oder überblickshalber Haferkamp (2017)). Dieser Nationalismus war bei Tindal in der Verletzung der Nation durch Piraterie bereits angedeutet worden, hat sich jedoch erst im 52
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19. Jahrhundert zur vollen Personalisierung der Nation ausgeformt. Aus dieser Vorstellung leitet sich erst die Selbstbestimmung der Staaten ab, weil sie in Personalisierung der Nation analog zur individuellen Freiheit ist (Koskenniemi 2004: 81). Allerdings begründet diese Personalisierung keine Analogie des Staats-Individuum-Verhältnisses im Völkerrecht, sondern macht das organische Innenleben des Staates unsichtbar. In dieser Gedankenwelt entfaltet sich der Nationalismus als Differenzerfahrung der Staaten zueinander. Diese Vorstellungen stehen im Gegensatz zu den naturrechtlichen Konzepten bis zum 19. Jahrhundert. Die naturrechtlichen Konzepte des Völkerrechts sind nicht mehr in der Lage, dessen Geltung zu begründen. Die Staaten setzen auf den Konsens in völkerrechtlichen Verträgen und Vereinbarungen, um die nationalistischen Differenzen zu überbrücken. Der horizontale Modus der Kooperation entfaltet sich in dieser Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts in Verträgen und diplomatischen Konferenzen. Diese Verträge sollen die Geltungsbegründung des Völkerrechts stemmen. Die vorgestellten Naturrechtslehren sahen noch die Gemeinschaft der Individuen vor und Kant spekulierte in diesem Sinne noch auf den Ewigen Frieden. Allerdings waren diese Ideen von der Metaphysik des Sozialvertrags von allen mit allem getragen. Dieser Vertrag begründete die natürliche Gemeinschaft der Menschen. Der souveräne Nationalstaat träumt diese Idee nur noch in der Einheit eines Volkes und eines Gebietes (Osterhammel 2020: 608 f.). Dafür ersetzt der Nationalstaat den hypothetischen Vertrag durch die historische Erzählung mit dem Telos der Vereinigung einer Ethnie zu einem selbstbestimmten Staat in organischer Perfektion. Auf diese Weise behauptet der Nationalstaat seine Alternativlosigkeit gegenüber jeder anderen Ordnungsvorstellung (Rodogno 2016: 10; Osterhammel 2020: 585). Die Voraussetzungen für diese Ideen der Zivilisierung und Nationalisierung haben die Amerikanische Revolution von 1776, die Französische Revolution ab 1789 und die Restauration im Wiener Kongress 1815 geschaffen (Eyffinger 2012: 827 f.; vgl. Osterhammel 2020: 586). Beide Revolutionen haben das Verhältnis der Individuen zum Staat grundlegend verändert, indem die Souveränität keine personale Eigenschaft eines Herrschers mehr sein konnte, sondern das Volk sich als der Souverän imaginiert (vgl. Vesting 2013: 123). Die Folge dieser Imagination ist »die Garantie einer relativen kulturellen Homogenität nach innen« (Stichweh 2000: 53), weil das Individuum als Teil imaginierter Souveränität in die Nation eingegliedert ist. Darin liegt der Ausgangspunkt für Spencer und Durkheim, zwischen Individuum und Reproduktion/Gesellschaft zu unterscheiden (vgl. Meyer 1988). Die europäischen Staatenvertreter versuchten auf dem Wiener Kongress von 1815, die Verhältnisse vor der Französischen Revolution zu restaurieren. Ein Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches sich in der 53
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Amerikanischen und Französische Revolution angedeutet hatte, konnte sich nicht durchsetzen. Die Pentarchie der fünf Großmächte (Frankreich, Großbritannien, Österreich, Preußen und Russland) legte die staatlichen Grenzen in Europa von oben fest und durch diesen Gegensatz zum aufkommenden Gedanken der Volksbestimmung erhielt der Wiener Kongress die Zuschreibung als Restauration. Dieses Prinzip musste auf das Ende des Zweiten Weltkriegs und eine neue internationale Ordnung warten (Fisch 2010). Aus dem Wiener Kongress resultierte eine Ära der Diplomatie, um durch dauerhaften Austausch und beständiges Nachjustieren das europäische Gleichgewicht zu sichern (Eyffinger 2012: 830; Osterhammel 2009: 571; Schulz 2009: 36). Diese Phase hielt bis 1853. Darauf folgten bis 1871 fünf Kriege unter Beteiligung der europäischen Großmächte: der Krimkrieg (1853–1856), der Italienische Krieg (1859), der deutsch-dänische Krieg (1864), der preußisch-österreichische Krieg (1866) und schließlich der preußisch-französische Krieg (1870/71; Osterhammel 2020: 674). Im Gegensatz zu vorherigen zwischenstaatlichen Friedensverhandlungen diente der Kongress in Wien der Suche nach einer europäischen Ordnung (Schulz 2009: 58). Die Pentarchie übernahm als Direktorium die Leitung des Kongresses. Sie handelte die wesentlichen Elemente der Friedensordnung aus, der schließlich die anderen Staaten als Kongressteilnehmer zustimmten (Schulz 2009: 59). In dieser Ausgangssituation findet horizontale Kooperation ganz der organischen Vorstellung entsprechend nach dem Erhalt der Bestandsvoraussetzungen eines europäischen Gleichgewichts statt. Der diplomatische Austausch bringt Verträge zwischen den Staaten hervor, weil die Französische Revolution die implizit geteilte Grundvorstellung aufgelöst hat und damit an die Stelle des Naturrechts der explizite vertragliche Konsens tritt (vgl. Osterhammel 2020: 1219). Durkheim erwartete noch, dass dieses neue Gleichgewicht der europäischen Staaten die Ankündigung einer europäischen Gesellschaft sei (2012 [1893]: 172). Zwar befriedete der Kongress die Verhältnisse in Europa, aber dadurch konnten sich die europäischen Staaten außerhalb Europas stärker engagieren (Osterhammel 2020: 679 ff.; Langewiesche 2019: 79 f.). Das europäische Gleichgewicht des Wiener Kongresses leitete eine eurozentrische Perspektive ein. Die Nationalstaaten Europas verstanden sich in andauernder Konkurrenz zueinander. Dies befeuerte ihre Nationalisierung, die von biologistischen Vorstellungen getragen wurde. In dieser Situation entstand die Vorstellung der Zivilisierung in europäischer Konkurrenz und in der Kolonialisierung der Welt als einander bedingende Dynamik (vgl. Langewiesche 2019: 86 f.). Der horizontale Modus der Kooperation ist dementsprechend auf die europäischen Staaten als Civilized Nations beschränkt (vgl. Vec 2012: 657 f.). In Anlehnung an Durkheim bilden die europäischen Staaten eine Gesellschaft, die sich durch 54
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Integration nach innen durch das europäische Gleichgewicht bzw. den horizontalen Modus der Kooperation auszeichnet. Gleichzeitig etabliert diese europäische Gesellschaft einen vertikalen Modus der Kooperation gegenüber dem Rest der Welt. Der Rest der Welt erfüllt nicht die zivilisatorischen Voraussetzungen, um Teil des europäischen Staatensystem zu sein (Rodogno 2016: 10). Aus dieser Trennung der Kooperationsmodi in und außerhalb Europas konstruieren die europäischen Staaten die Anwartschaft, in den Kreis der zivilisierten Staaten aufgenommen zu werden. Die Teilnahme außereuropäischer Staaten an den Haager Friedenskonferenzen ist hierfür beispielhaft, da diese Staaten nicht an den im horizontalen Modus geschlossenen Verträgen beteiligt waren. Die Grenze des horizontalen Modus liegt im Mitgliedschaftskriterium des Klubs souveräner Staaten: Zivilisation. Dieser Standard ist exklusiv europäisch und wurde auf dem Wiener Kongress eindeutig festgelegt (vgl. Weber 1995: 42). Der Krieg wurde im Lichte dieses Status Quo zu etwas Barbarischen und diente nur noch zur Bestrafung von Verstößen gegen das europäische Gleichgewicht (Koskenniemi 2004: 83). Eine Störung des europäischen Gleichgewichts durch Revolution in einem Staat begründete für die anderen Staaten Europas die Intervention in diesen Staat (Weber 1995: 44). Der Verlust der monarchischen Macht in einem Staat war gleichbedeutend mit dem Verlust der Souveränität (Weber 1995: 45). Daher konnten die souveränen europäischen Staaten in einen vertikalen Modus wechseln und den betreffenden Staat auf den Weg der Zivilisation zurückführen. Dies geschah in Neapel nach der Revolution im Jahr 1820 (Weber 1995: 47 ff.) und auch mit der französischen Invasion Spaniens im Jahr 1823, um nach der dortigen Revolution König Ferdinand VII. wiedereinzusetzen (Weber 1995: 44; Schulz 2009: 86). Diese Interventionen setzten dabei die Interessen am Bestand des europäischen Gleichgewichts mit den staatlichen Interessen Frankreichs im Falle Spaniens und Österreichs im Falle Neapels gleich (Weber 1995: 44; Kastner 2015: 110). Vor allem Großbritannien wendete sich gegen diese Interventionen und verhinderte damit einen kollektiven Interventionsautomatismus, der von den konservativen gesellschaftlichen Vorstellungen Österreichs, Preußens und Russlands geprägt war (Schulz 2009: 82). Eine Ausnahme konnte aus britischer Sicht nur bestehen, wenn »die eigene Sicherheit, wesentliche Interessen oder die allgemeine europäische Sicherheit durch die inneren Veränderungen in einem Staat akut gefährdet würden« (Schulz 2009: 83). Dagegen hielten Österreich, Preußen und Russland, dass ein moralisches Recht und eine solche Pflicht dazu bestehen, dem in Bedrängnis geratenen Monarchen zu unterstützen. Als Reaktion auf das Interventionsverständnis Österreichs, Preußens und Russlands ist die von US-Präsident James Monroe erlassene Doktrin zu verstehen, die Intervention konsequent ablehnt (Schulz 2009: 86). 55
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Das extensive Interventionsverständnis ließ sich nach 1822 nicht mehr durchhalten, da es zu viele Konflikte aufzuwerfen drohte. Eine konsequente und allgemeine Regel konnte die Pentarchie nicht entwerfen. Deshalb stellen die Einigungen der souveränen Staaten Europas eher ein gentlemen’s agreement dar, welches die Staatenvertreter wie Mitglieder eines »Klub der Zivilisierten« (Kastner 2015:111) schlossen. Ein weiteres gentlemen’s agreement des Wiener Kongresses ist die Abschaffung der Sklaverei. Die Briten hatten nach langen politischen Debatten schließlich mit dem 1807 in Kraft tretenden Verbot der Sklaverei den Anfang gemacht und wollten dieses Verbot auf dem Kongress durchsetzen (Martinez 2012: 24 ff.). Sie erreichten zwar, dass die Teilnehmerstaaten den Menschenhandel als verachtenswert erklärten, aber ein Verbot sei nur in Rücksichtnahme auf nationale Interessen und deren Bevölkerung umzusetzen (Klose 2019: 154; Martinez 2012: 33). Portugal akzeptierte ein Verbot nur nördlich des Äquators, während Spanien diesen Eingriff in seine Souveränität vehement ablehnte (Klose 2019: 156). Schließlich folgte in der Schlussakte des Wiener Kongresses nur eine Absichtserklärung, die jedoch kein internationales Verbot darstellte. Den Staaten blieb es selbst überlassen, ob sie ein Verbot erließen. Großbritannien schloss daher bilaterale Verträge mit Portugal und anderen Staaten, um das Verbot der Sklaverei zu etablieren (Klose 2019: 155; Martinez 2012: 31). Auch in dieser Hinsicht bleibt der Wiener Kongress ein Beispiel für den sich ausprägenden horizontalen Modus der Kooperation. Unter diese Vereinbarungen des Klubs der Zivilisierten fallen auch die Regelungen für den Krieg in den Haager Friedenskonferenzen (vgl. Koskenniemi 2004: 85). Der Erste Weltkrieg verhinderte nicht nur die dritte Haager Friedenskonferenz zur Einrichtung einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. Darüber hinaus brachen die europäischen Staaten die Regeln der HLKO wiederholt und führten die Zivilisierungsidee ad absurdum (Leonhard 2019: 813; Satzger 2018: 312). Die vertraglich geregelte horizontale Zusammenarbeit für ein Kriegsrecht trat hinter der Souveränität der Staaten hinsichtlich ihrer autonomen Kriegsführung zurück. Der Einsatz moderner Kriegstechnologie wie Giftgas und der ersten Panzer brachten eine Barbarisierung des europäischen Gentlemen‘s Club auf den Schlachtfeldern mit sich (Hull 2014: 211 ff.; vgl. Winkler 2011: 15 ff.). Das Prinzip souveräner Gleichheit stellt gegenüber der vertraglichen Zusammenarbeit die horizontale Basislinie dar, auf der sich Staaten zur Akzeptanz oder Ablehnung eines Vertrags zurückziehen können. Über die Anerkennung des Prinzips souveräner Gleichheit hinaus ist das Völkervertragsrecht disponibel. Die Überbetonung staatlicher Selbstbestimmung im Souveränitätsprinzip löste die Bindung an vertragliche Vereinbarungen auf und markiert deutlich die Grenze des Modus horizontaler Kooperation. In diesem Kontext nimmt auch die Debatte um 56
DER EUROPÄISCHE ZIVILISATIONSSTANDARD
die Geltung/Verbindlichkeit des Völkerrechts ihren Ausgang. Diese Frage ist schon früher prominent bei John Austin (1861 [1832]) aufgetreten, der dem Völkerrecht den Rechtscharakter abspricht. Diese Beobachtung, Politik bzw. Macht gegen das Recht zu setzen, hat sich bis heute gehalten (siehe Einleitung und Kap. IV). Bereits hier wird deutlich, wie Staaten ihre nationale Souveränität gegen ihre internationalen Vertragsverpflichtungen ausspielen. Eine solche Strategie ist in Folge des Ersten Weltkriegs bereits erkennbar. Obwohl der Vertrag von Versailles internationale Verfahren gegen deutsche Soldaten und den abgedankten Kaiser Wilhelm II. von Hohenzollern vorsah, verweigerten die Niederlande die Auslieferung des abgedankten Kaisers. Wilhelm von Hohenzollern hatte in den Niederlanden Asyl erhalten und Deutschland war nicht bereit, seine Soldaten auszuliefern (Satzger 2018: 312). Die in den Artikel 227 bis 230 des Vertrags von Versailles festgelegten Verfahren sind der erste Versuch, internationale Verfahren gegen Personen wegen Verletzungen des Rechts und der Gewohnheiten im Krieg durchzuführen. Der Versailler Vertrag ist trotz einer anderen Wahrnehmung der Deutschen jener Zeit im horizontalen Modus der Kooperation geschlossen (vgl. Stuby 1995: 432). Die Verfahren knüpfen an die HLKO und die Genfer Konvention als ihre rechtliche Grundlage an. Allerdings sehen weder diese völkerrechtlichen Vereinbarungen als Teil des Kriegsvölkerrechts noch die völkerrechtliche Konstruktion eines Friedensvertrags einen vertikalen Modus vor. Es fehlt der nach dem Zweiten Weltkrieg entstehende Korpus des Völkerrechts im Sinne einer internationalen Ordnung. Eine Reform der Weltordnung konnte der Versailler Vertrag als zwischenstaatlicher Friedensvertrag nicht leisten. Die Durchbrechung des Souveränitätsprinzips wurde im Vertrag nicht unterstützt. Politische Erwägungen führten dazu, dass das Tribunal allein durch die alliierten Siegermächte des Ersten Weltkriegs besetzt sein sollte. Auch die anderen Teile des Vertrags sind vielmehr vom erneuten Ausbalancieren des europäischen Gleichgewichts geprägt, ohne jedoch vom Souveränitätsprinzip grundlegend abzuweichen (Leonhard 2019: 814; von Lingen 2018: 148 ff.).2 Die mit dem horizontalen Modus beschriebene Struktur begrenzt die Kooperationsmöglichkeiten der Staaten, sodass ein Über-/Unterordnungsverhältnis keine realisierbare Möglichkeit war. Der Versailler Vertrag konnte den Möglichkeitshorizont des horizontalen Modus nicht überschreiten und blieb innerhalb dessen begrenzter Selektivität verhaftet. 2 Für die sich im innenpolitischen Raum der europäischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg anstauenden Problemlagen siehe zum einen Luebberts zu »Social Foundations of Political Order in Interwar Europe« (1987) sowie Caramanis historisch-vergleichende Studie »The Foundation of National Party Systems in Europe« (2005).
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DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
Die angedachten Verfahren des Vertrags von Versailles bleiben damit Ausdruck eines horizontalen Modus, der die staatliche Souveränität als unhintergehbare Basislinie der internationalen Beziehungen stützt. Diesem Gedanken folgend führte Deutschland vor dem Reichsgericht in Leipzig eigene Verfahren durch (Satzger 2018: 313). Dies stellte einen Kompromiss zu den Vereinbarungen im Vertrag von Versailles dar und wahrte die Souveränität Deutschlands. Die Nationalversammlung beschloss am 18. Dezember 1919 ein Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen (Leonhard 2019: 815; Satzger 2018: 314). Das Völkerrecht wurde in nationales Recht transformiert, um als Rechtsgrundlage für Strafverfahren dienen zu können. Die im vertikalen Modus der Zusammenarbeit skizzierte Eigenständigkeit des Völkerrechts wird mit dem Gesetz und den darauf fußenden Verfahren in Leipzig explizit verneint. Weder der Vertrag von Versailles noch die HLKO werden als eigenständige Grundlage aufgefasst, um die individuelle Strafbarkeit zu begründen (Leonhard 2019: 816; vgl. Reichsgesetzblatt 1919: 2125). Der horizontale Modus beschränkt die Kooperationsmöglichkeiten und schließt Alternativen wie eine internationale Strafverfolgung aus, weil sie keinen Platz in diesem Modus findet. Diese durch das Souveränitätsprinzip bedingte Grenze charakterisiert die horizontale Zusammenarbeit. Eine internationale Strafverfolgung wurde nach dem preußisch-französischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg denkbar. Allerdings scheiterte ihre Umsetzung daran, dass die Staaten als Schöpfer und zugleich als Adressaten der vertraglichen Vereinbarungen ihre Umsetzung verweigerten. Für eine internationale Strafverfolgung fehlt die Legitimation, weil diese nur von den Staaten gewährt werden kann. Gleichzeitig entsteht jedoch die Möglichkeit, auf Basis des Völkerrechts nach einer internationalen Strafverfolgung zu verlangen. Die Grenze des horizontalen Modus tritt erst auf, als in diesem Modus völkerrechtliche Regeln von souveränen Staaten begründet werden, die sie mit der gleichen Souveränität torpedieren. Dennoch liefern die völkerrechtlichen Regeln die Begriffe, auf Basis derer Moynier und der Vertrag von Versailles Verfahren einfordern. Damit ist der Grenzüberschritt zum vertikalen Modus der Kooperation angelegt, in der die internationale Strafverfolgung zu einer realisierbaren Möglichkeit wird. Zusammenfassend zeichnet sich das 19. Jahrhundert durch die Parallelität des horizontalen und des vertikalen Modus der Kooperation aus. Diese Parallelität konnte durch die territoriale Trennung des europäischen Gleichgewichts im horizontalen Modus von der europäischen Zivilisierungsmission im vertikalen Modus gegenüber dem Rest der Welt aufrechterhalten werden. Der Erste Weltkrieg löste diese Trennung auf, weil sowohl das europäische Gleichgewicht als auch die europäische Zivilisierungsmission scheiterten. Die auf der ganzen Welt geführten 58
INTERNATIONALE STRAFVERFOLGUNG IM VERTIKALEN MODUS
Kämpfe verliefen nicht mehr nach den Regeln der Diplomatie und ebneten die zivilisatorische Über- wie Unterordnungen ein. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs versuchten die Staaten, im Völkerbund die Integration des vertikalen und horizontalen Modus zu leisten. Allerdings gelang dies nicht. Die europäischen Staaten behielten ihre Kolonien und waren nicht bereit, im Völkerbund einen vertikalen Modus der Kooperation zu etablieren (vgl. Winkler 2011: 173 ff.). Die Austritte Deutschlands, Italiens, Japans und der Sowjetunion aus dem Völkerbund sowie der neuerliche Versuch, auf diplomatischem Wege in der Appeasement-Politik Großbritanniens von 1933 bis 1938 das europäische Gleichgewicht zu erhalten (vgl. Winkler 2011: 755 ff.), zeigen, dass keine fundamentale Änderung der Weltordnung nach dem Ersten Weltkrieg eintrat. Der Völkerbund bot dem horizontalen Modus wie zuvor der Wiener Kongress nur ein Forum.
IV. Internationale Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation Dieser Wandel trat mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein. Das mit dem Ersten Weltkrieg zerbrochene europäische Gleichgewicht konnten die europäischen Staaten in der Zwischenkriegszeit nicht wiederherstellen. Nach dem naturrechtlichen Vertrauen in die Staaten war auch der positivistische Konsens der Völkerrechtsverträge gescheitert. Vermutlich spornte dies die Völkerrechtler dieser Zwischenkriegsjahre umso mehr dazu an, nach einer friedvollen Alternative vor allem im Völkerbund zu suchen (vgl. Koskenniemi 2004: 266 ff.). Die durch den Nationalsozialismus in Deutschland ausgelöste Katastrophe hat diese Reformbestrebungen der Weltordnung nicht nur vereitelt, sondern die bestehende fragile Ordnung vernichtet. Die neue durch die Vereinten Nationen verkörperte Weltordnung lässt den horizontalen und den vertikalen Modus nicht mehr parallel bestehen. Stattdessen ist die Horizontale in den vertikalen Modus integriert. Dieser vertikale Modus nach 1945 sieht einen rechtlichen Rahmen für die staatliche Souveränität und die zwischenstaatlichen Beziehungen vor, wie sie davor nicht vorhanden war. Auf diese Weise sind der vertikale Modus und der horizontale Modus abhängig vonei nander und ermöglichen eine internationale Strafverfolgung, die bereits direkt mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auftrat. Die Alliierten einigten sich auf die strafrechtliche Verfolgung der Spitzen des NS-Regimes in Deutschland und der Elite des japanischen Kaiserreichs. Das Internationale Militärtribunal in Nürnberg verhandelte Verbrechen aus der Zeit von 1939 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945. In der Londoner Erklärung der Siegermächte vom 8. August 1945 59
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
und dem damit verbundenen Beschluss des IMT-Statuts wurde das Souveränitätsprinzip aufgebrochen (Schabas 2003: 53 ff.; Bassiouni 1995: 15; United Nations- Treaty Series 1951: 280). »And whereas this Declaration was stated to be without prejudice to the case of major criminals whose offences have no particular geographical location and who will be punished by the joint decision of the Governments of the Allies« (United Nations – Treaty Series 1951: 280).
Wegen der in ganz Europa und darüber hinaus verübten Verbrechen wurde die Zuständigkeit des Staates für seine Bürger auf einem bestimmten Territorium für die Verfolgung vor dem IMT aufgegeben. Der aus dem Westfälischen Frieden erwachsene Kern der Souveränität als Amtsgewalt nach innen wurde in Anbetracht der verübten Verbrechen ausgesetzt. Hieran entfaltete sich eine Debatte, ob es sich beim Vorgehen der Alliierten um Siegerjustiz handele (Kaleck 2012: 17 f.). Vor dem Hintergrund der horizontalen Basislinie des Souveränitätsprinzips ist dieses Vorgehen als fraglich diskutiert worden. Das Rückwirkungsverbot wurde durch die Festlegung der drei Verbrechenstatbestände (crimes against peace, war crimes und crimes against humanity) verletzt (United Nations – Treaty Series 1951: 288). Das Rückwirkungsverbot untersagt die Festlegung eines Verbrechenstatbestands zur nachträglichen Verurteilung eines Verhaltens. Es gilt als allgemeines Prinzip einer rechtsstaatlichen Ordnung (Bassiouni 1995: 21). Von diesem Standpunkt aus war das Verhalten des NS-Regimes moralisch verwerflich und verstieß gegen bestehendes Völkerrecht, allerdings waren diese Verstöße nicht mit Strafen versehen. An dieser Stelle beginnt sich, das Völkerstrafrecht zu bilden. Es verweist nicht einfach auf das gebrochene Kriegsvölkerrecht, sondern behauptet in den Nürnberger Prozessen eine Strafbarkeit aufgrund eigener Vorschriften. Daraus ergibt sich nicht nur in rechtsdogmatischer Hinsicht ein Unterschied der Rechtsbereiche, sondern ein damit einhergehender Wandel des Kooperationsverständnisses, dem das Kriegsvölkerrecht im horizontalen Modus nicht mehr gerecht werden kann. In der deutschen Debatte hierzu hat Gustav Radbruch in seinem Aufsatz »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht« von 1946 die Rolle des Richters im Nationalsozialismus diskutiert und folgende Formel geprägt: »Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich und ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat« (Radbruch 2003 [1946]: 216).
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INTERNATIONALE STRAFVERFOLGUNG IM VERTIKALEN MODUS
Die Radbruch’sche Formel orientiert sich an übergesetzlichen Prinzipien und erklärt damit die Unterordnung staatlichen Rechts. Die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs hat diese tiefgreifende Umstellung von der Horizontalen zur Vertikalen ausgelöst. Mit dem Beispiel Radbruchs ist dieses Umdenken nicht nur das Erzeugnis der Siegermächte, sondern eine weltgesellschaftliche Erfahrung auf allen Ebenen, die zu einer neuen Weltordnung geführt hat. Vor dem Hintergrund des Souveränitätsprinzips bildete das Völkerrecht zum damaligen Zeitpunkt keine Grundlage für die direkte individuelle Strafbarkeit (Kaleck 2012: 18 f.). Erst in der Londoner Erklärung haben die Siegermächte diese Grundlage geschaffen. Die strafrechtliche Verfolgung der Spitzen des NS-Regimes ordnen die Siegermächte über das Souveränitätsprinzip und überschreiten damit die Grenzen des horizontalen Modus der Kooperation. Die vier Unterzeichner bemühten sich wegen dieser Grenzüberschreitung im Absatz, der auf den bereits Zitierten folgt, um die Legitimation ihrer Entscheidung: »Now therefore the Government of the United Kingdom of Great Bri tain and Northern Ireland, the Government of the United States of America, the Provisional Government of the French Republic and the Government of the Soviet Socialist Republics (hereinafter called ›the Signatories‹) acting in the interests of all the United Nations and by their representatives duly authorised thereto have concluded this Agreement« (United Nations – Treaty Series 1951: 280 f.).
Die Gründung der Vereinten Nationen verlief parallel zu der Einigung der Siegermächte auf eine strafrechtliche Verfolgung der Kriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs. Im Februar 1945 finalisierten Großbritannien, die USA und die Sowjetunion die Charta der Vereinten Nationen auf der Konferenz von Jalta. Am 26. Juni 1945 unterzeichneten 50 Staaten die Charta in San Francisco. Die Charta trat nach ihrer Ratifizierung durch die nun zur Vetomacht gewordenen Staaten China, Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion und USA am 24. Oktober 1945 in Kraft (Herdegen 2019: 26). Dieses neue System der internationalen Ordnung, auf das der zitierte Absatz mit »United Nations« Bezug nimmt, liefert den Grundstein für den vertikalen Modus der Kooperation. Die Einführung des allgemeinen Gewaltverbots und die Sicherung des Weltfriedens drücken zentrale Prinzipien dieser neuen Ordnung aus, in der der souveräne Staat integrierter Bestandteil ist (von Lingen 2018: 327; Dörr 2016: XVII). Der Kreis der als souverän anerkannten Staaten hat sich damit auf die Welt erweitert und steht nicht mehr in Abhängigkeit vom diffusen Kriterium des europäischen Zivilisationsstandards.3 3 Trotzdem ist die Anerkennung eines Staates weiterhin eine diffizile Angelegenheit, wie der Fall Palästina im Nahostkonflikt seit Jahrzehnten oder des
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DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
Das IMT und die Londoner Erklärung ordnen sich neben den VN in diese Entwicklung sowohl in Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg als auch auf das Scheitern vorheriger Zivilisierungsversuche durch völkerrechtliche Verträge ein (vgl. Bassiouni 1995: 18 ff.). Der vertikale Modus der Kooperation erhält die Souveränität der Staaten, bindet sie aber zugleich in ein internationales System übergeordneter rechtlich kodifizierter Interessen ein (vgl. von Arnauld 2016: 131; O’Connell 2012: 290 f.). In dieser Hinsicht interpretieren verschiedene Autoren die VN-Charta als Weltverfassung (überblickshalber: Fassbender 2009). Diese grundlegende Umstellung des Modus der Zusammenarbeit führte zum IMT, aber auch zum Bruch des Rückwirkungsverbots und in dieser Umstellung zum Vorwurf der Siegerjustiz als Frage nach der Legitimation (Kaleck 2012: 17 ff.). Diese legitimatorischen Lasten der Umstellung sollen für das IMT durch die übergeordneten Interessen aufgefangen werden. Die Vereinten Nationen, die Autorisierung durch ihre Vertreter und auch die Ratifizierung der Londoner Erklärung durch die betroffenen Staaten bieten eine Kombination aus dem staatlichen Vertragsschluss im horizontalen Modus und seiner Erweiterung auf der Vertikalen zu übergeordneten Interessen (United Nations – Treaty Series 1951: 280 f.). Den vertikalen Modus verkörpern vor allem internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen. Die Konvention über Verhütung und Bestrafung des Völkermords hat die Generalversammlung der VN am 9. Dezember 1948 beschlossen. Sie trat am 12. Januar 1951 in Kraft. Zwar bleibt die Umsetzung der Konvention den Staaten überlassen, die Initiative kommt jedoch aus einer internationalen Organisation. Darüber hinaus hat das Völkermordverbot mittlerweile den Status einer zwingenden Regel des Völkerrechts erlangt (ius cogens). Diese Vereinbarung übergeordneter Interessen war zuvor nicht möglich. Die Haager Friedenskonferenzen und die völkerrechtlichen Verträge vor 1945 hatten zu diesem vertikalen Modus hingeführt, aber ihn in ihrem Verständnis als zwischenstaatliches Kriegsvölkerrecht nicht etablieren können. Auch der Völkerbund als Vorgänger der VN zeigt, dass sich Staatenvertreter und Völkerrechtler eine neue Ordnung des internationalen Systems vorstellen, aber nicht umsetzen konnten (vgl. Herdegen 2019: 25; Koskenniemi 2006: 266 ff.; Schabas 2003: 64 ff.). Mit Nürnberg setzt eine Entwicklung zum Völkerstrafrecht ein. Am 11. Dezember 1946 billigte die Generalversammlung die Prinzipien und Urteile des IMT in Resolution 95. Die Generalversammlung beauftragte die International Law Commission (ILC), die sie am 27. November 1947 mit Resolution 174 (I) gegründet hatte, mit der Kodifizierung der Verbrechenstatbestände und der Prinzipien des IMT-Statuts sowie der Urteile am Kosovos nach der Sezession Jugoslawiens zeigt. Dagegen gelang dem Südsudan die Unabhängigkeit und Anerkennung als souveräner Staat.
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INTERNATIONALE STRAFVERFOLGUNG IM VERTIKALEN MODUS
gleichen Tag ihrer Gründung. Bereits 1950 legte die ILC einen Entwurf mit sieben Prinzipien vor (Schabas 2016: 8; Tomuschat 1995: 270 ff.). Im ersten Prinzip formulierte die ILC die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit auf Basis des Völkerrechts (Nuremberg Principles 1950: 374). Dieses Prinzip hält einen veränderten rechtlichen Status des Individuums fest: Individuen sind Rechtssubjekte im Völkerrecht und verfügen über Rechte und Pflichten (vgl. Peters 2016: 119 f.; vgl. Tomuschat 1995: 273). Dieser Schritt war weder in der Genfer Konvention noch der Haager Landkriegsordnung vorgesehen und konnte es nicht sein, weil der dem Kriegsvölkerrecht inhärente horizontale Modus der Kooperation diesen Schritt ausschloss. Die staatliche Souveränität schirmte die Staatsbürger vor einer direkten Adressierung durch das Völkerrecht ab. Dieser Dualismus des Völkerrechts und des nationalen Rechts prägte den horizontalen Modus der Kooperation vor 1945. Die Nationalversammlung in Deutschland hat nach dem Ersten Weltkrieg aus den völkerrechtlichen Vereinbarungen der Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung ein nationales Gesetz gemacht (Reichsgesetzblatt 1919: 2125). Erst diese Transformation begründete Kriegsverbrechen und -vergehen nach nationalen Recht und damit die individuelle Strafbarkeit, aber nicht nach dem Völkerrecht. Das zweite Nürnberger Prinzip erklärt diese Transformation für obsolet, weil dieses Prinzip die individuelle strafrechtliche Verantwortung auch dann als gegeben ansieht, wenn das nationale Recht keine Strafen festgelegt hat. Die staatliche Souveränität taugt mit diesem Prinzip nicht mehr zur Abwehr der Verpflichtungen des Völkerrechts (Nuremberg Principles 1950: 374 f.). Die weiteren Prinzipien verneinen unter anderen die Immunität von Staatsoberhäuptern sowie weiteren Regierungsmitgliedern und schließen die Rechtfertigung strafbaren Verhaltens durch Weisung der Staatsorgane aus (Nuremberg Principles 1950: 375 ff.). Ein ausgestalteter vertikaler Modus der Kooperation durchbricht das Souveränitätsprinzip und integriert Staaten in ein internationales System übergeordneter Interessen. Gleichzeitig sollen die Staaten von diesen Interessen gestützt werden (vgl. Dörr 2016: XVII). Dieser Vorschlag für die Ausgestaltung des vertikalen Modus war auch an Überlegungen zu einer internationalen Strafverfolgung gekoppelt. »the creation of an international criminal jurisdiction vested with power to try and punish persons who disturbed international public order was desirable as an effective contribution to the peace and security of the world. In the community of States, as in national communities, there were aggressors and disturbers of the peace, and mankind had a right to protect itself against international crimes by means of an adequate system of international repression. The rule of law in the community of States could only be ensured by the establishment of such a system« (Nuremberg Principles 2005: 378). 63
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
Auffällig ist, dass ein Strafgerichtshof innerhalb einer internationalen öffentlichen Ordnung gedacht wird, die äquivalent zum Staat Frieden und Sicherheit gewährleisten soll. Diese Äquivalenz geht über die Leistungsfähigkeit eines völkerrechtlichen Vertrags hinaus, weil sie eine öffentliche Ordnung voraussetzt, innerhalb derer ein völkerrechtlicher Vertrag das Instrument zur Ausgestaltung dieser internationalen öffentlichen Ordnung ist. Auch überschreitet dies die Funktion eines nationalen Gerichts. Im Hinblick auf die Legitimation eines internationalen Strafgerichtshofs per Vertrag ist die internationale öffentliche Ordnung der absichernde Kontext und die Grundlage, auf die sich ein solcher Vertrag stützt. In der allgemeinen Vertragstheorie hat Emile Durkheim diesen Kontext die außervertraglichen Bedingungen eines Vertrags genannt (2012 [1893]: 267 ff.). Nach diesem Argument genügt das Interesse der Vertragsparteien nicht aus, um zu garantieren, dass die Vertragsparteien den Vertrag einhalten (Kersting 2005: 39). Diese Erfahrung ist die Erkenntnis aus der naturrechtlichen Vertragstheorie von Thomas Hobbes oder John Locke (siehe für eine neue vertragstheoretische Konzeption des heutigen Völkerrechts Weatherall 2015). Gleichzeitig erklärt dieses Argument aber auch, dass der positivrechtliche Konsens der Völkerrechtsverträge im 19. Jahrhundert nicht ausreichen konnte. Das europäische Gleichgewicht konnte in seinem horizontalen Modus keine anderen übergeordneten Interessen als das Prinzip souveräner Gleichheit erlauben. Demgegenüber bietet der vertikale Modus der Kooperation nach 1945 den außervertraglichen Rahmen durch das System der Vereinten Nationen an. Allerdings manifestiert sich dieser vertikale Modus wegen der Nürnberger Prozesse mit erheblichen legitimatorischen Bedenken. Diesen Bedenken stehen die durch den Modus ermöglichte Kombination aus den Vereinten Nationen, dem Völkerrecht, den verursachten Gräueln und der Zustimmung der Staaten entgegen (United Nations – Treaty Series 1951: 280 f.). Der vertikale Modus der Kooperation schließt an den horizontalen Modus hinsichtlich der Verträge an, bettet diese jedoch in einen Rahmen der internationalen öffentlichen Ordnung ein, innerhalb derer übergeordnete Interesse formuliert und in Orientierung an diese Zusammenarbeit vertraglich organisiert werden. Allerdings verabschiedete die Generalversammlung 1954 den überarbeiteten Vorschlag der ILC für ein Völkerstrafrecht und einem Gerichtshof nicht. Der Kalte Krieg setzte diesen Bemühungen vorläufig ein Ende (Schabas 2016: 8 f.). Erst 1973 erhielt das Völkerstrafrecht neuen Auftrieb. Die Generalversammlung beschloss am 30. November 1973 die Internationale Konvention über die Unterdrückung und Bestrafung des Verbrechens der Apartheid, die 1976 in Kraft trat (Schabas 2016: 9; Stuby 1995: 429). 1978 bat der Generalsekretär der Vereinten Nationen die ILC um die Wiederaufnahme der Arbeiten an einem code of crimes. 1983 fragte die ILC an, ob damit auch eine internationale Strafverfolgung 64
INTERNATIONALE STRAFVERFOLGUNG IM VERTIKALEN MODUS
eingerichtet werden soll. Schließlich ließ die Generalversammlung am 4. Dezember 1989 das Projekts eines internationalen Strafgerichtshofs auf Antrag von Trinidad und Tobago wiederaufnehmen. 1990 schlugen die britische Premierministerin Magaret Thatcher und der US-amerikanische Präsident Georg Bush senior ein Tribunal in Folge des 2. Golfkriegs vor, das jedoch nicht umgesetzt wurde (Schabas 2016: 10 f., 13; Satzger 2018: 318). Mit dem Ende des Kalten Kriegs nahm das Projekt neue Fahrt auf. Die Generalversammlung unterstützte am 28. November 1990 die Einrichtung einer internationalen Strafverfolgung. Am 25. November 1992 fragte die Generalversammlung beim ILC einen Entwurf eines Draft Statute für einen internationalen Strafgerichtshof an. Auf Grundlage dieses Entwurfs des Beauftragten der ILC Doudou Thiam richtete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 1993 den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und 1994 den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda ein. Den ethnischen Konflikt in der Sezession Jugoslawiens und die massenhafte Tötung von Tutsi durch Hutu in Ruanda nahm der Sicherheitsrat als Bedrohungen des Weltfriedens wahr und reagierte mit der Einrichtung der Strafgerichtshöfe (Satzger 2018: 319; Schabas 2016: 12–16; Graefrath 1995). In beiden Sicherheitsratsresolutionen 827 und 955 finden sich identische Passagen zur Legitimation der Entscheidung: »Determining that this situation continues to constitute a threat to international peace and security, Determining to put an end to such crimes and to take effective measures to bring to justice who are responsible for them« (Sicherheitsrat 1993: S/RES/827; 1994: S/RES/955).
Frieden und Sicherheit der Welt bleiben die übergeordneten Interessen, die durch beide Situationen aus Sicht des Sicherheitsrats bedroht wurden. Bereits 1954 verwies die ILC in der Anfrage der Generalversammlung nach einem internationalen Strafgerichtshof auf Frieden und Sicherheit. Auch das IMT-Statut stützt sich mit dem Verweis auf die Vereinten Nationen darauf. An diesen beiden Fällen lässt sich beobachten, wie der Sicherheitsrat auf der Grundlage klar formulierter Interessen der internationalen öffentlichen Ordnung handelt. Dieses Handeln lässt sich nicht im horizontalen Modus der Kooperation beschreiben, sondern zeigt die umfassende Umstellung auf den vertikalen Modus. Die Bedrohung des Friedens und der Sicherheit der Welt werden im zweiten Absatz als Verbrechen ausgedrückt. Auch dies steht in einer Denktradition, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Code of Crimes of the Peace and Security of Mankind ausformuliert und mit der Wiederaufnahme des Projekts ausgearbeitet wurde. Während des Kalten Kriegs haben die Staaten in verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen die 65
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
Grundlage geschaffen, auf der die Resolutionen 827 und 955 möglich wurden. Allerdings konstituierten diese Verträge noch keinen eigenständigen Bereich des Völkerstrafrechts. Zu diesen Verträgen gehören neben den erwähnten Konventionen gegen das Verbrechen des Völkermords und der Apartheid auch • • • • • • • •
das III. Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen von 1949 das IV. Genfer Abkommen zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten von 1949 das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1966 die Aggressionsdefinition ergänzend zur Charta der Vereinten Nationen von 1974 das I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 betreffend den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte von 1977 das II. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte von 1977 das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von 1984 das zweite Fakultativprotokoll zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe von 1989 (Dörr 2016).
Im Rahmen all dieser Verträge zur Ausgestaltung der internationalen öffentlichen Ordnung ist der erste Absatz des letzten Zitats formuliert. Er ruft diesen Rahmen auf, um die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Verletzung dieser öffentlichen Ordnung im zweiten Absatz zu begründen. Diese Verträge regulieren nicht mehr allein zwischenstaatliche Beziehungen, sondern gestalten die internationale öffentliche Ordnung aus. Jeder Vertrag bietet den außervertraglichen Rahmen für einen anderen Vertrag, die sich jedoch auf eine gemeinsam geteilte öffentliche Ordnung beziehen. Der Ausdruck »such crimes« aus dem Zitat bezieht sich direkt auf den im vorherigen Absatz aufgerufenen Rahmen. Die individuelle strafrechtliche Verantwortung geht auf das erste der Nürnberger Prinzipen zurück, die den Wendepunkt für den Modus der Zusammenarbeit markieren. Dieses Prinzip der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit steht nunmehr auf einer soliden Grundlage. Die Resolutionen des Sicherheitsrats zur Einrichtung beider Tribunale folgen dem vertikalen Modus der Kooperation. Auf einer Horizontalen sind diese Ereignisse weder als Bedrohungen der Welt und als Verbrechen an dieser formulierbar, noch 66
INTERNATIONALE STRAFVERFOLGUNG IM VERTIKALEN MODUS
konnte legitim eine internationale Strafverfolgung eingerichtet werden. Die Charta der Vereinten Nationen ermächtigt den Sicherheitsrat nach Kapitel VII. zu Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und Angriffshandlungen. Mit dem ICTY und dem ICTR wurden die Regeln erprobt, die im Draft Statute Einfluss fanden. Die Arbeiten daran wurden 1994 abgeschlossen (Satzger 2018: 318). 1995 beschloss die Generalversammlung die Vorbereitung einer diplomatischen Konferenz zur Aushandlung des Statuts. Am 25. Dezember 1997 entschied die Generalversammlung, die Konferenz vom 15. Juni bis 17. Juli 1998 in Rom abzuhalten (Schabas 2016: 19 f.). Die Konferenz leitete das Committee of the Whole unter Vorsitz von Philippe Kirsch, einem späteren Präsidenten des IStGH. Unter der Leitung von Diplomaten handelten die Vertreter von Staaten und internationaler Organisationen in einzelnen Arbeitsgruppen die Abschnitte des Statuts aus. Das Statut wurde erst in der Nacht zum 17. Juli 1998 fertiggestellt und verbreitet. In der Abstimmung am 17. Juli stimmten 120 Staaten dafür, 7 dagegen und 21 Staaten enthielten sich (Schabas 2016: 22–25; Triffterer et al. 2016: 2 f.; für eine diskursanalytische Perspektive auf die Verhandlungen des Römischen Statuts siehe Deitelhoff 2007). Bei den sieben Gegnern handelte es sich um China, Irak, Israel, Jemen, Katar, Libyen und die USA. Am 11. April 2002 hatten 60 Staaten das Statut ratifiziert und damit die erforderliche Mehrheit erreicht, sodass das Statut am 1. Juli 2002 in Kraft trat. Bis zum 19. Juli 2017 haben insgesamt 124 Staaten das Statut ratifiziert (bpb 2017: Internationale Gerichtsbarkeit). Mit der Ratifizierung des nach dem Konferenzort benannten Römischen Statuts wurden vier Verbrechenstatbestände festgeschrieben. Diese sind nach dem Weltrechtsprinzip auf der ganzen Welt gültig, dies »bedeutet, dass jeder Staat der Welt berechtigt ist, seine Strafgewalt auf eine Tat zu erstrecken, unabhängig davon, wer die Tat begangen hat, wo sie begangen wurde und welche Nationalität das Tatopfer hat« (Satzger 2018: 47).
Dies begründe keine Gerichtsbarkeit eines Staates über einen anderen Staat oder dessen Bürger, aber etabliert einen Standard, über den der IStGH wacht (Satzger 2018: 47). In diesem Sinne ist die Zusammenarbeitspflicht aus Art. 96 RS zu verstehen. Dieser Artikel setzt die Staaten nach dem Prinzip souveräner Gleichheit auf der Horizontalen voraus und kombiniert dies mit der »uneingeschränkten« Zusammenarbeit zum übergeordneten Interesse der Strafverfolgung in der Vertikalen. Diese Kombination von Horizontaler und Vertikaler rührt aus der internationalen öffentlichen Ordnung her, souveräne Gleichheit der Staaten und übergeordnete Interessen zu verbinden. Das Römische Statut und der IStGH bilden jedoch nicht den Schlussstein der historischen Entwicklung internationaler Strafverfolgung. 67
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
Neben den Ereignissen im ehemaligen Jugoslawien und Ruanda wurden auch nach der Gründung des IStGH weitere internationale Organisationen zur Strafverfolgung gegründet. Sie sind vor allem Hybride aus nationalen Recht und dem Völkerrecht sowie einer ebenso hybriden personellen Besetzung. •
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Nach dem Unabhängigkeitsreferendum in Osttimor am 30. April 1999 wendeten pro-indonesische Milizen Gewalt gegen die Bevölkerung an. Die Vereinten Nationen beschlossen daher eine Mission zur Friedenssicherung. Im Rahmen der VN-Mission wurde der Aufbau der Verwaltung betrieben, damit wurde eine Sonderermittlungseinheit der UN eingerichtet. Sie untersuchte die Ermordung hunderter Todesopfer aus der Zeit des UN-Mandats in der Region. Aus einem bilateralen Vertrag zwischen Sierra Leone und den Vereinten Nationen ging am 16. Januar 2002 der Sondergerichtshof für Sierra Leone hervor. Der Gerichtshof verfolgte Verbrechen nach dem 30. November 1996 im Bürgerkrieg, dabei kamen nicht nur Tatbestände des Völkerrechts, sondern auch nationales Recht zur Anwendung. Ein weiterer hybrider Gerichtshof wurde in Kambodscha nach der Ratifizierung des Abkommens mit der VN am 4. Oktober 2004 eingerichtet. Der Gerichtshof dient der strafrechtlichen Verfolgung des von den Roten Khmer begangenen Völkermords. Am 20. Dezember 2010 schuf der Sicherheitsrat den internationalen Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe, der die Arbeit des ICTY und des ICTR beenden soll. Der Mechanismus übernimmt die Stellung der Vorgänger seit dem 1. Juli 2012 (Satzger 2018: 324 f.).
Diese weiteren Einrichtungen beziehen sich auf das Völkerstrafrecht, wie es im Römischen Statut seinen Ausdruck gefunden hat. Gleichzeitig repräsentieren diese Einrichtungen unterschiedliche Ausformungen des vertikalen Modus der Kooperation. Sie sind innerhalb des vertikalen Modus an die Ereignisse angepasst und zeigen, wie leistungsfähig und lösungsorientiert sie die internationale öffentliche Ordnung gewährleisten. Der IStGH steht auch im Ruf, ein Erfolg der globalen Menschenrechtsentwicklung zu sein. Allerdings handelt es sich um unterschiedliche Rechts-, aber auch Phänomenbereiche (Ba 2020: 85). Der IStGH ist ein von den Vereinten Nationen unabhängiger internationaler Spruchkörper (Art. 2 RS), der die internationale öffentliche Ordnung in einer spezifischen Hinsicht – Völkerstrafrecht – gewährleistet. Mit der Einrichtung durch das Römische Statut bleibt der Vertrag im horizontalen Modus, der mit dem vertikalen Modus hinsichtlich des 68
ZWISCHENFAZIT
übergeordneten Interesses einer internationalen Strafverfolgung kombiniert ist. Die internationale Strafverfolgung durch das Römische Statut ist in eine umfassende Ordnung eingebettet, deren Ursprünge bereits vor dem Zweiten Weltkrieg liegen, aber sich erst nach diesem entfalten konnten. Die Umstellung auf einen vertikalen Modus der Kooperation erhält die Horizontale, bettet sie jedoch in eine umfassende internationale Rechtsordnung ein. Während der Zivilisationsstandard des 19. Jahrhunderts die territoriale Trennung der Modi in das europäische Zentrum und ihre Peripherie vorsah, bietet der vertikale Modus der Kooperation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen einheitlichen Rahmen.
V. Zwischenfazit: Vom horizontalen zum vertikalen Modus der Kooperation Die vorangegangene historische Rekonstruktion des völkerrechtlichen Kooperationsverständnisses vom horizontalen zum vertikalen Modus zeigt, wie relevant die Verpflichtung der Staaten zur Zusammenarbeit mit dem IStGH nach Art. 86 RS für die internationale Strafverfolgung ist. Diese Verpflichtung setzt die Kombination der beiden Kooperationsmodi nach 1945 voraus. Diese Kombination ist von der Parallelität der Modi im 19. Jahrhundert zu unterscheiden. Vertikaler und horizontaler Modus sind nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer internationalen öffentlichen Ordnung verwoben. Deshalb ist diese Kombination der Modi im Gegensatz zur Parallelität im 19. Jahrhundert als vertikaler Modus der Kooperation definiert. Nur innerhalb der auf Frieden und Sicherheit gebauten öffentlichen Ordnung schafft der vertikale Modus der Kooperation die Struktur, innerhalb der die internationale Strafverfolgung entstehen konnte. Die Fachdisziplin Internationaler Beziehungen nimmt diese Entwicklung in ihrem anarchiebedingten Kooperationsbegriff nur langsam auf. Anarchie beschreibt als grundlegende Bedingung der internationalen Beziehungen die Abwesenheit von Hierarchie. Der Fokus liegt auf den Staaten und setzt die Anarchie als Struktur internationaler Beziehungen voraus. Allerdings passt ein solcher Kooperationsbegriff eher zum europäischen Gleichgewicht des 19. Jahrhunderts. Dieser Kooperationsbegriff kann deshalb die Möglichkeit eines internationalen Strafgerichtshofs und der direkten individuellen Strafbarkeit auf der Grundlage des Völkerstrafrechts nicht erfassen. Der Begriff unterliegt Bedingungen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und trotz des Kalten Krieges nicht mehr vorhanden waren. In dieser Zeit bauen zwar die Staaten die öffentliche Ordnung auf, aber dies beruht bereits auf einem vertikalen Modus der Kooperation. 69
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
Trotzdem kommt die organisatorische Umsetzung der internationalen Strafverfolgung in Form des IStGH erst nach dem Ende des Kalten Krieges. Dies täuscht nicht darüber hinweg, dass die ad hoc Tribunale des ehemaligen Jugoslawiens und Ruandas sowie der IStGH in den 1990er Jahren auf vorher aufgebauten Möglichkeitsbedingungen fußen. Der ICTY hat dies allen voran in seiner Unterscheidung von vertikal und horizontal festgestellt, um sich selbst innerhalb dieser öffentlichen Ordnung zu verorten und daraus Rechte sowie Pflichten gegenüber sich selbst und den Staaten abzuleiten. Dem ICTY ist damit die erste Applikation des entstehenden Völkerstrafrechts nach den Nürnberger Prozessen gelungen. Für den IStGH hat dieser Praxistest internationaler Strafverfolgung eine besondere Bedeutung, weil sich sein Statut maßgeblich darauf bezieht. Nach den verschiedenen völkerrechtlichen Verträgen und den Beschlüssen der VN-Generalversammlung bilden die ad hoc Gerichtshöfe der 1990er Jahre die organisationale Grundlage für die dauerhafte Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs und der Kodifizierung des Völkerstrafrechts. Dieser Ereignisverlauf spricht dafür, mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vom vertikalen Modus der Kooperation auszugehen. Davor prägt die Parallelität des horizontalen und vertikalen Modus der Kooperation das internationale Geschehen. Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem Ersten Weltkrieg sind die Ausflucht vor einem internationalen Verfahren, das der Versailler Vertrag vorsah. Der Versailler Vertrag ist selbst ein im horizontalen Modus geschlossener Vertrag und zielte mit den Verfahren sowie dem dort angedachten Völkerbund nicht darauf ab, eine Vertikale zu etablieren. Der Völkerbund schuf im Gegensatz zu der Vision des US-Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924) keinen dauerhaften Frieden. Die auf den Haager Friedenskonferenzen vereinbarten Verträge sowie die Genfer Konvention von 1864 stellten als Kriegsvölkerrecht nur zwischenstaatliche Vereinbarungen dar, die keine darüber hinaus gehende öffentliche Ordnung begründeten. Die öffentliche Ordnung des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg blieb von der Trennung des horizontalen Modus im europäischen Gleichgewicht und dem vertikalen Modus gegenüber der aus europäischer Sicht unzivilisierten Welt geprägt. In dieser Parallelität der Modi konnten keine internationale Strafverfolgung entstehen. Sowohl der preußisch-französischen Krieg 1870/71 als auch der Erste Weltkrieg haben die Staaten nicht dazu bewogen, die Parallelität der Modi aufzugeben und eine Alternative zu etablieren. Nach der Französischen Revolution von 1789 und den napoleonischen Kriegen hatten die europäischen Staaten auf dem Wiener Kongress 1815 das europäische Gleichgewicht selbst als Lösung hervorgebracht. Auf das europäische Gleichgewicht haben die Staaten sich geeinigt, um Kriege in Europa zu verhindern und der Hegemonie eines Staates vorzubeugen. Das europäische Gleichgewicht verlangte daher 70
ZWISCHENFAZIT
einen horizontalen Modus der Kooperation, in dem sich die europäischen Staaten als souverän und damit formal gleichrangig anerkannten. Der horizontale Modus schuf die Bedingungen, um die Unsicherheit der naturrechtlichen Vorstellungen internationaler Beziehungen der vorherigen Jahrhunderte durch den explizit formulierten Konsens in völkerrechtlichen Verträgen zu ersetzen. Allerdings warf diese Konstruktion die Frage auf, warum sich Staaten an ihr Wort binden sollten. Diese Antwort blieben die europäischen Staaten sich selbst schuldig, indem sie keine außervertraglichen Bedingungen für die Verträge sicherten und sich allein auf Diplomatie verließen. Das Völkerrecht blieb ein auf diesen horizontalen Modus der Kooperation beschränktes Recht. Diese auf Europa zielende Lösung schuf den Freiraum, die Kolonien auszubauen und das offene Verhältnis der europäischen Staaten zum Rest der Welt über den Zivilisationsstandard zu definieren. Die zunächst humanistisch anmutende Zivilisierungsmission schlug in einen offenen Rassismus um, der das europäische Verständnis untermauerte, an der Spitze der Schöpfung zu stehen. Diese zeitgenössische Perspektive beruhte auf einem szientistischen Biologismus. Der vertikale Modus der europäischen Staaten auf der Grundlage des Zivilisierungsstandards gegenüber dem Rest der Welt stand neben dem horizontalen Modus des europäischen Gleichgewichts. In den Überlegungen des 17. und 18. Jahrhunderts war eine solche Begrenzung staatlicher Souveränität auf die europäischen Staaten noch nicht angelegt. Mit den verschiedenen Figuren wie »Commonwealth« oder »Leviathan« fand die Suche nach einer Alternative zur weltlich-religiösen Einheit statt. Diese beiden Sphären hatten sich seit dem Investiturstreit bis zum Westfälischen Frieden auseinander differenziert und den souveränen Staat in der weltlichen Sphäre hervorgebracht. Die Konsolidierung der staatlichen Souveränität und Stabilität spielt nach den kriegerischen Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts eine herausragende Rolle für die Theoriebildung bei Hugo Grotius oder Thomas Hobbes. In diesen Kontext fällt nicht nur die territoriale Neuordnung Europas, sondern auch die Frage nach dem Eigentum der Meere. Hie ran deutet sich bereits ein horizontaler Modus der Kooperation an, weil Staaten kraft ihrer Souveränität eigene Rechte wie das Eigentum an Meeren oder Land erwerben. Die Staaten treten hierfür in Verhandlungen miteinander. Auch die Piraterie ist ein beachtenswerter Fall, weil sie die Souveränität der Staaten berührt. Die Piraterie bildet den Naturzustand ab, dem die Staaten und seine Vordenker nach den langen Kriegen entfliehen wollten. Aus diesem Grund bewertet auch noch Tindal die Piraterie als Verletzung aller Nationen, obwohl nur die tatsächlich geschädigte Nation tätig werden soll. In diesem vielfach auf naturrechtlichen Vorstellungen basierenden horizontalen Modus ist die internationale Strafverfolgung nicht denkbar, weil sie weit mehr verlangt, als in der Konsolidierung souveräner Staatlichkeit möglich ist. 71
DAS KOOPERATIONSVERSTÄNDNIS DES VÖLKERRECHTS
Dieser chronologisch und im Fazit rückwärts beschrittene Pfad zeigt die Abhängigkeit der Staaten und der internationalen Strafverfolgung von ihren Möglichkeitsbedingungen. Der horizontale und der vertikale Modus beschreiben innerhalb des historischen Kontextes die Bedingungen, die die Kooperation unter den Staaten und im Laufe der Zeit mit anderen Akteuren prägt(e). Die durch die Modi beschriebene Struktur ist dabei von verschiedenen Brüchen gekennzeichnet, die kriegerische Auseinandersetzungen, Revolutionen und auch völkerrechtliche Einigungen ausgelöst haben. Innerhalb des historischen Kontextes zeigt die Struktur des jeweiligen Modus der Kooperation die Möglichkeitsbedingungen an, nach der sich die Dynamik des internationalen Geschehens entfaltet. Die Parallelität der Modi im 19. Jahrhundert bringt diese Einschränkungen und die innerhalb dieser Bedingungen mögliche Dynamik beispielhaft zum Ausdruck. Die Verpflichtung der Staaten zur Zusammenarbeit ist eine institutionalisierte Erwartung im Römischen Statut innerhalb einer internationalen öffentlichen Ordnung. Obwohl die historische Rekonstruktion das völkerrechtliche Kooperationsverständnis internationaler Strafverfolgung aufzeigt, fehlt eine Erklärung, wie die Modi die Struktur auf die vorgestellte Weise institutionalisiert haben. Die Institutionalisierung des normativen Erwartens im Völkerstrafrecht und schließlich seiner organisationalen Umsetzung bleibt mit Blick auf den langwierigen und voraussetzungsreichen Weg dorthin erklärungsbedürftig. Mit dem von Koh herausgestellten Widerspruch der Kooperationsmodi stellt sich dabei in Frage, wie die skizzierte Ordnungsbildung möglich war und sich nicht im Widerspruch horizontaler und vertikaler Kooperation verfangen hat. Diese Frage gewinnt ihre Relevanz dadurch, dass die internationale Strafverfolgung durch den IStGH in einem vertikalen Modus der Kooperation stattzufinden scheint, in dem die Horizontale integraler Bestandteil ist.
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Zweites Kapitel: Die Institutionalisierung internationaler Strafverfolgung in der Weltgesellschaft Die vorangegangene historische Rekonstruktion hat gezeigt, mit welchem Kooperationsverständnis die Staaten das Völkerrecht imprägniert haben und wie dieses sich auf die Möglichkeiten globaler Struktur- und Ordnungsbildung ausgewirkt hat. Allerdings bleibt dabei die Frage offen, wie sich diese Ordnungsbildung erklären lässt. In einer theoriebasierten Rekonstruktion ist die Situation der Staaten mit der Problemstellung doppelter Kontingenz beschreibbar. Wenn Staat A und Staat B aufeinandertreffen, dann ist ein bestimmtes Verhalten weder notwendig noch ausgeschlossen. Zwischen den Staaten fehlen die wechselseitigen Erwartungen, auf die die Staaten ihr Verhalten abstimmen können. Das Problem doppelter Kontingenz greift über die Koordination des Verhaltens hinaus: »Ohne Lösung dieses Problems der doppelten Kontingenz kommt kein Handeln zustande, weil die Möglichkeit der Bestimmung fehlt« (Luhmann 2012: 149). Im Unterschied zum anarchiebedingten Kooperationsbegriff thematisiert doppelte Kontingenz nicht nur eine Koordination der Interessen und Intentionen verschiedener Akteure, sondern erfasst »a basic condition of possibility for social action as such« (Vanderstraeten 2002: 81). Die verschiedenen Modi und ihre Kombination im historischen Verlauf sind von der Problemstellung doppelter Kontingenz aus Lösungen dafür. Indem Staaten zunächst im horizontalen Modus auf naturrechtliche Vorstellungen vertrauten, dann völkerrechtliche Verträge geschlossen und schließlich den vertikalen Modus übergeordneter Interessen etabliert haben, lösten sie die Frage des Umgangs miteinander in einem bestimmten Modus der Kooperation. Das Problem, wie miteinander kooperiert wird, hat direkt den Lösungsprozess initiiert. Gleichzeitig löst sich die Kontingenz nicht vollständig auf. Jede neue Entscheidung ist kontingent, aber sie ist es nur vor dem bereits Entschiedenen (Vanderstraeten 2002: 87). Die Problemstellung doppelter Kontingenz führt direkt auf den Strukturbegriff als Einschränkung des Möglichkeitsbereichs für die Kommunikation hin. Sie zeigt, dass innerhalb der Erwartungsstruktur das Verhalten der Teilnehmer an einer Interaktion anders möglich ist. Eine vorhandene Ordnungsstruktur ist damit ebenso kontingent, weil in der Situation doppelter Kontingenz keine Notwendigkeit zu einer bestimmten Ordnungsstruktur besteht (Luhmann 2012: 150 ff.). Diese Problemstellung zwingt dazu, die historisch rekonstruierte Struktur der Kooperationsmodi, um eine theoriebasierte Erklärung zu ergänzen. 73
DIE INSTITUTIONALISIERUNG INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
Die historische Rekonstruktion präsentiert die Lösungen, aber sie bietet noch keine Erklärung, wie sich die Kooperationsmodi als weltgesellschaftliche Struktur gebildet haben. Eine Erklärung setzt mit dem Römischen Statut bei einem global geltenden, aber nur partiell durch den IStGH ausübbaren Recht an, das die Erwartungen unter Staaten, Individuen, internationalen Organisationen und auch dem IStGH prägt. Ein solches weltumspannendes Phänomen legt einen weltgesellschaftlichen Ansatz nahe. Die Weltgesellschaft kennt keine kommunikativen Grenzen und ist Ausdruck globaler Strukturbildung. Die übergeordnete Struktur des vertikalen Modus der Kooperation in der internationalen Strafverfolgung wirkt »auf die Ereignisse und Prozesse der unteren Systemebenen« (Greve/Heintz 2005: 110) – konkret: IStGH, Staaten, Individuen etc. – ein. Der durch die internationale Strafverfolgung begründete »weltweite[n] Kommunikationszusammenhang« (Greve/Heintz 2005: 110) determiniert die Bedingungen der Möglichkeit dieser Strafverfolgung. Die Struktur ist makrodeterminiert, weil sie auf allen Ebenen vorkommt und insofern irreduzibel ist. Gleichzeitig impliziert diese Struktur internationaler Strafverfolgung ihre historische Entwicklung, deren emergentes Produkt sie ist. Makrodetermination und emergente Strukturbildung werden im Folgenden als die beiden Seiten der Institutionalisierung der Strafverfolgung internationaler Verbrechen im vertikalen Modus der Kooperation aufgefasst. Sie erklären zum einen, wie Strukturen entstehen, und zum anderen, wie sie wechselseitiges Erwarten sichern. Makrodetermination und emergente Strukturbildung lassen sich analytisch in zwei Prozesse trennen: Die Diffusion institutioneller Muster und die globale Vernetzung (I.). Die Diffusion institutioneller Muster beschreibt, wie Beobachtungsund Vergleichskategorien entstehen und sich verbreiten. Im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen bis zum Zweiten Weltkrieg schaffen die Staaten in ihren völkerrechtlichen Verträgen solche Kategorien. Die Befehle und das Verhalten der Soldaten deuten Gustave Moynier und andere bereits als Verbrechen und halten an ihrem Erwarten fest, dass völkerrechtliche Verträge einzuhalten sind. Allerdings ist die Institutionalisierung noch unvollständig, weil in der Parallelität des horizontalen und des vertikalen Modus kein Dritter auftritt, der das Erwarten über die Staaten hinaus stabilisiert. Das Völkerstrafrecht kann sich nicht herausbilden, weil der vertikale Modus als die ermöglichende Struktur fehlt (II.). Die globale Vernetzung der Beobachtungs- und Vergleichskategorien zeigt, wie die kommunikative Reichweite expandiert und eine Welt öffentlichkeit mit unterschiedlichen Vertretern die Rolle des Dritten einnimmt. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) sowie das Institut de Droit International entstanden zwar bereits im 19. Jahrhundert, jedoch konnten sie keinen Platz auf der globalen Ebene einnehmen. Dies ändert sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 74
DIE INTERNATIONALE STRAFVERFOLGUNG
verdeutlichen die Hauptankläger der Nürnberger Prozesse in ihren Eröffnungsreden (III.). Das Fazit fasst diese Argumentation zur Institutionalisierung internationaler Strafverfolgung zusammen und gibt darüber hinaus einen Ausblick für die weitere Analyse internationaler Strafverfolgung auf der Ebene der Organisation und der Verfahren (IV.).
I. Die internationale Strafverfolgung im Spiegel des Mikro-Makro-Problems Für die Problemstellung doppelter Kontingenz bietet die Institutionalisierung wechselseitigen Erwartens eine theoretische Erklärung der Strukturbildung. Aus diesem Erklärungsansatz ergibt sich eine weitere Frage: Wie hängt die Mikroebene des individuellen Handelns mit der Makroebene des Sozialen zusammen (Heintz 2004: 1)? Dieses Mikro-MakroProblem wirft den Blick darauf, in welchem Verhältnis Strukturen als Lösungen des Problems doppelter Kontingenz zu den Individuen stehen. Das Mikro-Makro-Problem steht insbesondere in weltgesellschaftlichen Ansätzen im Vordergrund (Greve/Heintz 2005: 90). Diese Ansätze erklären über das auf eine Interaktion bezogene Problem doppelter Kontingenz die Entstehung eines globalen Kommunikationszusammenhangs und seine Wechselwirkung mit lokalen Ereignissen. Einen Vorschlag für den Zusammenhang von Mikro- und Makroebene hat Talcott Parsons vor der Weltgesellschaftstheorie gegeben. Parsons behandelt gemeinsam mit anderen Autoren die Problemstellung doppelter Kontingenz (1976: 16). Um diese zu lösen, schlagen Parsons et al. eine normative Orientierung eines »shared symbolic systems« (1976: 16) vor. Diese Symbole dienen als Grundlage für komplementäre Orientierungsmuster Alters und Egos. In einer Interaktion ergeben sich daraus Rollenerwartungen: »Alter expects ego to behave in given situational conditions in certain relatively specific ways, or at least within relatively specific limits« (Parsons et al. 1976: 19). In einem sozialen System können diese Rollen institutionalisiert sein. Mit Institutionalisierung ist die Integration der Erwartungen eines Akteurs in Rollen eines Interaktionssystems mit einem geteilten normativen Wertmuster gemeint (Parsons et al. 1976: 20). Der Konsens über diese Muster als Rahmen für die Interaktion gibt an, wie stabil ein soziales System ist (Parsons et al. 1976: 21). Innerhalb eines sozialen Systems können die Entscheidungen eines Akteurs daher nicht willkürlich sein. Die Wertorientierung der verschiedenen Akteure eines sozialen Systems muss in ein gemeinsames System integriert sein (Parsons 1968: 76; Parsons et al. 1976: 24). Daher folgern Parsons et al. im Hinblick auf den Mikro-Makro-Link: 75
DIE INSTITUTIONALISIERUNG INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
»The structure of the social system in this respect may be regarded as the cumulative and balanced resultant of many selections of many individuals, stabilized and reinforced by the institutionalization of value patterns, which legitimize commitment to certain directions of selection and mobilize sanctions in the support of the resultant orientation« (Parsons et al. 1976: 25).
Ein soziales System basiert in dieser Perspektive auf den einzelnen Interaktionen, den institutionalisierten Rollen, den Personen und ihren jeweiligen Handlungen innerhalb der geteilten normativen Wertorientierung (vgl. Parsons et al. 1976: 26). Die Elemente der Konsensorientierung und der »symbolischen Ordnungsleistungen« (Rehberg 2014: 55) nimmt Karl-Siegbert Rehberg in seiner Institutionentheorie im Anschluss an Arnold Gehlen auf. Institutionen dienen nach Rehberg als »kulturelle Vermittlungsinstanzen zwischen Sozialstruktur und Sinnproduktion, zwischen kollektiven Ordnungen und den sie bedingenden Menschen, also wirklich der Ort von ›Wechselwirkungen‹« (Rehberg 2014: 87). Institutionen verstehen sich in diesem Zusammenhang als regulative Ordnungen, die mit Symbolen einerseits eine Welt schaffen, aber gleichzeitig diese Symbole als Voraussetzung für die Welt betrachten (Rehberg 2014: 56). Daher synchronisieren Institutionen die ideellen und normativen Geltungsansprüche mit der praktischen Orientierung der Menschen (Rehberg 2014: 53/54). Hierfür greifen Institutionen auf Leitideen zurück, die eine »gelungene Einheits-Ordnung« (Rehberg 2014: 66) repräsentieren und damit die Grenze zwischen dem »instituierten Innen-Außen-Verhältnis« (Rehberg 2016: 66) markieren. Die Leitidee wirkt dabei nicht determinierend, sondern markiert »einen Komplex normierender und handlungsbestimmender Orientierungen« (Rehberg 2016: 67). Innerhalb der institutionellen Leitideen bleiben Spannungen, die die Institutionen vermitteln (Rehberg 2016: 66/67). Rehberg wie Parsons halten an einer Mikrofundierung des Sozialen fest und greifen hierfür auf normative und kulturelle Muster zurück, um Mikro- und Makroebene miteinander in Beziehung zu setzen. Die Vertreter des Neo-Institutionalismus um John Meyer und der Systemtheorie um Niklas Luhmann geben in der Weltgesellschaftstheorie eine alternative Antwort (vgl. Greve/Heintz 2005: 101 ff.). Die neo-institutionalistische und die systemtheoretische Variante der Weltgesellschaftstheorie bieten den theoretischen Rahmen, um den Phänomenbereich der Strafverfolgung internationaler Verbrechen zu erfassen. Das Völkerstrafrecht und der vertikale Modus der Kooperation sind emergente Strukturen auf der Ebene der Weltgesellschaft. Auf der Ebene der Organisationen finden sich der IStGH, internationale Organisationen wie die VN, andere (internationale) Spruchkörper und auch Staaten. Schließlich treten auf der Ebene der Verfahren u.a. die Opfer, Täter, Zeugen, Staatenvertreter und der Chefankläger des IStGH auf. Die mit der 76
DIE INTERNATIONALE STRAFVERFOLGUNG
Weltgesellschaftstheorie vertretene These lautet, dass diese Ebenen einen Kommunikationszusammenhang bilden. In einem solchen Kommunikationszusammenhang bilden sich emergente Strukturen auf der Ebene der Weltgesellschaft und determinieren die Strukturen der anderen Ebenen. Emergente Strukturbildung beschreibt einen Prozess. In diesem Prozess weist die Ebene der Strukturentstehung Eigenschaften auf, die nicht auf das Handeln der Individuen rückführbar ist (Heintz 2004: 4 f.). Wenn man das Handeln der Individuen addiert, erhält man nicht die Struktur als ihre Summe. Die Emergenz der Struktur begründet die Eigenständigkeit gegenüber dem individuellen Handeln. Die emergente Struktur löst sich nicht auf, wenn Individuen anders handeln (Schwarz 2016: 33 ff.). Dieses Eigenleben emergenter Struktur schreiben Meyer und Luhmann der Weltgesellschaft zu. Die Weltgesellschaft ist ein Phänomen emergenter Strukturbildung (Greve/Heintz 2005: 109). Die Strafverfolgung internationaler Verbrechen im vertikalen Modus der Kooperation fällt in diesen Phänomenbereich. Die historische Rekonstruktion zeigt die Strukturbildung in ihrem Entwicklungsverlauf, aber erläutert sie nicht. Sie stellt die Strukturbildung fest, indem sie diese aus dem Ereignisverlauf ableitet. Als Phänomen emergenter Strukturbildung ist der Prozess zur Strafverfolgung internationaler Verbrechen im vertikalen Modus der Kooperation mit den theoretischen Mitteln der Weltgesellschaftstheorie beschreibbar. Als emergentes Phänomen der Weltgesellschaft determiniert die Struktur der Strafverfolgung internationaler Verbrechen im vertikalen Modus der Kooperation die anderen Ebenen. Sie wirkt auf Organisation und Verfahren ein, indem sie die Bedingungen ihrer Möglichkeiten definiert. Makrodetermination legt nicht die Entscheidungen von Organisationen und in Verfahren fest, aber sie grenzt den Horizont möglicher Entscheidungen ein. Die Individuen reproduzieren mit ihren Entscheidungen die Struktur nur mittelbar, weil sie sich für eine Möglichkeit entscheiden und dabei die Struktur als Einschränkung des Möglichkeitsbereichs voraussetzen. Die Struktur ist damit irreduzibel. Sie tritt auf allen Ebenen auf und lässt sich nicht in Entscheidungen von Organisationen und in Verfahren dekomponieren (Greve/Heintz 2005: 109; Heintz 2004: 10 f.). Diese Annahme ermöglicht die empirische Überprüfung der These über die Strafverfolgung internationaler Verbrechen im vertikalen Modus der Kooperation am IStGH und den Verfahren, sobald die These in die Weltgesellschaftstheorie eingebettet ist. Luhmann löst das Makro-Mikro-Problem mit einer zweifachen Differenzierung von Gesellschaft: Zum einen in der sozialen Differenzierung dreier Systemebenen (Gesellschaft, Organisation und Interaktion) und zum anderen in der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft nach Recht, Politik, Wirtschaft, Religion usw. (Luhmann 2015a: 707 ff.; 1987: 116/117; 126). Ob die Auflistung sozialer Systeme und diejenige 77
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der Funktionssysteme abschließend ist, diskutieren verschiedene Autoren (vgl. Kühl 2014; Runkel/Burkart 2005). In beiden Differenzierungsformen versteht Luhmann die Gesellschaft als das umfassendste System und damit auch als Weltgesellschaft (Greve/Heintz 2005: 108). Die Weltgesellschaft ist als der Sinnhorizont jeder aktuellen oder möglichen Kommunikation definiert (Luhmann 2014: 17). Jede Systemebene bildet in den Funktionssystemen, in Organisationen und Interaktionen ihren je eigenen Kommunikationszusammenhang aus. Gleichzeitigt etabliert Luhmann in der sozialen Differenzierung der Systemebenen die Vertikale, weil er auf den Ebenen jedem System eigene Strukturbildung zuschreibt. Die Systemebenen beschreibt Luhmann als inklusiv zueinander, ohne jedoch subsumtiv zu sein. Er weist die Semantik des Ganzen und seiner Teile zurück und ersetzt sie durch die Unterscheidung des Systems von seiner Umwelt (Luhmann 2015a: 60 ff.; 2009a: 73 ff.; Heintz 2004: 23). Während das Gesellschaftssystem diese Unterscheidung nicht kennt, reproduzieren Organisation und Interaktion diese Unterscheidung als eigene Systeme gegenüber der gesellschaftsinternen Umwelt. Gesellschaft umfasst jede Kommunikation und ist damit allgegenwärtig (Luhmann 2015a: 78; 2014: 6). Organisation und Interaktion haben nur begrenzte Kapazitäten, daher behandeln sie nur einen spezifischen Ausschnitt der Gesellschaft. Alles andere betrachten sie als Rauschen in ihrer Umwelt. Organisation und Interaktionen setzen ihre Umwelt voraus und versuchen in ihr zu bestehen. Ihre Umweltbedingungen sind gesellschaftlich determiniert und schränken die Möglichkeiten dieser Systeme ein. Die Umwelt legt die Struktur fest, an die sich Organisation und Interaktion anpassen müssen (Luhmann 2014: 10 f., 14). Ob eine Interaktion innerhalb oder außerhalb einer Organisation stattfindet, verändert nichts an ihrer generellen Umweltabhängigkeit (Luhmann 2014: 15). Die internationale Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation bildet auf der Ebene der Weltgesellschaft aus dieser Perspektive die Umweltbedingungen für den IStGH und seine Verfahren. Sowohl der IStGH als auch seine Verfahren stehen in Abhängigkeit von ihrer Umwelt. Ihre Strukturen sind makrodeterminiert, weil sie sich an die Umweltbedingungen anpassen, bzw. auf diese reagieren. Luhmann vermutet, dass der spezifische Zusammenhang von System und Umwelt zu einem normativen Erwartungsstil führt (Luhmann 2011: 74 f.; 2009a: 69). Das normative Erwarten im System ist damit explizite Anpassung an die Erfordernisse der Umwelt (Luhmann 2008: 31; 1987: 115). »Erwartungen gewinnen mithin im Kontext von doppelter Kontingenz Strukturwert für den Aufbau emergenter Systeme« (Luhmann 2012: 158). Der IStGH muss seine Umwelt beobachten, um völkerstrafrechtliche Verbrechen zu identifizieren. Das Völkerstrafrecht befindet sich sowohl in der Umwelt als auch im IStGH: Einerseits determiniert es die Umweltbedingung des IStGH hinsichtlich seiner Funktion, völkerstrafrechtliche Verbrechen zu 78
DIE INTERNATIONALE STRAFVERFOLGUNG
verfolgen. Andererseits bildet das Völkerstrafrecht die Arbeitsgrundlage des IStGH, indem es die völkerstrafrechtlichen Tatbestände definiert, mit denen der IStGH seine Umwelt durchsucht. Für die Verfahren befindet sich der IStGH ebenso wie das Völkerstrafrecht in der Umwelt, obwohl beide als Veranstalter (IStGH) und als Arbeitsgrundlage (Völkerstrafrecht) wieder im Verfahren auftreten. Dieses Wiedervorkommen der Umwelt im System (Luhmann 2015a: 45) beschreibt die Institutionalisierung normativen Erwartens. Aus der Umwelt an das System herangetragene Erwartungen kann das System institutionalisieren, um seine Funktion zu erfüllen (vgl. Luhmann 2009a: 70; 1999: 26). Institutionalisierte Erwartungen sind nicht mehr auf der Horizontalen vom wechselseitigen Erwarten der völkerrechtlichen Vertragspartner abhängig, sondern beruhen in der Vertikalen auf den Erwartungserwartungen Dritter (vgl. Luhmann 2008: 65). Die völkerstrafrechtlichen Regeln sind Erwartungen wie die Pflicht der Staaten zur Zusammenarbeit mit dem IStGH. Diese Erwartung beruht nicht allein auf dem wechselseitigen Erwarten der Vertragsstaaten. Wechselseitiges Erwarten beschreibt Luhmann als Erwartungserwartungen, weil Staat A von Staat B erwartet, dass Staat B die Erwartungen des Völkerstrafrechts erfüllt (vgl. Luhmann 2008: 51). Dieses Erwartungserwarten hat seinen Platz in der Institutionalisierung nicht mehr allein zwischen den Vertragsstaaten, sondern wird auf das Erwarten Dritte wie die Öffentlichkeit gestützt. Staat B erwartet damit nicht nur, dass Staat A, sondern auch Dritte von ihm erwarten, dass er die Erwartungen des Völkerstrafrechts erfüllt. Im Erwarten der Erwartungen anderer steht das ursprüngliche Erwarten des Völkerstrafrechts außer Frage und nur noch das Verhalten der Erwartungsadressaten ist Gegenstand dieser Erwartungssteigerung (vgl. Luhmann 2008: 55). Institutionalisiertes Erwarten erlaubt, »Konsens erfolgreich zu überschätzen« (Luhmann 1970: 30). Der IStGH, andere Strafgerichte, Staaten, Individuen und allgemein Dritte partizipieren am Funktionssystem des Rechts. Dieses bildet die gesellschaftliche Umwelt in Form des Völkerstrafrechts. Um an der Kommunikation dieses Funktionssystems teilzunehmen, institutionalisieren Organisation und Interaktion die normativen Erwartungen und erfüllen damit die Funktion des Rechtssystems, Erwartungen zu stabilisieren und Verhalten zu steuern (Luhmann 2018: 124 ff.; 2015b: 73 ff.). Dies schließt nicht aus, sich auch am Funktionssystem Politik zu beteiligen. Die Funktionssysteme geben einen Standpunkt an, von dem aus ein Beobachter Gesellschaft beschreiben kann (Luhmann 2015a: 1141). Den IStGH vom Standpunkt des Rechtssystems zu beobachten, zeigt die normativ stabilisierten und institutionalisierten Erwartungen nach den unfassbaren Gräueln der Vergangenheit und dieses Erwarten im Umgang mit künftigen Verbrechen. Das Recht löst ein Zeitproblem, indem jederzeit normatives Erwarten möglich ist, hängt es nicht mehr 79
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von einem konkreten Sachzusammenhang ab. Recht ist auf verschiedene Sachverhalte anwendbar. Außerdem legt normatives Erwarten in sozialer Hinsicht fest, welches Verhalten die Erwartung erfüllt oder enttäuscht (Luhmann 2018: 131). Luhmann bietet mit seiner Variante der Weltgesellschaftstheorie einen umfassenden Rahmen für die Beschreibung der Strafverfolgung internationaler Verbrechen im vertikalen Modus der Kooperation auf unterschiedlichen Ebenen. Daneben hat eine Forschergruppe an der Stanford School um John Meyer eine neo-institutionalistischen Vorstellung der Weltgesellschaft entworfen. Im Zentrum ihres Ansatzes stehen verschiedene Institutionen wie der souveräne Nationalstaat, die auf der Makroebene andere soziale Formen determinieren (Meyer et al. 1997: 150/151). Es geht diesen Vertretern des Neo-Institutionalismus darum, die »Transformation von einem nicht-institutionalisierten in einen institutionalisierten Zustand« (Hasse/Krücken 1999: 65) zu beschreiben. Dem unterliegt eine Prozessperspektive auf Institutionen, um institutionelle Strukturen in ihrem historischen Aufkommen zu erläutern (Scott 1994a: 89; Jepperson 1991).
Abbildung 2. Neo-institutionelle Makrodetermination aus Meyer et al. 1997: S. 151.
Die verschiedenen Institutionen und Kulturen sind definiert als »a set of fundamental principles and models, mainly ontological and cognitive in character, defining the nature and purposes of social actors and actions« (Boli/Thomas 1997: 172; vgl. Scott 1995: 33; 1994b: 67ff.). Institutionen tragen als Erwartungszusammenhänge zur gesellschaftlichen Ordnungsbildung bei (Hasse/Krücken 1999: 65). Diese Ordnung determiniert das System der Nationalstaaten, Organisationen und schließlich Individuen. Gleichzeitig geben Meyer et al. an, dass auch Staaten, Organisationen und Individuen die institutionelle und kulturelle Ordnung beeinflussen (1997: 151). »Macrolevel and microlevel are inextricably intertwined. Each actor fundamentally perceives and describes social reality by enacting it, and in this way, transmits it to the other actors in the social system« (Zucker 1991: 85). Die Vertreter des Neo-Institutionalismus 80
DIE INTERNATIONALE STRAFVERFOLGUNG
analysieren die Diffusion der Institutionen in historischer Perspektive. Sie beschreiben die Entwicklung des souveränen Nationalstaats als Institution, die sich innerhalb Europas über alle Grenzen einzelner Staat hinweg entwickelt hat und sich im 19. Jahrhundert zum modernen Staat ausformte (vgl. Meyer et al. 1997: 159; Thomas/Meyer 1980). Dabei ist hervorzuheben, dass »Institutionen nicht nur einschränken, sondern bestimmte Verhaltensweisen erst ermöglichen« (Hasse/Krücken: 1999: 15). Das neo-institutionalistische Staatsverständnis stützen die internationalen Organisationen und Strukturen, indem sie die Definition von Staatlichkeit und Hilfestellungen zur Verfügung stellen (Meyer et al. 1997: 159 f.). In diesem Verhältnis zwischen Staaten und der Weltgesellschaft verläuft eine Institutionalisierung weltkultureller Ordnung der Souveränität und ihre spezifische Ausformung durch den einzelnen Staat (Meyer et al. 1997: 158). Meyer et al. nehmen an, dass mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs globale Modelle entstanden sind. Der Übergang von einem horizontalen Kommunikationszusammenhang zu einer vertikalen Institutionalisierung internationaler Strafverfolgung ist in Anlehnung an die neo-institutionalistischen Studien an der Gründung spezifischer Organisationen wie den Vereinten Nationen und den ad hoc Strafgerichtshöfen festzumachen. Diese Organisationen verselbständigen die Institutionalisierung weltkultureller Ordnung (vgl. Boli/Thomas 1997). Dies geschieht nach Meyer/Rowan, indem sich Organisationen an Institutionen in ihrer Umwelt orientieren und sich daran anpassen, um externe Legitimation zu erhalten (1977). Dies trifft sowohl auf die Staaten zu, die sich am Konzept der staatlichen Souveränität orientieren. Die staatliche Souveränität ist aus der Sicht der Staaten eine solche Institution in der Umwelt der Staaten. Für den IStGH ist die internationale Strafverfolgung die Umweltinstitution, da sie auf vorausgehenden Prozessen völkerrechtlicher und organisatorischer Entwicklung zurückgeht. Beide weisen die Dynamiken der Weltkultur nach (vgl. Meyer et al. 1997: 144). Diese Annahme begründen Meyer et al. mit der Isomorphie weltweit gebräuchlicher Modelle (1997: 145). Diese isomorphe Entwicklung folgt aus der Orientierung an den Institutionen in der Umwelt (vgl. Loya/Boli 1999). Rudolf Stichweh hat vor dem Hintergrund beider Varianten der Weltgesellschaftstheorie Prozesse ihrer Genese identifiziert. Er nennt den ersten Mechanismus »globale Diffusion institutioneller Muster« (Stichweh 2000: 254). Stichweh beschreibt, dass sich die Systeme auf den unterschiedlichen Ebenen wechselseitig beobachten. Aus dieser wechselseitigen Beobachtung entstehen soziale Kategorien wie Staat oder Individuum, innerhalb derer sich Staaten und Individuen miteinander vergleichen. Diese sozialen Kategorien dienen als institutionelle Muster für andere Staaten, damit sich Staaten dieser Kategorie zurechnen können und sie von anderen Staaten dieser Kategorie zugerechnet werden 81
DIE INSTITUTIONALISIERUNG INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
(Stichweh 2000: 255; Strang/Meyer 1993 490 f.). Diffusion dieser institutionellen Muster ist ein sinnstiftender Prozess, »where actors jointly construct an understanding of the appropriateness and worth of some practice« (Strang/Meyer 1993: 489). Daraus folgert Stichweh in Anlehnung an die neo-institutionalistische Isomorphie einen globalen Homogenisierungsprozess (2000: 255 f.; Strang/Meyer 1993: 492). Allerdings führt dieser Prozess nicht zu einer globalen Vereinheitlichung, sondern schafft nur den Rahmen für globale Kommunikations- und Beobachtungsverhältnisse (Stichweh 2000: 256). An diesen Prozess schließt sich nach Stichweh die »globale Vernetzung« (2000: 256) als zweiter Mechanismus an. In diesem zweiten Prozess steht »der einzelne kommunikative Akt in seiner Einbettung in andere kommunikative Akte« (Stichweh 2000: 257) im Vordergrund. Dies schließt an die systemtheoretische Unterscheidung des Systems von seiner Umwelt an. Ein kommunikativer Akt erzeugt Globalität, indem er sich in und außerhalb des Systems zu anderen kommunikativen Akten in Beziehung setzt (vgl. Stichweh 2000: 257). Auf der Ebene der Interaktionen beschreibt Stichweh, dass Freunde von Freunden eine globale Vernetzung von Interaktionen zur Folge haben, weil sich Bekanntschaft nicht mehr lokal begrenzen lässt. Die Zahl potentieller Bekanntschaften und Teilnehmer an Interaktionen steigt ins Millionenfache (2000: 258). Aus dieser Überlegung folgt, dass die globale Vernetzung Interaktion aus ihrem lokalen Kontext löst, um die Begrenzung kommunikativer Reichweite aufzuheben. Solche Abstraktionen vom lokalen Kontext zur globalen Vernetzung gewährleisten weltgesellschaftliche Strukturbildung, die sich mit den Funktionssystemen beobachten lassen (Stichweh 2000: 259 f.). An Interaktionen zeigt sich ein globales Kommunikationsnetz, in dem Interaktionen vor einem Welthorizont stattfinden (Luhmann 2009a: 66 f.). Beide Prozesse rücken die neo-institutionalistische oder systemtheoretische Variante der Weltgesellschaftstheorie in den Vordergrund. Sie schließen einander nicht aus: Während der erste Prozess die Makrodetermination in der Diffusion institutioneller Muster betont, hebt der zweite Prozess die emergente Strukturbildung in der globalen Vernetzung hervor. Die Prozesse sind interdependent, weil emergente Strukturbildung der Mikroebene entspringt, aber zugleich auf der Makroebene den Rahmen für die anderen Ebenen determiniert. Die globale Vernetzung ermöglicht wechselseitige Beobachtungs- und Vergleichsprozesse, um institutionelle Muster zu entwickeln. Gleichzeitig bilden die institutionellen Muster die Grundlage, auf der Interaktion und auch Organisation kommunikative Reichweite ausweiten. In beiden Prozessen spiegelt sich das Makro-Mikro-Problem wider. Sie lösen dieses Problem in der analytischen Trennung von Makrodetermination und emergenter Strukturbildung. 82
DIE INTERNATIONALE STRAFVERFOLGUNG
Zusammengenommen bilden diese Prozesse die Institutionalisierung sozialer Ordnung in der Weltgesellschaft ab. Die Institutionalisierung führt über eine aktuelle Situation hinaus. Dafür dient die Figur des Dritten der Abstraktion der Situationsteilnehmer und ermöglicht mit dieser Dekontextutalisierung vom Sach- und Sozialzusammenhang auch eine Wiederholbarkeit in der Zeit. Der Bezug der Institutionalisierung besteht zur Erwartungsstruktur und lässt sich insofern als institutionelles Muster bezeichnen (vgl. Göbel 2011: 146). Die Institutionalisierung beschreibt damit eine Generalisierung wechselseitigen Erwartens. Das Bezugsproblem der Institutionalisierung liegt in der doppelten Kontingenz. Bereits Berger und Luckmann haben Institutionalisierung ausgehend von der Interaktion eines A mit einem B beschrieben. Sie argumentieren, dass A und B in der Interaktion ihr Handeln wechselseitig typisieren, sobald es sich wiederholt (Berger/Luckmann 2013: 60). Allerdings ist damit noch nicht die Institutionalisierung ihres Verhaltens vollzogen. Dies geschieht erst, sobald ein Dritter hinzutritt. Der Dritte enthebt A und B ihres bloß wechselseitigen Bezugs. Er zwingt A und B, ihr wechselseitig typisiertes Handeln als Institution zu objektivieren. Das typisierte Handeln zwischen A und B gewinnt ein Eigenleben als objektivierte Institution, die nicht mehr auf dem subjektiv typisierten Handeln von A und B beruht (Berger/Luckmann 2013: 62). Solange jedoch nur A und B die Institution durch ihr Handeln am Leben erhalten, können sie die Institution auch verändern (Berger/Luckmann 2013: 62 f.). Wenn Dritte sich an der Institution beteiligen, dann bleibt sie für diese Dritten eine objektive Wirklichkeit, an deren Entstehung sie keinen Einfluss hatten. Die Institution geht ihnen voraus und überlebt sie (Berger/Luckmann 2013: 63). Auf diese Weise entfaltet sich nach Berger und Luckmann die gesellschaftliche Wirklichkeit (2013: 64). Dieser Ansatz fundiert die Ma kroebene im individuellen Handeln auf der Mikroebene. Obwohl dieser Ansatz mit dieser Mikrofundierung nicht ausreicht, um das Phänomen der Weltgesellschaft zu erläutern, zeigt er den Zusammenhang des Mikro-Makro-Problems und der doppelten Kontingenz in der Institutionalisierung auf. Bereits Georg Herbert Mead hatte die Rolle des Dritten bzw. des verallgemeinerten Anderen hervorgehoben (2020: 194). Mead bespricht die Rolle des Dritten nicht im Hinblick auf die Problemstellung doppelter Kontingenz, sondern im Verhältnis der Identität des Individuums zur Gesellschaft. Er greift damit die Frage des Makro-Mikro-Verhältnisses im Hinblick auf die Identitätskonstitution aus. Er geht davon aus, dass »wenn der Einzelne seine Identität nur durch Kommunikation mit anderen erlangt, […] dann kann die Identität dem gesellschaftlichen Organismus nicht vorausgegangen sein. Letzterer muss zuerst existiert haben« (Mead 2020: 280). Das verallgemeinerte Andere ist konstitutiv für die Identitätsbildung und Voraussetzung für individuelles Denken und Handeln (Mead 2020: 196,198). Indem das Individuum 83
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sich am verallgemeinerten Anderen ausrichtet, sind »die komplexen auf Zusammenarbeit beruhenden Prozesse, Tätigkeiten und institutionellen Funktionen der organisierten menschlichen Gesellschaft […] möglich« (Mead 2020: 197). Individuelles Verhalten auf der Mikroebene und die gesellschaftliche Organisation als Makroebene stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander (Mead 2020: 198). Diesen Zusammenhang hat auch Luhmann im Abstellen auf den Dritten für die Institutionalisierung normativen Erwartens aufgezeigt (Luhmann 2008: 94 ff.). Gesa Lindemann schreibt dem Dritten eine Emergenzfunktion zu (2010). Der Dritte tritt vom Problem der doppelten Kontingenz ausgehend als objektivierende personale Adresse auf. Danach verschwindet der Dritte in der entstandenen Ordnung als stummer Garant (Lindemann 2010: 495). Lindemann versucht damit, die dyadische Konstellation der doppelten Kontingenz zu einer Triade zu erweitern. Darauf kommt es jedoch für die Erklärung der Emergenzfunktion nicht weiter an, weil der Dritte im weltweiten Kommunikationszusammenhang eine unbestimmte Adresse sein muss. Der Dritte tritt nicht mehr zu einer dyadischen Interaktion hinzu, sondern garantiert als theoretische Figur Beobachtungs- und Vergleichsmöglichkeiten über eine konkrete Situation hinaus. Diese Generalisierung der Verhaltenserwartungen beschreibt emergente Strukturbildung, insofern sie von der konkreten Situation in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht abstrahiert. Diese Abstraktion durchschneidet die Mikrofundierung der Institution und gibt ihr als institutionelles Muster im gesellschaftlichen Funktionssystem ein Eigenleben (vgl. Luhmann 2009b: 120; 1970: 33 ff.). Doppelte Kontingenz in Reinform tritt nicht mehr auf, weil Interaktion bereits durch die institutionellen Muster makrodeterminiert ist, bzw. Strukturvorgaben aus der Umwelt vorliegen. Die Strafverfolgung internationaler Verbrechen im vertikalen Modus der Kooperation lässt sich über diese beiden Prozesse erläutern. Im systemtheoretischen Verständnis bietet die Weltgesellschaft mit dem Völkerstrafrecht die Umweltbedingungen für den IStGH und diese beiden Ebenen bilden wiederum die Umwelt für die Verfahren des Gerichtshofs. Auf jeder Ebene institutionalisieren die Systeme die normativen Erwartungen und passen sich damit an ihre Umwelt an. Für die empirischen Analysen auf der Ebene der Organisation und der Ebene des Verfahrens bietet dies den Vorteil, dass sich der Bezug zur Umwelt in der Struktur des jeweiligen Systems widerspiegelt. Die auf der Ebene der Weltgesellschaft formulierte These über die Strafverfolgung internationaler Verbrechen muss daher ihren Widerhall auf den anderen Systemebenen finden. Der horizontale und der vertikale Modus der Kooperation beschreiben jeweils das wechselseitige Erwarten der Staaten und anderer untereinander. Die Analyse des Prozesses der Diffusion institutioneller Muster bezieht sich zum einen auf die staatliche Souveränität und zum anderen 84
MAKRODETERMINATION
auf die internationale Strafverfolgung. Die Diffusion der staatlichen Souveränität schließt andere Entitäten außer Staaten als Kooperationspartner aus. Das wechselseitige Erwarten ist auf einen horizontalen Modus souveräner Gleichheit determiniert. Diese Struktur des 19. Jahrhunderts erschwert die Institutionalisierung der völkerrechtlichen Verträge, weil der Teilnehmerhorizont über Staaten hinaus der Figur des Dritten keinen Platz einräumt. Das europäische Gleichgewicht und der Zivilisationsstandard erweisen sich als fragile Dritte, die jedoch immer nur auf die souveränen Staaten verweisen. Mit dem vertikalen Modus der Kooperation ändert sich dies und ein Prozess globaler Vernetzung beginnt. Neben den Staaten gewinnen insbesondere internationale Organisationen ein Eigenleben, aber auch Individuen treten mit den Nürnberger Prozessen auf das internationale Parkett. Die in Folge dieser Prozesse festgehaltenen Nürnberger Prinzipien markieren den Beginn für die Entstehung des institutionellen Musters internationaler Strafverfolgung als globale Beobachtungskategorie. Die fortschreitende Entwicklung der Strafverfolgung bis hin zum Weltrecht im Römischen Statut dokumentiert die Ausweitung der kommunikativen Reichweite und der Institutionalisierung dieser Erwartungsstruktur auf der Ebene der Weltgesellschaft. Dieser Ansatz greift die in der Debatte um die internationale öffentliche Ordnung angesprochene Vertikalisierung dieser auf (Einleitung; Erstes Kapitel: I.). Er bietet eine Erklärung, wie sie im historischen Verlauf möglich wurde und sich im Bereich des Völkerstrafrechts institutionalisiert hat.
II. Makrodetermination: Die globale Diffusion des institutionellen Musters internationaler Strafverfolgung Die Analyse der Diffusion des institutionellen Musters internationaler Strafverfolgung bezieht auch die staatliche Souveränität mit ein, weil sie beide im vertikalen Modus der Kooperation miteinander verbunden sind. Die im 19. Jahrhundert vorhandene Parallelität der beiden Modi der Kooperation bietet sich als Ausgangspunkt an, um die Entstehung der institutionellen Muster in der Moderne zu beschreiben und davon ausgehend ihre Diffusion zu beobachten. Die Analyse beruht auf der historischen Rekonstruktion, allerdings fokussiert sie auf einzelne Ereignisse. Für die staatliche Souveränität steht die Berliner Kongo-Konferenz von 1884 im Vordergrund. Die Berliner Kongo-Konferenz ist eine di plomatische Veranstaltung europäischer Mächte, in der sie die Landnahme auf dem afrikanischen Kontinent regeln. Diese Konferenz beruht zum einem auf einem horizontalen Modus der Kooperation im europäischen 85
DIE INSTITUTIONALISIERUNG INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
Gleichgewicht und zum anderen auf einem vertikalen Modus der zivilisatorischen Überordnung Europas gegenüber dem Rest der Welt – insbesondere Afrikas. In beiden Hinsichten erweist sich die staatliche Souveränität als ausschlaggebendes Kriterium für die Horizontale und die Vertikale. Sie bietet in beiden Modi als institutionelles Muster eine Beobachtungs- und Vergleichskategorie, um das wechselseitige Erwarten unter den Beteiligten zu determinieren. An der Konferenz nahmen Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich, Portugal, Russland, Schweden-Norwegen, Spanien und die USA teil. Obwohl das Osmanische Reich einen Vertreter zur Konferenz entsandte, stellte es selbst nur Gegenstand für territoriale Ansprüche dar (Koskenniemi 2004: 151). Die anderen Teilnehmerstaaten waren europäischwestlich geprägte Staaten, die sich wechselseitig als souverän anerkannt hatten und die bis auf die USA zum europäischen Gleichgewicht zählten. Auf der Konferenz vereinbarten sie die Landnahme und die Schifffahrt auf dem afrikanischen Kontinent: »in der Absicht, die für die Entwickelung des Handels und der Civilisation in gewissen Gegenden Afrikas günstigsten Bedingungen im Geiste guten gegenseitigen Einvernehmens zu regeln und allen Völkern die Vortheile der freien Schiffahrt auf den beiden hauptsächlichsten, in den Atlantischen Ocean mündenden afrikanischen Strömen zu sichern; andererseits von dem Wunsche geleitet, Mißverständnissen und Streitigkeiten vorzubeugen, welche in Zukunft durch neue Besitzergreifungen an den afrikanischen Küsten entstehen könnten und zugleich auf Mittel zur Hebung der sittlichen und materiellen Wohlfahrt der eingeborenen Völkerschaften bedacht« (General-Akte der Berliner Kongokonferenz 1885: Präambel).
Die Landnahme steht im Zeichen der Zivilisierungsmission. Der Zivilisationsstandard generiert eine Vergleichskategorie, mit der sich die europäischen Staaten als zivilisiert gegenüber den »eingeborenen Völkerschaften« betrachten können. Der einheimischen Bevölkerung steht wegen dieses Mangels an Zivilisation auch keine eigene Souveränität zu. Die legitimatorische Strategie der europäischen Staaten beruht auf der »Hebung der sittlichen und materiellen Wohlfahrt«, um der einheimischen Bevölkerung die Mündigkeit abzusprechen, bis dieser Zivilisationsstandard erreicht ist. Diese Diskriminierung spiegelt den vertikalen Modus der Kooperation anhand des Zivilisationskriteriums wider, um staatliche Souveränität zuzuschreiben. Dies eröffnet den Vertragsparteien die Möglichkeit, den Kontinent zu kolonialisieren. Sie setzen diese Diskriminierung fort, indem die neuen Eigentümer ihr nationales Recht nicht auf das Kolonialgebiet ausweiten (Koskenniemi 2004: S. 151). Die europäischen Staaten verwehren damit nicht nur anderen politischen Einheiten die Souveränität, sondern verweigern auch den 86
MAKRODETERMINATION
ihnen zugehörigen Individuen die rechtliche Gleichstellung. In diesem vertikalen Modus der europäischen Zivilisierungsmission dient die Zuschreibung der staatlichen Souveränität nicht nur der Strukturierung des wechselseitigen Erwartens unter Staaten, sondern determiniert auch das Verhältnis zu Individuen. Den deutlichsten Ausdruck dieser Asymmetrie stellt das Schicksal des Kongo dar. Mit der Berliner Konferenz wandelte sich der Kongo zu einem unabhängigen Staat im Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. (Koskenniemi 2004: 155 f.). Die Einwohner des Kongo sah Leopold II. ebenso als seinen Privatbesitz an und gestand ihnen keine Rechte zu. Erst über Jahrzehnte andauernde schwerste Verletzungen der einheimischen Bevölkerung führten zur Enteignung des belgischen Königs und zur Übergabe des Kongo an Belgien im Jahr 1908 (Koskenniemi 2004: 157 ff.). Solche schweren Verbrechen fanden auf dem gesamten afrikanischen Kontinent statt. Der Vernichtungsbefehl von Generalleutnant von Trotha in Deutsch Südwestafrika ist ein weiteres Beispiel hierfür. Auf seinen Befehl hin töteten deutsche Soldaten zwischen 1903 und 1906 über 60.000 von insgesamt 80.000 Herero (Koskenniemi 2004: 166; vgl. Langewiesche 2019: 372 ff.). Die Diffusion des institutionellen Musters staatlicher Souveränität über das Zivilisierungskriterium hat die diskriminatorischen Unterschiede zwischen europäisch-westlichen und nichteuropäischen Staaten bis hin zu den Individuen begründet. Diese ma krodeterminativen Folgen haben den strukturellen Rahmen und damit die Möglichkeit für diese schweren Verbrechen geschaffen. Allerdings ist das Verhalten der Täter selbst nicht in dieser Weise determiniert. Sie haben die Wahl für diese Verbrechen und ihr Ausmaß innerhalb der gegebenen Struktur getroffen. Parallel zum vertikalen Modus lässt sich auf der Berliner Konferenz auch der horizontale Modus des europäischen Gleichgewichts identifizieren. Die Teilnehmerstaaten vereinbaren die Landnahme kraft ihrer wechselseitigen Anerkennung als souveräne Staaten. Sie begründen pa rallel zu vertikalen Modus gegenüber den nicht-souveränen Staaten und Völkern untereinander den horizontalen Modus der Kooperation. Während der vertikale Modus die Landnahme gegenüber den nicht-souveränen Staaten und Völkern ermöglicht, sichert der horizontale Modus dies unter den souveränen Staaten ab. Die Zivilisierungsidee war zugleich eine Machtfrage für das europäische Gleichgewicht (Koskenniemi 2004: 155). Die Konferenz diente damit auch der Erhaltung des europäischen Gleichgewichts. »Diejenige Macht, welche in Zukunft von einem Gebiete an der Küste des afrikanischen Festlandes, welches außerhalb ihrer gegenwärtigen Besitzungen liegt, Besitz ergreift, oder welche, bisher ohne dergleichen Besitzungen, solche erwerben sollte, desgleichen auch die Macht, welche 87
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dort eine Schutzherrschaft übernimmt, wird den betreffenden Akt mit einer an die übrigen Signatarmächte der gegenwärtigen Akte gerichteten Anzeige begleiten, um dieselben in den Stand zu setzen, gegebenenfalls ihre Reklamationen geltend zu machen« (General-Akte der Berliner Kongokonferenz 1885: Art. 34).
Die souveränen Staaten verpflichten sich wechselseitig dazu, ihre Landnahme bekannt zu machen und sich ein Reklamationsrecht einzuräumen. Andere Staaten inklusive der Betroffenen sind ausgeschlossen, weil sie nicht zu den Signatarstaaten zählen. Die Vertragsparteien erkennen sich aufgrund dieser wechselseitigen Verpflichtung als formal gleichrangig an. Staatliche Souveränität dient in diesem Kontext des horizontalen Modus der Kooperation als Beobachter- und Vergleichskategorie formaler Gleichheit. Das europäische Gleichgewicht beruht auf diesem wechselseitigen Erwarten, um der Idee einer natürlichen Vormachtstellung eines Staates in Europa einen Riegel vorzuschieben. Außerhalb Europas stehen die europäischen Staaten für eine gemeinsam geteilte Vormachtstellung gegenüber der Welt ein und räumen sich daher die gleichen Rechte und Pflichten ein. Die Diffusion des institutionellen Musters staatlicher Souveränität bedeutet im horizontalen Modus eine Homogenisierung in formaler Hinsicht. Diese Ebene hat sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Unabhängigkeitsbewegungen der Kolonien über Europa auf die Welt hin ausgeweitet. Die wechselseitige Anerkennung der Staaten als souverän bleibt entscheidend für die horizontale Kooperation und bedingt auch die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen. Ein Staat kann Mitglied der Vereinten Nationen werden, wenn der Sicherheitsrat dies empfiehlt und die Generalversammlung dies beschließt (Art. 4 Abs. 2 VN-Charta). Dies setzt die Anerkennung als souveräner Staat durch die Mitglieder der Vereinten Nationen voraus und macht die staatliche Souveränität weiterhin zu einer globalen Beobachtungs- und Vergleichskategorie für Staaten, an die sich Rechte und Pflichten knüpfen. Das institutionelle Muster internationaler Strafverfolgung entsteht im Schatten dieser Entwicklung im Völkergewohnheitsrecht und den völkerrechtlichen Verträgen der europäischen Staaten. Das im 19. Jahrhundert entstehende Kriegsvölkerecht und das spätere humanitäre Völkerrecht schaffen zunächst die Beobachtungs- und Vergleichskategorien, auf die sich Organisationen internationaler Strafverfolgung stützen. Der Lieber Code von 1863 ist ein erster Schritt in die Verrechtlichung des Krieges im 19. Jahrhundert. Die US-amerikanische Regierung von Präsident Abraham Lincoln (1809–1865) übernahm gewohnheitsrechtliche Regeln der Kriegsführung unter den europäischen Staaten in staatliches Recht, weil sie diese Regeln für einen Ausdruck höher Zivilisierung hielt. Der Lieber Code bildete über fünfzig Jahre die Grundlage für den Landkrieg der US-amerikanischen Streitkräfte und ist insofern ein Vorläufer 88
MAKRODETERMINATION
der heutigen national spezifizierten Rules of Engagement in militärischen Einsätzen. Das Völkergewohnheitsrecht bot zum damaligen Zeitpunkt bereits eine hinreichende Beobachtungskategorie, um Regeln zu entwerfen. Die europäischen Staaten haben hierfür weitere Grundlagen in der ersten Genfer Konvention von 1864 und den Haager Friedenskonferenzen gelegt. Sie haben die Institutionalisierung der normativen Erwartungen vorangetrieben, ohne jedoch den Durchbruch zum Völkerstrafrecht und zur internationalen Strafverfolgung zu schaffen. Dies liegt an der Relevanz des institutionellen Musters staatlicher Souveränität im 19. Jahrhundert. Dieses institutionelle Muster ermöglicht zwar wechselseitige Erwarten unter souveränen Staaten, aber es schließt die Unterordnung dieser Institution aus. Der US-amerikanische Bürgerkrieg begann 1861 und dauert bis 1865. Der Lieber Code ist nach Francis Lieber (1800–1872) benannt, der das 157 Artikel umfassende Regelwerk mit Armeeoffizieren als Professor am Columbia College in New York entwickelte. Im Zentrum des Lieber Codes steht das Prinzip der militärischen Notwendigkeit, nach dem Soldaten jedes unnötige Leid vermeiden sollen (vgl. Lieber Code 1863: Art. 14). »Art. 20. Public war is a state of armed hostility between sovereign nations or governments. It is a law and requisite of civilized existence that men live in political, continuous societies, forming organized units, called states or nations, whose constituents bear, enjoy, suffer, advance and retrograde together, in peace and in war« (Lieber Code 1863: Art. 20).
Dieser Artikel definiert den Krieg, indem er diesen Begriff auf einen bewaffneten Konflikt zwischen souveränen Staaten bezieht. Dieses Verständnis steht im Zusammenhang mit der Zivilisierungsidee, weil sie erst politische Einheiten wie Staaten ermöglicht. Daraus folgt jedoch auch, dass das Zivilisationsideal nicht nur im Frieden gilt, sondern auch für die Regeln des Krieges Anwendung findet. Der horizontale Modus souveräner Staaten fördert die Zivilisierungsidee über das europäische Gleichgewicht und den imperialistischen Kolonialismus hinaus in das Kriegsrecht. Für das Verhältnis der souveränen Staaten zu den nicht souveränen Staaten bedeutet dieser Anwendungsbereich, dass europäischwestliche Staaten gegen sie kein Krieg führen konnten und sie sich daher nicht auf die entsprechenden Regeln berufen konnten. Dieses Verständnis kodifiziert der Lieber Code für die USA, aber es bezieht sich auf Gewohnheit der europäischen Staaten im Umgang mit außereuropäischen Staaten sowie Völkern. »Art. 22. Nevertheless, as civilization has advanced during the last centuries, so has likewise steadily advanced, especially in war on land, the distinction between the private individual belonging to a hostile country and the hostile country itself, with its men in arms. The principle has been more and more acknowledged that the unarmed citizen is to 89
DIE INSTITUTIONALISIERUNG INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
be spared in person, property, and honour as much as the exigencies of war will admit. […] Art. 24. The almost universal rule in remote times was, and continues to be with barbarous armies, that the private individual of the hostile country is destined to suffer every privation of liberty and protection, and every disruption of family ties. Protection was, and still is with uncivilized people, the exception« (Lieber Code 1863: Art. 22, 24).
Artikel 22 führt den Zivilisierungsgedanken fort und verknüpft ihn mit einer frühen Unterscheidung der Kombattanten der Zivilbevölkerung. Diese Unterscheidung begrenzt die Kampfhandlungen auf die Kombattanten und stützt dieses normative Erwarten auf den Zivilisierungsgedanken. Als Kombattant versteht der Lieber Code nur bewaffnete Soldaten einer souveränen Regierung (Art. 57). Dementsprechend unterscheidet Artikel 24 Unzivilisierte, die diesen Schutz gegenüber der Zivilbevölkerung nicht gewähren. Dagegen sei der Schutz der Zivilbevölkerung in regulären europäischen Kriegen nach Art. 25 des Lieber Codes die Regel. Der Artikel benutzt das institutionelle Muster der staatlichen Souveränität bzw. des damit verbundenen Zivilisierungsideals als Vergleichskategorie, um Regeln für die Kriegsführung zu formulieren. Die Rechtfertigung der Regeln erfolgt in der Abgrenzung von unzivilisierten Verhalten und formuliert auf die Seite zivilisierten Verhaltens die Erwartungen an die Kriegsführung. Aus diesen Regeln für zivilisierte Staaten und ihre Soldaten leitet Lieber in Art. 44 und Art. 47 auch strafbares Verhalten ab, ohne sie bereits als Kriegsverbrechen zu bezeichnen. Der Lieber Code bleibt eine einseitige Verpflichtung für die US-amerikanischen Streitkräfte und hat keine Wirkung auf andere Kriegsteilnehmer. Allerdings dient der Lieber Code noch heute als völkergewohnheitsrechtliche Grundlage des humanitären Völkerrechts (von Lingen 2018: 66). Die Genfer Konvention von 1864 und die Martens Klausel des zweiten Haager Abkommens beziehen sich auf die im Lieber Code abgefassten Regeln. Der Lieber Code kodifiziert nicht nur erstmals Regeln für die Kriegsführung, sondern bietet damit eine Beobachtungs- und Vergleichskategorie für weitere Rechtsdokumente und -entscheidungen. Auf dieser Grundlage fordert Moynier nach dem preußisch-französischen Krieg 1870/71 die Strafverfolgung der Soldaten (vgl. Erstes Kapitel: IV.). Die Beschränkung dieser Regeln für die Kriegsführung liegt in ihrer Schöpfung im horizontalen Modus der Kooperation. Diese Regeln beruhen auf dem wechselseitigen Erwarten der Staaten und haben damit die Institutionalisierung noch nicht durchlaufen. Die Zivilisierungsidee prägt diese Regeln innerhalb des institutionellen Musters staatlicher Souveränität. Ein eigenständiges Muster internationaler Strafverfolgung ist nicht feststellbar, weil sich die normativen Erwartungen erst entwickeln. 90
EMERGENTE STRUKTURBILDUNG
Die internationale Strafverfolgung entspringt keiner eigenständigen Schöpfung der Staaten, sondern ist die Ausweitung der Zivilisierungsidee auf das Feld des Krieges. Diese Seite der Zivilisierungsidee steht der Schattenseite des von dieser Idee geprägten vertikalen Modus der Kooperation im imperialistischen Kolonialismus entgegen. Gleichzeitig bleibt die Zivilisierungsidee der Motor für die Diffusion des institutionellen Musters staatlicher Souveränität. Diese Institution determiniert unterschiedliche Tätigkeitsfelder der Staaten und schafft eine Struktur, die einerseits Grausamkeit zulässt, aber auch den Anschub zur Verrechtlichung des Völkerrechts gibt. Von der Problemstellung doppelter Kontingenz aus betrachtet ist die Diffusion des institutionellen Musters staatlicher Souveränität die Lösung für unsichere Situationen zwischen Staaten. Die staatliche Souveränität tritt als Universallösung auf, die die jeweilige Situation (Kolonialismus, europäisches Gleichgewicht oder Krieg) determiniert. Abgeleitet von der Zivilisierungsidee bietet die staatliche Souveränität eine Erwartungsstruktur für Staaten, in der sowohl zivilisierte als auch unzivilisierte Staaten in diesen Rollen ihren Platz innerhalb einer globalen Ordnung finden. Die Problemstellung doppelter Kontingenz löst sich zwischen Staaten auf, sobald sie sich als zivilisiert oder unzivilisiert identifiziert haben. Gleichzeitig fällt damit die Entscheidung, ob die Staaten in einem horizontalen oder einem vertikalen Modus der Kooperation treten. Die Institutionalisierung internationaler Strafverfolgung kann im 19. Jahrhundert nicht stattfinden, weil sie keine eigene Vergleichs- und Beobachtungskategorie wie die staatliche Souveränität oder der Zivilisationsstandard bildet. Es fehlt die globale Vernetzung der Strafverfolgung und der normativen Erwartungen, um als solcher Bezug auf der Ebene der Staaten und der Interaktion relevant zu sein. Die internationale Strafverfolgung löst noch kein Problem wie die staatliche Souveränität im Umgang der Staaten miteinander. Erst staatlich organisierte Kriege und Genozide bis zum Zweiten Weltkrieg schaffen die Relevanz für eine internationale Strafverfolgung und ihre Vernetzung.
III. Emergente Strukturbildung: Die globale Vernetzung des institutionellen Musters internationaler Strafverfolgung Der Prozess globaler Vernetzung beschreibt den Aufbau emergenter Struktur. Das institutionelle Muster internationaler Strafverfolgung setzt voraus, dass Dritte bestimmtes Verhalten als Verbrechen beobachten und in Bezug auf diese Beobachtungskategorie an ihrem Erwarten der Strafbarkeit dieser Verbrechen festhalten. Diese Voraussetzungen können 91
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Staaten allein in einem horizontalen Modus der Kooperation nicht erfüllen, weil sie nur wechselseitig bestimmtes Verhalten erwarten und keine anderen Entitäten Platz finden. Die Institutionalisierung normativen Erwartens findet im zeitlichen Verlauf statt und gelangt erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem Durchbruch. Entscheidend für die Ergänzung der Horizontalen um eine Vertikale internationaler Strafverfolgung scheint die wiederkehrende Problemlage zu sein, dass Staaten und Staatenvertreter das wechselseitige Erwarten enttäuschen und unfassbare Gräuel verursachen. Hier lässt sich der Bezug zum Widerspruch horizontaler und vertikaler Kooperation herstellen (vgl. Erstes Kapitel: I.): Beide Modi können nicht in ein solches Verhältnis gebracht werden, dass der Widerspruch eine stabile Ordnung fördert. Erst die zunehmende globale Vernetzung die eine Weltöffentlichkeit als Dritte etabliert, öffnet den Weg zur emergenten Strukturbildung und ihrer Institutionalisierung in der Weltgesellschaft. Im Vorfeld der Genfer Konvention von 1864 entstand ein Jahr zuvor das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC). Diese internationale Organisation bemüht sich um »Schutz und Unterstützung für Betroffene bewaffneter Konflikte und Kämpfe« (ICRC 2020: Geschichte; Osterhammel 2020: 724/725). Ihre ersten Vertreter wirkten an der Genfer Konvention von 1864 mit und schufen so die rechtliche Grundlage für ihre Aktivität. Allerdings befand sich diese internationale Organisation erst im Aufbau als 1870 der preußisch-französische Krieg ausbrach. Ihr Präsident Gustav Moynier tritt mit seiner Forderung nach einer internationalen Strafgerichtsbarkeit in Folge dieses Krieges zwar als Dritter auf, aber das ICRC findet noch keinen Platz im europäischen Gleichgewicht. Das Engagement des ICRC beschränkte sich zunächst auf Vermittlungsversuche. Das ICRC konnte nur eingeschränkt Hilfe auf den Schlachtfeldern leisten. Die begrenzten Ressourcen in einer rein staatlich geprägten Welt verhinderten, dass das ICRC sich im 19. Jahrhundert als Dritter etablieren konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg spielt das ICRC eine herausragende Rolle bei der Fassung der Genfer Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle sowie in ihren zahlreichen Regionalorganisationen. Wenige Jahre nach der Gründung des ICRC entsteht im Jahr 1873 das Institut de Droit International. Das Institut strebt an, die Rolle des Dritten im Völkerrecht auszufüllen. Dies legt der folgende Satz nahe, den Johann Caspar Bluntschli (1808–1881) als Artikel 1 des Institutsstatuts vorgeschlagen hat. Eine ähnliche Formulierung findet sich auch noch in der heutigen Version: »Das internationale Institut für Völkerrecht (Institut de Droit international) soll dem gemeinsamen Rechtsbewusstsein der civilisierten Welt zum wissenschaftlichen Organe dienen« (Bluntschli 1881: 331). 92
EMERGENTE STRUKTURBILDUNG
»2. Its purpose is to promote the progress of international law: a) by striving to formulate the general principles of the subject, in such a way as to correspond to the legal conscience of the civilized world« (Institut de Droit International 2020).
Die Mitglieder des Instituts verstehen sich mit der Formulierung »Rechtsbewusstseins der civilisierten Welt«/»legal conscience of the civilized world« als öffentliche Vertreter des Rechtsbewusstseins. Während die Bedeutung des Instituts zu seiner Gründung noch sehr gering war, hat es sich im Laufe der Zeit zu einem festen Bestandteil der internationalen öffentlichen Ordnung gewandelt. Das Institut de Droit International, die International Law Commission und die International Law Association bilden heute den Kern der Rechtserkenntnisquellen des Völkerrechts (von Arnauld 2016: 118). Sie sind im Statut des Internationalen Gerichtshofs in Artikel 38 (d) als die »Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen als Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen« fest verankert. Sie werden in den Urteilen des Gerichtshofs sowie weiterer Spruchkörper zur Rate gezogen und als Vermittler bei Streitigkeiten in einem Verzeichnis »qualifizierter Juristen« (WVRK: Anhang (1)) beim Generalsekretär der Vereinten Nationen gelistet. Dritter zu sein, genügt allein noch nicht, um emergente Strukturen aufzubauen. Beide internationale Organisationen nehmen für sich in Anspruch, die Öffentlichkeit zu vertreten. Sie gehen jedoch einer globalen Beobachtungskategorie internationaler Verbrechen und ihrer Strafverfolgung voraus. Beide Einrichtungen schaffen erst die organisatorische Ebene in einer noch allein auf Staaten gemünzten Welt. Das Institut de Droit International leistete erste Beiträge zur Beobachtung des Völkerrechts und bildete eine Reflexionsinstanz für die völkerrechtlichen Entwicklungen der Zeit. Dies ermöglichte die globale Vernetzung der völkerrechtlichen Beobachtungskategorien, weil die Mitglieder des Instituts und des Komitees sie zur Diskussion brachten und heute noch bringen. Obwohl ein Modus horizontaler Kooperation vorherrschend war, nahmen die Mitglieder dieser Organisationen Einfluss. Sie diskutierten den Umgang mit Kolonien, waren an der Berliner Kongokonferenz und den Haager Friedenskonferenzen beteiligt. Die Mitglieder dieser Organisationen warfen Fragen auf. Sie begannen damit, Ereignisse wie den preußisch-französischen Krieg und den Ersten Weltkrieg in das Völkerrecht einzuordnen und an völkerrechtlichen Erwartungen festzuhalten. Erst die Rede des amerikanischen Hauptanklägers Robert Jackson zum Beginn der Nürnberger Prozesse am 21. November 1945 markiert den Durchbruch zum vertikalen Modus der Kooperation und zur Vertikalisierung der globalen Öffentlichkeit, die die internationalen Organisationen als Dritte vertreten können:
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»Der Vorzug, eine Gerichtsverhandlung über Verbrechen gegen den Frieden der Welt zu eröffnen, wie sie hier zum erstenmal in der Geschichte abgehalten wird, legt eine ernste Verantwortung auf. Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, daß die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben« (2015 [1945]: 61).
Die »menschliche Zivilisation« tritt in Jacksons Rede als Dritte auf. Sie ist die Öffentlichkeit, die alle Menschen umfasst. Für sie finden die Nürnberger Prozesse statt. Das Erwarten ist nicht mehr allein wechselseitig unter den Staaten gebunden, sondern bezieht die Menschen und damit die Individuen auf der globalen Ebene ein. Dieser Bezug folgt aus dem Verbrechenstatbestand »Verbrechen gegen den Frieden der Welt«. Diesen Frieden zu stören, trifft die menschliche Zivilisation und nicht die Gemeinschaft der Staaten. Auf der Grundlage dieses Bezugswechsels finden »zum erstenmal in der Geschichte« Verfahren gegen Individuen vor einem internationalen Gericht statt. Den historischen Wandel stellt Jackson heraus und markiert das Ausmaß und die »ernste Verantwortung«, die damit eingeht. Im horizontalen Modus kann die menschliche Zivilisation nicht in dieser Weise auftreten. Die Menschheit kommt zwar vor, aber sie bildet stets einen durch die Staaten vermittelten Bezug. Dies hatte Matthew Tindal beschrieben, indem er Piraterie als Verletzung der Nation(en) deutete, obwohl Piraten das Wohl der Menschheit gefährden. Jacksons Rede verdeutlicht, dass mit den Nürnberger Prozessen ein vertikaler Modus der Kooperation beginnt. Die Staaten stehen in einem neuen Verhältnis zur globalen Ordnung. Der sowjetische Hauptankläger Roman Rudenko betont diesen Aspekt in seiner Eröffnungsrede am 8. Februar 1946: »Zum ersten Male stehen Verbrecher vor dem Richter, die sich eines ganzen Staates bemächtigt und diesen Staat selbst zum Werkzeug ihrer ungeheuerlichen Verbrechen gemacht hatten. Zum ersten Male endlich richten wir in den Angeklagten nicht nur sie selbst, sondern auch die von ihnen ins Leben gerufenen Einrichtungen und Organisationen sowie ihre menschenverachtenden ›Theorien‹ und ›Ideen‹, die von ihnen zum Zwecke der Verwirklichung der schon lange Zeit vorher geplanten Verbrechen gegen die Welt und die Menschheit vorbereitet wurden« (Rudenko 2015 [1946]: 279).
Auch Rudenko verwendet »die Welt und die Menschheit« als Beobachtungskategorie für den Bezug der Verbrechen. Gleichzeitig stellt er he raus, dass der Staat und seine Einrichtungen sowie Organisationen selbst Teil des Verbrechens sind. Dies leitet eine veränderte Beobachtung des Staates ein. Bis zum Zweiten Weltkrieg stand der Staat als Garant für Ordnung. Die Geburt des modernen Staates aus dem Investiturstreit und 94
EMERGENTE STRUKTURBILDUNG
dem Westfälischen Frieden galt als Lösung für die anhaltende Instabilität und Unsicherheit vorausgegangener Konflikte (Erstes Kapitel: II.). Im Ersten und Zweiten Weltkrieg hat sich der Staat jedoch zum Kriegstreiber entwickelt. Der souveräne Monarch war nicht mehr da, stattdessen hatte der Staat die Souveränität übernommen (Erstes Kapitel: III.). Diese Perspektive erklärt, dass der horizontale Modus allein nicht genügt, um eine globale Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Staat selbst muss in eine globale Ordnung eingehegt sein. Dafür braucht es in der Vertikalen schützenswerte Interessen der Menschheit und jedes Individuums (Erstes Kapitel: IV). Dieser Gedanke trägt die Institutionalisierung des vertikalen Modus der Kooperation und der mit ihm verbundenen internationalen Strafverfolgung. Das ICRC und das Institut de Droit International vertraten zwar den Schutz von Verwundeten und das Rechtsbewusstsein der zivilisierten Welt, aber sie konnten sich nicht auf die universelle Figur der Menschheit berufen. Diese Menschheit fungiert einerseits als Öffentlichkeit und Dritte und andererseits als Betroffene. Sie begründet eine globale Verflechtung, weil jeder Mensch Teil dieses Adressatenkreises ist. Die zivilisierte Welt und auch die Verwundeten stellten jeweils einen begrenzten Bereich dar, der nicht in einen globalen Kommunikationszusammenhang eingeflochten war. Die menschliche Zivilisation bekommt daher eine völlig neue Bedeutung: »Die wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts ist die Zivilisation. Sie ist noch unvollkommen und ringt in allen unseren Ländern. […] Die Zivilisation fragt, ob das Recht so zaudernd und träge sei, daß es gegenüber so schweren Verbrechen begangen von Verbrechern von so hohem Rang, völlig hilflos ist. Die Zivilisation erwartet nicht, daß sie den Krieg unmöglich machen können. Wohl aber erwartet sie, daß Ihr Spruch die Kraft des Völkerrechts mit seinen Vorschriften und seinen Verboten und vor allem mit seiner Sühne dem Frieden zum Beistand geben werde, so daß Männer und Frauen guten Willens in allen Ländern leben können ›keinem Untertan und unter dem Schutz des Rechts‹« (Jackson 2015 [1945]: 126).
Der Zivilisationsgedanke dient nicht mehr dazu, die Modi der Kooperation zu trennen. Jackson verwendet die Zivilisation als ein aktives Subjekt, welches »fragt« und »erwartet«. Dieses Erwarten bezieht sich auf das Völkerrecht und etabliert ein Erwarten gegenüber dem Erwartungserwarten der Staaten. Dies markiert die Zivilisation in der Rolle der Dritten und hebt die Individuen auf die globale Ebene unter den Schutz des Rechts. Das Völkerrecht nimmt eine neue Stellung ein, weil es nicht mehr der horizontalen Koordination der Staaten dient. Der Frieden und der Schutz der Zivilisation erheben sich in der Vertikalen darüber. Jackson folgert diese Rolle des Völkerrechts aus den Verbrechen 95
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und formuliert damit als Erwartung für die Zukunft, dass das Recht den Schutz gewährleisten soll. Dem unterliegt die Vorstellung eines vertikalen Modus der Kooperation und der Institutionalisierung entsprechender normativer Erwartungen. Im Rahmen dieser globalen Verflechtung des Friedens und der Zivilisation können internationale Organisationen wie das ICRC oder das Institute de Droit International eine größere Rolle spielen. Sie vertreten zwar immer noch einen bestimmten Ausschnitt des Horizonts der Weltgesellschaft, aber sie befinden sich in einem weltgesellschaftlichen Horizont. Die Nürnberger Prozesse markieren in den Eröffnungsreden, dass emergente Strukturen entstehen. Dies zeigen die Hauptankläger durch die Zivilisation als Figur des Dritten an und rechtfertigen damit die strafrechtliche Verfolgung der NS-Funktionäre. Im Verständnis der Hauptankläger gibt es keine kommunikativen Grenzen oder Trennungen mehr, die die Staaten im 19. Jahrhundert aufgebaut und aufrechterhalten hatten. Die globale Verflechtung ist in Bezug auf die Menschheit und den Menschen als Individuum sichtbar. Der Kern der individuellen Strafbarkeit auf völkerrechtlicher Basis liegt da rin, den Unterschied zum Nationalen in der Vermittlung durch den Staat aufzugeben und die kommunikative Erreichbarkeit jedes Menschen anzuerkennen. Die globale Verflechtung geht mit der Weltöffentlichkeit einher, auf die sich die Hauptankläger mit der Welt, der Menschheit und der Zivilisation beziehen. »Öffentlichkeit ist […] die innere Umwelt […] eines Systems« (Stichweh 2002: 60). Stichweh beschreibt die Entstehung der Weltöffentlichkeit bereits ab dem 18. Jahrhundert (Stichweh 2002: 57; vgl. Habermas 2019). Mit der Öffentlichkeit braucht es auch ein Publikum als anonyme Beobachter. Das Publikum nimmt eine Beobachterrolle im Unterscheid zu Leistungsrollen eines sozialen Systems ein. Während Leistungsrollen in der Regel beschränkt zur Verfügung stehen, kann das Publikum unbegrenzt sein. Es ist nicht durch räumliche Formen der Integration beschränkt (Stichweh 2002: 59). Das Publikum benutzt Beobachtungskategorien, die die institutionellen Muster zur Verfügung stellen. Eine solche Weltöffentlichkeit bildet die Umwelt zu allen anderen gesellschaftsinternen Systemen und gibt der Umwelt ihre Struktur. Die Hauptankläger adressieren die Umwelt und beziehen die Nürnberger Prozesse als soziales System auf die Struktur dieser Umwelt. Anders formuliert verflechten sie das in Nürnberg lokalisierte Verfahren mit der Weltgesellschaft. Sie leiten damit die Institutionalisierung der durch die Siegermächte vereinbarten Verbrechenstatbestände ein. Zivilisation, Welt, Menschheit sind Subjekte und auf sie können die Ankläger den Schaden der Verbrechen zurechnen. Allerdings bleiben diese Figuren stets unterschiedliche Bezeichnungen für die Öffentlichkeit, die mit dem Publikum als Dritte das normative Erwarten absichert. Die Vertikalisierung der internationalen öffentlichen Ordnung ergibt sich nicht 96
ZWISCHENFAZIT
aus dem Vorhandensein einer globalen Öffentlichkeit, sondern mit den diese Öffentlichkeit repräsentierenden Dritten. Diese Rolle des Dritten differenziert sich beispielhaft mit dem ICRC und dem Institut de D roit International aus und beginnt damit die Institutionalisierung des Völkerrechts. Das Besondere dieser Absicherung zeigen die Hauptankläger mit dem Verweis auf die historische Dimension an. Sie verorten den Bruch gegenüber der Zivilisation und im globalen Kooperationsmodus, der die Möglichkeitsbedingungen für die Verbrechen geschaffen hat. Gegenüber dem vorherigen Zivilisationsstandard erhält der Begriff »Zivilisation« seinen Bezug zu menschlichen Errungenschaften, verliert aber gleichzeitig seine Kraft, die Trennung der Kooperationsmodi weiterhin zu begründen (Erstes Kapitel: III.). Erst die Umdeutung des Zivilisationsbegriffs in einem vertikalen Modus der Kooperation ermöglicht, einen Zivilisationsbruch in den Verbrechen des Nationalsozialismus zu identifizieren (Erstes Kapitel: IV.). Der Aufbau der internationalen Strafverfolgung als institutionellen Muster beruht auf einem Bruch mit den vorherigen Umweltbedingungen. Daraus resultiert eine Ausweitung der kommunikativen Reichweite der Zivilisation auf die gesamte Welt. Sobald die Hauptankläger als erste diese Weltöffentlichkeit als Dritte abrufen, emergiert die Struktur internationaler Strafverfolgung. Die Nürnberger Prozesse arbeiten unter den Umweltbedingungen dieser weltgesellschaftlichen Öffentlichkeit und strukturieren den weltgesellschaftlichen Möglichkeitshorizont um. Gemeinsam mit der Gründung der Vereinten Nationen entsteht ein veränderter Rahmen im vertikalen Modus der Kooperation. Innerhalb dieser emergenten Struktur des vertikalen Modus der Kooperation entstehen weitere völkerrechtliche Verträge, die die Erwartungsstruktur ausdifferenzieren. Schließlich ist es dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in den 1990ern möglich, zwei ad hoc Tribunale aufgrund der Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu gründen (vgl. Iriye 2004: 60 ff.). Dieser veränderte Möglichkeitshorizont geht auf den vertikalen Modus der Kooperation zurück. Die Institutionalisierung der internationalen Strafverfolgung folgt dieser Entwicklung emergenter Strukturbildung.
VI. Zwischenfazit: Das institutionelle Muster internationaler Strafverfolgung Das Konzept der Institutionalisierung bietet eine theoriebasierte Antwort auf die Frage, wie die internationale Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation entstehen konnte. Die historische Rekonstruktion entlang der Unterscheidung des horizontalen und vertikalen Modus 97
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der Kooperation hatte gezeigt, wie sie sich entwickelt hat, aber bot selbst keine Erklärung für das Phänomen an. Die Institutionalisierung internationaler Strafverfolgung löst vom theoretischen Standpunkt das Problem doppelter Kontingenz. Die Staaten haben zwar in völkerrechtlichen Verträgen wechselseitiges Erwarten vereinbart, allerdings sichert kein Dritter dieses Erwarten durch eigenes Erwarten ab. Indem ein Dritter das Erwartungserwarten von A und B erwartet, entsteht eine Öffentlichkeit für ihr Verhalten gegenüber ihrem wechselseitigen Erwarten. Dies garantiert nicht, dass A und B ihr wechselseitiges Erwarten erfüllen, aber ermöglicht dem Enttäuschten, an seinem Erwarten festzuhalten. Der Enttäuschende muss sich sein Verhalten öffentlich zurechnen lassen und kann die Enttäuschung nicht als private Meinungsverschiedenheit ausweisen. Ob und welche Konsequenzen tatsächlich aus dem Verhalten folgen, bleibt offen. Allerdings eröffnet die Institutionalisierung einen Möglichkeitshorizont und schreibt die Erwartungsstruktur fest. Dieser Möglichkeitshorizont ist global. Die Theorie der Weltgesellschaft beschreibt einen globalen Kommunikationszusammenhang, der einerseits die unteren Ebenen determiniert und andererseits das Ergebnis emergenter Strukturbildung ist. Die Institutionalisierung internationaler Strafverfolgung greift dies in zwei Prozessen auf: Diffusion institutioneller Muster und globale Vernetzung. Die Diffusion institutioneller Muster beschreibt, wie Beobachtungs- und Vergleichskategorien entstehen und zum Bezugspunkt für Verhalten werden. Die globale Vernetzung ergänzt diesen Prozess, indem sie aufzeigt, wie kommunikative Reichweite expandiert und eine Weltöffentlichkeit die Rolle des Dritten übernimmt. Beide Prozesse historisieren die Institutionalisierung, um das institutionelle Muster internationaler Strafverfolgung auf der Ebene der Weltgesellschaft beschreiben zu können. Im Prozess der Diffusion institutioneller Muster bedingt die staatliche Souveränität die Entstehung internationaler Strafverfolgung. Im 19. Jahrhundert trägt der Zivilisierungsstandard die Parallelität des horizontalen Modus innerhalb Europas und des vertikalen Modus außerhalb Europas. Auf der Berliner Kongokonferenz von 1864 ist diese Parallelität der Modi präsent, weil allein die europäischen Staaten über Landnahme und Schifffahrt auf dem afrikanischen Kontinent verhandeln. Der Zivilisationsstandard stellt ein Kriterium dafür dar, ob sich Staaten als souverän beschreiben können. Die staatliche Souveränität bildet eine Vergleichs- und Beobachtungskategorie, die den Modus der Kooperation vorgibt. Gleichzeitig führt der Zivilisierungsgedanke innerhalb des europäischen Gleichgewichts und der souveränen Staaten zu völkerrechtlichen Verträgen, mit denen sie das wechselseitige Erwarten ausdifferenzieren. Der Lieber Code aus dem US-amerikanischen Bürgerkrieg markiert den Beginn erster positivrechtlicher Erwartungen an das Verhalten von Soldaten. Die Genfer Konvention von 1864 sowie die 98
ZWISCHENFAZIT
Haager Abkommen setzen diese Entwicklung fort. Allerdings bleibt die Institutionalisierung dieser Erwartungen für die internationale Strafverfolgung unvollständig. Das ICRC und das Institut de Droit International finden im horizontalen Modus der Kooperation keinen Platz, um als Dritte eine Weltöffentlichkeit für Stabilisierung der wechselseitigen Erwartungen zu mobilisieren. Allerdings beginnt mit diesen internationalen Organisationen die globale Vernetzung völkerrechtlicher Erwartungen. Das ICRC und das Institut de Droit International versuchen, die Rolle des Dritten einzunehmen. Allerdings gelingt dies nicht, weil sie nicht als eigenständige Vertreter an den Verhandlungstisch der Staaten geladen wurden. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Nürnberger Prozesse markieren den Weg zur Institutionalisierung einer internationalen Strafverfolgung. Moynier hatte diese bereits nach dem preußisch-französischen Krieg von 1870/71 gefordert und sie war auch Teil des Versailler Friedensvertrags nach dem Ersten Weltkrieg, allerdings fehlte der Möglichkeitshorizont. In den Nürnberger Prozessen rufen die Hauptankläger die Welt, die Zivilisation und die Menschheit als direkt betroffene Subjekte auf und adressieren damit die Weltöffentlichkeit. Sie fungiert als Dritte gegenüber den von den Siegermächten beschlossenen Verbrechenstatbeständen, die die Grundlage für die Nürnberger Prozesse bilden. Der Zivilisationsgedanke verliert seine Funktion, um die Parallelität der Kooperationsmodi zu begründen. Vor der Weltöffentlichkeit expandiert die kommunikative Reichweite der Verbrechenstatbestände als globale Vergleichs- und Beobachtungskategorie. In den Beschlüssen der Generalversammlung der Vereinten Nationen und den völkerrechtlichen Verträgen bestätigen und untermauern die Staaten das institutionelle Muster internationaler Strafverfolgung. Der Möglichkeitshorizont verändert sich mit dem Zweiten Weltkrieg und bietet im vertikalen Modus der Kooperation eine andere Erwartungsstruktur an. Die staatliche Souveränität allein hat sich nicht als friedens- und ordnungssichernder Garant erwiesen, deshalb entstehen in der Vertikalen übergeordnete Schutzinteressen, die eine emergente Strukturbildung der Weltgesellschaft nach sich ziehen. Die Weltgesellschaft kannte bereits vor dem Zweiten Weltkrieg die Parallelität des horizontalen und des vertikalen Modus der Kooperation als globalen Kommunikationszusammenhang. In dieser Parallelität leistete sie jedoch nicht die volle Institutionalisierung völkerrechtlicher Erwartungen, weil die Parallelität der Modi die globale Vernetzung verhinderte und kommunikative Reichweite begrenzte. Ein Dritter fand keinen Platz, der das Erwarten stabilisieren konnte. Die Institutionalisierung beschreibt einen engen Zusammenhang eines sozialen Systems mit seiner Umwelt. Die zuvor beschriebene Weltöffentlichkeit, in der sich Dritte auszudifferenzieren beginnen, bildet innerhalb der Weltgesellschaft die interne Umwelt für alle sozialen Systeme. 99
DIE INSTITUTIONALISIERUNG INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
Indem diese Umwelt von institutionellen Mustern als Beobachtungs- und Vergleichskategorien Gebrauch macht, bildet sie die Struktur der Weltgesellschaft ab. Die sozialen Systeme wie der IStGH und seine Verfahren müssen sich an diese Struktur anpassen. Dafür institutionalisieren sie die Erwartungsstruktur und machen sie zu ihrer operativen Grundlage. Diese Anpassung der sozialen Systeme an ihre Umwelt stabilisiert die Erwartungsstruktur der Weltgesellschaft, weil sie normativ an den Erwartungen gegenüber der Umwelt festhalten können. Auf der Grundlage dieser Annahme muss sich das beschriebene institutionelle Muster internationaler Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation auf der Ebene der Organisation und der Verfahren wiederfinden. Diese Annahme folgt der These der Makrodetermination weltgesellschaftlicher Struktur. Demnach ist diese emergente Struktur irreduzibel und kommt auf allen Systemebenen vor. Die Diffusion des institutionellen Musters am IStGH und seinen Verfahren zu verfolgen, bietet die Möglichkeit, die bisherige Analyse zu überprüfen und ein differenzierteres Bild internationaler Strafverfolgung in ihrer Umsetzung zu erhalten. Die historische Rekonstruktion und Institutionalisierung auf der Ebene der Weltgesellschaft bezog sich auf die Verpflichtung der Staaten zur Zusammenarbeit mit dem IStGH nach Art. 86 RS. Diese Erwartung fußt auf weltgesellschaftlichen Institutionalisierungsprozessen, die den dort verankerten vertikalen Modus der Kooperation hervorgebracht haben. An diese Erwartung schließt das Prinzip der Komplementarität nach Art. 17 RS an, weil es die internationale Strafverfolgung nur zulässt, wenn der Staat nicht willens oder in der Lage ist, die Strafverfolgung selbst zu übernehmen. Innerhalb des vertikalen Modus bleibt die Horizontale erhalten und das Verhältnis zwischen Vertikaler und Horizontaler tariert das Komplementaritätsprinzip in der Strafverfolgung internationaler Verbrechen aus. Das Prinzip der Komplementarität verlagert die Struktur der weltgesellschaftlichen Umwelt in den IStGH. Daher stellt sich die Frage, wie der Gerichtshof an diese Bedingungen angepasst ist und welche Struktur er auf der Organisationsebene ausbildet.
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Drittes Kapitel: Der IStGH und seine Umwelt. Komplementarität staatlicher Souveränität und internationaler Strafverfolgung Die Institutionalisierung internationaler Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation setzt sich auf der organisationalen Ebene fort. Während die Weltgesellschaft selbst nicht entscheidungsfähig ist, aber den strukturellen Rahmen für den Möglichkeitshorizont bietet, müssen der IStGH, die Staaten und die Individuen innerhalb dieser weltgesellschaftlichen Umwelt interagieren. Indem sich der IStGH und die Staaten an diese Umweltbedingungen anpassen, institutionalisieren sie die Erwartungsstruktur der internationalen Strafverfolgung. Kennzeichnend hierfür ist das Prinzip der Komplementarität: Die Staaten sind zwar zur Zusammenarbeit mit dem IStGH nach Art. 86 RS verpflichtet, dabei steht der IStGH jedoch explizit im Ergänzungsverhältnis zur staatlichen Strafverfolgung (Art. 1 RS). Zusammenarbeitspflicht und Komplementaritätsprinzip scheinen sich auszubalancieren, indem sie in unterschiedliche Richtungen weisen. Während die Zusammenarbeitspflicht die Staaten auf die Vertikale hin zur internationalen Strafverfolgung orientiert, bietet das Komplementaritätsprinzip den Ausweg davon zu souveräner staatlicher Strafverfolgung. Dieses Spannungsfeld der normativen Erwartungen führt zu konkreten Konflikten in der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH. Die weltgesellschaftliche Makrodetermination trifft den IStGH, indem der Gerichtshof als Organisation mit seiner Umwelt aus Staaten, Personen, internationalen sowie nationalen Organisationen und Spruchkörpern umgehen muss. Die Organisation der internationalen Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation liegt beim IStGH. Wie ist er als Organisation in die Weltgesellschaft eingelassen? Das Prinzip der Komplementarität greift, wenn der IStGH prüft, ob seine Gerichtsbarkeit zulässig ist (Art. 17 I RS). Die Staaten haben im Römischen Statut mit diesem Prinzip eine Entscheidungsregel für den IStGH vereinbart, die den Vorrang staatlicher Strafverfolgung begründet. Der Vorrang staatlicher Strafverfolgung hebt die Verpflichtung der Staaten zur Zusammenarbeit mit dem IStGH nicht auf. Der IStGH muss wiederum sicherstellen, dass auch im staatlichen Strafverfahren die Standards des Völkerstrafrecht eingehalten werden. Das Prinzip der Komplementarität begründet damit ein bestimmtes Verhältnis des IStGH zu seiner Umwelt im Allgemeinen und zu den Staaten im Besonderen. 101
DER ISTGH UND SEINE UMWELT
Diese Annahme makrodeterminativer Institutionalisierung in der Weltgesellschaft lässt sich mit einer Analyse der Präambel des Römischen Statuts überprüfen. Das Römische Statut ist einerseits das Gründungsdokument des IStGH und andererseits die Kodifizierung des Völkerstrafrechts. Es legt damit intern die formale Organisationsstruktur des IStGH fest und normiert extern die global geltenden Verbrechenstatbestände des Völkerstrafrechts. Die Präambel ist als Vortext eine Interpretations- und Deutungshilfe zum Haupttext des Statuts. Die Analyse der Präambel mit dem Verfahren der Objektiven Hermeneutik legt die dem IStGH eingeschriebene Struktur sowie seine Umweltbedingungen frei (I.). Auf diese methodologischen Vorbemerkungen folgt die Strukturrekonstruktion der Präambel. Die im Gruppenverfahren sequentiell analysierte Präambel zeigt die Anschlüsse an die erarbeitete historische Rekonstruktion und Institutionalisierung, indem sie diese Bezüge in einzelnen Absätzen herstellt und so das Verhältnis des IStGH zu seiner Umwelt festlegt. Die Darstellung dieser Analyse ist ergebnisorientiert gegliedert, um eine bessere Übersichtlichkeit für den Leser in Anbetracht der extensiven Auslegung der Präambel zu gewährleisten. Die Ergebnispräsentation setzt am Anfang des Textes an und führt die vorgenommene Interpretation für die ersten beiden Sinnabschnitte vor. Gleichzeitig adressiert dieser erste Teil das System-Umwelt-Verhältnis anhand der Parenthese als textliches Innen-/Außen-Verhältnis (II.). Darauf folgt die Innenseite der Parenthese, die den Haupttext der Präambel umfasst. Die Darstellung ist gleichfalls thematisch gegliedert, hält sich jedoch an die sequentielle Abfolge des Textes. Die thematischen Schwerpunkte der Ergebnispräsentation heben den Bezug der Sinnabschnitte zueinander hervor und zeigen, wie der Text sich und zugleich eine soziale Wirklichkeit entfaltet, aus der heraus der Internationale Strafgerichtshof entsteht. In diesem strukturrekonstruktiven Vorgehen kommt die generative Regel zum Vorschein und bestimmt nicht nur das System-Umwelt-Verhältnis, sondern beschreibt, wie dieses Verhältnis durch die Umwelt makrodeterminiert ist und der IStGH als entstehendes Organisationssystem eine emergente Struktur auf der Grundlage des Römischen Statuts ausbildet (III.). Diese ausführliche Analyse ermöglicht, eine Strukturhypothese zu formulieren. Diese Hypothese ist einerseits empirisch gewonnen und andererseits in die bisherige Argumentation eingebettet. Sie bildet die Grundlage für die weitere Analyse der Verfahren, weil sie die bisherigen Überlegungen von der weltgesellschaftlichen auf der organisationalen Ebene fundiert. Von dieser Ebene sind weitergehende Fragen zur internationalen Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation zu klären (IV.). 102
I. Strukturrekonstruktion in der Präambel des Römischen Statuts Um die Institutionalisierung internationaler Strafverfolgung auf der Ebene der Organisation zu beobachten, fällt der Blick auf die Präambel des Römischen Statuts. Die Präambel bildet den Ausgangspunkt für die Überprüfung dieser Annahme, weil sie das Römische Statut einleitet. Sie ist zum einen Vorwort und zum anderen feierliche Erklärung. Das Vorwort präsentiert die maßgebende Wahrnehmung auf den folgenden Haupttext und hebt damit den tragenden Zusammenhang der Texterstellung hervor. In diesem Sinne legt die WVRK für die Auslegung von Verträgen fest, dass in der Präambel der Zusammenhang, die Gründe und Relevanz für die Übereinkunft zu erforschen sind (Art. 31 Abs. 2 WVRK). Das Römische Statut bietet in seiner Präambel die Perspektive, die einerseits dazu geführt hat, den Gerichtshof zu gründen, und die andererseits auch expliziert, welche Funktion der Gerichtshof zu erfüllen hat. Demnach impliziert die Präambel die Struktur internationale Strafverfolgung im Modus vertikaler Kooperation. Die staatliche Souveränität und die internationale Strafverfolgung sind als institutionelle Muster Teil der Struktur dieses Modus der Kooperation. Die Staaten haben diesen Modus der Kooperation anhand der Verpflichtung zur Zusammenarbeit und dem Prinzip der Komplementarität für den IStGH aufgrund der historischen Pfadabhängigkeiten etabliert (vgl. Erstes Kapitel). Die Untersuchung der Präambel ermöglicht, diese institutionellen Muster der Weltgesellschaft in der Umwelt des IStGH zu identifizieren. Die Präambel nimmt Bezug auf externe institutionelle Muster, um die Gründung des Gerichtshofs zu legitimieren. Einerseits validiert die Analyse der Präambel vom weltgesellschaftlichen Standpunkt die Struktur internationaler Strafverfolgung hinsichtlich ihrer historischen Pfadabhängigkeiten als implizite Prämissen der Organisationsgründung. Andererseits identifiziert die Untersuchung vom organisationalen Standpunkt die Umweltabhängigkeiten im besonderen Hinblick auf die Institutionen und zeigt damit auf, unter welchen Bedingungen der IStGH entscheidet. Diese Überlegung lässt sich im Hinblick auf das Prinzip der Komplementarität plausibilisieren. Das Prinzip der Komplementarität zeigt das Konfliktpotential zwischen den institutionellen Mustern internationaler Strafverfolgung und staatlicher Souveränität auf. Anhand dieses Prinzips ist das Verhältnis des IStGH zu seiner Umwelt sichtbar. Unter der Voraussetzung, dass die Weltgesellschaft nicht entscheidungsfähig ist, reguliert das Komplementaritätsprinzip das System-Umwelt-Verhältnis in einer organisationalen Entscheidungsregel. Diese Entscheidungsregel bildet die Umweltbedingungen im IStGH ab und determiniert den IStGH 103
DER ISTGH UND SEINE UMWELT
auf konkrete Verfahrensentscheidungen. Das Komplementaritätsprinzip leitet sich aus Absatz 10 der Präambel und Artikel 1 RS ab: »nachdrücklich darauf hinweisend, dass der aufgrund dieses Statuts errichtete Internationale Strafgerichtshof die innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit ergänzt« (Abs. 10 Präambel RS). »er ergänzt die innerstaatliche Gerichtsbarkeit« (Art. 1 RS).
Damit ist das Prinzip noch vage. Allerdings bleibt die Orientierung an einer Strafverfolgung und präzisiert die grundsätzliche Verpflichtung zur Zusammenarbeit zur Frage, wer die Gerichtsbarkeit ausübt. In Verbindung mit (i.V.m.) Artikel 17 Abs. 1 nennt das Römische Statut die Bedingungen für die Beantwortung dieser Frage: »(1) Im Hinblick auf Absatz 10 der Präambel und Artikel 1 entscheidet der Gerichtshof, dass eine Sache nicht zulässig ist, wenn […]«
Zunächst unterstellt die Formulierung, dass jede Sache zulässig ist und nur unter den nachfolgenden Bedingungen ihre Zulässigkeit verliert. Allerdings trifft der Bedingungssatz nicht die Entscheidung zwischen internationaler oder staatlicher Strafverfolgung. Das Prinzip der Komplementarität hält den aufklaffenden Möglichkeitsraum fest. Der IStGH muss in jedem Fall entscheiden. Institutionelles Muster
Bedingung 1
Bedingung 2
Staatliche Souveränität (Horizontale)
»a) in der Sache von einem Staat, der Gerichtsbarkeit darüber hat, Ermittlungen oder eine Strafverfolgung durchgeführt werden,« (Art. 17 Abs. 1 a) 1. Halbsatz RS)
»b) in der Sache von einem Staat, der Gerichtsbarkeit darüber hat, Ermittlungen durchgeführt worden sind, und der Staat entschieden hat, die betreffende Person nicht strafrechtlich zu verfolgen,« (Art. 17 Abs. 1 b) 1. Halbsatz RS)
Internationale Strafverfolgung (Vertikale)
»es sei denn, der Staat ist nicht willens oder in der Lage, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen;« (Art. 17 Abs. 1 a) 2. Halbsatz RS)
»es sei denn, die Entscheidung war das Ergebnis des mangelnden Willens oder des Unvermögens des Staates, eine Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen;« (Art. 17 Abs. 1 b) 2. Halbsatz RS)
Abbildung 3. Das Komplementaritätsprinzip nach Art. 17 RS.
Die Unterabsätze a) und b) des Art. 17 Abs. 1 RS spiegeln die Struktur des Modus vertikaler Kooperation wider und führen darüber hinaus 104
STRUKTURREKONSTRUKTION IN DER PRÄAMBEL DES RÖMISCHEN STATUTS
weitere Bedingungen für die Entscheidung ein. Die staatliche Souveränität begründet die Unzulässigkeit einer Sache vor dem IStGH und beschreibt damit das Ergänzungsverhältnis zu Gunsten der Staaten. Der betroffene Staat kann für diese Prüfung seine eigene Strafverfolgung anführen. Allerdings prüft der IStGH dann den Willen und das Vermögen des Staates, die Strafverfolgung durchzuführen. Diese Bedingung steht jedoch selbst jeweils unter einer Bedingung, die die Möglichkeit internationaler Strafverfolgung sichert. Der IStGH kann die staatliche Strafverfolgung überprüfen. Die Kriterien für den mangelnden Willen sind in Abs. 2 und das Unvermögen in Abs. 3 des Art. 17 RS festgelegt. Das Völkerstrafrecht ist hinsichtlich seiner Tatbestände und Rechtsgrundsätze damit nicht disponibel. Es ist nur offen, ob der IStGH oder ein staatliches Gericht die Strafverfolgung übernimmt. Der vertikale Modus der Kooperation ist mit dem Komplementaritätsprinzip keine neuerliche Alternative. Die Entscheidung zwischen staatlicher und internationaler Strafgerichtsbarkeit betrifft die Ausführung. Der vertikale Modus der Kooperation ist für die internationale Strafverfolgung durch den IStGH vorausgesetzt. Das Prinzip der Komplementarität bestimmt das Verhältnis des IStGH zu seiner Umwelt. Der IStGH rekonstruiert die Struktur des vertikalen Modus der Kooperation hinsichtlich der institutionellen Muster (internationale Strafverfolgung und staatliche Souveränität) aus seiner Umwelt als Entscheidung über die Ausübung der Gerichtsbarkeit. Luhmann weist darauf hin, dass Organisationen sich Regeln geben können, um »die Umwelt für beachtlich zu halten« (Luhmann 2015a: 828). Dies geschieht mit dem Prinzip der Komplementarität. Der IStGH legt mit dieser Entscheidung fest, ob er Ermittlungen einleitet und damit ein Verfahren aufnimmt (Art. 53 Abs. 1 b) RS). In Folge dieser Entscheidung erklärt der IStGH einen Ausschnitt der Umwelt für beachtlich und durchsucht die Situation nach internationalen Verbrechen. Allerdings hat der IStGH sich diese Regel nicht selbst auferlegt. Die Struktur der Entscheidungsregel folgt aus dem Römische Statut. Die formale Struktur ist entgegen Luhmann kein Ergebnis eigener Entscheidung, aber Prämisse der Entscheidungen des IStGH (vgl. 2015b: 834 f.). Das Prinzip der Komplementarität bietet mit der Rekonstruktion der institutionellen Muster aus der Umwelt in den IStGH eine Entscheidung aus zwei Alternativen an. Die Entscheidung begründet sich als die Differenz der Alternativen und ist damit stets das ausgeschlossene Dritte (Luhmann 2018: 308). Die Entscheidungsregel des Komplementaritätsprinzips führt den Zwang zur Entscheidung und zur Wiederholung der Entscheidung für jede neue Situation ein. Das Verhältnis zwischen internationaler Strafverfolgung und staatlicher Souveränität ist »etwas prinzipiell Unentscheidbares« (Luhmann 2018: 308). Daraus entsteht erst der Bedarf, für jede Situation erneut zu entscheiden. Eine Entscheidung 105
DER ISTGH UND SEINE UMWELT
für internationale Strafverfolgung in einer Situation determiniert nicht die Entscheidung in einer anderen Situation (vgl. Luhmann 2018: 309). Dies unterstützt die vorausgehende Darstellung des vertikalen Modus der Kooperation, weil der IStGH mit dieser Entscheidung die Struktur der Umwelt für jedes Verfahren reproduzieren muss. Die Komplexität der vorgestellten historischen Entwicklungen und Pfadabhängigkeiten, die diese Struktur internationaler Strafverfolgung ihrerseits bedingen, treten implizit als Frage der Gerichtsbarkeit auf. Die Spannung besteht demnach darin, auf der Grundlage des Völkerstrafrechts stets neu zu entscheiden, wer die ausführende Instanz in einer konkreten Situation ist. Der IStGH muss das Verhältnis zwischen Vertikaler und Horizontaler im vertikalen Modus der Kooperation für jede Situation neujustieren. Das Prinzip der Komplementarität trägt den von Koh formulierten Widerspruch Horizontaler und Vertikaler in sich und regt die Strukturbildung auf der Organisationsebene in Form dieser Entscheidungsregel an. Wenn die Entscheidungen auf Basis des Prinzips der Komplementarität die Struktur der Umwelt reproduzieren, dann rückt das Verhältnis des IStGH als Organisation zu dieser Umwelt in den Vordergrund. Paul DiMaggio und Walter Powell argumentieren, dass Organisationen und ihre Umwelt durch einen institutionellen Isomorphismus geprägt seien (1983: 150). Der Isomorphismus ist ein beschränkender Prozess, in dem sich Organisationen an die Umweltbedingungen anpassen, um weiterbestehen zu können (1983: 149). DiMaggio und Powell greifen dabei auf den Neo-Institutionalismus von John Meyer zurück (1983: 149). Im Verständnis von John Meyer und Brian Rowan ist die Institutionalisierung ein Prozess der Regelwerdung und damit stets vom tatsächlichen Verhalten zu unterscheiden (1977: 341). Die institutionellen Muster der internationalen Strafverfolgung und der staatlichen Souveränität sind die Quelle für die formalen Regeln (vgl. Meyer/Rowan 1977: 341). Im Römischen Statut sind diese auf den institutionellen Mustern ausformulierten Regeln die Verpflichtung zur Zusammenarbeit nach Art. 86 RS und das Prinzip der Komplementarität nach Art. 17 RS. Diese formalen Regeln reflektieren die Strukturen der sozialen Wirklichkeit (Meyer/Rowan 1977: 343) und schreiben diese in die Arbeit des IStGH ein. Der IStGH ist im Hinblick auf die Strafverfolgung und auf die historischen Pfadabhängigkeiten von seiner Umwelt und damit für seine gegenwärtige Arbeit vom Ausbalancieren der internationalen Strafverfolgung mit den Staaten in seiner Umwelt abhängig (vgl. Meyer/Rowan 1977: 345). Die politische Umwelt des IStGH hat dabei stets direkte Auswirkungen auf den Gerichtshof (vgl. DiMaggio/Powell 1983: 150), weil die kollektiv verbindlich getroffen Entscheidungen eines Staates dem Gerichtshof die Ermittlungen in einem Land erheblich erschweren können. Dabei treffen nicht nur Staaten solche Entscheidungen, der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kann nach Art. 16 RS Ermittlungen und 106
STRUKTURREKONSTRUKTION IN DER PRÄAMBEL DES RÖMISCHEN STATUTS
Strafverfolgung des IStGH für zwölf Monate aufschieben. Internationalen Organisationen sind nicht an die Pflicht zur Zusammenarbeit gebunden. Daneben können Staaten nach dem Prinzip der Komplementarität daran festhalten, dass ihre eigene Strafverfolgung Vorrang hat. Der IStGH kann sich zwar auf die internationale Strafverfolgung stützen, aber er muss sich durch die ebenfalls eingepflegte staatliche Souveränität an eine komplexe Umwelt anpassen. Diese Anpassung ist nach Art. 17 RS eine zu wiederholende Entscheidung. Die Regel ist damit nicht eine generalisierte Entscheidung, sondern sie formalisiert die Wahl zwischen den Alternativen der staatlichen oder internationalen Strafverfolgung als wiederkehrende Entscheidung. Die weltgesellschaftliche Makrodetermination drückt sich in Form dieser Entscheidungsregel auf der Ebene der Organisation aus. Der IStGH ist gegenüber der weltgesellschaftlichen Ebene entscheidungsfähig. Meyer und Rowan (1977) argumentieren, dass sich Organisationen Institutionen an ihre Umwelt anpassen, indem sie diese als externe Elemente einbauen. »They incorporate environmental structures« (Scott 1991: 179). Dies gewährt den Organisationen eine spezifische Funktion und Legitimation aus der Umwelt und damit für die Umwelt. Diese Umwelt ist stets die Weltgesellschaft in ihren unterschiedlich ausdifferenzierten Erscheinungsformen, sodass die Organisationen weltgesellschaftliche Funktionen ausüben. Der IStGH begründet seine Existenzberechtigung auf der internationalen Strafverfolgung aus der vorangegangenen Historie. Die institutionellen Muster der internationalen Strafverfolgung und der staatlichen Souveränität sind damit nicht nur Gegenstand der Entscheidungsregel nach dem Prinzip der Komplementarität. Der vertikale Modus der Kooperation ist die Umweltbedingung des Gerichtshofs. Dieser Modus ist in Anlehnung an Meyer und Rowan ein Element der Umwelt, auf das der IStGH Bezug nimmt, um zu bestehen. Martin Koch argumentiert, dass Weltorganisationen zur Genese der Weltordnung beitragen und zeigt damit ein spezifisches Umweltverhältnis einer internationalen Organisation wie dem IStGH zur internationalen öffentlichen Ordnung auf. Diese Organisationen sind nicht mehr zwischenstaatliche Koordinationsforen wie internationale Organisationen. Die Weltorganisationen haben sich in ihrer Funktionserfüllung gegenüber den Staaten verselbstständigt (Koch 2008: 170 ff.). Dies zeigen diese Organisationen durch einen expliziten semantischen Bezug zur Welt auf, indem sie ihre Funktion nicht mehr auf zwischenstaatliche Aufgaben begrenzen, sondern ihre Funktion in Bezug auf die Welt darstellen (Koch 2015: 109 f.). Die externen Beziehungen der Weltorganisationen sind daher nicht mehr begrenzbar (Koch 2015: 116). Die Weltorganisationen absorbieren Unsicherheit und Kontingenz, indem sie einen Verhaltensrahmen bieten (Koch 2015: 119; vgl. Luhmann 2014: 12). Koch schreibt Weltorganisationen bzw. internationalen Organisationen 107
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folgende Eigenschaft zu: »IOs generate order in global politics through the formulation of norms, rules and binding standards. They support the implementation of the latter, provide oversight and monitor infringements, pronounce sanctions or function as legitimizing or mediating instances« (2015: 119). Dieser Darstellung Kochs fehlt im Hinblick auf die Grundidee, Organisationen in der Weltgesellschaft zu denken, die Einflechtung in die Weltgesellschaft selbst. Meyer und Rowan sowie DiMaggio und Powell helfen hier aus, indem sie die Umwelt der Organisationen stärker adressieren. Der IStGH ist explizit durch den vertikalen Modus der Kooperation in die Weltgesellschaft eingebettet und stellt insofern seinen Bezug zur Welt her. Die Verselbstständigung der Weltorganisationen reicht so weit, dass sie nicht mehr allein von Staaten abhängig sind (Boli/Thomas 1997: 172). Dadurch erweitert sich der Ausschnitt der Umwelt auf die weltgesellschaftliche Umwelt. Aus dieser Umwelt kann die Weltorganisation jedoch nur einen spezifischen Ausschnitt bearbeiten. Die Weltorganisation besteht in einem doppelten Verhältnis: Einerseits orientiert sie sich an der Welt als Umwelt, andererseits kann sie aus der Umwelt nur einen Ausschnitt bearbeiten. Dieser bearbeitbare Ausschnitt begrenzt die Anzahl der Institutionen, an denen sich die Weltorganisationen orientiert, um ihren Bestand zu rechtfertigen. Die Prüffrage lautet daher, ob sich die Institutionen aus der weltgesellschaftlichen Umwelt im Römischen Statut als Grundlage für den IStGH wiederfinden. Während die bisherige Argumentation von der Ebene der Weltgesellschaft die Makrodetermination der Struktur internationaler Strafverfolgung aufzeigt, kann die empirische Analyse der Präambel den umgekehrten Weg gehen. Mit ihr kann die herausgearbeitete Struktur empirisch rekonstruiert werden. Die Analyse der Präambel setzte keinen Kontext voraus, der für die Ebene der Weltgesellschaft ausführlich entlang der historischen Pfadabhängigkeiten diskutiert wurde. Dieses entgegengesetzte Vorgehen hat den Vorteil einer jeweils unabhängigen Thesenbildung über die Struktur internationaler Strafverfolgung durch den IStGH. Die Kompatibilität beider Thesen zueinander begründet die Validität und die Reliabilität der Ergebnisse in einem doppelten Prüfverfahren. Einer dritten Prüfung unterziehen sich die Ergebnisse in der Untersuchung der Verfahren. In diesem letzten Schritt zeigt sich die Relevanz der herausgearbeiteten Struktur für die praktische Arbeit des IStGH. Für dieses Vorgehen braucht es eine Methodik, die auf Strukturrekonstruktion abzielt. Die Objektive Hermeneutik bietet ein solches Verfahren, um »die Sache selbst zum Sprechen zu bringen« (Oevermann 1983: 244). Der Ausgangspunkt für die Hermeneutik nach Oevermann ist die Sozialisationsforschung anhand von Interaktionen. Allerdings schließt dieser analytische Zugang die Anwendung auf einen geschriebenen Text nicht aus, weil auch in diesem Format objektive Bedeutung 108
STRUKTURREKONSTRUKTION IN DER PRÄAMBEL DES RÖMISCHEN STATUTS
und Struktur herausgearbeitet werden können. Diese entstehen nur nicht in der Interaktion. Im Fall der Präambel ist es das Verhandlungsergebnis verschiedener Staaten und internationaler Organisationen in Form eines geschlossenen Textes. Die Präambel ist als Ausdruck sozialer Wirklichkeit in die soziale Sinnstruktur eingebettet. Die Kürze des Textes (eine Seite) stellt kein methodologisches Hindernis für die Strukturrekon struktion dar. Die extensive Bearbeitung des Textes bringt die generative Struktur zum Vorschein. In diesem Verständnis ist die Strukturhypothese nicht nur textimmanent, sondern schon stets generalisiert (vgl. Wernet 2009: 32) und bezieht sich auf die Umwelt. Auf Basis einer textimmanenten Vorgehensweise gewährleistet die Objektive Hermeneutik, die generativen Struktur des Präambeltextes zu explizieren. Oevermann et al. argumentieren, dass es eine von den Autoren des Textes unabhängige objektive Bedeutung gibt, die in der Sprache der Präambel als generative Struktur des Textes explikationsfähig ist (1979: 383). Der Text stellt aus Sicht Oevermanns et al. »eine eigengesetzliche, mit eigenen Verfahren zu rekonstruierende soziale Realität« (1979: 379) dar. Struktur bezeichnet die objektive Bedeutung und die sie hervorbringenden Regeln (vgl. Bora et al. 1991: 87 f.). Luhmann beschreibt den systemtheoretischen Strukturbegriff als »Bedingungen der Einschränkungen des Bereichs anschlussfähiger Operationen« (2015b: 430). Dieses Verständnis weicht nicht von Oevermanns Strukturbegriff ab, in der Struktur »als Strukturiertheit zugleich Prozeß der Reproduktion« (Oevermann 1983: 271) ist. Ein solcher auf die Bedingungen des Reproduktionsprozesses gerichteter Strukturbegriff bezieht sich in der Präambel des Römischen Statuts auf die Bedingungen der Organisationsgründung vor dem weltgesellschaftlichen Horizont. Die Vor- und Ausformulierung der konkreten Erwartungen an den IStGH in der Präambel schränkt den Bereich anschlussfähiger Operationen ein und bestimmt in dieser Weise die Entscheidungsprämissen des Gerichtshofs. Die im Verfahren der Objektiven Hermeneutik gewonnene Struktur ist generativ, weil sie in der Präambel direkten Bezug auf den zu gründenden IStGH hat. Gleichzeitig ist die Strukturhypothese allgemein, weil die Staaten den IStGH ceteris paribus wie die ad hoc Gerichtshöfe eingerichtet haben. Schließlich unterscheidet sich davon das Bezugsproblem des Römischen Statuts als völkerrechtlichen Vertrag, einen rechtsschöpferischen Akt zu begründen. Der IStGH wendet Recht getrennt von den Vertragsstaaten als dessen Schöpfer an. Dieses Bezugsproblem bildet die Einschränkungen für den IStGH, die Strafgewalt auszuüben. Sowohl die Staaten als auch der IStGH verfügen über sie. Die Strafkompetenz ist nicht mehr exklusiv an das staatliche Gewaltmonopol gebunden. Die Staaten haben eine Strafinstanz neben sich begründet und damit die Struktur des vertikalen Modus der Kooperation in der Gründung des IStGH reproduziert. 109
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Die Objektive Hermeneutik sieht ein sequenzanalytisches Vorgehen vor, in dem die Interpreten sich Wort für Wort aufbauende Sequenzen analysieren. Die Interpretation der Präambel fand als Gruppenanalyse statt. Die Gruppe bestand aus fünf Personen – einschließlich des Autors. Die vier Personen neben dem Autor kannten die Präambel des Römischen Statuts und seinen Kontext nicht. Die Gruppe analysierte den unbekannten Text und kontrollierte die Interpretation, indem sie möglichst viele Lesarten der Worte und der sich aufbauenden Sequenzen aufbrachte und diskutierte. Indem die Interpreten den Text sequentiell interpretierten, konnten sie von den anfangs aufgeworfenen Lesarten Schritt für Schritt Lesarten ausschließen (vgl. Oevermann et al. 1979: 393). Auf diese Weise rekonstruierte die Gruppe ohne Kenntnis über die Motive der Textschöpfer, den intendierten Rezipientenkreis oder den Kontext des Statuts die Struktur aus der Präambel als unabhängige soziale Wirklichkeit. Die Analyse der Präambel baut auf die sequentielle Analyse der Wörter auf und geht dann in eine Feinanalyse in Anlehnung an Oevermann et al. (1979) und Wernet (2009) über. Die Grundlage für die Feinanalyse bildete das zuvor erstellte Protokoll, das aus der Gruppenanalyse entstanden ist. Der Autor gruppierte den zuvor Wort für Wort analysierten Text in Sinneinheiten, in denen die Struktur als wiederkehrendes Moment auftrat. Hierfür ordnete der Autor die Ergebnisse der Sequenzanalyse in den Sinneinheiten unterschiedlichen Ebenen zu (vgl. Oevermann et al. 1979: 394). Durch den Bezug von Sinneinheit auf Sinneinheit verdichteten sich die Ergebnisse zu einer Strukturhypothese. Die Ebenen der Feinanalyse entstammen der Ausarbeitung von Oevermann et al. (1979). Einerseits erfasst die Feinanalyse auf jeder Ebene die Sinneinheiten vollständig und bietet eine eigenständige Interpretation an. Andererseits verdichtet sich die Strukturhypothese über den Bezug von Sinneinheit zu Sinneinheit, der in den Ebenen angelegt ist. Die Prüfung der Strukturhypothese erfolgt dabei mit jeder Sinneinheit. Nur am Text überprüfbare Hypothesen sind zulässig, um voreilige oder unbegründete Interpretationen zu verhindern. Wenn der Text Ausdruck sozialer Wirklichkeit ist, dann braucht es auch nicht mehr als den Text zu ihrer Rekonstruktion (Wernet 2009: 36 f.). Insgesamt handelt es sich um fünf Ebenen, die unterschiedliche Aspekte in den Blick nehmen. Die Ebenen dienen nicht als inhaltsanalytische Kategorien, sondern der Fokussierung des interpretativen Blicks. Die Ebenen sollen garantieren, ausreichend Fragen an das Material zu stellen (Oevermann et al. 1979: 394). Die Ebenen sichern damit auch die Dokumentation und Nachvollziehbarkeit der Feinanalyse ab, indem sie aufzeichnen, welche Schritte bei der Interpretation für die Bildung einer Strukturhypothese unternommen wurden. Während die Ebenen (1) und (2) der textimmanenten Bedeutungsexplikation dienen, kontrollieren die 110
STRUKTURREKONSTRUKTION IN DER PRÄAMBEL DES RÖMISCHEN STATUTS
Ebenen (3) und (4) die Kontexteinbettung der latenten Sinnstruktur methodisch. Schließlich dehnt Ebene (5) die Suchbewegung über den Analyseabschnitt hinaus auf den vorangegangenen Text aus, um durchgängige Kommunikationsfiguren als Grundlage für die Strukturhypothese zu identifizieren. (1) Explikation des einem Abschnitt unmittelbar vorausgehenden Kontextes Diese Ebene »liefert erst die analytische Folie« (Oevermann et al. 1979: 395), vor der die Feinanalyse stattfindet. Wie auch jede Interaktion setzt die Präambel einen Sinnhorizont voraus, auf den sich der Autor verlassen kann. Ohne diese Voraussetzung müsste jede Kommunikation Umgangsformen erst entwickeln. Das Problem doppelter Kontingenz gilt durch die Strukturiertheit der Situation bzw. des Textes als gelöst und ermöglicht in der Objektiven Hermeneutik die Strukturrekonstruktion in Bezug auf dieses theoretische Grundproblem. Die erste Aufgabe besteht darin, den Sinnhorizont zu skizzieren. Für den zu interpretierenden Sinnabschnitt bietet dieser Sinnhorizont eine Auswahl von möglichen sinnvollen Kommunikationsanschlüssen an, aus denen der Autor eine Auswahl trifft. Diese Möglichkeiten gehen über die Subjektivität des Autors hinaus und verweisen direkt auf objektive Bedeutungsstrukturen, mit denen sich der Autor konfrontiert sieht und innerhalb derer er seinen Anschluss individuiert. Diese objektiven Bedeutungsstrukturen erwachsen im vorliegenden Fall aus vorhandenen rechtlichen, politischen und moralischen Umgangsformen. Ihre Explikation zeigt, auf Basis welcher Bedeutungsstrukturen der Autor seinen Anschluss generiert und in der Präambel darstellt. Über diese Ebene entsteht der Bezug der Sinneinheiten zueinander, weil diese Ebene stets die Interpretation des vorausgegangenen Abschnittes aggregiert und als vorausgesetzten Bedeutungshorizont präsentiert. (2) Paraphrase der Bedeutung eines Abschnittes gemäß dem Wortlaut der begleitenden Verbalisierung Auf das Verständnis des kompetenten Sprechers der deutschen Sprache kommt es nun an. Dieses Verständnis erlaubt, einen ersten Zugang zum Analyseabschnitt zu erhalten. Die Situierung des Textes bleibt dabei soweit außen vor, als dass sie nicht im Text expliziert ist. Dieses Vorgehen ruft die unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten auf, wie sie in der Wortanalyse im Fokus standen. Durch die spätere Einbettung dieser Bedeutungsmöglichkeiten in den Kontext wird deutlich, auf welche 111
DER ISTGH UND SEINE UMWELT
spezifische Weise Wörter besetzt und Bedeutungshorizonte entfaltet werden (Oevermann 1979: 396 f.). Dieses von Wernet als »Wörtlichkeitsprinzip« (2009: 23) bezeichnete Vorgehen ist das methodische Komplement zur Annahme des Textes als Ausdruck sozialer Wirklichkeit (Wernet 2009: 23). Erst das Wörtlichkeitsprinzip verankert die Feinanalyse hinsichtlich ihrer Ausführlichkeit und Sparsamkeit auf »Textverstehen als intersubjektiv überprüfbare Operation« (Wernet 2009: 23). Der Text muss in seiner Wörtlichkeit ernst genommen werden. Um ein möglichst allgemeinsprachliches Verständnis abzubilden, greift die wörtliche Auslegung sowohl auf die online-Ausgabe des Dudens als auch Wikipedia zurück. (3) Explikation der objektiven Motive des Abschnittes und seiner objektivistischen Konsequenzen Nun werden die objektiven Motive und objektivistischen Konsequenzen in den Vordergrund gerückt. Dies geht davon aus, dass die Verbalisierungen in den Abschnitten Bedeutungsstrukturen abbilden und damit abgelöst vom Autor soziale Wirklichkeit begründen (Oevermann et al. 1979: 398). Für die Interpretation wird der Kontext miteinbezogen und dadurch die zuvor paraphrasierte Bedeutung eingeordnet und erweitert. Diese nachgeordnete Einbindung des Kontextes verhindert, das Textverstehen unmittelbar auf den Kontext zu gründen. Die durch das Wörtlichkeitsprinzip garantierte Überprüfbarkeit der Bedeutungsrekon struktion kontrolliert die Kontexteinbettung auf dieser Ebene. Der Kontext wird nicht als diffuse Quelle des Textverstehens herangezogen. Stattdessen zeigt die vorangegangene kontextfreie Bedeutungsexplikation, an welche Kontexte die Präambel anschließt und damit Ausdruck einer ihr nicht-hintergehbaren sozialen Wirklichkeit ist (Wernet 2009: 21 f.). Oevermann et al. nennen hierzu auch einige Quellen für Kontextwissen: »a) Kontextwissen aus anderen Szenen, b) Kontextwissen über die Persönlichkeitsstruktur der Beteiligten (v.a. unbewußte Tendenzen), c) Wissen über die Geschichte der Familie, d) heuristisch benutztes theoretisches Wissen« (Oevermann et al. 1979: 398 [Absatzmarken durch H.d.V. eingefügt]).
Diese Auflistung zeigt an, dass ein umfassender Bezug aller zur Verfügung stehenden Informationen zum Abschnitt vorgenommen werden soll. Damit wird auch deutlich, dass es sich bei den Ebenen nicht um inhaltsanalytische Kategorien handelt, weil die Ebenen einen zueinander ergänzenden Fokus setzen. Die Paraphrasierung der Bedeutung auf einer 112
STRUKTURREKONSTRUKTION IN DER PRÄAMBEL DES RÖMISCHEN STATUTS
vorhergehenden Ebene eröffnet mögliche Bedeutungshorizonte. Die Kontextualisierung verlangt diesen geöffneten Bedeutungshorizont an objektive Bedeutungsstrukturen anzulagern, damit die Verbalisierungen im Kontext sinnvoll erscheinen. Diese objektiven Bedeutungsstrukturen werden damit auf dieser Ebene erst sichtbar. Die ausgearbeiteten Bedeutungsmöglichkeiten auf der zweiten Ebene werden, vor dem auf der ersten Ebene ausgebreiteten Bedeutungshorizont, durch die auf dieser Ebene zu explizierenden objektiven Bedeutungsstrukturen selegiert. Die Feinanalyse ermöglicht so, die unterschiedlichen Aspekte, die in der sequentiellen Wortanalyse bereits erarbeitet wurden, zu ordnen und sukzessiv aufeinander zu beziehen. Die Ebenen bieten einen unterschiedlichen Fokus an, um die sequentielle Analyse von Abschnitt zu Abschnitt zu verdichten. Die Ausformulierung der Strukturhypothese soll auf diese Weise nachvollziehbar sein. Für die Interpretation der Präambel auf dieser Ebene finden sich unterschiedliche Abschnitte, die keinen Wechsel des Sprechers beinhalten. Daher handelt es sich um ein anderes Kontextwissen als das von Oevermann et al. (1979) im Zitat angegebene. Dennoch liefern die genannten Quellen eine Orientierung, was auf dieser Ebene einbezogen werden kann. Diese Ebene bezieht zuerst das vorgestellte Kontextwissen über die historische und rechtliche Entwicklung internationaler Strafverfolgung ein. Darüber hinaus sind weitere historische, rechtliche und sonstige Bezüge aufzunehmen, um das Verhältnis des IStGH zu seiner Umwelt zu erfassen. Diese Bezüge erlauben auch, die entwickelten theoretischen Begriffe in die Interpretation einfließen zu lassen und so die Kompatibilität der Thesenbildung zu prüfen. (4) Explikation der Funktion eines Abschnittes in der Verteilung von Rollen Diese von Oevermann et al. als weniger relevant eingestufte Ebene soll auf die Rollenverteilung in einer Sinneinheit blicken, um zu evaluieren, wo Möglichkeiten begrenzt oder eröffnet werden (1979: 399 f.). Die Analyse der Präambel bietet nicht die Untersuchung eines turn-taking verschiedener Sprecher einer Interaktion an, allerdings können die vom Autor zugewiesenen Rollen sichtbar werden. Der Autor positioniert sich selbst, die Staaten, den Internationalen Strafgerichtshof, Täter und Opfer. Diese Liste an Entitäten zeigt, dass verschiedene Rollen aufgenommen und mit bestimmten Präsuppositionen (z.B. Täter/Opfer) eingebunden werden. Im Gründungsdokument des Internationalen Strafgerichtshofes scheint diese Ebene daher besonders relevant zu sein, um zu sehen, wie der Autor bereits das Verhältnis des Gerichtshofs zu dessen Umwelt durch Rollenverteilung vorbestimmt. 113
DER ISTGH UND SEINE UMWELT
(5) Extrapolation der Interpretation des Abschnittes auf durchgängige Kommunikationsfiguren Als Zielstellung der Feinanalyse sollen auf dieser Ebene schließlich durchgängige Kommunikationsfiguren »als generative Strukturen […], als ständig wirksame Reproduktionsmechanismen« (Oevermann et al. 1979: 400) rekonstruiert werden. Während auf vorausgehender Ebene bereits die objektiven Bedeutungsstrukturen identifiziert wurden, soll auf dieser Ebene die generative Regel selbst zum Vorschein gebracht werden (Oevermann et al. 1979: 401). Die generative Regel soll demnach die Bedeutungsselektion nachzeichnen. Hierfür wird der anfangs skizzierte Bedeutungshorizont, der bereits mit der vor diesem Horizont geöffneten Wortbedeutung verknüpft wurde, erneut hinsichtlich der Kontextualisierung mit den objektiven Bedeutungsstrukturen in den Blick genommen. Entlang der sukzessiven Interpretation innerhalb eines Abschnittes wird die Bedeutungsselektion auf dieser Ebene rekonstruiert und nach Kommunikationsfiguren gesucht, die bereits in vorhergehenden Abschnitten sichtbar wurden. Durch diesen sequentiellen Bezug der Ebenen innerhalb eines Abschnittes und von Abschnitt zu Abschnitt aufeinander müssen die Interpretationen ständig erneut am Material überprüft werden. Gleichzeitig ermöglicht dies eine hohe Aggregation auf objektive Bedeutungsstrukturen und durchgängige Kommunikationsfiguren, weil sie wiederholend in der Rekonstruktion der Bedeutungsselektion als relevant herausgearbeitet werden müssen (Oevermann et al. 1979: 401). Die Verdichtung der Interpretation in der sequentiellen Analyse erlaubt, nach und nach in der Wortanalyse aufgeworfene Lesarten beiseitezulegen. Dies ist möglich, weil durch das Herausarbeiten der objektiven Bedeutungsstrukturen und der durchgängigen Kommunikationsfiguren eine generative Regel expliziert wird. Diese Regel kann nur als valide präsentiert werden, wenn sie durch die sequentielle Überprüfung am Material in der Lage ist, die Bedeutungsselektionen nachvollziehbar zu erklären. Auf diese Weise wird einerseits die generative Regel validiert und zugleich alternative Lesarten falsifiziert. Das sequentielle Vorgehen verhindert zugleich, dass die Lesarten durch Text- und Kontextwissen begründet werden (Wernet 2009: 29). Über das Wörtlichkeitsprinzip hinaus sichert die Sequenzialität die Abfolge des Textes ernst zu nehmen und in die Interpretation einzubeziehen. Aus der beschriebenen Verpflichtung auf den Text folgt die Einteilung der Analyseabschnitte aus der Gliederung der Präambel. Die übliche juristische Verweisung auf Absätze legt nahe, dass der Autor innerhalb des Bedeutungssystems des Textes auch eine sprachliche wie inhaltliche Strukturierung äquivalent angelegt hat. Dies zeigt sich auch in der Schreibweise der Absätze, die üblicherweise mit einem kursiv gedruckten Ausdruck beginnen. Durch die Anlehnung an das Bedeutungssystem 114
STRUKTURREKONSTRUKTION IN DER PRÄAMBEL DES RÖMISCHEN STATUTS
des Texts kann aus diesem heraus die Feinanalyse vorgenommen und die übergreifende Struktur von Abschnitt zu Abschnitt herausgearbeitet werden. Daher werden die Analyseabschnitte folgendermaßen gegliedert: Titel und Untertitel
RÖMISCHES STATUT DES INTERNATIONALEN STRAFGERICHTSHOFS Präambel
Parenthese 1
Die Vertragsstaaten dieses Statuts –
Absatz 1 – im Bewusstsein
im Bewusstsein, dass alle Völker durch gemeinsame Bande verbunden sind und ihre Kulturen ein gemeinsames Erbe bilden, und besorgt darüber, dass dieses zerbrechliche Mosaik jederzeit zerstört werden kann,
Absatz 2 – eingedenk
eingedenk dessen, dass in diesem Jahrhundert Millionen von Kindern, Frauen und Männern Opfer unvorstellbarer Gräueltaten geworden sind, die das Gewissen der Menschheit zutiefst erschüttern,
Absatz 3 – in der Erkenntnis
in der Erkenntnis, dass solche schweren Verbrechen den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt bedrohen,
Absatz 4 – bekräftigend
bekräftigend, dass die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, nicht unbestraft bleiben dürfen und dass ihre wirksame Verfolgung durch Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene und durch verstärkte internationale Zusammenarbeit gewährleistet werden muss,
Absatz 5 – entschlossen
entschlossen, der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen und so zur Verhütung solcher Verbrechen beizutragen,
Absatz 6 – daran erinnernd
daran erinnernd, dass es die Pflicht eines jeden Staates ist, seine Strafgerichtsbarkeit über die für internationale Verbrechen Verantwortlichen auszuüben,
Absatz 7 – in Bekräftigung
in Bekräftigung der Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und insbesondere des Grundsatzes, dass alle Staaten jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen haben,
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DER ISTGH UND SEINE UMWELT
Absatz 8 – nachdrücklich darauf hinweisend
in diesem Zusammenhang nachdrücklich darauf hinweisend, dass dieses Statut nicht so auszulegen ist, als ermächtige es einen Vertragsstaat, in einen bewaffneten Konflikt oder in die inneren Angelegenheiten eines Staates einzugreifen,
Absatz 9 – im festen Willen
im festen Willen, zu diesem Zweck und um der heutigen und der künftigen Generationen willen einen mit dem System der Vereinten Nationen in Beziehung stehenden unabhängigen ständigen Internationalen Strafgerichtshof zu errichten, der Gerichtsbarkeit über die schwersten Verbrechen hat, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren,
Absatz 10 – nachdrücklich darauf hinweisend
nachdrücklich darauf hinweisend, dass der aufgrund dieses Statuts errichtete Internationale Strafgerichtshof die innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit ergänzt,
Absatz 11 – entschlossen
entschlossen, die Achtung und die Durchsetzung der internationalen Rechtspflege dauerhaft zu gewährleisten –
Parenthese 2
sind wie folgt übereingekommen:
Dieser nach den obigen Sinnabschnitten gegliederte Text wird nach thematischen Schwerpunkten dargestellt. Die Ergebnisse basieren dabei auf den vorgestellten Interpretationsebenen, allerdings sind diese Ebenen der übersichthalber nicht explizit ausgewiesen. Für die Lesbarkeit der Analyse sind die Sinneinheiten nach der Vorstellung der Analysefolie, einer dem Wörtlichkeitsprinzip folgenden Auslegung und der darauf beruhenden Generalisierung der textimmanenten Interpretation aufgebaut. In II. wird der Einstieg in die Sequenzanalyse vorgestellt (1.), um daraufhin die Funktion der Parenthese für das Innen-/Außen-Verhältnis des Textes aufzuzeigen (2.). Daraufhin werden in III. die Analyseergebnisse für die Innenseite der Parenthese vorgestellt. Die Absätze 1 und 2 fokussieren auf den global-historischen Kontext (1.), aus denen heraus der Text in den Absätzen 3 bis 5 das Bezugsproblem der Straflosigkeit internationaler Verbrechen konstruiert (2.). Daran anschließend unterscheidet der Text die staatliche Strafverfolgung im Völkerrecht in den Absätzen 6 bis 8 (3.) von der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH in den Absätzen 9 bis 11. Der IStGH wird in diesen letzten Absätzen gleichzeitig begründet (4.). Die Präsentation der Textanalyse schließt mit der Strukturhypothese in IV.
116
II. Parenthese: Die Begründung des Römischen Statuts als völkerrechtlichen Vertrag Dieses Unterkapitel führt anhand des Abschnitts zum Titel und Untertitel des Römischen Statuts die durchgeführte Sequenzanalyse nach der Objektiven Hermeneutik extensiv vor (1.). Darüber hinaus präsentiert das Unterkapitel, wie der Text über die Parenthese die Begründung des völkerrechtlichen Vertrags von einem horizontalen Modus in einen vertikalen Modus verschiebt. Gleichzeitig zeigt dies den Übergang von der Makrodetermination der weltgesellschaftlichen Umwelt zur emergenten Strukturbildung des Völkerstrafrechts und des IStGH an (2.). 1. Einstieg in die Sequenzanalyse: Titel und Untertitel
RÖMISCHES STATUT DES INTERNATIONALEN STRAFGERICHTSHOFS
PRÄAMBEL Das erste Wort »RÖMISCHES« ist ein dekliniertes Adjektiv, dass entweder auf eine Ortsbezeichnung verweist oder bestimmte kulturelle, historische oder religiöse Attribute meint. Die Betonung als erstes Wort zeichnet damit die Bedeutung in der Unterscheidung von allem nicht-römischen aus. Bereits das erste Wort »RÖMISCHES« fällt in sprachlicher Perspektive auf, weil unklar bleibt, was dieses dem Statut attribuiert. Obwohl die Stadt als Unterzeichnungsort des Statutes als wahrscheinlichste Variante besticht, kann dies nicht eindeutig gefolgert werden. Vergleichsfälle für Ortsbezeichnungen wären der Lissabon-Vertrag oder die Haager Landkriegsordnung, hiervon unterscheidet sich jedoch »RÖMISCHES« rein sprachlich. Es bleibt offen, ob nicht bestimmte Eigenarten oder Charakteristika gemeint sein könnten, die zur Bezeichnung als römisch dienen. Mit Blick auf die englischsprachige Fassung »Rome Statute« könnte es sich nur um ein Übersetzungsproblem handeln. Die englischsprachige Fassung verweist wie die anderen Beispiele nur auf den Unterzeichnungsort. Das zu diesem Adjektiv gehörende Nomen »Statut« ist eine spezifische Bezeichnung für ein Dokument. Im allgemeinsten Sinne handelt es sich um eine schriftlich niedergelegte Ordnung, wobei im Völkerrecht Statut »zumeist ein solcher völkerrechtlicher Vertrag bezeichnet, der eine internationale Organisation, ein Gericht oder ein sonstiges außenpolitisches Instrument konstituiert und gleichzeitig dessen Verfahrensordnung oder das Recht auf eigene Geschäftsordnung festschreibt« (Wikipedia 2020: 117
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Statut). Im Öffentlichen Recht wird der Erlass einer mit »Satzungsautonomie ausgestatteten juristischen Person des öffentlichen Rechts« (Wikipedia 2020: Statut) als Statut definiert. Mit dem Statut werden demnach Regeln kodifiziert und damit auf Dauer gestellt. Ob mit dem Römischen Statut, ein in Rom unterzeichnetes Statut oder die Zuschreibung von als Römisch geltenden Attributen gemeint ist, bleibt hier offen. Diese den Text einleitenden Worte benennen ein Thema. Es geht um ein bestimmtes, durch »Römisches« attribuiertes »Statut des Internationalen Strafgerichtshofs«. Beim Wort »Internationalen« handelt es sich um ein dekliniertes Adjektiv zum Strafgerichtshof und qualifiziert diesen. Dem Wort nach bezeichnet »International« den Bereich Zwischen-Nationen und bezieht sich in der Regel auf die zwischen Nationen bestehenden Beziehungen. Der Begriff wird damit gegen trans- und supranational abgegrenzt, wobei im alltagssprachlichen Gebrauch die jeweiligen Begriffsgrenzen verschwimmen. In jedem Fall unterscheidet sich »international« von »national«, sodass mehr als eine Nation vorhanden ist. Allerdings bleibt damit unklar, wie dies den Strafgerichtshof qualifiziert. Die Verwendung des Begriffs »Strafgerichtshof« verweist mit »Hof« auf ein im deutschen Sprachgebrauch höchst instanzliches Gericht wie dem Bundesgerichtshof. Allerdings kann dieser Wortgebrauch aus der Übersetzung folgen, da »court« im Englischen der übliche Begriff für Gerichte ist. Wenn dem Übersetzer dies klar war, so kann die Verwendung »Strafgerichtshof« anstelle von »Strafgericht« als Hinweis auf die Bedeutsamkeit aufgefasst werden. Die Verwendung von »Hof« in dieser Weise bezeichnet historisch gesehen den Sitz des Landesmonarchen. »Hof zu halten« heißt bedeutsame Entscheidungen im Zentrum zu fällen, die nach außen wirken. Eine solche zentrale Bedeutung kann durch den Begriff »Strafgerichtshof« impliziert sein. Unter dieser ersten Zeile steht das Wort »Präambel« und legt den Beginn des Statuts mit einer feierlichen Erklärung nahe. Typographisch unterstützt die Großschreibung diesen Eindruck. Die Bedeutung lässt sich kaum anders paraphrasieren als im gegebenen Wortlaut und unterstreicht damit seinen ausgewählten und auch technisch-funktionalen Charakter. Die Präambel geht auf lat. präambulum (= vorangehen) zurück, damit ist ein Text vor dem Haupttext gemeint. Die Präambel markiert eine Unterscheidung zum eigentlichen Text. Die Präambel stellt Absichten, Zwecke, Werte und Motive dar, die als Deutungshilfe für das Statut dienen. Der Titel setzt den äußeren Rahmen, während der Untertitel den inneren Rahmen für den Text aufspannt. Diese Unterscheidung von Titel und Untertitel zeigt die Gliederung des Textes in Vor- und Haupttext auf. Der Text gibt durch die Themenbenennung an, was der folgende Inhalt sein wird. Der Text begrenzt den Rahmen der möglichen Themen 118
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und schürt konkrete Erwartungen beim Leser. Zum einen erwartet der Leser ein Statut als wahrscheinlich rechtsförmiges Dokument, was bereits die technische Wortwahl zeigt. Zum anderen verbinden sich damit konkrete Inhalte wie materielles Strafrecht, Verfahrensrecht oder internen Regelungen des Gerichtshofes. Der Text öffnet einen Bedeutungshorizont, den er füllen muss, indem er konsistent an das Thema anschließt. Eine Beteiligung anderer ist durch den geschriebenen Text des Statutes nicht vorgesehen. Das Statut dient der Festlegung und Fixierung einer Ordnung. Eine Verhandlung über die Inhalte ist in diesem Rahmen nicht möglich. Das Statut präsentiert sich damit zunächst als in sich geschlossen und muss gerade deswegen Titel und Thema benennen, da der Autor dies nicht interaktiv mit dem Leser vereinbaren kann. Diese autoritative Setzung passt zum Charakter eines rechtsförmigen Dokumentes. Da der Text kein Gespräch darstellt, handelt es sich um eine vom Autor unabhängig bestehende Entäußerung. Ein geschriebener Text muss ohne zusätzliche Erläuterungen auskommen und dem Leser einen Zugang ermöglichen. Dies leistet die Konstruktion des Titels »Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofes« und des Untertitels »Präambel«. Der Titel setzt einen Bedeutungshorizont fest, der die Auswahl weiterer Aussagen auf einen Zusammenhang mit diesem beschränkt. Gleichzeitig weckt die Bezeichnung als Statut beim Leser die Erwartung eines formalen Rahmens, den die Genitivkonstruktion zum Internationalen Strafgerichtshof im Sinne einer formalen Organisation bestätigt. Anhand des Titels und des Untertitels lassen sich noch keine durchgängigen Kommunikationsfiguren feststellen. Dies kann erst durch die Analyse weitere Abschnitte erfolgen. Herausstellen lässt sich, dass ein thematischer Rahmen abgesteckt ist, in dem die Statuierung »des Internationalen Strafgerichtshofs« zu erwarten ist. Die Ausgestaltung der durchgängigen Kommunikationsfiguren folgt voraussichtlich im Text der Präambel. Außerdem scheint der rechtsförmige Charakter für den weiteren Text erwartbar, sodass dies die Art und Weise kommunikativer Anschlüsse limitiert. Allerdings ist eine Präambel als feierliche Erklärung kein Rechtstext im strengen Sinne, sodass eine Ambiguität in Rechnung zu stellen ist. Nichtsdestotrotz ist der durchgängige Kommunikationsrahmen ein Rechtstext, denn der Autor schreibt keinen Brief und führt kein Gespräch. Der Text benennt keinen Adressaten, sondern richtet sich an die Öffentlichkeit. Bis auf das Adjektiv »Römisches« weist der Text mit einem Titel und Untertitel übliche und erwartbare Merkmal eines Textes auf. Sie lässt sich jedoch auf die Übersetzung zurückführen. Der Text entstand vermutlich im internationalen Bereich. Obwohl der sachliche Zuständigkeitsbereich nicht definiert ist, umreißt der Titel den Gegenstandsbereich der internationalen Strafgerichtsbarkeit.
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2. Parenthese Die Vertragsstaaten dieses Statuts – Den thematischen Rahmen setzen Titel und Untertitel. Sie werfen die Erwartung an den Text auf, dass eine feierliche Erklärung zur Rahmung des Internationalen Strafgerichtshofes als Vortext zum Haupttext des Statutes folgt. An diesen Vorlauf anschließend überrascht der Wortlaut dieses Analyseabschnitts, weil der Begriff »Vertragsstaat« auftaucht, allerdings erwähnte der Text bisher keinen Vertrag. Gleichzeitig werden die Vertragsstaaten dem Statut durch die Genitivkonstruktion »dieses« zugeordnet. Im Ergebnis handelt es sich um eine Ellipse, deren Bedeutung zumal ohne Verb nur eine Beziehung von unbekannten Vertragsstaaten zum Römischen Statut andeutet. Sowohl der Begriff »Vertragsstaat« als auch »Statut« steht weiterhin in einer formal juristischen Verwendung, die der Titel bereits andeutet. Die Kombination der beiden Begriffe verweist auf ein im internationalen Rahmen übliches Verständnis von Statut als Vertrag. Daneben scheint durch die Parenthese ein Einschub zu folgen, den die gewählten Worte umklammern. »Die Vertragsstaaten dieses Statuts« rahmen damit auf der sprachlichen Ebene den folgenden Inhalt. Die sprachliche Struktur des Textes lässt unklar, ob die Vertragsstaaten das Objekt der folgenden Erklärung oder die Erklärenden sind. Der Text kann demnach eine gemeinsame Erklärung mehrerer Autoren sein. Allerdings erhalten die Vertragsstaaten durch ihre Stellung als erster Ausdruck im Fließtext eine hervorgehobene Bedeutung. Durch die Zuordnung der Vertragsstaaten zu diesem Statut hält der Text zwar den Bezug zum thematischen Rahmen, jedoch gibt er keine Auskunft über die Ausgestaltung der Präambel. Zugleich thematisiert sich das Statut durch die Herstellung eines Bezugs zu den Vertragsstaaten selbst. Wenn wie im internationalen Raum üblich Statute auch als Verträge aufgefasst werden können, dann scheint das Motiv zum einen eine sprachliche Betonung zu sein und zum anderen die Schöpfer/Begründer des Statutes sowie infolgedessen des Internationalen Strafgerichtshofes auszuweisen. Die Rolle der Vertragsstaaten als Schöpfer/Begründer des Statutes und damit des Internationalen Strafgerichtshofes bleibt zunächst eine Vermutung. Sie wird jedoch in diesem Abschnitt dadurch gestützt, dass die Vertragsstaaten als erste Entität nach dem Titel erwähnt und vor die Parenthese – sprichwörtlich vor die Klammer – gezogen wurden. Diese Verortung der Vertragsstaaten zeigt ihre Vorrangigkeit und ihre Ursprünglichkeit vor dem Statut an. Die im Titel aufgerufene Internationalität setzt sich durch die im internationalen Raum übliche juristische Kombination von Vertragsstaaten und Statut fort. Dadurch bestätigt sich auch vorerst der rechtliche 120
PARENTHESE: DIE BEGRÜNDUNG DES RÖMISCHEN STATUTS
Charakter des Textes. In dieser Hinsicht stimmt auch die sprachliche Struktur im Titel »Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofes« sowie »Vertragsstaaten dieses Statutes« damit überein. Beide (Internationaler Strafgerichtshof und Vertragsstaaten) beziehen sich auf das Statut und sind über dieses miteinander verbunden. Die Annahme, dass die Vertragsstaaten den Internationalen Strafgerichtshof im Statut begründen, legt nahe, dass dieser Text auch das Verhältnis zum Begründeten umreißt. Ein erstes Indiz ist die Parenthese, durch die die Vertragsstaaten auf der Außenseite den Rahmen für die Präambel bilden, während die Ausführung innerhalb der Parenthese und damit aus dem Aushandlungsprozess der Vertragsstaaten folgt. Wenn es sich beim Statut um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt, den die Vertragsstaaten geschlossen haben, dann treten sie als Völkerrechtssubjekte in Erscheinung. Diese Rolle ist Voraussetzung für einen Vertrag und attestiert diese Staaten als vertragsfähig. Dies bedeutet, Staaten sind zu einem rechtsschöpferischen Akt (hier: Vertrag) in der Lage, der Rechte und Pflichten wechselseitig unter den Vertragsstaaten begründet. Damit stellt sich zum einen die Frage, wie das Verhältnis der Begründer (Vertragsstaaten) zum Begründeten (Internationaler Strafgerichtshof) aussieht, und zum anderen, welche Rechte und Pflichten die Vertragsstaaten sich wechselseitig im Hinblick auf den Begründeten auferlegen. Diese beiden Verhältnisse bilden den Ausgangspunkt für das Statut als Rechtsschöpfungsakt. Neben diesen inhaltlichen Folgerungen bleibt der Kontext unbestimmt. Es ist möglich, dass dieses Dokument nur der Entwurf eines Statutes ist, der womöglich abgelehnt wurde. Ebenfalls könnte mit diesem Statut die Reform einer bestehenden Institution angestrebt werden. Der beschrittene Pfad, der dieses Dokument hervorgebracht hat, kann erst in der folgenden Ausformulierung der Präambel skizziert werden. Es ist zu vermuten, dass der Autor in der Präambel diesen Pfad selbst nachzeichnet, um die Gründe für die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes zu präsentieren. An diese kontextfreie Interpretation nach dem Wörtlichkeitsprinzip schließt der herausgearbeitete historisch-theoretische Kontext an. Die Vertragsstaaten schließen den Vertrag in der Horizontalen und etablieren auf diese Weise den Internationalen Strafgerichtshof in der Vertikalen. Die Horizontale bleibt grundlegender Bestandteil des vertikalen Modus der Kooperation, allerdings dient er der Rechtsschöpfung in der Vertikalen. Indem die Vertragsstaaten sich in Beziehung zum Statut setzen, zeigen sie ihre Mitgliedschaft im Römischen Statut auf und erkennen die selbst geschaffenen Bedingungen internationaler Strafverfolgung an. Der Text markiert diese Rolle der Staaten einerseits als externe Begründer im horizontalen Modus und andererseits als Betroffene dieser Strukturbildung im vertikalen Modus. Die Staaten stehen vor der Parenthese und damit der folgenden Erklärung. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass 121
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die Staaten auch in der Parenthese vorkommen. Der Spiegelstrich symbolisiert das System-Umwelt-Verhältnis, in dem die Staaten sowohl in der Umwelt vor der Parenthese als auch vermutlich im System in der Parenthese vorkommen. Diese Darstellung stützt die vorausgehende Vermutung, dass in der Präambel das System-Umwelt-Verhältnis bestimmt und damit die Institutionalisierung normativen Erwartens in Bezug auf die Umwelt die internationale Strafverfolgung legitimiert. Daran lässt sich die Innenseite der Parenthese überspringend der zweite Teil des Satzes anschließen: sind wie folgt übereingekommen Alle zwischen den beiden Satzteilen stehenden Absätze befinden sich innerhalb der Parenthese. Der unvollständige Satzteil dieses Abschnitts setzt den Satzteil vor der Parenthese fort: »Die Vertragsstaaten dieses Statuts […] sind wie folgt übereingekommen«. Dieser Satz rahmt die Präambel und bringt damit zum Ausdruck, dass die Innenseite der Parenthese die Voraussetzung für die folgende Übereinkunft ist. Das Aushandlungsergebnis folgt erst noch und auf der Innenseite der Parenthese sind dessen Prämissen. Der innerhalb der Parenthese gegründete Internationale Strafgerichtshof steht auf der Grundlage der universellen Kommunikationsfiguren und den institutionalisierten Erwartungen der globalen Rechtsordnung. Nach der Logik der Parenthese spezifizieren die Vertragsstaaten die von der globalen Rechtsordnung gesetzten Prämissen. Sie lösen das vertragliche Begründungsproblem restlos mit dem indirekten Verweis auf die globale Rechtsordnung auf. Diese globale Rechtsordnung ist eine eigenständige und legitime Struktur, auf die sich die Staaten beziehen, um diese weiterzuentwickeln. Die hierzu qualifizierende Souveränität liegt innerhalb dieser Rechtsordnung, damit sind die Staaten keine externen Begründer, sondern Teil dieser weltgesellschaftlichen Umwelt. In dieser weltgesellschaftlichen Umwelt sind die Staaten wegen ihrer Souveränität der globalen Struktur unterworfen. Sie institutionalisieren nicht nur wechselseitiges Erwarten, sondern schaffen einen über sie hinausgreifenden Erwartungszusammenhang der globalen zur individuellen Ebene einer internationalen öffentlichen Ordnung. Das Völkerstrafrecht nimmt der Übereinkunft der Staaten folgend darin seinen Platz ein. Die Parenthese zeigt, woran sich das Statut in der Umwelt orientiert, und setzt dies auf die Innenseite. Gleichzeitig setzt die Übereinkunft des Statuts die Präambel voraus, dadurch ist sie einerseits impliziert und andererseits außerhalb der expliziten Vereinbarung. Die Parenthese markiert diesen wechselseitigen Bezug einer erst entstehenden System-/Umwelt-Differenz.
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III. Von der völkerrechtlichen Kooperationsstruktur zum Prinzip der Komplementarität Die Parenthese umschließt den Text der Präambel und geht der Übereinkunft der Vertragsstaaten voraus. Der Text der Präambel erscheint damit nicht als zwischenstaatliches Übereinkommen, sondern als etwas Gegebenes, das dem Römischen Statut tatsächlich vorausgeht, bzw. außerhalb dessen besteht. Die Darstellung der Analyseergebnisse folgt der sequentiellen Textabfolge, allerdings weist sie thematische Schwerpunkte aus. Die ersten beiden Absätze skizzieren den global-historischen Kontext (1.), aus dem heraus die Straflosigkeit internationaler Verbrechen zum Bezugsproblem des Römischen Statuts wird (2.). Darauf aufbauend folgt, wie mit dieser Herausforderung umgegangen werden kann: durch staatliche Strafverfolgung (3.) oder durch den IStGH (4.). Diese thematisch fokussierte Darstellung arbeitet dabei heraus, auf welche Aspekte in der Umwelt der Text Bezug nimmt und wie er sie auf der Innenseite einfügt. Die Vermutung ist, dass der herausgearbeitete vertikale Modus der Kooperation sich im Statut und damit auf der Organisationsebene als Prinzip der Komplementarität wiederfindet. 1. Global-historischer Kontext Die ersten beiden Absätze schließen zum einen an die im ersten Kapitel präsentierte historische Entwicklung an und zum anderen beschreiben sie die Ausgangslage, deretwegen die nach der Präambel folgende Übereinkunft zustande kommt. Der argumentative Schritt ist eine allgemeine Erzählung zu fixieren, auf die sich das Römische Statut beziehen kann, ohne dass sie wie eine Interessensvermittlung verschiedener Vertragsparteien erscheint. Dahinter verbirgt sich das völkervertragliche Begründungsproblem im horizontalen Modus, einen vertikalen Modus hervorzubringen. Es braucht einen Dritten, damit das wechselseitige Erwarten institutionalisiert werden kann. Diese Dritten sucht der Text in der Umwelt mit dem global historischen Kontext und makrodeterminiert damit das System. Der erste Absatz leitet hierzu ein: im Bewusstsein, dass alle Völker durch gemeinsame Bande verbunden sind und ihre Kulturen ein gemeinsames Erbe bilden, und besorgt da rüber, dass dieses zerbrechliche Mosaik jederzeit zerstört werden kann, Der Satz dieses Analyseabschnittes leitet elliptisch innerhalb der Parenthese ein. Der einleitende Ausdruck »im Bewusstsein« impliziert eine Personenqualität. Bewusstsein drückt nach dem Duden 1. einen »Zustand, 123
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in dem man sich einer Sache bewusst ist« sowie eine »Gesamtheit der Überzeugungen eines Menschen, die von ihm bewusst vertreten werden« und 2. einen »Zustand geistiger Klarheit« aus. Die Schriftlichkeit legt nahe, dass der Text eine Sache oder eine Überzeugung expliziert. Sie erhält dadurch einen objektiven Charakter, weil der Text das Bewusstsein über diesen externen Sachverhalt zum Ausdruck bringt. Die weitere Satzkonstruktion unterteilt zwei Teilsätze, die jeweils mit einem »dass« eingeleitet sowie mit einem »und« verbunden sind. Der erste Satzteil besteht seinerseits aus zwei Elementen: »alle Völker durch gemeinsame Bande verbunden sind« und »ihre Kulturen ein gemeinsames Erbe bilden«. Ein Volk ist eine »durch gemeinsame Kultur und Geschichte [und Sprache] verbundene große Gemeinschaft von Menschen« (Duden). Diese Entität führt der Text unvermittelt ein und bestimmt sie nicht näher. Zugleich umfasst die Extension des Ausdrucks »alle Völker« nicht ein bestimmtes, sondern die gesamte Menge der Völker. Es ist daher unklar, wie diese Entitäten untereinander abgegrenzt werden und was der konkrete Bezug ist. Diese Unbestimmtheit scheint jedoch unerheblich zu sein, da diese »durch gemeinsame Bande verbunden sind«. Die Grenzen verschwimmen in der Wortwahl der engen Beziehungen und Bindungen unter den Völkern. Worin bzw. woraus diese Bande bestehen, erklärt der Text nicht. Das zweite Element des ersten Satzteiles nimmt mit »ihre Kulturen« einen direkten Bezug zu »alle Völker«. Die Kultur ist im allgemeinsprachlichen Gebrauch bereits in Volk impliziert. Es geht darum, die Kultur hervorzuheben. Der Duden definiert Kultur als eine »Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwicklung«. Diese Leistungen der Völker betont der Autor und versteht er als »ein gemeinsames Erbe«. Diese Leistungen stellen ein »nicht materielles [geistiges, kulturelles] Vermächtnis« (Duden) aller Völker dar. Im zweiten Satzteil wird nun Besorgnis und damit wie bei Bewusstsein eine personale Qualität ausgedrückt. Die Sorge richtet sich auf die Zerbrechlichkeit »dieses […] Mosaik«. Die Metapher des Mosaiks bezieht sich mit dem Possessivpronomen »dieses« auf den vorangegangenen Satzteil und damit auf den zweifachen Inhalt der gemeinsamen Bande der durch Kultur und Geschichte verbundenen großen Gemeinschaften und der von ihnen hinterlassenen geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen. Das Modalverb »kann« zeigt an, dass hier die Möglichkeit der Zerstörung besteht. Diese Möglichkeit scheint zu jeder Zeit gegeben zu sein, was eine kontinuierliche Bedrohung ausdrückt. Der Ausdruck »im Bewusstsein« bringt eine menschliche Qualität zum Ausdruck, die eine Entäußerung im Text für sich nicht in Anspruch nehmen kann. Das Bewusstsein über die Bedrohung erhält dadurch einen objektiven Charakter, weil es nicht an eine Person als Sprecher oder identifizierbaren Autor gebunden ist. Der Text legt dem Leser das 124
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Bewusstsein über die Bedrohung nahe und setzt eine Perspektive, von der aus sich der Präambeltext entfalten kann, und wie das Statut zu lesen ist. Der Text formuliert eine wahrheitsfähige Aussage für alle Völker und ihre Kulturen. Damit erhält die Aussage einen deskriptiven Charakter für die soziale Wirklichkeit. Dies entspricht der bereits angedeuteten Funktion der Präambel als vorangehender Text zum Haupttext. Der Text präsentiert nicht nur eine Perspektive, sondern macht die so beschriebene soziale Wirklichkeit zur Prämisse für das Statut und die künftige Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofes, der er sich bewusst ist. Der Ausdruck »der Text« wird im Weiteren dafür verwendet, um diese scheinbare Objektivierung im Sinne der deskriptiven Charakterisierung sozialer Wirklichkeit zu erfassen. Dies beruht auch auf der methodischen Annahme, dass der Text Ausdruck einer generalisierten Struktur sozialer Wirklichkeit ist und als solche beobachtet werden kann. In diesem Abschnitt führt der Text »Völker« und »Kulturen« als eigene Entitäten ein. Da im allgemeinen Sprachgebrauch Völker »als durch gemeinsame Kultur und Geschichte [und Sprache] verbundene große Gemeinschaft von Menschen« (Duden) verstanden werden, geht dieser Begriff mit Kulturen semantisch in eins auf. Dennoch werden beide Begriffe verwendet. Es existieren drei Entitäten in der Präambel: Vertragsstaaten, Völker und Kulturen. Alle drei sind im Alltagsverständnis nachvollziehbar. Für einen Rechtstext über das Statut des Internationalen Strafgerichtshofes öffnen sich breite Deutungsräume. Die begrifflichen Grenzen sind nicht deutlich erkennbar, sodass aufgrund der verschiedenen Sinnträger eine rhetorische Strategie vermutet werden kann: Der Text erlaubt, sich angesprochen zu fühlen. Im Gegensatz zu den Vertragsstaaten stehen »Völker« und »Kulturen« jedoch in der Parenthese. Die Vertragsstaaten klammern sie ein. Dies macht aus ihnen entweder nachgeordnete Elemente oder »Völker« und »Kulturen« stehen im Zentrum des folgenden Textes. Einen Ausschlag hierfür gibt der Text, weil er »Völker« und »Kulturen« als miteinander verbunden versteht. Die Vertragsstaaten sind außen vor der Klammer. Die Konstruktion »gemeinsame[r] Bande«, eines »gemeinsame[n] Erbes« und eines »Mosaik[s]« finden in der Beobachterperspektive des Textes auf einer anderen Ebene statt. Wenn die Vertragsstaaten das Statut verfasst haben, dann sind die Vertragsstaaten die Ausgeschlossenen. Sie treten nicht explizit hervor, aber sie bringen ihre Perspektive als Beschreibung sozialer Wirklichkeit ein und machen sie zur Prämisse des Statuts. Diese Perspektive ist durch eine Unterscheidung von Einheit und Vielfalt gekennzeichnet. Auf der einen Seite findet sich die Vielzahl von Völkern und Kulturen, während auf der anderen Seite ihre Gemeinsamkeit durch »Bande« und »Erbe« steht. Dies gipfelt im Ausdruck »Mosaik«. Ein Mosaik lässt die Vielfalt seiner Einzelteile noch erkennen, aber präsentiert sich dennoch als ein Werk. Die Vertragsstaaten vereinheitlichen 125
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ihre Perspektive, indem sie »im Bewusstsein« der Vielfalt die darüber hinaus bestehende Gemeinschaft (Einheit) »bilden«. Gleichzeitig bleibt das »Mosaik« bzw. diese Perspektive zerbrechlich. Diese Perspektive präsentiert sich durch die Unbestimmtheit der Sinnträger als überaus inklusiv. Gegen das Bild des Mosaiks der »Völker« oder »Kulturen« lässt sich kaum mit guten Gründen etwas anführen. Eine Gegenseite fehlt, weil Einheit und Vielfalt miteinander in Verbindung stehen und im Mosaik aufgehen. Das Bewusstsein hierüber drängt sich dem Leser nicht als partikulare Perspektive auf, sondern wirkt wie eine deskriptive Beschreibung sozialer Wirklichkeit. Diese Verbindung von Einheit und Vielfalt bedient einen Universalismus. Ein Widerspruch gegen diese Perspektive ist nicht vorstellbar, weil das Widersprüchliche (Einheit/Vielfalt) bereits zusammensteht. Der Text bietet einen eigenen Bezugspunkt, von dem aus für das Mosaik Gefahr besteht. Die Notwendigkeit, einen universalistischen Standpunkt zu formulieren, entsteht erst aus der Beobachtung (Besorgnis) von Konflikten und Zerstörung. Der Text schafft auf diese Weise ein Bezugsproblem, von dem er Konsequenzen ableiten kann und die Erwartung schürt, dieses Bezugsproblem zu lösen. Die wahrheitsfähige Aussage über die soziale Wirklichkeit setzt sich gegenüber den persönlichkeitsqualifizierenden Ausdrücken (»im Bewusstsein« und »besorgt«) ab. Das Bewusstsein über die Verbundenheit etabliert eine Prämisse sozialer Wirklichkeit. Die Möglichkeit der Zerstörung des Mosaiks geht von dieser Prämisse aus und etabliert das Bezugsproblem. Sowohl auf der Innen- als auch auf der Außenseite der Parenthese positioniert der Text Entitäten. Während die Vertragsstaaten sich auf der Außenseite stehen, befinden sich Völker und Kulturen auf der Innenseite. Die durch die Parenthese gegebene Einklammerung der Innenseite deutet eine Asymmetrie an. Die Vertragsstaaten verfestigen ihre Rolle als Ausgeschlossene. Sie können die universalistische Perspektive präsentieren, weil Staatspolitik und -interessen auf der Außenseite der Parenthese ausgeklammert sind. Gleichzeitig ziehen die Vertragsstaaten die Inhalte auf die Innenseiten der Klammer. Diese Rolle der Vertragsstaaten öffnet ein Einfallstor für Politik. Auffällig in diesem Abschnitt ist die Abwesenheit von Strafe und des Strafgerichtshofs. Auch lassen sich keine rechtstypischen Formulierungen für ein Statut finden. Die rhetorische Strategie kennzeichnet, zunächst das Bezugsproblem zu formulieren und damit eine übergreifende Perspektive zu schaffen. Die im Titel gegebene Internationalität bleibt: Es treten weitere völkerrechtliche Sinnträger auf, die in gegenseitiger Verbindung zueinanderstehen. Damit bleibt die Figur konsistent zu einem Strafgerichtshof, der ebenfalls mit »international« attribuiert ist. Allerdings scheint der Text die Internationalität zu einem Universalismus zu erweitern. Der universelle Charakter der Formulierungen erschwert, die Ausgangssituation der miteinander verbundenen Völker und Kulturen 126
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und das auf sie bezogene Problem ihrer Zerbrechlichkeit abzulehnen. Die miteinander verbundenen Völker und Kulturen bringen als eine Seite der Unterscheidung die andere Seite der Gefahr des Konflikts und der Zerstörung hervor. Der universalistische Standpunkt des Textes vereinigt das persönlichkeitsattribuierende Bewusstsein mit der allgemeinen Aussage miteinander verbundener Völker und Kulturen als Prämisse sozialer Wirklichkeit. Das Allgemeine geht hierbei dem Besonderen voraus, weil der Fokus auf den Gesamtheiten und ihre Verbundenheit liegt. Erst diese Perspektive bringt das Mosaik als Metapher hervor. Gleichzeitig scheint diese Perspektive explikationsbedürftig zu sein, da sie einem Bewusstsein entstammt. Der Text konstruiert so eine globale Ebene, die auf der einen Seite die Entität des Mosaiks mit der Implikation aller Völker und ihrer Kulturen aufweist und auf der anderen Seite die Möglichkeit ihrer Zerstörung kennzeichnet. Daher ist anzunehmen, dass dieses Mosaik gegenüber seiner Zerstörung geschützt werden soll. Dies legt es nahe, die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes als Lösung des Bezugsproblems zu betrachten. Allerdings ist damit keine sachliche Zuständigkeit begründet. Mit Blick auf die Figur des völkerrechtlichen Vertrages als Rechtsschöpfungsakt ist der Kontext hierfür durch diesen Absatz aufgespannt. Der Ausschluss der Staaten als Sinnträger verdeckt den voluntaristischen Charakter des Vertrages. Die Begründung des Vertrages leitet sich vom universalistischen Standpunkt ab. Das Bewusstsein für die Bedrohung dieser sozialen Wirklichkeit enthält die Rechtfertigung, die Prämisse zu akzeptieren. Das voluntaristische Begründungsproblem bleibt vor der Parenthese und kann der Text dadurch vom Standpunkt einer universalistischen Logik innerhalb dieser Parenthese bearbeiten. Eine Entscheidung gegen das Statut bestreitet die Prämisse der Verbundenheit der Völker und ihrer Kulturen. Die Innenseite der Parenthese repräsentiert die Umwelt, indem sie einerseits den Bezug zu einem Problem in der Umwelt herstellt und andererseits das systeminterne Begründungsproblem auf die Außenseite verschiebt. Die miteinander verbundenen Völker und Kulturen treten als schützenswert in der Vertikalen auf und verhalten sich damit komplementär zum horizontalen Begründungsproblem des Vertrags. Die Völker und Kulturen dienen als Dritte, die die Vertragsstaaten explizit aufrufen, um das Bezugsproblem in der Vertikalen zu institutionalisieren. Die Vertragsstaaten können nicht innerhalb der Parenthese auftreten, weil sie die Strukturbildung auf wechselseitiges Erwarten reduzieren würden. Miteinander verbundene Völker und Kulturen in einem Mosaik repräsentieren bereits eine emergente Strukturbildung auf der Ebene der Weltgesellschaft und haben damit für den IStGH die Emergenzfunktion eines Dritten. Die Gründung des IStGH verläuft damit über 127
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die Umweltorientierung, um den Problemen des horizontalen Modus der Kooperation zu entrinnen. Die Vertragsstaaten können den IStGH nicht anders gründen, weil sie in einem horizontalen Modus der Kooperation nur wechselseitiges Erwarten etablieren können. Die Völker und Kulturen als Dritte kennzeichnen die Struktur des vertikalen Modus und ihr komplementäres Verhältnis zum Vertragsschluss der Staaten. Der Rechtsschöpfungsakt zentriert die Komplementarität der internationalen Strafverfolgung und der staatlichen Souveränität auf ein füreinander bestehendes Begründungs- und Legitimationsproblem. Die normativen Erwartungen des Vertrags können die Staaten nicht ohne Vertikale sichern und die hierfür notwendige internationale Strafverfolgung kann nicht ohne den Vertragsschluss entstehen. Diese Perspektive führt der zweite Absatz fort: eingedenk dessen, dass in diesem Jahrhundert Millionen von Kindern, Frauen und Männern Opfer unvorstellbarer Gräueltaten geworden sind, die das Gewissen der Menschheit zutiefst erschüttern, Der vorherige Abschnitt hat in die Parenthese eingeleitet. Der Text hat das Bezugsproblem des Statuts innerhalb der Parenthese von einem universalistischen Standpunkt aus präsentiert. Der im ersten Absatz präsentierte Universalismus hat in der Aushandlung von Einheit und Vielfalt verschiedene Dritte eingeführt. Diese miteinander verbundenen Sinnträger bilden die soziale Wirklichkeit des Statuts ab. Der voluntaristische Vertragsschluss der Staaten externalisiert das Begründungsproblem von der Horizontalen in die Vertikale universalistischer Kommunikationsfiguren. Dies sichert die Institutionalisierung der im Statut folgenden Lösung für das aufgeworfene Bezugsproblem ab. »Unter Berücksichtigung eines Sachverhaltes« (»eingedenk dessen«) drückt einen Gedanken bzw. etwas im Bewusstsein aus und geht darüber hinaus, weil diese Formulierung den Bezug zu einer Aussage herstellt. Der Text fährt in der bereits aus dem ersten Absatz bekannten Weise mit einer dass-Konstruktion fort, um den zu berücksichtigenden Sachverhalt auszuformulieren. Damit besteht ein doppelter Bezug »dessen« zum vorausgehenden Absatz und über das »dass« zur folgenden Aussage. Der Text rahmt den Sachverhalt in zeitlicher Hinsicht (»in diesem Jahrhundert«), ohne jedoch das »Jahrhundert« mit einer Zahl zu spezifizieren. Die zu Opfer gewordenen »Millionen von Kindern, Frauen und Männern« bieten eine sachliche Konkretisierung. »[U]nvorstellbare Gräueltaten« lassen sich in zwei Richtungen ausdeuten: Zum einen aus der Vergangenheitsperspektive, dass solche Taten wie die später geschehenen nicht vorstellbar waren, und zum anderen aus der Gegenwartsper spektive, in der es unmöglich ist, das Vergangene nachzuerleben. Beiden 128
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Blickrichtungen ist gemein, dass jeweils der Vergleichshorizont fehlt. Die Taten lassen sich nicht einordnen. Deshalb liegen diese Gräueltaten außerhalb der Grenzen des Vorstellbaren. Der Relativsatz ergänzt die Hauptaussage um eine moralische Bedeutungsebene und bezieht diese auf die Menschheit. Die Gräueltaten sind damit nicht für Einzelne erschütternd, sondern belasten kollektiv das Gewissen der Menschheit. Diese Konstruktion wirft die Frage auf, wie ein Gewissen der Menschheit vorstellbar ist. In eine Paraphrase gefasst erscheinen vielfältige historische Ereignisse indirekt. Diese Ereignisse sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Vielzahl von Opfern durch unvorstellbare Gräueltaten hervorgebracht und das Gewissens der Menschheit erschüttert haben. Der Text bereitet die Grundlage für einen Internationalen Strafgerichtshof, dabei bleiben die verwendeten Ausdrücke vage. Unabhängig davon, wann der Leser den Text liest, unterstellt dieser, dass der Leser weiß, welches Jahrhundert mit »in diesem Jahrhundert« gemeint ist. Solches Kontextwissen zu unterstellen, spricht für die Rechtsförmigkeit des Dokumentes. Andere rechtsförmige Dokumente wie das Grundgesetz oder die VN-Charta setzen in gleicher Weise ihren Kontext als bekannt voraus. Der Text scheint sich hieran zu orientieren. Die Differenzierung bei den Opfern in Kinder, Frauen und Männer deutet eine vom Text unterstellte abnehmende Schutzwürdigkeit der Gruppen an. Dies entspricht der Vorstellung einer patriarchalen Familienkonstellation, in der die Familienhierarchie diametral zur Schutzwürdigkeit angelegt ist: Mann, Frau und Kind. Alternative Konstellationen oder den Rückzug auf die Menschheit als Allgemeinpunkt schließt der Text aus. Dies unterstellt, dass eine patriarchale Familienkonstellationen breite Akzeptanz erfährt. Gleichzeitig gründen diese Vorstellungen von Familienhierarchie und Schutzwürdigkeit auf historisch-kulturellen Erfahrungen. Im Zuge dessen wirft das Gewissen der Menschheit die Frage auf, welche Standards dieses Gewissen setzt. Der Text hat eine universalistische Perspektive eingeführt: Wie sieht die Moral dieses universellen Gewissens aus? Dies führt der Text nicht aus, allerdings kann er insgeheim seine Vorstellungen und seinen historisch-kulturellen Hintergrund als universelles Gewissen einführen. Wenn die Vertragsstaaten das Statut ausgehandelt haben, bietet dies ein Einfallstor für Staatsinteressen. Die so auf die Innenseite der Parenthese gelangenden Staatsinteressen stehen in einem ungeklärten Verhältnis zum Universalismus. Sie können sich komplementär oder kontradiktorisch zueinander verhalten. Der Leser hat diesbezüglich verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die er stets vom Gewissen der Menschheit aus erschließen muss. Der universelle Ansatz bleibt erhalten und der Text kann den Leser weiter darin einhegen. Daher schwanken die Formulierungen zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Das angesprochene Jahrhundert ist durch den implizierten Bedeutungsgehalt bestimmt und sticht gegenüber allen anderen 129
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Jahrhunderten hervor. Allerdings bleibt es wegen der fehlenden Zahl oder einer konkreten Referenz unbestimmt. Als möglicher Kontext bietet sich das 20. Jahrhundert an. »[I]n diesem Jahrhundert« fanden zwei Weltkriege statt, in deren Zuge »Millionen von Kindern, Frauen und Männern Opfer unvorstellbarer Gräueltaten geworden sind«. Die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands und im sowjetischen Netz von Arbeits- und Gefangenenlagern haben das Gewissen der Menschheit erschüttert. Das 20. Jahrhundert umfasst verschiedene Genozide: Hereros (1904), Armenien (ab 1915), Burundi (1972), Osttimor (1975), Kambodscha (ab 1975), Bangladesch (1977), Ruanda (1994) sowie Bosnien und Herzegowina (1995). Des Weiteren lassen sich etliche bewaffnete Konflikte als Stellvertreterkriege im Kalten Krieg oder hiervon unverbunden festhalten. Andere Jahrhunderte erscheinen für das Römische Statut im Jahr 1998 zu weit entfernt und sprachlogisch unplausibel zu sein. Das durch die Opfer von »Millionen von Kindern, Frauen und Männern« sprachlich qualifizierte Jahrhundert löst sich vom Bezug auf Völker und Kulturen und öffnet eine individuell differenzierbare Ebene. Die Völker und Kulturen sind dagegen abstrakte kollektive Entitäten. Diese zumindest als einzelne Personen vorstellbaren Millionen bleiben durch die Referenz auf das Jahrhundert ohne Rahmen vage. Ihr Opferstatus bleibt auch unbestimmt, weil die Gräueltaten explizit außerhalb des Vorstellbaren verortet sind. Dieser Abschnitt verbindet die historische Realität begangener Taten mit der Qualifizierung dieser außerhalb der Grenzen des Vorstellbaren. Das, was als begangene Tat bestimmt ist, wird wegen seiner Unvorstellbarkeit in den Bereich des Unbestimmbaren versetzt. In der Perspektive des Textes ist »das Gewissen der Menschheit« vorausgesetzt, weil es durch die historischen Ereignisse »zutiefst erschütter[t]« ist. Dieses Gewissen wird damit kontextunabhängig gestellt, denn es fehlen zeitliche, sachliche und soziale Bezüge. Die Konstruktion des Gewissens wird ausgeklammert. Dies macht das Gewissen zu einer über allem schwebende Instanz, die zur Beurteilung im Stande ist und für die Menschheit zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch unterscheiden kann. Die unvorstellbaren Gräueltaten erschüttern zwar dieses Gewissen, allerdings bleibt es intakt und kann daher die Gräueltaten als solche qualifizieren. Gegenüber den Opfern bleibt die Täterrolle unausgefüllt. Dies ist im »Römische[n] Statut des Internationalen Strafgerichtshofs« beachtenswert, weil die Täter die Betroffenen strafrechtlicher Konsequenzen sind. Die Täter stehen in einem antagonistischen Verhältnis zu den Opfern. Sie erzeugen die Rollendifferenz durch ihre Tat. Die Opfer in den Vordergrund zu stellen, kann als rhetorische Strategie dienen, um den Schutz der Opfer zur moralischen Grundlage des Gewissens der Menschheit zu machen. Dies schließt repressive Motive gegenüber den Tätern aus. 130
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Allerdings entziehen sich die Staaten ihrer Rolle in den unvorstellbaren Gräueltaten. Die Genozide des 20. Jahrhunderts sind staatlich organisiert. Vor der Parenthese zu stehen und die Opfer in den Vordergrund zu rücken, schützt die Staaten davor, ihre eigene Verantwortlichkeit zu thematisieren. Die Staatenverantwortlichkeit verweist auf ein anderes Rechtsgebiet und wird von der ILC laufend diskutiert (ILC 2021a: Immunity of State; Schabas 2003: 545 ff.; Mohr 1995). Indem sich die Vertragsstaaten vor die Klammer ziehen und eine individuelle Ebene öffnen, können sie ohne Konsequenzen das Statut unterschreiben und ratifizieren. Der fehlende Bezug der Opfer auf Staaten, Völker oder Kulturen hebt sie auf eine globale Ebene, auf der das Gewissen der Menschheit seinen Platz hat. Opfer und Täter sind als Individuen zwar Teil dieser Kontexte, aber betreffen die Menschheit. Das »eingedenk dessen« leitet diese historische Folgerung ein und verankert die im vorherigen Absatz bestehende Besorgnis über die Zerstörung des Mosaiks der miteinander verbundenen Völker und Kulturen. Die universalistische Perspektive erhält einen realen Anknüpfungspunkt im 20. Jahrhundert. Die Kausalbeziehung zwischen den Absätzen historisiert das Bezugsproblem der bedrohten universalen Figuren. Dem folgt dieser Absatz, indem das Gewissen der Menschheit als neue Figur dieses Universalismus auftritt und außerhalb der historischen Ereignisse steht. Der Text spezifiziert das Bezugsproblem der bedrohten universalistischen Kommunikationsfiguren in moralischer Hinsicht. Es ist moralisch nicht geboten, Gräueltaten gegen Kinder, Frauen und Männer zu verüben und damit das Mosaik der miteinander verbundenen Völker und Kulturen zu zerstören. Nach der historischen Erfahrung sind die Gräueltaten geschehen und das Mosaik ist bedroht. Die historische Erfahrung zeigt, dass die Moral allein nicht ausreicht. Das moralisch erweiterte Bezugsproblem lässt noch auf die rechtliche Lösung mit dem Internationalen Strafgerichtshof warten. Gleichzeitig kann eine rechtliche Lösung auf eine moralische Rechtfertigung setzen. Der Internationale Strafgerichtshof baut in dieser moralischen Konstruktion des Bezugsproblems auf eine universelle soziale Wirklichkeit miteinander verbundener Völker und des Gewissens der Menschheit auf. Die Moralisierung der Opfer begründet den Universalismus und klammert den staatlich-voluntaristischen Eigensinn auf die Außenseite der Parenthese aus. Die soziale Wirklichkeit findet nur insoweit historischen Eingang zur Innenseite der Parenthese, wie sie über das vertragliche Begründungsproblem des Rechtsschöpfungsaktes hinweghilft. Die soziale Wirklichkeit steht im ersten Absatz außerhalb und in diesem Absatz innerhalb zeitlicher Bindung. Die bereits zuvor formulierte Struktur wiederholt sich in diesem Absatz. Die universalistischen Kommunikationsfiguren übernehmen die Rolle des Dritten, um hier eine Strukturbildung zu kennzeichnen. Das im ersten Absatz allgemein und in diesem Absatz historisch formulierte 131
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Problem ruft unterschiedliche Dimensionen auf, für die der IStGH als Lösung fungiert. Der Gerichtshof ist im weltgesellschaftlichen Kontext nicht einseitig einem Funktionssystem zuzuordnen, sondern nimmt verschiedene Dimensionen als gesellschaftliche Problembehandlung auf. Der historische Bezug impliziert die in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellte Entwicklung einer fehlenden internationalen Strafverfolgung, obwohl sie verschiedene Zeitgenossen forderten (vgl. Erstes Kapitel: IV.). Gleichzeitig befindet sich der IStGH im Möglichkeitshorizont, den die Nürnberger Prozesse geöffnet haben. Das erschütterte Gewissen der Menschheit haben die Hauptankläger der Nürnberger Prozesse bereits aufgerufen (vgl. Zweites Kapitel: III.). Eine sich entfaltende Strukturbildung nimmt das Römische Statut auf und ermöglicht das moralische Urteil. Das wiederholte historische Versagen und das gefolgerte moralische Gebot erhöhen den Handlungsdruck gegenüber der allgemeinen Darstellung des ersten Absatzes. Deshalb sind die Staaten sind in ihrem horizontalen Modus der Kooperation umso mehr auf universale Kommunikationsfiguren in der Vertikalen angewiesen. Dieser Absatz verschärft einerseits das Begründungsproblem und bereitet andererseits seine Lösung vor, indem die Vertragsstaaten das Gewissen der Menschheit als moralische Institution aufrufen. Ohne das Verhältnis der Staaten zu diesen universellen Kommunikationsfiguren zu klären, verlagern die Vertragsstaaten diese Frage über das Römische Statut in den IStGH – von der Außenseite auf die Innenseite der Parenthese. Die Vertragsstaaten reproduzieren damit die Struktur des vertikalen Modus der Kooperation, indem sie sich zu seiner Gründung die Emergenzfunktion der universellen Kommunikationsfiguren als Dritte zu Nutze machen. Gleichzeitig legen die Vertragsstaaten die für den IStGH relevanten Umweltinstitutionen fest. Die generative Regel bleibt, das Verhältnis zwischen Horizontaler und Vertikaler zu bestimmen. Dieses Verhältnis steht im Hintergrund des Bezugsproblems bedrohter Völker und Kulturen sowie des erschütterten Gewissens der Menschheit. Es erfasst das Begründungsund Legitimationsproblem auf der Horizontalen unter den Vertragsstaaten und führt zur Vertikalen universaler Kommunikationsfiguren als legitimierende institutionelle Muster in der Umwelt. 2. Konzeption und Straflosigkeit internationaler Verbrechen Die folgenden Absätze gehen über die global-historische Problemstellung hinaus und leiten zu einer eigenständigen Verbrechenskonzeption über. Die vorherigen beiden Absätze haben die universelle Gemeinschaft der Völker und Kulturen sowie das Gewissen der Menschheit als Institutionen aufgenommen. Diese Institutionen setzen im Hinblick auf ihre 132
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Bedrohung und Erschütterung die Erwartung, dass der Internationale Strafgerichtshof Abhilfe schafft. In der Verhältnisbestimmung der Horizontalen und Vertikalen hat der Text verschiedene Aspekte aufgerufen: die Umwelt-Organisation, die Beziehung unter Vertragsstaaten, IStGH sowie Individuen, das wechselseitiges Begründungs- und Legitimationsproblem Horizontaler wie Vertikaler. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die Suche nach universellen Kommunikationsfiguren, die als Dritte fungieren können. Einerseits verschärft dies die Problemstellung, weil sie nicht nur als Bedrohung der Völker und Kulturen besteht, sondern auch auf der moralischen Ebene auftritt. Andererseits sichern die aufgerufenen Institutionen die Legitimation. Darüber hinaus zeigt diese Verhältnisbestimmung zwischen der Vertikalen und der Horizontalen, dass Kohs Beschreibung ihres Widerspruchs zutreffend ist. Dieser Widerspruch erweist sich entsprechend der theoretischen Konzeption als produktiv für die Struktur- und Ordnungsbildung. Die Dritten ermöglichen die Vertikale und die Institutionalisierung, die auf der Horizontalen vor der Problemstellung doppelter Kontingenz nicht möglich wäre. Der global-historische Kontext löst diese Problemstellung und verweist mit den aufgerufenen Dritten auf eine vorhandene Sinnstruktur. Davon ausgehend kann der Text eine spezifische Verhältnisbestimmung zwischen Horizontaler und Vertikaler beschreiben. Gleichzeitig markiert der Text die makrodeterminative Umwelt und die emergente Strukturbildung vor diesem Horizont. Dies bereitet die Grundlage für die völkerstrafrechtlichen Verbrechen in der Übereinkunft nach der Präambel. Diese Verbrechenkonzeption behandelt der Text jedoch als bereits als gegeben, um der Frage nach der Begründung internationaler Verbrechen zu entgehen. Dies geschieht, indem die Straflosigkeit internationaler Verbrechen vom global historischen Kontext abstrahiert und als allgemeine Herausforderung gesetzt wird. Vor dieser historisch hergeleiteten Problemstellung setzt die He rausforderung, die Straflosigkeit internationaler Verbrechen zu beenden, diese voraus. Den ersten Schritt hierzu macht Absatz 3: in der Erkenntnis, dass solche schweren Verbrechen den Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt bedrohen, Der Ausdruck »in der Erkenntnis« leitet diesen Absatz ein. Der Duden definiert »Erkenntnis« als eine »durch die geistige Verarbeitung von Erfahrungen gewonnene Einsicht« oder als »die Fähigkeit des Erfassens der Außenwelt«. Die typische dass-Konstruktion leitet zum Inhalt der Erkenntnis über. Der Ausdruck »solche schweren Verbrechen« stellt einen Bezug zum vorausgegangenen Inhalt her. Die »schwere[n] Verbrechen« können strafbewehrtes Verhalten oder auch moralisch 133
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verwerfliche Taten sein. Das Verständnis der »schweren Verbrechen« hängt am Demonstrativpronomen (»solche«). Es liegt nahe von den unvorstellbaren Gräueltaten im vorherigen Absatz auszugehen, weil sie bisher das einzig textintern genannte Verhalten darstellen und auch inhaltlich den einzigen Bezug bilden können. »Frieden«, »Sicherheit« und »Wohl« sind durch »solche schweren Verbrechen« bedroht. Allerdings bleiben die Art und Weise der Bedrohung unbestimmt, obwohl das Verb »bedrohen« im Präsenz steht und damit eine aktive Bedrohung ausdrückt. Der Dreiklang von »Frieden«, »Sicherheit« und »Wohl« bezieht sich auf die Welt. Die Ausdrücke zählen zum Alltagsverständnis wie in der Forderung nach dem Weltfrieden verschiedener internationaler Organisationen. »Frieden«, »Sicherheit« und »Wohl« stellen eine aufsteigende Liste dar: Frieden bedeutet die Abwesenheit von Krieg, Sicherheit bildet den Gegenwert zu Gefahr und das Wohl steht dem Leid gegenüber. Diametral dazu steht das Ausmaß der Betroffenheit der Gegenwerte: Leid betrifft den Einzelnen als Opfer. Gefahr sehen sich mehrere ausgesetzt und Krieg erschüttert ganze Gesellschaften und die Welt. Im Zentrum dieses Absatzes steht die Erkenntnis über den Verbrechenscharakter unvorstellbarer Gräueltaten. Frieden, Sicherheit und Wohl der Welt fungieren als schützenswerte (Rechts-)Güter, deren Verletzung als schwere Verbrechen gelten. Unklar bleibt, ob noch die moralische oder bereits die rechtliche Dimension im Vordergrund steht. Trotzdem öffnet dieser Absatz den Text in operativer Hinsicht, weil sie ein feststellbarer Konditional formuliert: Wenn Frieden, Sicherheit und Wohl verletzt sind, dann handelt es sich um schwere Verbrechen. Dieser Konditional stammt aus der historischen Erfahrung des vorherigen Absatzes (»solche schweren Verbrechen«). Das in diesem Absatz verwendete Präsenz unterstreicht den Charakter einer allgemeinen Regel. Aus diesem Grund sind die Güter nicht mehr als individuelles Leid ausgestaltet, sondern als universelle Kommunikationsfiguren. Über das vergangene Leid der Opfer hinaus bedrohen »solche schweren Verbrechen« die Welt. Gleichzeitig hat diese Bedrohung in Frieden, Sicherheit und Wohl drei Dimensionen, die auf unterschiedliche Gegenbegriffe verweisen. Die drei Dimensionen bestimmen mit ihren Gegenbegriffen Krieg, Gefahr und Leid, welche schweren Verbrechen die Welt bedrohen. Dem zur Folge treten Opfer und Täter nur unter diesem Konditional schwerer Verbrechen auf der globalen Ebene auf. Die Erkenntnis dieses Konditionals ist die historische Lehre im Hinblick auf den vorangegangenen Absatz und setzt auch den ersten Absatz voraus. Die Welt ist das Mosaik der miteinander verbundenen Völker und Kulturen. Diese gewonnene Einsicht ist universell, weil sie auf einem solchen Standpunkt der Weltbeobachtung beruht und von diesem Standpunkt aus historischen Lehren zieht. Die Erkenntnis als »Fähigkeit des Erfassens« (Duden) impliziert eine unbestreitbare logische Operation. Der Vertragsschluss gründet sich 134
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darauf und rechtfertigt so seine logische Notwendigkeit, um die Welt vor ihrer Bedrohung des Friedens, der Sicherheit und des Wohls zu schützen. Der Vertragsschluss steht wie seine naturrechtlichen Vorgänger des Sozialvertrags vor dem Problem, übergeordnete Struktur zu begründen. Daher stützt sich die Formulierung »Erkenntnis« auf eine logische Operation, die durch die vorausgehende Beobachtung folgt. Allerdings setzt dies die Welt aus miteinander verbundenen Völkern und Kulturen sowie die historische Lehre bereits voraus, um daraus die Klasse schwerer Verbrechen zu schaffen. Die schweren Verbrechen finden vor dem Horizont dieser Welt statt. Deshalb trifft jedes gegen Individuen verübte schwere Verbrechen die Welt. Die Staaten können dies nicht als wechselseitiges Erwarten eines Vertrags darstellen. Sonst würden sie wie bei Tindals Darstellung der Piraterie im horizontalen Modus verbleiben (vgl. Erstes Kapitel: II.). Der Welthorizont im Hinblick auf Frieden, Sicherheit und Wohl ist die emergente Struktur, innerhalb derer die Möglichkeit solcher Verbrechen entsteht. Die Charta der Vereinten Nationen unterstreicht diese Per spektive, weil die Vereinten Nationen sich Frieden und Sicherheit in Art. 1 zum Ziel und in Art. 2 zum Grundsatz gesetzt haben. Das Wohl bilden die Vereinten Nationen mit sozial und wirtschaftlichen Einrichtungen ab. Dieser Absatz verweist mit der Welt nicht nur auf eine universelle Kommunikationsfigur, sondern bezieht sich auf leitende Grundsätze und Ziele einer rechtlich regulierten Weltordnung. Diese Grundsätze und Ziele als Dritte beinhalten institutionalisierte Erwartungen und folgt damit der generativen Regel, weitere Institutionen anzubringen und zugleich die Problemstellung in den IStGH zu verschieben. Die (Vertrags-) Staaten, das Völkerstrafrecht im Römischen Statut und der IStGH stehen damit im beschriebenen vertikalen Modus der Kooperation der Weltgesellschaft. Der Konditional öffnet die operative Perspektive und definiert unter Bezug auf die Umwelt eine konkrete Erwartung an den Internationalen Strafgerichtshof für die zu verfolgenden schweren Verbrechen. Dies unterstützt der vierte Absatz, der die Rechtsgüter in der internationalen Gemeinschaft als Ganzes aufhängt: bekräftigend, dass die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, nicht unbestraft bleiben dürfen und dass ihre wirksame Verfolgung durch Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene und durch verstärkte internationale Zusammenarbeit gewährleistet werden muss, Die vorausgehenden Absätze haben in einer universalistischen Perspektive moralische und rechtliche Institutionen in der Umwelt verortet. Indem die Vertragsstaaten und der IStGH sich darauf beziehen, behandeln 135
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die Vertragsstaaten auf der Horizontalen und der zu gründende Internationale Strafgerichtshof in der Vertikalen das Begründungs- und Legitimationsproblem. Die aufgerufenen Institutionen fungieren als Dritte, die eine emergente Strukturbildung ermöglichen. Die Einleitungswörter »im Bewusstsein«, »eingedenk dessen« und »in Erkenntnis« zeigen den Entwicklungsprozess zu dieser universalistischen Perspektive an. Der vorherige Absatz deutete im Abschluss dieses Prozesses bereits die operative Perspektive an. In dieser operativen Hinsicht sind die Entscheidungsregeln und -wege zu identifizieren, mit denen der IStGH das HorizontalVertikal-Verhältnis bestimmt. Der Abschnitt leitet mit »bekräftigend« im Sinne von »unterstreichen« und »betonen« und der gewohnten dass-Konstruktion ein. Die im vorherigen Absatz genannten schweren Verbrechen stehen anscheinend in einem komparativen Bezug zu den »schwersten Verbrechen«. Die differentia specifica ist die als Ganze berührte internationale Gemeinschaft. »Internationale Gemeinschaft« umfasst die Gemeinschaft der Staaten und ihre zwischenstaatlichen Beziehungen. Gelegentlich bezieht sich der Begriff auch auf die Vereinten Nationen. »Gemeinschaft« drückt ein Zusammensein und -leben in gegenseitiger Verbundenheit aus, welche auf gemeinsamen Anschauungen und/oder Ziele beruht. Die Gemeinschaft »als Ganzes« stellt die Gesamtheit in den Vordergrund. Die einzelnen Staaten treten hinter der »internationale[n] Gemeinschaft als Ganzes« zurück. In diesem Verständnis betreffen die in einem Staat verübten schwersten Verbrechen nicht nur alle Staaten als Einzelne, sondern die von ihnen gebildete Gemeinschaft ist dadurch berührt. Dieses Verb bringt einen physischen Kontakt zum Ausdruck und verstärkt den plastischen Eindruck von der internationalen Gemeinschaft als realer Entität. Das Verbrechen muss schwer genug sein, um diese Wirkung zu erzielen. Das Ausmaß der Verbrechen scheint der entscheidende Faktor für die Schwere des Verbrechens zu sein. Die so spezifizierten Verbrechen sollen »nicht unbestraft bleiben dürfen«. Einerseits hält diese Formulierung einen bisher bestehenden Zustand fest. Andererseits entsteht eine Erwartung an die Zukunft. An diesen ersten Satzteil schließt gleichrangig der zweite Satzteil über die »wirksame Verfolgung« an. Das »und« sowie die wiederholte dassKonstruktion verknüpfen den zweiten Satzteil in gleicher Weise mit dem »bekräftigend« wie schon den ersten Satzteil. Das Possessivpronomen »ihre« bezieht sich auf die »schwersten Verbrechen« und verbindet die Sätze miteinander. Das Adjektiv »wirksam« bekräftigt die Erwartung, dass die »schwersten Verbrechen […] nicht unbestraft bleiben dürfen«. Es kombiniert den festgestellten Status Quo mit der Erwartung zu einem aktiven Verhalten (»Verfolgung«). In diesem Zusammenhang der »schwersten Verbrechen« mit »ihrer wirksamen Verfolgung« geht es in diesem Dokument über einen Internationalen Strafgerichtshof 136
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vermutlich um strafrechtliche Prozesse. Dieser Schritt vertieft mit dem Wort »durch« die operative Perspektive: »Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene« und »verstärkte internationale Zusammenarbeit«. Beide Mittel stehen mit dem »und« in einer Aufzählung und werden jeweils mit einem »durch« eingeleitet, was ihre sprachliche Gleichrangigkeit begründet. Die erste Option verlagert die operative Umsetzung in den jeweiligen Staat, während die zweite Option den Weg zu einer internationalen Strafverfolgung beschreibt. Der Begriff »Maßnahme« verortet die genannten Mittel als Folgerung aus den vorherigen Absätzen: es wurde maßgenommen und für die Situation passende und angemessene Wege entworfen. Nationale Strafverfolgung und internationale Zusammenarbeit treten als voneinander getrennte und wegen ihrer sprachlichen Gleichrangigkeit als zueinander exklusive Maßnahmen auf. Aufgrund der vorgenommenen Situationsbewertung muss die vorhandene internationale Zusammenarbeit verstärkt auftreten. Das Minimum der Zusammenarbeit, sich gegenseitig wahrzunehmen, reicht nicht aus, um die »wirksame Verfolgung« der »schwersten Verbrechen« zu gewährleisten. Gegenüber den Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene (Polizei, Gerichte) bleibt unbestimmt, wie die internationale Zusammenarbeit aussehen soll. Diese beiden Maßnahmen sind Teil der im zweiten Satzteil formulierten Erwartung, dass die »wirksame Verfolgung […] gewährleistet werden muss«. Der erste Satzteil formuliert die Erwartung daran, dass die schwersten Verbrechen strafbewehrt sein sollen, und der zweite Satzteil führt dies zu einer operativen Erwartung an die »wirksame Verfolgung«. Das Verb »gewährleisten« deutet darauf hin, dass es nicht nur um die Verfolgung als konkrete Leistung geht, sondern für diese Leistungserbringung eine Gewähr bzw. ein Garant mitgedacht ist. Diese Garanten könnten die mit den Maßnahmen verbundenen Akteure – der Einzelstaat und der Internationale Strafgerichtshof – oder die internationale Gemeinschaft sein. Dieser Absatz bringt zwei miteinander verknüpfte Erwartungen zum Ausdruck: Strafbewehrung schwerster Verbrechen und die wirksame Verfolgung. Die Strafwürdigkeit steht in diesem Absatz außer Frage. Daher liegt der Schwerpunkt darauf, eine wirksame Strafverfolgung zu gewährleisten. Diese miteinander verbundenen Erwartungen folgen aus den vorherigen Absätzen, die die Grundlage für diese Erwartungsbildung geliefert haben. Gleichzeitig markiert dieser Prozess der Erwartungsbildung, dass bisher Straflosigkeit bei schwersten Verbrechen vorherrscht. Gegenüber dieser Straflosigkeit steht das hier entfaltete Erwarten. Der Text setzt sich demnach von einer Beobachtung sozialer Wirklichkeit ab und versucht eine Alternative zum Status Quo zu erarbeiten. In dieser Alternative stehen nationale und vermutlich internationale Strafverfolgung nebeneinander, ohne dass ihr Verhältnis zueinander geklärt ist. 137
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Dieser Schritt wirft in operativer Hinsicht die Fragen auf, wie die beiden Erwartungen umzusetzen sind. Einen ersten Hinweis enthält der Text durch den Ausdruck »einzelstaatlicher Ebene«. Neben dieser Ebene sind andere Ebenen wie eine globale Ebene der internationalen Gemeinschaft und eine individuelle Ebene der Millionen Kinder, Frauen und Männer zu vermuten. Diese Ebenen hängen über die postulierten Erwartungen miteinander zusammen, weil die internationale Gemeinschaft als Ganzes auf der globalen Ebene durch die schwersten Verbrechen beführt ist und die Individuen dies erleiden. Dieser Zusammenhang scheint zunächst keine spezifische Richtung im Sinne eines top down oder bottom up zu haben. In dieser Hinsicht der Verbrechenskonzeption bleibt die einzelstaatliche Ebene ausgenommen. Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der globalen und individuellen Ebene in den verschiedenen Kommunikationsfiguren des Gewissens der Menschheit oder den miteinander verbundenen Völkern und Kulturen. Erst in operativer Hinsicht scheint ein Zusammenhang in der Legitimationskette von den globalen Rechtsgütern wie der Internationalen Gemeinschaft zu den Einzelstaaten zu bestehen, um die Strafverfolgung zu gewährleisten. Hinter der verstärkten internationalen Zusammenarbeit steht vermutlich der Internationale Strafgerichtshof. Allerdings kann es sich hierbei auch nur um eine Zusammenarbeit zwischen Staaten handeln, die innerhalb der internationalen Gemeinschaft als Staatengemeinschaft legitimiert ist. Es besteht die Möglichkeit, dass sich staatliche Interessen über diese unbestimmte Ausdrucksweise ein Einfallstor sichern. Der im Absatz hergestellte Erwartungszusammenhang schließt die Verhältnisbestimmung der aufgerufenen Elemente nicht ab. Das Bezugsproblem wechselseitiger Begründung sowie Legitimation verschwindet hinter den Erwartungen an eine operative Umsetzung der Strafverfolgung. Die internationale Gemeinschaft als Ganzes sowie die anderen universellen Kommunikationsfiguren gewährleisten in ihrer Funktion als Dritte die normative Grundlage dieser Erwartungen. Der über die Absätze »im Bewusstsein«, »eingedenk«, »in Erkenntnis« verlaufende Reflexionsprozess ist abgeschlossen und gelangt zu einer abschließenden Bekräftigung der zu ziehenden Konsequenz. Die Erwartungen determinieren die Struktur und verlagern damit alle noch zu bestimmenden Verhältnisse in operative Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshofs. Obwohl der Gerichtshof an dieser Stelle noch nicht gegründet ist, trägt er bereits eine Hypothek im Ausgleich der Horizontalen und der Vertikalen hinsichtlich ihres wechselseitigen Legitimationsbedürfnisses. Die Erwartungen bilden diese Hypothek und die Reproduktionsmechanismen ab: Die erste Erwartung, die Straflosigkeit zu beenden, bildet die globale Problemstellung. Hierfür erarbeiten die Vertragsstaaten im Römischen Statut eine Lösung und werfen damit die 138
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Frage auf, wie eine Lösung operativ aussehen kann. Die zweite Erwartung setzt die Staaten und die internationale Zusammenarbeit gleichrangig nebeneinander und entscheidet die Frage der operativen Umsetzung nicht. Die zuvor nur als Dritte genutzten universellen Kommunikationsfiguren befinden sich auf der globalen Ebene, aber sie hatten keine operative Funktion. Die internationale Zusammenarbeit soll diese Funktion übernehmen, damit gewinnt die globale Ebene eine operative Seite. Die aufgerufenen universellen Kommunikationsfiguren bringen ein eigenständiges Verständnis schwerster Verbrechen hervor und daraus folgt, die Strukturbildung in operativer Hinsicht fortzusetzen. Die Präambel dokumentiert diese Strukturbildung in ihrer historischen Entfaltung und kodifiziert diese in konkreten Erwartungen. Diese Erwartungsstruktur ist gleichzeitig auch ein Erwartungszusammenhang, innerhalb dessen verschiedene Institutionen, Dritte, Staaten, Personen usw. diese Erwartungen erfüllen sollen. Der Verweis auf die internationale Gemeinschaft als Ganzes stützt diese Überlegung, weil sie eine explizite Formulierung wie in Art. 53 der WVRK darstellt und als Garant für das ius cogens dient: »Im Sinne dieses Übereinkommens ist eine zwingende Norm des allgemeinen Völkerrechts eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann« (Art. 53 WVRK).
Die aufgeworfenen Erwartungen lassen sich dementsprechend als ius cogens verstehen. Daher deuten sie auf eine globale Rechtsordnung hin, die es ermöglicht, zum einen kontrafaktisch an den Erwartungen festzuhalten und zum anderen die internationale Gemeinschaft als Garanten dieser Rechtsordnung zu betrachten. In weltgesellschaftlicher Hinsicht schafft der Erwartungszusammenhang die Bedingungen für die globale Rechtsordnung in völkerstrafrechtlicher Hinsicht. Gleichzeitig verweist dies aber auch auf eine über das Völkerstrafrecht hinausgehende Struktur. Institutionen, Dritte, Staaten, Personen und der Internationale Strafgerichtshof sind auf der Grundlage dieser Erwartungen miteinander verbunden und verhalten sich in Bezug auf diese Erwartungen. Sie bilden die legitimatorische und operative Grundlage, allerdings können sie diese Grundlagen nicht sicherstellen. Daher ist mit den Erwartungen weder die Straflosigkeit der schwersten Verbrechen noch die Frage, wie diese operativ zu bewältigen ist, als Problem gelöst. Diese Problemstellung bleibt und tritt als Struktur in jeder Bezugnahme auf die Erwartungen wieder auf. Für die Präambel bedeutet dies, dass diese Problemstellung in verschiedene Einzelverhältnisse aufzulösen ist, um diese separat zu behandeln und zu wiederholbaren Entscheidungsfragen umzubauen. 139
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Demgegenüber steht ein einheitlicher Bezug, der im fünften Absatz unterstrichen wird: entschlossen, der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen und so zur Verhütung solcher Verbrechen beizutragen, Der vorausgehende Absatz beinhaltet die zentralen Erwartungen der Präambel und des Römischen Statuts. Die Erwartungen bestehen aus einer globalen Strafbarkeitserwartung und ihrer operativen Ausführung durch Staaten oder internationale Zusammenarbeit. Das Bezugsproblem der Präambel – Bedrohung des Mosaiks und der Welt sowie das erschütternde Leid begangener unvorstellbarer Gräueltaten – ist in konkrete Erwartungen umgemünzt. Die verschiedenen aufgerufenen Kommunikationsfiguren tragen diese Erwartungen, weil das Mosaik der Völker und Kulturen, das Gewissen der Menschheit, die Welt und die Internationale Gemeinschaft als Ganzes gefährdet sind. Die Vertragsstaaten bleiben auf der Außenseite der Parenthese. Sie kommen nur indirekt als »Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene« in operativer Hinsicht für die Erwartung an die »wirksame Verfolgung« vor und lassen zugleich ihr Verhältnis zur internationalen Zusammenarbeit ungeklärt. Für den weiteren Text ist eine Aufklärung dieses Verhältnisses zu erwarten. Das Einleitungswort »entschlossen« bringt einen Willen bzw. einen Entschluss zum Ausdruck. Der Entschluss besteht aus zwei miteinander verbundenen Satzteilen. Der Gegenstand dieses Entschlusses ist im ersten Satzteil, »der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen«. »Straflosigkeit« stellt eine härtere Formulierung als »nicht unbestraft bleiben dürfen« dar und deutet auf eine Ernsthaftigkeit im Einklang mit der besonderen Schwere der Verbrechen hin. Dieses Wort verweist auf den bereits vorher herausgearbeiteten Zustand des Unbestraftseins, der durch die Wortendung »-keit« auch angezeigt ist. Die Zuordnung der »Straflosigkeit« folgt auf grammatischer Ebene zu »Täter«, damit ist eine Gruppe von Personen bezeichnet, die eine Tat im Sinne der »schwersten Verbrechen« begangen und hierfür keine Strafe erhalten hat. Der Text bleibt bei einer Zustandsbeschreibung: »ein Ende zu setzen« sequenziert den Zustand ein, vor dessen Anfang ein anderer Zustand vorhanden war und an dessen Ende ein anderer Zustand als Alternative folgt. Die Formulierung ist absolut, weil der aktuelle Zustand mit dem Ende der Straflosigkeit der Täter vergeht. Im zweiten Satzteil – nach dem aufzählenden und additiven »und« – kommt eine Zielrichtung des Entschlusses hinzu. »[D]er Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen« wird zum Mittel, um für einen Zweck (»so zur«) zu dienen. Dieser Zweck ist der Beitrag zur »Verhütung solcher Verbrechen«. Der Ausdruck »solcher Verbrechen« stellt den demonstrativen Bezug auf die »schwersten Verbrechen« her. 140
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Das Verb »beizutragen« zeigt an, dass die »Verhütung solcher Verbrechen« nicht erreicht ist, wenn die Straflosigkeit der Täter beendet ist. Es bleibt jedoch offen, was andere Beiträge sein können. Dieser Absatz schließt direkt an die im vorherigen Absatz festgehaltene Erwartungsstruktur an, indem sie den Entschluss der Vertragsstaaten zum Ausdruck bringt, die Erwartungen zu erfüllen. Auf diese Weise verlagert sich die Zurechenbarkeit auf die Täter als konkrete Personen. Die Täter enttäuschen die Erwartungen und die Staaten treten nicht als vermittelnde Instanz dazwischen. Auf der Seite der Verbrechenskonzeption gibt es nur die globale Ebene und keine Trennung zwischen den Staaten und der internationalen Zusammenarbeit wie in operativer Hinsicht. Der Täter ist dem zur Folge auch Gegenstand der Strafverfolgung der Staaten und des Internationalen Strafgerichtshofs. Am Täter wiederholt sich die operative Trennung und gleichzeitig besteht der zuvor dargestellt Erwartungszusammenhang von der globalen zur individuellen Ebene. Die sich wiederholende Zustandsbeschreibung (»Straflosigkeit«, »nicht mehr unbestraft bleiben dürfen«) macht deutlich, dass ein Veränderungsbzw. Strukturbildungsprozess noch im Gange ist. An den Erwartungen kann bis zum Römischen Statut noch nicht ohne Weiteres festgehalten werden, die Kodifizierung und der Entschluss der Vertragsstaaten hierzu weisen diese Veränderung nach. Dies markiert die Grenzen zwischen den Statuten der Einzelfalltribunale zur Konstituierung eines auch über den IStGH hinaus reichenden Völkerstrafrechts. Hier deutet sich durch die Kommunikationsfiguren eine universelle Geltung an, die von Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene und internationaler Zusammenarbeit gleichermaßen gedeckt werden soll. Dies verschärft die Frage der operativen Umsetzung: Zum einen ist sie durch den verdeckten Vertragsschluss auf die Vertragsstaaten und nicht auf alle Staaten begrenzt. Zum anderen ist auch das Verhältnis der Vertragsstaaten zu einer internationalen Strafverfolgung ungeklärt. Die Strukturbildung ist auf diese Weise an das Begründungs- und Legitimationsproblem des vertraglichen Rechtsschöpfungsakts gekoppelt. Allerdings tritt letzteres hinter dem Problem der Straflosigkeit der Täter zurück. Der auf der Innenseite der Parenthese entfaltete Erwartungszusammenhang gewinnt gegenüber dem auf der Außenseite liegenden Problem des Rechtsschöpfungsakts Selbstständigkeit. Die Problemstellung auf der Innenseite der Parenthese verdeckt insofern die Problemstellung auf der Außenseite. Dies führt dazu, dass das Verhältnis zwischen Innen- und Außenseite das Umwelt-System-Verhältnis abbildet. Der auf der Innenseite der Parenthese entfaltete Erwartungszusammenhang verbirgt das Begründungsproblem des Systems. Dieses Verhältnis bindet die Horizontale staatlicher Souveränität und die Vertikale der universellen Institutionen zusammen und zeigt den Ausgang aus ihrem Widerspruch im Wechsel zu operativen Fragen an. Die hier noch einmal bekräftigte 141
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Bindung der globalen Verbrechenskonzeption mit der individuellen Täterschaft ohne Vermittlung durch den jeweiligen Staat unterstreicht die weltgesellschaftliche Perspektive und hebt die Relevanz operativer Fragen hervor. 3. Staatliche Strafverfolgung im Völkerrecht Nachdem der Text zwei Möglichkeiten der Strafverfolgung – staatlich oder international – aufgezeigt hat, führt er die eine der beiden Varianten aus. Hierfür verortet der Text die staatliche Strafverfolgung im Völkerrecht und führt damit zur Komplementarität hin. Das Völkerstrafrecht ist nicht auf die internationale Strafverfolgung verengt. Sie besteht aus der Alternativität staatlicher und internationaler Strafverfolgung. Diesen Möglichkeitshorizont in Bezug darauf, die Straflosigkeit internationaler Verbrechen zu beenden, entfaltet die konkrete Struktur und leitet zur abschließenden Fassung des Komplementaritätsprinzips über. Die staatliche Strafverfolgung leitet der sechste Absatz ein: daran erinnernd, dass es die Pflicht eines jeden Staates ist, seine Strafgerichtsbarkeit über die für internationale Verbrechen Verantwortlichen auszuüben, Die einleitende Formulierung »daran erinnernd« stellt einen Bezug zur Vergangenheit her, indem sie einen Sachverhalt wieder aus dem Gedächtnis ins Bewusstsein ruft. Gleichzeitig hat diese Formulierung auch etwas mahnendes, als ob der folgende Sachverhalt bekannt sein müsste, aber nicht beachtet wird. Der Gegenstand des Erinnerns ist in der üblichen Einleitung über die dass-Konstruktion »die Pflicht eines jeden Staates«. »[E]s« als Subjekt ist unbestimmt und zugleich allgemein, da dahinter keine konkrete Entität steht. Wie bei »es regnet« bleibt der Verursacher oder hier der Verpflichtende unsichtbar. Die Pflicht kann zu einem bestimmten Verhalten oder auf etwas bzw. jemanden bestehen. Es braucht einen Gegenstand der Pflicht als Bezugsobjekt, an die der Verpflichtete gebunden ist. In der Bindung des Verpflichteten an einen Verpflichtenden ist auch das Bezugsobjekt Teil der Pflicht. Eine Pflicht kann sowohl rechtlich als auch moralisch begründet sein. Die Verpflichtung »eines jeden Staates« ist allgemeiner als »Vertragsstaat« und »Einzelstaat«. Die Verpflichteten sind die Staaten im Allgemeinen (»jedes«) und zugleich im Einzelnen (»eines«). Diese Wortkombination »eines jeden« bringt das Einzelne und das Allgemeine zusammen. Das Possessivpronomen »seine« ordnet die Strafgerichtsbarkeit dem Staat zu. Dies setzt voraus, dass jeder einzelne Staat über eine Strafgerichtsbarkeit verfügt, mit der der 142
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Staat die Pflicht erfüllen kann. Gegenstand der Strafgerichtsbarkeit sind »internationale Verbrechen«, die die Staaten als individuelle Taten gegenüber den »Verantwortlichen« ausüben sollen. Die Verpflichtung hat damit einen festgelegten sachlichen Gegenstandsbereich. Der Ausdruck »internationale Verbrechen« bezieht sich dem bisherigen Text folgend auf die »schwersten Verbrechen«, da diese »nicht unbestraft bleiben dürfen«. Anstelle von »Täter« wie im vorherigen Absatz steht der Begriff der »Verantwortlichen«. Dies drückt nicht nur die Möglichkeit aus, dass die Person die Tat direkt verursacht hat, sondern darüber hinaus die Verantwortung zum Beispiel durch die Erteilung entsprechender Befehle oder durch Unterlassen einer Schutzpflicht trägt. Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Pflicht bleibt offen, ob diese die Strafgerichtsbarkeit der Staaten entgrenzt, indem nicht der Staatsbürger, sondern der Verantwortliche Betroffener der Strafgerichtsbarkeit ist. Die schriftliche Fixierung der Pflicht hat den Charakter positiven Rechts. Dies verweist auf eine besondere Bedeutung, die dieser Pflicht zukommt. Auf der einen Seite handelt es sich um eine globale Verpflichtung der Staaten gegenüber den »Verantwortlichen«. Auf der anderen handelt es sich um eine operative Erwartung an die Staaten. Gleichzeitig tragen die Individuen für die Verbrechen die Verantwortung, sodass auch diese Ebene in die Verpflichtungen eingebunden ist. Der Erwartungszusammenhang verstrickt trotz der Verpflichtung der Staaten alle anderen Ebenen. Diese Verpflichtung schließt an das Prinzip aut dedere aut punire (Ausliefern oder Bestrafen) an, welches Hugo Grotius entwickelt hat (vgl. Maierhöfer 2006). Diese Verpflichtung ist Teil verschiedener völkerstrafrechtlicher Verträge. Dieser Absatz stellt den Bezug zu einer länger bestehenden völkerrechtlichen Gewohnheit und ihrer Kodifizierung in spezifischen völkerstrafrechtlichen Verträgen her. Diese Verpflichtung ist nicht mehr auf einen Vertrag und seinen Inhalt beschränkt, sondern bezieht sich auf alle internationalen Verbrechen (schwere und schwerste Verbrechen). Dies kennzeichnet die universalistische Perspektive einer globalen Rechtsordnung, die diese Erwartungsstruktur an ihre innergesellschaftliche Umwelt richtet. Der Verweis auf bereits institutionalisierte Erwartungen hat den gleichen Effekt wie die universalen Kommunikationsfiguren, weil sie als bereits legitimiert gelten. Die Verpflichtung der Staaten steht demnach schon auf festen Grund, weshalb nur eine Erinnerung, aber keine Begründung notwendig ist. Die rechtsschöpferische Ausweitung über jeden einzelnen Vertrag hinaus und ihre Kodifizierung im Römischen Statut kann sich hinter diesem Erinnerungsaufruf verstecken. Die Erinnerung weist zugleich daraufhin, dass die Staaten ihre Pflichterfüllung vernachlässigt haben. Als alternative Maßnahme tritt daher mit Blick auf die vorherigen Absätze die internationale Zusammenarbeit als Chiffre für den Internationalen Strafgerichtshof auf. In dieser Hinsicht ist das Komplementaritätsprinzip bereits eng angelegt, 143
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weil es in Folge der Pflichtvernachlässigung greift. Diese Verpflichtung setzt die eine Seite, damit auf der anderen Seite das Komplementaritätsprinzip greifen kann. Diese generelle Pflicht der Staaten setzt der siebte Absatz in einem konkreten Vorbehalt um, der zugleich diese im Völkerrecht verortet: in Bekräftigung der Ziele der Charta der Vereinten Nationen und insbesondere des Grundsatzes, dass alle Staaten jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen haben, Die vorausgegangenen Absätze beschreiben den Erwartungszusammenhang zwischen der Verbrechenskonzeption und ihrer wirksamen Verfolgung. Dieser Zusammenhang geht von einer globalen Verbrechenskonzeption aus, die auf verschiedene universelle Kommunikationsfiguren gestützt ist. Diese Kommunikationsfiguren erfüllen die Emergenzfunktion des Dritten und garantieren die Strukturbildung. In operativer Hinsicht stehen Einzelstaaten und internationale Zusammenarbeit nebeneinander. Zum einen muss das Verhältnis zwischen der Verbrechenskonzeption und die sie absichernden Institutionen in der Umwelt geklärt werden. Zum anderen ist das Verhältnis zwischen Einzelstaaten und internationaler Zusammenarbeit näher zu bestimmen. Beide zu klärenden Verhältnisse weisen auf die gleiche sich wiederholende Problemstellung emergenter Strukturbildung zwischen der Horizontalen souveräner staatlicher Vertragsschließung und der Vertikalen universeller Kommunikationsfiguren hin. Horizontale und Vertikale sind aufeinander angewiesen, um ihr wechselseitig bestehendes Begründungs- und Legitimationsproblem zu lösen. Ausgehend von dieser Problemstellung führt die Präambel bereits institutionalisierte Erwartungen an und baut so die Brücke zur Gründung eines Internationalen Strafgerichtshofs. Dieser Abschnitt folgt dieser Regel. Die einleitende Formulierung »in Bekräftigung« lehnt sich an die bereits verwendete Formulierung »bekräftigend« an. Als Zustandswort mit der Endung »-ung« beschreibt es ein aktuelles Verhalten, mit dem eine Person oder eine Sache unterstützt wird. Bei dieser Sache handelt es sich um die »Ziele und Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und insbesondere des Grundsatzes, […]«. Die Unterstützung gilt dem in der Charta niedergeschriebenen Streben für die Zukunft (Ziele) und den Prämissen für die Arbeit und Zielerreichung (Grundsätze). Einen dieser Grundsätze stellt die Präambel gegenüber den anderen heraus, nämlich »dass alle Staaten jede
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gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare
Androhung oder Anwendung von Gewalt zu unterlassen haben«. Die eingefügte Liste veranschaulicht die drei Möglichkeiten, gegen den Grundsatz zu verstoßen. Die Verbkonstruktion »zu unterlassen haben« beschreibt eine negative Pflicht. Ein Unterlassen verlangt ein aktives Verhalten, das darauf gerichtet ist, »Androhung und Anwendung von Gewalt« zu vermeiden. Die »Androhung oder Anwendung von Gewalt« umfasst sowohl das tatsächliche Vorkommen von Gewalt (Anwendung) als seine Vorstufe (Androhung). Mit dieser Pflicht sind insbesondere die Territorialität und die politische Unabhängigkeit im Hinblick auf den Staat geschützt. Sie zu schützen, zählt zu den Zielen der Vereinten Nationen. Die Ziele der Vereinten Nationen sind in Artikel 1 und ihre Grundsätze in Artikel 2 der Charta festgehalten. Der hervorgehobene Grundsatz ist das wortgleich formulierte Gewaltverbot aus Artikel 2 Nr. 4. Im Hinblick auf den vorausgehenden Absatz begrenzt dies die Verpflichtung der Staaten, die Strafgerichtsbarkeit über die Verantwortlichen auszuüben. Die Staaten können dieser Pflicht nur nachgehen, insoweit sie nicht gegen das Gewaltverbot sowie die anderen Grundsätze und Ziele der Vereinten Nationen verstoßen. Das Gewaltverbot in der Charta besteht als Pflicht nicht nur für alle Mitglieder, sondern ist auf alle Staaten ausgedehnt. Dies unterstellt die Mitgliedschaft aller Staaten in den Vereinten Nationen und daraus folgend eine universelle Verpflichtung, die nicht an der Organisationsmitgliedschaft Halt machen muss. Darüber hinaus bindet dieser Verweis auf die Vereinten Nationen die damit hervorgebrachte Weltordnung in das Römische Statut ein. Die aus dem Zweiten Weltkrieg geborenen Vereinten Nationen haben den gleichen Ursprung wie die internationale Strafgerichtsbarkeit (siehe Erstes Kapitel: IV.). Das Gewaltverbot ist eine historische Erkenntnis, die vorherige Versuche übertrifft, den Krieg zu regulieren oder zu verbieten (siehe Erstes Kapitel: III.; Briand-Kellogg-Pakt).1 Allerdings führt die Präambel das Gewaltverbot ein, um die Selbstständigkeit der Staaten zu betonen. Weder die Verpflichtung 1 Der am 27. August 1928 geschlossene Vertrag über die Ächtung des Krieges ist der erste völkervertragliche Versuch, den Krieg zu verhindern. Der Vertrag ist nach dem US-Außenminister Frank Billings Kellogg und dem französischen Außenminister Aristide Briand benannt. Bis auf vier lateinamerikanische Staaten haben alle Mitglieder des Völkerbunds den Vertrag ratifiziert. Dieser Pakt bildet die Grundlage für das humanitäre Völkerrecht und die Charta der Vereinten Nationen. Die Siegermächte haben die Beschuldigten in den Nürnberger Prozessen wegen Verletzung dieses Vertrags mit dem Verbrechen des Angriffskriegs angeklagt. Daher bildet der Vertrag ebenfalls die Grundlage für das Verbrechen der Aggression im Römischen Statut in Art. 8.
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der Staaten zur Strafverfolgung noch die internationale Strafverfolgung beschränken das Gewaltverbot. In dieser Weise ordnet sich das Römische Statut in die mit den Vereinten Nationen entworfene Weltordnung ein. In dieser Weltordnung bleibt die Horizontale staatlicher Souveränität ein festes Element. Die Präambel definiert mit dem Gewaltverbot das Verhältnis zur Vertikalen einer globalen Verbrechenskonzeption und ihrer Verfolgung. Das Gewaltverbot setzt eindeutig Grenzen für die nationale wie internationale Strafverfolgung. Obwohl die vorausgehenden Absätze die staatliche Pflicht zur Strafverfolgung eingegrenzt haben, unterstreicht der achte Absatz eine Einschränkung noch einmal deutlich: In diesem Zusammenhang nachdrücklich darauf hinweisend, dass dieses Statut nicht so auszulegen ist, als ermächtige es einen Vertragsstaat, in einen bewaffneten Konflikt oder in die inneren Angelegenheiten eines Staates einzugreifen, Der vorangegangene Abschnitt setzt die Anschlusssuche nach institutionalisierten Erwartungen fort. Die Charta der Vereinten Nationen stellt das zentrale Rechtsdokument der Weltordnung dar. Das Gewaltverbot für das Römische Statut in Anspruch zu nehmen, markiert die Zugehörigkeit des Römischen Statuts zu dieser Weltordnung. Außerdem verweist es auch auf die Struktur, die die Horizontale in einem vertikalen Modus der Kooperation mitbringt. Diese Limitationen genügen der Zielstellung, das Verhältnis zwischen Horizontaler und Vertikaler zu bestimmen und das wechselseitige Legitimationsproblem zu behandeln. Die einleitende Formulierung »in diesem Zusammenhang« ruft unmittelbar den Kontext des vorausgegangenen Absatzes auf, aus dem ein Sachverhalt herausgestellt wird (»nachdrücklich darauf hinweisend«). Der Hinweis schließt eine Auslegungsvariante des Statuts aus (»dass dieses Staut nicht so auszulegen ist«). Demnach stellt das Statut keine Ermächtigungsgrundlage dar, um »in einen bewaffneten Konflikt oder die die inneren Angelegenheiten eines Staates einzugreifen«. Der Konjunktiv II Irrealis »als ermächtige« zeigt an, dass diese Auslegungsvariante keine realisierbare Möglichkeit ist. Da sie aber denkbar zu sein scheint, ist ihr expliziter Ausschluss erforderlich. Bewaffnete Konflikte sind alle gewaltsamen Konflikte, die innerhalb und außerhalb eines Staates geführt werden. Der Begriff des bewaffneten Konflikts ersetzt den Begriff des Krieges. Der bewaffnete Konflikt hat entweder einen internationalen Charakter als ursprünglicher Staatenkrieg oder keinen internationalen Charakter als innerstaatlicher Konflikt. Dies entspricht der Definition des gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen. Die inneren Angelegenheiten eines Staates sind alles, was innerhalb der Tätigkeit des Staates geschieht. Dies bezieht sich zuvörderst auf das Staatsgebiet und die Innenpolitik. 146
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Der Absatz lehnt sich an das Interventionsverbot der Charta der Vereinten Nationen nach Art. 2 Nr. 7 an. Während das Gewaltverbot die politische Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit der Staaten garantiert, schützt das Interventionsverbot vor jedem möglichen Eingriff in die Angelegenheiten eines Staats. Die Staaten haben damit die Prärogative, sich zunächst selbst um die wirksame Verfolgung möglicher Verbrechen in Konflikten zu bemühen, bevor die internationale Zusammenarbeit greift. Das Statut wehrt die Möglichkeit juristischer Intervention durch einen Internationalen Strafgerichtshof ab (siehe zu juristischer Intervention als Legitimationsproblem Viertes Kapitel: I.). Die Verpflichtung, die Strafgerichtsbarkeit über die Verantwortlichen auszuüben, findet aber auch für Vertragsstaaten im Interventionsverbot ihre Grenzen. Das Römische Statut begründet für die Vertragsstaaten keine höhere Kompetenz gegenüber den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen. Die souveräne Gleichrangigkeit bleibt gewahrt und limitiert die Möglichkeiten internationaler Strafverfolgung innerhalb der gegebenen globalen Weltordnung. Das Römische Statut ist damit an institutionalisierte Erwartungen der den vertikalen Modus begründenden Weltordnung angeschlossen. Diese Weltordnung setzt voraus, dass die staatliche Souveränität ein unhintergehbares institutionelles Muster ist. Daher limitieren diese Erwartungen den Möglichkeitsbereich für eine internationale Strafverfolgung. Dies hat für die vertragsschließenden Staaten vorrangig den Vorteil, ihre Position zu sichern und dadurch keine wesentliche Veränderung der Weltordnung vorzubereiten. Für die internationale Strafverfolgung setzt dieser Anschluss nicht nur Grenzen, er bringt die Legitimation, innerhalb einer bestehenden Weltordnung zu agieren. Darüber hinaus konkretisieren diese Erwartungen, welche Möglichkeiten ein Internationaler Strafgerichtshof gegenüber den Staaten und die Staaten untereinander haben. In operativer Hinsicht sind ihre Verhältnisse abgesteckt, weil sie sich innerhalb der auferlegten Pflichten und den gesetzten Verboten bewegen sollen. Das Römische Statut steht mit dieser Orientierung an institutionalisierte Erwartungen im Einklang mit der vorhandenen Weltordnung und gestaltet so die System-UmweltVerhältnisse innerhalb der Weltgesellschaft aus. 4. Der Internationale Strafgerichtshof Auf die staatliche Strafverfolgung folgt als ihre Alternative der internationale Strafgerichtshof. Der im neunten Absatz aufgenommene Bezug zum Zweck verweist wieder auf den Absatz vor der staatlichen Strafverfolgung und steht damit daneben:
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im festen Willen, zu diesem Zweck und der heutigen und der künftigen Genrationen willen einen mit dem System der Vereinten Nationen in Beziehung stehenden unabhängigen ständigen Internationalen Strafgerichtshof zu errichten, der Gerichtsbarkeit über die schwersten Verbrechen hat, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, Der in sich verschachtelte Satz hat mehrere getrennt zu betrachtende Ebenen. Als Hauptsatz lässt sich identifizieren: »im festen Willen, […] einen […] unabhängigen ständigen Internationalen Strafgerichtshof zu errichten, […],«
Die einleitende Formulierung drückt eine feststehende Überzeugung aus, die mit dem Ausdruck »Willen« eine subjektive Komponente hat. Der Wille ist zielgerichtet. Es besteht der Willen zu etwas Bestimmten. Die Festigkeit dieses Willens wird betont und der Wille steht damit auch gegen mögliche Widerstände. Der unbestimmte Artikel »einen« weist auf einen allgemein bestimmten Gegenstand hin. Die Beschreibung des Internationalen Strafgerichtshofes mit den Adjektiven »unabhängigen« und »ständigen« fügt dem Gerichtshof zusätzliche Eigenschaften hinzu. Im üblichen Sinne steht das Adjektiv »unabhängig« bei einem Gerichtshof für die Gewaltenteilung und die damit einhergehende Unabhängigkeit der Justiz von Legislative und Exekutive. Allerdings fehlen die staatlichen Äquivalente im internationalen Kontext. Daher ist »unabhängig« wohl allgemein zu verstehen. »Ständig« erweckt einen fachsprachlichen Eindruck, der auf die dauerhafte Einrichtung verweist und vom Alltagsgebrauch (»Das machst du ständig!«) zu unterscheiden ist. An dieser Stelle markiert das Adjektiv den Unterschied zu den vorherigen Einzelfalltribunalen in Jugoslawien und Ruanda durch den Sicherheitsrat und geben dem Wort »unabhängig« eine zusätzliche Bedeutung. Der Ausdruck »Internationalen Strafgerichtshof« ist beim Adjektiv kapitalisiert. Dementsprechend handelt es sich um einen Eigenbegriff. Die Errichtung des Gerichtshofes bezieht sich nicht auf das Gebäude, sondern auf die Organisation selbst. Das Verb »errichten« meint, etwas offiziell zu begründen oder urkundlich niederzulegen. Diese Bedeutungen passen zur Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes auf Basis des Römischen Statuts und bestätigen damit die Rechtsform des Dokuments. •
»zu diesem Zweck und um der heutigen und der künftigen Generationen willen«
Dieser erste Zusatz besteht aus zwei Teilen: »zu diesem Zweck« und »um der heutigen und künftigen Generationen willen«. Die beiden Teile sind durch ein »und« miteinander verbunden. Der Satz ruft legitime 148
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Gründe für die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes auf. Der erste Teil vor dem »und« erwähnt einen Zweck, der durch das Possessivpronomen »diesem« für den Autor als bestimmt gilt. Der bisherigen Interpretation folgend sind das in den beiden letzten Absätzen eingeführte Gewalt- und Interventionsverbot Einschränkungen und Einschübe zum Zweck »der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen« und »ihre wirksame Verfolgung zu gewährleisten«. Das Possessivpronomen verweist nicht auf den textlich naheliegendsten Zweck, sondern auf den Zweck der Präambel/des Statutes. Neben dem im Text entwickelten Zweck der Strafverfolgung steht als Zweites »der heutigen und der künftigen Generationen willen«. Die rahmende Formulierung »um etwas willen« platziert einen Eigenwert. Die heutigen und künftigen Generationen folgen in linearer Zeitabfolge aufeinander, ohne dass diese Abfolge beschränkt ist. Diese Formulierung verlangt, über die eigene zeitlich begrenzte Perspektive hinaus zu denken. Generationen sind auf familienbezogen die Abstufung von Eltern zu ihren Kindern. Als demographische Kohorten tragen Generationen Bezeichnungen wie Generation X, Generation Y oder Millennials. Es handelt sich damit um keine standardisierte Einheit. Mit der Generation verbindet sich das kontinuierliche Hervorbringen einer Generation und die Entwicklung zur nächsten. Unabhängig von den Charakteristika einer Generation, ihren spezifischen Erwartungen und Vorstellungen erfolgt die Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs im Interesse aller folgenden Generationen. •
»mit dem System der Vereinten Nationen in Beziehung stehenden«
Dieses grammatikalische Objekt qualifiziert den unabhängigen ständigen Internationale Strafgerichtshof zusätzlich. Das »System der Vereinten Nationen« ist ein feststehender Ausdruck, mit dem die Vereinten Nationen hinsichtlich ihrer Haupt-, Neben- und Sonderorgane erfasst sind. Die Beziehung zu diesen Organisationen besteht mit dem Internationalen Strafgerichtshof. •
»der Gerichtsbarkeit über die schwersten Verbrechen hat, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren,«
Der am Ende stehende Relativsatz setzt die sachliche Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofes fest. Der Gegenstand der Zuständigkeit (»über«) entspricht der bereits bekannten Formulierung zur Definition der schwersten Verbrechen und gleicht damit dem Zweck »der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen«. Dieser Absatz beschreibt, wie der Internationale Strafgerichtshof eingerichtet wird (»unabhängig« und »ständig«), welche Kompetenz er hat (»Gerichtsbarkeit über die 149
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schwersten Verbrechen«) und das er in Beziehungen System Vereinten Nationen als maßgeblich für die aktuelle Weltordnung steht. Die zuvor erwartete Maßnahme internationaler Zusammenarbeit hat nun eine konkrete organisationale Form im Internationalen Strafgerichtshof. Gegenüber den vorherigen Einschüben aus der Charta der Vereinten Nationen folgt mit der Einrichtung des Gerichtshofs auch die organisationale Bezugnahme im Ausdruck »System der Vereinten Nationen«. Dies deckt die institutionalisierten Erwartungen als auch die operative Hinsicht ab. Die übertragene Kompetenz (»Gerichtsbarkeit über die schwersten Verbrechen […], welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren«) geht über die als Maßnahme genannte internationale Zusammenarbeit hinaus. Sie unterstützt die Unabhängigkeit des Gerichtshofes im Sinne der Eigenständigkeit, Gerichtsverhandlungen durchzuführen. Die globalen Ebene erhält neben ihren institutionalisierten Erwartungen eine operative Seite. Sie ist unabhängig von der operativen Ebene der Staaten, bzw. steht als gleichrangige Maßnahme neben der einzelstaatlichen Ebene. Dies übersteigt die in Absatz vier geschürte Erwartung an eine »verstärkte internationale Zusammenarbeit«. Die Deutungsvarianten zwischen einem Internationalen Strafgerichtshof als Koordinationsforum oder als eigenständige operative Instanz lassen sich zu Gunsten der letzten Option entscheiden. Offen bleibt jedoch das Verhältnis dieser globalen operativen Seite zur staatlichen operativen Seite in der Ausübung der Strafgerichtsbarkeit. Die normative Erwartung »der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen und so zur Verhütung solcher Verbrechen beizutragen« (Absatz 5) bezieht sich nunmehr sowohl auf die staatliche als auch auf die globale Ebene in operativer Hinsicht. »[Z]u diesem Zweck« etablieren die Vertragsstaaten auf der globalen Ebene eine operative Instanz. Der zweite Bezugspunkt (»um der heutigen und der künftigen Generationen willen«) deutet an, dass der Internationale Strafgerichtshof nicht nur einem willkürlichen Zweck dient, sondern sich im Interesse der Menschen befindet. Der umfassende Charakter dieser Figur, die keine zeitliche und infolgedessen auch keine sachliche Limitierung kennt, macht sie zu einer universalistischen Legitimationsfigur. Der Zweck der Strafverfolgung ist damit nicht mehr nur an die heutige Zeit gebunden, sondern stellt ein darüberhinausgehendes Interesse der Menschheit dar. Diese Verknüpfung von globaler Ebene mit der in Generationen differenzierten Menschheit verdeckt den Rechtsschöpfungsakt. In diesem Absatz sind die Vertragsstaaten die Begründer und der Internationale Strafgerichthof der Begründete. Das Interesse der Vertragsstaaten am Vertragsschluss tritt hinter der universellen Kommunikationsfigur der Generationen zurück. Diese universelle Interessensbindung legitimiert den Internationalen Strafgerichtshof als Mittel für den Zweck der Strafverfolgung. Diese Zweck-/Mittel-Relation suggeriert ein alternatives Kausalverhältnis, als es der horizontale Vertragsschluss auf der Außenseite der 150
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Parenthese nahelegt: Begründer Vertragsstaaten – Begründeter Internationaler Strafgerichtshof. Es stehen damit zwei Legitimationswege nebeneinander (siehe hierzu Viertes Kapitel: II.), deren Verhältnis ungeklärt ist. Dieser Absatz positioniert den Internationalen Strafgerichthof im entfalteten Möglichkeitsraum des vorausgegangenen Texts. Die Gründung des Gerichtshofs bleibt ein voluntaristischer Akt der Vertragsstaaten und steht zugleich in den explizierten Abhängigkeiten der historischen Erfahrung und der universellen Beschreibung der Welt. Eine »verstärkte internationale Zusammenarbeit« unter den Staaten genügt nicht. Stattdessen setzt sich die emergente Strukturbildung der Weltgesellschaft im Internationalen Strafgerichtshof fort. Der Gerichtshof ist in eine konkrete Umwelt institutionalisierter Erwartungen und organisationaler Beziehungen zu den Staaten und den Vereinten Nationen eingebunden. Innerhalb dieser Struktur entsteht der Gerichtshof und trägt zur Verselbstständigung weltgesellschaftlicher Problembehandlung bei. Die verdeckte Rechtsschöpfung des Gerichtshofs unterstützt seine Unabhängigkeit von den Staaten und setzt ihn dagegen in die Abhängigkeit der universellen Kommunikationsfiguren und den mit ihnen institutionalisierten Erwartungen. Auf diesen Absatz folgt schließlich das Prinzip der Komplementarität. Es bestätigt die herausgearbeitete Alternativität und damit die Struktur der Komplementarität im vertikalen Modus der Kooperation im zehnten Absatz: nachdrücklich darauf hinweisend, dass der aufgrund dieses Statuts errichtete Internationale Strafgerichtshof die innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit ergänzt, Der letzte Absatz hat auf die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs hingeführt und ihn innerhalb der globalen Weltordnung verortet. Auf diese globale Ordnung stützt sich der Internationale Strafgerichtshof, während die Vertragsstaaten weiterhin im Hintergrund bzw. auf der Außenseite der Parenthese stehen. An diese Grundlage für den Gerichtshof schließt dieser Absatz an und spezifiziert das Verhältnis zu den Staaten. Die einleitende Formulierung (»nachdrücklich darauf hinweisend«) stellt etwas Absatz klar und macht die Relevanz deutlich. Das Statut kommt in der Selbstthematisierung als Gründungsdokument des Internationalen Strafgerichtshofes vor. Das Partizip »errichtete« bedeutet, dass der Gerichtshof mit dem letzten Absatz existiert. Dieser so »errichtete« Gerichtshof steht in einem ergänzenden Verhältnis zur »innerstaatliche[n] Strafgerichtsbarkeit«. Dieser Ausdruck ruft die Pflicht der Staaten zur Ausübung ihrer Strafgerichtsbarkeit aus Absatz sechs wieder auf und stellt auch den Bezug zum Gewalt- sowie Interventionsverbot her. 151
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Der Kern dieses Absatzes liegt in der Verhältnisbestimmung des Internationalen Strafgerichtshofes zur innerstaatlichen Strafgerichtsbarkeit. Dies stellt zunächst die Pflicht aus Absatz 6 zur Ausübung der Strafgerichtsbarkeit durch die Staaten als Grundsatz heraus. Daher bleibt für den Internationalen Strafgerichtshof entweder die Unterstützung oder der Ausgleich von nicht erfolgter Verfolgung. Die Ergänzung verweist auf den Bereich der Fehlerkorrektur. Aus der universalistischen Perspektive bleibt die Möglichkeit, dass der Internationale Strafgerichtshof zum Garanten für die Wahrnehmung der Pflicht zur Ausübung der Strafgerichtsbarkeit wird, wenn der Staat dieser nicht nachkommt. Das Verb »ergänzt« soll das Verhältnis zweier konkurrierender Strafgerichtsbarkeiten lösen. Die Zuständigkeit staatlicher Strafgerichtsbarkeit ist qua in der Präambel aktualisierter Pflicht nicht zu bestreiten und zugleich besteht die Notwendigkeit, an diese Pflicht zu erinnern und diese zu ergänzen. Diese Klärung in operativer Hinsicht lässt aber das im Verhältnis der Horizontalen zur Vertikalen bestehende Begründungs- und Legitimationsproblem unbestimmt. Es verschwindet zum einen hinter der sprachlichen Konstruktion der Parenthese und zum anderen durch die Verlagerung auf die organisationale sowie operative Frage der Umsetzung der internationalen Strafverfolgung. Dies zeigt die Makrodetermination eines in der Struktur der Umwelt liegenden Problems an, die nur begrenzt in organisational-operativer Hinsicht die emergente Strukturbildung des Internationalen Strafgerichtshofs anregt. Der als Ausgangspunkt skizzierte Widerspruch zwischen Horizontaler und Vertikaler im vertikalen Modus der Kooperation wird nicht gelöst, erweist sich aber als produktiv für die Bildung der Organisationsebene. Der Absatz begründet das in Artikel 17 des Statuts näher definierte Komplementaritätsprinzip und bereitet damit die Grundlage für diese organisationale Entscheidungsregel. Im Hinblick auf die globale Ordnung im Allgemeinen und dem Gewalt- wie Interventionsverbot im Besonderen ist das Verhältnis zwischen Horizontaler und Vertikaler kon stitutiv für die aktuelle Weltgesellschaft. In der Präambel wiederholt sich diese Ausgangsbedingung im Rechtsprinzip und der regelhaften Normierung für die Entscheidung, wer die Strafverfolgung ausübt. Der explizite Hinweis »aufgrund dieses Statuts errichtete Internationale Strafgerichtshof« untermauert diese Interpretation. Das Statut stützt sich auf die vorhandene Rechtsordnung und der mit ihr institutionalisierten Erwartungen, um das Verhältnis der hier entstehenden permanenten internationalen Strafgerichtsbarkeit gegenüber ihrer Umwelt zu bestimmen und auf die Legitimation dieser Umwelt setzen zu können. Wenn die Horizontale souveräner Gleichheit nach dieser Präambel grundlegendes Element der Internationalen Rechtsordnung bleibt, kann sich die in der Vertikalen entstehende internationale Strafgerichtsbarkeit nicht über die Horizontale hinwegsetzen. Der internationale Strafgerichtshof 152
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kann im aufbereiteten Möglichkeitsraum nur ergänzend zur innerstaatlichen Strafgerichtsbarkeit stehen, weil er von der völkervertraglichen Gründung durch die Staaten abhängig ist. Demgegenüber steht die damit weiterverfolgte emergente Strukturbildung: Entweder verharrt der Gerichtshof im Stand eines Koordinationsforum für die internationale Strafverfolgung oder er verselbständigt sich und gewinnt eine makrodeterminative Wirkung auf weltgesellschaftlicher Ebene. Die gemeinsame Bindung der internationalen wie nationalen Strafgerichtsbarkeit an die Verfolgung schwerster Verbrechen legt die Makrodetermination nahe. Allerdings setzt sich dieser Prozess in der Kodifizierung im Römischen Statut und der diesen Grund bereitende Präambel nur fort und muss daher in den Beweiserhebungsverfahren hinsichtlich der Entfaltung in der sozialen Wirklichkeit untersucht werden. Der elfte und letzte Absatz innerhalb der Präambel unterstreicht noch eine allgemeine Absicht und ordnet den Text in eine bereits vorhandene internationale öffentliche Ordnung ein: entschlossen, die Achtung und die Durchsetzung der internationalen Rechtspflege dauerhaft zu gewährleisten Der letzte Absatz hat das Verhältnis zwischen internationaler und nationaler Strafverfolgung grundlegend bestimmt. Die Komplementarität der Strafverfolgungen folgt aus der Einordnung des Gerichtshofs innerhalb des weltgesellschaftlichen Struktur- und Möglichkeitshorizonts, der konkret an die Charta der Vereinten Nationen gebunden ist. Diese Struktur wiederholt die bisherige generative Regel der Verhältnisbestimmung zwischen Horizontaler und Vertikaler. Dieser letzte Absatz der Parenthese kommt damit einer abschließenden allgemeinen Erklärung gleich. Die einleitende Formulierung »entschlossen« bringt einen Entschluss und damit einen gebildeten Willen zum Ausdruck. Der Gegenstand des Entschlusses ist »die Achtung und Durchsetzung der internationalen Rechtspflege dauerhaft zu gewährleisten«. Mit »Achtung« verbindet sich die Bedeutung von Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme. Die »Durchsetzung« geht darüber hinaus, indem etwas gegen Widerstände oder zumindest andere Interessen durchgesetzt wird. Als rechtlicher Begriff ist mit »Durchsetzung« die Umsetzung und Anerkennung zum Beispiel eines Urteils gemeint. Diese Bedeutung liegt aufgrund des Genitivs »der internationalen Rechtspflege« nahe. Die Rechtspflege ist ein Fachbegriff für juristische Tätigkeiten, die Rechtsordnung zu sichern, und bezieht sich häufig direkt auf die richterliche Tätigkeit. Diese internationalen Tätigkeiten sollen geachtet, berücksichtigt und umgesetzt werden. Dies soll nicht nur fallweise vorkommen, sondern ohne zeitliche Einschränkungen (»dauerhaft«) geschehen. Da ein konkreter Adressat fehlt, 153
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sind alle denkbaren Rechtssubjekte gemeint. Das Verb »gewährleisten« macht die im Text zur internationalen öffentlichen Ordnung verbundenen universellen Kommunikationsfiguren zum Garanten. Auf die im vorherigen Absatz bestimmte Komplementarität folgt nun die Gewähr, dass die Vertragsstaaten die internationale Strafgerichtsbarkeit unterstützen. Die Komplementarität ist kein Schutzschirm, um internationale Verbrechen nicht zu verfolgen. Diese Stellungnahme der Vertragsstaaten ist allgemein und erkennt die geschaffene internationale Strafverfolgung als eigenständige Instanz an. Dieser Absatz ergänzt die Pflicht der Staaten zur Strafverfolgung, insofern die Staaten sich der Strafverfolgung nicht mehr entziehen können. Sie fällt sonst dem Internationalen Strafgerichtshof zu. Die Wahl besteht damit nur noch in eigener Pflichterfüllung oder Durchsetzung der internationalen Rechtspflege. Beide Varianten gewährleisten die geschaffene Völkerstrafrechtsordnung und verpflichten die Vertragsstaaten auf die globale Rechtsordnung. Das Völkerstrafrecht ist damit ein Bereich der internationalen Rechtspflege und unterliegt den gleichen Erwartungen wie die anderen Bereiche des Völkerrechts. Die globale Rechtsordnung nimmt mit der Kodifizierung des Völkerrechts ein weiteres Themengebiet auf, aber reformiert damit nicht seine Struktur. Sie bleiben gleich und halten in der Anerkennung internationalen Rechtspflege fest, dass staatliche Souveränität und internationale Rechtspflege inklusive des Völkerstrafrechts aufeinander angewiesen sind und sich daher achten.
IV. Strukturhypothese: Komplementarität internationaler und nationaler Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation Zentraler Gegenstand in diesem Kapitel ist die Analyse der Präambel des Römischen Statuts, um die These der Institutionalisierung normativen Erwartens im vertikalen Modus der Kooperation zu überprüfen. Die auf der historischen Rekonstruktion erarbeiteten weltgesellschaftlichen Prozesse globaler Vernetzung und Diffusion institutioneller Muster finden sich der These nach auf der organisationalen Ebene wieder. Das Prinzip der Komplementarität hat den Einstieg für die Analyse auf der organisationalen Ebene geliefert. Die Analyse dieses Prinzips als Entscheidungsregel hat zum einen den theoretischen Anschluss an die organisationssoziologische Forschung eröffnet und zum anderen die Diffusion der institutionellen Muster staatlicher Souveränität und internationaler Strafverfolgung aufgezeigt. Darauf folgte eine ausführliche Analyse der Präambel des Römischen Statuts mit der Methodik der Objektiven Hermeneutik. Diese Analyse hat in einer extensiven Textauslegung 154
STRUKTURHYPOTHESE
den Prozess globaler Vernetzung zum Vorschein gebracht. Dies führt im Folgenden zur Strukturhypothese der Komplementarität internationaler und nationaler Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation. Beide damit verbundenen institutionellen Muster sind in eine globale Rechtsordnung eingebettet, anhand derer sich die Struktur für den IStGH konkretisiert. Diese Einbettung zeigt die Präambel auf der einen Seite auf und macht damit auf der anderen Seite die Diffusion institutioneller Muster in der Bezugnahme auf die Umwelt deutlich. Beide Prozesse gehen demnach Hand in Hand und lassen sich analytisch, aber nicht empirisch voneinander trennen. Die Präambel bringt dies zum Ausdruck, indem sie sich zwischen der Diffusion institutionalisierter Erwartungen aus der weltgesellschaftlichen Umwelt und der Strukturbildung eines internationalen Strafgerichtshofs und des Völkerstrafrechts oszilliert. Diese parallel verlaufenden Prozesse äußern sich in einer andauernden Verhältnisbestimmung zwischen Umwelt(-institutionen) und System(-bildung). Konkret geht es darum, die operative Umsetzung sowohl nationaler als auch internationaler Strafverfolgung vor dem Hintergrund einer globalen Verbrechenskonzeption zu gestalten. Die globale Verbrechenskonzeption steht in den ersten Absätzen im Vordergrund, weil sie die Grundlage für die operative Umsetzung bildet. In dieser Hinsicht verweisen die universellen Kommunikationsfiguren (miteinander verbundener Völker und Kulturen, das Gewissen der Menschheit, Frieden, Sicherheit und Wohl der Welt sowie die Internationale Gemeinschaft als Ganzes) bereits auf eine institutionalisierte weltgesellschaftliche Umwelt und damit Öffentlichkeit. Diese Dritten stützen die Strukturbildung internationaler Strafverfolgung, indem sie ihr eine legitime Grundlage bieten. Diese Grundlegung macht die generative Regel der Verhältnisbestimmung deutlich. Auf der Außenseite der Parenthese stehen die Vertragsstaaten, die das Römische Statut als völkerrechtlichen Vertrag miteinander schließen. Daher entsteht das Problem, nur wechselseitiges Erwarten etablieren zu können. Erst die Dritten setzen die Institutionalisierung in Gang. Die Dritten verbinden die Makroebene weltgesellschaftlicher Kommunikationsfiguren mit dem verbrecherischen Verhalten der Individuen auf der Mikroebene. Die Staaten treten in den Hintergrund und tauchen als Rechtsschöpfer nicht mehr auf. Dies verleiht der Innenseite der Parenthese den Eindruck, als ob es sich um eine gegebene Voraussetzung für die Kodifizierung des Völkerstrafrechts handelt. Die Staaten schließen zwar den Vertrag, aber sie müssen das Völkerstrafrecht nicht mehr begründen. Diese Grundlagen sind in der institutionalisierten Umwelt bereits gelegt. Die Institutionalisierung erfasst theoretisch die generative Regel der Präambel fortschreitender Verhältnisbestimmung zwischen den unterschiedlichen Instanzen internationaler Strafverfolgung. Die in den weiteren Absätzen aufgerufenen Erwartungen sind bereits institutionalisiert. Die Pflicht der Staaten zur Strafverfolgung findet sich 155
DER ISTGH UND SEINE UMWELT
in unterschiedlichen völkerrechtlichen Abkommen. Allerdings ist die Pflicht auf den Inhalt des jeweiligen Vertrags begrenzt. Die Präambel schafft daraus eine universelle Pflicht. Das Gewalt- und Interventionsverbot stecken die Grenzen der Pflichterfüllung für die Staaten ab. In diesen Absätzen diffundieren institutionalisierte Erwartungen in die Präambel und bestimmen das Verhältnis der Staaten zur globalen Rechtsordnung, untereinander und gegenüber den Verantwortlichen der Verbrechen. In gleicher Weise geschieht dies mit dem Internationalen Strafgerichtshof. Sein Verhältnis zu den Staaten ist ergänzender Art, er befindet sich in Beziehung zum System der Vereinten Nationen (Internationaler Gerichtshof, Seegerichtshof, Sicherheitsrat, Generalversammlung etc.) und er hat einen klar umrissenen Zuständigkeitsbereich der Verfolgung schwerster Verbrechen. Beide Maßnahmen auf »einzelstaatlicher Ebene« und »verstärkter internationaler Zusammenarbeit« sind zueinander und gegenüber der für die Strafverfolgung relevanten Umwelt bestimmt. Die Übereinkunft der Vertragsstaaten setzt diese Verhältnisbestimmung voraus und formuliert sie in konkreten Regeln aus. Das Römische Statut ist damit nicht nur das Gründungsdokument des IStGH, vielmehr markiert es die Institutionalisierung der System-Umwelt-Verhältnisse der Weltgesellschaft im Funktionsbereich des Völkerstrafrechts. Der IStGH tritt im Sinne Kochs als Weltorganisation auf. Der Gerichtshof stellt eigenständig und unabhängig die Strafverfolgung der schwersten Verbrechen sicher. Gleichzeitig steht er in einem komplexen Verhältnis zur Weltgesellschaft, anderen Organisationen und Personen. Gegenüber den Organisationen und Personen vertritt der IStGH die globale Völkerstrafrechtsrechtsordnung. In Beziehung zum System der Vereinen Nationen hat der IStGH die Rechtsentwicklung durch den Sicherheitsrat, die Generalversammlung, die Völkerrechtskommission, den Internationalen Gerichtshof usw. zu achten. Hier entfaltet sich in den verschiedenen Instanzen der Rechtsentscheidungen und den in diesem System entstandenen völkerrechtlichen Verträgen die globale Rechtsordnung, die der IStGH trotz seiner Sonderstellung vertritt. Die Komplementarität zur nationalen Strafverfolgung bringt die organisationale Entscheidungsregel hervor. Während sich der IStGH gegenüber anderen Organisationen als Teil der internationalen Rechtspflege einordnet, entsteht mit den Staaten eine andauernde Frage über die Zulässigkeit internationaler Strafverfolgung. Diese Frage markiert in besonderer Weise den Charakter des IStGH als Weltorganisation, weil ihre Antwort stets vor dem Hintergrund der weltgesellschaftlichen Rechtsordnung erfolgt. Selbst wenn die Staaten die Strafverfolgung übernehmen, bleibt sichergestellt, dass sie diese nach dem Völkerstrafrecht erfüllen. Andernfalls ist der IStGH gezwungen, selbst Ermittlungen und Verfahren durchzuführen. In einem so gestalteten Ergänzungsverhältnis kommt auch die makrodeterminative Wirkung der Weltgesellschaft zum Vorschein. Staaten 156
STRUKTURHYPOTHESE
und IStGH reproduzieren die weltgesellschaftliche Struktur. Der IStGH tritt als Garant hierfür auf, indem er eigene Strafverfahren anstrengen kann. Diesem Verständnis einer Weltorganisation folgend sind die im Römischen Statut aufgenommenen Institutionen sowohl in der Umwelt des Gerichtshofs als auch systemintern Grundlage der Organisation. Die zentralen Erwartungen, dass »die schwersten Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, nicht unbestraft bleiben dürfen und dass ihre wirksame Verfolgung […] gewährleistet werden muss«, sind mit dem Verweis auf Dritte und ihrer Kodifizierung im Römischen Statut institutionalisiert. Diese Erwartungen präsentiert die Präambel nicht als Innovationen, stattdessen bekräftigen die Vertragsstaaten diese Erwartungen, als ob sie in dieser umfassenden Weise bereits vorhanden gewesen seien. Die institutionalisierten Erwartungen bereiten die Grundlage, indem sie die Struktur für den Möglichkeitsraum einer internationalen Strafverfolgung beschreiben. Die Erwartungen öffnen die Möglichkeit für eine solche Strafverfolgung und gewährleisten dem Gerichtshof seine Legitimation (vgl. Scott 1991: 176). Die weiteren institutionalisierten Erwartungen schränken den Möglichkeitsbereich ein. Sie bedingen die operativen Möglichkeiten des Gerichtshofs mit anderen Organisationen, Staaten und Personen. Indem sich der IStGH diese Grenzen zu eigen macht, verfügt er über eine legitime Basis. Die Einschränkungen definieren für den IStGH, was erlaubt und was nicht erlaubt ist. Die in diese Schranken eingebaute Komplementarität legt zugleich die Relevanzkriterien fest, nach denen der IStGH seine Umwelt absuchen kann. Der Gerichtshof ist mit konkreten Erwartungen konfrontiert, mit denen er nicht nur seine Funktionserfüllung gewährleistet, sondern die ihm bedingenden Erwartungen reproduziert. Die Institutionen in der Umwelt tragen den IStGH und gleichzeitig garantiert der IStGH diese Institutionen, indem er sie als seine Grundlage nutzt. Die Komplementarität zwischen nationaler und internationaler Strafverfolgung auf der Organisationsebene spiegelt die Ergänzung der Horizontalen durch die Vertikale im vertikalen Modus der Kooperation auf der Ebene der Weltgesellschaft wider. Diese operativ umsetzbare Entscheidungsregel löst den Wiederspruch horizontaler und vertikaler Kooperation nicht auf, aber sie ist das Ergebnis der sich aus dem Widerspruch ergebenden Strukturbildung. Die im Komplementaritätsprinzip spezifizierte Verschränkung der Horizontalen mit der Vertikalen spiegelt die Institutionalisierung des Umgangs mit dem Widerspruch und dem damit einhergehenden Problem der Ordnungsbildung wider, das an der doppelten Kontingenz skizziert wurde. Die institutionellen Muster staatlicher Souveränität und internationaler Strafverfolgung sind miteinander verbunden und bedingen einander. Sie gewährleisten die Institutionalisierung des Erwartens, damit es nicht 157
DER ISTGH UND SEINE UMWELT
nur wechselseitiges Erwarten unter den Staaten bleibt. Die institutionellen Muster diffundieren in einzelnen Erwartungen auf die Ebene der Organisation und determinieren so den Möglichkeitshorizont. Dies zeigt zugleich die Struktur des IStGH auf und konkretisiert die weltgesellschaftliche Verhältnisbestimmung zwischen Horizontaler und Vertikaler, ohne den Widerspruch zwischen ihnen aufzulösen. Das Thema der Legitimation rückte mehrfach in den Vordergrund, weil die beiden Seiten der Strafverfolgung nicht ausreichen. Sie sind aufeinander angewiesen, um eine globale Ordnung aufrechtzuerhalten. Die internationale Strafverfolgung entsteht auf der Grundlage des völkerrechtlichen Vertrags, damit kann die Horizontale keine Weltorganisation begründen. Dafür muss die Vertikale universelle Kommunikationsfiguren als Dritte einführen, die die emergente Strukturbildung der Weltgesellschaft befördern. Die in stitutionellen Muster sind in ihren konkreten Organisationsformen des Staates und des IStGH in eine weltgesellschaftliche Umwelt eingebettet und auf diese angewiesen. Das zwischen ihnen bestehende Verhältnis der Komplementarität wirft in legitimatorischer Hinsicht dennoch Fragen auf, weil es die Gleichrangigkeit nationaler und internationaler Strafverfolgung voraussetzt. Diese Gleichrangigkeit bestand im Rechtsprinzip souveräner Gleichheit. Eine Expansion auf eine Weltorganisation führt zu einer andauernden Diskussion darüber, wie die Komplementarität zwischen IStGH und dem jeweils betroffenen Staaten zu deuten ist.
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Viertes Kapitel: Die Legitimation internationaler Strafverfolgung Die herausgearbeitete Struktur internationaler Strafverfolgung bildet den Horizont, vor dem der Gerichtshof seine Entscheidungen fällt. Das Komplementaritätsprinzip spiegelt die Struktur internationaler Strafverfolgung auf der Ebene der Weltgesellschaft wider und trägt sie als organisationale Regel in den Gerichtshof. Der IStGH entscheidet für jede Situation darüber, ob er selbst ein Verfahren einleitet oder die nationale Strafverfolgung den Standards des Völkerstrafrechts genügt. Doch nehmen die Betroffenen diese Entscheidungen als legitim wahr? Während die Vertragsstaaten dem Römischen Statut zugestimmt haben, müssen andere Staaten die Gerichtsbarkeit des IStGH aufgrund einer Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen erdulden. Hier tritt der Widerspruch horizontaler und vertikaler Kooperation als Legitimationsproblem auf. Die Staaten haben sich für ihre Entscheidung, das Römischen Statut zu ratifizieren, die Legitimation intern beschafft. Der Gerichtshof ist im Anschluss an eine internationale öffentliche Ordnung gegründet worden, die die Präambel aufgezeigt hat. Nun steht der Gerichtshof in einem komplementären Verhältnis zur staatlichen Strafverfolgung. Genügt der Bezug auf Dritte im vertikalen Modus der Kooperation zur Legitimation aus? Oder ist die internationale Strafverfolgung durch den IStGH aufgrund ihrer Komplementarität zur staatlichen Strafverfolgung auf ein Legitimationsproblem zweier im Widerspruch zuei nanderstehender Kooperationsmodi festgelegt? Der Legitimationsbegriff weist über die legale Rechtfertigung einer Entscheidung hinaus und fokussiert darauf, ob die Adressaten dieser Entscheidung bereit sind, sich daran zu binden. Einen ersten Blick darauf bietet die Wahrnehmung des IStGH. Die wechselseitige Beobachtbarkeit in der Weltöffentlichkeit ermöglicht den für die Institutionalisierung relevanten Prozess globaler Vernetzung und damit emergente Strukturbildung. Dieser Prozess globaler Vernetzung soll am Verhältnis des Gerichtshofs zur Afrikanischen Union, den USA und dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschrieben werden. Die Spannungen in diesen Verhältnissen stehen im Vordergrund, um das Legitimationsproblem der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH herauszuarbeiten. Seit seinen ersten Verfahren ist der IStGH mit dem Vorwurf konfrontiert, sich zu sehr auf den afrikanischen Kontinent zu fokussieren. Gemäß diesem Vorwurf belebt der Gerichtshof den westlichen Imperialismus, indem er das Komplementaritätsprinzip benutzt, um die Souveränität der afrikanischen Staaten zu untergraben. 159
DIE LEGITIMATION INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
Dieser Vorwurf erscheint im Verhältnis mit den USA umso problematischer, weil die Vorverfahrenskammer Ermittlungen gegen US-Soldaten wegen ihres Verhaltens in Afghanistan ablehnte. Seit die Berufungskammer schließlich den Weg für ein Ermittlungsverfahren gegen US-Soldaten in Afghanistan frei gemacht hat, steht der Gerichtshof vor der Situation, Ermittlungen gegen Bürger eines Nicht-Vertragsstaats auf dem Territorium eines Vertragsstaats durchzuführen. Darüber hinaus kann der Gerichtshof wegen seiner Abhängigkeit vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht sicherstellen, alle potentiellen Ermittlungssituationen gleich zu behandeln. Der Sicherheitsrat kann Ermittlungen gegen Staaten aufschieben (Art. 16 RS) und hat dies für die USA bis 2004 getan. Außerdem kann der Sicherheitsrat Ermittlungen des Gerichtshofs anweisen, selbst wenn der betroffene Staat nicht Vertragsstaat des Römischen Statuts ist (Art. 13 b) RS). Dies war in Libyen der Fall, jedoch hat sich der Sicherheitsrat für Syrien nicht dazu durchringen können. Der Gerichtshof ist mit verschiedenen Situationen und Konstellationen konfrontiert, die seine Entscheidungen konkret bedingen. Die abstrakte Komplementarität gewinnt in diesen Situationen eine spezifische Form und verschärft in Anlehnung an Max Weber die Frage, ob Legalität ausreicht, um Legitimation zu gewährleisten (I.). Jürgen Habermas greift die Unterscheidung zwischen Legalität und Legitimation für seine Theorie des kommunikativen Handelns auf und verneint diese Frage. Er und an ihn anschließende Autoren arbeiten mit seiner Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats das Legitimationsdefizit internationaler (Straf-)Gerichte heraus. Dieses Legitimationsdefizit entsteht, weil der demokratische Rechtsstaat auf der Ebene der Weltgesellschaft fehlt. Die internationalen Gerichte sind nicht in ein politisches System der Gewaltenteilung und einer demokratischen legitimierten Verfassungs- und Gesetzgebung eingebunden. Daher argumentiert Ingeborg Maus, dass die internationale Strafverfolgung die staatliche Souveränität verletzt. Die staatliche Souveränität auf der Außenseite des demokratischen Rechtsstaats ist auf dessen Innenseite die Volkssouveränität. Dies greift das Souveränitätsparadox wieder auf (siehe Einleitung). Während die staatlichen Gerichte im Namen des Souveräns bzw. des Volkes entscheiden, fehlt den internationalen Gerichten ein entsprechendes Äquivalent. Mit dieser Argumentation begründen die Autoren die Legitimation eines demokratischen Staates im horizontalen Modus, mit einem anderen Staat zu kooperieren. Dem vertikalen Modus fehlt ein Äquivalent, er schließt nur an Dritte an. Auf diese Weise ist das Begründungsproblem des Römischen Statuts als völkerrechtlichen Vertrag verkehrt: Nicht der horizontale, sondern der vertikale Modus erscheint begründungsbedürft. Ein Lösungsweg liegt nach diesen Autoren im demokratischen Verfahren. Wenn das Verfahren demokratisch legitimiert ist, dann kann die in den Verfahren erarbeitete Entscheidung auch als legitim angesehen werden (II.). 160
SPANNUNGSREICHE KOMPLEMENTARITÄT
Auf der Organisationsebene setzt sich die Wahrnehmung fest, dass der Gerichtshof ein Legitimationsproblem in sich trägt. Dieses Problem zeigt sich zum einen in der Beobachtung des Gerichtshofs durch die Weltöffentlichkeit und zum anderen im Vergleich zum demokratischen Rechtsstaat. Beide Beobachtungen gehen von einem horizontalen Modus der Kooperation aus und kritisieren ein ungerechtfertigtes Verhalten des Gerichtshofs gegenüber Staaten. Das Legitimationsproblem ist so auf die Komplementarität zurückgebunden. Dieses Prinzip beruht auf dem vertikalen Modus der Kooperation, in dem die Horizontale inte graler Bestandteil ist. Der Widerspruch Kohs wiederholt sich und erzeugt Redundanz. Trotz dieser wiederkehrenden Problemstellung finden Verfahren des Gerichtshofs statt. Wie bindet der Gerichtshof in Anbetracht des scheinbaren Legitimationsproblems die Beteiligten an ein Verfahren? Mit dieser Fragestellung verschiebt sich der Fokus von der Organisations- zur Verfahrensebene. Wenn der IStGH über die Komplementarität in seinen Verfahren entscheidet, dann ist die Entscheidungsregel durch die Umwelt determiniert. Der Gerichtshof bildet auf der Grundlage des Römischen Statuts eigene Strukturen aus, um mit der Umwelt umzugehen und ihr gegenüber legitim aufzutreten. Der Gerichtshof erarbeitet unter den Umweltbedingungen in seinen Verfahren mit allen anderen Beteiligten einer möglichen, aber spezifischen Situation die Entscheidung zwischen internationaler und staatlicher Strafverfolgung (III.). Das Zwischenfazit zieht diese Argumentation zusammen. Der Widerspruch horizontaler und vertikaler Kooperation tritt als Legitimationsproblem internationalen Strafverfolgung durch den IStGH auf. Das Kapitel zeigt diese Problemstellung in der Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit und im Vergleich zum demokratischen Rechtsstaat auf. Diese Problemstellung untermauert die Vermutung, dass der Widerspruch über die Systemebenen hinweg verlagert und spezifiziert wird. Das Legitimationsproblem legt den Übergang von der Organisations- zur Verfahrenseben an. Mit der Frage nach der Verbindlichkeit bietet das Kapitel einen Vorschlag an, um diese Problemverlagerung weiter beobachten zu können (IV.).
I. Spannungsreiche Komplementarität: Die Afrikanische Union, die USA und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Die Vertragsstaaten haben sich zwar im Römischen Statut auf das Prinzip der Komplementarität geeinigt, um das Verhältnis zwischen der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH und der staatlichen Souveränität zu bestimmen. Allerdings zeigt sich erst in der Praxis, ob diese 161
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organisationale Entscheidungsregel Spannungen vermeidet oder verursacht. Dies ist keine rein rechtliche Frage, sondern berührt für jede Entscheidungssituation die unterschiedlichen Interessenlagen der jeweils Beteiligten. Die Beziehungen des Gerichtshofs zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union und den USA geben einen Einblick in die Schwierigkeiten, vor denen er steht. Das abstrakte Komplementaritätsprinzip erhält dadurch eine konkrete Form und zeigt, wie die internationale Strafverfolgung durch den IStGH beobachtet wird. Es ist zu vermuten, dass auf die Komplementarität staatlicher und internationaler Strafverfolgung als Beobachtungskategorie zurückgegriffen wird. Das Verhältnis zwischen dem IStGH und der Afrikanischen Union sowie ihrer Mitgliedsstaaten ist ambivalent. Nach der Arbeitsaufnahme des Gerichtshofs ersuchten vier afrikanische Staaten den IStGH darum, Ermittlungen aufzunehmen. Dieser positive Auftakt hatte keinen Bestand, als der Chefankläger eigenständig Ermittlungen aufnahm und der Sicherheitsrat Situationen im Sudan und in Libyen an den Gerichtshof überwies. Neun der aktuell vierzehn Beweiserhebungsverfahren finden in Staaten auf dem afrikanischen Kontinent statt. Dies nährt die Kritik am Gerichtshof, imperialistische und rassistische Motive zu verfolgen. Gleichzeitig geht der IStGH mit diesen Staaten Verhandlungen ein, um die Zusammenarbeit zu gewährleisten. Die folgenden Karikaturen verdeutlichen die jeweilige Wahrnehmung eines IStGH-Verfahrens. Die Karikaturen werden kurz beschrieben und dann kontextualisiert.
Abbildung 4. Karikatur Victor Ndulas aus Kenia vom 27. März 2013.
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SPANNUNGSREICHE KOMPLEMENTARITÄT
Diese Karikatur von Victor Ndula zeigt, wie ein Karikaturist aus Kenia den IStGH wahrnimmt. Ein Mann mit weißer Hautfarbe zieht aus einer Trommel Bälle wie bei einer Losziehung. Auf der Trommel ist die Weltkarte in schwarz abgebildet, während die Trommel selbst weiß ist. Auf der Seite an der Trommelkurbel steht der Hinweis, die Trommel ordentlich zu drehen. Auf dem Boden liegen verschiedene weiße Kugeln. Sie sind zum Teil beschriftet in schwarzer Schrift mit »Bemba«, »Bashir«, »Gaddafi« und »Taylor«. Eine Kugel mit der Aufschrift »Ntaganda« hält der Mann in der Hand und ruft dabei aus »Most wanted by ICC is from Africa again«. Es handelt sich bei diesen Namen um vom IStGH angeklagte Personen. Die Trommel erweckt den Eindruck einer Kuh, die der Mann ausnimmt, bzw. melkt. Der schwarz/weiß-Kontrast prägt die Karikatur, wobei weiß das bestimmende Element zu sein scheint. Vermutlich kritisiert der Karikaturist damit die westliche Dominanz und den Rassismus in der Arbeit des Gerichtshofs. Aus Sicht von Ndula konzentriert sich der Gerichtshof wegen seiner rassistischen Motivation zu sehr auf den afrikanischen Kontinent. Die Trommel dient demnach nur dem Anschein einer zufälligen Fallauswahl. Ndula hat seine Karikatur folgendermaßen kommentiert: »The ICC continues to be a hot potato because the ICC cases appear to focus on Africa only. Sadly, African rogue leaders have used this ›perceived‹ bias to justify their defence of ICC bound suspects. It‘s a lose lose situation« (Ndula 2013).
Diese Wahrnehmung macht bereits deutlich, dass der Gerichtshof vor erheblichen Schwierigkeiten steht. Sarah Nouwen und Wouter Werner zeigen an den Ermittlungen des IStGH in Uganda, welche politische Dimension diese haben (2011: 943). Sie analysieren die Aktivitäten des IStGH, indem sie nach Carl Schmitts Politikverständnis Freund und Feind unterscheiden (Nouwen/Werner 2011: 945). In Uganda stehen sich die Regierung und die rebellierende Lord Resistance Army (LRA) gegenüber. Die ugandische Regierung hat die Situation eigenständig nach Art. 13 a) RS an den IStGH zur Ermittlung überwiesen. Die Autoren zeigen, dass sich der IStGH die ugandische Regierung mittels verschiedener Maßnahmen zum Freund macht, während der Gerichtshof feindlich mit der LRA umgeht. Der IStGH sicherte sich die Unterstützung der ugandischen Regierung, indem er die Nachfolgekonferenz über das Römische Statut in der ugandischen Hauptstadt Kampala organisierte. Auf diese Weise brachte der Gerichtshof der ugandischen Regierung internationale Anerkennung ein. Nouwen und Werner folgern aus dem Verhalten der ugandischen Regierung, dass sie den Konflikt mit der LRA durch das Völkerstrafrecht zu ihren Gunsten umdefiniert hat (2011: 949). Der IStGH hat die LRA damit von einem Gegner der ugandischen Regierung zu einem Feind der internationalen Gemeinschaft gemacht (Nouwen/Werner 2011: 949). Die 163
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ugandische Regierung zeigt, wie sie das Potential nutzt, aus Ermittlungssituationen politisches Kapital zu schlagen. Dem IStGH fehlen zwar die Durchsetzungsressourcen, allerdings kann er die internationale Gemeinschaft mobilisieren. Dieses Verhältnis wechselseitigen Nutzens hatte allerdings keinen Bestand. Die Beziehungen zu den Staaten auf dem afrikanischen Kontinent hat sich zusehends verschlechtert. Als Vertreter der Staaten hat die Afrikanische Union (AU) bereits versucht, die Beziehungen mit dem Gerichtshof zu klären. Der folgende Auszug aus einer Presseerklärung der Afrikanischen Union aus dem Jahr 2015 zeigt die Schwierigkeit anhand des Komplementaritätsprinzips auf. In der Presseerklärung ist Sidika Kaba Vertreter des IStGH, während Dalamini Zuma die Afrikanische Union repräsentiert. »Mr. Sidiki Kaba expressed his envisioned relationship between African Members and the Court: a union of ›complementarity‹ and ›coope ration‹, as the Court cannot fulfil its mandate without collaboration with Member States – since as it has no army or police. He also voiced the sentiment that there exists a general misunderstanding of the ICC among African parties, and the need to work against impunity and a negative perception. Dr. Dlamini Zuma said that the AU is against impunity. She also added that the ICC displays a double standard in the way it relates with African States versus others. Here she reiterated that it is necessary for the ICC to explain itself better to Member States« (Afrikanische Union Press Release 2015: Nr. 190).
Kaba bezieht sich auf Kooperation und Komplementarität als die Pfeiler internationaler Strafverfolgung. Zuma nimmt zwar die Zielstellung auf, Straflosigkeit zu beenden, allerdings sieht sie vertretend für die AU und ihre Mitglieder einen Doppelstandard im Verhalten des Gerichtshofs gegenüber afrikanischen und anderen Staaten. Diese noch vorsichtigen Formulierungen stehen neben verschiedenen Austrittsgesuchen Südafri kas und Burundis aus dem Römischen Statut. Die Afrikanische Union hat ebenfalls Pläne für einen eigenen Strafgerichtshof entwickelt, die die Union bisher jedoch noch nicht umgesetzt hat (Mystris 2020; Werle/ Vormbaum 2017).
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SPANNUNGSREICHE KOMPLEMENTARITÄT
Abbildung 5. Karikatur Victor Ndulas aus Kenia vom 30. März 2015.
Diese zweite Karikatur von Ndula untermalt das Verhältnis des IStGH zu afrikanischen Gerichten. Beide sind als Kängurus dargestellt. Der englischsprachige Ausdruck »kangaroo courts« bezeichnet Gerichte, die rechtliche Standards missachten und bereits mit vorgefassten Urteilen Prozesse durchführen. Dies trifft wiederum den IStGH mit der Vielzahl seiner Ermittlungen auf dem afrikanischen Kontinent. Allerdings stellt Ndula die afrikanischen Gerichte als noch größere kangaroo courts dar, aus deren Inneren/Beutel heraus Politiker sprechen. Diese starke Wahrnehmung kolonialer und rassistischer Bestrebung im Verhalten des IStGH wirft die Frage auf, wie sehr sich der vertikale Modus der Kooperation nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich von der Parallelität des horizontalen und vertikalen Modus der Kooperation im 19. Jahrhundert unterscheidet. Die afrikanischen Staaten haben zwar ihre Souveränität erlangt, allerdings ist ihnen die internationale Strafverfolgung übergeordnet und greift vielfältig in diese ein. Dies erweckt den Eindruck eines neuen Zivilisationsstandards. Dieser neue Standard setzt allerdings universelle Grenzen für das Verhalten von Menschen und stellt massive Verletzungen unter Strafe. Der vertikale Modus der Kooperation unterscheidet sich insofern von der Parallelität der Modi, jedoch trägt er das Problem der Verhältnisbestimmung weiter mit sich. Die folgende Karikatur aus einer konservativen US-amerikanischen Zeitung zeigt, dass sich die wahrgenommenen Schwierigkeiten in der Verhältnisbestimmung ähneln:
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Abbildung 6. Karikatur aus dem Blog »Duck of Minverva« vom 5. Dezember 2012; zuerst bei cnsNews.com erschienen.
Der Karikaturist greift nicht nur mit dem Richter als Känguru die kangaroo courts wieder auf, sondern stellt auch das Verhältnis zwischen Gerichtshof und den Vereinten Nationen dar. Hinter dem Gerichtshof verbergen sich nach Ansicht des Karikaturisten die Vereinten Nationen, die die Entscheidung fällen. Der IStGH und die Vereinten Nationen vertreten einen gemeinsamen Standpunkt, indem sie staatliche Souveränität als Missachtung des Gerichts betrachten. Anstelle von Komplementarität steht juristische Intervention. So bezeichnet Alana Tiemessen das Vorgehen des Gerichtshofs im US-amerikanischen Blog »Duck of Minerva«, in dem sie die obige Karikatur verwendet. Eine ähnliche Perspektive hat David Scheffer als Berater an der ständigen Vertretung der USA bei den Vereinten Nationen (1996). Die Wahrnehmung des Gerichtshofs ähnelt sich an unterschiedlichen Orten auf der Welt. Dies untermauert die Vermutung, dass mit der Komplementarität internationaler Strafverfolgung und staatlicher Souveränität im vertikalen Modus der Kooperation global vernetzte Beobachtungskategorien entstanden sind. Die Komplementarität ist eine normative Erwartung, die der IStGH aus Sicht der angeführten Quellen nicht optimal erfüllt. Von ihrem Standpunkt neigt er eher zu juristischen Interventionen und folgt dabei rassistischen oder kolonialen Interessen. Gegenstand 166
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dieser öffentlichen Kritik am Gerichtshof ist nicht das Komplementaritätsprinzip, sondern das Verhalten des Gerichtshofs, diese Erwartung nicht zu erfüllen. Die Legitimationsfrage scheint sich damit eher auf die operative Strafverfolgung denn seine völkervertragliche Konzeption zu beziehen. Ein weiteres spannungsreiches Verhältnis besteht zwischen dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und dem Gerichtshof, weil der Sicherheitsrat einen erheblichen Einfluss auf den Gerichtshof hat. Zwei Artikel des Römischen Statuts beschreiben das Verhältnis zwischen dem IStGH und dem Sicherheitsrat. Der Sicherheitsrat kann per Resolution nach Art. 13 Abs. b RS die Jurisdiktion des IStGH auf jeden Staat erweitern und nach Art. 16 RS Ermittlungen um zwölf Monate aufschieben. Diese Kompetenzen des Sicherheitsrats stellen einen Kompromiss mit der Möglichkeit des Anklägers des IStGH dar, in proprio motu (= aus eigenem Antrieb) Ermittlungen aufzunehmen. Der Sicherheitsrat hat damit eine politische Kontrolle über die internationale Strafverfolgung durch den IStGH, obwohl drei (China, Russland und die USA) der fünf ständigen Mitglieder keine Vertragsstaaten sind (Ba 2020: 67; Clarke/Koulen 2014: 298). Als der Arabische Frühling 2011 zu politischen Umstürzen in Ägypten, Libyen, Syrien und Tunesien führte, brach in Libyen ein Bürgerkrieg aus. Verschiedene Staaten intervenierten militärisch in Libyen, um die Rebellen gegen den langjährigen Machthaber Muammar al-Gaddafi zu unterstützen (bpb 2020). Der Sicherheitsrat stützte diese militärische Intervention und hat die Situation in Libyen an den Gerichtshof überwiesen, obwohl Libyen kein Vertragsstaat des Römischen Statuts ist. Der Sicherheitsrat traf damit eine völkerrechtlich bindende Entscheidung. Zum einen verpflichtet er die libyschen Behörden zur Zusammenarbeit mit dem IStGH. Zum anderen schließt der Sicherheitsrat die Verantwortlichkeit für Personen der Staaten aus, die zwar in Libyen intervenieren, aber nicht Vertragsstaaten sind (Sicherheitsrat 2011: S/RES/1970). Die erstmals mit dem Prinzip der Responsibility to Protect (R2P)1 beschlossene Mission in Libyen zeigt, dass die Verantwortlichkeit trotzdem politisch begrenzt ist (Ba 2020: 70). Für den syrischen Bürgerkrieg weigert sich der Sicherheitsrat bisher, die Situation an den IStGH zu überweisen (Ba 2020: 74 f.). Der syrische Bürgerkrieg begann im Jahr 2011, als verschiedene oppositionellen Gruppierungen gegen den Präsidenten Baschar al-Assad rebellierten. Die im 1 Die R2P ist ein Konzept internationaler Schutzverantwortung, welches eine auf Initiative Kanadas gegründete ad hoc Kommission vorgeschlagen hat. Das ursprüngliche Anliegen, das Konzept humanitärer Interventionen abzulehnen, hat die Kommission neuinterpretiert und weitere Schranken für die staatliche Souveränität skizziert. Die R2P sieht vor, dass die internationale Staatengemeinschaft intervenieren darf, wenn ein Staat seiner Verantwortung gegenüber seinen Bürgern nicht nachkommt (siehe hierzu ausführlich den Bericht der International Commission on Intervention and State Sovereignty 2002).
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DIE LEGITIMATION INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
Bürgerkrieg begangenen Taten waren mehrfach Diskussionsthema im Sicherheitsrat. Die von Frankreich am 22. März 2015 in der Sitzung des Sicherheitsrats vorgebrachte Resolution hat nach der zugehörigen Pressemitteilung die Unterstützung von »100 non-governmental organizations, 65 co-sponsors and 13 Council members« (United Nations 2015: press release SC/11407). Das Abstimmungsergebnis ergab jedoch ein Veto Russlands und Chinas, sodass der Sicherheitsrat die Resolution nicht annehmen konnte (United Nations 2015: press release SC/11407). Der Unterschied zwischen der breiten Unterstützung der Resolution und der Ablehnung ist Ausdruck eines schon länger für den Sicherheitsrat kritisierten Machtungleichgewichts zu Gunsten der Vetomächte (beispielhaft Position des Auswärtigen Amtes 2020). Überraschenderweise hatten die USA der Resolution zugestimmt, allerdings hatten sie zugleich verlangt, dass der Ankläger dafür keine Ermittlungen gegen israelische Staatsbürger aufnimmt. Israel hat im Sechs-Tage-Krieg die Golan Anhöhen erobert, die offiziell zu Syrien gehören. Daher hätte der IStGH Ermittlungen für die auf dem Gebiet der Golan Anhöhen begangenen Taten aufnehmen können, wenn die USA diese Versicherung nicht eingefordert hätten (Ba 2020: 75). Bereits vor der französischen Resolution für die Situation in Syrien gab es ähnliche Anläufe anderer Akteure. Die folgenden Ausschnitte aus einer Stellungnahme des Sicherheitsrats zur französischen Resolution zeigen, wie Staaten die Prinzipien internationaler Strafverfolgung für sich in Anspruch nehmen: »BASHAR JA’AFARI (Syria) said the international legal system was based on fundamental pillars, the most important of which was that States held the primary and exclusive responsibility for accountabili ty and the establishment of justice. The Syrian Government had implemented a series of measures aimed at holding accountable those involved in the crisis and had taken legal action against them accordingly. The National Investigation Committee continued to do its job in pa rallel with the Syrian judiciary, which was looking into thousands of cases. »This confirms the desire and ability of the Syrian Government to achieve justice and denies any pretext to involve any international judicial body that conflicts with the national judiciary’s powers« (United Nations 2015: press release SC/11407).
In ähnlicher Weise argumentiert auch der Vertreter Chinas: »WANG MIN (China) said that for more than three years, the Syrian people had endured deep suffering while the conflict posed a serious challenge to countries in the region and the whole international community. China opposed all acts of violence in violation of international humanitarian law or human rights. However, it had some serious difficulties with the draft resolution. Any action seeking referral to the International Criminal Court should be based on the premise of respect for the judicial sovereignty of States and the principle of complementarity, he said« (United Nations 2015: press release SC/11407). 168
SPANNUNGSREICHE KOMPLEMENTARITÄT
Der chinesische Vertreter im Sicherheitsrat verweist auf das Prinzip der Komplementarität und erklärt so, warum er die Resolution abgelehnt hat. Die Situationen in Libyen und Syrien haben die Frage aufgeworfen, warum der Sicherheitsrat sich in der ersten Situation für und in der zweiten Situation gegen eine Überweisung an den IStGH entschieden hat (Clarke/ Koulen 2014: 311). Die Selektivität des Sicherheitsrats aufgrund politischer Erwägungen steht als Kritik im Raum und kann die Legitimität des IStGH als Weltstrafgerichtshof beschädigen. Die Stellungnahme der Afrikanischen Union zur verabschiedeten Resolution des Sicherheitsrats, die Situation in Darfur (Sudan) an den IStGH zu überweisen, zeigt dies an: »9. DEEPLY REGRETS that the request by the African Union to the UN Security Council to defer the proceedings initiated against President Bashir of The Sudan in accordance with Article 16 of the Rome Statute of the ICC, has neither been heard nor acted upon, and in this regard, REITERATES ITS REQUEST to the UN Security Council; 10. DECIDES that in view of the fact that the request by the African Union has never been acted upon, the AU Member States shall not cooperate pursuant to the provisions of Article 98 of the Rome Statute of the ICC relating to immunities, for the arrest and surrender of President Omar El Bashir of The Sudan« (Afrikanische Union 2009: Assembly/ AU/Dec. 243–267 (XIII)).
Zum einen verlangt die Versammlung der AU, dass der IStGH von Art. 16 RS Gebrauch macht, also Ermittlungen aufschiebt. Dadurch würde der Sicherheitsrat jedoch seine Entscheidung unterlaufen, die Situation in Darfur an den IStGH zu überweisen. Darüber hinaus ruft die AU ihre Mitgliedsstaaten dazu auf, nicht mehr mit dem IStGH zusammenzuarbeiten. Dire Tladi weist darauf hin, dass diese Entscheidung der AU sich innerhalb des rechtlichen Rahmens des Römischen Statuts bewege, weil die Entscheidung auf der Immunitätsklausel aus Art. 98 RS beruhe (Tladi 2014: 392). Der IStGH steht mit der Mehrzahl seiner Ermittlungen auf dem afrikanischen Kontinent daher vor einer verzwickten Situation, die er zwischen den Staaten, der AU und dem Sicherheitsrat auszubalancieren hat, um die Zusammenarbeit sicherzustellen. Das Prinzip der Komplementarität und die Eingriffsrechte des Sicherheitsrats erscheinen daher wie das Tor für politische Einmischung (vgl. van Ooyen 2002: 121). Ein anderes Beispiel ist das Verhältnis des IStGH zu den USA. Die USA befürchteten, dass der IStGH Ermittlungen gegen ihre Soldaten aufnimmt. Daher zwangen sie den Sicherheitsrat zur Resolution 1422 am 12. Juli 2002 – elf Tage nach der Arbeitsaufnahme des Gerichtshofs. Die Resolution beinhaltet einen Aufschub aller Ermittlungen gegen Nicht-Vertragsstaaten des Römischen Statuts für zwölf Monate nach Art. 16 RS, wenn dieser Nicht-Vertragsstaat an Missionen der Vereinten Nationen teilnimmt (Sicherheitsrat 2002: S/RES/1422). Diese Resolution konnten 169
DIE LEGITIMATION INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
die USA durchsetzen, weil sie drohten, ihre Zustimmung im Sicherheitsrat für die Verlängerung der VN-Missionen in Bosnien-Herzegowina UNMIBH (United Nations Mission in Bosnia and Herzegovina) und SFOR (Stabilisation Force) zu verweigern (Zimmermann/Scheel 2002: 142). Am 12. Juni 2003 bestätigte der Sicherheitsrat den Inhalt der Resolution in Resolution 1487 (Sicherheitsrat: S/RES/1487). Zu einer erneuten Aufschiebung kam es nicht mehr, weil die Bilder vom Missbrauch Gefangener in Abu Ghraib durch US-Soldaten 2004 an die Öffentlichkeit kamen. Deshalb haben die USA bilaterale Abkommen mit einzelnen Staaten geschlossen, um zu verhindern, dass US-Soldaten durch den Einsatz im jeweiligen Land überstellt werden können. Art. 98 Abs. 2 RS schließt eine Überstellung aus, wenn sie anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen entgegensteht (Zimmermann/Scheel 2002: 143; Bogdan 2008). Das Verhältnis zwischen dem IStGH und den USA besserte sich während der Präsidentschaft von Barack Obama nur geringfügig (Ba 2020: 76). Schließlich hat die Aufnahme von Ermittlungen gegen US-Soldaten in Afghanistan das Verhältnis auf einen Tiefpunkt geführt. Die TrumpAdministration hat Mitarbeitern des IStGH die Einreise in die USA untersagt und Vermögen eingefroren. Am deutlichsten drückt Heng Kim Song in der untenstehenden Karikatur das Verhältnis aus:
Abbildung 7. Karikatur aus der New York Times von Heng Kim Song (16.09.2018).
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SPANNUNGSREICHE KOMPLEMENTARITÄT
Der ehemalige Botschafter bei den Vereinten Nationen und nationale Sicherheitsberater John Bolton hat sich kontinuierlich als Gegner des IStGH geäußert. Er tritt in der Karikatur wieder in dieser Rolle auf, die auch die Linie der US-Administration hinsichtlich der Ermittlungen gegen US-Soldaten in Afghanistan darstellt. Das Vorrücken des Panzers auf den IStGH in der Karikatur ist mit den aggressiven Maßnahmen gegen dessen Mitarbeiter gleichzusetzen. Den USA fehlt es scheinbar an Alternativen zum militärischen bzw. aggressiven Vorgehen. Die durch die Karikatur verbildlichte Haltung der US-Administration sucht keine Kooperation, sondern Konfrontation mit dem IStGH. Die Karikatur drückt damit nicht nur ein aktuelles Verhältnis aus, sondern eine langanhaltende Ablehnung des IStGH, die sich an Afghanistan neu entzündet hat. Akteure der internationalen Politik nutzen die rechtlichen Strukturen wie das Veto der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats zu ihrem eigenen Interesse aus. Dieser bekannte Vorwurf diskreditiert auch den IStGH. Zugleich nutzt der Gerichtshof aber auch politische Opportunitäten wie in Uganda, um die internationale Strafverfolgung umsetzen zu können. Das politische Minenfeld liegt unvermeidbar vor dem IStGH, weil er ergänzend zur staatlichen Strafverfolgung tätig wird. Die Legalität des Verhaltens von IStGH, Sicherheitsrat und den jeweils betroffenen Staaten steht scheinbar im Kontrast zur Legitimität ihres Verhaltens. Bereits Max Weber hat Legalität und Legitimitätsglauben als Typen legitimer Herrschaft unterschieden. Legalität ruht auf der Formalität positiv gesetzten Rechts (Weber 2019: 726). Der Legitimitätsglaube gilt dagegen »als Pflicht, deren Erfüllung der charismatisch Legitimierte für sich fordert, deren Verletzung er ahndet« (Weber 2019: 737). Für den IStGH wäre der Legitimitätsglaube, dass die Staaten ihre in der Präambel gesetzten Pflicht anerkennen, die Strafverfolgung internationaler Verbrechen durchzuführen. Allerdings liegen die Spannungen darin, ob die Staaten dieser Pflicht nachkommen oder nicht willens sind und damit das Komplementaritätsprinzip greift. Legalität allein genügt nicht, um den Legitimitätsglauben zu erzeugen. Es handelt sich um zwei voneinander getrennte Legitimitätsgründe, die einander allerdings nicht ausschließen (vgl. Weber 2019: 726). Das fehlende Vertrauen der Afrikanischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten in den Gerichtshof zeigt den fehlenden Legitimitätsglauben ebenso auf, wie die USA die Verurteilung ihrer Soldaten fürchten. Die im Sicherheitsrat aus politischen Erwägungen getroffenen Entscheidungen verstärken das Misstrauen gegenüber dem Gerichtshof. Weber argumentiert, dass Legalität und Legitimitätsglaube aufeinander angewiesen sind, um eine kontinuierliche Stabilität gewährleisten (Weber 2019: 739). Über positiv gesetztes Recht hinaus müssen die Normadressaten ihre daraus resultierende Pflicht anerkennen. Die demokratische Legitimität ist eine Möglichkeit, diese Stabilität zu erreichen. In einem demokratischen 171
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Verfahren verpflichten sich die Beteiligten per Wahl und der Gewählte hält seine Legitimität durch das ihm übertragene Mandat (Weber 2019: 742). Allerdings stellt sich die Frage, ob der Gerichtshof über das ihm durch das Römische Statut übertragene Mandat hinaus noch den Glauben an seine Legitimität gewährleisten kann. Dies zeigt die Grenze der Legitimation des Römischen Statuts für den IStGH an und bezeichnet den Ebenenwechsel zu den Verfahren des Gerichtshofs. Die Komplementarität erfordert vom IStGH eine konkrete und kontinuierliche Verhältnisbestimmung. Dieses Verhältnis nehmen die Karikaturisten als problematisch wahr, indem sie den Gerichtshof als Kangaroo court darstellen. Ebenso greifen die Vertreter im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen explizit auf das Komplementaritätsprinzip zurück, um ihr Votum gegen die internationale Strafverfolgung in der Situation in Syrien zu begründen. Im Römischen Statut ist der horizontale Modus des völkerrechtlichen Vertragsschlusses hinter der Parenthese verdeckt worden, um auf der Innenseite der Parenthese die verschiedenen Institutionen der internationalen öffentlichen Ordnung als legitimationsstiftende Dritte in Anspruch zu nehmen. In der skizzierten öffentlichen Wahrnehmung des Gerichtshofs ist die Aktivität in den Verfahren begründungsbedürftig und formuliert die Herausforderung weltgesellschaftlicher Strukturbildung auf der Seite des vertikalen Modus als Legitimationsproblem. In Anlehnung an Weber schöpft der legale Vertragsschluss auf der Organisationsebene seinen Legitimationsglauben durch den Anschluss an die internationale öffentliche Ordnung. Nun stellt sich für die legalen Verfahren des Gerichtshofs im vertikalen Modus der Kooperation die Frage, woher sie ihren Legitimationsglauben beziehen können. Die skizzierte öffentliche Wahrnehmung gibt nicht die Hoffnung, dass der horizontale Modus einspringt. Stattdessen scheint es sich eher um eine Frontstellung internationaler Strafverfolgung und staatlicher Souveränität im vertikalen Modus der Kooperation zu handeln.
II. Legitimationsdefizit internationaler (Straf-)Gerichtsbarkeit Die spannungsreiche Komplementarität folgt aus der Diffusion des institutionellen Musters internationaler Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation. In diesem Modus ist die internationale Strafverfolgung mit dem institutionellen Muster staatlicher Souveränität in einem Ergänzungsverhältnis verbunden. Der makrodeterminative Prozess der Diffusion beider Muster strukturiert die Bedingungen, unter denen die verschiedenen Instanzen die Strafverfolgung internationaler Verbrechen betreiben. Im Hinblick auf die Ungleichbehandlung bei der 172
LEGITIMATIONSDEFIZIT INTERNATIONALER (STRAF-)GERICHTSBARKEIT
Situationsauswahl, dem andauernden Konflikt mit der Afrikanischen Union und der Verfolgung von US-Soldaten, ohne dass die USA Vertragsstaat des Römischen Statuts sind, stellt sich die Frage, ob die emergent gebildete Struktur hinreichend legitimiert ist. Wie muss der Prozess globaler Vernetzung gestaltet sein, um dem Völkerstrafrecht und seinen ausführenden Instanzen ausreichend Legitimation zu gewähren? Im Zentrum dieser Frage steht weiterhin die Verhältnisbestimmung zwischen Horizontaler und Vertikaler bzw. den institutionellen Mustern staatlicher Souveränität und internationaler Strafverfolgung. Die Analysen auf der Ebene der Organisation und auf der Ebene der Weltgesellschaft haben gezeigt, dass es sich um eine fortsetzende emergente Strukturbildung auf allen Ebenen handelt. Die gesellschaftlich ausgebildeten Strukturbedingen sind in den beiden Mustern institutionalisiert und bilden die gesellschaftliche Umwelt für die Organisation IStGH. Der Gerichtshof ist eine eigenständige Organisation, die unabhängig der Strafverfolgung internationaler Verbrechen nachgeht. Der IStGH bearbeitet ein Problem der gesellschaftlichen Umwelt und sichert sich durch dieses Verhältnis seine Legitimation. Gleichzeitig steht der Gerichtshof in einem komplementären Verhältnis zu den Staaten, wenn es um die Ausführung der Strafverfolgung geht. Der Gerichtshof entscheidet nach der im Komplementaritätsprinzip enthaltenen Regel, ob seine Ermittlungen zulässig sind oder der Staat Vorrang genießt. Der IStGH ist dementsprechend auf vielfältige Weise mit den Staaten, Tätern, Opfern, Zeugen, anderen (internationalen) Organisationen global vernetzt. Diese Interdependenz ist mit einer Verselbstständigung des Gerichtshofs kombiniert, weil er die Entscheidung über die Zulässigkeit prüft und fällt. Eine solche weltgesellschaftliche Struktur und Organisation unterscheidet sich von nationalen Gerichten im demokratischen Rechtsstaat. Die klassische Lehre der Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative hat eine wechselseitige Kontrolle vorgesehen, indem die demokratische Legitimation rechtlich gesichert ist. Dies fehlt dem IStGH und verschärft die Legitimationsfrage im Hinblick auf die beispielhaft genannten Spannungen des IStGH mit anderen, weil mögliche Kompetenzüberschreitungen keiner Kontrolle wie im demokratischen Rechtsstaat unterliegen. Entlang dieser Problemstellung werden verschiedene demokratietheoretische Standpunkte vorgestellt. Jürgen Habermas hat in seiner Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaats die Grundlagen für diese Überlegungen gelegt (2017; 2008; 2007). Habermas nimmt den demokratischen Rechtsstaat als Ausgangspunkt, um die Legitimationsfrage auf der Ebene der Weltgesellschaft zu klären. Er unterscheidet drei Elemente: Staat, demokratische Verfassung und staatsbürgerliche Solidarität (Habermas 2008: 363). Das mit dem Staat verbundene Gewaltmonopol lässt sich nicht auf die 173
DIE LEGITIMATION INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
Weltgesellschaft übertragen, sodass es auf die demokratische Verfassung und die staatsbürgerliche Solidarität ankommt (Habermas 2008: 363). Obwohl sich internationale Regime bilden, fehlt der Weltgesellschaft das Maß an Institutionalisierung des Nationalstaats (Habermas 2007: 419). Habermas traut aufgrund des Gewaltmonopols nur Staaten zu, die »effektive und legitime rechtliche Implementierung von Beschlüssen internationaler Organisationen« (Habermas 2007: 420) umzusetzen. Damit bleibt die Verhältnisbestimmung zwischen der Horizontalen staatlicher Souveränität und der Vertikalen internationaler Strafverfolgung durch ein Legitimations- und Autoritätsdefizit gekennzeichnet. Um diese Defizite zu beseitigen, fehlt ein Äquivalent für den demokratischen Rechtsstaat (Habermas 2007: 429). »Mit der zunehmenden Reichweite internationalen Regierens entsteht […] ein Legitimationsbedarf, der die Legitimationsgrundlage internationaler Verträge überfordert und von den demokratischen Verfahren des Nationalstaats nicht mehr befriedigt werden kann […]. Weil die neuen Formen des Regierens tief in die Kompetenzen der bestehenden Staaten eingreifen, büßen diese gleichzeitig an Legitimität ein« (Habermas 2007: 430).
In diesen demokratietheoretischen Überlegungen stellt Habermas den Bürger ins Zentrum der demokratischen Willensbildung. Er unterscheidet die Bürger in Welt- und Staatsbürger, »[w]eil die politisch verfasste Weltgesellschaft aus Bürgern und Staaten besteht« (Habermas 2008: 368). Aus diesem Grund »kann der Legitimationsfluss der Meinungsund Willensbildung nicht wie im Nationalstaat linear von den Bürgern zur Staatsgewalt verlaufen; vielmehr müssen wir zwei Legitimationswege berücksichtigen« (Habermas 2008: 368). Habermas führt mit den zwei Legitimationswegen des Welt- und Staatsbürgers einen Dualismus ein. Das institutionelle Muster staatlicher Souveränität ist anders legitimiert als das institutionelle Muster internationaler Strafverfolgung. Im Hinblick auf den Dualismus hatte Harold Hongju Koh auf den Widerspruch in der Unterscheidung horizontal/vertikal hingewiesen (Erstes Kapitel: I.). Die monistische Vorstellung eines vertikalen Modus der Kooperation, in dem Horizontale und Vertikale in einem komplementären Verhältnis zueinanderstehen, muss den Dualismus für die institutionellen Muster und ihre Legitimation wiedereinführen. Allerdings führt dieser Widerspruch dazu, dass die Verhältnisbestimmung zwischen Horizontaler und Vertikaler bzw. den institutionellen Mustern zu einer andauernden und spannungsreichen Herausforderung wird. Dieser Widerspruch erklärt, warum in der Präambel das Prinzip der Komplementarität als organisationale Entscheidungsregel entsteht und wie der Gerichtshof die weltgesellschaftlichen Umweltbedingungen institutionalisiert. Die theoretische Diskussion um 174
LEGITIMATIONSDEFIZIT INTERNATIONALER (STRAF-)GERICHTSBARKEIT
die Legitimationsfrage dreht sich um die beobachteten Spannungen beim IStGH und äquivalenten Konstellationen anderer internationaler Gerichte sowie Organisationen. Diese Diskussion hebt hervor, dass die Verhältnisbestimmung in jeder Situation wiederholt wird. Auf diese Weise reproduziert sie die Struktur der Strafverfolgung internationaler Verbrechen. Habermas scheint dieser Position zu folgen: »[D]er […] analysierte Widerspruch zwischen den normativen Maßstäben der Weltbürger und der Staatsbürger muss in einer monistisch verfassten politischen Ordnung entschärft werden« (Habermas 2008: 370). Jedoch folgt aus seinem demokratietheoretischen Standpunkt der normative Anspruch, den Widerspruch aufzulösen. Dies bedeutet, die emergente Strukturbildung jeder analytisch unterschiedenen Systemebene durch ein demokratisches Prozedere zu ersetzen. Nach Habermas »rechtstheoretischen Überlegungen bildet das Verfahren deliberativer Politik das Kernstück des demokratischen Prozesses« (2017: 359). Er sieht im Verfahren die Basis dafür, einen Zusammenhang unter den Teilnehmern zu konstruieren (2017: 360). Er greift dabei auf das Konzept kommunikativen Handelns zurück. Unter den Bedingungen kommunikativen Handelns haben die Teilnehmer zwar eigene Motive, allerdings gehen sie davon aus, »daß sie ihre Handlungspläne auf der Grundlage gemeinsamer Situationsdefinitionen aufeinander abstimmen können« (Habermas 2014: 385). Diesen Begriff kommunikativen Handelns entwickelt Habermas in seiner Auseinandersetzung mit Max Weber. Habermas diskutiert die Legitimität einer Rechtsordnung und stellt fest, dass Legalität und Legitimität nicht identisch sein können. Positiv gesetztes Recht ist stets legal, aber muss damit nicht legitim sein (Habermas 2014: 358).2 Der Kern des Legitimationsdefizits bleibt die Frage, welche zusätzlichen Bedingungen an die Rechtssetzung gestellt werden müssen, damit das Recht legitim ist. Andernfalls entsteht nach Habermas ein Zirkelschluss: »Der Legalitätsglaube kann nur dann Legitimität schaffen, wenn die Legitimität der Rechtsordnung, die festlegt, was legal ist, schon vorausgesetzt wird. Aus dieser Zirkularität führt kein Weg heraus« (Habermas 2014: 359).
Aus diesem Grund kann auch ein Verfahren allein wegen seiner Legalität keine Legitimität erzeugen (Habermas 2014: 360). Der auf dem Römischen Statut beruhende IStGH ist zwar legal, aber besitzt nicht zwingend Legitimität (Viertes Kapitel: I.). In der Präambel beziehen sich die 2 Dieses Problem hatte bereits Gustav Radbruch nach dem Zweiten Weltkrieg aufgeworfen, als die Alliierten und deutsche Gerichte nationalsozialistische Funktionäre angeklagt haben, obwohl eine rechtliche Grundlage fehlte und die Nationalsozialisten auf eigener gesetzlicher Grundlage handelten (Erstes Kapitel: III.).
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Staaten auf andere Rechtsinstitutionen und erzeugen dadurch die von Habermas angesprochene Zirkularität. Den Ausweg aus dieser Zirkularität bildet das deliberative Verfahren kommunikativen Handelns auf der Grundlage demokratischer Prinzipien (Habermas 2017: 360). Das kommunikative Handeln erfüllt »die handlungskoordinierende Rolle eines Verständigungsmechanismus« (Habermas 2007: 413) und hat daher eine »sozialintegrative Funktion« (Habermas 2017: 369). In diesem Verständnis unterscheidet Habermas das Vorgehen in internationalen Verhandlungen nach »Argumentation« und »Bargaining«. Die Argumentation beruht auf der vorgestellten Idee kommunikativen Handelns, während das Bargaining strategisches Handeln darstellt (Habermas 2007: 411 f.). Strategisches Handeln ist erfolgs- und nicht verständigungsorientiert, obwohl es den Regeln der sozialen Handlungssituation folgt (Habermas 2014: 385). Letzteres Handeln steht vor dem zentralen Problem, keine Vertikale begründen zu können: »In strategischen Verhandlungen, wo die fixen Präferenzen der Beteiligten nur im Rahmen einer gegebenen Machtkonstellation zum Ausgleich gebracht werden können, fehlt eine solche intersubjektiv anerkannte, über die horizontalen Beziehungen zwischen konkurrierenden Ansprüchen hinausgreifende Autorität« (Habermas 2007: 415 f.).
Habermas thematisiert das Begründungsproblem vertikaler Strukturbildung. In der historischen Rekonstruktion wurde deutlich, dass die Staaten allein auf der Horizontalen nicht in der Lage waren, eine übergeordnete Struktur zu institutionalisieren (Erstes Kapitel: I. und II.; Zweites Kapitel: III.). Allerdings problematisiert Habermas die beobachtete emergente Strukturbildung, weil sie nicht dem demokratischen Willensbildungsprozess entspringt. Er präferiert dem zur Folge ein klares Verhältnis zwischen Begründer und Begründeten. In der Analyse der Präambel hatte sich jedoch gezeigt, dass die Staaten dieses Verhältnis verdecken, um die Legitimität des Gerichtshofs zu gewährleisten. Den Gerichtshof ordnen die Vertragsstaaten in eine vorhandene Weltordnung ein, sodass das Völkerstrafrecht und der Gerichtshof nicht mehr begründungsbedürftig erscheinen (Drittes Kapitel: IV.). Habermas holt das Begründungsproblem wieder zum Vorschein, wenn er dem völkerrechtlichen Vertrag nicht zutraut, die legitimatorischen Lasten vertikaler Strukturbildung zu tragen. Diese Perspektive erlangt ihre Relevanz durch die spannungsreiche Komplementarität in der operativen Strafverfolgung durch den IStGH (Viertes Kapitel: I.). Dies wirft die Frage auf, ob der Gerichtshof auf diese Problemstellung reagiert, bzw. ob er äquivalente Legitimationsmechanismen ausgebildet hat. An seinem Gründungsvertrag kann der Gerichtshof nichts ändern, aber er könnte sich in den Verfahren an anspruchsvollere Umweltbedingungen anpassen. 176
LEGITIMATIONSDEFIZIT INTERNATIONALER (STRAF-)GERICHTSBARKEIT
Im Anschluss an Habermas haben verschiedene Autoren die Idee deliberativer Verfahren ausgearbeitet. Die folgenden Studien rücken den fehlenden Staat, den mangelnden normativen Zusammenhalt und die ausbleibende Gewaltenteilung als einen Aspekt des demokratischen Rechtsstaats in den Vordergrund. Sie zeigen einige der Diskussionsstränge demokratietheoretischer Anforderungen gegenüber internationalen Gerichten im Allgemeinen und des IStGH im Besonderen. Darüber hinaus sind die folgenden Ansätze beachtenswert, weil sie stets auf das Verhältnis zwischen Staat und internationalen Gerichten/Organisationen und damit dem widersprüchlichen Kooperationsverständnis des Völker(straf)rechts im vertikalen Modus der Kooperation mit der horizontalen Basislinie eingehen. Der Ansatz von Ingeborg Maus greift diese Problemstellung auf und adressiert die vom gewählten Institutionalisierungsansatz hervorgehobene emergente Strukturbildung. Armin von Bogdandy und Ingo Venzke greifen Habermas Überlegungen für die demokratischen Legitimation internationaler Gerichte auf. Sie machen sich die Position Habermas zu eigen, um »die Ausübung öffentlicher Gewalt durch internationale Gerichte […] auf ihre demokratische Rechtfertigung [zu] befragen und Verbesserungsstrategien aus[zu] loten« (von Bogdandy/Venzke 2010: 5; [Ergänzung durch H.d.V.]). Sie nehmen die für deutsche Urteilsverkündungen klassische Formulierung »im Namen des Volkes« als legitimatorischen Garanten auf und stellen heraus, dass internationale Gerichte nicht auf einen äquivalenten Souverän verweisen können (von Bogdandy/Venzke 2010: 2 f.; 2012: 8 ff.). Sie beschreiben dementsprechend ein Legitimationsdefizit internationaler Gerichte in zwei Hinsichten: Zum einen orientieren sich internationale Gerichte nicht ausreichend an gemeinschaftlichen Interessen und zum anderen genügt die Legitimation durch die Staaten und andere Institutionen nicht, um hinreichend Legitimation zu gewinnen (von Bogdandy/Venzke: 2010: 4 f.; 2012: 9). Im Kern ihrer Überlegungen steht, von einer dualistischen Konzeption nationaler und internationaler Gerichte auszugehen, um daraus ein legitimatorisches Defizit zu folgern, das nur durch demokratische Legitimation nach dem Vorbild des demokratischen Verfassungsstaats zu lösen ist: »Die Rechtserzeugung staatlicher Gerichte ist eingebettet in ein politisches System, das es in vergleichbarer Weise auf internationaler Ebene nicht gibt« (von Bogdandy/Venzke 2010: 20). Auf dieser Grundlage identifizieren von Bogdandy und Venzke drei Probleme: 1. Den rechtsschöpferischen Akt der Entscheidungen internationaler Gerichte und 2. die damit verbundene Ausübung öffentlicher Gewalt, die 3. ohne eine kontrollierende Legislative im Sinne der Gewaltenteilung erfolgt (von Bogdandy/Venzke 2010: 6 ff.; 2012: 13 ff.). In Anlehnung an Hans Kelsen verstehen von Bogdandy und Venzke jede Rechtsanwendung als Akt der Rechtsschöpfung, weil der Wortlaut an einen konkreten Fall anzupassen ist. Die Fallentscheidung begründet 177
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die Anwendung einer Rechtsvorschrift, sodass andere Gerichte diese Begründung aufgreifen können. Eine richterliche Entscheidung ist nicht auf einen Fall begrenzt, andere Gerichte können sie zu Grundlage ihres Entscheidens machen (von Bogdandy/Venzke: 2010: 12 ff.; 2012: 14 ff.). Der Legitimationsbedarf im Sinne einer Rechtfertigung entsteht nach von Bogdandy und Venzke, indem die internationalen Gerichte in ihren Entscheidungen öffentliche Gewalt ausüben (2010: 16). Ihnen geht es dabei nicht allein um die Sanktionen infolge der Entscheidungen, vielmehr sehen sie die Reputationsverluste als ausschlaggebend an (von Bogdandy/Venzke 2010: 17). Die internationalen Gerichte schaffen mit ihren Entscheidungen Zusammenhänge, innerhalb derer sich andere Gerichte, Staaten und Individuen bewegen. Sie stabilisieren Verhaltenserwartungen und können so Enttäuschungen dieser Erwartungen international markieren (von Bogdandy/Venzke 2010: 18 f.; 2012: 16). An dieser Ausübung öffentlicher Gewalt entfalten von Bogdandy und Venzke das zentrale Legitimationsdefizit internationaler Gerichte. Der demokratische Verfassungsstaat kann dieses Defizit in der Einigung auf einen völkerrechtlichen Vertrag nicht auffangen (von Bogdandy/Venzke: 2012: 19). Der Text des Vertrags steht außerhalb des Zugriffs parlamentarischer Kontrolle (von Bogdandy/Venzke 2010: 21). Sobald das Parlament den Vertrag ratifiziert hat, entzieht sich seine Anwendung der parlamentarischen Kontrolle. Recht und Politik stehen nicht mehr in wechselseitiger Kontrollbeziehung zueinander (von Bogdandy/Venzke 2010: 22; 2012: 21). Ohne eine zentrale internationale Legislative fragmentiert die Rechtsschöpfung mit vertraglichen Einigungen sowie internationalen Gerichts- und Organisationsentscheidungen in voneinander unabhängige Spezialbereiche. Dies unterläuft das Gebot der Allgemeinheit für demokratische Entscheidungsprozesse in einem Parlament, denn an dessen Stelle spezialisierte Einrichtungen treten. Es fehlt ein Parlament als zentralem Rechtssetzungsorgan, das die spezialisierten Einrichtungen verbindet und den Regeln demokratischer Legitimation unterwirft (vgl. von Bogdandy/Venzke 2010: 25 f.; 2012: 23). In dieser Debatte fragt Marlies Glasius: »Do International Criminal Courts Require Democratic Legitimacy?« (2012: 43). Darauf antwortet sie, dass internationale Strafgerichte keine direkte demokratische Basis brauchen, allerdings »they should pursue wider social aims, for identifying these aims, and for identifying principles that can guide the conduct of relationships with affected populations« (Glasius 2012: 43). Sie stellt die Kritik an internationalen Strafgerichten hinsichtlich der mangelnden Transparenz ihrer Verfahren und Urteile, dem fehlenden Dialog zwischen Tätern und Opfern in Transitional Justice Prozessen nach innerstaatlichen Gewaltkonflikten und den fehlenden demokratische Konsens über Entscheidungen dar (Glasius 2012: 45 ff.). Für die Gründung des IStGH stellt Glasius fest, dass der völkerrechtliche Vertrag nicht 178
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ausreicht, um einen demokratischen Konsens zu begründen (2012: 48). Deshalb versucht sie, Prinzipien zu entwickeln, mit denen der Gerichtshof der vorgetragenen Kritik begegnen kann. In Anlehnung an Durkheim, Weber und anthropologischen Ansätze deutet sie Normen als Ausdruck eines kollektiven Bewusstseins (Glasius 2012: 53). Ein solches kollektives Bewusstsein fehlt in instabilen Gesellschaften, mit denen der Gerichtshof in der Regel befasst ist, weil diese Gesellschaften über keinen normativen Zusammenhalt verfügen (Glasius 2012: 56). Glasius nimmt daher an, dass internationale Strafgerichte das gemeinsame Bewusstsein dieser Gemeinschaften reflektieren und ausformen müssen. Die Gerichte sollen die Aufgabe übernehmen, an die Stelle des fehlenden normativen Zusammenhalts zu treten (Glasius 2012: 56). In dieser Hinsicht soll der IStGH selbst als Dritter auftreten, um die Institutionalisierung normativen Erwartens in Gang zu setzen. Diese Aufgabe erschwert die dualistische Rechtsvorstellung, weil die verschiedenen Rechtsordnungen der Staaten und des Völkerrechts nicht den gleichen normativen Zusammenhalt repräsentieren. Diese Vorstellung zeigt, wie interpretationsbedürftig die verschiedenen Rechtsordnungen sind (Gla sius 2012: 57). Die internationalen Strafgerichte müssen die Unterschiede der Rechtsordnungen ausbalancieren und versuchen, öffentliche Interessen zu definieren, um Entscheidungen treffen zu können (Glasius 2012: 60). Obwohl Glasius nicht auf eine direkte demokratische Legitimation wie Habermas und von Bogdandy/Venzke abzielt, setzt sie doch ähnliche normative Standards: »International criminal courts should contribute to reshaping a society’s sense of normative order, to providing redress for individuals and groups marginalized by the crimes in question, and should project integrity as well as predictability to the societies at large« (Glasius 2012: 65 f.).
Solche Erwartungen haben auch Dominic Raab und Hans Bevers, indem sie den IStGH nach der klassischen Gewaltenteilungslehre untersuchen (2006). Sie stellen heraus, dass die Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative vom Staat nicht direkt auf die internationale Ebene gehoben werden kann. (Raab/Bevers 2006: 98). Dafür sind die Gewalten zu sehr im IStGH miteinander verbunden und das internationale System wegen der Vielzahl an Staaten zu dezentralisiert (Raab/ Bevers 2006: 98). Dies schafft jedoch erst die Relevanz, nach einer effektiven Gewaltenteilung zu fragen (Raab/Bevers 2006: 131). Der Gerichtshof greift mit seinen Entscheidungen in Friedensprozesse ein, sodass er mit seinen Ermittlungen eine starke Wirkung auf Frieden und Sicherheit entfaltet (Raab/Bevers 2006: 105). Außerdem hat der Chefankläger des IStGH weitreichendere Ermessensspielräume, als Raab und Bevers im Vergleich zu England und den Niederlanden feststellen (2006: 179
DIE LEGITIMATION INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
118). Schließlich beruht der IStGH nur auf einem völkerrechtlichen Vertrag einer begrenzten Zahl der Staaten und nicht auf einer Resolution des Sicherheitsrats als Maßnahme gegen die Bedrohung des Friedens und der Sicherheit der Welt (Raab/Bevers 2006: 107). Für diese Aktivitäten fehlt dem Gerichtshof ein Kontrollorgan und deshalb ist er der Gefahr ausgesetzt, willkürliche Entscheidungen zu fällen (Raab/Bevers 2006: 132). Die Ermittlungen des Gerichtshofs im Sudan haben diese Gefahr deutlich gemacht. Nach einem Bürgerkrieg in der Provinz Darfur im Sudan gegen die Zentralregierung griff der Sicherheitsrat ein und überwies die Situation an den Gerichtshof. Im Zuge dieser Ermittlungen hat der Gerichtshof einen Haftbefehl gegen den damals amtierenden Präsidenten Omar Al-Bashir erlassen. Dies hat eine Diskussion darüber ausgelöst, ob der IStGH mit diesem Eingriff den Friedensprozess im Sudan nachhaltig beschädigt (Reynolds 2010; Pichon 2008). Ähnliche Standpunkte finden sich auch für den Vergleich der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH und die ad hoc Tribunale mit Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, um Alternativen für die Aufarbeitung gewaltsamer Konflikte auszuloten (vgl. de Vries 2021a; Bisset 2009; Totten 2009; Roche 2005). Alle drei Studien diskutieren, wie die Legitimation internationaler Gerichte gewährleistet werden kann. In Anlehnung an Habermas untersuchen sie den zweiten Legitimationsweg oder in Bezug auf Weber den möglichen Legitimationsglauben an die internationale Rechtsprechung. Obwohl Glasius keine direkte demokratische Legitimation des Gerichtshofs für erforderlich hält, fordert sie einen normativen bzw. gesellschaftlichen Zusammenhalt, den der IStGH repräsentieren soll. Dies führt zu von Bogdandys und Venzkes Frage, in wessen Namen internationale Gerichte ihre Urteile fällen. Die Ausübung dieser öffentlichen Macht kontrolliert nach Raab und Beevers kein System der klassischen Gewaltenteilungslehre. Diese Studien bemängeln die Bedingungen, auf die der Gerichtshof keinen Zugriff hat. Glasius sowie von Bogdandy und Venzke beschreiben die fragmentierte bzw. plurale weltgesellschaftliche Rechtsordnung als Teil des Legitimationsdefizits internationaler (Straf-) Gerichtsbarkeit. Ohne eine zentrale Legislative auf der Ebene der Weltgesellschaft fehlt die demokratische und gemeinschaftliche Legitimation, weil die Rechtssetzung in Spezialbereichen stattfindet und keinen Bezug zu einem einheitlichen Ordnungsrahmen hat (von Bogdandy/Venzke 2010: 25 f.; 2012: 23). Aus Sicht der Autoren reicht der IStGH nicht als organisationale Klammer des Völkerstrafrechts wie der Staat für die nationale Rechtsordnung. Es handelt sich um eine dualistische Rechtsinterpretation. Mit dem demokratietheoretischen Anspruch soll dieser Dualismus aufgelöst werden. Das Verhältnis zwischen Vertikaler und 180
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Horizontaler soll damit dauerhaft festgelegt und nicht in jedem Verfahren dynamisch neu ausgehandelt werden. Dies bietet den Ausgangspunkt dafür, den Bezug zur Debatte um die internationale öffentliche Ordnung herzustellen: Die ILC hat die bereits seit längerem diskutierten Bedenken aufgenommen und eine eigene Arbeitsgruppe eingerichtet (General Assembly 2006: 10). Unter anderem waren Martii Koskenniemi, Campbell McLachlan, Andreas FischerLescano, Gunther Teubner, Emmanuelle Jouannet, Pierre Marie Dupuy und Isabelle Van Damme Mitglieder der Arbeitsgruppe. Die breite Zusammenstellung der Mitglieder zeigt, dass die Problemstellung zunehmender Fragmentierung von unterschiedlichen Forschungsstandpunkten wahrgenommen wird. Den Ausgangspunkt für ihren Bericht nimmt die Arbeitsgruppe in zwei Beobachtungen: Zum einen fehlt eine zentrale Legislative und zum anderen verselbständigt und spezialisiert sich das Völkerrecht zunehmend (General Assembly 2006: 10). Daraus ergibt sich für sie folgende Situation: »It is a well-known paradox of globalization that while it has led to increasing uniformization of social life around the world, it has also led to its increasing fragmentation – that is, to the emergence of specia lized and relatively autonomous spheres of social action and structure« (General Assembly 2006: 11).
Die Arbeitsgruppe der ILC beobachtet, dass sich einzelne spezialisierte Rechtsbereiche herausbilden, die nicht mehr generellen Prinzipien des Völkerrechts folgen (General Assembly 2006: 11). Wenn in einem Fall mehrere völkerrechtliche Verträge mit je eigenen internationalen Gerichten ihre Zuständigkeit beanspruchen, wie soll die Entscheidung über die Zulässigkeit fallen (vgl. General Assembly 2006: 12)? Diese Fragmentierung gefährdet die Einheit der Rechtsordnung und damit die Rechtssicherheit der Adressaten (General Assembly 2006: 12). Anhand eines internationalen Umweltrechtsfalls fragt die Arbeitsgruppe in ihrem Bericht: »what is the relationship between UNCLOS [United Nations Convention on the Law of the Sea], an environmental treaty, and a regional integration instrument?« (General Assembly 2006: 14 [Ergänzung durch H.d.V.]). Der entscheidende Punkt ist, dass es um das Verhältnis der drei Elemente zueinander geht. Die jeweils unterschiedlichen Anforderungen führen zu einem rechtlichen Konsistenzproblem (General Assembly 2006: 14). Es gibt keine Möglichkeit, die Erwartungen dieser drei Rechtsinstitute zu erfüllen, weil sie im Widerspruch zueinanderstehen. Konflikte zwischen unterschiedlichen Rechtsbereichen sind grundsätzlich nichts Neues, allerdings fehlt die Orientierung an einen Korpus genereller Prinzipien und eine ausgeprägte Gerichtsoder Normhierarchie, die einen Lösungsweg bietet (General Assembly 2006: 20). Die Arbeitsgruppe sucht daher nach Beziehungen unter den 181
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Rechtsbereichen, um einen gemeinsamen Zusammenhang herzustellen (General Assembly 2006: 20): »legal reasoning will either have to seek to harmonize the apparently conflicting standards through interpretation or, if that seems implausible, to establish definite relationships of priority between them« (Gene ral Assembly 2006: 25).
In beiden Varianten geht es darum, die rechtsinternen Verhältnisse zu bestimmen, damit konsistente Entscheidungen möglich sind. Die ILC wiederholt die Beobachtung, dass es im vertikalen Modus der Kooperation zu emergenter Strukturbildung kommt. Sie erweitert die Problemstellung einer fehlenden Legitimation dieses Rechts mit der zunehmenden Fragmentierung der internationalen öffentlichen Ordnung dahingehend, dass das Völkerrecht Widersprüche in sich trägt und hervorbringt, weil Anwendungsregeln und vereinheitliche Grundprinzipien fehlen (siehe hierzu die Reports der ILC 2012: General Principles of Law). Hier setzt Klabbers Perspektive zur Konstitutionalisierung des Völkerrechts in Zuge der gleichzeitigen Vertikalisierung an (Erstes Kapitel: I.) Für das Völkerstrafrecht scheint diese Frage geklärt zu sein, weil das Römische Statut die Verhältnisse zu anderen völkerrechtlichen und staatlichen Erwartungen in der Präambel klärt und im Haupttext ausführt (vgl. Drittes Kapitel: II. und III.). Allerdings können trotzdem Konflikte zwischen den völkerstrafrechtlichen und staatlichen Standards entstehen, die der IStGH entscheidet. Indem der Gerichtshof konfligierende Standards über seine rechtliche Interpretation auflöst, kehrt die Frage zurück, wie diese Ausübung öffentlicher Gewalt legitimiert ist. Die Diagnose rechtlicher Fragmentierung verknüpft Jürgen Bast mit dem demokratischen Legitimationsdefizit im Hinblick auf Entscheidungen (2009). Er stellt heraus, dass sowohl im internationalen wie nationalen Bereich eine Vielzahl von Rechtsbereichen und dazu spezialisierten Organisationen vorhanden ist. Allerdings fehlt dem Internationalen der »intersektorale Versammlungsort« (Bast 2009: 188). Das Parlament und andere demokratische Einrichtungen bilden den Anker für die vorgestellten Diagnosen. Der Bezugspunkt für demokratietheoretische Ansätze und die Fragmentierungsdiagnose des Völkerrechts ist der fehlende normative Zusammenhang bzw. Zusammenhalt auf der gesellschaftlichen Ebene, um die Verhältnisse zwischen dem völker- und nationalrechtlichen Spezialbereichen und ihrer organisationalen Umsetzung zu bestimmen (vgl. Bast 2009; von Bogdandy/Venzke 2012; 2010; General Assembly 2006; Glasius 2012; Habermas 2008; Raab/Bevers 2006). Die Klammer des demokratischen Rechtsstaats fehlt. Wenn der Staat nicht auf der Ebene der Weltgesellschaft zu haben ist, stellt sich zumindest die Frage, ob eine Konstitutionalisierung des Völkerrechts eine Lösung darstellt. Gunther Teubner erarbeitet auf der 182
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weltgesellschaftlichen Ebene eine Perspektive darauf, wie so eine Lösung aussehen könnte. Er geht dabei von der Fragmentierung der Weltgesellschaft in sogenannte »Verfassungsfragmente« (Teubner 2012) aus und sucht nach Wegen globaler Vernetzung (Teubner 2007; 2011; 2012; 2015). »Zwar war schon von Anfang der Globalisierung an das »vertikale« Verfassungsproblem, wie im Verhältnis zu den Nationalstaaten den neuen globalen Regimes Grenzen auferlegt werden müssen, politisch umkämpft. Aber das gravierendere »horizontale« Verfassungsproblem ist damit noch gar nicht in den Blick geraten: »ob nicht die Autonomie der Funktionssysteme zu wechselseitigen Belastungen führen können […]«‹ (Teubner 2012: 26; nach dem Doppelpunkt Luhmann 1997: 10873 nach Teubner 2012: 26).
Teubner nimmt ebenfalls die Unterscheidung horizontal/vertikal auf, ohne sie jedoch weiter auszuarbeiten. In seiner Perspektive greift Teubner die Vertikale auf, wie Staaten zu weltgesellschaftlichen Strukturen stehen. Allerdings geht es ihm mit der Horizontalen dann nicht um die Staaten, sondern er setzt an diese Stelle die voneinander differenzierten Funktionssysteme Recht, Politik, Wirtschaft usw. Die Konstitutionalisierung des Völkerrechts in Verfassungsfragmenten stiftet keinen normativen Zusammenhalt auf der Ebene der Weltgesellschaft (Teubner 2012: 227). »In der Weltgesellschaft ohne Spitze und ohne Zentrum bleibt nur ein Weg, mit den Verfassungskonflikten umzugehen – die strikt heterarchische Konfliktlösung« (Teubner 2012: 228). Mit Heterarchie beschreibt Teubner fehlende Unter- oder Überordnung in der Weltgesellschaft. Entweder werden Konflikte in Entscheidungsprozessen eingebunden und geklärt oder in separate Verhandlungen ausgelagert (Teubner 2012: 229). Im Wesentlichen folgt er damit dem Lösungsweg der ILC-Arbeitsgruppe, der er angehört hat. Letztlich folgert Teubner, dass die Rolle des Rechts darin bestehe, »das Verfahren der Kooperation zu strukturieren« (2012: 230). Dieser Gedanke rückt wie die demokratietheoretischen Ansätze das Verfahren in den Vordergrund. Gegen den Ansatz emergenter Konstitutionalisierung von Teubner wendet sich Ingeborg Maus (2015a: 124 ff.), weil dieser Ansatz ein demokratietheoretisches Problem beinhaltet. Emergent gebildete Verfassungen stehen im Gegensatz zu demokratisch ausgehandelten und gesetzten Verfassungen (Maus 2015a: 126). Die Schwierigkeit, demokratische Verfassungsprinzipien in der Weltgesellschaft zu verwirklichen, führt dazu, die »Eigenlogik des evolutionären Sachzwangs« (Maus 2015a: 134) anzuerkennen (Maus 2015a: 134). Daraus folgt, dass es nicht mehr um die demokratische Legitimation der Rechtssetzung 3 Diese Belegstelle fällt im Literaturverzeichnis unter die aktuellere Auflage Luhmann 2015a: 1087.
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geht, »sondern nur um »Identifikation« und »Interpretation« der vorhandenen Normen, und zwar wiederum durch die gleiche Institution, die sich also auf ihre selbstgesetzten Normen bezieht« (Maus 2015a: 163). Wenn internationale Gerichte öffentliche Macht ausüben, dann setzen sie Recht, ohne dass die Grundlage ihrer Rechtsinterpretation demokratisch legitimiert ist (Maus 2015a: 156). Das Recht tritt auch im Nationalstaat mit einer Verfassung gegenüber dem Volk als eigener Souverän auf, weil »die Verfassung selbst zu einem Katalog vorentschiedener richtiger Inhalte [avanciert], aus dem im Wege verfassungsrechtlicher Interpretation die verfassungskonformen einfachen Gesetze ohne Rest »abgeleitet« werden können« (Maus 2015b: 35 [Ergänzung durch H.d.V.]). Die Volkssouveränität steht dem selbstreferentiellen Recht diametral entgegen (Maus 2015b: 40). Eine emergent ausgebildete Rechtsordnung ist selbst souverän und schließt eine andere Souveränität aus, weil sie in sich selbst wurzelt und nicht auf dem Prinzip demokratischer Legitimation gegründet ist (Maus 2015b: 41). Indem die Gerichte nur Einzelfälle entscheiden, aber die Folgen dieser Entscheidungen darüber hinausweisen, befeuern sie die Selbstreferentialität des Rechts. Die Gerichte müssen kontinuierlich auf die Folgen ihres Entscheidens reagieren und treiben so die selbstreferentielle Bezugnahme auf das eigene Entscheiden voran (Maus 2015b: 37). Maus argumentiert, dass dies auf den ICTY zutrifft, weil der Sicherheitsrat der Bevölkerung des ehemaligen Jugoslawiens diese strafrechtlichen Prozesse aufgebürdet hat. Die Entscheidungen des Sicherheitsrats und der internationalen Strafgerichte, Ermittlungen in einem Land aufnehmen zulassen, untergraben die Souveränität des jeweiligen Landes. Maus sieht darin einen Verstoß gegen das Prinzip souveräner Gleichheit (Maus 2015a: 154 f.). Sie geht damit auf den Widerspruch zwischen der Horizontalen staatlicher Souveränität und der Vertikalen internationaler Strafverfolgung ein. Maus verschärft diesen noch, indem sie die staatliche Souveränität als Außenseite des Staates begreift, auf deren Innenseite die Volkssouveränität als Kern des demokratischen Rechtsstaats steht (Maus 2015a: 141). Maus weist der Volkssouveränität »das Monopol der Gesetzgebung« (2015a: 137) zu, sodass jede Verletzung des Prinzips souveräner Gleichheit demokratische Prinzipien unterwandert. In dieser Entwicklung sieht Maus für die Menschenrechte einen Ausschluss demokratischer Teilhabe gegenüber einer verselbstständigten globalen Rechtsordnung (vgl. Maus 2015a: 143 ff.). Die Gewaltenteilung fehlt, weil Exekutive und Judikative in der Weltgesellschaft nicht an eine in der Volkssouveränität wurzelnde Legislative gebunden sind (Maus 2015a: 148). Diese »selbstreferentielle Verselbstständigung politischer Entscheidungsprozesse« (Maus 1991: 138) lässt die demokratische Willensbil184
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dung in den Hintergrund treten. Die »faktische gesellschaftliche Parzellierung« (Maus 1991: 145) trifft sowohl den Nationalstaat als auch die Weltgesellschaft (Maus 2015a: 168). Maus identifiziert drei Problembereiche: 1. Die wachsende Vernetzung verwischt eindeutige Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten in politischen Entscheidungsprozessen. 2. Die zunehmende Regionalisierung und Pluralisierung der Gesellschaft ringt der Volkssouveränität ihre einheitliche Bedeutung ab. 3. Ein kollektives Entscheidungssubjekt »Volkssouveränität« ist im Ergebnis kaum vorstellbar (Maus 1991: 137). Ein »einheitliches kollektives Entscheidungssubjekt« (Maus 2015b: 203) ist unter den Bedingungen »einer modernen pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft« nicht gegeben (Maus 2015b: 203). Um dem Begriff der Volkssouveränität wieder Bedeutung zu geben, rückt Maus die Rechtssetzung in den Vordergrund (Maus 1991: 147). Das Parlament soll die »Möglichkeiten einer gesellschaftsadäquaten Institutionalisierung der Rechtssetzung« (Maus 1991: 148) erweitern. Indem die Rechtsetzung »zwischen prozeduralen Entscheidungsprämissen und inhaltlichen Entscheidungen« (Maus 1991: 149) unterscheidet, legt das Parlament die Entscheidungsprämissen fest, während die Teilnehmer an dezentralen Verfahren die inhaltliche Entscheidung erarbeiten können (Maus 2015a: 169; 2015b: 225). Das Gebot der politischen Allgemeinheit, welches von Bogdandy und Venzke eingefordert haben, hält Maus in Anbetracht der gesellschaftlichen Fragmentierung für nicht mehr möglich. Sie ersetzt dieses Gebot durch demokratische Legitimation prozeduraler Normen (Maus 1991: 149). Im Hinblick auf die Komplementarität nationaler und internationaler Strafverfolgung diskutiert Maus das institutionelle Muster staatlicher Souveränität in demokratietheoretischer Hinsicht näher. Die staatliche Souveränität steht im Rahmen dieser Arbeit als Gegenpart zur internationalen Strafverfolgung im Fokus. Gleichzeitig hatte die historische Rekonstruktion gezeigt, dass die Staaten die Massenverbrechen organisiert haben. Diese Perspektive ergänzt Maus, indem sie die staatlichen Souveränität nach außen von der demokratisch legitimierten Volkssouveränität nach innen trennt. Während das institutionelle Muster staatlicher Souveränität in dieser Konzeption auf demokratische Legitimation zurückgreifen kann, fehlt der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH eine äquivalente Legitimation. Der Dualismus der beiden institutionellen Muster tritt ins Maus Konzeption deutlich hervor. Dennoch beschreibt sie die gesellschaftliche Fragmentierung nicht allein als Pro blem der Weltgesellschaft unter den Bedingungen souveräner Gleichheit, sondern auch als nationalstaatliches Problem. Für Maus liegt das Problem in der emergenten und selbstreferentiellen Strukturbildung. Obwohl die demokratischen Institutionen nach Maus im Nationalstaat unter Druck geraten, bleibt der demokratisch verfasste 185
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Rechtsstaat die Leerstelle der Weltgesellschaft. Die internationale Strafverfolgung beruht darauf, dass sich die Staaten und Individuen an die globale Rechtsordnung orientieren. Der IStGH legt den ihn begründenden Vertrag selbst aus und hat aufgrund seiner generellen Unabhängigkeit keine Kontrollinstanz, wie Dominic Raab und Hans Bevers (2006) gezeigt haben. Der IStGH lebt vom Widerspruch zwischen der von ihm verkörperten Vertikalen und der Horizontalen. Diese zwei Legitimationswege der staatlichen Souveränität und der internationalen Strafverfolgung verschärfen den Widerspruch im vertikalen Modus der Kooperation. Die Komplementarität und implizite Überordnung der Vertikalen gegenüber der Horizontalen beruht nicht auf einer demokratischen Legitimation und scheint nach Maus sogar dagegen zu verstoßen. In den vorgestellten Ansätzen sieht Jan Klabbers keine Lösung für das Fragmentierungsproblem und die fehlende demokratische Legitimation. Allerdings fasst er das Ansinnen hinter diesen Forschungsansätzen pointiert zusammen: »In a world where specialist action, on the basis of specialist knowledge, carries the day, constitutionalism carries the promise that there is some system in all the madness, some way in which the whole system hangs together and is not merely the aggregate of isolated and often contradictory movements« (Klabbers 2004: 49).
Die Konstitutionalisierung des Völkerrechts und ihre demokratische Legitimation sind sinnstiftende Bestrebungen. Sie würden den Menschen die Möglichkeit bieten, auf eine gänzlich andere Weise an der Weltgesellschaft teilzunehmen (vgl. Klabbers 2004: 33). Allerdings scheitert ihre Umsetzung daran, dass die globale vernetzte Welt einen kaum fassbaren Möglichkeitshorizont hervorbringt, in dem demokratische Legitimation nur ein möglicher Verhandlungsgegenstand ist (Klabbers 2004: 54). Daher folgert Klabbers: »Fighting fragmentation by constitutionalism will, likewise, only result in deeper fragmentation, as the various competing regimes and organizations will be locked firmly in constitutional place – and in battle with each other« (2004: 53). Das Problem, die Verhältnisse der gesellschaftsinternen Systeme zueinander zu bestimmen, führt mit der Lösung demokratischer Legitimation und Konstitutionalisierung nach Klabbers in einen Zirkelschluss. Im Hinblick auf den IStGH wirft dies die Frage auf, ob die demokratische Legitimation oder eine übergreifende Konstitutionalisierung die Spannungen im komplementären Verhältnis des Gerichtshofs zu den Staaten lösen kann. Wenn die Mehrzahl der von den Ermittlungen des Gerichtshofs betroffenen Staaten keine Demokratien sind, liegt dann das Problem darin, die Legitimationserwartungen vom demokratischen Rechtsstaat aus zu formulieren? Führt der demokratietheoretische Ansatz normative Erwartungen mit sich, die zwar wünschenswert, aber in 186
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der Weltgesellschaft optional sind? Das Völkerstrafrecht ist ein mögliches Indiz dafür, dass sich ein normativer Zusammenhalt der Weltgesellschaft ausprägen kann (Klabbers 2004: 35). Es repräsentiert eine universelle Rechtsordnung, die menschlichem Verhalten Grenzen setzt und Überschreitungen dieser Grenzen mit Strafe bewehrt. Gleichzeitig treffen die Einwände von Bogdandy, Venzke und Maus zu, dass der internationale Strafgerichtshof nicht im Namen eines demokratisch legitimierten Souveräns urteilt. Das Legitimationsdefizit der internationalen Strafgerichtsbarkeit scheint daher nur durch eine andere Weltordnung lösbar zu sein. Diese müsste durch demokratische Verfahren legitimiert und zur Vermeidung von Inkonsistenzen konstitutionalisiert sein. Diese Beobachtung beruht darauf, die emergente Strukturbildung als Problem anzusehen und den Widerspruch horizontaler und vertikaler Kooperation auflösen zu wollen. Wenn die internationale Strafverfolgung durch den IStGH vor diesem Horizont entstanden ist, stellt sich die Frage, wie diese Problemstellung auf der Verfahrenseben behandelt wird und wann sich trotz des Legitimationsproblems Staaten und andere an den Verfahren des Gerichtshofs beteiligen.
III. Legitimationsbeschaffung durch Organisation und Verfahren in der Weltgesellschaft Das Römische Statut und der IStGH sind nicht das Resultat eines demokratischen Willensbildungsprozesses. Außerdem erfüllt nur ein Teil der Vertragsstaaten des Römischen Statuts die Charakteristika des demokratischen Rechtsstaats. Im Ergebnis können der IStGH und ein Teil der Vertragsstaaten keine demokratisch legitimierte Strafverfolgung gewährleisten. Bemerkenswert ist jedoch, dass sowohl demokratische als auch nicht-demokratische Staaten Vertragsstaaten des Römischen Statut sind oder die Gerichtsbarkeit des IStGH anerkannt haben (bpb 2017). Wenn der Legitimitätsglaube nach Weber aufgrund der Spannungen mit dem Gerichtshof fehlt (I.) und die demokratische Legitimation nicht erreichbar ist (II.), dann stellt sich die Frage, ob die Legitimation der internationalen Strafverfolgung auf andere Weise durch Organisation und Verfahren beschafft wird. Legitimation könnte durch Organisation und Verfahren entstehen, indem sie die Struktur internationaler Strafverfolgung institutionalisieren. Einerseits muss die Legitimation dann getrennt nach den Ebenen Organisation und Verfahren analysiert werden und andererseits kommen durch die Institutionalisierung die gleichen Anforderungen auf beiden Ebenen zum Tragen. Mit der durchgeführten Analyse der Präambel 187
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kann für die Ebene der Organisation bereits auf empirische Ergebnisse zurückgegriffen werden, um die Legitimationsbeschaffung zu diskutieren. Dies bietet den Ausgangspunkt, um die Legitimation durch Verfahren zu besprechen, bevor im nächsten Kapitel die empirische Analyse der Verfahren des IStGH folgt. Der Zusammenhang zwischen den Ebenen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Dieser ist bereits theoretisch über die Makrodetermination als Teilprozess der Institutionalisierung erfasst. Der andere Teilprozess der Institutionalisierung ist die emergente Strukturbildung. Wie die Legitimation internationaler Strafverfolgung beschafft wird, wird auf den beiden Ebenen und nach beiden Teilprozessen ausgearbeitet. Auf der Ebene der Organisation hat die Analyse der Präambel des Römischen Statuts gezeigt, dass die Vertragsstaaten ihre Rolle als Begründer verdecken, um den Vertrag nicht mehr begründen zu müssen. In der Präambel rufen die Vertragsstaaten aus der Umwelt Erwartungen und Werte ab und setzen diese für das Römische Statut voraus. Diese Umweltinstitutionen sind insofern legitim, als dass sich die Vertragsstaaten und das Römische Statut daran binden. Die Umweltinstitutionen entfalten eine makrodeterminative Wirkung. Dies verdeckt das Begründungsund Legitimationsproblem des Römischen Statuts unter den Staaten auf der Horizontalen. Meyer und Rowan haben diesen empirischen Befund allgemein für Organisationen festgehalten: »The incorporation of institutionalized elements provides an account […] of its activities that protects the organization form having its conduct questioned. The organization becomes, in a word, legitimate, and it uses its legitimacy to strengthen its support and secure its survival« (Meyer und Rowan 1977: 349).
Die in der Präambel aufgerufenen Normen und Werte treten als Dritte auf, sodass der faktische Konsens als Begründung des Römischen Statuts entfällt. Das Völkerstrafrecht entsteht in der Vernetzung zu bereits bestehenden Normen und Werten und begründet trotzdem einen eigenen Bereich des Völkerrechts. Allerdings fehlt die demokratische Absicherung dieses Prozesses. Ein allein auf die Makrodetermination angelegter Legitimationsbegriff begnügt sich mit der Umweltorientierung, darunter können auch demokratische Werte fallen. Dies übersieht, dass im Prozess emergenter Strukturbildung gleichzeitig ein eigener Bereich entsteht, der zwar an der Umwelt orientiert ist, aber neue, vorher nicht vorhandene Erwartungen hervorbringt, an die sich die Vertragsstaaten und die Verfahrensbeteiligten binden. Indem die Präambel das Römische Statut in bereits vorhandene Erwartungen eingehegt ist, verdeckt sie das Begründungs- und Legitimationsproblem. Obwohl neue Verpflichtungen entstehen, stellt die Präambel die Erwartungen als bereits vorhandene Bindungen dar. Auf diese Weise entgeht das Römische 188
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Statut dem Problem, einen Anfangswert wie Demokratie zu benennen, der in der Weltgesellschaft unterschiedlich aufgefasst und dementsprechend kritisiert wird. Allerdings steht der Gerichtshof trotzdem in der Kritik. Sie folgt aus dem Vorgehen des Gerichtshofs nach dem Komplementaritätsprinzip. Auf der Ebene der Organisation ist die Komplementarität internationaler und nationaler Strafverfolgung institutionalisiert und legitimiert. Der Gerichtshof entscheidet nicht generell zwischen diesen Alternativen der Strafverfolgung. Erst in einer konkreten Situation kommt es zu einer Entscheidung des Gerichtshofs, die inhaltlich nicht darüber hinausreicht, aber die Struktur internationaler Strafverfolgung wiederholt. Wenn weder die Weltgesellschaft noch die Organisation IStGH die Problemstellung der Komplementarität generell entscheiden können, kann der Gerichtshof nur für eine konkrete Situation die Legitimation durch Verfahren erarbeiten. Die Situation ist dabei ein Rechtsbegriff des Römischen Statuts. Im Gegensatz zu innerstaatlichen Gerichtsverfahren ermittelt der Gerichtshof in Situationen, in denen der Staat die gravierendsten Verbrechen der Welt nicht verhindert oder sie selbst verursacht hat. Daher ist der Weg in einer »Gesellschaft gewissermaßen im Normalzustand« (Machura 2020: 338) zur Polizei aussichtslos. Die Besonderheit des IStGH besteht darin, dass er dort Ermittlungen aufnimmt, wo »der Staat […] nicht willens oder nicht in der Lage« (Art. 17 Abs. 1 (a) RS) ist, diese selbst durchzuführen. Auf dieser Annahme ist das Komplementaritätsprinzip begründet (siehe Drittes Kapitel: I.). Der Gerichtshof verwendet dafür »Situation« als Begriff und bezeichnet damit die »Gesamtheit aller rechtlichen und tatsächlichen Geschehnisse in einem Land, die […] den Verdacht begründen, dass Verbrechen i.S.d. IStGH-Statuts begangen wurden« (Satzger 2016: 331). Die Situation ist demnach zwischen dem Gerichtshof, dem Römischen Statut, den Verfahrensregeln, den Staaten der Gegenstand bzw. Anlass eines Verfahrens. Rena Schwarting untersucht, wie Verfahren in Organisation und Gesellschaft eingebettet sind (2017: 383). Sie untersucht dies als »Veranstaltungsproblem von Verfahren« (2017). Schwarting argumentiert, dass kollektiv bindende Strukturentscheidungen einem Verfahren vorausgehen (Schwarting 2017: 388). Organisationen bieten für die Verfahrensbeteiligten eine sichtbare Adresse und Stabilität, auf die sich Verfahren beziehen können (Schwarting 2017: 319). Auf diese Weise stellen Organisationen die Voraussetzungen für Verfahren bereit, damit in diesen Entscheidungen erarbeitet werden können (vgl. Schwarting 2017: 390). Schwarting hält fest, »dass die Legitimation von Verfahrensentscheidungen eine Legitimation der Verfahrensstrukturen voraussetzt, die durch Organisationsentscheidungen fallförmig in Gang gesetzt wird« (2017: 383). Diese Argumentation grenzt Schwarting jedoch ein, indem 189
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sie den Staat dafür aufruft, Entscheidungen im Zweifelsfall durchzusetzen (2017: 389). Der IStGH ist in eine internationale öffentliche Ordnung eingebettet, die eine solche Kopplung an einen Staat nicht zur Verfügung stellt. Die Argumentation Schwartings führt mit ihrer Eingrenzung auf das Legitimationsdefizit zurück. Trotzdem ist festzuhalten, dass der IStGH seine Verfahren selbst veranstaltet. Für jede Situation leitet der Gerichtshof ein Verfahren ein, um gemäß Art. 15 II RS Informationen einzuholen und dahingehend zu prüfen, ob entsprechend den Beweis- und Verfahrensregeln des IStGH (BVR) 47, 48 und 104 die Kriterien von Art. 53 I RS erfüllt sind: a) ein Anfangsverdacht für Verbrechen innerhalb der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs besteht, b) weitergehende Ermittlungen entsprechend Art. 17 RS zulässig sind und c) diese Ermittlungen im Interesse der Gerechtigkeit liegen. Diese Anforderungen muss der Antrag des Anklägers des IStGH als erfüllt darstellen, um nach Art. 15 III RS eine hinreichende Grundlage für Ermittlungen zu begründen. Die Vorverfahrenskammer kann diesen Antrag nach Art. 15 III RS sowie 50 BVR genehmigen. Hierfür genügt es, wenn die Mehrheit der Richter zustimmt (Art. 57 II a) RS). Diese prozeduralen Regeln zeigen, dass der Gerichtshof die Verfahrensstruktur normiert hat und für jede Situation einzeln in Gang setzt. Nach Schwarting gewährleistet dieser Zusammenhang, dass die Genehmigung der Vorverfahrenskammer legitim ist, weil sie sich auf die Legitimation des Gerichtshofs und darüber hinaus der Struktur internationaler Strafverfolgung bezieht. Die legitime Entscheidung der Vorverfahrenskammer beruht auf eine makrodeterminative Verschachtelung des Verfahrens, des IStGH und der Weltgesellschaft. Um ein Verfahren einleiten zu können, muss die Komplementaritätsfrage für die jeweilige Situation entschieden werden. Daher ist die Zulässigkeit nach Art. 17 RS Bestandteil des Genehmigungsantrags und der Entscheidung. Allerdings hat der Gerichtshof nicht selbst entschieden, dass das Komplementaritätsprinzip Teil der Verfahrensstruktur ist. Die Vertragsstaaten haben dies im Römischen Statut für den Gerichtshof festgelegt. Die Vertragsstaaten vereinbaren das Statut, welches den Gerichtshof determiniert und schließlich veranstaltet der IStGH dem folgend seine Verfahren. Diese Verkettung stellt das Resultat fortwährender Institutionalisierung in Form der Makrodetermination und der emergenten Strukturbildung dar. In der historischen Rekonstruktion hat sich gezeigt, dass internationale Strafverfolgung und staatliche Souveränität im vertikalen Modus der Kooperation miteinander verbunden sind und die Entstehung des Völkerstrafrechts und der internationalen Strafverfolgung von Beginn an bedingen. Die Verfahrensentscheidung ist daher nicht nur legitim, weil die Verfahrensstrukturen es aufgrund der Organisationsentscheidung sind, sondern weil die Entscheidungsprämissen jeweils die weltgesellschaftliche Struktur adäquat abbilden. Indem sich 190
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der Gerichtshof und die von ihm veranstalteten Verfahren an die Umwelt anpassen, bzw. die institutionellen Muster aus der Umwelt in sie diffundieren, erlangen sie Legitimation. Dieser Legitimationsbegriff erfasst die weltgesellschaftliche Struktur der System-Umwelt-Verhältnisse. Um ein Verfahren einzuleiten, genügt es jedoch nicht, nur die formalrechtlichen Kriterien des Art. 53 I (a)-(c) RS zu erfüllen. Auch die Situation muss adä quat erfasst sein, bzw. der Ereignisverlauf in einem Staat muss zu einer abgegrenzten Situation als Verfahrensgegenstand werden. Im Verfahren müssen Tat, Täter und Opfer in einen Zusammenhang gesetzt und auf ihre jeweilige Rolle festgelegt werden (vgl. Liebler/Zifonun 2017: 137 f.). Die Verfahren des Gerichtshofs stellen ein intermediäres System dar, das die Ereignisse und die Beteiligten in einen Zusammenhang unter der Struktur internationaler Strafverfolgung bringt. Dieter Rucht hat den Begriff »Intermediäres System« in seinen Arbeiten über politische Interessenvermittlung geprägt (1991): »Intermediäre Systeme verbinden (mindestens) zwei externe Systeme, zwischen denen Kommunikationsschranken existieren oder die sogar in einem spannungsreichen bzw. widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen« (Rucht 1991: 5).
Das Verfahren als ein System verbindet den IStGH, die Weltgesellschaft, die Weltöffentlichkeit, Staaten, mutmaßliche Täter, Opfer, Zeugen, andere nationale wie internationale Organisationen und Individuen und einen mit den Taten verbundenen Ereignisverlauf miteinander. Das Verhältnis des Gerichtshofs zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, der Afrikanischen Union sowie den USA (Viertes Kapitel: I.) haben ebenso wie demokratietheoretische Kritik am Gerichtshof (Viertes Kapitel: II.) einen Einblick in mögliche Spannungen gegeben. Als intermediäres System schafft das Verfahren einen Austausch unter den anderen Systemen (Rucht 1991: 5).4 4 Obwohl Rucht der angelegten differenzierungstheoretischen Perspektive nicht folgt, bietet sich sein Begriff des Intermediären Systems an, um diese Eigenschaft des Verfahrens begrifflich zu erfassen. Mit Luhmann ließe sich der Begriff der strukturellen Kopplung anwenden. Allerdings müsste in systemtheoretischer Hinsicht diskutiert werden, inwiefern das Verfahren als Soziales System andere Soziale Systeme strukturell koppeln kann oder ob einzelne strukturelle Kopplungen des Verfahrens mit anderen Sozialen Systemen eine systemtheoretisch adäquatere Beschreibung wäre. Um diese theorieinterne Frage auszuklammern und eine Diskussion darüber zu vermeiden, inwiefern sich das Konzept struktureller Kopplungen mit dem gewählten Institutionalisierungsansatz vereinbaren lässt, bietet sich Ruchts Begriff an, um zu zeigen, welche Leistung für die Verfahren des IStGH im Vordergrund steht. Ob diese Leistung so bei staatlichen Verfahren anzunehmen ist, bleibt darüber hinaus offen.
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Im Hinblick auf Gerichtsverfahren gehen Patrick Donges und Otfried Jarren davon aus, dass intermediäre Systeme für verschiedene Systeme offen und zugänglich sind. Innerhalb des intermediären Systems können die Teilnehmer eine gemeinsame Sprache finden, um miteinander zu kommunizieren (Donges/Jarren 2017: 101 f.). Drei Faktoren prägen die Struktur eines solchen Systems: 1. normative Erwartungen an die Teilnehmer, 2. ihre Historie sowie über die Zeit eingeübten Verhaltensweisen und 3. die Situation, in dessen Kontext sich die Teilnehmer bewegen (Donges/Jarren 2017: 103 ff.). Im Ergebnis findet das Verfahren nicht innerhalb des Gerichtshofs statt, sondern in der Weltgesellschaft, sodass verschiedenste Systeme daran teilnehmen können. Der Gerichtshof veranstaltet das Verfahren, indem er es mit seinen Entscheidungen in Gang setzt und beendet. Darüber hinaus dient das Verfahren als intermediäres System dazu, den Widerspruch in der Struktur der Strafverfolgung im vertikalen Modus in einer konkreten Situation aufzulösen. Im Verfahren als intermediären System bilden die Struktur internationaler Strafverfolgung den Hintergrund, vor dem der Gerichtshof seine Entscheidung fällt. Diese Entscheidung ist durch die verschiedenen Teilnehmer über die direkten Betroffenen einer konkreten Situation hinaus global vernetzt und damit an die weltgesellschaftliche Umwelt angepasst. Die Legitimation des Verfahrens und seiner Entscheidung liegt darin, die allgemeine Struktur der Weltgesellschaft, die konkrete Situation und die verschiedenen Organisationen und Individuen adäquat abzubilden. Thomas Scheffer et al. (2008) unterscheidet in diesem Zusammenhang die fallübergreifende und die fallbezogene Ordnung. Mit der Unterscheidung fallübergreifender und fallbezogener Ordnung weist Thomas Scheffer daraufhin, dass sich das Verfahren nicht auf das Rechtsverfahren vor Gericht beschränken lässt. Es ist auf viele andere Teilnehmer wie Täter, Zeugen und Opfer angewiesen, allerdings braucht es auch über den Gerichtshof Organisationen, die Beweise und Informationen zur Verfügung stellen oder wie der Sicherheitsrat Entscheidungen im Politischen fällen. Diese fallübergreifende Ordnung besteht unabhängig vom konkreten Verfahren, aber ist notwendig, um dieses Verfahren zu veranstalten. Die fallübergreifende Ordnung wird über die Makrodetermination des Verfahrens erfasst. Demgegenüber steht die fallbezogene Ordnung, die sich mit dem Begriff der Situation auf die konkreten Inhalte bezieht. Die Situation beschreibt diese fallbezogene Ordnung, die durch konkrete Ereignisse, Zeitverläufe und Teilnehmer geprägt ist und gleichzeitig durch die fallübergreifende Ordnung als im Verfahren behandelbarer Gegenstand makrodeterminiert ist. Der Prozess emergenter Strukturbildung lässt sich mit den Verfahrensansätzen Harold Hongju Kohs und Niklas Luhmanns näher beschreiben. Während Luhmann staatliche Verfahren in den Vordergrund rückt, 192
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unterscheidet Koh nicht zwischen staatlichen und internationalen Verfahren. Beide arbeiten die Frage der Legitimation im Hinblick auf die Verbindlichkeit des Rechts (Koh) bzw. der im Verfahren erarbeiteten Entscheidung (Luhmann) ab. Um den Begriff der Rechtsverbindlichkeit kurz einzuordnen: Den Begriff verwenden Rechtswissenschaftler und Juristen synonym zu Geltung (von Arnauld 2016: 2 ff.). Max Weber bezeichnet Rechtsverbindlichkeit im soziologischen Verständnis als »Orientierung des Handelns« (Weber 1972: 186). Allerdings entfernt er sich mit seinen Überlegungen auch nicht weit vom Geltungsbegriff, weil es Weber darauf ankommt, dass Normen tatsächlich durchgesetzt werden. Hierfür setzt er auf den Staat als Garanten. Theodor Geiger fasst »die Verbindlichkeit der Norm als einen Tatsachenzusammenhang« (1987: 168 f.) auf und trennt sie vom ideellen Sollen des Geltungsbegriffs, der »leeres metaphysisches Phrasenwerk und wissenschaftlich ebenso indiskutabel wie interesselos [ist]« (Geiger 1987: 168 [Ergänzung durch H.d.V]). Prägend für die Verbindlichkeit ist, dass »die soziale Interdependenz« unter den Mitgliedern einer Gesellschaft (Geiger 1987: 174) das Verhalten der Normadressaten beeinflusst. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts sieht Geiger nur aufgrund der Machtverhältnisse der Staaten untereinander als gegeben an und hält am staatlichen Gewaltmonopol als Vergleichsfolie für das Völkerrecht fest (Geiger 1987: 183 f.): »Auch hier also, wenn man will: Rechtsnormen, die eine Verbindlichkeit nicht typisch rechtlicher Art haben. Soweit die Interdependenz der Staaten im Weltkonzert eine Tatsache ist, so weit reicht auch die Verbindlichkeit der Normen des Völkerrechts. Alles in allem erinnert der völkerrechtliche Zustand von heute nicht wenig an das embryonale Stadium staatlicher Rechtsordnungen« (Geiger 1987: 185).
Die Vertreter dieser Verbindlichkeitskonzepte stellen das Verhältnis zwischen dem Staat und dem Individuum in den Vordergrund. Der Staat begründet mit seinem Gewaltmonopol die Durchsetzungsfähigkeit des Rechts gegenüber dem Individuum und das Individuum kann sich dem Staat gegenüber auf seine Rechte berufen. Lea Brilmayer hatte dieses Verhältnis als horizontal bezeichnet und daher von der Vertikalen unterschieden (Erstes Kapitel: I.). Die Autoren folgen dem Dualismus in gleicher Weise wie die Vertreter des Legitimationsdefizits, weil sie allein den Staat und seine inneren Verhältnisse im Blick haben. Dies ist auch den historischen Umständen geschuldet, nach denen Weber sein Werk um die Wende zum 20. Jahrhundert abfasste und Geigers Werk kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand. Gleichzeitig zeigen diese Perspektiven auf, dass sich die Verbindlichkeit der globalen Vernetzung denken lässt. Luhmann und Koh zeigen in ihrer jeweiligen Perspektive, 193
DIE LEGITIMATION INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
wie sich die Beteiligten an einem Verfahren daran binden und dadurch Legitimation erarbeiten. Harold Hongju Koh nähert sich dem Themenfeld, indem er fragt: »Why do nations obey international law?« (Koh 1997: 2599; 1996: 184). Er verfolgt wie Luhmann einen Verfahrensansatz, dabei zieht er im Gegensatz zu Luhmanns Ansatz keinen Unterschied zwischen den innerstaatlichen und völkerrechtlichen Verfahren. Aus diesem Grund wendet er sich auch gegen Brilmayers Unterscheidung reiner horizontaler und vertikaler Fälle, in der sie die Teilnehmerstruktur an Verfahren bei horizontalen Fällen auf Staat und Individuum begrenzt. In der horizontalen Erzählung sind Staaten die Vollstrecker des Völkerrechts und es fehlt auf dieser Staat-zu-Staat-Ebene die Möglichkeit, Recht durchzusetzen (Koh 1999: 1408). In seinem als Transnational Legal Process (TLP) bezeichneten Ansatz wendet sich Koh explizit gegen dualistische oder andere Unterscheidungen (Koh 1997: 2627) und nennt dies den vertikalen Ansatz (Koh 1999: 1409). »Transnational process theories extend beyond the horizontal focus of traditional process theories to study the vertical process of interaction and interpretation whereby international norms become domesticated and internalized into domestic law« (Koh 1998: 635).
Deshalb beschränkt er die Teilnehmerstruktur am Verfahren nicht. Koh nennt als Träger des TLP transnationale Normunternehmer, Regierungsunterstützer, transnationale Themennetzwerke, Interpretationsgemeinschaft, bürokratische Implementierungsverfahren und Themenverflechtungen (Koh 1998: 647). Transnationale Normunternehmer mobilisieren die öffentliche Meinung und organisieren politische Unterstützung (Koh 1998: 647). Die Regierungsunterstützer sind ihr nationalstaatliches Gegenstück (Koh 1998: 648). Transnationale Themennetzwerke sind unter anderem epistemische Gemeinschaften. Sie setzen Themen, erarbeiten politische Lösungen und bewegen sich auf verschiedenen Ebenen sowie zwischen Regierungen oder NGOs (Koh 1998: 649). Interpretationsgemeinschaften bieten konkrete Interpretationen für einen Fall an und tragen diese in Interaktionen hinein (Koh 1998: 649 f.). Bürokratische Implementierungsverfahren setzen die Norminterpretationen um und in den rechtlichen sowie politischen Strukturen fest (Koh 1998: 651 ff.). Themenverflechtungen ergeben sich aus der Norminternalisierung in einem Feld, die auch Folgen für andere Bereiche hat. Als die USA sich auf die zwölf Meilen Grenze vom Festland für das Seeterritorium eingelassen haben, hatte dies direkte Folgen für den Umgang mit Flüchtlingen (Koh 1998: 653 ff.). Darüber hinaus hält Koh die Teilnehmer am TLP allgemein: »sovereign and nonsovereign actors include our allies; states, municipa lities, and localities of the United States; government bureaucracies; the 194
LEGITIMATIONSBESCHAFFUNG DURCH ORGANISATION UND VERFAHREN
media; courts; nongovernmental organizations (NGOs); intergovernmental organizations (IGOs); and committed individuals« (Koh 2017: 415).
Diese Liste möglicher Verfahrensteilnehmer umfasst auch den Kreis möglicher Teilnehmer an Verfahren des IStGH. Kohs Ansatz ist entgegen Luhmanns gesellschaftstheoretischem Interesse mehr an der Rechtspraxis orientiert. Daher beschreibt Koh den Transnational Legal Process anhand konkreter Fälle. Er beschreibt, wie das Völkerrecht im Transnational Legal Process das Verhalten der Trump-Administration in den USA im Falle der verhängten Einreisebeschränkungen vor allem gegen Muslime, beim Austritt aus dem Pariser Abkommen oder gegen Al-Quaida, dem Islamischen Staat und in Syrien beschränkt (Koh 2017). Auch hat Koh analysiert, wie in einem TLP die Reagan-Administration ihre Strategic Defensive Initiative mit dem Populärnamen »Star Wars« aufgrund des Anti-Ballistic Missile Treaty (ABM-Vertrag)5 aufgegeben hat (Koh 1997: 2646 ff.). Die Kernidee des Transnational Legal Process beschreibt Koh aufgrund der Analyse der Rechtsfälle folgendermaßen: »these many actors make and remake transnational law – the hybrid law that combines domestic and international, public and private law – by generating interactions that lead to interpretations of international law that become internalized into, and thereby binding under, domestic […] law. These internalized rules create default patterns of international law-observant behavior for all participants in the process. Those default patterns become routinized, ›sticky‹, and thus difficult to deviate from without sustained effort« (Koh 2017: 415).
Für Koh ist der TLP nicht nur ein Rechtsverfahren. Er erfasst mit diesem Begriff einen Ereignisverlauf. Indem die Verfahrensparteien immer wieder miteinander interagieren und dabei die Norminterpretation wiederholen, übernehmen sie diese, bzw. internalisieren die Teilnehmer die Norminterpretation (Koh 1997: 2653). Staaten orientieren sich am Völkerrecht, weil sie ihre Reputation gegenüber anderen Staaten, der innerstaatlichen Opposition oder anderen zivilgesellschaftlichen wie globalen Organisationen und Akteuren behaupten. Die wechselseitige Beobachtung der verschiedenen Organisationen und Akteure setzt in Interaktionen die Norminterpretationen fest (Koh 1996: 204). Dies trifft auch auf gegenüber dem Völkerrecht deviant auftretende Staaten zu, weil sie sich am Völkerrecht orientieren müssen, um an der globalen Wirtschaft oder anderen Prozessen teilnehmen zu können. Gleichzeitig bietet erst diese hohe Verbindlichkeit des Völkerrechts und die aus dem TLP resultierende Bereitschaft der verschiedenen Akteure, dieses zu akzeptieren, 5 Die ehemalige Sowjetunion schloss den ABM-Vertrag mit den USA. Der Vertrag diente beiden Vertragsparteien dazu, ihre Raketenabwehrsysteme zu begrenzen. Die USA traten am 13. Juni 2002 einseitig vom Vertrag zurück.
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DIE LEGITIMATION INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
den devianten Staaten die Möglichkeit, sich als solche darzustellen (Koh 1998: 677). Von völkerrechtlichen Normen abzuweichen, wiederholt im TLP die Frage, wie die Normen zu interpretieren sind und setzt den Prozess fort (vgl. Koh 2005: 980; 1996: 205). Koh verlangt daher den Blick auf, den »social impact of procedural rules« (Koh 1996: 206) zu legen. Koh stellt die Internalisierung der Norm als entscheidenden Schritt des TLP heraus. Er nennt sie auch vertikale Internalisierung (Koh 1999: 1401; 1998: 627). Die Internalisierung unterscheidet er in vier Grade, die die Übereinstimmung des Verhaltens mit dem Recht beschreibt: zufällige Rechtsbefolgung, Konformität, compliance und obedience (Koh 1999: 1400; 1998: 627). Auf der Stufe der Konformität sind die Regeln bekannt, allerdings werden sie nur bei Bedarf befolgt. Compliance kennzeichnet sich durch Bewusstsein und Akzeptanz der Regeln aus. Schließlich bedeutet obedience, dass das Verhalten an die Regeln angepasst ist, weil sie in das interne Wertesystem übernommen wurden (Koh 1999: 1400; 1998: 627 f.). Der Grad der Norminternalisierung wächst von der zufälligen Rechtsbefolgung über Konformität und compliance bis hin zur obedience. Dieser letzte Grad der Norminternalisierung kann auf drei Wegen erreicht werden: • • •
sozial, indem die Bevölkerung den Normen zustimmt und sie damit öffentliche legitimiert politisch, indem die Eliten die Normen akzeptieren und in die Regierungspolitik implementieren rechtlich, indem die Normen per Gesetz oder richterliches Urteil in die Rechtsordnung eingebaut werden (Koh 1999: 1413 f.; 1998: 642).
Allerdings beschreibt Koh nicht, warum und wie die unterschiedlichen Teilnehmer an einem TLP Normen internalisieren (Stevens 2012). Der TLP beschreibt trotzdem, wie einzelne Ereignisse global vernetzt sind, bzw. sich entsprechend vernetzen. Dies trifft auch auf die Verfahren des Gerichtshofs zu. Sie werden global beobachtet. Die Situation als Verfahrensgegenstand ist eine globale Beobachtungskategorie, die andere Organisationen benutzen können. Im vertikalen Modus der Kooperation ist die Teilnehmerliste an einem Verfahren des Gerichtshofs nicht begrenzt. Allerdings bleibt mit der Norminternalisierung eine Leerstelle im Hinblick auf die emergente Strukturbildung. Koh näher sich zwar einerseits der Makrodetermination, aber erläutert nicht, inwiefern die Norminternalisierung ein davon getrennter Prozess wie die emergente Strukturbildung ist. Damit fehlt der Zugang zur Eigendynamik des Verfahrens, insofern zwar die Teilnehmer und die Umweltinstitutionen beschrieben werden können, aber nicht wie sie sich an das Verfahren binden und legitime Entscheidungen erarbeiten. 196
LEGITIMATIONSBESCHAFFUNG DURCH ORGANISATION UND VERFAHREN
Luhmanns Verfahrensansatz zielt in eine ähnliche Richtung wie Koh, weil Luhmann über die Verfahrensregeln ihre soziale Bedeutung hervorhebt und in Verfahren die Möglichkeit sieht, Verhalten anzupassen. Der Unterschied zwischen den Ansätzen von Koh und Luhmann besteht darin, dass die Umstrukturierung des Erwartens nach Luhmann nicht auf tatsächlicher Zustimmung beruhen muss (Luhmann 2017: 119). Den von Koh ausgemalte reale Konsens der Verfahrensteilnehmer, den sie im Falle der Norminternalisierung zum Grad der obedience erreichen, trennt Luhmann vom Bestand der gesellschaftlichen Struktur (Luhmann 2017a: 119). Diese Unterscheidung von Individuum und Gesellschaft löst die Bestandsfrage gesellschaftlicher Struktur von der individuellen Akzeptanz. Das Verfahren ist zwar an die weltgesellschaftliche Umwelt angepasst, allerdings stellt es nur eine konkrete Situation dar. Der IStGH ermittelt nur für die jeweilige Situation die Täter und verurteilt sie nach der Beweislage. Die Verfahren liefern keine generelle Entscheidung über das Komplementaritätsprinzip. Die Struktur der Strafverfolgung internationaler Verbrechen bleibt unabhängig davon, ob der Gerichtshof in einer Situation für oder gegen die Zulässigkeit eigener Ermittlungen entscheidet. Der Protest des in einer Situation betroffenen Staates ist damit ebenso ein situationsspezifisches Ereignis. Wenn der Staat die Bereitschaft erklärt hat, die Verfahrensentscheidung zu akzeptieren, kommt es nicht mehr auf die Akzeptanz der konkreten Entscheidung an. In gleicher Weise kann die Verurteilung eines Täters nicht von dessen persönlicher Akzeptanz des Urteils abhängen. Das Verfahren bildet zwar die Struktur der Umwelt ab, aber individuiert anhand der Situation und ihrer Teilnehmer die Entscheidung (Luhmann 2017a: 120). In der Weltgesellschaft sind Motive und Werte so unterschiedlich, dass sie keine Grundlage für die Legitimation von Entscheidungen bilden können. Deshalb stellt Luhmann auf die Akzeptanz von Entscheidungen ab. Es kommt dabei nicht auf persönliche Motivation an, sondern dass die Betroffenen von Entscheidungen generell bereit sind, diese zu akzeptieren (Luhmann 2017a: 28). »Legitim sind Entscheidungen, bei denen man unterstellen kann, daß beliebige Dritte normativ erwarten, daß die Betroffenen sich kognitiv auf das einstellen, was die Entscheidenden als normative Erwartungen mitteilen« (Luhmann 2008: 261).
Legitimation bedeutet dann, dass »Betroffene aus welchen Gründen immer die Entscheidung als Prämisse ihres eigenen Verhaltens übernehmen und ihre Erwartungen entsprechend umstrukturieren« (Luhmann 2017a: 33). Indem die Staaten, Organisationen und Individuen das Völkerstrafrecht und die Entscheidungen des IStGH zu Prämissen ihres Verhaltens machen, übernehmen sie Erwartungen aus ihrer Umwelt. In der 197
DIE LEGITIMATION INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
Institutionalisierung der Strafverfolgung internationaler Verbrechen entsteht ihre eigene Legitimation. Luhmann geht davon aus, dass das Recht keine bindende Gewalt habe (2018: 33). Stattdessen kommt es auf die »Ausdifferenzierung besonderer Rollen und Teilsysteme, die über Recht mit gesamtgesellschaftlich bindender Wirkung zu entscheiden haben« (Luhmann 2008: 79) an. Für Luhmann sind Verfahren solche gesellschaftlichen Teilsysteme. Daher sieht er in Verfahren die Antwort auf die Frage, »[w]ie […] es möglich [ist], wenn nur wenige entscheiden, die faktische Überzeugung von […] der verbindlichen Kraft dieses Entscheidens zu verbreiten« (Luhmann 2017a: 27 [Änderungen H.d.V.])? Diesem Gedanken »entspricht es, den Legitimitätsbegriff auf die Anerkennung von Entscheidungen als verbindlich festzulegen« (Luhmann 2017a: 31). Die im Verfahren durch die Teilnehmer erzeugte Geschichte sorgt dafür, sie nach Maßgabe der Struktur die konkrete Situation rekonstruieren. Die Beteiligten stellen sich und die Ereignisse dar und ermöglichen anderen Teilnehmern, zu ihren Ausführungen Stellung zu nehmen. Die Verfahrensteilnehmer setzen sich so in Beziehung zu den anderen Beteiligten und auch zum Ereignisverlauf. Alle Verfahrensbeteiligten legen mit jeder Äußerung fest, was wie wann und wo passiert ist und wer die Verantwortung trägt. Luhmann hält dies in aller Kürze fest: »Äußerungen binden« (Luhmann 2017a: 45). Die Verbindlichkeit ist nicht die Norminternalisierung, sondern die kommunikative Selbstbindung der Teilnehmer im Verfahren (de Vries 2021b). Die Bereitschaft, am Verfahren teilzunehmen und die noch nicht getroffene Entscheidung zu akzeptieren, ist nur durch die Offenheit des Verfahrens möglich. Die Verfahrensteilnehmer können auf ihre favorisierte Entscheidungsalternative hinarbeiten, ohne dass sie die Gewissheit haben, dass sie Erfolg haben werden. Im Ergebnis lässt sich der Prozess emergenter Strukturbildung in den Verfahren des Gerichtshofs in sachlicher, zeitlicher und sozialer Dimension folgendermaßen analysieren: Die Sachdimension umfasst mit der konkreten Ermittlungssituation den Gegenstand des Verfahrens, auf den sich alle Beteiligten beziehen. In der Sozialdimension stellen die Verfahrensbeteiligten ihre Interpretation der Ereignisse dar und nehmen aufeinander Bezug. In der Zeitdimension verknüpft der IStGH die unterschiedlichen Darstellungen der Verfahrensbeteiligten unter den normativen Erwartungen des Völkerstrafrechts zu einer Verfahrensgeschichte. Die Sachdimension erfasst mit der konkreten Situation den Gegenstand des Verfahrens. Der IStGH spricht stets nach der obigen Definition von einer Situation, die der Gerichtshof nach dem Völkerstrafrecht untersucht. Obwohl das Verbrechen bereits begangen wurde und die Täter- und Opferrollen mit konkreten Personen verknüpft sind, ist die Situation für das Verfahren zunächst von der Unklarheit darüber geprägt, wie der Ereignisverlauf aussieht und welche Rollen die Beteiligten an 198
LEGITIMATIONSBESCHAFFUNG DURCH ORGANISATION UND VERFAHREN
der Situation einnehmen. Um die hinreichende Grundlage für den Anfangsverdacht zu begründen, legt der Ankläger des IStGH seinem Genehmigungsantrag für ein Beweiserhebungsverfahren einen Ereignisverlauf bei. Der Ankläger rekonstruiert aus den in seiner Voruntersuchung gesammelten Beweisen und Aussagen die Situation. Der Ereignisverlauf und die Rollenzuweisung der Situation bleiben dennoch offen, weil der IStGH sie erst im Beweiserhebungsverfahren für die Anklage feststellt und dann auch nur als Anschuldigung ausweist, über die die Richter im Gerichtsverfahren urteilen. Diese Offenheit schafft die Möglichkeit, sich am Verfahren zu beteiligen, ohne vorab in eine bestimmte Rolle oder Darstellung gezwungen zu sein. Die Entscheidung, ob der Gerichtshof eigene Ermittlungen aufnimmt und gegen wen er dann Anklage erhebt, steht am Anfang des Verfahrens noch nicht fest. Auf diese Entscheidungen des IStGH haben die Verfahrensbeteiligten mittels ihrer Aussagen Einfluss. Sie können da rauf hoffen, den Gerichtshof von ihrer Darstellung zu überzeugen (vgl. Luhmann 2017a: 107). Nouwen/Werner haben gezeigt, dass die ugandische Regierung den IStGH von ihrer Situationsdarstellung in Uganda überzeugen konnte und so politische Legitimation erhielt, während der IStGH die LRA als Hostis Humanis Generis brandmarkte (2011). Die Offenheit des Verfahrens ermöglicht die Teilnahme daran. Dafür müssen die Verfahrensbeteiligten das Völkerstrafrecht und die Struktur internationaler Strafverfolgung voraussetzen. Um den IStGH von ihrer Situationsdarstellung zu überzeugen, orientieren sich die Verfahrensbeteiligten an den normativen Erwartungen und können sich nicht gleichzeitig noch gegen die Verfahrensstruktur wenden (vgl. Luhmann 2017a: 108). Je weiter das Verfahren fortschreitet, desto mehr verdichtet sich die Darstellung der Beteiligten durch Beweise und die Aussagen der anderen. Die Aussagen stehen im Kontext anderer, beziehen sich auf diese und bindet die Beteiligten daran. In dieser wechselseitigen Bezugnahme der Verfahrensbeteiligten aufeinander rekonstruieren sie den Ereignisverlauf der jeweiligen Situation in der Sachdimension (vgl. Heck 2017: 80). Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer objektiven Erzählung des Ereignisverlaufs. Allerdings beruht diese vermeintliche Wahrheit auf dem Konsens bzw. Dissens der Verfahrensbeteiligten in ihrem wechselseitigen Bezug (Luhmann 2017a: 24). Konsens erscheint daher als funktionales Äquivalent für Wahrheit im Verfahren (Jost 2017: 372). In der Sozialdimension rückt der Konsens und Dissens in den Vordergrund. Die Verfahrensbeteiligten stellen in ihren Aussagen nicht nur eine Erzählung des Ereignisverlaufs her, sie weisen sich auch wechselseitig Rollen in dieser Erzählung zu (Luhmann 2017a: 85). Eine Aussage im Verfahren bindet, weil das Ausgesagte nicht ohne Erklärungslasten zurückgenommen werden kann. Die Verfahrensbeteiligten können in ihren Aussagen Bezug zu den Aussagen anderer Beteiligter herstellen und 199
DIE LEGITIMATION INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
so diesen Erzählungen zustimmen oder widersprechen (Luhmann 2017a: 86). Die Sozialdimension des Verfahrens bezieht sich auf die Sachdimension und damit auf den Ereignisverlauf, allerdings bleiben die Regeln des Verfahrens außen vor. Diese Regeln setzen die Beteiligten mit ihrer Beteiligung voraus und orientieren sich selbstverständlich daran, damit sie am Verfahren teilnehmen können. Das Verfahren bietet den Raum, damit die Verfahrensbeteiligten ihre Interpretation über die Situation austauschen, bzw. der Gerichtshof diese gegeneinanderstellen kann. Das Völkerstrafrecht ist die Maßgabe, nach der dieses Verfahren möglich ist (vgl. Koh 1996: 203 f.; 1997: 2646). Luca Tratschin hat dies am Beispiel der Schlichtung zum Bau des Bahnhofs »Stuttgart 21« untersucht. Im Schlichtungsverfahren haben die Teilnehmenden die Verfahrensregeln akzeptiert und sich auf diese Weise daran gebunden (Tratschin 2017: 308). Die Sozialdimension zeigt, dass Konsens und Dissens in Bezug auf die Sachdimension und nicht auf die Verfahrensregeln auftreten. Daher nehmen die Verfahrensbeteiligten es hin, wenn der Gerichtshof ihre Aussagen nur nach Maßgabe des Völkerstrafrechts beachtet, um zu einem Urteil zu gelangen (vgl. Tratschin 2017: 312). Die Verfahrensbeteiligten binden sich kommunikativ selbst, indem ihre Darstellung unter der Voraussetzung der Verfahrensregeln abgeben (vgl. Luhmann 2017a: 114). Dabei können sie zusätzlich auf epistemische Gemeinschaften, transnationale Normunternehmer und andere Akteure Bezug nehmen, um ihrer Position eine höhere Deutungsmacht zu verschaffen (Koh 1996: 2656 f.). Schließlich ist in der Zeitdimension nach der Stabilität der normativen Erwartungen des Völkerstrafrechts zu fragen. Das Völkerstrafrecht filtert, was im Verfahren relevant ist, um zu einer Entscheidung zu gelangen, bzw. was als Anfangsverdacht ausreicht, damit ein Verfahren eingeleitet wird. Während die normativen Erwartungen daher eine stabile Filterfunktion für die Kommunikation im Verfahren haben, ist die Sachdimension zunächst und die sich darauf beziehende Entscheidung bis zum Verfahrensende unbestimmt (vgl. Luhmann 2017a: 94). Gleichzeitig programmiert das Völkerstrafrecht den Möglichkeitsbereich der Entscheidung und des Verfahrens unabhängig von einer konkreten Situation und dem Verfahrensverlauf (vgl. Luhmann 2017a: 134). Die Verfahrensbeteiligten erwecken diese Erwartungen zum Leben, indem sie sich Rollen zuweisen, ihre Aussagen präsentieren und dadurch das Verfahren nach Maßgabe des Völkerstrafrechts vorantreiben (vgl. Goffman 2008: 16). Deshalb binden sich die Verfahrensbeteiligten mit ihren Aussagen nicht nur in der Sozialdimension an ihre Darstellung der Situation, zudem können sie in der Zeitdimension, ihre Aussagen nicht einfach zurücknehmen. Die Aussage wird allein schon durch das Protokoll ein zeitlich fixierter Bezugspunkt, auf den jederzeit zurückgegriffen werden kann (vgl. Savelsberg et al. 2014). 200
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Die kommunikative Selbstbindung erfolgt damit auch in der Zeitdimension. Dieser Verfahrensansatz lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Offenheit des Verfahrens schafft die Voraussetzung dafür, dass sich Staaten, Organisationen und Individuen am Verfahren beteiligen. Als Teilnehmer des Verfahrens interpretieren sie die Ereignisse einer konkreten Situation und stellen diese gegenüber den anderen Verfahrensbeteiligten dar. Diese Darstellung bindet die Verfahrensteilnehmer, weil sie einerseits die Verfahrensregeln voraus und damit in Gang setzen und andererseits können sie ihre Darstellung nicht ohne Erklärungen einfach zurücknehmen. Um auf die Entscheidung hinzuarbeiten und sie ggf. zu den eigenen Gunsten zu beeinflussen, müssen die Verfahrensbeteiligten die Regeln des Verfahrens akzeptieren und die Bereitschaft signalisieren, auch die erst am Ende des Verfahrens getroffene Entscheidung hinzunehmen. Die weltgesellschaftliche Struktur des Verfahrens bleibt die Konstante des Verfahrens, während sich die Verfahrensgeschichte über die Ereignisse und die Rollen der Teilnehmer erst Laufe des Verfahrens entfaltet. Einerseits bildet das Verfahren aufgrund seiner Umweltorientierung die Struktur der Strafverfolgung internationaler Verbrechen ab, indem der Gerichtshof sie als Verfahrensprämissen setzt. Das Verfahren ist an die Umwelt angepasst. Andererseits sorgt die Offenheit des Verfahrens dafür, dass die Teilnehmer bereit sind, eine noch nicht gefällte Entscheidung im Verfahren gemeinsam zu erarbeiten. Dies schließt nicht aus, dass die Beteiligten sich uneinig sind und gegen die Entscheidung protestieren. Allerdings steht dieses Verhalten stets unter der Maßgabe, die Struktur des Verfahrens als Entscheidungsprämisse akzeptiert zu haben. Die Verfahrensbeteiligten haben sich kommunikativ selbst an das Verfahren gebunden und auf eine inhaltlich unbestimmte Entscheidung hingearbeitet. Gegen den Entscheidungsinhalt am Ende des Verfahrens zu protestieren, begründet daher keinen Zweifel an ihrer Legitimation. Die Verfahrensteilnehmer erarbeiten die Legitimation durch das makrodeterminierte Verfahren, indem sie im Verfahren eine Geschichte im Prozess emergenter Strukturbildung entfalten.
IV. Zwischenfazit: Legitimation durch Verfahren der internationalen Strafverfolgung Der durch das Römische Statut gegründete Gerichtshof spezifiziert das Verhältnis der institutionellen Muster staatlicher Souveränität und internationaler Strafverfolgung im Prinzip der Komplementarität. Die Präambel hat den Institutionalisierungsprozess der Makrodetermination durch die Diffusion institutioneller Muster und die emergente Strukturbildung 201
DIE LEGITIMATION INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
durch globale Vernetzung empirisch fundiert. Dieses institutionalisierte Verhältnis der nationalen und internationalen Strafverfolgung im Völkerstrafrecht trägt den Widerspruch horizontaler und vertikaler Kooperation mit sich. Vor diesem Hintergrund stellte sich die Frage, ob der Anschluss in der Präambel an die internationale öffentliche Ordnung genügt, um die Legitimation der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH zu begründen. Diese Frage hat zunächst auf Beobachtungen (I.) und Analysen (II.) hingeführt, die Legitimation als über die Legalität hinausgehendes Begründungskonzept verstehen. Dies hat den Anschluss an die Debatte um die internationale öffentliche Ordnung geschaffen, da dort Politik und Recht ebenfalls so beobachtet werden. Als Alternative dazu wurde das Konzept der kommunikativen Selbstbindung vorgeschlagen. In Anlehnung an Luhmanns Legitimation durch Verfahren und Kohs Transnational Legal Process konnte eine alternative Perspektive aufgezeigt werden (III.). Sowohl die öffentliche Wahrnehmung als auch demokratietheoretische Analyse des Gerichtshofs haben Zweifel an der Legitimation des Gerichtshofs aufgeworfen. In der öffentlichen Wahrnehmung sieht sich der Gerichtshof der Kritik ausgesetzt, sich diskriminierend zu verhalten. Dies trifft auf den Vorwurf zu, dass der Gerichtshof seine Ermittlungen zu sehr auf den afrikanischen Kontinent fokussiert, und in seinem Verhältnis zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sowie den USA zeigen sich erhebliche politische Hindernisse, die einer Gleichbehandlung möglicher Ermittlungssituationen im Wege stehen. Mit Weber stellen diese Spannungen zwischen dem Gerichtshof und anderen Staaten und Organisationen einen Zweifel am Legitimitätsglauben dar. In seiner demokratietheoretischen Analyse schließt Habermas an Weber an, indem er Legalität nicht für ausreichend hält, um Legitimität zu begründen. Aus diesem Grund führt Habermas das deliberative Verfahren ein, das auf demokratischer Grundlage Entscheidungen hervorbringen soll. Armin von Bodgdandy, Ingo Venzke, Ingeborg Maus, Jürgen Bast haben diesen Ansatz weiterentwickelt und zum Teil auf internationale Gerichte angewendet. Aufgrund ihrer demokratietheoretischen Anforderungen erwarten sie von internationalen Gerichten, dass sie keine selbstreferentiellen Entscheidungen fällen und legitimieren, sondern diese Legitimation extern gewährleistet werden muss. An die externe Stelle treten Parlamente oder deliberative Verfahren, die aber nach demokratischen Grundsätzen eingesetzt wurden. Ohne solche Einrichtungen bemängelt Ingeborg Maus, dass die internationale Strafverfolgung gegen die staatliche Souveränität verstößt. Sie versteht die Souveränität eines Staates nach außen als auf Volkssouveränität begründet im Inneren. Allerdings gesteht sie ein, dass Volkssouveränität in Anbetracht einer zunehmend fragmentierten (Welt-)Gesellschaft nur eine imaginäre Figur sein kann. Um dem demokratischen Gedanken dieser Volkssouveränität in einer fragmentierten (Welt-)Gesellschaft gerecht zu werden, braucht 202
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es daher die Verfahren, welche vom Parlament eingesetzt werden sollen. Dies gewährleistet trotz dezentraler Entscheidungen in den Verfahren, dass eine zentrale Instanz ihre demokratische Legitimation sichert. All diese demokratietheoretischen Anforderungen erfüllt der IStGH nicht. Allerdings zeigen sowohl die öffentliche Wahrnehmung als auch die demokratietheoretischen Ansätze eine externe Orientierung bzw. eine Außenperspektive auf den Gerichtshof und seine Verfahren. Die beobachtete Institutionalisierung legt im Prozess emergenter Strukturbildung demgegenüber eine durch den Gerichtshof und seine Verfahren erarbeitete Legitimation nahe. Diese Legitimation umfasst zwei Aspekte: Zum einen stellt der Prozess der Makrodetermination auf eine adäquate Diffusion der institutionellen Muster ab. Der Gerichtshof und seine Verfahren müssen an die Struktur internationaler Strafverfolgung in seiner Umwelt angepasst sein. Zum anderen müssen die Teilnehmer am Verfahren bereit sein, die Entscheidung des Gerichtshofs über die Aufnahme eines Beweiserhebungsverfahrens, die Anklageerhebung und schließlich das Urteil zu akzeptieren. Im Unterschied zu den demokratietheoretischen Ansätzen und Kohs Transnational Legal Process erfordert diese Akzeptanz der Verfahrensbeteiligten keinen tatsächlichen Konsens über den Entscheidungsinhalt. Die Akzeptanz bezieht sich auf die Entscheidungsprämissen. Diese folgen daraus, dass sich das Verfahren an seine Umwelt anpasst und damit die Struktur systemintern abbildet. Die Verfahrensteilnehmer stellen ihre Rolle in und den Verlauf der Ereignisse einer möglichen Ermittlungssituation des Gerichtshofs unter diesen Bedingungen dar. Sie bieten dem Gerichtshof eine Interpretation an, die andere Verfahrensbeteiligte aufnehmen, indem sie sich ihr anschließen oder sie ablehnen. In jedem Fall binden sich die Teilnehmer am Verfahren selbst an ihre Darstellung, die sie unter der Struktur des Verfahrens erbracht haben. Diese Verbindlichkeit ihrer Darstellung und auch der Struktur schafft in Anlehnung an Geiger einen Tatsachenzusammenhang, auf dessen Grundlage der Gerichtshof seine Entscheidung fällen kann. Im Hinblick auf die Verfahren des Gerichtshofs stellt sich nun die Frage, wie die Institutionalisierung der Struktur internationaler Strafverfolgung tatsächlich abläuft. Für den angelegten Fokus auf die Strukturrekonstruktion kommt es weniger darauf an, dass die Teilnehmer an einem Verfahren dessen Prämissen akzeptieren, als den durch das Verfahren produzierten Tatsachenzusammenhang zu untersuchen, der die Teilnehmer bindet und Entscheidungen ermöglicht. Mit dem letzteren Aspekt kann der Möglichkeitshorizont nachvollzogen werden, vor dem die Teilnehmer akzeptieren und Entscheidungen erarbeitet werden. Die Analyse der Struktur internationaler Strafverfolgung geht dem auf der Verfahrensebene nach, indem der Verfahrensauftakt beobachtet wird. 203
Fünftes Kapitel: Situationskonstruktion der Verfahren in der Weltgesellschaft Die Entscheidung über die Komplementarität der Gerichtsbarkeit erarbeitet der IStGH innerhalb eines Verfahrens. Die Reichweite dieser Entscheidung beschränkt er auf die jeweilige Situation, auf die sich das Verfahren bezieht. Der Widerspruch zwischen horizontalem und vertikalem Modus der Kooperation und damit auch der jeweils zugehörigen institutionellen Muster staatlicher Souveränität und internationaler Strafverfolgung entscheidet der Gerichtshof nicht generell. Der IStGH steht mit jeder möglichen Ermittlungssituation erneut vor dieser Frage (vgl. de Vries 2021b). Diese ständige Wiederholung des Widerspruchs begründet und erhält die Struktur der Strafverfolgung internationaler Verbrechen. In den Verfahren zeigt sich, wie der Gerichtshof seine Entscheidung erarbeitet. Mit dieser Frage schwingt auch mit, ob die Entscheidung des Gerichtshofs legitim ist. Legitimation hat sich als Begriff gezeigt, der extern durch einen Legitimitätsglauben (Viertes Kapitel: I.) oder andere Werte wie Demokratie oder Transparenz (Viertes Kapitel: II.) definiert sein kann. Im Gegensatz dazu steht im angewendeten theoretischen Rahmen die Legitimation durch Verfahren. Die strukturell adäquate Anpassung des Verfahrens an die Umwelt spiegelt die Diffusion institutioneller Muster und die damit verbundene Makrodetermination wider. Aus der Bereitschaft, die Entscheidung als verbindlich anzuerkennen, schaffen die Teilnehmer am Verfahren einen Sinnzusammenhang und fördern die globale Vernetzung der Situation, weil andere den dargestellten Sinnzusammenhang beobachten und dazu Stellung nehmen können (Viertes Kapitel: III.). Im Verständnis dieses Ansatzes und der Zielrichtung der Arbeit, die Struktur internationaler Strafverfolgung zu rekonstruieren, ist die Legitimationsthematik gegenüber der Institutionalisierung internationaler Strafverfolgung nachgeordnet. Ohne die Institutionalisierung der Struktur internationaler Strafverfolgung kann ihre Legitimation durch Verfahren nicht erarbeitet werden. Aus diesem Grund liegt der Schwerpunkt der empirischen Analyse der Verfahren darauf, die Institutionalisierung der Struktur internationaler Strafverfolgung aufzuspüren. Dies hat für den empirischen Gegenstand zur Folge, den Verfahrensauftakt und nicht die nachfolgenden Verfahrensabschnitte mit unterschiedlichen Beteiligten zu analysieren. Diese Analyse des Verfahrens setzt voraus, den formalen Ablauf zu rekonstruieren. Die zuvor erwähnten Kriterien aus Art. 53 Abs. I RS werden ausführlich dargestellt, um bereits strukturelle Anpassungen an die Umwelt festzuhalten. Gleichzeitig dient diese Einführung in die 204
DIE VERFAHREN DES ISTGH UND IHRE REKONSTRUKTION
Verfahren des Gerichtshofs dazu, den empirischen Gegenstandsbereich für die tiefergehende Analyse abzustecken. Hierfür sind auch methodische Erwägungen notwendig, nach denen die Verfahren des Gerichtshofs analysierbar sind. Die Verfahren des Gerichtshofs basieren auf Dokumenten. Einige dieser Dokumente sind entweder vollständig oder in Teilen geheim gehalten. Dies beschränkt den Zugang zum möglichen Analysematerial. Daher fokussiert sich die Analyse auf ein Verfahren des Gerichtshofs, um in einer qualitativen Sequenzanalyse generalisierbare Ergebnisse zu erarbeiten. Dieses Verfahren ist die Situation in Kenia. Die Methodik beruht auf der dokumentarischen Methode (I.). Die Ergebnisse der Analyse des Verfahrens zur Situation in Kenia werden anhand von drei Dokumenten vorgestellt: Als erstes die Überweisung der Situation in Kenia an die Vorverfahrenskammer durch den Präsidenten des Gerichtshofs (II.), dann der Antrag des Anklägers, Ermittlungen in der Situation in Kenia einzuleiten, (III.) und schließlich die Entscheidung der Vorverfahrenskammer über den Antrag des Anklägers (IV.). Die Analyse endet vor dem Ermittlungsverfahren, weil in diesem Vorverfahren die Institutionalisierung erfolgt, bevor im Ermittlungsverfahren Täter, Opfer und Zeugen die Legitimation der nachfolgenden Anklageerhebung und des Hauptverfahrens erarbeiten. Schließlich wird im Zwischenfazit die Hypothese bzw. die Regel präsentiert, nach der die Verfahren des Gerichtshofs soziale Wirklichkeit herstellen. Dieses Ergebnis der Analyse wird im Hinblick auf die Institutionalisierung der Struktur internationaler Strafverfolgung diskutiert und anhand des Konzepts der Offenheit sowie Geschlossenheit des Verfahrens reflektiert (V.).
I. Die Verfahren des IStGH und ihre Rekonstruktion nach der dokumentarischen Methode In den Verfahren des Gerichtshofs findet die internationale Strafverfolgung statt. Der Gerichtshof führt verfahrensmäßig Voruntersuchungen, Ermittlungen, Klagen und Berufungen durch. Ob die herausgearbeitete Struktur internationaler Strafverfolgung auf der Ebene der Verfahren des Gerichtshofs wieder auftreten, bedarf einer empirischen Analyse. Ein qualitatives, hypothesengenerierendes Vorgehen zeigt aus dem Material heraus, welche Strukturen die Verfahren bedingen. Wenn die Hypothese kompatibel mit der erarbeiteten Struktur internationaler Strafverfolgung ist, untermauert dies die Reichweite der bisherigen Argumentation auf der Ebene der Weltgesellschaft, Organisation und Verfahren. Für eine solche Analyse muss zum einen der Gegenstandsbereich sowie das Material und zum anderen das analytische Vorgehen bestimmt sein. 205
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
Der Gegenstandsbereich der Verfahren reicht vom ersten Verdacht über die Klage und ggf. zur Berufung. Dieser Umfang der Verfahren bietet sehr viel Material, das nicht nur aus den Gerichtsdokumenten, sondern auch aus Stellungnahmen der Teilnehmer, anderer Organisationen usw. bestehen kann. Die Analysefrage nach der Struktur internationaler Strafverfolgung begrenzt diesen Umfang. Die Struktur ist im gesamten Verfahren auffindbar, daher bietet es sich an, den Auftakt der Verfahren zu analysieren. Im Auftakt entfaltet sich die Struktur, sodass sie das weitere Verfahren bedingt. Vermutlich wendet der Gerichtshof am Anfang eines Verfahrens die meiste Arbeit dafür auf, dass das Verfahren in sicheren Bahnen läuft. Dies sollte es einfacher gestalten, eine Hypothese über die Struktur des Verfahrens zu gewinnen, als wenn sie in späteren Verfahrensabschnitten vorausgesetzt wird und andere Themen im Vordergrund stehen. Den Auftakt des Verfahrens macht der Ankläger mit seinem Schreiben an den Präsidenten des Gerichtshofs, auf der Grundlage von Art. 15 III RS Ermittlungen in einer Situation einleiten zu wollen. Der Ankläger ist nach Regel 45 der Geschäftsordnung des Gerichtshofs dazu verpflichtet, den Präsidenten darüber zu informieren. Der Präsident des Gerichtshofs nimmt dieses Schreiben an und überweist die Situation nach Regel 46.2 der Geschäftsordnung des Gerichtshofs an eine der Vorverfahrenskammern. Nun stellt der Ankläger seinen Antrag, Ermittlungen in einer Situation einzuleiten. Er muss nach Art. 15 III RS »eine hinreichende Grundlage für Aufnahme von Ermittlungen« darlegen. Die hinreichende Grundlage liegt vor, wenn die Kriterien aus Art. 53 I (a)-(c) RS erfüllt sind (Bergsmo et al. 2016: 1366 ff.; Schabas 2016: 833 ff.): a) Als erstes untersucht der Ankläger, ob der Verdacht besteht, dass ein Verbrechen aus Art. 5 RS (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder das Verbrechen der Aggression) begangen wurde und die mutmaßliche Begehung innerhalb der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs liegt. b) Die Gerichtsbarkeit ist in zeitlicher und räumlicher bzw. personeller Hinsicht begrenzt. In zeitlicher Hinsicht kann der Gerichtshof nur Verbrechen verfolgen, die nach dem Inkrafttreten des Römischen Statuts begangen wurden (Art. 11 I RS). Darüber hinaus kann der Gerichtshof nur Verbrechen in einem Staat ab dem Zeitpunkt verfolgen, zu dem dieser das Römische Statut in Kraft gesetzt hat. Außer der Staat gibt eine anderweitige Erklärung ab (Art. 11 II RS). In räumlicher bzw. personeller Hinsicht kann der Gerichtshof nur Verbrechen verfolgen, die auf dem Territorium oder vom Bürger eines Vertragsstaats begangen wurden (Art. 12 RS). Darüber hinaus kann ein Nichtvertragsstaat eine Erklärung abgeben, um sich der Gerichtsbarkeit des IStGH zu unterwerfen 206
DIE VERFAHREN DES ISTGH UND IHRE REKONSTRUKTION
(Art. 12 III RS), oder der Sicherheitsrat entscheidet mit einer Resolution, dass eine Situation der Gerichtsbarkeit unterliegt (Art. 13 (b) RS; Ambos 2014: 354 ff.). c) Die Zulässigkeit einer Sache nach Art. 17 RS ergibt sich nach dem Prinzip der Komplementarität. Demnach ist eine Sache vor dem Gerichtshof nach Art. 17 I RS nicht zulässig, wenn (a) der Staat eigene Ermittlungen durchführt oder (b) durchgeführt hat und (c) daraus resultierend eine Person bereits belangt worden ist.1 Schließlich regelt (d), dass die Sache schwerwiegend genug sein muss, damit der Gerichtshof Maßnahmen ergreift. Dieses letzte Kriterium ist in Anbetracht der Prüfung des Anfangsverdachts für ein Verbrechen innerhalb der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs in der Regel gegeben (Ambos 2014: 360 ff.). d) In formaler Hinsicht verlangt das letzte Kriterium, dass eine Abwägung erfolgt, ob mit den Ermittlungen dem Interesse der Gerechtigkeit gedient ist und die Opfer deswegen keinen größeren Schaden davontragen. Der Ankläger muss nicht begründen, ob Ermittlungen im Interesse der Gerechtigkeit liegen. Er darf davon ausgehen. Erst wenn der Ankläger zu der Ansicht gelangt, dass Ermittlungen nicht im Interesse der Gerechtigkeit liegen, muss er dies begründen (Bergsmo et al. 2016: 1374 f.). Neben diesen drei formalrechtlichen Kriterien prüft der Ankläger die materiellrechtlichen Bedingungen für das Verbrechen, für das ein Anfangsverdacht nach Art. 53 I (a) RS vorliegt. Diese materiellrechtlichen Kriterien ergeben sich aus dem jeweiligen Verbrechenstatbestand der Art. 6 bis 9 RS. Schließlich entscheidet die Vorverfahrenskammer über den Antrag des Anklägers, indem sie den Vortrag des Anklägers zu den genannten Kriterien dahingehend beleuchtet, ob der vorgetragene Sachverhalt die Kriterien erfüllt oder nicht. In Abhängigkeit von dieser Entscheidung kann das Ermittlungsverfahren beginnen. Um die Struktur des Verfahrens zu rekonstruieren, ist das Material auf die Dokumente diesen Verfahrensabschnitt zu begrenzen. In diesem Vorverfahren sind drei Dokumente relevant: Die Überweisung der Situation an die Vorverfahrenskammer, der Antrag des Anklägers und die Entscheidung der Vorverfahrenskammer. Der Präsident setzt das Verfahren vor dem Gerichtshof in Gang, der Ankläger gibt in seinem Antrag an, worum es geht und warum er den Antrag stellt und schließlich entscheidet die Vorverfahrenskammer darüber, ob der Ankläger Ermittlungen aufnehmen darf. Dieser Abschnitt des Verfahrens umreißt, ob und wie 1 Art. 17 I (c) RS verweist damit auf das Prinzip Ne bis in idem, nach dem niemand zwei Mal wegen eines Verhaltens vor Gericht gestellt werden darf. Dieses Rechtsprinzip ist in Art. 20 RS festgehalten.
207
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
ein Verfahren vor dem Gerichtshof in Gang kommt. Aus diesem Grund eignet sich dieser Verfahrensabschnitt und die genannten Dokumente für eine empirische Analyse, um die Struktur der Verfahren zu prüfen. Da es sich zudem um einen Rechtskontext handelt, ist davon auszugehen, dass die Analyseergebnisse aus einem Verfahren für alle anderen generalisierbar sind. Alle Verfahren des Gerichtshofs laufen unter den gleichen rechtlichen Bedingungen ab. Die folgende Abbildung fasst das Vorverfahren nach Dokumenten und Vorschriften als Gegenstands- und Materialbereich für die Analyse zusammen:
Abbildung 8. Ablauf des Vorverfahrens nach Dokumenten und Vorschriften.
Das darauf aufbauende analytische Vorgehen lehnt sich an die dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack an. Wie schon bei der Objektiven Hermeneutik von Ulrich Oevermann handelt es sich bei der dokumentarischen Methode um ein rekonstruktives Verfahren, das auf der sequentiellen Analyse von Text beruht (Bohnsack 2014: 34). In der dokumentarischen Methode beschreibt Bohnsack drei Stufen der Rekonstruktion: formulierende Interpretation, reflektierende Interpretation und Typenbildung (Bohnsack 2014: 35). Die dokumentarische Methode zielt nach Bohnsack darauf ab, aus einem Text herauszuarbeiten, »wie ‚gesellschaftliche Tatsachen‘ […] hergestellt werden« (Bohnsack 2014: 59). Diese Methode eignet sich mit ihrem Fokus »auf den Prozess der (erlebnismäßigen) Herstellung von Wirklichkeit« (Bohnsack 2014: 65), um die Struktur des Verfahrens zu analysieren. Dies leistet die dokumentarische Methode, indem sie ein methodisch-kontrolliertes Vorgehen für den Übergang des Was in der formulierenden Interpretation zum Wie in der reflektierenden Interpretation liefert (Bohnsack 2014: 136, 192). Das Verständnis einer Prozessstruktur folgt daher dem zu Grunde gelegten Strukturbegriff nach Luhmann (Bohnsack 2010; Vogd 2010; Drittes Kapitel: I.). 208
DIE VERFAHREN DES ISTGH UND IHRE REKONSTRUKTION
Die formulierende Interpretation gibt die Themen des Textes innerhalb dessen Relevanzsystem wieder (Bohnsack 2014: 35). Um den immanenten Sinngehalt des Textes herauszuarbeiten, muss der Interpret die Themen explizieren (Bohnsack 2014: 136). Als erstes ist ein Überblick über den thematischen Verlauf zu erstellen. Die vorliegenden Dokumente verfügen über eigene Gliederungsbezeichnungen sowie Absatznummerierungen, die die Textstruktur spiegeln und damit den Einstieg in den Text und seinen Aufbau bieten. In der anschließenden reflektierenden Interpretation sucht der Interpret Alternativen zu den im Text gewählten Selektionen, um die Struktur und die Kontingenzen dieser Selektionen sichtbar zu machen (Bohnsack 2014: 35). Die reflektierende Interpretation rekonstruiert und expliziert den Orientierungsrahmen, innerhalb dessen die in der formulierenden Interpretation herausgearbeitete Gliederung des Dokuments behandelt werden (Bohnsack 2014: 137). Die Reflexion baut auf empirisch fundierte »Gegen- oder Vergleichshorizonte« (Bohnsack 2014: 39). Diese Gegen- und Vergleichshorizonte dienen dazu, die Abhängigkeit der Interpretation vom Standpunkt des Interpreten methodisch zu kontrollieren (Bohnsack 2014: 51, 139) und den Orientierungsrahmen bzw. die Struktur, in die der Text eingebettet ist, zu identifizieren (Bohnsack 2014: 138). Diese komparative Analyse auf Basis empirisch fundierter Vergleichshorizonte sichert die Validität der Analyse (Bohnsack 2014: 139). Hierfür stützt sich die reflektierende sequentielle Interpretation auf die Formalstruktur des Textes (Bohnsack 2014: 140 f.). In Bezug der unterschiedlichen Sequenzen aufeinander rekonstruiert der Interpret den textimmanenten Orientierungsrahmen, indem er die Selektionen der Sequenzen zueinander vergleicht (Nohl 2013: 280 f.). Dieser textimmanente Orientierungsrahmen dient als Tertium Comparationis für die weitere Sequenzanalyse und wird im Laufe dieser verdichtet, ergänzt oder widerlegt (vgl. Bohnsack/Nohl 2013; Nohl 2013: 283). Schließlich folgt darauf die Typenbildung als Generalisierung über den Fall hinaus. Die Typik entsteht durch den Vergleich der Fälle über die angewendeten Gegenhorizonte (Bohnsack 2014: 51 f.). Die textimmanenten Analyseergebnisse generalisiert der Interpret, indem er die Vergleichshorizonte begrifflich-theoretisch expliziert und damit über den jeweiligen Fall hinaus anwendet. Die Typenbildung ist durch fallübergreifende Vergleichshorizonte geprägt (Bohnsack 2014: 144). Die Typik ist dann das textimmanent gewonnene Tertium Comparationis, das als Vergleichshorizont für andere Fälle dient und dadurch generalisiert wird (Bohnsack 2013: 252 f.; Nentwig-Gesemann 2013; Nohl 2013: 275, 287). Aus diesen miteinander im Vergleich stehenden Typiken entsteht eine Typologie als übergeordnetes Tertium Comparationis. Die Analyse des Verfahrens in der Situation in Kenia beruht auf diesem Vorgehen. Das Verfahren in der Situation in Kenia eignet sich für 209
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
die empirische Analyse, weil die genannten drei Dokumente vollständig vorliegen. In anderen Verfahren fehlt eines dieser Dokumente oder innerhalb eines Dokuments sind Abschnitte geheim gehalten, um Opfer und Zeugen zu schützen. Der Ankläger hat nach Art. 15 I RS in proprio motu (aus eigenem Antrieb) den Antrag gestellt, Ermittlungen in der Situation in Kenia einzuleiten. Daneben wäre es möglich gewesen, dass Kenia selbst die Situation an den Gerichtshof überweist oder der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dies per Resolution anweist. Eine Eigenini tiative des Gerichtshofs kann im Gegensatz zu den anderen Varianten nicht auf eine externe Entscheidung verweisen. Dies spricht dafür, dass sich das Verfahren in der Situation in Kenia eignet, um die Struktur internationaler Strafverfolgung durch den Gerichtshof herauszuarbeiten. Das Vorgehen für die Analyse der Situation in Kenia sieht folgendermaßen aus: Angelehnt an die formulierende Interpretation wurden alle drei Dokumente nach ihrem internen Relevanzsystem gegliedert. Bei der Präambel des Römischen Statuts haben die Absätze dieses Relevanzsystem vorgegeben. In den drei Dokumenten haben Inhaltsverzeichnisse, Überschriften und die durchnummerierten Absätze die jeweilige Gliederung angezeigt. Die Ergebnisse der formulierenden Interpretation dienen in der folgenden Darstellung der Analyse dazu, einen Überblick über das jeweilige Dokument zu geben und damit den Einstieg zu erleichtern. Die reflektierende Interpretation geht nach der Sequenzanalyse von Absatz zu Absatz vor. Für die Überweisung an die Vorverfahrenskammer wurden 18 Absätze auf drei Seiten, für den Antrag des Anklägers über 120 Absätze auf 42 Seiten und für die Entscheidung der Vorverfahrenskammer über 220 Absätze auf 83 Seiten untersucht. Die Sequenzanalyse wird nur für das erste Dokument vollständig dargestellt. Danach ist es für die Lesbarkeit und Übersichtlichkeit des Kapitels erforderlich, die Analyseergebnisse in aggregierter Form zu präsentieren. Bereits im ersten Dokument ist es sehr früh gelungen, eine Hypothese zu entwickeln, mit der die Struktur des Verfahrens erklärt werden kann. Es handelt sich um eine Abduktion. Die Hypothese erläutert das Dokument als ein Fallbeispiel und ist auf andere Fallbeispiele wie den Antrag des Anklägers und die Entscheidung der Vorverfahrenskammer anwendbar. Es handelt sich bei der Hypothese um eine explizierte Regel, nach der das Verfahren abläuft. Die komparative Analyse findet zwischen den Dokumenten statt, indem die im ersten Dokument gewonnene Hypothese mit den anderen beiden Fällen als Vergleichsfälle konfrontiert wird. Wenn die Hypothese standhält, hat sie sich zum einen validiert und zum anderen für das Verfahren generalisiert. Auch aus diesem Grund kann die Ergebnisdarstellung so lange schneller vorangehen, wie in der Interpretation keine neuen Erkenntnisse auftauchen, die von der Hypothese abweichen. Die abschließende Typenbildung ist hier eine Zusammenfassung der Interpretation des Dokuments, in der 210
DIE VERFAHREN DES ISTGH UND IHRE REKONSTRUKTION
die Hypothese mit jedem Dokument weiter für das Verfahren generalisiert wird. Über diese methodische Einleitung ist auch eine inhaltliche Kontextualisierung der Situation in Kenia erforderlich. Kenia verfügt über eine große ethnische und kulturelle Vielfalt. Sie hat sich über die vergangenen Jahrhunderte zwischen der auf dem Weideland lebenden Bevölkerung und dem Handel an der ostafrikanischen Küste vor allem mit dem südlichen Arabien entwickelt (Franceschi 2011: 247 f.).
Abbildung 9. Karte Kenias (ezilon maps 2009).
211
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
Im 19. Jahrhundert wurde Kenia zu einer britischen Kronkolonie und erlangte am 12. Dezember 1963 seine Unabhängigkeit (Franceschi 2011: 248 f.). Das unabhängige Kenia orientierte sich am Völkerrecht und der friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten (Franceschi 2011: 249 ff.). Kenia vertritt eine monistische Völkerrechtsinterpretation. Daher ist Völkerrecht ohne weitere Erfordernisse Teil des nationalen Rechts (Franceschi 2011: 275 ff.). In dieser Hinsicht ist Kenia ein besonders geeigneter Fall, trotzdem wird im folgenden Material deutlich, dass die Regierung Kenias das Komplementaritätsprinzip anders interpretiert als der Ankläger des IStGH. Dies verweist darauf, dass es auf Kenia im Besonderen nicht ankommt, da die Annahme bestehen bleibt, dass die Struktur über die Kontingenz dieser Situation wiederholbar ist. Daher kommt es für die Analyse vor allem auf die Argumentation des Gerichtshofes an, weshalb dessen Verfahrensakten der empirische Gegenstand sind. Gegenüber der rechtlichen Lage ist die innenpolitische Entwicklung relevant. Bis 1991 wuchsen die internen Spannungen, ohne sich in einem Bürgerkrieg zu entladen (Laurien 2018: 57; Bedasso 2015: 362). Die ersten beiden großen Parteien – Kenya African National Union (KANU) und Kenya African Democratic Union (KADU) – waren als multiethnische Verbünde organisiert und konnten zunächst die politische Stabilität gewährleisten (Bedasso 2015 371). Erst in den 1990er-Jahren begann über diese beiden Parteien hinaus ein Mehrparteienwettbewerb (Bedasso 2015: 376). Der während der Zeit der beiden großen Parteien ausgehandelte Pakt unter den ethnischen Eliten bröckelte und wurde zunehmend von Gewalt als Verhandlungsmittel für einzelne Interessen ersetzt: »For most of the 1990s, the political elites were vying for power and privileges within the dominant coalition by using their ethnic blocs as leverage to negotiate within a given constitution« (Bedasso 2015: 377). Diese zunehmende Fragmentierung Kenias führte schließlich in eine Krise nach der Wahl 2007, in der über 1.000 Menschen starben und Hundertausende vertrieben wurden (Bedasso 2015: 379 ff.; Brown 2013; Franceschi 2011: 251). Diese Krise 2007– 2008 nach der Wahl ist das Initialereignis des analysierten Verfahrens.
II. Die Situation in Kenia (1): Überweisung an die Vorverfahrenskammer In diesem ersten Dokument der Vorverfahrensanalyse und dieses Verfahren in der Situation in Kenia folgt der Blick auf das sequenzanalytische Vorgehen von Absatz zu Absatz. Das Dokument wird im Literaturund Quellenverzeichnis unter Presidency (2009) zitiert. Entsprechend der dokumentarischen Methode wurde als erstes die Gliederung des Dokuments herausgearbeitet, nach der auch dieser Abschnitt gegliedert ist. 212
DIE SITUATION IN KENIA (1)
1. 2. 3. 4.
Dokumentkopf Dokumenttitel Adressaten Entscheidung des Präsidiums in einzelne Absätze unterteilt
Es ist ein formales Dokument, das mit einem Dokumentkopf das Thema über einen Titel am Anfang festlegt. Im persönlichen Austausch wird das Thema nicht formal bestimmt, außer es handelt sich um eine protokollarisch festgehaltene Besprechung. Die Entscheidung adressiert einen vom Text genannten Kreis. Die Entscheidung richtet sich nicht an jeden potentiellen Leser. Dies bedeutet, dass mit der Entscheidung Folgen für die jeweiligen Adressaten verbunden sind, weswegen sie direkt adressiert werden. Auch dies spricht für den formalen Charakter des Textes. Entsprechend der Gliederung der formulierenden Interpretation nach dem Relevanzsystem des Dokuments geht es mit der reflektierenden Interpretation darum, zu rekonstruieren, wie die einzelnen Abschnitte zueinander aufgebaut sind. Dafür wird jeweils eine kurze Beschreibung bzw. Zusammenfassung präsentiert, auf die dann die Interpretation folgt. Die einzelnen Schritte sind expliziert, um das Vorgehen nachvollziehbar zu erläutern. Der jeweilige Abschnitt ist aus dem Dokument kopiert, um das Material ungefiltert zu präsentieren. 1.Der organisationale Bezug: Dokumentkopf
Abbildung 10. Presidency 2009: Briefkopf.
Dieser Abschnitt umfasst drei Absätze: erstens das Logo, zweitens ab »Original« und drittens ab »The Presidency«. Das Logo im ersten Absatz lässt sich folgendermaßen beschreiben: Der Name des Gerichtshofs 213
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
steht dort auf Französisch und Englisch. Jedes Wort befindet sich in einer Zeile, der französische ist vom englischen Namen durch einen Strich getrennt. In der Mitte ist der Strich durch das Logo des Gerichtshofs unterbrochen. Das Logo ist eine von einem Lorbeerkranz gerahmte Waage. Im Hinblick auf die zweisprachige Bezeichnung des Gerichtshofs stellt sich die Frage, warum Französisch und Englisch gewählt wurden. Hierfür ist Hintergrundwissen erforderlich. Im Jahr 2020 sind die fünf meistgesprochenen Sprachen nach Sprechern Englisch 1.348 Millionen, Mandarin 1.120 Millionen, Hindi 600 Millionen, Spanisch 538 Millionen, Arabisch 274 Millionen, Bengali 268 Millionen und Französisch 267 Millionen (ethnologue 2021). Wenn der Gerichtshof mit dieser zweisprachigen Bezeichnung möglichst viele Personen erreichen möchte, liegt Englisch nahe. Französisch ist eine der meistgesprochenen Sprachen, allerdings würde Spanisch fast doppelt so viele Personen erreichen. Eine andere Erklärung ist, dass Englisch und Französisch die traditionellen Diplomatie- und Völkerrechtsprachen sind und der Gerichtshof sich an diesen gebräuchlichen Sprachen im internationalen Verkehr orientiert. Dies ist eine plausible Erklärung für die Sprachwahl. Als nächstes ist das Symbol der vom Lorbeerkranz umschlossenen Waage zu deuten. Der Lorbeerkranz ist ein Symbol für eine besondere Auszeichnung oder Ehre. Der Lorbeerkranz geht als Symbol auf die griechische und römische Mythologie zurück. Die runde Form stellt Vollkommenheit dar, während das Immergrün auf Unsterblichkeit verweist. In der Römischen Republik und dem späteren Römischen Imperium entwickelte sich der Lorbeerkranz zu einem Symbol für die Sieger der Schlachten und die Kaiser als Zeichen ihres Ruhms. Seitdem finden sich Darstellungen des Lorbeerkranzes, um Ehre, Ruhm und hervorgehobene Stellung zu markieren. Die Waage ist ein ebenso klassisches Symbol der antiken Mythologie Europas. Die römische Göttin Justitia hält eine Waage und symbolisiert damit die ausgleichende Gerechtigkeit. Die Waage der Justitia ist ein Symbol für das moderne europäisch geprägte Recht geblieben. Der Gerichtshof bedient sich dieser Symbolik und schreibt sich mit dem Lorbeerkranz eine hervorgehobene Stellung unter den Gerichten zu. Das vom Gerichtshof gesprochene Recht ist vollkommen (Lorbeerkranz) gerecht (Waage). Diese Symbolik lässt sich weiter ausdeuten, allerdings beruht sie auf der europäisch-westlichen Kultur. Dies traf bereits auf die Sprachwahl für die Bezeichnung des Gerichtshofs zu. Der Gerichtshof bedient sich nicht nur in sprachlicher Hinsicht, sondern auch in seiner Symbolik europäisch-westlicher Kultur. Aufgrund der vorausgegangenen Interpretation lässt sich der nächste Absatz bereits zügiger deuten. Das Dokument nennt als Originalsprache Englisch. Außerdem hat das Dokument eine Nummer und ist mit einem Datum versehen. Die Sprachwahl für die Originalfassung des Dokuments folgt daraus, dass der Gerichtshof sich an den europäisch-westlich 214
DIE SITUATION IN KENIA (1)
gesetzten Standards des internationalen Verkehrs orientiert und mit Englisch die größte Reichweite erzielt. Die Nummer und das Datum weisen das Dokument als Teil eines aktenförmigen Vorgangs aus, in dem Dokumente entsprechend sortiert und zugeordnet werden (können). Es ist dabei nicht eindeutig, ob es sich um eine Dokument- oder eine Vorgangsnummer handelt. Der letzte Absatz beginnt mit »THE PRESIDENCY« in der Mitte der Seite. Danach folgen drei Namen in jeweils einer Zeile, vor die Richter als Titel vorangestellt und die organisationsinterne Rollenbezeichnung als Präsident oder Vizepräsident nachgestellt ist. Die Personen sind demnach Richter am Gerichtshof und Teil des Präsidiums. Das Präsidium der IStGH besteht aus drei Personen, wobei der Präsident zwei Vertreter hat. Der Gerichtshof ist hierarchisch geordnet und hat mit der Rangordnung der Vertreter im Präsidium eine ausgedehnte Vertreterstruktur. Insgesamt weist der Kopf des Dokuments darauf hin, dass sich der Gerichtshof im internationalen Verkehr bewegt und sich dabei an den europäisch-westlich gewachsenen Standards orientiert. Das Dokument selbst ist Teil eines aktenförmigen Vorgangs innerhalb des Gerichtshofs, weil es das Logo trägt. Das Präsidium als mutmaßlich hierarchisch höchste Stelle des Gerichtshofs ist an diesem Vorgang beteiligt. 2. Präsupposition einer Situation: Dokumenttitel
Abbildung 11. Presidency 2009: Dokumenttitel.
In der Mitte zentriert steht »SITUATION IN THE REPUBLIC OF KENYA«. Es handelt sich um die örtliche Angabe einer Situation auf dem Staatsgeiet Kenias. Nach dem Kasten ist das Dokument öffentlich. Darunter steht, dass es sich um eine Entscheidung handelt, die Situation in der Republik Kenia an die Vorverfahrenskammer II zu überweisen. Die Situation in der Republik Kenia steht in der ersten Zeile ohne Artikel, später wird der bestimmte Artikel verwendet. Es handelt sich demnach um eine eindeutige Bezeichnung einer konkreten Lage vor Ort, mit der bestimmte Verhältnisse und Ereignisse verbunden sind. Über die staatliche und territoriale Verknüpfung hinaus fehlt für den Leser allerdings 215
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
eine Beschreibung, um die Bestimmtheit der Situation nachzuvollziehen. Der Text setzt dieses Wissen bei seinen Lesern voraus. Die Situation in Kenia ist ein eigenständiger Sachverhalt, der überwiesen, behandelt und anderweitig gehandhabt werden kann. Auch dies spricht für die eindeutige Bestimmtheit der Situation, damit sie als ein solcher Gegenstand erscheint. Es ist denkbar, dass es andere Situation mit anderer staatlicher Zuordnung gibt. Daher ist die Situation womöglich noch durch weitere, allgemeine Merkmale definiert. In diesem Verständnis ist eine Situation einerseits ein vom IStGH behandelbarer Gegenstand und andererseits mit konkreten Verhältnissen und Ereignissen vor Ort verknüpft. Mit Blick auf das zuvor genannte Präsidium scheint dieses die Entscheidung darüber zu treffen, die Situation in Kenia an die Vorverfahrenskammer II zu überweisen. Wenn es eine Vorverfahrenskammer gibt, so ist auch eine Hauptverfahrenskammer zu vermuten. Bevor diese beiden Kammern aufeinanderfolgend aktiv werden können, muss das Präsidium die jeweilige Situation an die Vorverfahrenskammer überweisen. Daher nimmt das Präsidium die Situation erst zur Kenntnis und leitet dann erst das Gerichtsverfahren ein. Dies wirft die Frage, wie die Situation so bestimmt sein kann, wenn sie von außerhalb des Gerichtshofs erst an das Präsidium herangetragen wird. Die Situation könnte aber auch in diesem Vorverfahren so bestimmt werden, dass der Gerichtshof sie im Hauptverfahren behandeln kann. Dies wäre eine mögliche Erklärung dafür, dass es ein Vorverfahren braucht. Die Bezeichnung als Situation könnte eine Präsupposition sein: Der Begriff »Situation« trägt implizite Bedingungen mit sich, die erfüllt sein müssen, damit es überhaupt eine Situation in Kenia geben kann. Dann wäre die Spezifizierung auf Kenia oder auf einen anderen Staat austauschbar. Aufgrund dieser Präsupposition kann der Präsident so tun, als ob es sich um eine Situation handelt. Das Präsidium überweist demnach die Situation an die Vorverfahrenskammer, um zu überprüfen, ob es sich um eine Situation handelt. Diese Überlegung lässt sich mit dem bereits zuvor ausgeführten Situationsbegriff (Viertes Kapitel: III.) vertiefen. Es handelt sich um einen Rechtsbegriff des Völkerstrafrechts, der allerdings nicht rechtlich definiert ist. Er ergibt sich aus des Verfahrensablauf vom Vorverfahren über die Ermittlungen zur Klage. Erst in den Ermittlungen kann der Ankläger individuelle Verbrechen zu Fällen differenzieren. Bis dahin bezieht sich das Vorverfahren nur auf die Situation, denn die Ermittlungen folgen noch, um Beweise für individuelle Verbrechen zu erheben. Demnach wird mit dem Situationsbegriff der Orientierungsrahmen für das weitere Verfahren aufgesetzt. Die Situation als Rechtsbegriff des Völkerstrafrecht grenzt Ereignisse in einem Staat ein und setzt sie als behandelbaren Gegenstand für Verfahren des IStGH. Deshalb handelt es sich um mit dem Situationsbegriff um eine Präsupposition. Die Situation muss 216
DIE SITUATION IN KENIA (1)
unterstellt werden, um sie im Vorverfahren behandeln zu können, aber erst im Vorverfahren kann geprüft werden, ob es sich um eine Situation handelt, in der dann Ermittlungen folgen können. Für das Vorverfahren bedeutet dies, dass die Vorverfahrenskammer entweder feststellt, dass die Situation in einem Staat eine Situation ist oder es nie war. Die von der Vorverfahrenskammer zu fällende Entscheidung ist ein paradoxes Dilemma zwischen Tautologie und Widerspruch. Wenn die Kammer entscheidet, dass die Situation in Kenia eine Situation ist, hat sie im Verfahren einen Sachverhalt überprüft, von dem schon vorausgesetzt war, dass es eine Situation ist – Tautologie. Falls sich die Kammer dafür entscheidet, dass es keine Situation ist, dann setzt sie sich in Widerspruch mit ihrer eigenen Vorannahme, dass es eine vom Gerichtshof behandelbare Situation ist. Die Kammer hat im letzten Fall die Situation wie eine Situation behandelt hat, obwohl die Situation die Voraussetzungen einer Situation gar nicht erfüllt hat und damit nicht als Situation behandelt werden konnte. Das Vorverfahren ermöglicht, mit diesem paradoxen Dilemma umzugehen, weil das Verfahren darauf gründet, als ob es eine vom Gerichtshof behandelbare Situation in einem Staat gäbe. Um von diesem Als-ob zur sozialen Wirklichkeit zu gelangen, stellt der Ankläger den Antrag, Ermittlungen in einer Situation einzuleiten. Er offeriert die Deutungsvariante, dass es sich bei bestimmten Ereignissen um eine Situation handelt. Die Vorverfahrenskammer prüft im Anschluss daran die Bedingungen der Situationsdefinition und entscheidet dann, ob die Deutung des Anklägers (als ob die Ereignisse eine Situation wären) zutrifft. Hinter dem Situationsbegriff verbirgt sich der generative Prozess vom Als-ob zur Entfaltung in der sozialen Wirklichkeit und damit die generative Regel für das Vorverfahren sowie alle Verfahren des IStGH. Im Hinblick auf die bisherigen theoretischen Annahmen lassen sich weitere Schlussfolgerungen ziehen: Wenn mit dem Situationsbegriff der Übergang vom Als-ob zur sozialen Wirklichkeit einher geht, handelt es sich um einen Prozess emergenter Strukturbildung. Das Verfahren beruht auf Bedingungen, die im Verfahren erst zum Teil der sozialen Wirklichkeit werden. Mit den im Verfahren aufgerufenen Bedingungen definiert der Gerichtshof die Situation und lässt sie so erst entstehen, obwohl die Situation in Kenia den Ausgangspunkt für das Verfahren bildet. Die mit dem Situationsbegriff verknüpfte generative Regel zeigt, wie sich auf der Ebene der Verfahren die Struktur internationaler Strafverfolgung ausbildet. Mit diesem Prozess geht auch die Makrodetermination als zweiter Teilprozess der Institutionalisierung der Struktur internationaler Strafverfolgung einher. Wenn es sich bei der Situation um eine Präsupposition handelt, dann determinieren die impliziten Bedingungen das Verfahren. Es handelt sich um das Völkerstrafrecht und weitere in der Geschäftsordnung enthaltene organisationale Entscheidungsregeln, die selbst aus dem Prozess der Institutionalisierung auf einer der anderen Ebenen hervorgegangen sind. 217
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
Die vorangegangene Überlegung führt zu folgender Hypothese über die Struktur des Vorverfahrens: Das Vorverfahren präsupponiert eine Situation in einem Staatsgebiet und rekonstruiert gleichzeitig diese Situation nach dem Völkerstrafrecht bis zur Entscheidung der Vorverfahrenskammer. Einerseits handelt es sich um einen Vorgang emergenter Strukturbildung, weil das Verfahren den Übergang vom Als-ob zur sozialen Wirklichkeit der Situation organisiert. Andererseits ist der Situationsbegriff makrodeterminiert und entsteht nicht erst im Verfahren, sondern ist diesem vorausgesetzt. Die nachfolgende Textinterpretation dient dazu, diese Überlegung zu prüfen und dahingehend zu erweitern, wie diese mutmaßliche Institutionalisierung im konkreten Verfahren abläuft. Das für das Vorverfahren bereits dargestellte Völkerstrafrecht regelt damit nicht nur, wie das Verfahren in formaler Hinsicht abläuft. Darüber hinaus gibt das Recht in soziologischer Perspektive einen Einblick, wie normative Erwartungen in der bzw. zur sozialen Wirklichkeit entfaltet werden. 3. Adressaten
Abbildung 12. Presidency 2009: Adressaten.
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DIE SITUATION IN KENIA (1)
Dieser Abschnitt gibt nach Vorschrift 31 der Geschäftsordnung des Gerichtshofs an, welchen Stellen die Entscheidung des Präsidiums mitzuteilen ist. Die Seite ist mit einem Strich unterteilt, der gleichzeitig das Wort »Registry« unterstreicht. Auf der oberen Hälfte nennt das Dokument als erstes das Büro des Anklägers mit zwei Namen entsprechend ihrer Stellenbezeichnung wie beim Präsidium im Dokumentkopf. Das Büro für die öffentliche Beratung der Opfer steht eigenständig unter dem Büro des Anklägers und neben dem Büro für die öffentliche Beratung der Verteidigung. Unter diesem Strich sind verschiedene Abteilungen und Bereiche sowie die Vorverfahrenskammer II unter dem Punkt »Other« genannt. Die Interpretation beginnt auf der Textebene. Darauf folgt die zuvor aufgeworfene Hypothese als weitere Interpretationsebene. Die Verfahrensvorschrift regelt, wie das Dokument verteilt wird und gewährleistet damit, dass bestimmte Stellen einbezogen sind, um sich in Bezug zu dieser Entscheidung zu setzen oder auf ihrer Grundlage handeln zu können. Die drei Büros auf der oben Seitenhälfte repräsentieren Ankläger, Opfer und Angeschuldigten. Dies sind die drei Hauptbeteiligten eines Strafverfahrens. Daneben stehen das Präsidium des Gerichtshofs, Vorverfahrenskammer und Hauptverfahrenskammer und bieten einen organisationalen Rahmen für mögliche Strafverfahren. Die Staatenvertreter stehen im Plural. Dies weist daraufhin, dass nicht nur Kenia als betroffener Staat informiert wird. Allerdings ist noch nicht klar, welche anderen Staaten gemeint sein könnten. Sonst sind die Vertragsstaaten denkbar. Die Kanzlei besteht nach der unteren Seitenhälfte vermutlich aus den genannten Abteilungen und Bereichen. Diese Untergliederung macht weitreichende Funktionen des Gerichtshofs über die zuvor genannten Büros deutlich. Neben den Opfern sind auch die Zeugen aufgelistet. Für die Opfer gibt es eine gesonderte Abteilung für ihre Teilnahme und Reparationen. Auch den Gewahrsam organisiert die Kanzlei. Während die oben genannten Büros als Beratungsstellen und zueinander unabhängige Instanzen erscheinen, sind die Abteilungen und Bereiche als Teil der Kanzlei vermutlich dafür verantwortlich, dass Verfahren zu veranstalten und alle verwaltungstechnischen Aufgaben zu erledigen. Wie verhält sich dieser Abschnitt zur Präsupposition der Situation und darauf aufbauend zur Institutionalisierung der Struktur internationaler Strafverfolgung? Der erste Bezug zur Präsupposition der Situation fragt nach dem dokumentinternen Anschluss, der zweite Bezug zur Institutionalisierung bereitet die Generalisierung bzw. Typenbildung vor. Das Präsidium setzt das Verfahren in Gang, indem es seine Entscheidung an die verschiedenen Stellen im Gerichtshof verteilt. Wenn mit der Präsupposition als Situation die Lage in Kenia erfasst ist, dann müssen die Stellen des Gerichtshofs entsprechend ihren Verantwortlichkeiten und Aufgaben tätig werden. Aus der Präsupposition als Situation folgt, dass die zuständigen Stellen die Lage in Kenia als Situation behandeln und damit die impliziten 219
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
Bedingungen für eine Situation für ihre Arbeit ebenfalls voraussetzen. Darüber hinaus wird die Situation zum Gegenstand eines mit diesem Dokument angestoßenen Verfahrens und damit Teil der sozialen Wirklichkeit. Die adressierten Stellen gehen davon aus, dass es eine Situation in Kenia gibt und handeln dementsprechend. Dies ist besonders deshalb plausibel, weil die Kanzlei vermutlich als ausführendes Verwaltungsorgan des Gerichtshofs dient und damit die Entscheidung des Präsidiums umsetzt, aber nicht die Kompetenz hat, eine gegenteilige Entscheidung zu fällen. Dies hat Auswirkungen auf die Institutionalisierung: Die verschiedenen Stellen des Gerichtshofs derart einzubinden, vernetzt sie unterei nander und trägt damit zur Strukturbildung bei. Die Situation wird zum gemeinsamen Bezugspunkt der verschiedenen Stellen des Gerichtshofs. Es ist anzunehmen, dass für den Umgang mit Situationen und die Veranstaltung von Verfahren Routinen vorhanden sind. Daher setzt die Informationspflicht nach der Geschäftsordnung den makrodeterminierten Teil des Vorverfahrens in Gang. Die verschiedenen Stellen können ihre Arbeit in Erwartung einer Situation aufnehmen. Gleichzeitig ist die Situation in Kenia noch nicht inhaltlich bestimmt. Die situationsspezifische Struktur des Vorverfahrens muss erst noch aufgebaut werden. Aufgrund dieser Offenheit des Verfahrens werden so viele Stellen des Gerichtshofs von vornherein adressiert. So kann sich das Verfahren an jede mögliche Spezifizierung der Situation anpassen. 4. Entscheidung des Präsidiums Dem Relevanzsystem des Dokuments wie bisher folgend lohnt es sich, nach den Absätzen zu gliedern, zwischen denen über eine Standardzeile Platz gelassen wurde. Dies deutet auf eine Trennung von Sinnabschnitten hin, die der Text selbst vornimmt. Entsprechend der bisherigen Darstellung folgen nach jedem Absatz erst eine kurze Beschreibung und dann die Interpretation.
The Presidency of the International Criminal (“Court”) Abbildung 13. Presidency 2009: Abs. 1.
Der erste Absatz setzt das Präsidium des IStGH in einen unvollständigen Satz. Womöglich aktualisiert das Präsidium sich als Sprecher bzw. Entscheider, nachdem der Text Empfänger und Adressaten der Entscheidung genannt hat. Wenn dies der Auftakt des Verfahrens ist, dann ergibt es Sinn, dass das Präsidium sich gegenüber den zuvor genannten Adressaten als Entscheidungsinstanz voranstellt. 220
DIE SITUATION IN KENIA (1)
Abbildung 14. Presidency 2009: Abs. 2.
Der nächste Absatz hält ein Schreiben des Anklägers vom 5. November 2009 fest, welches den Präsidenten entsprechend Vorschrift 45 der Geschäftsordnung informiert, dass 1. der Ankläger zu dem Schluss gekommen ist, dass eine hinreichende Grundlage vorhanden ist, um in der Situation in Kenia im Zusammenhang mit der Gewalt nach der Wahl 2007–2008 zu ermitteln, 2. der Ankläger die Absicht hat, auf der Grundlage von Art. 15 III RS um die Genehmigung einer Ermittlung zu bitten. Der Ankläger und Präsident treten als individuierte Rollenbezeichnung und nicht mehr als Stelle (Präsidium, Büro des Anklägers) auf. Die Vorschrift bezieht sich daher auf die Pflichten der Rollen, die nicht allgemein von der Organisationsstelle übernommen werden sollen oder können. Nach dem Text legt die Vorschrift 45 der Geschäftsordnung einen weiteren Verfahrensschritt fest: Der Ankläger informiert den Präsidenten, der daraufhin entscheidet, ob er die jeweilige Situation an eine Vorverfahrenskammer weiterleitet. Die Initiative für das Verfahren scheint daher vom Ankläger auszugehen. Der Blick in die Vorschrift 45 zeigt, dass der Ankläger das Präsidium zu informieren hat, wenn ein Staat Ermittlungen in einer Situation wünscht oder der Ankläger aus eigenem Antrag Ermittlungen anstrebt. Demnach trifft die Vermutung zu, dass der Präsident das Verfahren im Gerichtshof in Gang setzt, um mit der Zuschreibung als Situation in einem Staat umzugehen. Damit das Präsidium aktiv werden kann, muss der Ankläger das Präsidium informieren und hierfür gibt der Text zwei Gründe an. Als erstes nennt der Text eine hinreichende Grundlage für Ermittlungen in der Situation in Kenia und greift damit den Wortlaut aus Art. 15 III RS auf: »If the Prosecutor concludes that there is a reasonable basis to proceed with an investigation, he or she shall submit to the Pre-Trial Chamber a request for authorization of an investigation«. Die beiden Gründe sind demnach über den Bezug auf Art 15 III RS miteinander 221
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verknüpft. Die beiden Punkte ziehen den Bedingungssatz des Artikels auseinander, indem 1. aussagt, dass eine hinreichende Grundlage für die Situation in Kenia vorliegt, ist die Wenn-Seite erfüllt. Daraus folgt mit 2. die Absicht des Anklägers, die Genehmigung von Ermittlungen bei der Vorverfahrenskammer zu erbitten. Allerdings lässt der Text offen, was unter der hinreichenden Grundlage zu verstehen ist. Der Artikel führt dessen Tatbestandsmerkmale nicht aus. Auf den Tatbestand der hinreichenden Grundlage kommt es jedoch für die Aufnahme von Ermittlungen an. Daher ist zu vermuten, dass sich hinter diesem Tatbestand die Merkmale bzw. Bedingungen verbergen, nach denen eine Situation definiert ist. Aus dem Material lassen sich bereits die Vermutungen auf der Ebene des Vorverfahrens unterstreichen. Der Ankläger arbeitet voraussichtlich die Tatbestandsmerkmale in seinem Antrag ab, um aufzuzeigen, dass es sich bei der Gewalt nach der Wahl 2007–2008 in Kenia um eine Situation handelt, in der der Gerichtshof ermitteln sollte. Die hinreichende Grundlage ist das Vehikel dafür, von einer Situation ausgehen zu können, um Ermittlungen einzuleiten. Das Vorverfahren verlagert die Frage, ob es sich um eine Situation handelt, auf die Frage, ob eine hinreichende Grundlage vorhanden ist. Dies unterstützt die Vermutung, dass es sich bei der Situation um eine Präsupposition handelt. Die Situation bleibt vorausgesetzt, allerdings breitet der Ankläger die Gründe dafür aus, dass ermittelt werden sollte. Die hinreichende Grundlage bildet einen Begründungszusammenhang von Präsupposition einer Situation zur Aufnahme von Ermittlungen. Sie ist die juristische Argumentationsfigur, die zwischen der stillschweigenden Voraussetzung einer Situation ex post und der Entscheidung, Ermittlungen aufzunehmen, ex ante vermittelt. Ex post nimmt der Ankläger für das Vorverfahren an, dass es eine Situation vorliegt und damit die hinreichende Grundlage für Ermittlungen. Ex ante ist die Entscheidung darüber noch nicht gefallen, obwohl die Situation vorausgesetzt wird. Mit der hinreichenden Grundlage als juristischer Argumentationsfigur kann im Verfahren die Entscheidung über Ermittlungen als offen dargestellt werden, obwohl bereits die Annahme besteht, dass es sich um eine Situation handelt. Diese Kommunikationsfigur vermittelt den Übergang vom Als-ob zur sozialen Wirklichkeit und verweist damit auf Strukturbildung. Der Präsident des Gerichtshofs gibt dem Vorverfahren mit der Vorschrift 45 der Geschäftsordnung die Richtung, dass der Ankläger und die Vorverfahrenskammer den Begründungszusammenhang über die Figur der hinreichenden Grundlage herstellen und dies entscheidungsförmig festhalten. Der Präsident entscheidet dabei nicht selbst über diesen Ablauf, aber er setzt ihn um bzw. das Verfahren in Gang. Dementsprechend schließt sich der folgende Abschnitt an: 222
DIE SITUATION IN KENIA (1)
Abbildung 15. Presidency 2009: Abs. 3.
Der Präsident ruft die Verpflichtung des Präsidiums nach Vorschrift 46.2 der Geschäftsordnung auf, eine Situation an eine Vorverfahrenskammer zu überweisen, wenn der Ankläger Vorschrift 45 der Geschäftsordnung einhält. Es handelt sich um einen Bedingungssatz für die Entscheidung des Präsidenten, die Situation in Kenia an die Vorverfahrenskammer zu überweisen. Die Bedingung beinhaltet den Verweis auf die im vorherigen Absatz genannte Vorschrift 45 der Geschäftsordnung. Zwischen den Absätzen entsteht mit diesem Verweis ein Zusammenhang. Der vorherige Absatz füllt den hier formulierten Bedingungssatz inhaltlich: Wenn der Ankläger dem Präsidenten mitteilt, dass er 1. von einer hinreichenden Grundlage in einer Situation ausgeht und 2. beabsichtigt, um die Genehmigung von Ermittlungen zu bitten, dann soll der Präsident die Situation an eine Vorverfahrenskammer überweisen. Die Vorschriften der Geschäftsordnung schaffen einen prozeduralen Verweisungszusammenhang, an dem sich der Präsident abarbeitet. Der vorherige Absatz hat dem Verfahren eine Richtung gegeben, dieser Absatz setzt die Bedingung dafür, dass Verfahren in Gang zu setzen. Dies weckt die Erwartungshaltung, dass der Präsident diesen Entschluss formuliert.
Abbildung 16. Presidency 2009: Abs. 4.
Dieser Absatz ruft eine vorausgegangene Entscheidung wieder auf, nach der die Zusammensetzung der Vorverfahrenskammer II bestimmt ist. Die Vorverfahrenskammer II ist die Adressatin, an die die Situation in Kenia überwiesen werden soll. Im Hinblick auf den vorherigen Absatz war sie die einzig unbestimmte. Daher weist der Präsident darauf hin, an welche Vorverfahrenskammer er die Situation überweist, wenn die zuvor vorgestellte Bedingung aus Vorschrift 46.2 der Geschäftsordnung erfüllt ist. Über dieses Dokument hinaus macht das Datum deutlich, dass die Vorverfahrenskammer keine für die Situation in Kenia eingerichtete Kammer ist, sondern grundsätzlich zum Gerichtshof gehört. Das Datum der Neuzusammensetzung vom 29. April 2009 geht diesem Dokument ein halbes Jahr voraus. Demnach handelt es sich hierbei vermutlich um routinisierte Abläufe, die für andere Situation ebenfalls so ablaufen. 223
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
Abbildung 17. Presidency 2009: Abs. 5.
Mit dem »Hereby« leitet dieser Absatz die Entscheidung ein, dass der Präsident die Situation in Kenia an die Vorverfahrenskammer II überweist. Das »Hereby« setzt die vorausgehenden Absätze für die Entscheidung voraus und bietet die Entscheidung als Folgerung aus dem Bedingungssatz aus Vorschrift 46.2 der Geschäftsordnung des Gerichtshofs an. Die Entscheidung wiederholt sprachlich den Titel des Dokuments. Für das weitere Vorverfahren rückt voraussichtlich die hinreichende Grundlage nach Art. 15 III RS in den Vordergrund. Sowohl im Antrag des Anklägers als auch in der Entscheidung der Vorverfahrenskammer ist zu erwarten, dass der Begründungszusammenhang zwischen der Situation und Ermittlungen in der Situation hergestellt wird.
Abbildung 18. Presidency 2009: Unterschrift.
Dieser abschließende Absatz wiederholt die Mehrsprachigkeit aus dem Dokumentkopf und bestätigt wie oben die englische Version als maßgeblich. Darüber hinaus zeigt er die Unterschrift des Präsidenten und Datum sowie Ort der Unterschrift. Die Sprachwahl war bereits im ersten Absatz thematisiert worden. Im ersten Absatz erschien es plausibel, dass Englisch und Französisch gewählt wurden, um sich an den Standard des Völkerrechts und der Diplomatie 224
DIE SITUATION IN KENIA (1)
anzupassen. Allerdings überrascht es, dass es scheinbar keine Version in der Landessprache Kenias Swahili gibt. Dies vertieft den Eindruck eines vorwiegend europäisch-westlich orientierten und geprägten Gerichtshofs und eine Distanz zur Situation in Kenia als vorliegendem Sachgegenstand. Dies schließt den Kreis zum Anfang des Dokuments und leitet insofern dazu über, die Ergebnisse zu formulieren und die generative Regel für die komparative Analyse der weiteren Dokumente herauszuarbeiten. 5. Zwischenfazit: Verfahrensauftakt Die Analyse zielt darauf ab, eine generative Regel herauszuarbeiten, die auf das gesamte Vorverfahren anwendbar ist. Nach der dokumentarischen Methode ermöglicht dies die Typenbildung, indem die Analyseergebnisse aus diesem Dokument in Vergleich zu den Folgedokumenten gesetzt werden. Die generative Regel ist das tertium comparationis der Dokumente, das erläutert, wie diese Dokumente das Vorverfahren vorantreiben. Begrifflich genügt es, weiterhin von der generativen Regel zu sprechen. Allerdings lohnt es sich, die komparative Analyse der dokumentarischen Methode zu nutzen, um die Analyseergebnisse für das Vorverfahren zu generalisieren. Für diese komparative Analyse werden die Analyseergebnisse dieses Dokuments vom Material ausgehend über die textinternen Anschlüsse bis hin zu einer theoretisch fundierten Regel aggregiert. Die Gliederung des Dokuments nach dem textinternen Relevanzsystem hat ein formales Dokument nahegelegt. Die Entscheidung des Präsidenten, die Situation in Kenia an die Vorverfahrenskammer II zu überweisen, beruht auf verschiedenen Vorschriften der Geschäftsordnung des IStGH und dem Römischen Statut. Der Dokumentkopf, -titel und die Entscheidung des Präsidenten bauen aufeinander auf und bieten einen Orientierungsrahmen für den jeweiligen Folgeabschnitt. Der Dokumentkopf zeigt, in welchem organisatorischen Rahmen das Verfahren veranstaltet wird. Das Präsidium ist Indikator für eine hie rarchische Organisation. Darüber hinaus enthält der Dokumentkopf Hinweise darauf, dass sich der Gerichtshof an den traditionellen Verkehrssprachen des Völkerrechts und der Diplomatie orientiert, weil er Englisch und Französisch verwendet. Zusammen mit der Symbolik der im Lorbeerkranz gerahmten Waage scheint der Gerichtshof europäischwestlich geprägt zu sein. Daraus entsteht eine Distanz zum Verfahrensgegenstand der Situation in Kenia, die sich ebenfalls darin zeigt, dass die Landessprache Swahili nicht verwendet wird. Diese Distanz spiegelt sich auch im Dokumenttitel wider. Die Situation in Kenia ist nicht bestimmt, allerdings behandelt der Präsident sie als überweisungsfähigen Gegenstand, als ob die Situation in Kenia bestimmt sei. Im weiteren Verlauf des Dokuments scheint sich die Situation um die 225
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Gewalt nach den Präsidentschaftswahlen 2007–2008 zu drehen. Die Situation ist eine Präsupposition. Mit ihr gehen stillschweigende Voraussetzungen einher, die erst im Ermittlungsverfahren geprüft werden können. Daraus folgt eine formalrechtliche Begründung der Entscheidung des Präsidenten, die Situation in Kenia an die Vorverfahrenskammer II zu überweisen. Materiellrechtliche Argumente müssten aus den Ereignissen herausgebildet werden. Dies kann der Präsident nicht und ruft deshalb Informationspflichten aus der Geschäftsordnung auf. Dies hat einen Einblick in den Ablauf des Verfahrens geboten, das hier seinen Auftakt nimmt. Der Ankläger hat Informationen gesammelt, die eine hinreichende Grundlage bieten, um mit Ermittlungen fortzufahren. Aus diesem Grund informiert er den Präsidenten über seine Absicht. Der Präsident überweist die Situation an die Vorverfahrenskammer, damit diese darüber entscheiden kann, ob der Ankläger Ermittlungen aufnehmen darf. Nach den Ermittlungen ist zu vermuten, dass das Hauptverfahren gegen Straftäter beginnt. Allerdings ist noch unklar, worum es in diesem Verfahren geht. Die Situation in Kenia ist ein allgemeiner Ausdruck, der inhaltlich nur über die Gewalt nach der Präsidentschaftswahl 2007–2008 bestimmt ist. Der Präsident behandelt die Situation in Kenia wie einen Gegenstand, den er überweisen kann. Dies legt nahe, dass die Situation eine Konstruktion ist, um Ereignisse und ihre Verkettung zu erfassen und zu einem im Verfahren behandelbaren Gegenstand zu machen. Daher ist eine nähere Bestimmung der Situation in Kenia erst im weiteren Verfahrensverlauf zu erwarten. Der Ankläger und die Vorverfahrenskammer müssen die Grenzen für die Situation setzen, in der der Ankläger ermitteln will/soll. In diesem Verfahrensabschnitt konstruiert der Gerichtshof mit seinen verschiedenen Stellen (Präsident, Ankläger, Vorverfahrenskammer, …) die Situation. Gleichzeitig ist die Zuschreibung der Gewalt nach der Wahl 2007– 2008 in Kenia als Situation präsupponiert. Die Situation stellt auf der hinreichenden Grundlage nach Art. 15 (3) RS den Begründungszusammenhang dar, um Ermittlungen einzuleiten. Einerseits ist die Situation vorausgesetzt, damit der Gerichtshof einen behandelbaren Gegenstand hat. Andererseits wird die Situation nach den Kriterien der hinreichenden Grundlage erst im Verfahren konstruiert, um ein behandelbarer Gegenstand zu sein. Das Vorverfahren überführt die präsupponierte Struktur in die soziale Wirklichkeit, indem es sie zur hinreichenden Grundlage für die Ermittlungen des Gerichtshofs macht. Von dieser Hypothese ausgehend bestimmen die folgenden Dokumente (Antrag des Anklägers, um Ermittlungen einzuleiten, und Entscheidung der Vorverfahrenskammer) die Situation in Kenia und begründen unter dem Begriff der hinreichenden Grundlage, ob Ermittlungen eingeleitet werden oder nicht. Das Vorverfahren gestaltet den Übergang vom Als-ob zur sozialen Wirklichkeit der Struktur internationaler Strafverfolgung. Die Ermittlungen können dann in diesem Ordnungsrahmen stattfinden. 226
DIE SITUATION IN KENIA (2)
In dieser Institutionalisierungsperspektive markiert der Situationsbegriff beide Seiten des Prozesses. Einerseits etabliert das Vorverfahren situationsbezogene Strukturen. Andererseits ist es durch die Organisation (Hierarchie und Vorschriften der Geschäftsordnung) und durch die Weltgesellschaft (Völkerstrafrecht und diplomatischer Verkehr) makrodeterminiert. Dass im weiteren Vorverfahren bis zur Entscheidung durch die Vorverfahrenskammer die hinreichende Grundlage für Ermittlungen geprüft wird, entfaltet die beiden Prozesse. Mit den Kriterien der hinreichenden Grundlage können der Ankläger und die Vorverfahrenskammer das Völkerstrafrecht in Anschlag bringen, dass das den rechtlichen Rahmen für das weitere Verfahren bildet. Diese Makrodetermination ist gleichzeitig davon begleitet, dass der erst noch zu erfassende Gegenstand des Verfahrens Anpassungen erfordert. Das Verfahren arbeitet auf die Entscheidung der Vorverfahrenskammer hin und fixiert damit die Institutionalisierung der Struktur internationaler Strafverfolgung. Die im Verfahren erarbeitete Entscheidung zur Institutionalisierung der Struktur internationaler Strafverfolgung wird zur Prämisse für das weitere Verfahren. Diese Hypothese umreißt das Verfahren generell, ohne jedoch mit diesem Dokument konkret beantworten zu können, wie das Verfahren den Übergang vom Als ob zur sozialen Wirklichkeit der Struktur internationaler Strafverfolgung gestaltet. Diese Antwort lässt sich im Antrag des Anklägers aufspüren und in der Entscheidung der Vorverfahrenskammer bestätigen, wenn Ankläger und Vorverfahrenskammer den Tatbestand der hinreichenden Grundlage auslegen.
III. Die Situation in Kenia (2): Antrag des Anklägers, Ermittlungen einzuleiten Der Antrag des Anklägers folgt auf die Entscheidung des Präsidenten, die Situation in Kenia an die Vorverfahrenskammer zu überweisen. Die Entscheidung des Präsidenten hatte diesen Antrag bereits angekündigt und für die weitere Analyse die Frage aufgeworfen, wie das Als-ob der Situation zur sozialen Wirklichkeit wird. Mit dieser materialnah gestellten Frage ist die Vermutung verbunden, dass sich damit die Institutionalisierung der Struktur internationaler Strafverfolgung vollzieht. Im Fokus steht aufgrund des vorangegangenen Dokuments die juristische Prüfung des Tatbestands der hinreichenden Grundlage aus Art. 15 III RS und die mit ihm verknüpften Tatbestandsmerkmale aus Art. 53 I (a)-(c) RS. Die Analyse des Antrags beginnt wie zuvor damit, aus der Gliederung des Dokuments das Relevanzsystem des Textes herauszuarbeiten. Die Darstellung der Interpretation orientiert sich daran. Allerdings wird das Material nicht vollständig präsentiert, um die Lesbarkeit und Übersichtlichkeit 227
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
zu garantieren. Der Antrag des Anklägers ist insgesamt 42 Seiten lang und hat über 114 nummerierte Absätze. Auf diese nummerierten Textstellen wird folgendermaßen verwiesen: (12). Vor der Absatznummerierung wird der Antrag als Quellenbeleg Prosecutor 2009: X zitiert. Der permanente Link zum Dokument ist im Quellen- und Literaturverzeichnis darunter hinterlegt. Der Antrag des Anklägers lässt sich zunächst, wie die Entscheidung des Präsidenten, nach Dokumentkopf, Dokumenttitel und Adressaten gliedern. Danach weist der Text eine explizite Gliederung anhand von Überschriften auf, die ab der Einleitung explizit nummeriert sind:
Abbildung 19. Antragsgliederung.
Beim Antrag des Anklägers scheint es sich ebenso um ein formales Dokument wie bei der Entscheidung des Präsidenten zu handeln. Darüber hinaus grenzt die eigenständige Textgliederung die Absätze thematisch ein. Anhand der Reihenfolge der Abschnitte ist zu vermuten, dass der Ankläger zunächst mit dem Verfahrensverlauf (II.), dem Hintergrund (III.) und 228
DIE SITUATION IN KENIA (2)
der Auswertung der Informationen (IV.) einen allgemeinen Rahmen setzt. Daraufhin prüft er die formalrechtlichen Bedingungen aus Art. 53 I RS der Gerichtsbarkeit (a), der Zulässigkeit (b), das Interesse der Gerechtigkeit (c) und die materiellrechtlichen Bedingungen für Verbrechen innerhalb der Gerichtsbarkeit (hier Art. 7 RS Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Dies bietet die Grundlage, um die Genehmigung zu erbitten. Die Kategorisierung der Abschnitte in der Abbildung 9 beruht auf einer inhaltlichen Kenntnis der Abschnitte. Sie folgt jedoch auch aus der vorgeschlagenen Hypothese. Unter der Annahme, dass Dokumentkopf und Titel sowie die Adressaten gleichbleibend sind, ist die gleiche Hypothese wie im vorherigen Dokument anzubringen. Der Antrag des Anklägers beginnt dann wie die Entscheidung des Präsidenten unter den gleichen Bedingungen. Diese Bedingungen gehen dem Vorverfahren voraus. Die bisherigen Verfahrensschritte, der Ereignisverlauf, der zu diesem Verfahren geführt hat, und die Quellen bieten den Hintergrund für das Vorverfahren, der angibt, worum es in diesem Verfahren geht. Sie ermöglichen die emergente Strukturbildung anhand des Verfahrensgegenstands zu einer eigenständigen Verfahrensgeschichte. Die darauffolgenden formalrechtliche Bedingungen legen die Grenzen der Situation fest. So kann der Ankläger beschreiben, worüber der Gerichtshof die Gerichtsbarkeit in der Situation in Kenia ausüben soll, ob dies zulässig ist und im Inte resse der Gerechtigkeit liegt, in dieser Situation Ermittlungen einzuleiten. Danach folgt die materiellrechtliche Frage, ob Verbrechen innerhalb der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs begangen wurden. Die Gerichtsbarkeit ist für die materiellrechtliche Frage vorausgesetzt. Daher kann der Antrag nur in dieser Reihenfolge aufgebaut sein. Es handelt sich um einen pfadabhängigen Konstruktionsprozess der Situation, in der erst die Struktur internationaler Strafverfolgung über die formalrechtlichen Bedingungen die Situation in Kenia zur sozialen Wirklichkeit machen und aus ihrem weiteren Kontext herauslösen. Im weiteren Verfahren verselbstständigt sich die Situation als Gegenstand des Verfahrens in einzelne Fälle, innerhalb derer der Gerichtshof Urteile fällen kann. 1. Dokumentkopf, -titel und Adressaten Die zuvor analytisch getrennten Abschnitte Dokumentkopf, -titel und Adressaten lassen sich in einem Abschnitt zusammenziehen, weil sie sich kaum vom vorherigen Dokument unterscheiden. Die Interpretation des Dokumentkopfs bleibt für Name, Logo, Sprache unverändert. Die Nummer auf dem Dokument ist dieselbe wie bei der Entscheidung des Präsidenten. Dies kann auf eine Verfahrensnummer hinweisen und schließt aus, dass die Dokumente im Einzelnen nummeriert sind. Der Ankläger stellt den Antrag 20 Tage nach der Entscheidung des Präsidenten, die 229
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Situation an die Vorverfahrenskammer II zu überweisen. Dies weist auf einen inhaltlich vorbereiteten Antrag hin. Anstelle des Präsidiums steht nun die Vorverfahrenskammer II mit den ihr angehörenden Richtern in der Mitte der Seite. Der Dokumenttitel wiederholt die Situationsbezeichnung und bestätigt damit das Thema sowie den Gegenstand. Im Kasten wird das Thema wieder spezifiziert. Allerdings heißt es jetzt »Public Document« (Prosecutor 2009: 1) und nicht mehr nur »Public«. Die Quelle dieses Antrags ist das Büro des Anklägers. Unter Bezug auf die Vorschrift 31 der Geschäftsordnung des Gerichts werden wieder Adressaten des Dokuments genannt (Prosecutor 2009: 2). Allerdings unterscheidet sich diese Liste von derjenigen des Präsidiums, was am nächsten Verfahrensschritt liegen kann. Die Teilnehmerzahl am Verfahren ist gewachsen. Es sind sechs Adressaten mehr. Rechtliche Vertreter der Opfer und weiterer Antragsstelle nehmen am Verfahren teil. Darüber hinaus gibt es auch für diese beiden Gruppen eine nicht-repräsentierte Gruppe (Prosecutor 2009: 2). Dies legt nahe, dass sie nicht über eine rechtliche Vertretung am Verfahren teilnehmen, aber selbst beteiligt sind. Auch der Verteidiger nimmt teil, obwohl keine offiziellen Anschuldigungen vorliegen oder in diesem Verfahrensschritt zu erwarten sind. Die Rollen am Verfahren scheinen vorprogrammiert zu sein. Eine Situation des IStGH setzt offenbar voraus, dass es diese Rollen und ihre Vertretung gibt. Unabhängig wer diese konkreten Rollen womöglich ausfüllt, hat der Gerichtshof dafür Stellen eingerichtet. Dieser Umstand unterstreicht die Hypothese präsupponierter Zuschreibungen. Die Situation beruht darauf, dass es eine unbekannt hohe Zahl von Opfern eines völkerstrafrechtlichen Verbrechens gibt. Das konkrete Ereignis füllt zwar die Unbekannte, ist damit aber kontingent gegenüber der Struktur der Situation von einem Opfer eines völkerstrafrechtlichen Verbrechens auszugehen. Gleiches gilt auch für den Angeschuldigten und alle anderen Beteiligten. Es handelt sich dabei um ein Moment der Vernetzung der Verfahrensbeteiligten untereinander, indem sie konkrete Rollen übernehmen, bzw. die Kanzlei diese Rollen vorbereitet und mit Ressourcen ausstattet, sodass die jeweiligen Personen aus einer Situation Rollen übernehmen können. Die Rollen legen ein allgemeines Verhältnis zueinander fest: Opfer/Angeschuldigter. Die Ereignisse einer Situation geben dem eine konkrete Form und spezifizieren diese makrodeterminierten Rollen durch eigenständiges Rollenspiel, das sich aus den Ereignissen der Situation ergibt. 2. Antragseinleitung Die Darstellung der analysierten Antragseinleitung erfolgt nah am Text, weil die Einleitung in ihren vier Absätzen die zuvor dargestellte 230
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Gliederung bestätigt und für den Antrag die aufgestellte Hypothese unterstreicht. Die Absätze sind in der Einleitung noch nicht nummeriert. Die Einleitung scheint ein Vortext zum Antrag zu sein und vorwegzunehmen, wie der Antrag gestaltet ist. In den Kästen steht der Text aus dem Antrag absatzweise. Darauf folgt dessen Analyse am Material, um den Bezug der Absätze zueinander herauszuarbeiten. Außerdem ermöglicht die Einleitung bereits, einen Blick auf den gesamten Antrag zu werfen. Erst am Schluss dieses Abschnitts werden die Ergebnisse auf die Ebene des Verfahrens und zur generativen Regel hin aggregiert. The Prosecutor hereby requests authorization from the Pre-Trial Chamber to proceed with an investigation into the situation in the Republic of Kenya in relation to the post-election violence of 2007–2008, pursuant to Article 15(3) of the Rome Statute (Prosecutor 2009: 3). Im ersten Absatz legt der Ankläger sein Anliegen dar, für die Situation in Kenia mit Ermittlungen fortzufahren. An diesem Absatz ist der Bezug zum einen des Ereignisses zur Situation und zum anderen des Antrags auf Art. 15 III RS herauszustellen. Der Ankläger setzt die Situation in verschiedenen Dimensionen in einen Ereigniszusammenhang: örtlich in der Republik Kenia, zeitlich nach der Wahl 2007 bis 2008 und sachlich auf die Gewalt nach der Wahl. Der Ankläger legt nicht die Situation in Kenia fest, sondern setzt sie in Beziehung zu der Gewalt nach der Wahl 2007–2008. Dieses Ereignis scheint der Bezugspunkt für die Situation zu sein, ohne dass die Grenzen der Situation in zeitlicher und sachlicher Hinsicht abschließend bestimmt sind. Die Situation in Kenia ist eine vorausgehende Zuschreibung und unterscheidet sich vom aufgerufenen Ereignis. Dies legt nahe, dass die Gewalt nach der Wahl 2007–2008 im Zentrum der Ermittlungen stehen soll, aber die Situation in Kenia den Ereigniskontext einschließt. Die Grundlage dafür, Ermittlungen einzuleiten, bildet Art. 15 III RS. Der Ankläger stellt den Genehmigungsantrag nach dieser Norm. Hierfür lohnt es sich den ersten Satz des Artikels vollständig aufzurufen, nachdem er im vorherigen Dokument bereits angedeutet wurde. »Gelangt der Ankläger zu dem Schluss, dass eine hinreichende Grund lage für Aufnahme von Ermittlungen besteht, so legt er der Vorverfahrenskammer einen Antrag auf Genehmigung von Ermittlungen zusammen mit den gesammelten Unterlagen zu seiner Begründung vor« (Art. 15 III Satz 1 RS).
Für den Ankläger steht demnach fest, dass es eine hinreichende Grundlage für Ermittlungen gibt. Aus diesem Grund stellt er den Antrag. Gleichzeitig zeigt dieser Artikel auch, dass der Ankläger im Folgenden die 231
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Begründung für diesen Schluss darlegen wird. Dafür greift der Ankläger dann auf Art. 53 I RS zurück und legt mit den Absätzen (a) bis (c) den Tatbestand der hinreichenden Grundlage aus. Diese allgemeinen Rechtsvorschriften muss der Ankläger dann in Zusammenhang mit der Gewalt nach der Wahl 2007–2008 in Kenia als Ereignis in der Situation in Kenia bringen. Um die Bedingungen für die Situationszuschreibung in Beziehung zur Gewalt nach der Wahl 2007–2008 zu setzen, geht der Ankläger vermutlich subsumtiv vor. Er ruft die Bedingungen auf der Grundlage von Art. 15 III RS i.V.m. Art. 53 I RS auf und ordnet den Sachverhalt unter die jeweilige Bedingung, soweit es diese erfüllt. Dabei ist die aufgerufene Rechtsnorm wie die Situation vorausgesetzt und wird nur auf das Ereignis angewendet. Das Ereignis ist demnach austauschbar. Die Subsumtion unterstreicht die Vermutung, dass die Verfahren nach allgemeinen Regeln ablaufen und in den konkreten Ereignissen diese Regeln etablieren. Dieser Absatz schürt die Erwartung, dass der Antrag im Folgenden anhand gesammelter Unterlagen begründet, warum er zu dem Schluss gekommen ist, dass eine hinreichende Grundlage für Ermittlungen in der Situation in Kenia im Zusammenhang mit der Gewalt nach der Wahl 2007–2008 besteht. Hierfür wird der Ankläger voraussichtlich subsumtiv die Tatbestandsmerkmale aus Art. 53 I RS prüfen. For the purpose of this application, the Prosecutor has relied on a selected number of reliable and publicly available reports on alleged crimes committed during the post‐election violence in Kenya, in particular the reports published by: the Commission of Inquiry into Post‐Election Violence; the Kenyan National Commission on Human Rights (KNCHR); the Office of the High Commissioner for Human Rights; UNICEF, UNFPA, UNIFEM and Christian Children’s Fund; the UN Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions; the Oscar Foundation; the Federation of Women Lawyers (FIDA‐K); Centre for Rights Education and Awareness (CREAW), Human Rights Watch; and the International Crisis Group. To date, the Prosecutor has received 30 communications from individuals, groups and others regarding information on crimes within the jurisdiction of the Court in relation to the situation in the Republic of Kenya pursuant to Article 15(2) of the Statute (Prosecutor 2009: 3). Dieser Absatz schließt direkt an die vorausgegangene Vermutung an, indem der Ankläger die verschiedenen Quellen nennt, auf denen sein Antrag gründet. Diese Quellen dokumentieren mutmaßliche Verbrechen während der Gewalt nach der Wahl in Kenia. Die genannten Einrichtungen sind internationale oder hybride Organisationen. Diese Liste untermauert den Verdacht mutmaßlicher Verbrechen, weil die verschiedenen 232
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Organisationen dazu Berichte abgefasst haben. Der Ankläger bezieht sich für das Sammeln dieser Unterlagen auf Art. 15 II RS, der es ihm erlaubt, Informationen auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen und dafür ggf. mehr Informationen einzuholen. Eine genauere Analyse folgt im Abschnitt über die Auswertung der Informationen (IV). An dieser Stelle weist der internationale bzw. hybride Charakter der Organisationen bereits darauf hin, dass der Ankläger eher auf externe Beobachter der Situation in Kenia setzt oder interne Beobachter fehlen oder nicht zuverlässig sind. Für die externen Beobachter wie für den Gerichtshof ist die Situation in Kenia austauschbar. Diese Organisationen befassen sich mit vielen unterschiedlichen Situationen auf der Welt. Ihr Beobachterstandpunkt gleicht damit demjenigen des IStGH. Sie beobachten eine Situation in Kenia. Sie machen diese Situation zu einem behandelbaren und abgegrenzten Gegenstand, zu dem Berichte verfasst und Analysen angefertigt werden können, als ob sich die Ereignisse aus Kenia herauslösen ließen, indem sie begrifflich erfasst werden. Dies bestärkt die Vermutung, dass die angewendeten Kategorien präsupponiert, während die Ereignisse austauschbar sind. Gleichzeitig fördert dies die Beobachtbarkeit von Ereignissen in einem globalen Maßstab und vernetzt diese Ereignisse global. Nicht die Ereignisse definieren, was sie sind, sondern sie sind durch die globale Kategorienbildung des Gerichtshofs und der beispielhaft aufgezählten Organisationen bestimmt. Diese Auseinandersetzung zwischen Globalen und Lokalen folgt in Abschnitt über den Hintergrund (III). In diesem Abschnitt zeigt der Text, wie sich der Gerichtshof ins Verhältnis zur Regierung Kenias setzt. Mit diesem etablierten Verhältnis folgt der Abschnitt über die Auswertung der Informationen (IV) von den genannten Quellen. Der Ankläger akkreditiert die Quellen, indem er ihren internationalen Charakter hervorhebt. Exemplarisch wird dies an der Commission of Inquiry into Post‐Election Violence (CIPEV) gezeigt. The Prosecutor submits that there is a reasonable basis to believe that crimes against humanity within the jurisdiction of the Court were committed in the context of the post‐election violence of 2007– 2008, in particular crimes of murder, rape and other forms of sexual violence, deportation or forcible transfer of population and other inhumane acts. Due to the absence of national proceedings relating to those b earing the greatest responsibility for these crimes, and in the light of the gravity of the acts committed, the Prosecutor submits that the cases that would arise from its investigation of the situation would be admissible. Furthermore, based on the available information, the Prosecutor has no reason to believe that the opening of an investigation into the situation would not be in the interests of justice (Prosecutor 2009: 3 f.). 233
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
Der Ankläger trägt vor, dass er von einer hinreichenden Grundlage ausgeht, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit innerhalb der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs und im Kontext der Gewalt nach der Wahl begangen wurden. Darüber hinaus fehlen nationale Verfahren gegen die Hauptverantwortlichen der mutmaßlichen Verbrechen, sodass der Ankläger im Angesicht des schwerwiegenden Charakters der mutmaßlichen Verbrechen auch die Zulässigkeit von Ermittlungen in der Situation annimmt. Schließlich sieht der Ankläger keinen Grund, warum Ermittlungen in der Situation gegen das Interesse der Gerechtigkeit stehen. Der Ankläger nennt die Gerichtsbarkeit, die Zulässigkeit und das Interesse der Gerechtigkeit als Gründe dafür, Ermittlungen einzuleiten. Es handelt sich um die formalrechtlichen Bedingungen aus Art. 53 I (a)-(c) RS. Diese drei Gründe bilden die hinreichende Grundlage, um Ermittlungen nach Art. 15 III RS einzuleiten. Die Gerichtsbarkeit begrenzt die materiellrechtlichen Verfahrensmöglichkeiten, weil nur Verbrechen nach Art. 5 RS (Verbrechen des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression) innerhalb der Gerichtsbarkeit liegen. Für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Art. 7 I RS zählt der Ankläger die zum Tatbestand gehörenden Verbrechen nach Unterabsätzen auf: (a) vorsätzliche Tötung, (g) Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt, (d) Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung und (k) andere unmenschliche Handlungen. Demnach ist eine Situation vom Verdacht völkerstrafrechtlicher Verbrechen gekennzeichnet. Allerdings haben zu diesem Zeitpunkt noch keine Ermittlungen stattgefunden. Daher kann der Ankläger für diesen Verdacht nur die zuvor genannten Quellen aufrufen, um diese Annahme zu begründen. Dies plausibiliert die Gliederung des Antrags, weil der Ankläger erst die Glaubwürdigkeit seiner Quellen vortragen muss, bevor er die von ihnen gewonnen Informationen darstellen kann. Die ausgewählten international operierenden Organisationen arbeiten im Feld humanitärer Kata strophen und Bedrohungen. Wenn diese globalen Beobachter auf die Situation in Kenia aufmerksam werden, dann liegt bereits mit der Auswahl der Quellen nahe, dass Verbrechen innerhalb der Gerichtsbarkeit begangen wurden. Die Situation ist dadurch definiert, dass sie global vernetzt und damit nach den Kategorien humanitärer Katastrophe und Bedrohung oder dem Völkerstrafrecht beobachtet wird. Diese Annahme steht bereits, bevor der Ankläger sie in diesem Antrag als formalrechtliche Bedingung der Gerichtsbarkeit prüft. In der Zulässigkeit fragt der Ankläger zum einen nach nationalen Verfahren und zum anderen nach dem schwerwiegenden Charakter der mutmaßlichen Verbrechen. Die Zulässigkeit nach Art. 17 RS folgt aus dem Komplementaritätsprinzip, nach dem der Gerichtshof in einem ergänzenden Verhältnis zur staatlichen Strafverfolgung steht. Wenn 234
DIE SITUATION IN KENIA (2)
nationale Verfahren fehlen, dann kann der Gerichtshof sie nicht ergänzen und übernimmt die Strafverfolgung. Von fehlenden Strafverfahren geht der Ankläger in Kenia aus. Das Verhältnis zwischen der staatlichen und internationalen Strafverfolgung ist nach Art. 17 RS von vornherein definiert. Die Zulässigkeitsprüfung führt dazu, dieses Verhältnis in der Situation zu bestimmen. Daraus ergibt sich, ob Ermittlungen in der Situation zulässig sind, wenn mutmaßlich Verbrechen innerhalb der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs begangen wurden. Die Zulässigkeit verengt die Verfahrensmöglichkeiten. Es schließt an die Gerichtsbarkeit an und weist nur die Situation als zulässig für das Verfahren aus, in der es keine staatliche Strafverfolgung gibt oder die Standards des Völkerstrafrechts nicht beachtet wurden. Insgesamt bilden diese formalrechtlichen Bedingungen die hinreichende Grundlage, um mit Ermittlungen nach Art. 15 III RS fortzufahren. Diese hinreichende Grundlage ist der Begründungszusammenhang, um von der Präsupposition der Situation vom Als-ob in der sozialen Wirklichkeit zu entfalten und damit die Struktur internationaler Strafverfolgung auf der Verfahrensebene zu institutionalisieren. Die Struktur begrenzt die Möglichkeiten des Verfahrens nach Maßgabe des Völkerstrafrechts. Sie umreißt die Situation als Gegenstand des Verfahrens, indem der Ankläger die Ereignisse unter die formalrechtlichen Bedingungen aus Art. 53 I (a)-(c) RS subsumiert. Neben diesem makrodeterminativen Prozess zeigt der Text auf, wie der Ankläger sich mit anderen internationalen wie hybriden Organisationen und der Regierung sowie der Zivilgesellschaft Kenias vernetzt hat. Aus ihren Berichten und Aussagen entsteht ein Ereigniszusammenhang in der Situation in Kenia, über den die verschiedenen Teilnehmer als Verfahrensthema bzw. -gegenstand sprechen können. In der textlichen Gliederung geht die Vernetzung zu einem Verfahrensthema voraus und darauf folgt die makrodeterminative Rahmung durch die rechtlichen Vorschriften, innerhalb der die Ereignisse in der Situation in Kenia entfaltet werden. Gleichzeitig beruhen der Text und das Vorgehen des Anklägers stets auf dem Völkerstrafrecht, sodass sich nur um eine analytische Trennung der Makrodetermination und der emergenten Strukturbildung auf der Ebene des Verfahrens handelt. 3. Hintergrund des Verfahrensantrags Dieser Abschnitt im Antrag des Anklägers beschreibt, wie es von der Präsidentschaftswahl am 27. Dezember 2007 zum Schreiben des Anklägers an den Präsidenten am 5. November 2009 kam. Der folgende Zeitstrahl fasst den Text zusammen und verweist auf die zugehörigen Absätze. Darauf folgt die Interpretation des Abschnitts. Ab hier wird für die Quelle Prosecutor (2009) nur noch auf die Absätze (XX) verwiesen. 235
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
Abbildung 20. Zeitstrahl des Verfahrenshintergrunds.
Als Hintergrund unterscheidet der Text den Ereignisverlauf vom Verfahren im Vordergrund, das der Ankläger mit dem Antrag aufnehmen möchte. Warum erwähnt der Text diesen hintergründigen Ereignisverlauf, wenn im Vordergrund steht, die hinreichende Grundlage für Ermittlungen darzulegen? Der Ausdruck »Hintergrund« liefert dem Wort nach den dahinter stehenden Grund, warum der Ankläger den Antrag 236
DIE SITUATION IN KENIA (2)
stellt. Der Antrag erscheint als notwendige Folge des Ereignisverlaufs, weil Kenia keine eigene Strafverfolgung durchführt. Der Ankläger setzt sich in ein komplementäres Verhältnis zu Kenia, indem er die nationale Strafverfolgung so lange anregt, bis er zu dem Schluss kommt, dass der Gerichtshof tätig werden muss. Auf dem Weg dorthin entfaltet der Text nach der Hypothese die Präsupposition der Situation. Auf der Ebene des Textes bietet der Hintergrund einen chronologischen Ereignisverlauf. Die Präsidentschaftswahl am 27. Dezember ist der Ausgangspunkt für den Hintergrund (3–4). Ab diesem Zeitpunkt kommt die Gewalt auf. Der Text geht mit der allgemeinen Stellungnahme des Anklägers vom 5. Februar 2007 (5) davon aus, dass es eine juristische Aufarbeitung geben muss. Dieser Prämisse folgend informiert sich der Ankläger über die Situation in Kenia und darüber, wie die Regierung damit umgeht (6). Der Ankläger spricht mit Vertretern der Zivilgesellschaft und der Regierung, um nationale Strafverfahren eines Sondertribunals zu unterstützen (13/14, 18). On 30–31 March 2009, the Office of the Prosecutor attended a meeting convened in Geneva by the Kofi Annan Foundation on the Kenya National Dialogue and Reconciliation and held consultations with various officials and civil society representatives from Kenya about the possibility of creating the tribunal referred to by the Waki Commission (13). On 3 July 2009, at the seat of the Court, the Prosecutor met with a delegation from the Government of Kenya […]. The Prosecutor re iterated that his Office was conducting a preliminary examination of the situation in Kenya and that crimes allegedly committed after the 2007 elections may fall within the jurisdiction of the ICC. The Prose cutor and the representatives of the Kenyan authorities agreed that impunity was not an option (14). Der Text zeigt auf, dass der Ankläger mit den Vertretern der Zivilgesellschaft und der Regierung getrennt spricht. In beiden Verhältnissen geht es darum, die Strafverfolgung in der Situation in Kenia zu gewährleisten. Die vom Ankläger in seiner Stellungnahme vom 5. Februar 2007 (5) vorausgeschickte Prämisse, dass es eine juristische Aufarbeitung braucht, hat er mit der Regierung Kenias vereinbart. Dies folgt auf das Treffen des Anklägers mit Vertretern der Zivilgesellschaft (13/14) und auf den gescheiterten Anlauf, das Sondertribunal für die Gewalt nach der Wahl in Kenia durch das Parlament zu etablieren (12). In diesem Ereignisverlauf scheint der Ankläger die Regierungsvertreter Kenias am 3. Juli 2009 daran zu erinnern, dass sie dazu verpflichtet sind, Straflosigkeit völkerstrafrechtlicher Verbrechen zu beenden, weil Kenia Vertragsstaat des Römischen Statuts ist. Trotzdem scheitert das Sondertribunal am 26. August 2009 im Parlament (17) und 237
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
wurde im November 2009 bei zwei weiteren Gelegenheiten nicht mehr diskutiert (22). Bis dahin bespricht der Ankläger mit Vertretern der Regierung und der Zivilgesellschaft Kenias, um die nationale Strafverfolgung zu organisieren. Er versucht, das Sondertribunal zu fördern. Nach dem Text ist bei jedem dieser Treffen vorausgesetzt, dass das Völkerstrafrecht die Standards definiert, um die Gewalt nach der Wahl aufzuarbeiten. An diesem Vorgehen zeigt sich, wie die Situation präsupponiert wird. Mit seiner Stellungnahme vom 5. Februar 2009 stellt der Ankläger heraus, dass er dazu verpflichtet ist, Situationen zu überwachen, in denen mutmaßlich Verbrechen innerhalb der Gerichtsbarkeit des IStGH begangen wurden (5). Das Völkerstrafrecht und die damit einhergehende Pflicht der Staaten, die Strafverfolgung zu gewährleisten, wiederholt der Text bei jedem Treffen des Anklägers mit Vertretern Kenias. Auf diese Weise ist makrodeterminiert, dass zwischen nationaler und internationaler Strafverfolgung zu entscheiden ist. Der Text zeigt, wie der Ankläger die Möglichkeit nationaler Strafverfolgung wiederholt anregt und damit keinen Erfolg erzielt. Dass der Text auf den Entschluss des Anklägers hinausläuft, ist nur möglich, weil der Text präsupponiert, dass es sich um eine Situation handelt, in der diese Entscheidung getroffen werden soll. Der Entscheidungszwang ist im Hintergrund von Beginn an vorausgesetzt und wird nicht thematisiert. Ein weiterer Aspekt ist die globale Vernetzung der Vertreter der Zivilgesellschaft und der Regierung Kenias mit dem Ankläger und weiteren Organisationen wie der Kofi Annan Stiftung. Die Situation in Kenia emergiert zu einem global behandelbaren Thema, dass über das Verhältnis der Täter und Opfer in einem Strafprozess hinausgeht. Die sich in diesem Prozess globaler Vernetzung entfaltende Dynamik bezieht sich stets auf die vorausgesetzte Notwendigkeit der Strafverfolgung, ohne Alternativen wie Wahrheits- oder Versöhnungskommissionen oder andere nicht justiziable Mittel zu thematisieren. Der Text etabliert im Hintergrund eine Struktur, auf die sich die Vertreter Kenias eingelassen haben, in der es nur darum geht, wer die Strafverfolgung ausübt. Sowohl die Vertreter der Zivilgesellschaft als auch der Regierung Kenias scheinen sich kommunikativ selbst daran zu binden. Dies fällt vor allem in der vom Text erzählten Auseinandersetzung zwischen dem Ankläger und der Regierung Kenias auf. Am 9. Oktober 2009 fragte der Ankläger ein Treffen mit der kenianischen Regierung als Anschlusstermin für das Treffen im Juli an, um die Regierung über die weiteren Schritte des Anklägers zu informieren. Am 27. Oktober 2009 erklärte der Ankläger in einem Brief an die kenianische Regierung, dass die Untersuchung den Verdacht aufgebracht hat, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, keine relevanten nationalen Untersuchungen stattfinden und die Schwere der Verbrechen nach dem Römischen Statut ein Eingreifen des Gerichtshofs erfordert. Der Brief erläutert, dass die Regierung Kenias die Situation an den Ankläger für die Ermittlung überweisen kann oder dass der 238
DIE SITUATION IN KENIA (2)
Ankläger in proprio motu, die Vorverfahrenskammer darum ersuchen wird, Ermittlungen einleiten zu dürfen. Die Regierung Kenias lässt sich umstandslos auf diese Alternativen ein: On 5 November 2009, the Prosecutor met with President Mwai Kibaki and Prime Minister Raila Odinga in Nairobi. The Prosecutor informed them that since all the statutory criteria are fulfilled it was his duty to open an investigation and requested the cooperation of the Kenya national authorities with the Court. The Prosecutor recalled the complementary roles of the ICC and the national authorities in combating impunity. In a joint press conference the same day, the Prosecutor announced his intention to request authorization to proceed with an investigation into the situation of the Republic of Kenya. The President and Prime Minister issued a joint statement by which they recalled their constructive meeting with the Prosecutor. The Government noted that it remains fully committed to discharge its responsibility in accordance with the Rome Statute to establish a local judicial mechanism to deal with the perpetrators of the post‐election violence, and that it remains committed to cooperate with the ICC within the framework of the Rome Statute and the Kenyan International Crimes Act (21) In diesem letzten Teil hat der Ankläger seinen Entschluss gefasst, dass der IStGH eigene Verfahren durchführen und damit wie das komplementäre Verhältnis zu Kenia ausgestaltet sein soll. Dies wird insbesondere durch den Brief des Anklägers deutlich, indem die Wahlmöglichkeiten sich nicht mehr auf die Ausführungsinstanz der Strafverfolgung beziehen, sondern darauf, wer die internationale Strafverfolgung in Gang setzt. Der Ankläger begründet seinen Schritt mit dem Verweis auf das Statut und seine daraus begründete Pflicht. In diesem Zusammenhang steht auch der Hinweis des Anklägers, dass das Komplementaritätsprinzip die Behörden Kenias an die Pflicht zur Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof bindet. Der Ankläger des IStGH wie auch Präsident und Ministerpräsident Kenias gehen vom Römischen Statut aus und unterscheiden sich aber in ihrer Auslegung der Komplementarität. Der Ankläger stellt als gemeinsames Ziel heraus, die Straflosigkeit zu bekämpfen. Allerdings versteht der Ankläger Komplementarität aufgrund der erfüllten Kriterien so, dass die kenianischen Behörden mit dem Gerichtshof kooperieren sollen. Dagegen versuchen Präsident und Ministerpräsident die Komplementarität so auszulegen, dass die eigene Strafverfolgung agiert und nur mit dem IStGH zusammenarbeitet. Beide Interpretationen nehmen für sich in Anspruch das Römische Statut als Rahmen zu betrachten und damit als Legitimation ihres Vorgehens und ihrer Auslegung. Es geht um einen Richtungsstreit, wer mit wem kooperiert. Wer ist in diesem vertikalen Modus 239
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
der Kooperation wem als ausführende Instanz übergeordnet, wenn schon das Völkerstrafrecht eine solche Hierarchisierung vorzusehen scheint. Von diesem Umstand der Komplementarität und des vertikalen Modus der Kooperationen scheinen alle Beteiligten auszugehen, ohne dass der Text diese Bindung thematisiert. Sie wird vorausgesetzt und entfaltet sich damit im weiteren Verlauf des Textes, in der der Ankläger die mit der Präsupposition der Situation getragenen Bedingungen entfalten kann. Die Offenheit des Ausgangs in diesem Aushandlungsprozess ist in der Pressekonferenz am 5. November 2009 nur eine Darstellung auf der Schauseite. Bereits am 6. November reichte der Ankläger beim Präsidenten des IStGH sein Schreiben ein, Ermittlungen einleiten zu wollen. Dies legt nahe, dass der Ankläger seit dem 9. Oktober 2009 diesen Antrag vorbereitet hat und er am 27. Oktober im Schreiben an die Regierung Kenias den Antrag bereits fertiggestellt hatte. Die Pressekonferenz lag demnach am 5. November 2009 zu einem Zeitpunkt, an dem jeder seine Seite schon eingenommen hatte und die Entscheidung schon gefällt war. Der Ankläger hat für den 9. Oktober notiert, dass er nur noch informiert, was die nächsten Schritte sind. Daran lässt sich der vertikale Modus der Kooperation deutlich ablesen, nachdem der Ankläger sich in der Entscheidungssituation sieht. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass er unterschiedliche Kontakte nach Kenia gesucht hat. Dabei griff er jedoch stets in die inneren Angelegenheiten ein, um den Aufarbeitungsprozess zu moderieren. Dieser Hintergrund präsentiert sich vom Ankläger als Begründung für sein Vorgehen, weil er stets, wie in diesem letzten Absatz, die Alternative nationaler Strafverfolgung aufruft, um zu zeigen, dass sie nicht gewählt wird. Dies schaffte den Grund dafür, dass der Ankläger aktiv wird. Die Ausgestaltung der komplementären Beziehung steht dabei im Mittelpunkt dieses Hintergrunds. Zwischen den Wahlalternativen nationaler und internationaler Strafverfolgung hat sich trotz allen Bemühungen des Anklägers in dieser Erzählung die internationale Strafverfolgung herauskristallisiert. Allerdings hat keine der Instanzen jemals die Strafverfolgung auf der Grundlage des Völkerstrafrechts in Frage gestellt. Nachdem Präsident und späterer Ministerpräsident sich auf Kommissionen verständigt hatten, um die Situation aufzuarbeiten, wurde die strafrechtliche Aufarbeitung vorausgesetzt. Auf dieser Prämisse bewegt sich das gesamte Verfahren. Im Hinblick auf das Verfahren zeigt dieser Textabschnitt bereits die Institutionalisierung der Struktur internationaler Strafverfolgung an. Die strafrechtliche Aufarbeitung nach dem Völkerstrafrecht bildet die ma krodeterminative Seite. Auf der anderen Seite globaler Vernetzung entfaltet sich daraus eine Struktur auf dieser Ebene, in der sich die verschiedenen Verfahrensbeteiligten zum einen an das Völkerstrafrecht binden und zum anderen eigene Positionen innerhalb des Verfahrens entwickeln. Ab diesem Punkt des Textes ist davon auszugehen, dass sich dieser Prozess vertieft und dass damit die Struktur des Verfahren Konturen gewinnt. 240
DIE SITUATION IN KENIA (2)
4. Im Antrag ausgewertete Informationsquellen In der Einleitung hatte der Text bereits die Quellen angegeben, aufgrund derer der Ankläger zu dem Entschluss gekommen ist, dass eine hinreichende Grundlage für Ermittlungen in der Situation in Kenia vorliegt. Der Textabschnitt »Auswertung der Informationen« präsentiert im Antrag des Anklägers die Quellen und ordnet sie ein. Der Text stellt die Quellen nach Berichten vor, die folgende Organisationen abgefasst haben: • • • • •
• • • • • •
Commission of Inquiry into Post-Election Violence (CIPEV) Abs. 25–28, Kenyan National Commission on Human Rights (KNCHR) Abs. 29–31, Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) Abs. 32, Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) Abs. 33/34, United Nations International Children’s Emergency Fund (UNICEF), United Nations Populations Fund (UNFPA), United Nations Development Fund for Women (UNIFEM) und Christian Children’s Fund Abs. 35, UN Special Rapporteur on extrajudicial, summary or arbitrary executions Abs. 36, Oscar Foundation Abs. 37, Federation of Women Lawyers – Kenya (FIDA-K) Abs. 38/39, Centre for Rights Education and Awareness (CREAW) Abs. 40/41, Human Rights Watch Abs. 42, International Crisis Group (ICG) Abs. 43/44.
Die Vorstellung der einzelnen Quellen ist ähnlich aufgebaut. Der Ankläger stellt in der Regel die Quelle selbst vor und beschreibt dann die Arbeit der jeweiligen Organisation. Diese Organisationen eint, dass sie international oder von einer internationalen Einrichtung akkreditiert sind. In jedem Fall sind sie nicht direkt mit dem Staatsapparat Kenias verbunden. Dies spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der jeweiligen Kommission oder Arbeitsgruppe wider, die den jeweiligen Bericht erstellt hat. Die Quellenauswahl aus dem Spektrum der internationalen Organisationen scheint eine Art Gütesiegel dafür zu sein, dass der Ankläger den Berichten glaubt. Zu diesem Zeitpunkt hat er keine Ermittlungen vor Ort durchgeführt. Er muss sich daher auf Quellen verlassen. Die Berichte beziehen sich jeweils auf die Bevölkerung und die gegen sie begangenen Taten. Im Zuge dessen hebt der Ankläger die Themen Straflosigkeit, sexuelle Gewalt und Ethnizität als Problemstellungen hervor. Die Berichte zeichnen sich durch eine breite Befragung quer 241
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
durch die Bevölkerung aus. Obwohl der Ankläger nur einen Überblick zu den verfügbaren Informationen und Quellen präsentiert, erzeugt dies bereits Redundanz im Hinblick auf die Machart und Inhalte der Berichte sowie auf die Quellen selbst. Sie weisen alle dahin, dass die Situation in Kenia durch Gewalt nach der Präsidentschaftswahl am 27. Dezember 2007 gekennzeichnet ist und die Bevölkerung auf verschiedene Weise getroffen hat. Diese Information bestätigt jede Quelle und erzeugt damit Redundanz. Um diese Ergebnisse zu untermauern, wird die Analyse erst genannten Quelle vom Material ausgehend zur Institutionalisierung auf der Verfahrensebene dargestellt. Commission of Inquiry into Post‐Election Violence (CIPEV) 25. The Commission of Enquiry into Post Election Violence (CIPEV) – also known as the ›Waki Commission‹ after the name of its Chair, Judge Philip Waki, judge of Kenya’s Court of Appeal ‐ was set up in accordance with the Kenya National Dialogue and Reconciliation Accord of February 28, 2008, negotiated by Kofi Annan and the Panel of Eminent African Personalities. 26. The Commission was composed of two international members and one Kenyan citizen, selected by the Panel or Eminent African Personalities in consultation with PNU and ODM and appointed by the President. The CIPEV was a non‐judicial body mandated to (i) investigate the facts and circumstances surrounding the violence between 28 December 2007 and 28 February 2008, (ii) investigate the conduct of State security agencies in their handling of it and (iii) to recommend measures with regard to bringing to justice those persons responsible for criminal acts. The Commission was set up on 23 May 2007 and took an oath of office on 3 June 2008. The Commission had an initial mandate of three months which was extended for an additional one month and finally an additional two weeks to draft the report. Because of the limited extension granted, the Commission lacked the time to examine all the areas where allegations of crime emerged. 27. The CIPEV interviewed government officials, representatives of the main political parties, security agents, NGOs, representatives of religious and faith based organisations, regional political actors and ordinary citizens in public and closed hearings. The Final report of the CIPEV was published on 15 October 2008. 28. The Report comprises 5 Parts. Part I of the Report is an introduction which discusses the historical context of the violence. Part II is a narration of the violence province by province. Part III deals with four cross cutting issues: sexual violence, internally displaced persons, the media and the nature and impact of the violence. Part IV deals with acts and omissions of state security agencies and impunity. Part V contains recommendations made with a view to the prevention of future reoccurrence of large scale violence; the investigation of alleged perpetrators; and how to tackle the culture of impunity.
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Der Ankläger charakterisiert seine erste Quelle, indem er die Gründung (25), Zusammensetzung (26), Mandat (26) und Abschlussbericht (27/28) der CIPEV beschreibt. Die Kommission ist in einer international ausgehandelten Vereinbarung mit der Afrikanischen Union, bzw. dem Panel of Eminent African Personalities entstanden. Das Panel of Eminent Afri can Personalities trat bereits im Textabschnitt »Hintergrund« auf. Der Ankläger hatte sich im Rahmen des in Absatz 25 genannten Kenya National Dialogue and Reconciliation mit Vertretern der Zivilgesellschaft Kenias getroffen (13). Die Gründung der Waki-Kommission ist eine internationale Angelegenheit. Dieser Punkt setzt sich in der Zusammensetzung fort. Zwei der drei Mitglieder sind international und nur ein Mitglied kommt aus Kenia. Das Panel of Eminent African Personalities schlägt die Mitglieder in Abstimmung mit den beiden großen Parteien vor und der Präsident ernennt die Mitglieder (26). Das Panel nimmt eine vermittelnde Position zwischen den beiden Parteien ein. Trotzdem ernennt der Präsident die Mitglieder und gibt der Kommission eine staatliche Legitimation. Die Kommission ist ein Hybrid zwischen ihrem internationalen und nationalen Charakter. Aufgrund dieser Position der Kommission zwischen den beiden politischen Parteien Kenias und dem nationalen wie internationalen Bereich eignet sie sich für ihr Mandat als Untersuchungskommission. Sie soll die Umstände der Gewalt sowie das Verhalten der Sicherheitsbehörden untersuchen und daraufhin Vorschläge unterbreiten, wie die Strafverfolgung organisiert werden soll (26). Das Mandat konnte die Kommission allerdings nur begrenzt umsetzen, weil sie unter erheblichen Zeitdruck stand. Während der internationale Einfluss bei der Gründung der Kommission stark war, scheint danach die Regierung der maßgebende Faktor für die Arbeit der Kommission gewesen zu sein. Dies unterstreicht den hybriden Charakter der Kommission. Trotzdem hat die CIPEV weite Teile der Bevölkerung und viele Organisationen befragt, um ihr Mandat zu erfüllen. Der Text präsentiert nur für die fünf Teile des Abschlussberichts jeweils einen Satz für jeden Teil als Zusammenfassung. Der Fokus scheint daher nicht auf der Auswertung der Quelle – dem Bericht – zu liegen, sondern darin, die Quelle – die Waki-Kommission – zu charakterisieren. Diese unterschiedliche Bedeutungsverwendung überrascht im Hinblick auf den Titel des Abschnitts »Auswertung der Quellen« zunächst. Allerdings ergibt diese Darstellung im Hinblick auf den bereits angeführten Art. 15 II RS Sinn, da der Ankläger »von ihm als geeignet erachtete[n] zuverlässige[n] Stellen« charakterisiert. Der Text setzt nach dem zuvor erzählten Hintergrund in diesem Abschnitt damit fort, die Situation in Kenia als einen behandelbaren Gegenstand zu setzen. Die CIPEV wie alle weiteren Quellen haben Berichte zur 243
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Situation in Kenia verfasst. Sie sind aus Sicht des Anklägers zuverlässig und berechtigen ihn daher, von der Notwendigkeit der Strafverfolgung und dementsprechend von einer Situation in Kenia auszugehen. Dieser Textabschnitt schließt insofern an den vorherigen Abschnitt an, als dass hier deutlich wird, dass der Ankläger mit seinem Beobachterstandpunkt nicht alleinsteht. Der Text erzeugt Redundanz, indem er die ähnlichen Beobachtungen der weiteren zuverlässigen Quellen aufruft. Dies leitet zur Institutionalisierung auf der Verfahrensebene über. Der Text synchronisiert die Beobachter der Situation in Kenia und stellt die globale Vernetzung der Situation dar. Alle genannten und damit zuverlässigen Organisationen beobachten in Kenia mutmaßliche Verbrechen und sehen Handlungsbedarf in der Strafverfolgung. Ohne den Text allzu sehr zu überspitzen, hat sich eine globale öffentliche Meinung gebildet, die der Text über die verschiedenen Organisationen repräsentiert darlegt. Gleichzeitig ist die Darstellung daran orientiert, im Merkmal der hybriden oder nur internationalen Organisation ein Zuverlässigkeitskriterium zu bilden. Der Prozess globaler Vernetzung stellt eine synchrone Beobachterperspektive auf die Ereignisse in Kenia her und ermöglicht dem Ankläger, von dieser Beobachtung ausgehend eine Situation in Kenia zu präsupponieren, in der Ermittlungen auf einer hinreichenden Grundlage stehen. Diesen Begründungszusammenhang hat der Text in den ersten Abschnitten bereits gewoben und kann ihn im weiteren Verlauf des Textes vertiefen. 5. Formalrechtliche Bedingungen: Gerichtsbarkeit, Zulässigkeit und Interesse der Gerechtigkeit Die vorherigen Textabschnitte haben gezeigt, dass zum einen die ma krodeterminierte Erwartung einer Strafverfolgung in der Situation in Kenia bestimmend ist und zum anderen sich in der globalen Vernetzung um die Situation eine Struktur auf der Verfahrensebene herausbildet. In den nächsten drei Abschnitten vertieft der Text die Situation in Kenia, indem er die formalrechtlichen Bedingungen aus Art. 53 I (a)-(c) RS anwendet: Gerichtsbarkeit, Zulässigkeit und Interesse der Gerechtigkeit. Dafür subsumiert der Text unter die formalrechtlichen Bedingungen den Sachverhalt aus der Situation in Kenia. Gleichzeitigt legt er damit die Grenzen der Situation in Kenia fest, weil nur das zur Situation zählen kann, was nach den formalrechtlichen Bedingungen für das weitere Verfahren relevant und dementsprechend rechtlich verwertbar ist. Daher sind diese Textabschnitte davon geprägt, dass auf der einen Seite das Völkerstrafrecht ausgelegt und auf der anderen Seite die Ereignisse in Kenia nach Maßgabe der jeweils ausgelegten Norm interpretiert werden. Es handelt sich um eine Interpretation auf beiden Seiten, die die 244
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Makrodetermination über die Normauslegung und die Verfahrensstruktur aus der Situation herausbildet. Das folgende Textmaterial ermöglicht, beiden Seiten der Institutionalisierung über die juristische Methode der Subsumtion nachzuspüren. Um den Einstieg in den Text zu erleichtern, wird zuerst ein kurzer Überblick über die rechtlichen Zusammenhänge für den jeweiligen Textabschnitt geboten. Gerichtsbarkeit nach Art. 53 I (a) RS Rechtstext
»ob die ihm vorliegenden Informationen hinreichende Verdachtsgründe dafür bieten, dass ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen begangen wurde oder wird«
Zu prüfende Tatbestandsmerkmale: Verdachtsgründe für Verbrechen nach Art. 5 RS ratione materiae
Art. 11 RS ratione temporis
Art. 12 II RS ratione loci/personae
Verbrechen des Völkermords (Art. 6 RS) Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7 RS) Kriegsverbrechen (Art. 8) das Verbrechen der Aggression (Art. 8bis RS)
Innerhalb des Zeitraums nach dem Inkrafttreten des Römischen Statuts nach dem Inkrafttreten des Römischen für den Staat
innerhalb des Hoheitsgebietes eines Vertragsstaats oder von einem Bürger eines Vertragsstaats
Abbildung 21. Gerichtsbarkeit nach Art. 53 I (a) RS.
Der Ankläger prüft, ob die ihm vorliegenden Informationen eine hinreichende Grundlage für Annahme bieten, dass eine in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fallende Straftat begangen wurde oder wird (46). Damit ein Verbrechen in die Gerichtsbarkeit des IStGH fällt, muss es sich um ein Verbrechen aus Art. 5 RS handeln (ratione materiae), das Verbrechen muss im Zeitraum nach Art. 11 RS verübt worden sein (ratione temporis) und es muss eines der beiden Kriterien aus Art. 12 RS erfüllen (47). Für die Tatbestandsmerkmale gibt der Text an, dass genügend Informationen vorliegen, um die hinreichende Grundlage eines Verhaltens zu begründen. Diese Informationen sollen jedoch erst in Abschnitt VIII des Antrags (materiellrechtliche Bedingungen) präsentiert werden. Nach dem Text ist mindestens ein ausgedehnter oder systematischer Angriff gegen die zivile Bevölkerung Kenias anzunehmen. Dies nimmt den Obersatz des Art. 7 I RS auf und umfasst folgende Verbrechen 245
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• • • •
vorsätzliche Tötung nach Art. 7 I (a) RS, Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt nach Art. 7 I (g) RS, Deportation und zwangsweise Vertreibung der Bevölkerung nach Art. 7 I (d) RS andere unmenschliche Handlungen nach Art. 7 I (k) RS,
die begründend für Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind (48). Die mutmaßlich Ende 2007 und Anfang 2008 verübten Verbrechen unterliegen der Gerichtsbarkeit ratione temporis. Die Republik Kenia trat dem Römischen Statut am 15. März 2005 bei. Das Statut trat in Kenia am 1. Juni 2005 nach Art. 126 I RS in Kraft (49). Schließlich sollen die Verbrechen auf dem Territorium Kenias begangen worden sein (50). Die drei Tatbestandsmerkmale grenzen die Situation in Kenia in sachlicher, zeitlicher und räumlicher bzw. personaler Hinsicht ein. In sachlicher Hinsicht vermutet der Ankläger, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden und nennt hierfür einzelne Verbrechen aus dem Tatbestand des Art. 7 I RS. Allerdings führt der Text diesen Punkt nicht aus, weil dies zu materiellrechtlichen Fragen in Abschnitt VIII überleitet. Trotzdem grenzt der Text die mutmaßliche Tat als Verfahrensgegenstand ein und gibt sie als sachlichen Grund dafür an, dass eine hinreichende Grundlage für Ermittlungen besteht. Gleiches geschieht in zeitlicher Hinsicht. Der 1. Juni 2005 ist das Datum, ab dem der Gerichtshof mögliche Verbrechen in Kenia untersuchen kann. Dies zeigt an, dass die Situation in Kenia nicht allein von der Gewalt nach der Wahl 2007– 2008 geprägt ist, sondern ein ausfüllbarer Rechtsbegriff ist. Schließlich bedeutet die räumliche Eingrenzung, dass jede Person seit dem 1. Juni 2005 in Kenia zum Beteiligten an dem hier beginnenden Verfahren werden kann. All diese Personen sind potentielle Täter, Opfer oder Zeugen. Mit Blick auf die vorausgegangenen Textabschnitte spezifiziert dieser Abschnitt die Situation und konkretisiert die hinreichende Grundlage. Dies geschieht nach den Textabschnitten des Hintergrunds und der Auswertung der Quellen. Beide Textabschnitte hatten den Zusammenhang zwischen der Position des Anklägers, die Strafverfolgung in der Situation in Kenia zu gewährleisten, und den internationalen wie hybriden Organisationen, eine humanitäre Krise in Kenia zu beobachten, hergestellt. In diesem Abschnitt zeigt der Text, wie der Ankläger von der geteilten Beobachtung die Brücke dazu schlägt, was, wann und wo bzw. wer strafrechtlich (vom Gerichtshof) verfolgt werden kann. Indem im Text der Sachverhalt unter die Normen subsumiert wird, entsteht dieser konkrete Zusammenhang. Diese Grenzen stecken den Horizont des Verfahrens ab, aus dem es seine Beteiligten und seine sachlichen Fragen für einen bestimmten Zeitraum gewinnen kann. Mit dem Blick voraus folgt die Auswahl aus diesem Horizont im Ermittlungsverfahren. 246
DIE SITUATION IN KENIA (2)
Im nächsten Abschnitt behandelt der Text die Zulässigkeit, um die hinreichende Grundlage für Ermittlungen darzulegen. Dieser Abschnitt schließt unmittelbar an die Gerichtsbarkeit an und legt für die zuvor eingegrenzte Situation fest, ob Ermittlungen zulässig sind oder wären. Dafür bestimmt der Text über das Komplementaritätsprinzip das Verhältnis zu nationalen Strafverfahren und vertieft die Möglichkeitsbedingungen für das Verfahren des Gerichtshofs mit der festgestellten Gerichtsbarkeit. In den Begriffen der Institutionalisierung stellt sich die Frage nach der Komplementarität auf dieser Ebene dahingehend, ob vor dem festgelegten Horizont eine Struktur des Verfahren emergieren kann oder bereits ein anderes Verfahren diese Stelle eingenommen hat. Zulässigkeit nach Art. 53 I (b) RS Rechtstext
»ob die Sache nach Artikel 17 zulässig ist oder wäre«
Zu prüfende Tatbestandsmerkmale Existenz nationaler Verfahren nach Art. 17 I (a)-(c) RS
Schwere der Verbrechen nach Art. 17 I (d) RS
Abbildung 22. Zulässigkeit nach Art. 53 I (b) RS.
Der Ankläger soll nach Art. 53 I (b) RS prüfen, ob die Sache nach Art. 17 RS zulässig ist oder wäre. Der Ankläger hat die Zulässigkeit zu diesem Zeitpunkt unter Berücksichtigung möglichen Fälle geprüft, die sich wahrscheinlich aus einer Untersuchung der Situation ergeben (51). Für diese Bewertung hat die Berufungskammer des Gerichtshofs festgelegt, dass in diesem Schritt die Komplementarität (Art. 17 I (a)-(c) RS) und das Prinzip ne bis in idem (Art. 17 I (c) RS i.V.m. Art. 20 RS) zu prüfen ist. Als erstes muss der Ankläger untersuchen, ob es einschlägige Ermittlungen oder Strafverfolgungen gegeben hat oder gibt. Wenn es keine nationalen Verfahren gibt oder gegeben hat, also eine staatliche Untätigkeit vorliegt, muss der Ankläger nicht untersuchen, ob der Staat nicht willens oder in der Lage, Verfahren durchzuführen. Stattdessen kann der Ankläger vermuten, dass die Zulässigkeit in Bezug auf Art. 53 I (b) RS besteht. Allerdings unterliegt sie dem Vorbehalt, dass die Verbrechen nach Art. 17 I (d) RS schwerwiegend genug sind (52). Der Text widmet sich den Tatbestandsmerkmalen getrennt. In den Absätzen 53 bis 55 prüft er die Existenz nationaler Verfahren und geht dann in den Absätzen 56 bis 59 dem Schwerkriterium nach. Für das erste Tatbestandsmerkmal rekapituliert der Text Ereignisse, die bereits im Textabschnitt über den Hintergrund dargestellt wurden, und ruft den Sachverhalt auf, nachdem der Tatbestand ausgelegt wurde. Die Vereinbarung zwischen dem Präsidenten und dem Ministerpräsidenten 247
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
vom 16. Dezember 2008 zeigt, dass Kenias Regierung ein Sondertribunal in Betracht zieht, um nationale Verfahren zur Gewalt nach der Wahl durchzuführen. Allerdings stimmte das kenianische Parlament dem im Februar 2008 vorgestellten Gesetz nicht zu. Im Jahr 2009 fehlte die nötige Mehrheit, um den Entwurf zu diskutieren. Deshalb gibt es nach offiziellen Angaben Kenias weder nationale Strafverfahren wegen mutmaßlich verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Kenia noch besteht die Aussicht, dass es Verfahren geben wird (53). Die dem Ankläger verfügbaren Informationen bestätigen, dass es eine begrenzte Zahl von Verfahren für kleinere Verbrechen im Zusammenhang mit der Gewalt nach der Wahl gegeben hat. Nach dem Bericht vom Untersuchungsteam zu Fällen im Zusammenhang mit der Gewalt nach der Wahl in den Provinzen Western, Nyanta, Central, Rift Valley, Eastern East und Nairobi (siehe zur Orientierung die Karte Kenias: 211) an den Generalstaatsanwalt Kenias wurden 156 Fälle zu geringeren Verbrechen wie mutwillige Beschädigung, Diebstahl, Einbruchdiebstahl, Störung der öffentlichen Ordnung, Veröffentlichung falscher Gerüchte und anderen Verbrechen wie der Besitz von Angriffswaffen, gewaltsame Raubüberfälle oder Beleidigung eines Polizeibeamten eröffnet. Unter den prominentesten Fällen wurden die vier Beschuldigten im sogenannten KIAMBA-Fall aufgrund von Mangel an Beweisen als Resultat nachlässiger Polizeiarbeit freigesprochen. Die Beschuldigten sollen die Kiamba Kirche am 1. Januar 2008 in Brand gesetzt haben, sodass 17 bis 35 Personen lebendig verbrannt sind (54). Da es keine nationalen Verfahren gegen die Hauptverantwortlichen für die mutmaßlich begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt, schließt der Ankläger, dass die möglichen Fälle aus einer Ermittlung der Situation zulässig wären. Darüber hinaus weisen die verfügbaren Informationen daraufhin, dass es auch in anderen Staaten mit Gerichtsbarkeit keine Verfahren zur Gewalt nach der Wahl in Kenia gibt. Der Ankläger beobachtet weiter, ob nationale Verfahren durchgeführt werden, solange er mit Genehmigung in der Situation ermittelt wird (55). Mit den Absätzen 53 bis 54 stellt der Text den Sachverhalt dar und berichtet, ob es nationale Verfahren gegeben hat und wenn ja, ob sie den Standards des Völkerstrafrechts entsprechen. Diesen Sachverhalt subsumiert der Text in Absatz 55 unter das zuvor ausgelegte Tatbestandsmerkmal der Existenz nationaler Verfahren und kommt zum Ergebnis, dass es zum Zeitpunkt des Antrags keine solchen Verfahren gibt. Dieses Vorgehen überrascht nicht vom juristischen Standpunkt, allerdings ist bemerkenswert, dass im Text das Verhältnis eines möglichen internationalen Verfahrens gegenüber vorhandenen nationalen Aktivitäten definiert wurde. Vor dem im Tatbestandsmerkmal der Gerichtsbarkeit definierten Horizont erfüllen die nationalen Aktivitäten nicht die Anforderungen des Völkerstrafrechts. In dieser Hinsicht stellt der Text sehr schlicht 248
DIE SITUATION IN KENIA (2)
fest, dass es keine nationalen Verfahren gibt, weshalb die Vermutung der Zulässigkeit besteht. Auf der Ebene des Verfahrens bedeutet dies, dass es kein Hindernis für die eigene Strukturbildung gibt. Der Prozess emergenter Strukturbildung auf der Verfahrensebene wird nicht schon dadurch unterbrochen, dass nationale Verfahren die Strafverfolgung ausüben. Dieses Tatbestandsmerkmal unterstreicht darüber hinaus die Präsupposition der Situation in Kenia, weil der Text in Absatz 55 explizit formuliert, dass mögliche Fälle aus einer Ermittlung zulässig wären. Dieser hypothetische Modus zeigt an, dass die Ermittlung für die konkrete Vernetzung von Tätern, Opfern und Zeugen erst noch folgt, aber gleichzeitig angenommen wird, dass dies der Fall sein wird. Zu diesem Zeitpunkt hat der Ankläger nicht einmal mögliche Fälle, weil bisher nur der Horizont möglicher sachlicher Fragen und Beteiligten in einem gegebenen Zeitraum eingegrenzt wurde. Deshalb muss die Zulässigkeit der Sache unterstellt werden, um in den Ermittlungen von der hypothetischen Zulässigkeit der Sache zur Tatsächlichen der individuellen Fälle zu gelangen. Die Hypothese bleibt bestehen, dass das Vorverfahren den Übergang vom Als-ob zur sozialen Wirklichkeit des Verfahrens organisiert, indem es die Situation präsupponiert. Darüber hinaus geht auf allen Ebenen von der Weltgesellschaft bis zum Verfahren mit dem Prinzip der Komplementarität ein vertikaler Modus der Kooperation einher. Ausgehend davon, dass der Text bei der Gerichtsbarkeit festgestellt hat, dass das Römische Statut in Kenia gilt, stellt sich erst die Frage, ob nationale oder internationale Strafverfolgung nach Maßgabe des Völkerstrafrechts in dieser Situation tätig werden. Der Ankläger bewertet die Aktivitäten Kenias und etabliert damit einen vertikalen Modus der Kooperation. Er erwartet nach Absatz 21 aus dem Textabschnitt zum Hintergrund, dass die Behörden Kenias ihn unterstützen. Auf diesem Verständnis übergeordneter Erwartungen des Völkerstrafrechts erfolgt die Bewertung in diesem Textabschnitt. Dies markiert die makrodeterminative Seite der Institutionalisierung, weil das Völkerstrafrecht als übergeordneter Standard für das Verfahren vorausgesetzt wird. Die emergente Strukturbildung auf der Ebene des Verfahrens findet innerhalb dieses im vertikalen Modus der Kooperation makrodeterminierten Horizonts statt. Die Zulässigkeitsprüfung hält dies noch einmal fest und erzeugt damit Redundanz. Diese Redundanz in der juristischen Argumentation dieses Antrags gestaltet den Übergang von der präsupponierten Situation zur hinreichenden Grundlage für die Ermittlungen. Der Text zum zweiten Tatbestandsmerkmal der Zulässigkeit unterstützt diese Überlegungen. Der Text stellt für die Schwere der Verbrechen nach Art. 17 I (d) RS das Ausmaß der Gewalt vom 28. Dezember 2007 bis zum 28. Februar 2008 dar und greift dem Abschnitt VIII über die materiellrechtlichen Bedingungen vor: 249
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
• • • •
1.133 bis 1.200 Tötungen von Zivilisten mehr als 900 dokumentierten Vergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt, von denen viele mehr ungemeldet blieben 350.000 Personen wurden zu Binnenflüchtlingen 3.561 Akte schwerer Verletzungen wurden gezählt
Außerdem war die soziale und ökonomische Struktur der lokalen Gemeinschaften stark von ausgedehnten Plünderungen und mutwilligen Zerstörungen in Wohn- sowie Gewerbegebieten betroffen. Verbrechen wurden in sechs der acht Provinzen Kenias begangen und besonders in den meistbesiedelten Gebieten, einschließlich der Hauptstadt Nairobi, Rift Valley, Nyanza und Western (56; siehe zur Orientierung die Karte Kenias auf S. 204). In vielen Fällen handelte es sich um Verbrechen im Rahmen eines ausgedehnten und systematischen Angriffs gegen ausgewählte Teile der kenianischen Zivilbevölkerung. Gruppen und Personen wurden stigmatisiert und aufgrund ethnischer Unterscheidungsmerkmale und/oder mutmaßlichen politischen Zugehörigkeiten gezielt attackiert. Typischerweise griffen die Täter Angehörige anderer Ethnien an, die in den Gebieten in der Minderheit waren, töteten sie und vertrieben die Überlebenden (57). Täter schlugen auf grausame Weise Körperteile ab, attackierten Zivilisten mit allen möglichen scharfkantigen Gegenständen – Macheten, vergifteten Pfeilen, zerbrochenen Glas etc. – und terrorisierten ganze Gemeinschaften, indem sie Checkpunkte einrichteten, wo Täter ihre Opfer nach ihrer Ethnie aussuchten und zu Tode hackten. In einigen Fällen wurden Menschen bei lebendigem Leib verbrannt. Darüber hinaus wurde in diesem Zeitraum von Gruppenvergewaltigungen, Genitalverstümmelungen, Zwangsbeschneidungen und Penisamputationen berichtet. Familienangehörige erzählten, wie ihre Mütter, Väter, Schwestern, Brüder und kleine Kinder vergewaltigt, getötet und verstümmelt wurden (58). Die verübten Verbrechen hatten in erster Linie eine zerstörerische Wirkung auf die Opfer. Sie • • • • •
erlitten schwere körperliche Verletzungen, trugen enorme psychologische Trauma davon, infizierten sich mit HIV/AIDS und/oder anderen sexuell übertragbaren Krankheiten, wurden oft von ihren Ehemännern und/oder Familien verlassen, leiden unter sozialer Stigmatisierung.
Besonders gefährdet sind Frauen und Kinder, die Familienmitglieder und Eigentum verloren haben und aus ihren Häusern vertrieben wurden. Die gewaltsam Vertriebenen haben nicht nur ihr Zuhause, sondern einen großen Teil ihrer Existenz verloren. Die Verbrechen hatten darüber 250
DIE SITUATION IN KENIA (2)
hinaus Auswirkungen auf die lokalen Gemeinschaften im Hinblick auf die Sicherheit, die soziale Struktur, die Wirtschaft und die Straflosigkeit im Land. Die wirtschaftlichen Aktivitäten wurden durch die erzwungene Vertreibung, ausgedehnten Plünderungen und das Niederbrennen von Häusern und Geschäftsräumen beeinträchtigt. Die Wachstumsrate des kenianischen Bruttoinlandsprodukts sank von 7% im Jahr 2007 auf 1,7% im Jahr 2008 (59). Der dargestellte Sachverhalt bietet einen Überblick zum Ausmaß der Gewalt und ihren Folgen in individueller Hinsicht wie für die Gemeinschaft(en) in Kenia. Der Text sieht das Schwerekriterium damit als erfüllt an. Das subsumtive Vorgehen erzeugt Redundanz im Hinblick auf den vorausgegangenen Text. Der Sachverhalt füllt den Horizont des Verfahrens und zeigt damit den Möglichkeitsraum für Fälle auf, denen sich das Verfahren in der Situation in Kenia widmen kann. Mit dem ersten Tatbestandsmerkmal fragt der Text danach, ob der Staat in eigenen Verfahren aktiv geworden ist, daraufhin folgt das zweite Tatbestandsmerkmal als Frage, ob die begangenen Verbrechen so schwer sind, dass der Gerichtshof aktiv werden soll. Fehlende Verfahren sind kein ausreichender Grund. Die hinreichende Grundlage für Ermittlungen braucht einen unwilligen oder unfähigen Staat und ein erhebliches Ausmaß der Gewalt, damit die Situation relevant für den Gerichtshof ist. Interesse der Gerechtigkeit nach Art. 53 I (c) RS Rechtstext
»ob unter Berücksichtigung der Schwere des Verbrechens und der Interessen der Opfer dennoch wesentliche Gründe vorliegen, dass die Durchführung von Ermittlungen nicht im Interesse der Gerechtigkeit läge«
Prüfung nur erforderlich, wenn Gründe vorliegen, dass sich Ermittlungen gegen das Interesse der Gerechtigkeit richten. Abbildung 23. Interesse der Gerechtigkeit nach Art. 53 I (c) RS.
Gemäß Art. 53 I RS sind die Gerichtsbarkeit und die Zulässigkeit positive Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen. Das Interesse der Gerechtigkeit ist eine potenziell ausgleichende Abwägung, die einen Grund dafür liefern kann, nicht mit Ermittlungen fortzufahren. Der Ankläger muss nicht nachweisen, dass eine Ermittlung im Interesse der Gerechtigkeit liegt, sondern vielmehr, ob es besondere Umstände gibt, die erhebliche Gründe für die Annahme liefern, dass es nicht im Interesse der Gerechtigkeit ist, zu diesem Zeitpunkt zu ermitteln (60). Auf Grundlage der vorliegenden Informationen nimmt der Ankläger an, dass mit Ermittlungen in dieser Situation fortzufahren, im Interesse der Gerechtigkeit liegt (61). 251
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
Diese letzte Bedingung aus Art. 53 I RS ermöglicht, zwischen der Schwere der Verbrechen und dem Interesse der Opfer auf der einen Seite und dem Interesse der Gerechtigkeit auf der anderen Seite abzuwägen. Da hierfür jedoch keine positive Prüfung erforderlich ist, kann sich der Gerichtshof zuschreiben, im Interesse der Gerechtigkeit zu handeln. In Anbetracht des abgesteckten Rahmens der Gerichtsbarkeit und der in der Zulässigkeit festgehaltenen Relevanz im Anbetracht des Ausmaßes der Gewalt und der fehlenden nationalen Verfahren erscheint es als logische Konsequenz, dass der Gerichtshof im Interesse der Gerechtigkeit handelt. Nach der Gerichtsbarkeit und Zulässigkeit stellt das Interesse der Gerechtigkeit den Schlussstein dafür dar, dass eine hinreichende Grundlage für Ermittlungen in der Situation besteht. Die Gerichtsbarkeit hat den Horizont, aus dem das Verfahren schöpfen kann, in sachlicher, zeitlicher und räumlicher bzw. personaler Hinsicht eingegrenzt. Darauf aufbauend hat der Text in der Zulässigkeit geklärt, ob ein Verfahren überhaupt beginnen kann und ob es sich um einen für den Gerichtshof relevanten Gegenstand handelt. Schließlich kann der Gerichtshof davon ausgehen, dass sich dieses Verfahren als gerecht attribuieren lässt. Die Struktur des Verfahrens entfaltet sich von diesem Ausgangspunkt bzw. von dieser präsupponierten Situation in Kenia und differenziert sich in den Ermittlungen zu individuellen Fällen für die Klageerhebung aus. Der Übergang des Als-ob der Situation zu ihrer sozialen Wirklichkeit ist damit vollzogen. Die Struktur internationaler Strafverfolgung auf der Verfahrensebne bewegt sich zwischen diesen makrodeterminierten Bedingungen und dem Sachverhalt, die im juristischen Verfahren per Subsumtion zusammengefügt werden. Daraus entsteht die eigene Struktur des Verfahrens. 6. Materiellrechtliche Bedingung: Verbrechen innerhalb der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs In Übereinstimmung mit der Vorschrift 49 der Geschäftsordnung legt der Ankläger in diesem Textabschnitt die näheren Informationen zu den mutmaßlich verübten Verbrechen innerhalb der Gerichtbarkeit des Gerichtshofs dar. Er führt den Anfangsverdacht aus Art. 53 I (a) RS aus und arbeitet zwei Punkte ab (62); die Darstellung in der Tabelle folgt der Gliederung im Antrag:
252
DIE SITUATION IN KENIA (2)
(i) Mutmaßliche Verbrechen und Erklärung der Tatsachen (Absatz 63) – entsprechend Vorschrift 49.1 der Geschäftsordnung
(ii) Rechtliche Charakterisierung und Gründe dafür, dass die genannten Verbrechen in die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs fallen (Absatz 76) – entsprechend Vorschrift 49.2 der Geschäftsordnung
Tötungen (Absätze 64 bis 65) Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt (Absatz 66) Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung (Absätze 67 bis 69) Andere unmenschliche Handlungen (Absatz 70)
(a) Kontextuelle Elemente der Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Absätze 77 bis 92) (b) Handlungen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs begründen (Absatz 93) Tötung (Absatz 94) Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt (Absätze 95 bis 99) Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung (Absatz 100) Andere unmenschliche Handlungen (Absatz 101)
(a) Orte der mutmaßlichen Verbrechen (Absatz 71) (b) Zeitraum der mutmaßlichen Begehung der Verbrechen (Absätze 72 bis 73) (c) Involvierte Personen oder Gruppen (Absätze 74 bis 75)
Abbildung 24. Vorschriften 49.1 und 49.2 der Geschäftsordnung des IStGH.
In (i) bestimmt der Ankläger die Zahlen für das jeweilige Verbrechen und gibt an, wo in welchem Zeitraum wer diese Verbrechen mutmaßlich begangen hat. Darauf folgt in (ii) die Zuordnung dieser Verbrechen zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dafür beschreibt er (a) die kontextuellen Elemente dieses Tatbestands (ausgedehnter oder systematischer Angriff gegen die Zivilbevölkerung) und ordnet (b) die in (i) genannten Verbrechen diesen kontextuellen Elementen zu, sodass sie unter die Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen. Diese Ausführungen bestätigen den Vortrag des Anklägers zum Anfangsverdacht und zur Schwere der mutmaßlich begangenen Verbrechen. Der Ankläger verlässt sich für diese Ausführungen auf die Quellen, die am Anfang des Antrags aufgeführt hat. Diese materiellrechtlichen Ausführungen zum Sachverhalt vertiefen den zuvor abgesteckten formalrechtlichen Horizont für das Verfahren. Sie liefern substanzielle Argumente dafür, dass die Gerichtsbarkeit, die Zulässigkeit und das Inte resse der Gerechtigkeit bestehen. Gleichzeitig ist der Ankläger an diesen materiellrechtlichen Vortrag für das Ermittlungsverfahren nicht gebunden. Er kann neben Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dem Verbrechen des Völkermords nachgehen, wenn er solche Beweise in den Ermittlungen erhebt. Dieser Textabschnitt zeigt, dass in der Situation die 253
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
Möglichkeit besteht, dass für Ermittlungen eine hinreichende Grundlage vorliegt. Der Text erzeugt damit weitere Redundanz für die vorgelegte Argumentation, um den Übergang von der präsupponierten Situation zu ihrer sozialen Wirklichkeit als Horizont eines Verfahrens des IStGH zu gestalten. Die konkrete Fallbildung folgt auf dieser Grundlage erst im weiteren Verfahren. 7. Antragsabschluss Zum Abschluss des Antrags handelt der Text noch einige Themen ab, mit der sich der Text in Beziehung zum Verfahren und dessen Fortgang setzt. Zunächst trägt der Ankläger vor, unter welchen Umständen Ermittlungen zu genehmigen sind. Dafür verweist der Text auf die dargelegten Informationen. Der Standard in diesem Stadium des Verfahrens bezieht sich auf die Untersuchung von Straftaten, die für die Situation als Ganzes von Bedeutung sind. Daher ist es nicht möglich, mit Ermittlungen der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit fortzufahren (102). Um diese Einordnung des Vorverfahrens zu untermauern, ordnet der Text den Ausdruck »hinreichende Grundlage« rechtlich ein. Im Vergleich zum Erlass eines Haftbefehls oder einer Vorladung zum Erscheinen liegt die Anforderung für die Genehmigung von Ermittlungen niedriger. Die hinreichende Grundlage ist die geringste Anforderungsstufe im Römischen Statut (103). Hiernach geht die Auslegung über das Römische Statut hinaus: Die rechtliche Interpretation der hinreichenden Grundlage steht im Gegensatz zu »hinreichende Gründe, um anzunehmen« in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschen- und Grundrechte sowie dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof und dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof. Eine hinreichende Grundlage erfordert im Vergleich dazu geringere Standards (104). Schließlich geht der Text auf die Entstehungsgeschichte des Ausdrucks ein: Der Text aus Art. 15 RS folgt aus dem deutschen und argentinischen Vorschlag während der Sitzung der Vorbereitungskommission des Römischen Statuts von März bis April 1998. Die Diskussion drehte sich um den passenden Ausdruck und eine Bewertung, ob die Informationen »sufficient [and] veritable« oder »clearly unfounded or not serious« sein sollen. Daraus folgert der Text, dass der Ankläger nicht aufgefordert ist, in diesem Stadium des Verfahrens Beweismaterial wie Aussagen von Zeugen und Opfern vorzulegen (105). Aus dieser rechtlichen Auslegung folgt der Anschluss an den vorgetragenen Sachzusammenhang, nach dem eine hinreichende Grundlage für die Durchführung einer Ermittlung besteht und dass mögliche Fälle in die Zuständigkeit des Gerichts zu fallen scheinen. Daher beantragt der Ankläger, dass die Kammer die Ermittlungen genehmigt. Zusätzlich 254
DIE SITUATION IN KENIA (2)
formuliert der Text den Vorbehalt, dass das Verfahren zügig und summarisch durchgeführt werden und unbeschadet späterer Feststellungen zu tatsächlichen und rechtlichen Fragen beginnen solle (106). Von dieser für den Ankläger geltenden Verpflichtung, den Antrag auf einer hinreichenden Grundlage hin zu stellen, ruft der Text die komplementäre Verpflichtung der Vorverfahrenskammer nach Art. 15 IV RS auf: Wenn eine hinreichende Grundlage besteht und die Sache scheinbar unter die Gerichtsbarkeit fällt, dann ist eine Genehmigung zu erteilen (107). Hierbei kommt es im Text vor allem darauf an, das Wort »scheint« als »einen spezifischen Eindruck geben« auszulegen. Hierfür ruft der Text wiederum die Systematik des Römischen Statuts auf, indem es auf die Anforderungen für die Entscheidung der Vorverfahrenskammer zu Art. 61 VII (c) (ii) RS verweist, die Anklage im Hauptverfahren zu genehmigen. Im Vergleich dazu müssen für die Entscheidung der Vorverfahrenskammer niedrigere Standards zum Tragen kommen (108). Deshalb ist keine eingehende Analyse der Informationen erforderlich, sodass die Kammer kein Vorurteil fällt (109). Der Ankläger hält fest, dass dies auch für die Entscheidung der Vorverfahrenskammer gilt, nach Art. 15 IV RS Ermittlungen zu genehmigen (110). Schließlich folgert der Ankläger im Text, dass Art. 15 RS ein Filtermechanismus für Situationen ist, in denen ermittelt werden soll und in denen nicht ermittelt werden soll (111). Dieser Textabschnitt strukturiert die Entscheidung bereits vor, indem sie auf komplementäre Anforderungen für den Antrag und die Entscheidung verweist. Dies hält für das weitere Verfahren fest, wie die Situation als Horizont des Verfahrens determiniert wird und eröffnet, mit Beweisen und Aussagen in den Ermittlungen diesen Horizont im Verfahren zu konkretisieren. Die Entscheidung der Vorverfahrenskammer kann nur auf dem Vortrag des Anklägers in seinem Antrag Bezug nehmen und anhand der gleichen Anforderungen zu einer Entscheidung kommen. Dies birgt eine weitere Redundanz, weil die Entscheidung den Antrag des Anklägers konfirmiert und abschließend entscheidet, aus welchem Horizont das Verfahren schöpfen kann. Diesen Gang des Vorverfahrens umschreibt der Text mit dem Filtermechanismus des Art. 15 RS. Das Vorverfahren zieht die Präsupposition der Situation und die hinreichende Grundlage für Ermittlungen auseinander. Die Präsupposition ist die Vorannahme. Das Vorverfahren institutionalisiert seine Struktur hin zur Entscheidung im subsumtiven Verfahren makrodeterminierter Anforderungen und situationsspezifischer Strukturbildung und weist dies als hinreichende Grundlage für Ermittlungen aus.
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SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
8. Zwischenfazit: Von der Präsupposition der Situation zur hinreichenden Grundlage für Ermittlungen in der Situation Der Antrag des Anklägers leitet von der Entscheidung des Präsidenten, die Situation an die Vorverfahrenskammer zu überweisen, zur Entscheidung der Vorverfahrenskammer über. Der Text argumentiert dafür, dass eine hinreichende Grundlage besteht, in der Situation in Kenia zu ermitteln. Gleichzeitig gestaltet der Text den Übergang vom Als-ob der Situation zu ihrer sozialen Wirklichkeit, indem er die Präsupposition entfaltet. Diese Textdynamik lässt sich als Teil der Institutionalisierung der Struktur internationaler Strafverfolgung auf der Verfahrensebene auffassen. Auf der einen Seite ruft der Text das Völkerstrafrecht und das weitere Völkerrecht auf und zeigt, wie makrodeterminiert das Verfahren ist. Auf der anderen Seite ruft der Text die Situation in Kenia in Form der Gewalt nach der Wahl 2007–2008 auf und bildet damit eine an die Situation angepasste Verfahrensstruktur aus. Beide Prozesse verbindet der Text über ein subsumtives Vorgehen. Den argumentativen Zusammenhang stellt der Text allerdings in den ersten Abschnitten her, bevor er sich den formal- und materiellrechtlichen Bedingungen subsumtiv zuwendet. Im Hintergrund und in der Auswertung der Quellen hält der Antrag fest, dass eine Strafverfolgung erfolgen muss und dass dieser Standpunkt von verschiedenen anderen Beobachtern geteilt wird. Der Text berichtet im Hintergrund, wie der Ankläger zum Entschluss gelangt ist, dass er den Antrag einreicht. Gleichzeitig zeigt dieser Textabschnitt, dass von Beginn an die Strafverfolgung zur Aufarbeitung der Gewalt gesetzt ist und sich die Treffen mit den Vertretern der Zivilgesellschaft und der Regierung Kenias darauf beziehen. Unter dieser Voraussetzung geht der Ankläger konsequent vor, um die Genehmigung von Ermittlungen zu bitten. Allerdings klammert dies denkbare Alternativen in einem Transitional Justice Process wie Wahrheits- und Versöhnungskommissionen aus. Die eigene Selektivität verdeckt dieser Textabschnitt und unterstützt dies, indem der Text in der Auswertung der internationale bzw. hybride Organisationen aufruft, die die Verbrechen herausstellen und damit den Handlungsbedarf unterstreichen. Auf dieser Basis entsteht ein argumentativer Zusammenhang, der sich als hinreichende Grundlage für Ermittlungen bezeichnen lässt und in den folgenden Textabschnitten ausdefiniert wird. Beide Textabschnitte sind der Auftakt für die Institutionalisierung, weil sie unter der makrodeterminativen Verpflichtung zur Strafverfolgung auf der einen Seite und der globalen Vernetzung der Vertreter der Zivilgesellschaft sowie der Regierung Kenias und den internationalen wie hybriden Organisationen auf der anderen Seite operieren. Auch dies vertieft die Prüfung der formal- und materiellrechtlichen Bedingungen. 256
DIE SITUATION IN KENIA (3)
Die formalrechtlichen Bedingungen der Gerichtsbarkeit, der Zulässigkeit und des Interesses der Gerechtigkeit stecken die Grenzen des Horizonts ab, aus dem das Verfahren in seinem weiteren Verlauf schöpfen kann. Gleichzeitig hebt dies die Situation von ihrem Als-ob in die soziale Wirklichkeit, weil der Text sie als Horizont des Verfahrens definiert. Die Gerichtsbarkeit legt grundsätzlich die sachlichen Fragen, den zeitlichen Rahmen und den Personenkreis fest. Dann klärt der Text in der Zulässigkeit das komplementäre Verhältnis des internationalen zum nationalen Verfahren. Im Zuge dessen ist das Völkerstrafrecht als Standard vorausgesetzt, nach dem die Verfahren erfolgen sollen. Dieser Standard wird zum Prüfmaßstab für mögliche nationale Verfahren. Auf diese Weise etabliert das Verfahren auch einen vertikalen Modus der Kooperation. Schließlich bescheinigt der Text dem möglichen internationalen Verfahren, im Interesse der Gerechtigkeit stattzufinden und sichert damit mögliche legitimatorische Fragen ab. Die materiellrechtlichen Bedingungen vertiefen dieses Bild, indem der Text die von den Quellen berichteten Taten als erste Prüfung eines Verdachts auf Verbrechen in der Situation verwendet. Allerdings legt der Antrag nicht fest, dass der Übergang vom Als-ob zur sozialen Wirklichkeit der Situation für das Verfahren erfolgt. Der Antrag zeigt auf, wie dies vorstellbar ist. Die Entscheidung verbleibt bei der Vorverfahrenskammer, die die Ermittlungen genehmigen kann. Daher stellt sich für diese Entscheidung die Frage, ob sie von dem vorgestellten Wie abweicht. Andernfalls konfirmiert sie den beschriebenen Übergang, der damit auch in anderen Situationen unterstellt werden kann.
IV. Die Situation in Kenia (3): Entscheidung der Vorverfahrenskammer über den Antrag des Anklägers Die Vorverfahrenskammer entscheidet über den Antrag des Anklägers, Ermittlungen in der Situation in Kenia einzuleiten. Dieser letzte Schritt der Verfahrensanalyse soll klären, ob die Entscheidung konfirmiert, wie der Übergang vom Als-ob zur sozialen Wirklichkeit der Situation als Horizont des Verfahrens gestaltet ist. Dafür genügt es, den Blick auf das Inhaltsverzeichnis des Textes zu legen und davon ausgehend das Material zu präsentieren. Der Beleg zur Entscheidung findet sich im Quellenund Literaturverzeichnis unter Vorverfahrenskammer Kenia (2010). Der Entscheidungstext ist 83 Seiten lang und ihm ist eine abweichende Meinung eines Richters über 80 Seiten beigefügt. Die abweichende Meinung indiziert bereits, dass sie die gleichen Kriterien wie die gültige Entscheidung anlegt, aber zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Ergebnis ist insofern unerheblich, weil es darauf ankommt, wie der Übergang vom 257
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
Als-ob zur sozialen Wirklichkeit der Situation gestaltet ist und nicht, ob es dazu tatsächlich kommt. Das Dokument hat wie die Vorherigen einen Dokumentkopf, -titel und Adressaten. Hier lassen sich keine Unterschiede erkennen. Danach folgt das Inhaltsverzeichnis, anhand dessen die Gliederung des Textes abgelesen werden kann. Die Darstellung der Analyse an das Inhaltsverzeichnis zu orientieren, gibt einen Überblick über den Text und ermöglicht zugleich an einzelnen Stellen einen näheren Blick im Kontext der gesamten Entscheidung. Die inhaltliche Gliederung des Entscheidungstextes scheint sich wie der Antrag des Anklägers an Art. 15 RS zu orientieren und subsumtiv von der Auslegung der Kriterien (I.) zum Sachverhalt (II.) vorzugehen. Am Ende steht die Entscheidung, die den Umfang der Ermittlung definiert und damit einen positiven Entscheid ausweist (III.). Das Inhaltsverzeichnis beginnt unnummeriert mit der Verfahrensgeschichte und geht dann in folgender Gliederungsordnung vor I. A. 1. a) (i) (aa). Unter dem ersten Hauptgliederungspunkt ruft der Text die Kriterien auf, nach denen die Vorverfahrenskammer ihre Entscheidung darüber fällt, ob der Ankläger Ermittlungen aufnehmen darf. Hierfür bezieht der Text sich auf Art. 15 III sowie IV RS i.V.m. Art. 53 I (a)-(c) RS. Dies bestätigt den Antrag des Anklägers im Hinblick auf die aufgerufenen Normen. Indem sich der Text sowohl auf Art. 15 III als auch IV RS bezieht, stellt der Text wie der Antrag des Anklägers heraus, dass es sich um komplementäre Kriterien für beide Texte handelt. Mit Blick auf die Gliederung des Textes legt dieser in diesem Abschnitt die Normen aus, um im nächsten Abschnitt zu prüfen, ob die Kriterien erfüllt sind. Es handelt sich demnach um ein subsumtives Vorgehen. Im Vergleich zum Antrag des Anklägers verzichtet der Entscheidungstext darauf, einen argumentativen Ausgangspunkt selbst zu schaffen, indem er beispielsweise eine Hintergrunderzählung vorlegt. Der Verfahrensverlauf erfüllt diese Funktion, weil damit der Antrag des Anklägers zum Entscheidungsgegenstand vorausgesetzt wird. Damit geht einher, dass die Entscheidung ohne äußere Bezüge auskommt. Der Antrag des Anklägers hat die Strukturbildung auf der Verfahrensebene so weit vorangetrieben, dass es über seinen eigenen Fortgang entscheiden kann. Und diese Entscheidung erfolgt auf der Grundlage makrodeterminierter Kriterien, die über die Subsumtion des Sachverhalts ein eigenständiges Verfahren strukturieren. Im zweiten Abschnitt gliedert der Text die Gerichtsbarkeit wie zuvor im Antrag des Anklägers nach ratione materiae, temporis und loci auf. Im Rahmen der ratione materiae prüft der Text die materiellrechtlichen Bedingungen, indem er in a) den Obersatz des Art. 7 I RS aufruft und in seine Tatbestandsmerkmale gliedert. In b) greift der Text den Verdacht auf konkrete Verbrechen auf. Die Entscheidung kann nur aus dem schöpfen, was der Ankläger in seinem Antrag vorgetragen hat. Dies legt 258
DIE SITUATION IN KENIA (3)
Abbildung 25. Vorverfahrenskammer 2010: Inhaltsverzeichnis der Entscheidung.
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SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
die Entscheidung selbst inhaltlich nicht fest, allerdings sind Kriterien, Sachverhalt und Subsumtion determiniert und wiederholen in der Entscheidung die Strukturbildung auf der Verfahrensebene. Schließlich formuliert der Text im letzten Abschnitt den Umfang der genehmigten Ermittlung und zeigt an, dass die Vorverfahrenskammer dem Antrag des Anklägers stattgibt. Ermittlungen sind nach den Kriterien der Gerichtsbarkeit zeitlichen, sachlichen und territorialen Parametern bestimmt. Inhaltlich weicht die Vorverfahrenskammer nur beim zeitlichen Parameter vom Antrag des Anklägers ab. Die Kammer erweitert den zeitlichen Rahmen bis zum Inkrafttreten des Römischen Statuts in Kenia. Dies unterstreicht die Vermutung, dass es sich bei der Situation um den Horizont des Verfahrens handelt. Das Verfahren kann aus diesem Horizont die Ereignisse nach der Wahl 2007–2008 als Gegenstand schöpfen, aber auch vorausgehende Ereignisse liegen nun im Möglichkeitsbereich des Verfahrens. Mit dieser Entscheidung ist der Übergang vom Als-ob der Situation zu ihrer sozialen Wirklichkeit vollzogen und die Ermittlungen können sich einzelnen Sachfragen vor diesem Horizont widmen und diese zu Fällen ausdifferenzieren.
V. Zwischenfazit: Die Verfahren des IStGH zwischen Präsupposition und Konstruktion der Situation Die Analyse der Verfahrensdokumente hat gezeigt, wie die Struktur internationaler Strafverfolgung auf der Verfahrensebene institutionalisiert wird. Das Vorverfahren gestaltet den Übergang von einer präsupponierten Situation zu ihrer sozialen Wirklichkeit für die Ermittlungen. Dafür unterstellt bereits das erste Dokument im Verfahren, die Entscheidung des Präsidenten die Situation an die Vorverfahrenskammer zu überweisen, dass eine Situation vorliegt. Die Implikationen dieses Begriffs entfaltet das Verfahren jedoch erst im Antrag des Anklägers, um eine hinreichende Grundlage für Ermittlungen darzulegen. Schließlich entscheidet die Vorverfahrenskammer, ob es sich tatsächlich um eine Situation handelt, in der folgerichtig eine hinreichende Grundlage für Ermittlungen besteht. Die Struktur des Verfahrens entsteht in ihrer Institutionalisierung. Die makrodeterminative Seite verweist auf die Bedingungen wie das Völkerstrafrecht, aber auch auf den Gerichtshof selbst, der die Verfahren veranstaltet. Das Völkerstrafrecht liefert die Erwartungen, die die Gerichtsstellen auslegen, um es im Verfahren anwenden zu können. Auf diese Weise kommt das bereits bekannte Prinzip der Komplementarität wieder ins Spiel und markiert wie auf den vorherigen Ebenen den vertikalen Modus der Kooperation. In der Frage der Zulässigkeit fragten der Ankläger und die Vorverfahrenskammer, ob es nationale Verfahren gibt 260
ZWISCHENFAZIT
und gingen dabei stets vom Völkerstrafrecht als definierenden Standard aus. Während nationale Verfahren selbstverständlich das jeweils staatlich gesetzte Recht anwenden, ergibt sich aus der Zulässigkeit, dass das Völkerstrafrecht danebensteht und gleichzeitig einen globalen Standard definiert, der sich gegenüber dem nationalen Recht als vorrangig versteht. Dies führt zu Auseinandersetzungen, die sich in einem unterschiedlichen Verständnis des Komplementaritätsprinzips äußern. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz des Anklägers mit dem Präsidenten sowie Ministerpräsidenten Kenias haben sie ihre unterschiedlichen Deutungen der Komplementarität zum Ausdruck gebracht. Allerdings haben sie sich nicht gegen die Makrodetermination des Völkerstrafrechts gewendet, sondern nur gegen ihre Auslegung. Diese Möglichkeit, unterschiedliche Verständnisse und Anschlüsse an die makrodeterminative Seite der Institutionalisierung zu generieren, bildet der Prozess emergenter Strukturbildung ab. In diesem Vorverfahren ist der Rahmen zwar determiniert, allerdings bieten erst die Ereignisse innerhalb der Situation den Horizont, aus dem das Verfahren schöpfen kann. Das Vorverfahren ist, wie es im Antrag des Anklägers formuliert ist, einem Filtermechanismus, um Situationen in den Blick zu bekommen, in denen Ermittlungen möglich sind. Zum einen erhebt das Vorverfahren die Situation einer globalen Beobachtungskategorie, indem sie über internationale wie hybride Organisationen einen geteilten Beobachterstandpunkt formuliert, dass Verdacht auf Verbrechen besteht. Das Vorverfahren unterstreicht damit, dass es mit seiner Wahrnehmung nicht alleinsteht, dass es sich um mutmaßliche Verbrechen handelt, »welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren« (RS: Präambel). Die Struktur des Verfahrens fußt auf diesen Voraussetzungen und füllt sie mit den konkreten Ereignissen im Begriff der Situation. Die Situation ist damit nicht nur ein Rechtsbegriff des Völkerstrafrechts, der sich nach den Kriterien des Art. 53 I (a)-(c) RS aufschlüsseln lässt. Darüber hinaus bildet die Situation den Horizont des Verfahrens, der durch das Völkerstrafrecht makrodeterminiert ist, aber durch die Ereignisse eine eigene Struktur ausgebildet hat. Das Verfahren kann in seinem weiteren Verlauf daraus schöpfen und ist innerhalb dieses Horizonts auf kein Ergebnis festgelegt. Die Offenheit des Verfahrens ist durch diese Struktur internationaler Strafverfolgung garantiert. Dies zeigt sich auch in der Entscheidung der Vorverfahrenskammer an, die sich nur auf das bezieht, was der Antrag des Anklägers ihr geboten hat. Die Kammer ist vom Antrag des Anklägers abgewichen, weil sie die vorgelegten Informationen anders bewertet hat. Dies markiert die Offenheit, aber auch zugleich die Geschlossenheit des Verfahren. Es ist geschlossen, weil es seinen Horizont bzw. seinen Gegenstandsbereich abgesteckt hat und nur innerhalb dessen operiert. Alles darüber hinaus hat das Vorverfahren als irrelevant für das weitere Verfahren definiert und damit ausgeschlossen. 261
SITUATIONSKONSTRUKTION DER VERFAHREN IN DER WELTGESELLSCHAFT
Das Verfahren entfaltet diese Gleichzeitigkeit von Offenheit und Geschlossenheit über den Verfahrensablauf hinweg. Die Entscheidung des Präsidenten, die Situation in Kenia an die Vorverfahrenskammer II zu überweisen, bringt die Situation in den Gerichtshof. Dabei verdeckt diese Eingangskontrolle, dass die Situation vom Ankläger konstruiert ist, um sie als solche zum Gegenstand eines Verfahrens machen zu können. Die Unbestimmtheit der Situation und ihre offenen Anschlussmöglichkeiten sind ein Anschein, hinter dem die Präsupposition dieses Begriffs steht. Die damit verbundene Geschlossenheit expliziert der Antrag des Anklägers, indem er über Art. 53 I RS (a) die Gerichtsbarkeit, (b) die Zulässigkeit und (c) das Interesse der Gerechtigkeit die formal- und schließlich die materiellrechtlichen Bedingungen für eine Situation als Horizont des Verfahrens abarbeitet. Die Geschlossenheit des Verfahrens äußert sich in den Dimensionen der Gerichtsbarkeit (ratione materiae, temporis, loci/ personae) und in ihrer Zulässigkeit gegenüber nationalen Verfahren. Innerhalb dieses Horizonts ist das Verfahren wiederum so offen, dass die Ermittlungen daraus einzelne Fälle differenzieren müssen, in denen erst individuelle Strafbarkeit und Schuld ausgehandelt werden können. Das Verfahren arbeitet sich in dieser Weise zwischen Offenheit und Geschlossenheit klein. Es wiederholt dabei die im Vorverfahren institutionalisierte Struktur und damit die Institutionalisierung in jedem Verfahrensschritt über die Subsumtion, in der die makrodeterminierten Kriterien mit dem konkreten Sachverhalt zu einer spezifizierten Verfahrensstruktur ausdifferenziert werden. In diesem Prozess der Ausdifferenzierung findet vermutlich in der Ermittlung der Wechsel von der Situation zum Fall als Horizont des Verfahrens statt. Während die Situation den gesamten Horizont des Verfahrens kennzeichnet, ist der Fall dann der ausdifferenzierte Horizont für eine individuelle Straf- und Schuldfrage. Diesen Verfahrenshorizont schafft der Gerichtshof durch die kommunikative Selbstbindung der der am Vorverfahren Beteiligten. Sie orientieren sich an der Umwelt und konstituieren das Verfahren nach Maßgabe des Völkerstrafrechts und der Lage vor Ort. Diese Selbstbindung ist prekär, weil sie sich auf eine präsupponierte Situation bezieht. Die Differenz zur Umwelt entsteht erst durch den Bezug auf die Situation als Gegenstand des Verfahrens. Die Grenze zwischen Verfahrenssystem und Umwelt legt das Vorverfahren fest, damit durchläuft es seine eigene Konstituierung. Die kommunikative Selbstbindung beschreibt, wie sich die Verfahrensbeteiligten (Vertreter der Zivilgesellschaft, Regierungsvertreter usw.) bereits im Vorlauf des sich selbst konstituierenden Verfahrens darauf einlassen, ohne dass die Struktur und damit der Möglichkeitshorizont bekannt sind. Diese Offenheit des Verfahrens erhöht nach Luhmann erst die Teilnahmewahrscheinlichkeit, weil die Teilnehmenden den Möglichkeitshorizont zu ihren Gunsten beeinflussen wollen (Luhmann 2017a: 82 ff.). 262
ZWISCHENFAZIT
Indem sich die Beteiligten dann kommunikativ an das Verfahren binden, schließen sie es. Die Entscheidung des Präsidenten, der Antrag des Anklägers und die Entscheidung der Vorverfahrenskammer haben dies gezeigt, weil sie sich wiederholt an den gleichen Kriterien und Informationen orientiert haben. Sie haben Redundanz erzeugt und so die Struktur des Verfahrens konfirmiert. Infolgedessen kann sich das Verfahren ausdifferenzieren und weitere Beteiligte wie Zeugen, Opfer und Täter hinzunehmen. Diese Rollen hat das Vorverfahren bereits in den Adressatenlisten angelegt und sie unabhängig von der individuellen Rollenübernahme im Verfahren verortet. Wenn eine Person eine der Rollen übernimmt, geht sie eine kommunikative Selbstbindung ein. Gleichzeitig bildet die Ausdifferenzierung eines Falls im Verfahren die Möglichkeit, vor dem gegebenen Horizont eigene situationsspezifische Anpassungen zwischen der makrodeterminierenden Umwelt des Verfahrens und dem konkreten Fall zu schaffen. Der Prozess der Institutionalisierung setzt sich konsequent fort, weil ihm auf der Ebene der Organisation eine nicht generell lösbare Komplementarität und auf der Ebene der Weltgesellschaft der Widerspruch eines vertikalen Modus vorliegt. Auf diese Problemstellungen scheint nur das über die Ebenen hinweg verlaufende Kleinarbeiten eine Lösung darzustellen. Das folgende Kapitel nimmt diese Überlegung auf und rekonstruiert die Struktur internationaler Strafverfolgung in der Weltgesellschaft im Sinne aller untersuchten Ebenen. Das Kapitel diskutiert entlang des Strukturbegriffs und der Institutionalisierungsansatzes die internationale Strafverfolgung durch den IStGH, um darauf aufbauend ein Fazit zu ziehen.
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Sechstes Kapitel: Rekonstruktion der Struktur internationaler Strafverfolgung durch den IStGH in der Weltgesellschaft Die Ergebnisse der vorausgegangenen Kapitel sind auf den Ebenen der Weltgesellschaft, der Organisation und des Verfahrens angesiedelt. Die Argumentation in den Kapiteln ist über den Ausdruck der Struktur internationaler Strafverfolgung miteinander verbunden. Allerdings fehlt eine zusammenführende Diskussion dieser Ergebnisse unter dem verwendeten Begriff der Struktur, um ihre Rekonstruktion in der Weltgesellschaft abzuschließen. Daher breitet dieses Kapitel den Strukturbegriff in der Verbindung der systemtheoretischen und neo-institutionalistischen Variante der Weltgesellschaftstheorie extensiv aus. Die Ergebnisse werden anhand der einzelnen Begriffsdimensionen diskutiert. Der Ausgangspunkt bleibt der in der Einleitung eingeführte Strukturbegriff, nach dem Struktur sowohl Struktur als auch Prozess meint, d.h. prozessierte Struktur. Eine Rekonstruktion einer solchen Struktur muss beiden Aspekten Rechnung tragen. Die Rekonstruktion verknüpft den vorausgeschickten Strukturbegriff in der Einleitung mit seiner abschließenden empirischen Fundierung für die internationale Strafverfolgung durch den IStGH in diesem Kapitel. Während die Struktur zeigt, wie ein soziales System von einer Operation zur Nächsten gelangt, verdeutlicht der Prozess der In stitutionalisierung, auf welches Problem Struktur reagiert. Beide Aspekte zeigen dann, wie prozessierte Struktur den Sinnzusammenhang, die Straflosigkeit internationaler Verbrechen zu beenden, generalisiert und damit diese Herausforderung in der Weltgesellschaft bearbeitet. Das Ausgangsproblem ist der Umgang der Weltgesellschaft mit den Taten, die unter das Völkerstrafrecht fallen, und damit die Straflosigkeit dieser Taten zu bekämpfen. Die Präambel des Römischen Statuts formuliert diese Herausforderung und bietet die internationale Strafverfolgung durch den IStGH als Lösung dafür an. Der IStGH blickt dabei auf eine Reihe von Organisationen als Vorgänger und staatlich organisierter Massenverbrechen in der Geschichte für die sich immer deutlicher stellende Herausforderung zurück. Während die Vorgänger des IStGH an das jeweilige Ereignis gebunden waren, besteht der Gerichtshof über diese Ereignisse hinaus. Dies weist daraufhin, dass sich eine Struktur in der Weltgesellschaft institutionalisiert hat. Die Struktur internationaler Strafverfolgung gibt nicht nur für das Einzelfalltribunal in Bezug auf ein Ereignis an, wie das Tribunal seine Operationen organisiert. Darüber 264
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beschreibt die Struktur für den generalisierten Sinnzusammenhang die Selektivität der Selektionen auf den verschiedenen Systemebenen. Diese generalisierte Selektivität der Selektionen auf der Ebene der Organisation und der Verfahren haben die qualitativen Sequenzanalysen herausgearbeitet und lässt sich nun in der Weltgesellschaft für alle Systemebenen zusammenführen. Die Institutionalisierung bildet die Prozessseite der Struktur, indem sie in der Makrodetermination die Grenzen für die Anschlussmöglichkeiten der emergenten Strukturbildung eines sozialen Systems aufzeigt. Die Weltgesellschaft ist nicht entscheidungsfähig und differenziert die Struktur internationaler Strafverfolgung auf die Ebene der Organisation und die Ebene des Verfahrens, damit die Herausforderung der Straflosigkeit bearbeitbar wird. Die Totalität einer weltgesellschaftlichen Struktur ist davon begleitet, interne Differenzierung zu gewährleisten. So kann Makrodetermination als Umweltdetermination den Horizont der Organisation und schließlich des Verfahrens begrenzen. Diese bilden wiederum innerhalb ihres Horizonts systembezogene Strukturen aus, um gegenüber den Umweltbedingungen bestehen zu können. Gleichzeitig arbeitet die Organisation die weltgesellschaftliche Herausforderung klein, indem sie Verfahren veranstaltet, in denen sie Situationen und schließlich entscheidbare Fälle ausdifferenzieren kann. Die Institutionalisierung ermöglicht sowohl die weltgesellschaftliche Struktur als auch ihre interne Ebenendifferenzierung. Die institutionellen Muster »vertikaler Modus der Kooperation«, »Prinzip der Komplementarität« und »Situation« diffundieren auf den Systemebenen Weltgesellschaft, Organisation und Verfahren und bilden emergente Strukturen aus (I.). Diese institutionalisierte Struktur internationaler Strafverfolgung entfaltet eine weltgesellschaftlich bindende Wirkung. Die Verbindlichkeit internationaler Strafverfolgung beschreibt eine Bedingung für und einen Effekt dieser Struktur, indem sie eine generelle Erklärung dafür bietet, wie sich Beteiligte an einer Entscheidung kommunikativ selbst daran binden. Die Verbindlichkeit ist Bedingung für die Strukturbildung, weil sich die Beteiligten an sie binden, damit setzen die Beteiligten eine Struktur voraus, die sie erst durch ihre kommunikative Selbstbindung entfalten. Die Analyseergebnisse zeigen dies auf den verschiedenen Systemebenen auf. Von der Verbindlichkeit auszugehen, bedeutet jedoch nicht, dass die internationale Strafverfolgung erfolgreich Straftaten verhindert, verfolgt oder ihre Legitimation nicht in Frage steht. Die Verbindlichkeit markiert, dass sich die Beteiligten an den institutionalisierten Möglichkeitshorizont des jeweiligen Systems binden und aus dem Horizont ihre kommunikativen Anschlüsse schöpfen (II.).
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REKONSTRUKTION DER STRUKTUR INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
I. Die Struktur der internationalen Strafverfolgung Um die Struktur internationaler Strafverfolgung zu rekonstruieren, lohnt es sich eingangs, den Strukturbegriff mit in den Blick zu nehmen und unter diesem Begriff die Analyseergebnisse zu besprechen. Luhmann bietet in Bezug auf das Rechtssystem folgendes Begriffsverständnis an, nach welchem er Struktur im Hinblick auf die Operationen eines Systems darstellt: »Rechtsbezogene Kommunikationen haben als Operationen des Rechtssystems immer eine doppelte Funktion als Produktionsfaktoren und als Strukturerhalter. Sie setzen Anschlußbedingungen für weitere Operationen und konfirmieren oder modifizieren in eins damit die dafür maßgebenden Einschränkungen (Strukturen). Insofern sind autopoietische Systeme immer historische Systeme, die von dem Zustand ausgehen, in den sie sich selbst versetzt haben. Sie tun alles, was sie tun zum ersten und zum letzten Mal« (Luhmann 2018: 49).
Luhmanns Begriffsverständnis der Struktur ist hinreichend abstrakt, weil es in seine Theorie sozialer Systeme eingebettet ist. Dieser Strukturbegriff bietet verschiedene Aspekte, von denen Folgende betrachtet werden: 1. Das Verhältnis von Struktur und Ereignis zeigt an, dass die Struktur abstrakter als wiederholte Ereignisse ist. Struktur verknüpft Ereignisse miteinander, indem sie in Bezug auf die Strafverfolgung internationaler Verbrechen einen Möglichkeitshorizont beschreibt. 2. Dieser Horizont begrenzt die kommunikativen Anschlussmöglichkeiten, sodass die Ereignisse kontingent sind, aber die Struktur in Bezug auf die Strafverfolgung nichtbeliebig ist. 3. Dies führt schließlich zur Überlegung, dass über die Systemebenen Weltgesellschaft, Organisation und Verfahren die Struktur internationaler Strafverfolgung generalisiert und damit gegenüber den Ereignissen wiederholbar ist. Sie wird von einer globalen Herausforderung auf jeder Systemebene spezifiziert und dadurch konfirmiert. Diesen Prozess beschreibt die stärker an der Theorie des Neo-Institutionalismus orientierte Institutionalisierung durch die Teilprozesse der Makrodetermination durch die Umwelt und die emergente Strukturbildung des Systems. 1. Struktur und Ereignis Das Verhältnis von Struktur und Ereignis ist durch die Zeit definiert. Während ein Ereignis in der Zeit irreversibel ist, sind Strukturen reversibel. Ein Ereignis kann nicht wiederholt werden, es verschwindet in der Vergangenheit. Struktur und Ereignis stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander (Schneider 1999: 143). »Strukturen orientieren 266
DIE STRUKTUR DER INTERNATIONALEN STRAFVERFOLGUNG
[…] die Produktion und Verkettung von Ereignissen und können umgekehrt nur durch passende Ereignissequenzen reproduziert werden« (Schneider 1999: 143 f.). Ein soziales System kann seine Strukturen über Ereignisse hinweg konfirmieren oder modifizieren. Systeme sind strukturdeterminiert, weil »[d]er Übergang von Operation zu Operation […] durch systemeigene Strukturen« (Schneider 1999: 146) hervorgebracht wird. Dieses theoretische Verständnis lässt sich mit den festgehaltenen Beobachtungen auf den einzelnen Systemebenen verknüpfen: Auf der weltgesellschaftlichen Ebene zeigt die rechtsgeschichtliche Darstellung, wie sich über die einzelnen Ereignisse hinweg die Struktur des vertikalen Modus der Kooperation herausgebildet hat: Nach dem preußisch-französischen Krieg 1870/71 hatte Gustave Moynier gefordert, dass die Staaten einen internationalen Strafgerichtshof einrichten. Obwohl die Staaten diese Möglichkeit ablehnten, war es seitdem eine wiederkehrende Möglichkeit. Das Völkerrecht im horizontalen Modus der Kooperation schloss die internationale Strafverfolgung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs aus. Trotzdem beginnt sich ein neuer Möglichkeitshorizont zu entfalten. Der Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg sah internationale Verfahren vor, deren Alternative – die staatlichen Verfahren – Deutschland umgesetzt hat. Zwar lehnten die Staaten die internationale Strafverfolgung in jedem Ereignis ab, dennoch entwickelte sie sich zu einer wiederkehrenden Alternative. Sie war durch den horizontalen Modus der Kooperation als Struktur internationaler Beziehungen begrenzt. Der horizontale Modus der Kooperation beruht auf dem Prinzip souveräner Gleichheit bzw. Gleichrangigkeit und sieht daher keinen Platz für eine internationale Strafverfolgung vor (siehe Erstes Kapitel: II.). Diese Alternative gegenüber der nationalen Strafverfolgung in den beiden genannten Ereignissen zu wählen, hätte den horizontalen Modus der Kooperation modifiziert. Zu dieser Modifikation kommt es erst zum Ende des Zweiten Weltkriegs mit den Nürnberger Prozessen. Der vertikale Modus der Kooperation ermöglicht Unter- und Überordnung in den internationalen Beziehungen. Die staatliche Souveränität verbleibt beim Prinzip der Gleichheit, allerdings existiert sie innerhalb der internationalen öffentlichen Ordnung, der sie sich im Zweifelsfall beugen soll. Die Nürnberger Prozesse markieren diese Modifikation der Kooperation, weil sie die Menschheit zu einer eigenen Instanz erheben, gegen die Verbrechen begangen werden können. Die Beschränkung der Strafverfolgung auf den Bereich der staatlichen Souveränität fällt und wird durch die Menschheit und später in der Formulierung der Präambel des Römischen Statuts auf die internationale Gemeinschaft als Ganzes erweitert. Trotzdem bleiben die Nürnberger Prozesse nur ein Ereignis auf dem Weg zu einer generalisierten Struktur internationaler Strafverfolgung, bis in den 1990er Jahren der Völkermord in Ruanda und die Sezessionskriege im ehemaligen 267
REKONSTRUKTION DER STRUKTUR INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
Jugoslawien erneut die globale Frage aufwerfen, wie mit massenhaften Verbrechen umgegangen werden soll. Bis dahin hatten die Vereinten Nationen mit ihren Mitgliedsstaaten einen Korpus der internationalen öffentlichen Ordnung entwickelt, der auf der Ebene der Weltgesellschaft die Möglichkeit internationaler Strafverfolgung vorsah, aber nicht aktualisieren konnte (siehe Erstes Kapitel: IV.; Zweites Kapitel: III.). Die organisationale Ebene schließt an diese Beobachtung an: Das Ende des Kalten Krieges und die Ereignisse in Ruanda und dem ehemaligen Jugoslawien haben scheinbar die Lage derart verändert, dass die internationale Strafverfolgung in kürzester Zeit eine konkrete Erwartungsstruktur ausbildete und konfirmierte. Bis dahin hatte sich bereits eine internationale öffentliche Ordnung entwickelt, die verschiedene Tatbestände in den Nürnberger Prinzipien und weiteren Verträgen festgehalten hat. Dies zeigt sich daran, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sich dafür entschieden hat, im Jahr 1993 das Einzelfalltribunal für Ruanda und im Jahr 1994 das Einzelfalltribunal für das ehemalige Jugoslawien zu gründen. Aus den Vereinten Nationen heraus haben sich viele Staaten 1998 auf das Römische Statut geeinigt, sodass der IStGH im Jahr 2002 seine Arbeit aufnehmen konnte. Diese Entscheidungen, den jeweiligen Strafgerichtshof zu etablieren, standen stets vor der Alternative, dies zu unterlassen. Diese Alternativen lagen demnach im Möglichkeitshorizont der jeweiligen Entscheidung und weisen darauf hin, dass die internationale Strafverfolgung keine ausgeschlossene Möglichkeit wie vor dem Zweiten Weltkrieg ist. Der Möglichkeitsbereich hat sich verändert, d.h., die Struktur auf der Ebene der Weltgesellschaft hat sich vom horizontalen zum vertikalen Modus der Kooperation modifiziert und wurde danach mit den Strafgerichtshöfen über ihren bloßen Ereignisbezug hinaus ein wiederkehrendes Strukturmoment. Gleichzeitig geht mit jedem internationalen wie hybriden Strafgerichtshof die Frage seiner Komplementarität zur nationalen Strafverfolgung einher und wird im Ereignis ausdefiniert (siehe Erstes Kapitel: IV.). Schließlich bieten die Verfahren einen notwendigen Ereignisbezug, ohne den sie keine Situation als ihren Gegenstand festhalten könnten. Der herausgearbeitete Situationsbegriff ist nicht auf ein konkretes Ereignis festgelegt, sondern ermöglicht Subsumtion kontingenter Ereignisse unter das Völkerstrafrecht. Die verschiedenen vom IStGH untersuchten Situationen sind nach ihrem Landesbezug und den Ereignissen unterschieden. Die Struktur der Situation ist danach spezifiziert, aber darüber hinaus anwendbar. Dieser Spezifizierung durch Struktur von einer Systemebene zur nächsten geht der folgende Abschnitt nach, indem er die kommunikativen Anschlussmöglichkeiten herausarbeitet.
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DIE STRUKTUR DER INTERNATIONALEN STRAFVERFOLGUNG
2. Spezifizierung kommunikativer Anschlussmöglichkeiten Die kommunikativen Anschlussmöglichkeiten verändern sich mit dem Moduswechsel. Die Anschlussfähigkeit herzustellen, ist eine Funktion von Struktur, durch die »jedes Einzelereignis mit Verweisung auf seine unmittelbare Vergangenheit und Zukunft überzogen wird und auf diese Weise rekursiv in eine Serie typengleicher Operationen eingebettet ist« (Schneider 1999: 145). Die Anschlussmöglichkeiten sind auf der organisationalen Ebene durch das Prinzip der Komplementarität zwischen nationaler und internationaler Strafverfolgung begrenzt. Das Prinzip der Komplementarität ist selbst nur vor dem Horizont eines vertikalen Modus der Kooperation möglich und spezifiziert diesen zugleich. Bei der Begrenzung der Anschlussmöglichkeiten geht es darum, wie eine Kommunikation an die nächste anschließt. Nicht jede Kommunikation ist an eine andere anschlussfähig. Nach dem preußisch-französischen Krieg war die Forderung, einen internationalen Strafgerichtshof zu etablieren, für die Entscheidung der friedensschließenden Staaten über den Übergang mit mutmaßlichen Verbrechen nicht anschlussfähig. Allerdings stand diese Möglichkeit nach dem Ersten Weltkrieg bereits zur Auswahl, ohne sie jedoch umzusetzen. Die im Versailler Vertrag geschürte Erwartung, dass internationale Verfahren durchgeführt werden, enttäuschte die deutsche Reichsregierung und wählte mit nationalen Verfahren eine Alternative. Diese Alternativen bestehen jedoch innerhalb eines kommunikativ begrenzten Horizonts von Anschlussmöglichkeiten. Bis zum Römischen Statut gewinnt dieser Horizont und die mit ihm einhergehende Begrenzung der Anschlussmöglichkeiten Konturen. Die Präambel des Römischen Statuts hält die Pflicht der Staaten und auch des IStGH fest, mutmaßliche Verbrechen zu verfolgen. Dies sieht als Spezifikation die Alternativität zwischen nationaler und internationaler Strafverfolgung vor. Allerdings liegt die Entscheidung zwischen diesen Möglichkeiten nicht mehr allein beim Staat. Der IStGH entscheidet auf der Grundlage des Völkerstrafrechts darüber, wie er die Komplementarität in einer Situation ausgestaltet (siehe Drittes Kapitel: I.). Diese Struktur lässt sich als eine Limitation beschreiben. Der Begriff »soll besagen, daß durch Eliminierung einer Variante die Wahrscheinlichkeit für eine andere steigt« (Luhmann 2017b: 22). Das Problem der Straflosigkeit internationaler Verbrechen ist nicht auf beliebige Art lösbar. Deshalb dienen staatliche und internationale Strafverfolgung »als […] wechselseitig limitierende Varianten« (Luhmann 2017b: 22). Für den Möglichkeitsbereich der Strafverfolgung internationaler Verbrechen erhöht die Selektivität zwischen diesen Selektionsvarianten die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer Strafverfolgung kommt, ohne sie jedoch erzwingen zu können. Es handelt sich um einen selbstreferentiellen 269
REKONSTRUKTION DER STRUKTUR INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
Zirkel, der den Möglichkeitshorizont entsprechend seiner Limitation aktualisiert und dabei durch Selektion diesen Horizont konfirmiert. In der Systembildung ist die Selektion aus den Möglichkeiten nicht zufällig (Luhmann 2017b: 33). »Sie wird durch Strukturen gesteuert, die die Nichtbeliebigkeit und Anschlußfähigkeit der Selektionen gewährleisten« (Luhmann 2017b: 33). Die Struktur schließt systematisch Relationierungen der Elemente aus und schränkt dadurch den Bereich möglicher Beziehungen ein. Systemdifferenzierung gewährleistet demnach hohe Selektivität und damit Spezifität (Luhmann 2017b: 34). In diesem Prozess »der Zunahme struktureller Selektivität« (Luhmann 2017b: 35) fällt auf, dass die gebildete Struktur aufgrund ihrer Selektivität gegenüber anderen, vorstellbaren Möglichkeitsbereichen kontingent ist. In Bezug auf die Lösung eines vorausgesetzten Problems ist die Struktur jedoch nicht beliebig (Luhmann 2017b: 35). Das entstehende Völkerrecht verfügt im Kriegsvölkerrecht über eine Kooperationsverständnis im horizontalen Modus, bis es der wachsenden Problemlage staatlich verursachter Massenverbrechen nicht mehr gewachsen war. Die Versuche der Staaten, über die Genfer Konventionen und die Vereinbarungen auf den Haager Friedenskonferenzen Lösungen zu entwickeln, scheiterten. Schließlich entwickelte sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine globale Wahrnehmung für die Notwendigkeit der Strafverfolgung massenhafter Verbrechen heraus, die die internationale Strafverfolgung ermöglicht hat. Diese Lösung ist in Anbetracht ihrer seit dem preußisch-französischen Krieg geforderten und seit den Nürnberger Prozessen wiederholten Anwendung nicht beliebig. Allerdings ist sie kontingent gegenüber der staatlichen Strafverfolgung. Gemeinsam bilden diese Selektionsvarianten der Strafverfolgung internationaler Verbrechen den Möglichkeitshorizont und damit eine unabhängig von der konkreten Selektion bestehende Struktur. Die empirischen Analysen der Präambel des Römischen Statuts und der Verfahrensdokumente haben gezeigt, wie innerhalb des Möglichkeitshorizonts nationaler und internationaler Strafverfolgung die Selektivität der Selektion zwischen diesen Alternativen aussieht. Demnach kommt es für die Strukturrekonstruktion nicht darauf an, dass der Gerichtshof in Situationen die internationale Strafverfolgung selegiert, sondern die Möglichkeit zur Selektion zwischen den Alternativen wiederholt besteht. Diese Selektionsmöglichkeiten sind gegenüber der konkreten Selektion nicht beliebig (siehe Drittes Kapitel: I.; Fünftes Kapitel. I.). Das Komplementaritätsprinzip auf der Organisationsebene (siehe Drittes Kapitel: IV.) und der Situationsbegriff auf der Verfahrensebene (siehe Fünftes Kapitel: V.) bilden diese Nichtbeliebigkeit der Struktur ab. Sie sind zum einen gegenüber der konkreten Selektion kontingent und zum anderen zeigen sie auf, wie über die Systemebenen hinweg Anschlussfähigkeit zueinander gewährleistet wird und damit eine Spezifizierung bzw. 270
DIE STRUKTUR DER INTERNATIONALEN STRAFVERFOLGUNG
Ausdifferenzierung erfolgt. Die Struktur wird nicht nur von Operation zu Operation eines Systems bestätigt, sondern auch im funktionalen Sinnzusammenhang, die Straflosigkeit internationale Verbrechen zu beenden, von Ebene zu Ebene durch Spezifikation wiederholt. Die qualitativen Sequenzanalysen haben die Struktur dieses funktionalen Sinnzusammenhangs sichtbar gemacht. Sie zielen auf die methodisch kontrollierte Analyse des »durch die Strukturen eingeschränkten und erst dadurch bestimmbaren Sinns von Äußerungen bzw. Äußerungssequenzen« (Schneider 1999: 152) ab. Sie richten den Blick des Interpreten darauf, den Übergang von einer Sequenz zur nächsten vor der Per spektive möglicher Alternativen zu betrachten, um die generative Regel bzw. die Struktur herauszuarbeiten. Indem diese Methodik den Übergang von einem kommunikativen Ereignis zum nächsten in den Vordergrund rückt, kann der Interpret herausarbeiten, auf welcher Selektivität die Selektionen bzw. kommunikativen Ereignisse beruhen. Jedes kommunikative Ereignis wird von ihren potentiellen, aber nicht aktualisierten Alternativen begleitet. Die Struktur wiederholt sich gegenüber diesen Ereignissen darin, dass sie die Alternativen immer wieder als Anschlussmöglichkeiten anbietet und zugleich diese Anschlussmöglichkeiten vor dem Hintergrund der getroffenen Selektion begrenzt und spezifiziert. Die Struktur stellt sicher, dass »ein Ereignis für die Selektion anderer etwas bedeutet« (Luhmann 2017b: 65). Da es eine prozessierte Struktur ist, öffnet die Institutionalisierung den Blick darauf, dass sie nicht nur im System Ereignisse miteinander verknüpft, sondern auch für andere Systeme (Verfahren, Organisation, Weltgesellschaft) etwas bedeutet. Die Analyse der Präambel des Römischen Statuts hat eine Strukturhypothese herausgearbeitet, die auf diesem Strukturverständnis beruht. Der Präambeltext konfirmiert und modifiziert von einer Sequenz zur nächsten die Struktur internationaler Strafverfolgung. Als erstes entwirft der Text das Konzept internationaler Verbrechen, die die internationale Gemeinschaft als Ganzes betreffen, und bietet damit ein Ausgangsproblem, dass nach dem Text die Staaten oder internationale Zusammenarbeit lösen können. Der Text stellt eine konkrete Erwartung vor der Problemstellung auf, dass die Straflosigkeit internationaler Verbrechen bekämpft werden muss und bietet als Anschlussmöglichkeiten hierfür nationale oder internationale Strafverfolgung an. Der Text konfirmiert dieses Verhältnis und damit den vertikalen Modus der Kooperation im Komplementaritätsprinzip als wiederkehrende Fragestellung, wie das Ausgangsproblem der Straflosigkeit bearbeitet werden soll (siehe Drittes Kapitel: III.). Dafür setzt der Text die Erwartung voraus, dass der Kampf gegen die Straflosigkeit internationaler Verbrechen aufgenommen werden muss. Dieses Ausgangsproblem ist selbst ein kommunikativer Anschluss an eine Vielzahl möglicher Herausforderungen im Horizont der 271
REKONSTRUKTION DER STRUKTUR INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
Weltgesellschaft. Der Text zeigt, dass aus diesem Horizont Möglichkeiten selegiert und an diese angeschlossen wird. Auf diese Weise spezifiziert der Text die Struktur internationaler Strafverfolgung, weil er sie als sein Ausgangsproblem und damit für das im Römischen Statut kodifizierte Völkerstrafrecht ausweist, auf dessen Grundlage der IStGH operiert und seine Verfahren durchführt. Während auf der weltgesellschaftlichen Ebene für das Völkerrecht das Kooperationsverständnis im vertikalen Modus prägend ist, stellt das Komplementaritätsprinzip die organisationale Spezifizierung dar. Beide Begriffe bezeichnen den Möglichkeitshorizont auf der jeweiligen Systemebene und sind empirisch fundierte Begriffe, um die Struktur internationaler Strafverfolgung zu erfassen. Die Strafverfolgung setzt der Gerichtshof schließlich um, indem er Verfahren veranstaltet. Die Situation schließt als spezifizierter Horizont an die Organisation und die Weltgesellschaft an. Mit dem Situationsbegriff geht die Präsupposition des Völkerstrafrechts und damit des Prinzips der Komplementarität und des vertikalen Modus der Kooperation einher. Zwischen den organisationalen und weltgesellschaftlichen Horizonten in der Umwelt des Verfahrens lässt sich keine Hierarchie festhalten. Die soziale Ebenendifferenzierung schließt dies als analytische Trennung aus, weil sie jeweils eine bestimmte Umweltbeziehung des Verfahrens bezeichnen: vertikaler Modus und Komplementarität. Diese Umweltbedingungen determinieren den Möglichkeitshorizont, an den sich das Verfahren anpassen muss. Gleichzeitig sieht sich das Verfahren einer konkreten Lage in einem Land gegenüber, an das es ebenso angepasst sein muss. Die strukturellen Lasten der verschiedenen Systemebenen kulminieren auf der Verfahrensebene, weil sie durch die Präsupposition der Situation entschieden werden müssen. Die Situation ist der Begriff, der die verschiedenen Umweltbedingungen adressiert und zu einem Verfahrensgegenstand ausdifferenziert. Deshalb stellt das Verfahren eine weitere Spezifikation gegenüber Organisation und Weltgesellschaft dar. Die Abstraktion der unentscheidbaren Problemstellungen des vertikalen Modus der Kooperation und der Komplementarität internationaler und nationaler Strafverfolgung gibt das Verfahren auf. Der Begriff der Situation verweist bereits auf die Konkretheit von Ereignissen, die die Struktur internationaler Strafverfolgung verknüpfen muss. Im Verfahren wird die Struktur internationaler Strafverfolgung präsupponiert und dann im Verfahrensauftakt entfaltet. Dieses voraussetzungsreiche Vorgehen hatte sich in der Entscheidung des Präsidenten gezeigt, die Situation an die Vorverfahrenskammer zu überweisen. Bereits der Titel hatte die Analyse auf den Situationsbegriff gestoßen und die damit einhergehende emergente Strukturbildung des Verfahrens und seine Makrodetermination durch die Umwelt angedeutet (siehe Fünftes Kapitel: II.). Der Antrag des Anklägers hatte diese Vermutung bestätigt, weil er den Situationsbegriff durch die hinreichende 272
DIE STRUKTUR DER INTERNATIONALEN STRAFVERFOLGUNG
Grundlage ausführt, um Ermittlungen einzuleiten. Der Antrag orientiert sich an die aus der Umwelt herangetragene Erwartungsstruktur des Völkerstrafrechts und buchstabiert die Situation durch Art. 53 I (a)-(c) RS aus, der die Kriterien für die hinreichende Grundlage bietet, Ermittlungen einzuleiten. Der Antrag des Anklägers konfirmiert die Struktur internationaler Strafverfolgung (siehe Fünftes Kapitel: III.). Eine weitere besonders auffällige Stelle war im dokumentierten Zusammentreffen des Anklägers mit dem Präsidenten und Ministerpräsidenten Kenias zu sehen. Die Regierungsvertreter Kenias und der Ankläger stellten offen ihr unterschiedliches Verständnis über die Komplementarität zur Schau und schlossen auch damit an diese Umweltbedingung an. Sie haben ihr unterschiedliches Verständnis in das Verfahren hineingezogen und damit zu einer Frage erhoben, die entschieden werden muss. Die Bezugnahme zum vertikalen Modus der Kooperation ließ sich vor allem in zwei Aspekten erkennen: Zum einen waren die Untersuchungskommissionen, um die Gewalt nach der Wahl 2007 in Kenia aufzuarbeiten, international besetzt. Zum anderen hat sich der Ankläger wiederholt mit Vertretern der Zivilgesellschaft und Regierung Kenias getroffen hat, um entweder eine nationale oder internationale Strafverfolgung in Gang zu setzen. Beide Aspekte haben in der empirischen Analyse gezeigt, dass sie in Bezug zur strafrechtlichen Aufarbeitung der Gewalt nach der Wahl 2007 in Kenia stehen. Unter dieser Bezugnahme setze dann die Frage der Komplementarität ein (siehe Fünftes Kapitel: III.3.). Die Verfahrensanalyse hat diese kommunikativen Anschlüsse aufgezeigt und zugleich deutlich gemacht, dass es sich um eine spezifizierte Struktur internationaler Strafverfolgung handelt, die sich in diesem Ereignis der Gewalt nach der Wahl 2007 durch die Beschreibung als Situation wiederholt. 3. Generalisierung der Erwartungsstruktur Diese über die Systemebenen durch den vertikalen Modus der Kooperation, das Prinzip der Komplementarität und schließlich die Situation spezifizierte Struktur internationaler Strafverfolgung ist zugleich generalisiert. Luhmann spricht bei Struktur im Rechtskontext auch von der Erwartungsstruktur, weil Erwartungen den Bereich anschlussfähiger Kommunikation determinieren. Erwartungen können erfüllt oder enttäuscht werden, an ihnen ist demnach die Selektivität zwischen Erfüllung oder Enttäuschung als Selektion ablesbar (Luhmann 2018: 134 ff.; 2008: 53 ff.). Die Situation, das Prinzip der Komplementarität und der vertikale Modus der Kooperation bringen eine solche Erwartungsstruktur zum Ausdruck. Der vertikale Modus der Kooperation erwartet in diesem Kontext, dass das Völkerstrafrecht als übergeordneter Standard 273
REKONSTRUKTION DER STRUKTUR INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
gilt. Das Völkerstrafrecht erwartet, dass die Straflosigkeit internationaler Verbrechen bekämpft wird und bezogen darauf erwartet das Prinzip der Komplementarität, dass nationale oder internationale Strafverfolgung diese Aufgabe übernehmen. Schließlich setzt die Situation die Verknüpfung dieser Umweltbedingungen mit konkreten Ereignissen und ermöglicht die Strafverfolgung nach Maßgabe der Strukturgegebenheiten der Umwelt. Eine solche Erwartungsstruktur lässt sich als generalisiert beschreiben, »soweit sie vom Einzelereignis unabhängig besteht, von einzelnen Abweichungen, Störungen, Widersprüchen nicht betroffen wird und Schwankungen, auch in den relevanten Umständen, innerhalb gewisser Grenzen überdauert« (Luhmann 1999: 55/56). Luhmann versteht Generalisierung in drei Dimensionen als Sicherungen in sachlicher Hinsicht gegen Zusammenhangslosigkeit und Widersprüche, in zeitlicher Hinsicht gegen Abweichungen und Enttäuschungen und in sozialer Hinsicht gegen Dissens (Luhmann 1999: 56). Luhmann fast die Anforderungen an soziale Systeme für die Generalisierung ihrer Erwartungsstruktur gegenüber der Umwelt folgendermaßen: »Ein soziales System, das in einer unkontrollierbaren, veränderlichen Umwelt bestehen will, benötigt eine generalisierte Erwartungsstruktur, die invariant gehalten werden kann und trotzdem elastisch genug ist, um differenzierte Reaktionen zu erlauben« (Luhmann 1999: 60).
In »Funktion und Folgen formaler Organisation« (1999) erarbeitet Luhmann das Konzept der Generalisierung in Bezug auf Organisationen. Dies schränkt seine Anwendbarkeit für die Rekonstruktion der Struktur internationaler Strafverfolgung durch den IStGH nicht ein. Der IStGH ist eine Organisation in der Weltgesellschaft und die empirische Analyse bezieht sich insbesondere auf die Punkte der Systembildung, bei denen nach dem zuvor diskutierten Strukturbegriff stets davon auszugehen ist, dass es sich beim IStGH und seinen Verfahren selbst um Ausschnitte aus dem Horizont der Weltgesellschaft handelt. Gleichzeitig ist das Römische Statut nicht nur Gründungsdokument des Gerichtshofs, sondern auch des kodifizierten Völkerstrafrechts. Die Präambel des Römischen Statuts zu analysieren, hatte den Vorzug dieser Doppelstellung des Gegenstands und eignet sich daher, um Aussagen auf der Ebene der Weltgesellschaft zu treffen. In zeitlicher Hinsicht ermöglicht eine normative Erwartungsstruktur, dass sie gegenüber Enttäuschungen resistent ist. Es kommt damit weder auf den sozialen Konsens noch auf eine persönliche Einstellung gegenüber der Erwartungsstruktur für ihre Geltung an. Luhmann bezieht dies vor allem für die Mitgliedschaft in einer Organisation darauf, dass sich die Mitglieder, um in eine Organisation einzutreten, an die Erwartungen binden müssen, solange sie Mitglied sind (Luhmann 1999: 61). 274
DIE STRUKTUR DER INTERNATIONALEN STRAFVERFOLGUNG
Die Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind nichts anderes als Mitglieder einer Organisation und eines damit verbundenen Vertrags. Das bemerkenswerte an diesem Vertrag ist, dass er auch für Nicht-Mitglieder Geltung entfalten kann, wenn der Sicherheitsrat dies beschließt. Die Präambel verdeckt dieses Begründungsproblem, indem sie über die Parenthese die Vertragsstaaten vor die Klammer zieht und der Text selbst sich als reine Anknüpfung an eine vorhandene Erwartungsstruktur ausweist (siehe Drittes Kapitel: II.2.). In der Weltgesellschaft ist es demnach möglich, dass sich eine Erwartungsstruktur so weit generalisiert, dass sie nicht mehr nur auf die Mitgliedschaft in einer Organisation bezogen bleibt, sondern auf der Ebene der Weltgesellschaft ihren Platz findet. In sachlicher Hinsicht geht es um die »Bildung konsistenter Rollenzusammenhänge« (Luhmann 1999: 63). Die Erwartungsstruktur muss so konsistent sein, dass die Mitglieder ihr folgen können, ohne sich zwangsläufig in Widersprüche zu verstricken (Luhmann 1999: 63). Die Erwartungsstruktur erbringt eine sachliche Orientierungsleistung (Luhmann 1999: 64). Das Völkerstrafrecht konsolidiert die Rollen der Staaten, Täter, Opfer und Zeugen. Allerdings löst es nicht, ob sich Personen in ihren Rollen konsistent verhalten, und beantwortet nicht, ob die Erwartungsstruktur vollständig widerspruchsfrei ist. Es geht um die Möglichkeit widerspruchsfreien Verhaltens. Vor dem Hintergrund der begangenen Massenverbrechen bietet die Erwartungsstruktur eine sachliche Orientierung mit ihren Rollen, aber auch Beschreibungskategorien, Verhaltens- sowie Sanktionserwartungen. Dieser Aspekt war insbesondere in der Verfahrensanalyse beim Antrag des Anklägers deutlich geworden, als er unterschiedliche internationale Organisationen aufgerufen hat, die die Situation in Kenia in vergleichbarer Weise beschreiben und damit zueinander kompatible Beobachtungskategorien entwickelt haben (siehe Fünftes Kapitel: III.4.). Schließlich geht Luhmann in sozialer Hinsicht auf die Institutionalisierung ein. Er führt die Figur des Dritten ein, um zu zeigen, dass Konsens und Dissens einer Person nicht die Erwartungsstruktur zu Fall bringen. Wie ist die Struktur internationaler Strafverfolgung in der Weltgesellschaft institutionalisiert? Die Antwort beschreibt, dass sich innerhalb der Weltgesellschaft soziale Systeme ausdifferenzieren, weil sie einen spezifischen makrodeterminierten Ausschnitt ihrer Umwelt bearbeiten und dabei eine Systemstruktur ausbilden. Institutionalisierung ermöglicht nicht nur, Konsens zu unterstellen, sondern zeigt die Interdependenz der nach Systemebenen differenzierten Struktur internationaler Strafverfolgung auf. Luhmann hat die Systemfunktion der Struktur in der Verknüpfung von Operationen im Folgenden deutlich erfasst, demgegenüber streift er nur die Umweltdetermination:
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REKONSTRUKTION DER STRUKTUR INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
»Sie [Kommunikationssysteme] determinieren alle eigenen Strukturen durch das Ereignis eigener Operationen, und zwar so, daß sie nicht nur die Erzeugung der verfügbaren Strukturen, sondern auch deren Auswahl von Moment zu Moment zur Erzeugung der jeweils aktualisierten Operationen abhängig machen von dem Resultat der gerade zuvor aktualisierten Operationen. Das ändert jedoch nicht das geringste daran, daß es sich um determinierte Systeme handelt und um Systeme, die jeweils nur das tun, was sie tun« (Luhmann 1992: 278).
Die Institutionalisierung der Struktur internationaler Strafverfolgung ist ein Prozess, der beide Seiten erfasst. Auf der einen Seite bringt dieser Prozess globale Vernetzung und damit emergente Strukturbildung hervor. Auf der anderen Seite diffundieren institutionelle Muster und entfalten ihre makrodeterminative Wirkung. Die beiden Seiten der Institutionalisierung lassen sich nicht empirisch, aber analytisch voneinander trennen. Der theoretische Ansatz, die Institutionalisierung in der Weltgesellschaft zu beschreiben, greift das Problem des horizontalen Modus der Kooperation auf, die wechselseitigen Erwartungen nicht absichern zu können. Als theoretisches Konstrukt handelt es sich um das Problem doppelter Kontingenz. Alter und Ego können zwar wechselseitiges Erwarten eta blieren, aber sie können es nicht absichern. Institutionalisierung stellt einen Kommunikationszusammenhang her, der über Alter und Ego hinaus geht. Ein Dritter übernimmt die Funktion, das wechselseitige Erwarten über Alter und Ego hinaus öffentlich zu machen. Der Dritte ist der Garant dafür, dass sich andere an der Kommunikation beteiligen können (siehe Zweites Kapitel: Einleitung und I.). Es entsteht eine reflexive Erwartungsstruktur: Erwartungserwartungen. Dritte erwarten, dass Alter und Ego wechselseitig voneinander ein bestimmtes Verhalten erwarten (Luhmann 2008: 65 ff.). Das Reflexivwerden des Erwartens in den internationalen Beziehungen scheint sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu etablieren. Im horizontalen Modus der Kooperation konnten nur andere Staaten als Dritte auftreten, allerdings konnte keiner der Staaten die Rolle einer Weltöffentlichkeit einnehmen. Die Hauptankläger in den Nürnberger Prozessen haben erstmals die Menschheit als eigene, von den Staaten unabhängige Instanz aufgerufen und damit eine globale Öffentlichkeit adressiert. Die Öffentlichkeit und die damit einhergehende Möglichkeit zur Partizipation fehlten dem auf wechselseitigem Erwarten unter Staaten angelegten horizontalen Modus der Kooperation. Die Modifikation zu einem vertikalen Modus der Kooperation schuf diese Möglichkeiten und damit viele internationale Organisationen, die ohne Einschränkungen für sich in Anspruch nehmen, ein Themenfeld zu besetzen. Sie sind die Dritten, die die Weltgesellschaft repräsentieren und die Öffentlichkeit sicherstellen, indem sie Partizipationsmöglichkeiten schaffen. Das Erwarten zwischen Staaten wird reflexiv, weil die Weltöffentlichkeit ihr wechselseitiges 276
DIE STRUKTUR DER INTERNATIONALEN STRAFVERFOLGUNG
Erwarten erwartet. Dieses reflexive Erwarten bildet globale Struktur, weil es Möglichkeitshorizonte entwirft, an denen Kommunikation jederzeit und überall anschließen kann (siehe Zweites Kapitel: III.). Empirisch zeigt sich dies an der Präambel des Römischen Statuts im Übergang von der Weltgesellschaft zur Organisation. Die Analyse hat eine Vielzahl von Dritten und bereits vorhandenen Erwartungen der internationalen öffentlichen Ordnung aufgezeigt. Die Vertragsstaaten haben an diese angeschlossen, um die Erwartung, dass Staaten und der Internationale Strafgerichtshof internationale Verbrechen verfolgen, nicht mehr begründen zu müssen. Mit der Parenthese haben die Staaten sich selbst ausgeklammert und das über den Vertrag vereinbarte wechselseitige Erwarten reflexiv werden lassen. Die im Römischen Statut ausgehandelten Erwartungen werden nach der Präambel bereits erwartet. Die Präambel und damit das gesamte Römische Statut schließen nur an die internationale öffentliche Ordnung an. Dies fingiert einen Konsens, der sich in der Abstimmung über das Statut nicht realisiert hat, aber seinen normativen Widerhall darin findet, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Gerichtsbarkeit des IStGH erweitern kann (siehe Drittes Kapitel: III. und IV.). Mit dem Römischen Statut entsteht eine reflexiv generalisierte Erwartungsstruktur. Sie ist durch ihre Umweltorientierung an bereits vorhandenes Völkerrecht, aber auch ihre historische Entwicklung ma krodeterminiert. Indem die Vertragsstaaten im Römischen Statut einen einheitlichen Korpus des Völkerstrafrechts positiv rechtlich kodifizieren, legen sie vor diesem makrodeterminierten, weltgesellschaftlichen Horizont die Strukturbildung auf der Organisationsebene an. Diese Struktur ist im IStGH spezifischer als der gesamte Horizont der Weltgesellschaft, weil die Vertragsstaaten nur in Bezug auf die Erwartung, internationale Verbrechen zu verfolgen, weitere Erwartungen ausbildet. Der Gerichtshof spezifiziert diese Erwartungen aus dem Römischen Statut seinerseits und darauf entwickelt sich ein eigener Horizont auf der Organisationsebene, der jedoch von seiner Makrodetermination durch die Weltgesellschaft abhängig ist. Im Ergebnis ist das konkrete Erwarten aus dem Römischen Statut reflexiv, weil es von globalen Erwartungen erwartet wird. Gleichzeitig sind diese globalen Erwartungen selbst reflexiv, weil sie für das konkrete Erwarten auf der Organisationsebene vorausgesetzt werden. Hinter dieser doppelten Reflexivität verbirgt sich der Prozess emergenter Strukturbildung. Der Anfangspunkt der Strukturbildung lässt sich im Sinne eines Möglichkeitshorizonts, indem die Struktur die Selektivität der Selektion beschreibt, nicht festhalten. Eine reflexiv generalisierte Erwartungsstruktur setzt stets Erwartungen voraus, auf die sie sich beziehen kann. Dies überführt die Strukturbildung auf eine kontinuierliche Spezifizierung, die im Fall der internationalen Strafverfolgung vom 277
REKONSTRUKTION DER STRUKTUR INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
Horizont der Weltgesellschaft zum IStGH auf der Ebene der Organisation und schließlich seinen Verfahren geschieht. Zwar ist der Gerichtshof entscheidungsfähig, allerdings kann er keine Entscheidung über die Komplementarität internationaler Strafverfolgung als die ihm vorausgesetzte Erwartung fällen. Der Gerichtshof wendet makrodeterminiert seinen Blick auf die Strafverfolgung und schließt damit an die Erwartungen aus dem Römischen Statut an (siehe Drittes Kapitel: I.). Sie strukturieren sein Verhalten, indem sie ihm einen Möglichkeitshorizont präsentieren, innerhalb dessen er Entscheidungen fällen kann. Dieses Verhalten lässt sich konkret in den Verfahren des Gerichtshofs beobachten. In den Verfahren trifft der Gerichtshof innerhalb seiner Erwartungsstruktur auf Ereignisse, die aus seiner Sicht Gegenstand der Strafverfolgung sind. Hierfür hält der Gerichtshof seine Gerichtsbarkeit, die Zulässigkeit und das Interesse der Gerechtigkeit an Ermittlungen fest, um die beobachteten Ereignisse als Situationen zu beschreiben (Fünftes Kapitel). Die Situation markiert wie die Präambel des Römischen Statuts die Makrodetermination der Umwelt und die emergente Strukturbildung des Verfahrens. Der Gerichtshof präsupponiert die Situation, um die mit ihr einhergehenden Erwartungen vorauszusetzen und prüft diese Erwartungen, um eine hinreichende Grundlage für Ermittlungen zu begründen. Von der Ebene der Organisation, auf der das Römische Statut die Erwartungsstruktur bezeichnet, nimmt die Situation diese Stellung auf der Ebene des Verfahrens ein. Aus der Umwelt bezieht der Gerichtshof die beobachteten Ereignisse ein und knüpft an die Erwartungen aus dem Römischen Statut an, um sie über ein subsumtives Vorgehen miteinander zu verbinden. Die Struktur des Verfahrens bildet vor der Umwelt der Weltgesellschaft und der Organisation einen spezifizierten Ausschnitt. Diese Struktur ist durch die Subsumtion der Ereignisse unter die Erwartungen des Römischen Statuts bestimmt. Die Ereignisse sind dabei für jedes Verfahren kontingent. Daher bildet die Situation eine abstrakte und für jedes Verfahren kontingente Struktur. Die Struktur ist reflexiv, weil sie die Erwartungen aus dem Römischen Statut in der Subsumtion an die Ereignisse anpasst und damit die Erwartungsstruktur für das Verfahren anhand der so definierten Situation bestimmt. Das Verfahren löst das Problem doppelter Kontingenz im Hinblick auf die Unbestimmtheit des Verhaltens, indem es die Situation präsupponiert. Auf der einen Seite setzt es die Situation als makrodeterminiert voraus und auf der anderen Seite bildet es daraufhin eine spezifische Struktur für das Verfahren aus. Daher lässt sich auch hier wieder von einer emergenten Strukturbildung sprechen, die sich in der Reflexivität der Erwartungsstruktur zeigt. Die Besonderheit des Verfahrens liegt in seiner Offenheit und Geschlossenheit. Die Offenheit reflektiert den Umstand, dass die Verfahren vor der Weltöffentlichkeit stattfinden und der Beteiligung am Verfahren 278
DIE STRUKTUR DER INTERNATIONALEN STRAFVERFOLGUNG
keine Grenzen gesetzt sind. In dieser Hinsicht finden die Verfahren des Gerichtshofs in der Weltgesellschaft, weil sie die Weltöffentlichkeit und die damit einhergehenden Partizipationsmöglichkeiten als Figur des Dritten benutzen. In der Situation in Kenia haben verschiedene internationale Organisationen ihre Mitglieder nach Kenia gesendet, um da raufhin Berichte über die dortige Lage zu veröffentlichen. Diese Berichte sind in das Verfahren eingeflossen und haben die Informationsgrundlage für den Anfangsverdacht des Anklägers gebildet. Die Offenheit des Verfahrens und die Partizipationsmöglichkeiten vergrößern die Bandbreite der verfügbaren Informationen und schaffen einen globalen Kommunikationszusammenhang, in dessen Zentrum die Situation steht (siehe Fünftes Kapitel: V.). Gleichzeitig ist das Verfahren geschlossen. Der Gerichtshof veranstaltet das Verfahren und kann dies nur innerhalb seines eigenen Möglichkeitshorizonts. Indem das Verfahren die Situation zu seinem Gegenstand macht, schließt sich das Verfahren in der Vorverfahrensstufe durch die Subsumtion gegenüber der Umwelt. Die Umwelt ist dann nur noch insoweit relevant, wie sie unter den Begriff der Situation fällt. Die Geschlossenheit beschreibt die Spezifizierung des Verfahrens gegenüber der Organisation des Gerichtshofs. Luhmann beschreibt dies abstrakt, indem er annimmt, dass soziale Systeme Komplexität zugleich ab- und aufbauen (Luhmann 2015a: 134 ff.). Das Verfahren baut die Umweltkomplexität ab, indem es nur noch die Situation als Gegenstand zulässt. Gleichzeitig baut das Verfahren Komplexität auf, weil es die Situation vom Vorverfahren über die Ermittlung zu den einzelnen Klageerhebungen vertieft und damit immer mehr Details zulässt (siehe Fünftes Kapitel: V.). Diesen Übergang von Komplexitätsaufbau und -reduktion organisieren die Präambel des Römischen Statuts von der Weltgesellschaft zur Organisation und der Situationsbegriff von der Organisation zum Verfahren. Auf jeder Ebene bleibt die Weltgesellschaft als Horizont vorhanden, um für die internationale Strafverfolgung die Weltöffentlichkeit und damit vor allem die internationalen Organisationen mobilisieren zu können. Dies gewährleistet auf jeder Ebene, dass die Figur des Dritten vorhanden ist und damit der Konsens über die Erwartungsstruktur fingiert werden kann. Auf jeder Ebene findet die Struktur internationaler Strafverfolgung ihren spezifischen Ausdruck: vertikaler Modus der Kooperation (Weltgesellschaft), Komplementaritätsprinzip (Organisation) und Situation (Verfahren). Die Struktur internationaler Strafverfolgung ist eine reflexiv generalisierte Erwartungsstruktur. Sie bildet auf der Ebene der Weltgesellschaft in ihrer historischen Entwicklung Anschlussmöglichkeiten für die internationale Strafverfolgung im vertikalen Modus der Kooperation aus, die sich im Römischen Statut positiv rechtlich manifestieren, bzw. darin kodifiziert sind. Der Gerichtshof steht vor diesem Horizont als Alternative 279
REKONSTRUKTION DER STRUKTUR INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
zur nationalen Strafverfolgung. Sowohl die nationale wie die internationale Strafverfolgung völkerstrafrechtlicher Verbrechen im Prinzip der Komplementarität orientiert sich an der Erwartung, die Straflosigkeit dieser zu beenden. Der Gerichtshof bildet auf der Ebene der Organisation eine eigene spezifizierte Struktur aus, mit der er seine Entscheidungsfähigkeit im Hinblick auf diese Erwartung sicherstellt. Diese Entscheidungsfähigkeit kommt in Situationen zum Tragen, in denen der Gerichtshof die Komplementarität zur nationalen Strafverfolgung bestimmt. Es handelt sich dabei um eine wiederkehrende Fragestellung, die von der Kontingenz der Situation lebt und zugleich auf diese angewiesen ist. Die Komplementarität nationaler und internationaler Strafverfolgung ist selbst reflexiv gegenüber dem vertikalen Modus der Kooperation. Dieser Modus bietet dem Gerichtshof, den internationalen Organisationen und der Weltöffentlichkeit die Möglichkeit an der globalen Kommunikation zu partizipieren und sich so zu vernetzen.
II. Die Verbindlichkeit der institutionalisierten Struktur internationaler Strafverfolgung Die Struktur internationaler Strafverfolgung beschreibt die Selektivität der Selektionen aus den Möglichkeitshorizonten der drei Systemebenen in Bezug auf die Herausforderung, die Straflosigkeit internationaler Verbrechen zu beenden: vertikaler Modus der Kooperation (Weltgesellschaft), die Komplementarität staatlicher und internationaler Strafverfolgung (Organisation) und die Situation (Verfahren). Indem diese Struktur die Selektivität der Selektionen erfasst, bleiben die Selektionen selbst kontingent. Daher garantiert die Struktur nicht den Erfolg internationaler Strafverfolgung durch den IStGH. Die Erwartungsstruktur kann sowohl enttäuscht als auch erfüllt werden. Wenn das Verhalten gegenüber der Erwartungsstruktur kontingent ist, wie verbindlich ist dann die Struktur internationaler Strafverfolgung? Im vorgeschlagenen Konzept der Verbindlichkeit beschreibt sie die kommunikative Selbstbindung der Beteiligten an einem Verfahren. Die Verfahrensbeteiligten übernehmen in sachlicher Hinsicht Rollen und stellen in sozialer Hinsicht ihre Interpretation der Ereignisse dar, zu der andere Verfahrensbeteiligte Stellungnehmen können. Hinter diese Äußerungen können die Beteiligten in zeitlicher Hinsicht nicht zurücktreten und binden sich so kommunikativ an ihre Darstellung und verdichten sie zu einer im Verfahren erarbeiteten Entscheidung (vgl. Viertes Kapitel: III.; de Vries 2021b). Die internationale Strafverfolgung abzulehnen, ist dabei eine anschlussfähige Kommunikation (siehe Viertes Kapitel: I.). Dass Staaten, internationale Organisationen oder Individuen 280
DIE VERBINDLICHKEIT DER INSTITUTIONALISIERTEN STRUKTUR
kontingente Entscheidungen fällen, überrascht von diesem Standpunkt aus nicht. Wenn ihr Verhalten durch die kommunikative Selbstbindung an die internationale öffentliche Ordnung, das Römische Statut und die Situation zu beobachten ist, dann fragt sich, wie Widersprüche der generalisierten Erwartungsstruktur unter den Systemebenen ausgehandelt werden. Die Beteiligten können sich den unterschiedlichen Erwartungen aus Legitimitätsgründen nicht entziehen, aber nicht alle Erwartungen zugleich erfüllen (vgl. Hasse/Krücken 1999: 68; siehe Viertes Kapitel: I. und II.). Luhmann formuliert dies vor der Problemstellung doppelter Kontingenz folgendermaßen: »Erstens werden Selektionszusammenhänge in die Einzelselektion eingebaut, da jedes Ego auch als Alter seines alter Ego fungiert und dies mitberücksichtigt. Dies ist keineswegs eine Vorausgarantie für Konsens oder auch nur für Stimmigkeit der Selektionszusammenhänge, da man sich in den Projektionen verschätzen oder sich auch bewußt auf Konflikt einlassen oder auf Auflösung hintreiben kann. Die Tragweite dieses Einbaus von Selektionszusammenhängen in Selektionen ergibt sich, und das ist der zweite Gesichtspunkt, in ganz anderer Hinsicht: daß nämlich auch Selektionszusammenhänge seligiert werden können« (Luhmann 2012: 188).
Im Hinblick auf doppelte Kontingenz sind weder die Selektionszusammenhänge noch die Einzelselektionen aus diesen Zusammenhängen bestimmt. Diese doppelte Selektivität fällt dann auf, wenn nach der Verbindlichkeit der Struktur internationaler Strafverfolgung gefragt wird. Die internationale Strafverfolgung ist dann ein Selektionszusammenhang neben anderen. Dies verweist auch darauf, dass die Selektionszusammenhänge »nicht wie eine Menge von Gegenständen, sondern als Ordnungsgesichtspunkte« (Luhmann 2012: 189) gewählt werden. Sie ermöglichen, Komplexität zu reduzieren, d.h. »Systeme als Reduktionsperspektiven für sich selbst und ihre Umwelt« (Luhmann 2012: 189) zu selegieren. Die Verbindlichkeit als kommunikative Selbstbindung zeigt, wie diese doppelte Selektivität der Sinnzusammenhänge und der Einzelselektionen in Widersprüche verstrickt sein kann. Kenia hat eine monistische Verfassung und entsprechende Rechtsprechung, die demnach dem Kooperationsverständnis des vertikalen Modus folgt. Außerdem stimmen Präsident und Ministerpräsident in ihren Stellungnahmen im analysierten Verfahren dem Komplementaritätsprinzip explizit zu. Allerdings können sie keine eigene Strafverfolgung etablieren. Sie beharren trotzdem darauf, dass die nationale der internationalen Strafverfolgung vorausgeht (Fünftes Kapitel: II.). Wenn die Umwelt so heterogene Erwartungen stellt, dann genügt es nicht, auf das Selbstinteresse der Beteiligten oder die einzelnen Erwartungen auf der Systemebene zu reduzieren (vgl. Hasse/Krücken 1999: 68 f.). Die Regierung Kenias 281
REKONSTRUKTION DER STRUKTUR INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
sieht sich anderen Umweltanforderungen ausgesetzt als die internationale Strafverfolgung durch den IStGH. Die Komplexität des politischen Systems Kenias kann die internationale Strafverfolgung nur insoweit erfassen, wie es in Beziehung dazu steht, die Strafverfolgung zu gewährleisten. Der Antrag des Anklägers hat dies vorgeführt, indem der Text die Schilderung ganz auf diesen Bezugspunkt fixiert hat. Die erwähnten parlamentarischen Entscheidungen gegen ein Sondertribunal ließen die Komplexität des politischen Systems außer Acht, weil sie zum einen durch den IStGH nicht behandelbar und zum anderen zu komplex sind. Dies weist darauf hin, dass erst die kommunikative Selbstbindung eines Staates wie Kenia es ermöglicht, Widersprüche der generalisierten Erwartungsstruktur unter den Systemebenen auf dem Rücken der Beteiligten auszutragen (siehe Viertes Kapitel: I.; Fünftes Kapitel: II.). Die Staaten, internationalen Organisationen und Personen entdecken die Widersprüche durch ihr kontingentes Verhalten. Die dargestellte Struktur internationaler Strafverfolgung ist ein Erwartungszusammenhang, neben dem die Staaten, internationalen Organisationen und weitere in andere Erwartungszusammenhänge eingebunden sind. Das Verhalten der Staaten lässt sich daher nicht einfach auf das nationale Interesse oder den Selbstschutz der Regierenden reduzieren, weil Staaten von ihrem Standpunkt mit einer anderen Umwelt und entsprechenden Umwelterwartungen konfrontiert sind als die internationale Strafverfolgung. Dies öffnet jedoch die Perspektive auf die herausgearbeitete Struktur internationaler Strafverfolgung zur darüber hinausreichenden Komplexität der sozialen Systeme, der Teilnehmer und ihrer jeweiligen Umwelt. Daran schließen sich vielfältige empirische Fragen auf jeder der Systemebenen an. Nils Brunsson (2006) hat für Organisationen festgestellt, dass sie teilweise nicht mit ihrer institutionalisierten Umwelt vereinbar sind. Darauf beruht die Trennung in formale und informale Organisationen (Brunsson 2006: 7). Dies könnte auch auf den IStGH zutreffen, der in formaler Hinsicht dem Völkerstrafrecht folgt, aber informal die staatliche Strafverfolgung wie in Kenia zu organisieren versucht, damit kein Konflikt zur staatlichen Souveränität entsteht. Aber auch in der formalen Organisation können Inkonsistenzen auftreten, die widersprüchliche Erwartungen hervorbringen (Brunsson 2006: 8 f.). Daraus folgert Brunsson: »Both integrative and disintegrative qualities can be dysfunctional, but both can also be important or even necessary to the survival of an organization; it all depends on the situation, on the kind of environment, or on the tasks that the organization is trying to solve« (Brunsson 2006: 11).
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DIE VERBINDLICHKEIT DER INSTITUTIONALISIERTEN STRUKTUR
Die Komplexität der Umwelt gerät auf diese Weise wieder in den Blick und zeigt, welche komplexitätsreduzierende Funktion die Analyse der Struktur internationaler Strafverfolgung hat, ohne jedoch die Umwelt in Abrede zu stellen oder den rechtlichen Charakter des Völkerstrafrechts überzubetonen. Die sozialen Systeme erhalten in diesen unterschiedlichen Erwartungszusammenhänge und den daraus resultierenden Widersprüchen neue Freiräume für die Selektion von Möglichkeiten. Daher lässt sich für die Struktur internationaler Strafverfolgung festhalten, dass sie einen Möglichkeitshorizont zur Verfügung stellt, der sich durch kommunikative Selbstbindung als verbindlich erweist und erst so den Widerspruch zu anderen Erwartungszusammenhängen hervorrufen kann. Erst dadurch entstehen graduelle Freiheitsgrade für die Selektion, weil die Beteiligten zwar in verschiedene Erwartungszusammenhänge verstrickt sind, aber auswählen, an welchen sie ihr Verhalten orientieren. In der Aufarbeitung innerstaatlicher Gewaltkonflikte ist dies relevant, weil die Strafverfolgung nur als eine Möglichkeit neben Wahrheits- und Versöhnungskommissionen und anderen Einrichtungen steht, die eine Amnestie vorsehen können. In dieser Hinsicht ist nicht mehr der funktionale Bezug dazu, die Straflosigkeit internationaler Verbrechen zu beenden, relevant, sondern wie der innerstaatliche Gewaltkonflikt dauerhaft befriedet werden kann. Das Konzept der Tranistional Justice greift diese Fragestellung auf und diskutiert unterschiedliche Möglichkeiten, wie die Transition vom Gewaltkonflikt zu einem dauerhaften Frieden bewältigt werden kann. Die internationale Strafverfolgung wird in diesen Kontexten teilweise als kontraproduktiv in Aufarbeitungsprozessen angesehen, weil sie den Eindruck erweckt, dass das Täter-Opfer-Verhältnis umgekehrt wird und dadurch den Charakter einer Siegerjustiz erhält. Die Opfer bestrafen die Täter für ihre Taten und setzen den Konflikt mit anderen – juristischen – Mitteln fort (de Vries 2021a; Stanzel 2016; Schneckener 2015; Krüger 2014; Roche 2005). Der Möglichkeitshorizont internationaler Strafverfolgung wirkt vor dieser Herausforderung, einen innerstaatlichen Gewaltkonflikt zu befrieden, verkürzt. Zwischen beiden Herausforderungen, die Straflosigkeit zu beenden und den Konflikt zu befrieden, muss der Staat navigieren. Es ist dabei nicht sichergestellt, dass beide Herausforderungen mit- oder durcheinander lösbar sind. Vor diesem Hintergrund stellen sich praktische Fragen dazu, wie diese Herausforderungen bewältigt werden können und auch ob die Eingeschränktheit der Struktur internationaler Strafverfolgung selbst kontinuierliche Problemstellungen für die Befriedung innerstaatlicher Gewaltkonflikte hervorbringt. Das Prinzip der Komplementarität lässt nur die Alternativität internationaler und nationaler Strafverfolgung zu und trägt dies auch in den Situationsbegriff des Verfahrens hinein. Im Verfahren stellt sich dann die Frage im Hinblick auf die Kriterien der hinreichenden Grundlage, um 283
REKONSTRUKTION DER STRUKTUR INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
Ermittlungen einzuleiten, ob ein Verfahren dann im Interesse der Gerechtigkeit liegt, wenn die Strafverfolgung einen Gewaltkonflikt wieder in Gang setzen könnte oder zu einer langfristigen Diskriminierung führt. Für diese Erwägungen ist der Gerichtshof aufgrund seiner strukturellen Spezifikation nicht gewappnet. Dennoch sieht er sich den damit einhergehenden Debatten ausgesetzt. Dies lässt sich an den Ermittlungen des IStGH in der Elfenbeinküste verdeutlichen. Die Präsidentschaftswahl im Jahr 2010 hatte der Herausforderer des damals amtierenden Präsidenten Gbagbo gewonnen. Da raufhin entflammte zwischen dem siegreichen Herausforderer Ouattara und Gbagbo ein Konflikt. Beide ließen sich als Präsidenten einschwören und ernannten eine Regierung. Allerdings erkannte die internationale Gemeinschaft Ouattara an und setzte weitreichende Sanktionen in Gang, um Gbagbo zur Aufgabe seines Amtes zu zwingen. Schließlich konnte Ouattara mit Unterstützung von UN-Truppen und französischen Einheiten den Konflikt für sich entscheiden und Gbagbo festnehmen (Ba 2020: 119 f.). Im Zuge dieses Konflikts starben über 3.000 Personen (Ba 2020: 122). Präsident Ouattara kündigte einen Transitional Justice Prozess an, um den innerstaatlichen Gewaltkonflikt aufzuarbeiten. Am 13. Mai 2011 nahm die Commission Dialogue, Vérité, et Reconciliation (CDVR) ihre Arbeit auf und beendete sie im Dezember 2014 (Ba 2020: 121). Die Bilanz ihrer Arbeit fällt negativ aus, da sie zwar viele Aussagen sammelte, aber »the truth and reconciliation commission had little to no effect on either truthseeking or transitional justice« (Ba 2020: 122). Der IStGH nahm Ermittlungen in der Situation in der Elfenbeinküste auf und erhob u.a. gegen Gbagbo Klage. Weder Ouattara noch seine Unterstützer waren bisher Gegenstand von Ermittlungen des Gerichtshofs. Dies ruft eine Einseitigkeit hervor, die den Vorwurf einer Siegerjustiz nährt. Dies wurde dadurch unterstützt, dass die Chefanklägerin des Gerichtshofs im Klageverfahren die unpolitische Natur hervorhob, damit das Klageverfahren nicht als juristische Intervention in die Präsidentschaftswahl 2010 verstanden wird. Der IStGH erscheint daher als Instrument innerstaatlicher Politik, weil Ouattara seine Stellung mit einem international legitimierten Verfahren sichert, ohne selbst von möglicher Strafverfolgung bedroht zu sein (Ba 2020: 123). Das Verhalten des Gerichtshofs hatte ebenfalls eine diskutierte Wirkung auf den Konflikt. Während der Wahlkrise setzte der damalige Chefankläger des Gerichtshofs darüber in Kenntnis, dass er die Situation in der Elfenbeinküste beobachtet und im Fall von Gewalt Ermittlungen anstrebt (Ba 2020: 125). Diese auch für das Verfahren in der Situation in Kenia dokumentierte Information könnte den Konflikt in der Elfenbeinküste dahingehend befeuert haben, als Sieger daraus hervorzugehen, um der Strafverfolgung zu entgehen. 284
DIE VERBINDLICHKEIT DER INSTITUTIONALISIERTEN STRUKTUR
Für eine andere Situation des Gerichtshofs im Sudan hat Pichon (2008; 2011) eine ähnliche Vermutung angestellt. Pichon (2008; 2011) fragt danach, ob die strafrechtliche Verfolgung der sudanesischen Regierung durch den IStGH dem Friedensprozess mit der leidtragenden Bevölkerung in Darfur zuträglich ist. Der Gerichtshof passt sich nur langsam an seine politische Umwelt an. Die Struktur internationaler Strafverfolgung sieht keine Alternative für den Umgang mit innerstaatlichen Gewaltkonflikten vor. Der Gerichtshof geht von einem vertikalen Modus der Kooperation im Hinblick auf die Strafverfolgung aus und spezifiziert dann nur noch die Komplementaritätsfrage in der Situation zu einer Entscheidung. Allerdings hat der Gerichtshof in der Situation in Afghanistan ein Einfallstor zur politischen Umwelt geöffnet, indem er das Interesse der Gerechtigkeit als drittes Kriterium der hinreichenden Grundlage, um Ermittlungen einzuleiten, entsprechend auslegt. Im Zuge des War on Terror der USA nach den Anschlägen am 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon sind sie in Afghanistan einmarschiert und haben das bis dahin machthabende Regime der Taliban abgesetzt. Afghanistan galt als Unterschlupf für die Terroristen, die die Anschläge organisiert hatten. Bis ins Jahr 2021 befanden sich unter Führung der NATO internationale Streitkräfte auf der Grundlage verschiedener UN-Mandate in Afghanistan, um Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Im Laufe des Einsatzes wurde öffentlich bekannt, dass insbesondere US-Soldaten sowie CIA-Agenten, Teile der afghanischen Sicherheitskräfte und der Taliban Folter und andere inhumane Akte begingen (Vorverfahrenskammer Afghanistan 2019: 6 ff.). Daher leitete der Ankläger aus eigenem Antrieb ein Verfahren gegen USSoldaten und CIA-Agenten ein. Das Verfahren richtet sich ebenfalls gegen die Taliban und die afghanischen Sicherheitskräfte (Vorverfahrenskammer Afghanistan 2019: 3 f.). Die USA sind nicht Vertragsstaat des Römischen Statuts und haben versucht, sich durch zwischenstaatliche Abkommen gegen die Auslieferung ihrer Bürger durch einen anderen Staat abzusichern (Bogdan 2008). Der Gerichtshof darf nach Art. 98 II RS »kein Überstellungsersuchen stellen, das vom ersuchten Staat verlangen würde, entgegen seinen Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Übereinkünften zu handeln«. Die Vorverfahrenskammer hat in ihrer Entscheidung die Gerichtsbarkeit und die Zulässigkeit bejaht, aber im Interesse der Gerechtigkeit die Genehmigung, Ermittlungen einzuleiten verweigert. In Bezug auf die Gerichtsbarkeit erläutert die Vorverfahrenskammer, dass sie keinen Widerspruch mit dem zwischen den USA und Afghanistan ausgehandelten Vertrag erkennt, weil Art. 98 II RS nicht die nach Art. 11 und 12 eta blierte Gerichtsbarkeit einschränke (Vorverfahrenskammer Afghanistan 2019: 20). Im Hinblick auf die Zulässigkeit stellt die Vorverfahrenskammer fest, dass es keine nationalen Verfahren gegen die US-Soldaten und 285
REKONSTRUKTION DER STRUKTUR INTERNATIONALER STRAFVERFOLGUNG
CIA-Agenten gebe (Vorverfahrenskammer Afghanistan 2019: 26). Der entscheidende Part ist nun Absatz 87 der Entscheidung der Vorverfahrenskammer: »87. Having determined that both the jurisdiction and the admissibility requirements are satisfied, it remains for the Chamber to determine, in accordance with article 53(1)(c) of the Statute, whether, taking into account the gravity of the crime and the interests of victims, there are nonetheless substantial reasons to believe that an investigation would not serve the interests of justice. The Prosecution, consistently with the approach taken in previous cases, does not engage in detailed submissions on the matter and simply states that it has not identified any reason which would make an investigation contrary to the interests of justice. As for the victims, 680 out of the 699 applications welcomed the prospect of an investigation aimed at bringing culprits to justice, preventing crime and establishing the truth« (2019: 28).
Die Vorverfahrenskammer leitet die Prüfung des Interesses der Gerechtigkeit damit ein, dass sie zum einen Gründe sieht, die es erforderlich machen, zu prüfen. Gleichzeitig verweist die Kammer darauf, dass es eine bestehende Praxis und Dogmatik gibt, nach der das Interesse der Gerechtigkeit vorausgesetzt werden kann. Dies hatte auch die Analyse des Verfahrens in der Situation in Kenia aufgezeigt. Die Vorverfahrenskammer stützt dies zudem, indem sie quantitativ darauf verweist, dass die Opfer Ermittlungen gutheißen. Die Schwere der Verbrechen hatte die Kammer bereits in der Zulässigkeit geprüft und bejaht. Trotzdem hält sie eine Abwägung für notwendig: »In the view of the Chamber, the assessment of this requirement is ne cessary and must be conducted with utmost care, in particular in light of the implications that a partial or inaccurate assessment might have for paramount objectives of the Statute and hence the overall credibility of the Court, as well as its organizational and financial sustainability« (Vorverfahrenskammer Afghanistan 2019: 28).
Die Vorverfahrenskammer ergänzt die Schwere der Verbrechen und das Interesse der Opfer als Kriterien mit Widersprüchen gegenüber dem Statut, der Glaubwürdigkeit bzw. Legitimität des Gerichtshofs, seinem organisationalen und finanziellen Bestand. Die Vorverfahrenskammer führt Umweltbedingungen ein, die auf anderen Systemebenen relevant sind, aber nun im Verfahren vorkommen. Dies stellt zum einen unter Beweis, dass die Systemebenen zueinander inklusiv sind, und zum anderen Widersprüche zwischen den Erwartungszusammenhängen und ihrer jeweiligen Umwelt auftreten. Der Faktor der Glaubwürdigkeit des Gerichtshofs greift nicht nur die Legitimationsfrage auf, sondern adressiert auch die Rolle des Gerichtshofs im vertikalen Modus der Kooperation. Wenn der Gerichtshof sich in Widerspruch zum Statut begibt, kann er dann 286
DIE VERBINDLICHKEIT DER INSTITUTIONALISIERTEN STRUKTUR
noch auf seinen organisationalen und finanziellen Bestand setzen? Allerdings ist an dieser Stelle noch unklar, worin der Widerspruch zum Statut bestehen kann, wenn die Prüfung des Art. 53 I (a)-(c) RS fast abgeschlossen ist und nur die materiellrechtliche Bedingung zur Prüfung bleibt. Daher stellt sich die Frage, ob das Interesse der Gerechtigkeit als Einfallstor für den politischen Einfluss der USA dient. Zumindest haben die USA gegen die Ermittlungen protestiert und den Angehörigen des Gerichtshofs die Einreise untersagt, um deutlich zu machen, dass sie gegen die Entscheidung des Gerichtshofs, Ermittlungen einzuleiten vorgehen (siehe Viertes Kapitel: I.). Dies ist eine mögliche Lesart, für die eine extensive Sequenzanalyse der Entscheidung erforderlich ist. Trotzdem zeigen die Situationen in Afghanistan und in der Elfenbeinküste, dass es sich nicht nur eine juristische Auslegungsfrage handelt, sondern die Legitimation des Gerichtshofs in Frage steht, wenn er sich selbst in unterschiedlichen Erwartungszusammenhängen verstrickt und auch die anderen Beteiligten verstrickt sind. In der Entscheidung der Vorverfahrenskammer in der Situation in Afghanistan fällt dadurch, dass sich der Gerichtshof selbst in Frage stellt, auf, dass die institutionalisierte Systembildung in der Weltgesellschaft und ihre über Spezifikation und Generalisierung aufgezeigte Fähigkeit, globale Problemstellungen zu bearbeiten, nicht einfach gegeben ist. Auch die Situation in der Elfenbeinküste macht deutlich, dass der Gerichtshof keine zwingende Problemlösung im Hinblick auf die Aufarbeitung innerstaatlicher Gewaltkonflikte darstellt. Die Struktur internationaler Strafverfolgung hat ihrerseits Grenzen, die erst in anderen Erwartungszusammenhängen bzw. unter funktionalen Bezugspunkten auffallen. Gleichzeitig deutet dies an, dass die Institutionalisierung nicht abgeschlossen ist. Die makrodeterminierende Umwelt übt in mehr als der rechtlichen Perspektive Druck auf die internationale Strafverfolgung durch den IStGH aus und wirkt sich als offene Problemstellung auf die Strukturbildung aus, die Lösungen für diese Umweltanforderungen entwickelt. Für den gesamten Phänomenbereich könnten hybride Strafgerichtshöfe eine adäquatere Lösung darstellen, weil sie bereits in der Situation ansetzen und gegründet werden. Ein Indiz hierfür wären die verschiedenen hybriden Strafgerichtshöfe und die andauernde Planung der Afrikanischen Union, einen Strafgerichtshof zu etablieren, die auf die Gründung des IStGH folgen. In jedem Fall öffnet dies auf der Grundlage der herausgearbeiteten Struktur, ihrer Institutionalisierung über die Systemebenen hinweg und ihrer Verbindlichkeit die empirische Perspektive auf die internationale Strafverfolgung.
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Fazit: Struktur, Institutionalisierung und Verbindlichkeit der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH Die institutionalisierte Struktur der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH ist in die internationale öffentliche Ordnung eingeflochten. Die Arbeit hatte mit der Debatte um die internationale öffentliche Ordnung begonnen und vor diesem Hintergrund danach gefragt, wie sich die internationale Strafverfolgung durch den IStGH in der Weltgesellschaft gebildet hat. Mit einem rechtssoziologischen Zugang sollte die Arbeit eine responsive Reflexionstheorie entwickeln, mit der eine empirisch fundierte Beschreibung der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH möglich ist. Um diesen Anspruch einzulösen, zeigt das Fazit die sich aus diesem Zugang ergebenden interdisziplinären Lernmöglichkeiten auf. Auf den drei Systemebenen Weltgesellschaft, Organisation und Verfahren hat sich eine jeweils spezifizierte Struktur internationaler Strafverfolgung herausarbeiten lassen. Auf der Ebene der Weltgesellschaft bezeichnet der vertikale Modus der Kooperation im Völkerstrafrecht und der internationalen öffentlichen Ordnung die Struktur. Der strukturbildende Widerspruch kennzeichnet nicht nur die der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH. Er spiegelt auch die Problemstellung der internationalen öffentlichen Ordnung wider. Der vertikale Modus der Kooperation bietet einen Widerspruch, auf den Harold Hongju Koh hingewiesen hatte. Dieser lässt sich als Unterscheidung eines vertikalen Modus von einem horizontalen Modus durch den vertikalen Modus fassen. Der Widerspruch setzt sich auf der organisationalen Ebene im Prinzip der Komplementarität fort. Zwischen nationaler und internationaler Strafverfolgung zu entscheiden, ist generell nicht möglich. Der Gerichtshof präsupponiert daher die Situation in seinen Verfahren und ermöglicht die Entscheidung durch die Subsumtion der Ereignisse unter das Völkerstrafrecht. Die Argumentation leitet mit der historischen Entwicklung des Kooperationsverständnisses im Völkerrecht ein. Der Kooperationsbegriff ist eng mit Ordnungsvorstellungen der internationalen Beziehungen verbunden. In der Politikwissenschaft ist Anarchie das zentrale Konzept, weil es aus der Abwesenheit eines globalen Äquivalents zum staatlichen Gewaltmonopol folgert, dass es keine garantierte Hierarchie geben kann. Kooperation beruht dann allein auf Interessen der Staaten oder anderen Akteuren. Über diesen Forschungsstand hinaus bieten erste Arbeiten einen anderen Zugang, der die Anerkennung von Staaten als souverän als 288
FAZIT: STRUKTUR, INSTITUTIONALISIERUNG UND VERBINDLICHKEIT
Aushandlungsprozess unter historischen Bedingungen beobachtet. An diesen historischen Fokus schließt der soziologische Ansatz der Weltgesellschaft. Nach diesem Ansatz ist in den letzten Jahrhunderten eine global vernetzte Struktur emergiert. Der Gesellschaftsbegriff hat sich vom Staat gelöst und umfasst die gesamte Welt. Kooperation findet nach diesem Ansatz in einer weltgesellschaftlichen Struktur statt. In dieser Per spektive beschreibt Kooperation, wie in der Weltgesellschaft zusammengearbeitet wird, um globale Herausforderungen zu bewältigen. Mit dem Römischen Statut haben sich über 120 Staaten darauf verständigt, dass die Straflosigkeit völkerstrafrechtlicher Verbrechen eine solche Herausforderung darstellt und beendet werden soll. Mit dem weltgesellschaftlichen Ansatz sind solche Vereinbarungen als global emergierende und vernetzende Struktur erklärbar, die die Möglichkeitsbedingungen globaler Kommunikation aufrechterhält. Das Römische Statut ist eine völkerrechtliche Kodifikation. Es gibt die Erwartungen wieder, auf die sich die Staaten geeinigt haben und anhand derer sie miteinander zusammenarbeiten, um die Aufgabe zu erfüllen, die Straflosigkeit der völkerstrafrechtlichen Verbrechen zu beenden. Das Völkerstrafrecht ist demnach ein Anhaltspunkt, um weltgesellschaftliche Struktur für die internationale Strafverfolgung durch den IStGH zu untersuchen. Damit bleibt jedoch offen, wie die Kooperation unter dieser Struktur aussehen kann. Hier setzt die Unterscheidung zwischen einem horizontalen und einem vertikalen Modus der Kooperation an. Im horizontalen Modus der Kooperation steht die Gleichrangigkeit im Vordergrund, während es im vertikalen Modus der Kooperation zur Über- bzw. Unterordnung kommt. Der horizontale Modus bezieht sich vor allem auf die Kooperation unter Staaten, die sich aufgrund des formalen Prinzips souveräner Gleichheit als gleichrangig betrachten. Daher kann auch von Heterarchie gesprochen werden. Dagegen weist der vertikale Modus der Kooperation auf komplexe Sozialbeziehungen hin, in denen sich verschiedene Unterund Überordnungsverhältnisse etablieren können. Harold Hongju Koh hat sich gegen diese Unterscheidung der Kooperation gewendet. Er argumentiert, dass sich Fälle nicht eindeutig zuordnen lassen. Aus diesem Grund ist die Unterscheidung widersprüchlich. Zum einen werde damit behauptet, dass es einen rechtlichen Monismus gebe, der zum anderen aber durch die Unterscheidung wieder einen Dualismus zwischen staatlichen Recht und Völkerrecht einführe. Dem ist auf der theoretischen Ebene nichts entgegenzusetzen. Allerdings bietet sich dieser Widerspruch als Ausgangspunkt für die Argumentation an: Der vertikale Modus der Kooperation im Völkerrecht unterscheidet zwischen einem vertikalen Modus und einem horizontalen Modus der Kooperation. Das Römische Statut veranschaulicht dies, weil es ein im horizontalen Modus geschlossener völkerrechtlicher Vertrag unter Staaten 289
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ist, aber das Völkerstrafrecht im vertikalen Modus hervorbringt. Die Trennung zwischen diesen Modi signalisiert im Text die Parenthese und markiert damit den Übergang von einer Systemebene zur nächsten. Der von Koh beschriebene Widerspruch erfasst die Spannung zwischen dem Staat und dem Gerichtshof. Die historische Rekonstruktion hat gezeigt, wie sich dieser Widerspruch entwickelt hat. Dieser historisch-soziologische Zugang greift dabei zum einen neuere politikwissenschaftliche Arbeiten auf und zeigt zum anderen die übergreifende Entwicklung des völkerrechtlichen Kooperationsverständnisses auf. Die Ausdifferenzierung des Völkerrechts in unterschiedliche Rechtsbereiche wurde damit nachvollzogen. Trotz der kategorialen Trennung der Rechtsbereiche in rechtsdogmatischer Hinsicht gezeigt, dass eine wechselseitige Beobachtung unter dem Bezug auf das völkerrechtliche Kooperationsverständnis möglich ist. Erst dadurch fallen parallele Entwicklungen auf. Unter dem Gesichtspunkt einer fragmentierten internationalen Ordnung scheint die Orientierung an die rechtsdogmatische Trennung der Rechtsbereiche diese Perspektive zu verstellen. Die Analyse des völkerrechtlichen Kooperationsverständnisses bietet nicht nur die Möglichkeit für eine rechtsvergleichende Perspektive, sondern darüber hinaus auch die Aussicht, geteilte Grundprinzipien und Strukturen herauszuarbeiten. Die staatliche Souveränität hat sich als Lösung für die Stabilität der politischen Gebilde Europas herausgebildet. Mit dem Investiturstreit differenzierten sich die weltliche und geistliche Sphäre immer stärker auseinander. Die im Mittelalter vorherrschende Einheitsvorstellung der Kirche und ihres weltlichen Pendants des Heiligen Römischen Reiches zerbrach in zunehmenden Differenzierungsprozessen. Das Christentum konfessionalisierte sich und konnte seine eigene Einheit nicht mehr gewährleisten. Die Differenzierung des Geistlichen vom Weltlichen löste einen Prozess aus, in dem sich die politischen Gebilde Europas zunehmend verselbstständigten und macht- sowie geopolitische Interessen ausprägten. Im Zuge dessen entstand das Konzept der Souveränität für das common-wealth des Staates. Gegenüber den Fürsten des Reichs konnte der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches die eigene Souveränität nicht durchsetzen. Die Fürsten konsolidierten ihre eigenen Machtbereiche und wurden mit dem Westfälischen Frieden zu Souveränen im Reich. Der Anspruch des Kaisers, die weltliche Einheit zu repräsentieren, war faktisch erloschen. Als Napoleon sich im Jahr 1804 zum Kaiser der Franzosen krönte, löste er die Einzigartigkeit des Kaisertums in der Tradition der Römischen Kaiser auf. Der von der Amerikanischen und Französischen Revolution getragene Gedanke eines Nationalstaats fegte die Reste der alteuropäischen Vorstellung hinfort. Napoleon scheiterte daran, seine eigene Vorstellung einer europäischen Ordnung zu realisieren. Die nationalstaatliche Ordnung Europas hatte sich durchgesetzt und gründet 290
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sich auf dem formalen Prinzip souveräner Gleichheit aus dem Westfälischen Frieden. Der horizontale Modus etablierte sich in dieser Ordnung. Die europäischen Staaten trafen Vereinbarungen und schlossen Verträge. Die aufgelöste alteuropäische Ordnung führte zu einer neuen Außenpolitik, deren Rahmen der Wiener Kongress festlegte. In der Auflösung der alteuropäischen Ordnung war die Idee des Sozialvertrags von Bedeutung, weil mit dem Vertrag aller mit allen der empfundene Naturzustand der verloren(gehend)en Ordnung kompensiert werden sollte. Die Lösung des Wiener Kongresses war die internationale Diplomatie. Sie trug dazu bei, die Idee staatlicher Souveränität und der zwischenstaatlichen Verständigung in einem horizontalen Modus der Kooperation zu konsolidieren. Obwohl sich die europäischen Großmächte als Garanten dieser europäischen Ordnung des 19. Jahrhunderts verstanden, beruhte sie stets auf dem Prinzip staatlicher Souveränität. Die alteuropäische Einheitsvorstellung war endgültig verschwunden. Stattdessen wurde sie als Dominanz und Aggression gegen andere Staaten und damit des europäischen Konzerts gedeutet. Im horizontalen Modus der Kooperation ist eine internationale Strafverfolgung nicht möglich. Internationale Strafverfolgung beruht auf einer geteilten Vorstellung strafbaren Verhaltens und darauf aufbauender Straftatbestände. Dies setzt eine Einheit voraus, aus der sich die politischen Gebilde Europas in ihrer jahrhundertelangen Entwicklung zu souveränen Staaten gelöst hatten. In soziologischer Hinsicht markiert diese Sperre, dass Europa nach der christlichen Einheitslehre einen Prozess zunehmender Differenzierung durchlief, bzw. durchläuft. Gleichzeitig scheint sich nur das institutionelle Muster der Souveränität einzustellen, weil es auf und durch die europäischen Staaten spezifizierbar war. Daher ist in rechtlicher Hinsicht nur das Völkerkriegsrecht als zwischenstaatliches Recht wahrscheinlich. Das Völkerstrafrecht ist komplementär zur staatlichen Souveränität gebaut. Es setzt einen anderen Modus der Kooperation voraus. Der Modus der Kooperation verweist damit auf die Struktur der globalen bzw. europäischen Ordnung und der Rechtsbereiche. Sie bedingen einander und dirigieren in ihrer historischen Entwicklung, wie sich einzelne Rechtsbereiche ausdifferenzieren und damit rechtsdogmatisch voneinander getrennt werden. Eine soziologische Analyse benötigt daher einen rechtswissenschaftlichen Zugang, um nicht einzelne Entwicklungen in voneinander abgegrenzten Rechtsbereichen zu einer umfassenden sozialen Ordnung zu übersteigern. Gegenüber anderen Staaten etablierten die europäischen Staaten einen vertikalen Modus der Kooperation. Während innerhalb Europas das Prinzip souveräner Gleichheit vorherrschte, verlagerten sich die macht- und geopolitischen Bestrebungen auf den Rest der Welt. In diesem Verhältnis der europäischen Staaten zum Rest der Welt bildete sich 291
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ein vertikaler Modus der Kooperation heraus, der eine klare Überordnung der Europäer aufgrund eines selbstdefinierten Zivilisationsstandards vorsah. Der Zivilisationsstandard konsolidierte nicht nur die Außenbeziehungen der europäischen Staaten zum Rest der Welt, sondern diente auch dazu, zum einen das europäische Gleichgewicht zu erhalten und zum anderen den Nationalstaat zu konsolidieren. In Europa war die Differenzwahrnehmung der sich konsolidierenden Nationalstaaten so lange aushaltbar, wie sie sich wechselseitig als zivilisiert anerkannten und damit der Entwicklung der Nationalstaaten nicht im Weg standen. In dieser Perspektive lassen sich die italienische und deutsche Einigung im 19. Jahrhundert diskutieren. Der Zivilisationsstandard war einerseits von einer globalen Welterfahrung getrieben, mit dem die Weltverhältnisse bestimmt wurden, und wurde andererseits von der zunehmenden wissenschaftlichen Innovation und Disziplinentwicklung befördert. Der von Herbert Spencer und anderen Vertretern in der entstehenden Soziologie von Charles Darwin übernommene biologische Evolutionismus beruhte auf rassistischen Annahmen. Sie vermischten sich mit den imperialistischen Phantasien der europäischen Großmächte, in ihrem Streben nach einem Platz an der Sonne auf dem afrikanischen Kontinent, wie es Bernhard von Bülow als Staatssekretär des Äußeren am 6. Dezember 1897 im deutschen Reichstag formulierte. Die Parallelität der Kooperationsmodi konnte weder inner- noch außerhalb Europas eine dauerhafte Stabilität gewährleisten. Am Anfang der 1820er Jahre nutzen die konservativen Staaten das europäische Konzert des Wiener Kongresses, um in Europa gegen Revolutionen zu intervenieren. Nach den 1850er Jahren brachen immer wieder vereinzelte Kriege aus, die durch diplomatische Interventionen nicht zu einem Weltkrieg eskalierten. Dazu kam es schließlich 1914 und ohne Reform der internationalen Ordnung sowie dem sich ausbreitenden faschistischen Wahn erneut 1939. Das auf Europa beschränkte Gleichgewicht auf der Grundlage wechselseitiger zivilisatorischer Anerkennung war gebrochen und hatten neben Trümmern den Tod und die Vernichtung von Millionen Menschenleben hinterlassen. Die Nürnberger Prozesse markieren hier eine Wende. Zum ersten Mal in der Geschichte fanden internationale Verfahren statt, um die Hauptverantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschheit zu verurteilen. Die Menschheit wurde zu einer eigenen Entität erhoben, an der Verbrechen begangen werden können. Im 16. Jahrhundert war dies in der sich konsolidierenden staatlichen Souveränität noch nicht möglich. Tindal hat am Fall der Piraterie gezeigt, dass die Verbrechen am Staat und nicht an der Menschheit begangen werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte sich diese Perspektive, allerdings konnte sie sich weder nach dem preußisch-französischen Krieg (1871/72) noch nach dem 292
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Ersten Weltkrieg (1914–1918) durchsetzen. Sie war durch das Kriegsvölkerrecht beschränkt, das auf einem horizontalen Modus der Kooperation beruhte. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte den Wechsel zu einem vertikalen Modus der Kooperation mit, für dessen Beginn die Nürnberger Prozesse wie die Vereinten Nationen stehen. Die internationalen Organisationen und Gerichte bilden das Rückgrat einer neuen internationalen öffentlichen Ordnung, die sich ab dem Ende des Zweiten Weltkriegs im vertikalen Modus der Kooperation entfaltet. In diesem Kooperationsverständnis entwickelte sich das Völkerstrafrecht. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen machte die ersten Schritte hierzu, indem sie von der ILC die Nürnberger Prinzipien formulieren ließ und diese annahm. Darauf folgten verschiedene völkerrechtliche Abkommen, die den Rahmen vorbereiteten, innerhalb dessen schließlich die Staaten 1998 das Römische Statut vereinbarten. Der da raufhin gegründete Internationale Strafgerichtshof nahm 2002 seine Arbeit auf und ist der einzige permanent eingerichtete internationale Strafgerichtshof. Die Einzelfalltribunale in Ruanda und für das ehemalige Jugoslawien haben ihn vorbereitet und auch danach wurden noch hy bride Strafgerichtshöfe für einzelne Situationen etabliert. Die historische Rekonstruktion hat die Ausdifferenzierung der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH nachvollzogen und diese im Kontext einer global-historischen Entwicklung betrachtet. Mit dem vertikalen Modus der Kooperation beruht die internationale Strafverfolgung durch den IStGH nicht nur auf einer internationalen öffentlichen Ordnung, sondern ist gleichzeitig mit ihr entstanden. Dieses Ergebnis der historischen Rekonstruktion ließ den Widerspruch horizontaler und vertikaler Kooperation zurück. Um zu erläutern, wie dieser Widerspruch die Bildung einer internationalen öffentlichen Ordnung im Allgemeinen und der internationalen Strafverfolgung im Besonderen nicht verstellt hat, wurden der Widerspruch und das rekonstruierte völkerrechtliche Kooperationsverständnis als Frage nach soziologischer Ordnungs- bzw. Strukturbildung reformuliert. Die soziologische Weltgesellschaftstheorie in ihrer systemtheoretischen und ihrer neo-institutionalistischen Variante hat das begriffliche Instrumentarium zur Verfügung gestellt, um den Widerspruch horizontaler und vertikaler Kooperation als strukturbildende Problemstellung beobachten zu können. Für die weitere Analyse hat dies das reflexionstheoretische Potential eröffnet, die Institutionalisierung der Struktur der internationalen Strafverfolgung als weltgesellschaftliches Phänomen und damit auch als solches der internationalen öffentlichen Ordnung über die verschiedenen Systemebenen hinweg zu beschreiben. Hierfür diente die Problemstellung doppelter Kontingenz als Ausgangspunkt. Doppelte Kontingenz beschreibt im Aufeinandertreffen von Alter und Ego die auf beiden Seiten liegende Kontingenz im wechselseitigen Erwarten und Verhalten. Diese Situation ist vergleichbar mit den sich 293
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im horizontalen Modus konsolidierenden souveränen Staaten. Sie beziehen sich zunächst auf naturrechtliche Vorstellungen, um Erwarten und Verhalten in der sich auflösenden geistlichen und weltlichen Einheit zu strukturieren. Da dies bei den wachsenden Problemstellungen und Konfrontationen zwischen den Staaten nicht genügt, werden diplomatische Konferenz und völkerrechtliche Verträge genutzt. Allerdings tritt an dieser Stelle das Problem auf, wie diese Verträge abgesichert werden können und sollen. Die Genfer Konventionen und die Haager Verträge konnten als Kriegsvölkerrecht den Befehlen und dem soldatischen Verhalten keinen Einhalt gebieten. In der Konstellation von Alter und Ego kann der Dritte das wechselseitige Erwarten absichern. Der Dritte löst einen Prozess der Institutionalisierung aus, weil das Erwarten nicht mehr auf Alter und Ego begrenzt ist. Die Figur des Dritten steht für eine Öffentlichkeit, die mit diesem Erwarten das Verhalten von Alter und Ego beobachtet. Wenn Alter oder Ego Vertragsvereinbarungen verletzen, liegt dies in der dreier Konstellation nicht mehr nur zwischen Beiden, sondern kann von jedem beobachtet werden, die dann dazu Stellung beziehen können. Mit dieser Institutionalisierung geht zum einen eine globale Vernetzung durch die Öffentlichkeit einher und zum anderen wird dadurch die Grenze zur Umwelt sichtbar, gegenüber dem das System sich anpasst und damit makrodeterminiert ist. Die emergente Strukturbildung des Systems ist in der Weltgesellschaftstheorie an die globale Vernetzung gebunden. Die Gesellschaft ist nur noch als die gesamte Welt umlaufende Kommunikation denkbar. Dies gilt auch für die Makrodetermination, weil damit die Diffusion institutioneller Muster in der Weltgesellschaft einhergeht. Beide Prozesse – Makrodetermination und emergente Strukturbildung – beziehen sich auf die neo-institutionalistische und die systemtheoretische Variante der Weltgesellschaftstheorie. Über die Problemstellung der doppelten Kontingenz hinaus stellte sich die Frage, wie die global geschichtliche Erzählung auf der Makroebene mit dem Gerichtshof und schließlich dessen Verfahren auf der Mikroebene zusammenhängt. Die Vermutung war, dass der Zusammenhang über die Diffusion institutioneller Muster und die emergente Strukturbildung entsteht. Luhmann hat das Makro-Mikro-Problem in der sozialen Differenzierung der Systemebenen (Weltgesellschaft, Organisation und Interaktion) umgedeutet und als zu- und aufeinander bezogene System-Umwelt-Verhältnisse verstanden. In diesem Sinne sind die Systemebenen über die makrodeterminierenden Umwelten, die sie für die anderen Systemebenen darstellen, und der emergenten Strukturbildung im funktionalen Bezug darauf, die Straflosigkeit internationaler Verbrechen zu beenden, aufeinander bezogen. Sie sind zueinander inklusiv und nicht als Teil-Ganzes-Relationen aufzufassen. Neben der sozialen Differenzierung in unterschiedliche Ebenen differenziert Luhmann verschiedene Funktionssysteme. Hierunter fällt auch das Rechtssystem, welches als 294
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Funktionssystem der Gesellschaft ein weltgesellschaftliches Funktionssystem ist. Das Rechtssystem erfüllt die Funktionen, Erwartungen zu sichern und Verhalten zu steuern. Mit dieser theoretischen Voreinstellung bildet das Römische Statut den Übergang von der weltgesellschaftlichen zur organisationalen Ebene, um zu prüfen, inwieweit sich das historisch skizzierte Kooperationsverständnis im vertikalen Modus der Kooperation auf der organisationalen Ebene wiederfindet. Die Methodik der Analyse nach der Objektiven Hermeneutik hat sich auf die Strukturrekonstruktion gerichtet. Sie hat die generative Regel des Textes der Präambel des Römischen Statuts herausgearbeitet und so aufgezeigt, unter welchen Vorzeichen die Vertragsstaaten das Völkerstrafrecht und den IStGH etabliert haben. Dieser methodische Zuschnitt auf die Strukturrekonstruktion folgt aus Reformulierung des Widerspruchs horizontaler und vertikaler Kooperation als Problem der Ordnungs- und Strukturbildung. In methodologischer Hinsicht verzichtet dieses Vorgehen auf einen theoretischen Vorgriff, das Römische Statut innerhalb einer politischen Theorie der liberalen Weltordnung oder als Konstitutionalisierung eines Teilbereiches einer internationalen öffentlichen Ordnung zu beschreiben. Die Feinanalyse schließt strukturierenden Prozesse aus dem Text heraus auf und ermöglicht davon ausgehend den Anschluss an die Weltgesellschaft bzw. spezifischer die internationale öffentliche Ordnung im vertikalen Modus der Kooperation. Die Präambel des Römischen Statuts markiert den Übergang der Systemebenen, indem über die Parenthese der Vertragsschluss der Staaten im horizontalen Modus vor die Klammer gezogen wird und sich daran anschließend an den vertikalen Modus die Struktur auf der organisationalen Ebene emergent bilden kann. Dabei verweist die Innenseite der Parenthese auf die Umwelt und zeigt so die Makrodetermination auf, während sich zugleich die Struktur internationaler Strafverfolgung bildet. Dieser Entstehungsprozess unterliegt durch die Trennung der Parenthese keinem textlich angezeigten Begründungsverhältnis. Die Struktur entsteht im Anschluss an die Umwelt und legitimiert sich darin selbst. Der global-historische Kontext adressiert den erzählten historischen Pfad und leitet daraus zum einen die Konzeption internationaler Verbrechen und zum anderen ihre Straflosigkeit als Herausforderung ab. Beide Ableitungen sind direkte Anschlüsse an die historische Entwicklung, die allgemein auf einer weltgesellschaftlichen Ebene in der historischen Entwicklung des Völkerrechts im Rechtssystem verortet sind. Aus dieser Konzeption und Herausforderung folgert die Präambel zwei Lösungsmöglichkeiten: staatliche und internationale Strafverfolgung. Beide Möglichkeiten sind mit Erwartungen ausgestattet und werden dadurch eingeschränkt. Gleichzeitig stehen sie in einem komplementären Verhältnis zueinander. Diese Komplementarität erfasst die Struktur der 295
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internationalen Strafverfolgung auf der organisationalen Ebene und spezifiziert den vertikalen Modus der Kooperation. Gegen diese Struktur internationaler Organisationen und Gerichte melden demokratietheoretische Vertreter Bedenken an. Der Kern der Kritik besteht darin, dass neben dem Legitimationsweg des demokratischen Rechtsstaats ein zweiter Legitimationsweg entstanden ist, der nicht den gleichen Anforderungen folgt. Daher suchen diese Vertreter nach Äquivalenten, um die demokratische Legitimation abzusichern. Dabei fällt jedoch auf, dass die Weltgesellschaft scheinbar fragmentiert ist und es an einheitlichen Grundprinzipien fehlt. Eine (demokratische) Kontrolle des IStGH kann daher nicht gewährleistet werden. Dies unterstreichen die Kritiker des Gerichtshofs, die ihm aufgrund seines Ermittlungsfokus auf den afrikanischen Kontinent rassistische und imperialistische Motive vorwerfen. Die Kritik bleibt jedoch nicht auf das Verhältnis zu den Staaten in Afrika beschränkt, sondern findet sich auch im Verhältnis zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und zu westlichen Staaten wie den USA. Die demokratietheoretische und die praktisch aufgeladene Perspektive stehen dem konzeptuellen Vorschlag der Verbindlichkeit als kommunikativer Selbstbindung entgegen. Dieser Vorschlag beruht auf der von Luhmann erarbeiteten Legitimation durch Verfahren und Kohs Tranistional Legal Process. Die normativen Legitimitätserwartungen werden in diesem Konzept fallengelassen und durch eine empirisch affine Perspektive ersetzt. Legitimation wird Luhmann folgend durch Verfahren erarbeitet, allerdings beschreibt die Verbindlichkeit als kommunikative Selbstbindung darüber hinaus, wie sich die Beteiligten in struktureller Hinsicht in Erwartungszusammenhängen verstricken. Dieser Gegenvorschlag löst die Kritik am Gerichtshof nicht auf, jedoch richtet sie den Blick darauf, zunächst die Verbindlichkeit der internationalen Strafverfolgung auszuleuchten, bevor darauf die Kritik folgt. Gleichzeitig zeigt dies, dass der enge Zusammenhang von Recht und Politik die analytische Perspektive verstellen kann. Die scheinbare Fragmentierung der internationalen öffentlichen Ordnung haben die ILC, Teubner, Bast und Maus als Demokratieproblem gedeutet, ohne dass die Struktur- und Ordnungsbildungsprozesse zuvor nachvollzogen wurden. Dafür müssen die rechtswissenschaftliche und die soziologische Beobachtung sich wechselseitig über den Gegenstandsbereich informieren. Wie dies gelingen kann, hat die Analyse der Verfahren gezeigt. Nachdem sie von den Legitimationsfragen frei war und der Fokus auf der Strukturrekonstruktion lag. Die dokumentarische Methode hat die Grundlage für die Analyse geliefert, um im ausgewählten Verfahren die drei Dokumente so in Bezug zueinanderzusetzen, dass die generative Regel des Verfahrens herausgearbeitet werden konnte. Der Situationsbegriff und die mit ihm verbundene hinreichende Grundlage, um 296
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Ermittlungen einzuleiten, markieren den Übergang von der vorherigen zur Verfahrensebene. Mit dem Situationsbegriff präsupponiert der Gerichtshof, dass eine Situation vorliegt, obwohl er dies erst im Vorverfahren prüft. Der Gerichtshof impliziert Bedingungen, die er erst anhand der Kriterien der hinreichenden Grundlage nach Art. 15 III RS i.V.m. Art. 53 I (a)-(c) RS prüft. Einerseits handelt es sich um eine Makrodetermination, weil die weltgesellschaftliche und organisationale Umwelt über den Situationsbegriff in das Verfahren einfließt und damit den Übergang von einer Systemebene zur nächsten vorbereitet. Andererseits erfolgt die konkrete Spezifikation und die damit einhergehende emergente Strukturbildung erst durch die Ereignisse. Sie geben dem Verfahren Gestalt und ermöglichen auf eine Entscheidung hinzuarbeiten, ob die Situation vorliegt, wie die Komplementaritätsfrage beantwortet wird und dass der vertikale Modus der Kooperation intakt ist. Allerdings handelt es sich in keinem Verfahren um eine generelle Entscheidung. Die Erwartungsstruktur ist generalisiert, allerdings die Entscheidung selbst kontingent und auf das einzelne Verfahren hin spezifiziert. Die Verfahrensanalyse hat diese Spezifizierung in der Prüfung der hinreichenden Grundlage untermauert und zugleich die Institutionalisierung aufgezeigt. Die Subsumtion der Ereignisse unter das Völkerstrafrecht zeigt diese Spezifizierung im gewohnten juristischen Vorgehen aus. Gleichzeitig unterstreicht sie für die internationale Strafverfolgung die Makrodetermination und damit den Bezug der Verfahrensebene zu den anderen Systemebenen. Die emergente Strukturbildung entfaltet sich in der Präsupposition der Situation und ihrer tatsächlichen Prüfung in den Kriterien der hinreichenden Grundlage. Die Gerichtsbarkeit, die Zulässigkeit und das Interesse der Gerechtigkeit greifen verschiedene Aspekte auf, um die Grenzen des Verfahrens abzustecken und damit seine Ausdifferenzierung in individuelle Fälle mit dem Ermittlungs- und schließlich dem Klageverfahren vorzubereiten. Diese Prüfung wiederholt die Entscheidung der Vorverfahrenskammer und konfirmiert damit die Bedingungen, unter denen sich die Verfahrensstruktur bildet. Aus dem Antrag des Anklägers ist darüber hinaus hervorzuheben, dass er mit Vertretern der Zivilgesellschaft und der Regierung Kenias in Kontakt tritt, um mit ihnen die Aufarbeitung der Gewalt nach der Wahl zu besprechen. An dieser Stelle im Antrag weist der Ankläger nach, dass sich diese Personen in das Verfahren verstrickt haben. Sie bemühen sich darum, eine nationale Strafverfolgung einzurichten und scheitern daran. Daraufhin stellt der Ankläger seinen Antrag, Ermittlungen einleiten zu wollen. Entlang dieser Komplementarität entwickelt sich der gesamte Vorlauf des Verfahrens. Der Ankläger bezieht dies in seine Erzählung mit ein, weil der Ankläger selbst an die Komplementarität gebunden ist und diesen Möglichkeitshorizont auch im Verfahren etabliert, bzw. etabliert hat. Explizit stellt der Ankläger fest, dass weiterhin die Möglichkeit zur 297
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staatlichen Strafverfolgung gegeben ist, aber solange sie nicht erfolgt, greift der IStGH ein. Dies wiederholt sich über diese Erzählung in der Zulässigkeitsfrage und erzeugt so Redundanzen, die die Struktur der internationalen Strafverfolgung konfirmieren. Daraus ließ sich schließlich eine Ergebnisdiskussion über die Struktur internationaler Strafverfolgung durch den IStGH, ihre Institutionalisierung und ihre Verbindlichkeit auf empirischer Grundlage führen. Die Strafverfolgung durch den IStGH beruht auf einer generalisierten Erwartungsstruktur, die über die Systemebene der Weltgesellschaft im vertikalen Modus der Kooperation über die organisationale Ebene der Komplementarität internationaler und nationaler Strafverfolgung zu Situation in den Verfahren hin spezifiziert ist. Dieser Übergang von einer Systemebene wird durch die Institutionalisierung abgesichert. Sie stellt die makrodeterminierende Umwelt als Figur des Dritten zur Verfügung und bietet gleichzeitig durch die emergente Strukturbildung Raum für die globale Vernetzung. Die Verbindlichkeit der internationalen Strafverfolgung äußert sich in der kommunikativen Selbstbindung der Staaten, internationalen Organisationen und Personen auf den verschiedenen Systemebenen. Ihre Beteiligung an der Kommunikation konfirmiert die Struktur fortlaufend und gewährleistet ihre Institutionalisierung. Dies sichert die Beteiligten und auch die auf den Systemebenen spezifizierte Struktur nicht davor ab, dass sie sich in Widersprüche in und zwischen den Erwartungszusammenhängen verstricken. Die Situationen in Kenia, der Elfenbeinküste und in Afghanistan bringen die verschiedenen Widersprüche zum Ausdruck. Die Widersprüche reichen über die Struktur internationaler Strafverfolgung auf den unterschiedlichen Ebenen hinaus und bieten das Potential für weitere empirische Forschung, die für den Kontext der Aufarbeitung innerstaatlicher Gewaltkonflikte angedeutet wurde. Die vorgelegten Arbeitsergebnisse bieten damit den Ausgangspunkt für die verschiedenen Forschungsperspektiven auf die internationale öffentliche Ordnung und die weltgesellschaftliche Ordnungsbildung. Die internationale öffentliche Ordnung ist durch Fragmentierung, Rechtspluralismus, Konstitutionalisierung und Vertikalisierung charakterisiert. In Anbetracht der zunehmenden Ausdifferenzierung des Völkerrechts ohne generelle Rechtsprinzipien erscheint die internationale öffentliche Ordnung als fragmentiert. Gleichzeitig treten neben Staaten, internationale Organisationen sowie Gerichte auf, die in ihren spezifischen Kontexten Recht bilden und so einen Pluralismus der Rechtsordnungen erzeugen. Vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob sich die ausdifferenzierten Rechtsbereiche und -ordnungen nicht auf Dauer konstitutionalisieren und so zumindest für diese Teilordnungen generelle Prinzipien ausbilden. In diese Richtung weist die Vertikalisierung, also die Ausbildung von Hierarchien im Völkerrecht. Diese verschiedenen 298
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Beschreibungen sind davon begleitet, dass in der internationalen öffentlichen Ordnung ein politisches System fehlt, das eine äquivalente Funktion wie im demokratischen Rechtsstaat übernehmen könnte. An der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH sind diese Charakterisierungen der internationalen öffentlichen Ordnung erkennbar. Die zuletzt diskutierte Verbindlichkeit hatte aufgezeigt, dass sich Widersprüche zwischen verschiedenen Erwartungszusammenhängen und sogar innerhalb der Erwartungsstruktur der internationalen Strafverfolgung einstellen können. Unter der Perspektive der Fragmentierung bietet sich hier nicht nur die Frage an, inwieweit sich die Erwartungsstrukturen oder Rechtsordnungen voneinander unterscheiden. Eine rechtsvergleichende Perspektive kann mit dem Begriff der Fragmentierung diese Widersprüche aufdecken und damit neue Ergebnisse für die Reflexion der internationalen öffentlichen Ordnung bieten. Ähnliche Möglichkeiten bietet eine rechtspluralistische Perspektive auf den Gerichtshof, die Staaten und die hybriden Gerichtshöfe, die sich womöglich an der Herausforderung orientieren, die Straflosigkeit internationaler Verbrechen zu beenden, aber doch eigene Rechtsfortbildung betreiben. Ergeben sich aus nationalen Prozessen gegen Kriegsverbrecher, für einzelne Situationen eingerichtete hybride Gerichtshöfe und der internationalen Strafverfolgung durch den IStGH eine Multinormativität innerhalb des Völkerstrafrechts und damit der internationalen öffentlichen Ordnung? Die bisher nur als Black Box dargestellte nationale Strafverfolgung könnte damit geöffnet und die Komplementarität zur internationalen Strafverfolgung sowie zur Strafverfolgung durch hybride Gerichtshöfe erweitert werden. Schließlich wäre es auf der Grundlage dieser empirischen fundierten Beschreibung und Erweiterungen möglich, die Konstitutionalisierung der internationalen öffentlichen Ordnung zu diskutieren. Dies birgt das Potential, das Verhältnis von Politik und Recht neu zu behandeln und alternative Angebote zum demokratischen Rechtsstaat und der liberalen Weltordnung zu entwickeln. Der ausgearbeitete rechtssoziologische Zugang bietet für diese verschiedenen Fragestellungen und Perspektiven einen Ausgangspunkt. Die sowohl rechtswissenschaftlich als auch soziologisch informierte Konzeption der Institutionalisierung und die für die empirischen Analysen in Anspruch genommenen Methoden haben den Weg zu einer responsiven Reflexionstheorie geöffnet. Dies zeigen die weitergehenden Fragen und der sich zu den verschiedenen Konzepten in der Debatte um die internationale öffentliche Ordnung herzustellende Bezug auf. Wie geht die Weltgesellschaft mit den internationalen Verbrechen um? Die internationale Strafverfolgung ist eine Möglichkeit, die der IStGH innerhalb des beschriebenen Horizonts umsetzt. Eine weitergehende Antwort müsste sich auch auf Transitional Justice Prozesse, die Aufarbeitung innerstaatlicher Gewaltkonflikte, die Debatte um die internationale 299
FAZIT: STRUKTUR, INSTITUTIONALISIERUNG UND VERBINDLICHKEIT
öffentliche Ordnung und die Weltgesellschaftsforschung beziehen. Die beschriebene Struktur liefert die Antwort nur in Bezug auf den IStGH, aber lässt sich über diesen hinaus erweitern. Das mit dem IStGH verbundene Völkerstrafrecht weist eine Generalisierung auf, die auch für andere Organisationen und Verfahren spezifizierbar ist. Daran bietet sich auch die Möglichkeit, den Institutionalisierungsansatz und die qualitative Methodik auszubauen und die soziale Differenzierung der Systemebenen im Hinblick auf das Makro-Mikro-Problem näher zu bestimmen. Insgesamt bietet diese Rekonstruktion der Struktur internationaler Strafverfolgung durch den IStGH den Ausgangspunkt dafür, sowohl die völkerrechtliche als auch die weltgesellschaftliche Entwicklung umfassender herauszuarbeiten.
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