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German Pages 30 [32] Year 1909
Die Stellung des Bürgers zur
Reform der Gerichtsverfassung und des Strafprozesses Vortrag gehalten im verein „Frauenstimmrecht"
in Frankfurt a. Bl. von
Dr. W. UTittermaier Professor der Rechte in Gießen
Verlag von Alfred Töpelmann
(vormals 3- Ricker) * Gießen 1909
Druck von L.G. Röder G.m.b.H., Leipzig.
I.
wir stehen an der Schwelle einer neuen Entwicklungsstufe
unseres Strafverfahrens, und unser Interesse an diesem Gebiete des Rechts wird von neuem geweckt.
Leider verkennt die All
gemeinheit regelmäßig die hohe Bedeutung des Strafprozesses,
warum sollte auch der gute Bürger sich darum kümmern, wie der schlechte gestraft wird, was könnte ihn der scholastische For
malismus locken, mit dem der Jurist sein Handwerk zu treiben
scheint?
Bis er sich plötzlich selbst einmal in den immer enger
gezogenen Maschen des Strafrechts verwirrt hat,
oder bis er
selbst einmal berufen wird, den Richterstuhl zu besteigen! wer sich einmal klarmacht, wie viele Hunderttausende von Menschen jähr
lich den weg des Strafprozesses zu durchwandeln haben, und daß
die Justiz nicht nur der Bestrafung
der Bösen dient, sondern
ebensogut dem Schutze der Guten gegen falsche Anschuldigung, dem mutz der alte, fast triviale Satz, daß die Rechtspflege eine
der Säulen des Reiches sei,
in seiner ganzen Gewalt vor die
Seele treten. Wir verurteilen im Deutschen Reiche jährlich vor bürger lichen Gerichten wegen verbrechen und vergehen gegen Reichs
gesetze seit langem schon über Million Menschen, wovon nahezu 1I& Frauen und über 1/io Jugendliche bis zu 18 Jahren.
Vie deutschen Militärgerichte verurteilen jährlich 14 500 Menschen
wegen verbrechen und vergehen.
Vie Übertretungen werden gar
nicht gezählt, aber man schätzt sie mit Recht auf mehrere Milli onen.
Vie Statistik belehrt uns aber weiter, daß die verurtei lt
4 hingen nur etwa 80 °/o der Anklagen darstellen (für 1905 wur den 716 700 Anklagesachen, 124 000 Privatklagesachen, 540 500 Strafbefehlsanträge gezählt) und daß nur etwa die Hälfte aller
an die Staatsanwaltschaft gelangenden Strafsachen zu einem ge richtlichen hauptverfahren gebracht werden.
Leicht erkennen wir
also, wie unendlich hoch die Zahl der Personen ist, die mit der
Strafjustiz als Beschuldigte in Berührung kommen.
Auf 10 000
strafmündige Deutsche der Zivilbevölkerung kamen im Durchschnitt der Jahre 1901/05 173 Anklagesachen, d. h. auf weniger als 60 Strasmündige
eine Anklagesache,
wobei
die privatklagen,
Strafbefehle und Strafverfügungen gar nicht gerechnet sind. -
Vas allein mutz uns doch klarmachen, was die Strafjustiz be deutet.
Nun ist aber der Strafprozetz die Verwirklichung des Straf
rechts, das ohne jenen nur auf dem Papier lebt. Vas Strafrecht wird erst im Prozeß lebendig.
Alle Fragen nach dem Sinn der
Strafen, nach der Herkunft der Straftaten, nach ihrer Bedeutung
für die Allgemeinheit, nach der Natur derer, die eine Straftat begehen, sie alle treten uns zuerst im Strafprozetz entgegen.
Nicht
nur die Sensationslüsternheit verrohter Menschen oder blasierter
Frauen sollte zum Besuch der Gerichtshallen antreiben, sondern der Wunsch, einen Einblick in die Menschenseele zu tun, das Elend,
die Oberflächlichkeit,
das heitze Begehren und die Kälte des
Menschenlebens, Kühle, ruhige Überlegung und Berechnung und
planlose Raschheit, Takt und Taktlosigkeit kennen zu lernen, sich selbst zu belehren zum Kampf um den Fortschritt,
wir fangen
doch endlich an, langsam zu erkennen, datz der Kampf gegen das
Schlechte nicht ein unorganisierter sein darf.
Und wenn wir
im Strafprozetz, im Strafvollzug und in privater Tätigkeit diesen
Kampf führen, dann müssen wir uns doch über die Mittel und Wege unserer Verbündeten unterrichten.
3n schönster Weise ver
einigen sich alle guten Kräfte harmonisch heute schon im Jugend
strafverfahren, — und dies
muh deswegen das Vorbild einer
weiteren Entwicklung des Ganzen sein. -
5 In diesem Kampf gegen bas verbrechen müssen alle Mittel
auch geeignet sein, dem Zwecke zu dienen.
Dieser besteht darin,
daß der Rechtsbrecher unter die Rechtsordnung gebeugt und allen Menschen die Hoheit des Rechts vor Rügen geführt werde.
Das
aber erfordert, daß dem Übeltäter und der Allgemeinheit auch
dargetan werde, wie das Recht zwar eine unerbittliche Notwen digkeit, aber auch eine freundliche Wohltat ist, daß es niemanden
unnötig verletzen und kränken, niemanden verbittern, jeden aber zu seiner
eigenen hohe emporheben wolle. — wir müssen also
fragen, ob wirklich unser Strafprozeß so eingerichtet sei, daß er nie
manden verbittere und in seinem berechtigten wollen kränke, ob
er nicht gar leicht zu einer schablonenhaften Behandlung verleite, die des menschlichen Verständnisses entbehrt.
Ist nicht die Be
handlung eines Beschuldigten durch die Staatsorgane gar zu leicht
derart, als ob er ein abgefeimter Verbrecher ohne jedes Ehrgefühl sei?
Ist nicht die Untersuchungshaft
empört oder verbittert?
vielfach eine Dual, die
Dient unser Prozeß dazu, dem Beschul
digten die Hoheit und Schönheit des Rechtes darzutun?
Stellt
er sich nicht den Beschuldigten als einen elenden schlechten Men
schen vor, der möglichst niederzudrücken sei, statt daß man ihn wie einen anständigen Menschen behandle, und dadurch zum An
stand und zu ehrlichem Verhalten zwinge?
Liner der bedeutend
sten unserer Strafvollzugspraktiker, Geheimer Rat Kröhne, sagte kürzlich, der Prozeß müßte schon den Strafvollzug vorbereiten,
indem er den Geist des Täters zum Guten zu beeinflussen suche. 6s ist eine der wichtigsten Fragen, ob er das wirklich tut und
wie er eingerichtet sein soll, damit er es tue.
Der Strafprozeß
muß immer beachten, daß ein erheblicher Teil aller Beschuldigten gar nicht schuldig ist, und daß nur der allergeringste Teil zu den gewohnheitsmäßigen Feinden der Rechtsordnung gehört, daß aber auch in diesen selten jeder Funke von Ehrgefühl erloschen ist.
Da taucht aber gleich die Frage auf, ob denn der Straf prozeß imstande ist, einen nur einigermaßen befriedigenden Ein
blick in das Seelenleben der Menschen zu bieten,
wir müssen
6 von vornherein feststellen, daß er stets viel zu grob und ober
flächlich sein wird, um diesen Einblick so zu gewähren, wie es
etwa eine theoretisch vertiefte psychologische Schulung verlangt. Aber
wir
stets
werden
danach
streben müssen,
psychologische
Forschungen und die Kenntnisse und Erfahrungen des Psychiaters
in weitestem Umfang auszunützen, und dürfen davon einen erheb
lichen Fortschritt in der Methode unseres Verfahrens erwarten.
Endlich wird die hohe politische Bedeutung des Straf prozesses zumeist mehr gefühlt und behauptet, als wirklich ver
standen.
In ruhigen Zeiten ist davon auch wenig zu merken.
Aber wenn wir überlegen, daß gerade soziale und politische Gegen
sätze und Strömungen in den Straftaten sich äußern, daß wesent lich die sozial und politisch
schwachen Klassen bestraft werden,
daß in der Gerichtsverfassung die gewaltige Frage des Zusammen
wirkens von Volk und Regierung kennen wir auch
aufgerührt wird,
dann er
die politische Bedeutung des Strafverfahrens.
Ls ist kein Zufall, daß politische Wandlungen und Umwälzungen
auch tiefgehende Systemänderungen des Strafverfahrens im Ge folge hatten.
So ist der Prozeß der römischen Raiserzeit ein
ganz anderer als der der Republik, leben ganz andre Gedanken im Verfahren der freien alten Germanen wie in dem des späteren Mittelalters oder der ersten Neuzeit mit ihrem bigotten Scholasti
zismus und ihrer engherzigen Niederhaltung eines freien und großen Bürgersinns.
Deswegen mutzten uns die Revolutionszeiten
zu Ende der Aufklärung und von 1848 ein neues Strafverfahren bringen.
Deswegen werden wir auch heute keine tiefgreifende
Änderung unseres Verfahrens erleben, sondern nur einen allmäh
lichen Ausbau, eine langsame Fortentwicklung des vorhandenen,
- ganz parallel unserem politischen Leben. Wir sehen überall in den Rulturstaaten heute eine lebhafte
Bewegung in den kleinen Einzelheiten des Prozesses, die vielleicht erst allmählich und nur langsam eine große Systemänderung be
wirken wird.
Man wirft sogar die Frage auf, ob unsere Zeit
wegen ihrer politischen Unruhe geeignet sei, den Strafprozeß zu
7 ändern.
Ich sage Ja!
Denn es sind eben nicht nur politische
Fragen hier maßgebend. - wegen der politischen Seite hat sich auch der Strafprozeß in England ganz anders als bei uns und
viel stetiger entwickelt.
Überall macht sich die politische Färbung
der Zeit und des Grtes geltend.
Mer nur ein wenig die Ge
schichte kennt, der weiß, wie gern und wie oft erfolgreich poli
tische Machthaber den Strafprozeß als bequemes Werkzeug ihrer Gewaltausübung benutzten.
Danach begreifen wir auch, warum uns einzelne Prozesse nach ihrer rein menschlichen oder politischen Seite so tief erregen können.
Über wir müssen uns sagen, daß wir dann auch das
Gefüge dieser gewaltigen Maschine verstehen sollten, daß es der
Allgemeinheit nicht gleichgültig sein kann, welchen Gang die Ent wicklung unseres Strafprozesses geht und daß wir nicht die För
derung dieser Entwicklung einzelnen Technikern überlassen können.
Ich sehe es als ein bedeutsames Zeichen sozialen Strebens und politischen Verständnisses der Frauen an,
daß sie sich mit dem
Strafverfahren zu beschäftigen beginnen. —
Aber bei allen diesen Erwägungen müssen wir daran denken, daß das Strafverfahren verschiedenartige Aufgaben zu erfüllen hat,
daß es daher niemals nur von einer Seite aus ganz ge
würdigt werden kann.
Ich nenne hier nur den Unterschied zwi
schen dem gewerbsmäßigen verbrechen der Feinde jeder Rechts
ordnung x) und den unendlich vielen Taten des Leichtsinns, der Not, der Torheit, kurz der menschlichen Schwäche von uns allen. So mutz der Strafprozeß ein einfaches Kampfmittel gegen jene Klasse der Menschheit und ebensogut ein vorsichtig zu handhaben des Werkzeug zur psychologischen Erkenntnis der Menschenseele
und zur Erhaltung des psychologischen Gleichgewichts der mensch lichen Gesellschaft sein.
Wenn er diesen beiden, so verschieden
artigen Aufgaben gerecht werden soll, dann darf er nicht sche el Unsere Kriminalstatistik sucht darzutun, daß nur der geringste Teil aller Rückfälligen wahrhaft „gewerbsmäßige" Übeltäter sind.
8 matisch gleichartig in allen seinen Teilen sein.
Aber wie schwer
ist doch wieder die Verschiedenheit zu gestalten; denn ob wir im Cinzelfall die eine oder die andere Aufgabe vor uns haben, das
wird uns gar oft und zu unserm schweren Schaden erst nach ihrer Erledigung klar.
- weiter will ich nur erwähnen die
Unterschiede zwischen den einfachen Drdnungswidrigkeiten eines komplizierten Soziallebens und den schweren Angriffen auf große Rulturwerte.
Beide sind im Strafprozeß zu behandeln;
aber
naturgemäß muß dies Werkzeug bei beiden ganz verschieden ge staltet sein.
Auch
dies deutet uns schon an, daß schematische
Gleichmacherei aller prozetzarten ein Unding wäre. wir dürfen schon nach
diesen Erwägungen,
die leicht zu
erweitern wären, sagen, daß wir mit Recht am Strafprozeß ein
tiefes Interesse haben müssen, daß uns allen seine psychologisch
feinere Entwicklung am Herzen liegen muß.
Freilich möchte ich
gleich betonen, daß unser Ideal dabei wohl ein hohes sein kann
und muß, - daß wir uns aber hier wie bei jeder Verwirklichung
psychologischer Erkenntnis gar sehr bescheiden müssen! Bei jeder Betrachtung des Prozesses dürfen wir aber nie
außer acht lassen, daß der Prozeß als Gesetz und als Handhabung zwei ganz verschiedene Dinge sind, daß jener gut, dieser schlecht
sein kann.
Jeder Renner der Verhältnisse weiß, daß der Straf
prozeß, so wie er heute gehandhabt wird, sehr verschieden von
dem ist, was das Gesetz verlangt, und daß die Handhabung sehr
verschieden in den einzelnen Staaten ist.
Deswegen sollen wir
nicht übersehen, daß wir vielleicht das Gesetz gar nicht zu ändern brauchen, um den Prozeß zu ändern, und daß eine Änderung des Gesetzes noch nicht eine Änderung der Praxis bedeutet.
Jede
Reform muß nicht nur auf die Gesetzgebung, sondern auch auf die Praxis Einfluß zu gewinnen suchen. -
Steht uns nun klar vor Augen, daß und warum jeder Bürger und damit auch jede Bürgerin ein Interesse an der Gestaltung und
Entwicklung des Strafprozesses hat, dann müssen wir fragen, wie dies Interesse zu betätigen ist.
Da ist für mich klar, daß jeder
9 Einwirkung auf die Entwicklung ein genaues Studium der Ver hältnisse vorausgehen mutz.
Nicht ein Einzelerlebnis berechtigt
uns, sofort an der prozetzgesetzgebung mitzuwirken, wer das tun
will, mutz erst die Grundlagen des Systems kennen.
Und nur
der Einführung in dies Studium dient mein Vortrag, nur der Darlegung der Art, wie man dem Prozetz gegenübertreten mutz,
um ihn recht zu verstehen. -
II. wer sich mit der Entwicklung des Strafprozesses befatzt, der erkennt sehr bald, wie schwer es ist, die großen Züge derselben darzulegen; denn gar zu leicht verliert man sich in Schlagworte
oder in Allgemeinheiten, die dann an allen Ecken nicht mit den Einzelheiten übereinstimmen.
Nur bei grötzter Vorsicht läßt sich
ein solcher Fehler bei einer kurzen Darstellung vermeiden. -
Unsere heutige deutsche bürgerliche Strafprozeßordnung ist etwas über 30 Jahre alt; sie gilt heute als veraltet und wurde
schon bald nach ihrer Entstehung als verfehlt bezeichnet.
Sie
wurde nicht als ein kühner Neubau geschaffen, sondern war eine
vorsichtige Zusammenarbeit der Gesetze, die seit der Mitte des also
waren ihre Grundge
danken schon seit Jahrzehnten vorhanden.
Erst nach 21 Jahren
19. Jahrhunderts
gegeben
waren,
folgte ihr langsam der Militärstrafprozetz.
Nach diesen beiden
Gesetzen richtet sich fast ausnahmslos das ganze Strafverfahren.
Nur die Strafverfügungen und Strafbescheide der Polizei und der
Finanzbehörden bilden ein großes selbständiges Gebiet. Ich nehme jede Gelegenheit wahr, um die Verkehrtheit einer freilich be quemen Methode zu betonen, bei der die selbst beteiligte Verwaltung eine Strafgewalt ausübt, die nur ganz ungenügend von dem un
parteiischen Richter kontrolliert werden kann. — Unser Strafprozeß
ist in seinen Grundzügen den prozetzgesetzen fast aller europä
ischen Uulturstaaten verwandt.
Nur England steht ganz abseits.
In den Niederlanden und in Skandinavien finden wir erhebliche Besonderheiten. Diese Familienähnlichkeit, die natürlich eine große
10 Menge einzelner Verschiedenheiten nicht ausschließt, ist ein be
deutungsvolles Zeichen für die Ähnlichkeit der Anschauungen in Und so sind auch die Bemühungen zur Fort
den Rulturstaaten.
bildung
keineswegs
nur
einem
Staate
eigentümlich,
sondern
auch sie zeigen sich überall gleichartig, - wir Können also beim
Ausland noch manches Brauchbare lernen.
Nun steht uns im Strafprozeß eine neue Gesetzgebung be vor, um die schon seit vielen Jahren wissenschaftlich und politisch
gekämpft wurde.
3m September 1908 veröffentlichte das Reichs-
Juftizamt einen ersten Entwurf, und nach allem, was wir erfahren,
soll der Reichstag ihn noch in diesem Frühjahr zur Bearbeitung erhalten.
Gb solche Eile nottut, ist mir höchst zweifelhaft; sie
mag politische Gründe haben, sachliche kann ich mir nicht vor stellen.
wurf
Sie ist auch nicht unbedenklich; denn viele der im Ent
verwirklichten Grundgedanken
sind
in
ihren
technischen
Einzelheiten noch so unsicher, daß sie erst noch sorgsamster Durch
prüfung bedürfen.
Dagegen wollen und müßen wir gern zugeben,
daß viele anerkennenswerte Fortschritte in Einzelheiten gemacht
sind.
Gb sie allein das neue Gesetz rechtfertigen, ist freilich frag
lich.
Besonders bedenklich wird man, wenn man sich klarmacht,
daß die doch auch nicht in allzu weiter Ferne stehende Neubildung des Strafrechts zusammen mit der Fortbildung des Strafvollzugs
tiefgreifende Änderungen des Strafverfahrens nötig machen wird. Doch stehe ich auf dem Standpunkt, daß diese Erwägung allein
uns nicht von einer selbständigen Fortbildung des Prozeßes ab halten darf, da wir nicht wißen, welche Zeit uns ein neues
Strafrecht bringen wird, während eine Nlenge von technischen Verbeßerungen jetzt schon und unabhängig vom Strafrecht ange
bracht werden können. —
III. Da wir die Entwicklung des Strafprozesses verstehen wollen,
müßen wir uns über das System und die Grundsätze des vor
handenen klar sein und müßen die Tendenzen der Entwicklung
11 Huf
erkennen.
dreierlei
müssen wir dabei unser Hugenmerk
richten: auf die Stellung der am Prozeß aktiv Beteiligten, des
Klägers, des Beklagten, des Gerichtes, - sodann auf das System, den Hufbau des Ganzen, und endlich auf die Grundlagen und Formen der einzelnen Handlungen.
Sehen wir uns unsern heu
tigen Strafprozeß an, dann tritt uns zuerst der Hnkläger ent
gegen.
Regelmäßig ist er heute eine besondere Behörde, die
Staatsanwaltschaft, die wir aus dem französischen Recht der na poleonischen Zeit übernommen haben, die viel angefeindet wurde
und wird, weil sie von der Regierung abhängig ist und ihr da her häufig schon politisch diente, die wir aber dennoch nicht missen
Sie allein gibt die Gewähr energischer und möglichst
können. objektiver
gleichmäßiger Verfolgung des Unrechts.
und
Ihre
politische Hbhängigkeit und etwaige Einseitigkeit dadurch besei tigen zu wollen, daß man sie von der Regierung ganz unabhängig
machte, wäre verkehrt,
hier kann nur geholfen werden, indem
man dem privaten gestattet, daß er die Verfolgung übernehme,
wenn der Staatsanwalt das ablehnt. der sog. subsidiären privatklage!
sie stets ab.
Das ist die alte Forderung
Hber unsere Regierungen weisen
Gewiß ist heute der private nicht mehr imstande,
selbst jede Verfolgung in die Hand zu nehmen; selbst in England
tut er das nur noch selten und tritt meist die Polizei als Ver
folgerin auf.
Gewiß ist er auch leicht in der Verfolgung ver
bissen und reizbar.
Hber es ist kein Grund einzusehen, warum
man ihm eine Rechtsverfolgung, an der er interessiert ist, ver
wehren soll, wenn er glaubt, daß der Staatsanwalt diese zu Un recht unterlasse.
(Es ist sogar sicher, daß die Staatsanwaltschaft
dadurch eine viel würdigere, freiere Stellung erhielte. Statt dessen gewährt unsere Prozeßordnung dem Hnzeiger nur eine schwäch
liche Beschwerde ans Gericht gegen die Hblehnung der Klage
durch die Staatsanwaltschaft. nichts.
Und unser Entwurf ändert daran
Ja, er stellt den privaten noch schlechter, indem er es
in vielen Fällen dem völlig freien Ermessen der Staatsanwalt schaft überläßt, ob sie anklagen wolle oder nicht.
Nur in we-
12 nigen Fällen hat der private ein eigenes Anklagerecht, das mit
so bei Beleidigungen und
dem des Staatsanwalts konkurriert, Körperverletzungen.
Und dies Recht erweitert zwar der Entwurf
um einiges, aber lange nicht genug, um dem nötigsten Bedürfnis abzuhelfen.
Insbesondere bleiben Fälle wie die Verführung, un
züchtiges Ärgernis, Kindermißhandlung aus dem Ureis der Privat
klagedelikte ausgeschlossen.
Gerade bei ihnen aber müßte der
private, ja müßte jeder Bürger Klagen können.
Denn gerade
hier haben wir Interessen, die oftmals verschieden aufgefaßt wer den, die sich durchzuringen trachten, denen vielleicht die Staats
anwaltschaft gleichgültig gegenübersteht, bei denen es aber hoch wichtig ist, ob die Gerichte ihnen Schutz angedeihen lassen sollen. Für ihre Vertretung bestehen in England große Vereine, die viel
fach eine segensreiche Wirkung ausüben, - uns Deutschen ist die Klage einer solchen Vereinigung nur auf dem Gebiete des unlauteren Wett
bewerbes gestattet. - hier können auch die Frauen eingreifen, um ihre und der Allgemeinheit Interessen zu verfechten und zu ver
langen, daß die Verfolgung einzelner Interessen nicht bloß der Staatsanwaltschaft überlassen bleibe, die ihnen vielleicht noch ganz
verständnislos begegnet. — privatklage kann auch jede volljährige Frau erheben; nur
bei Beleidigungen und Körperverletzungen kann der Ehemann selbständig für die Ehefrau auftreten, - eine Einrichtung, deren
Berechtigung heute sehr wohl bestreitbar ist.
Für
die Stellung der Staatsanwaltschaft ist es besonders
bedeutungsvoll, daß das Gesetz sie verpflichtet, einzuschreiten, so
bald sie von einer strafbaren Tat Kenntnis erhält, daß ihr jede
Erwägung darüber genommen ist,
ob
die Geringfügigkeit der
Tat oder die Person des Täters ein Einschreiten überhaupt als
praktisch erscheinen lasse.
Dies Prinzip der „Legalität" unseres
Gesetzes ist an sich nicht unberechtigt.
Stellt man die Zweck
mäßigkeit der Verfolgung in das freie Ermessen des Anklägers, dann möchten leicht unsachliche Erwägungen
wenigstens
geargwöhnt werden.
gelten oder doch
Umgekehrt aber kann
jener
13 Grundsatz unseres Rechtes leicht zu einem bedenklichen Zwang
werden, die unbedeutendsten Kleinigkeiten verfolgen zu müssen.
Er
kann
die Staatsanwaltschaft ängstlich veranlassen,
überall
Straftaten zu suchen, damit man ihr nicht nachsage, dah sie irgend eine pflichtwidrig nicht verfolge. mildern.
Deswegen sucht man ihn zu
Aber anstatt im Strafrecht selbst verkehrte Strafdro
hungen wegzulassen, anstatt den Grundsatz nur in der Anwendung zu mildern und die Staatsanwaltschaft durch die Möglichkeit einer
Anklage, die der private erhebt, innerlich freier zu stellen, gibt der Entwurf ihr das Recht, in ganz bestimmten äußerlich um
schriebenen Fällen die Anklage nach Zweckerwägungen zu unter
lassen (sog. „Opportunität").
Das ist gewiß gut gemeint, aber
viel zu äußerlich, als daß es gut wirken könnte.
Ihm mangeln
das Rorrelat der Privatanklage und jede Direktive, wann eine
Klage unterbleiben könne, wann sie vom öffentlichen Interesse
gefordert werde.
was ist denn das „öffentliche Interesse", von
dem der Entwurf spricht?
scharf fassen?
Läßt sich dieser Begriff einigermaßen
Sollte er nicht mindestens aufgelöst werden und
die Geringfügigkeit
der Sache wie
die Bedeutungslosigkeit der
Person des Beschuldigten hervorgehoben werden? Neuerung des Entwurfs in
Daher ist die
dieser Form zu verwerfen.
Nicht
äußere Willkür, sondern innere, aber pflichtgemäße Freiheit darf die Anklage der Staatsanwaltschaft leiten.
Ohne sie sind weder
die Beschuldigten, noch die verletzten sichergestellt,
wir brauchen
der Staatsanwaltschaft nicht zu mißtrauen und
sollen es auch
nicht tun.
Aber Mißtrauen entsteht unwillkürlich, sobald man die
Kontrolle für pflichtgemäßes Verhalten nicht kennt. -
IV. Gegenüber
der
außerordentlich
machtvollen
und
schönen
Stellung der Anklagebehörde ist die des Beschuldigten natür lich eine ganz andere.
Beschuldigter kann jeder sein, der Schul
dige wie der Unschuldige, ein geriebener Gauner wie ein dummer Tölpel, ein 12 jähriges Kind, ein Kranker, — und sie alle wirft
14
unsere prozetzordnung in einen Topf; kaum daß sie der Jugend und der Krankheit in einigen Fällen eine besondere Verteidigung
konzediert (§ 140).
Erst der Entwurf bessert hier, indem er
wenigstens die Jugendlichen bis zu 18 Jahren besonders stellt, nach meiner Auffassung seine beste Tat!
Der Beschuldigte hat
Vorteile und Nachteile gegenüber dem Ankläger:
er kennt in
der Regel die Tat, die ihm vorgeworfen wird, genauer, sie mutz ihm vollständig bewiesen werden, damit er verurteilt werden kann.
Aber ihm fehlen die amtliche Hilfe, die Rechtskenntnisse.
Er gilt
- natürlich vielfach mit Recht, - als ein Feind der Wahrheit, der gehindert werden mutz, datz er die Aufklärung vereitele.
Auf
diesem Gebiete ist unsere prozetzordnung noch merkwürdig unklar. Sie weitz nicht, ob sie den Beschuldigten frei, selbständig handeln
lassen soll, ihm eine möglichst würdige Stellung geben darf, oder
ob sie die Sorge für seine Verteidigung möglichst in die Hand der Behörden, der Staatsanwaltschaft und soll,
des Gerichtes legen
während sie in der Hauptverhandlung, die dem Urteil zu
grunde liegt, die freie Stellung, die Mitwirkung und das ver
teidigungsrecht des Beschuldigten voll anerkennt, schmälert sie das alles in der Vorbereitung der Hauptverhandlung.
Deswegen setzt
auch gerade hier die Reform am kräftigsten ein und verlangt, datz der Beschuldigte freier gestellt werde, schon in der wichtigen Vorbereitung ein volles Recht der Mitwirkung besitze. - Jahr
hunderte hindurch galt der Beschuldigte als ein armer Mensch, der kein Recht habe, der zur Wahrheit durch die Folter ge
zwungen werden dürfe, für den nur der Richter zu.sorgen habe,
der auf den Gang des Verfahrens keinen Einfluß hatte. entsprach ganz dem Geist einer
absoluten Regierung.
Das
Aber je
mehr die Aufklärung vorschritt, je mehr man die Selbständigkeit des Individuums auch
dem Staat gegenüber
erkannte, um so
mehr mußte man dafür sorgen, datz der Beschuldigte frei für seine
Verteidigung eintreten dürfe, jede Beschuldigung offen und ehrlich
erfahre, in allen seinen Rechten völlig klar und sicher gestellt werde,
von diesem Geist ist zwar unsere prozetzordnung beseelt;
15 er beherrscht völlig die Hauptverhandlung.
Aber in dem Vor
hier herrscht der Grundsatz, datz
verfahren ist er verkümmert,
der Angeschuldigte möglichst fernzuhalten, möglichst in seiner Be
wegungsfreiheit
zu hemmen
sei,
datz
nur
Staatsanwaltschaft
und Polizei und Gericht die Beweise vorbereiten sollten.
Wie
verkehrt das ist, wie sehr das zu Einseitigkeit und falschen Er
gebnissen führt, wie sehr es den Beschuldigten geistig bedrückt und dadurch schädigt, das hat man längst eingesehen.
Aber wie
zu bessern sei, darüber ist man uneinig; der Entwurf hat hier nach meiner Anschauung nicht das Richtige getroffen.
Immer
noch steht er zu ängstlich auf dem Standpunkt des INitztrauens.
V.
Um nun die Stellung des Beschuldigten erkennen zu können, muß man sich die Struktur unseres Verfahrens klarmachen. Der Strafprozetz zerfällt in zwei grotze Teile: das hauptverfahren,
in dem
die Grundlage des Urteils in einer Verhandlung
der
Beteiligten gewonnen, der Beweis erhoben, die Rechtslage ge
klärt wird, — und daneben steht das Vorverfahren, in dem die Beweise erst gesammelt, gesichtet werden.
Seine Aufgabe ist
die, festzustellen, ob einige Wahrscheinlichkeit für eine Verurteilung
bestehe,
wir wollen den Apparat einer Hauptverhandlung nicht
anwenden, den Beschuldigten nicht der Pein derselben aussetzen, ohne datz wir sagen können, es sei eine genügende Wahrscheinlich
keit vorhanden, datz er eine bestimmte Straftat begangen habe. Unsere Hauptverhandlung soll eine konzentrierte, möglichst ein heitliche, übersichtliche sein, hältnisse bietet.
Stelle sein,
die ein anschauliches Bild der Ver
Dazu müssen die Beweismittel bekannt und zur
und man mutz einigermatzen wissen, welche Einzel
heiten das Bild der Tat zusammensetzen. In der Hauptverhandlung soll der Schwerpunkt des ganzen
Verfahrens ruhen,
hier soll die Beschuldigung aufs genaueste
geprüft und gewürdigt werden,
hier hat schon vor einem halben
18 Während danach in der Hauptverhandlung die Stellung des
Beschuldigten nur in Einzelheiten zu verbessern wäre, muß im Vorverfahren völlig geändert werden.
Ich will nicht von der auffallenden Ein
erheblichsten Mängeln. richtung reden,
sie
Dies krankt an den
daß die drei in ihm tätigen Behörden, Polizei,
Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter, gar nicht in eine organische Verbindung gebracht sind, — der Entwurf ändert an diesem Mangel nicht das geringste.
Es kommt uns hier nur auf
die Stellung des Beschuldigten an.
Und da beobachten wir das
Merkwürdige,
daß ihm die Möglichkeit der Mitwirkung sehr
stark verkümmert, ja sogar fast völlig versagt ist.
Die Behörden
nehmen ihre Untersuchungen fast ausnahmslos geheim vor; die
Zeugeneinvernahmen und alle Nachforschungen bleiben dem Be schuldigten grundsätzlich unbekannt.
Ja, es ist möglich, daß je
mand eine gar nicht ganz bedeutungslose Anklage erhält - deren Inhalt oft recht dürftig ist! — ohne daß er von einer vielleicht schon länger dauernden Erhebung irgend etwas erfahren hatte.
Irgendein Recht, Beweiserhebungen zu verlangen, hat ein Beschuldigter nicht; er ist darin ganz dem Ermessen der Behörden
überliefert.
Ist er vermöglich, dann darf er sich zwar einen Ver
teidiger nehmen; ist er arm, dann wird ihm kaum jemals jetzt schon ein Verteidiger beigeordnet, während ein solcher in einer
Reihe von Fällen im hauptverfahren notwendig ist. er einen Verteidiger,
Und hat
dann wird diesem die Akteneinsicht kaum
jemals vor dem Schlüsse der Erhebungen gestattet. - Endlich: in vielen Fällen wird der verdächtige in Untersuchungshaft
gesetzt, in der ein Verkehr mit der Außenwelt, ja selbst mit seinem
Verteidiger, aufs allerschärfste überwacht und beschränkt wird.
Damit wird er völlig der Möglichkeit beraubt, frei seine Ver teidigung vorzubereiten.
reichend bewiesen,
Und es ist durch die Erfahrung hin
daß diese Abschließung und Ungewißheit auf
den Seelenzustand gerade der wenig oder gar nicht Schuldigen
den allerbedenklichsten Einfluß übt.
Ist aber die Sache einmal
zur Erhebung an den Untersuchungsrichter
gegeben,
dann ist
19 außer der Beschwerde nicht das geringste Mittel geboten, auf die Dauer der haft einzuwirken, so daß sie jahrelang währen kann.
Allerdings wird man sagen, daß wir durch das Gesetz vom Jahre
1904 die Möglichkeit der Entschädigung für unschuldig er littene Untersuchungshaft erhalten hätten.
Aber wer die schweren
Bedingungen dieses Gesetzes kennt, der wird zugeben müssen, daß
es
zum Ausgleich
für
die Bedenken unserer heutigen Unter
suchungshaft nicht ausreichen kann. hier sucht nun der Entwurf zu bessern!
Er verlangt,
daß
in
keinem wichtigeren Fall die Vor
erhebungen abgeschlossen werden,
ohne daß ihr Ergebnis dem
Beschuldigten vorgehalten werde (§ 191, 202); ja zur vorherigen
Klärung der Sachlage ist in schweren Fällen vor der Hauptver handlung ein Vortermin zur Besprechung möglich.
die Verteidigung in
Ebenso ist
schweren Fällen schon im Vorverfahren
von Gesetzes wegen oder jedenfalls, wenn sie beantragt wird, notwendig geworden (§ 139).
Auch
ist die Untersuchungshaft
erheblich beschränkt und ihre Dauer unter schärfere Kontrolle ge
stellt (§ 127), sowie der Verkehr des verhafteten mit seinem Verteidiger erleichtert (§ 148).
Endlich gewährt der Entwurf die
Möglichkeit, daß dem verhör des Beschuldigten durch den Richter der Verteidiger und der Staatsanwalt beiwohnen, und daß bei
richterlichen Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen die Par
teien anwesend sind (§ 167, 168). Aber diese Verbesserungen genügen unter keinen Umständen. Ich will nicht weiter erörtern, daß überflüssigerweise der Unter suchungsrichter beibehalten wird. Ich führe nur an, daß einmal die
Anwesenheit des Beschuldigten und des Verteidigers bei Beweis erhebungen stets zu umgehen ist, indem einfach der Richter nicht
selbst diese Erhebungen vornimmt; bei der Polizei und der Staats anwaltschaft besteht dies Anwesenheitsrecht nicht, und in Frankreich versteht die Praxis heute schon sehr gut, es illusorisch zu machen.
Ferner ist hiermit das Recht auf aktive Mitwirkung der Parteien noch nicht genug garantiert.
Es ist weiter aber auch das Recht 2*
20 auf Anwesenheit so verklausuliert (§ 168, 170), daß es nicht
entschieden genug ausgeübt werden kann.
Und ganz besonders
mutz noch bei der Untersuchungshaft eine energischere Besse
rung einsetzen.
Ich sehe davon ab, daß die Bedingungen ihres
Eintrittes viel schärfer gefatzt werden sollten.
Bei jeder Ver
haftung ist die Möglichkeit einer Verhandlung der Parteien vor
dem Richter ohne weiteres zu gewähren. verhafteten Beruhigung bieten.
Nur dies kann dem
In möglichst weitem Umfang
mutz dem verhafteten ein Verteidiger gestellt werden.
ist klar,
Denn es
daß der von der Außenwelt Abgeschlossene ohne diese
Hilfe in der Wahrung seiner Rechte aufs allerempfindlichste ge Und was ich besonders betonen möchte und von
kränkt wird.
andern nie erwähnt wird: jede verhaftete Frau mutz das Recht
haben, sich mit einer Frau als ihrer Beraterin und vertrauten
Die Erfahrung hat uns doch längst gelehrt, daß
zu besprechen.
eine Frau sich in vielen Fällen nur einer Frau gegenüber aus sprechen kann, und dazu ist die Gefangenwärterin nicht die ge
eignete Person.
Cs sollten doch wohl vertrauenswerte Frauen zu
diesem Berufe überall zu finden sein! - Auch sollte der Entwurf
nicht so zurückhaltend sein, sondern die Belehrung der Beschuldigten über ihre Rechte vorschreiben. Überlegen wir uns all das, dann sehen wir,
daß in dem
so wichtigen Abschnitt des Vorverfahrens noch lange nicht genug die würde,
die Freiheit und Ehre,
die Selbstverantwortlichkeit
des Beschuldigten anerkannt sind, daß man hier noch viel zu sehr an den schlechten Rerl denkt,
der möglichst kurz zu halten ist,
und an den ungeschickten Menschen,
dessen sicherste Helfer und
Berater Polizei, Staatsanwalt und Richter sind.
Geben wir auch
gern zu, daß dieser Gedanke in sehr vielen Fällen der Wahrheit
entspricht, so können wir doch auch nicht die vielen andern Fälle übersehen, in denen er unsern heutigen Auffassungen von bürger
licher Selbständigkeit nicht mehr gerecht wird; und sicher ist, daß
die Erfolge der ganzen Einrichtung keineswegs günstige Gerade
das engherzige Mißtrauen gegenüber
sind.
den Verteidigern
21 veranlaßt diese manchmal zu einem vorgehen, da§ nicht immer der Würde der Justiz entspricht, aber der ganz natürliche Gegenschlag
gegen die gesetzliche Beschränkung ihrer Tätigkeit ist. -
VI. Eine Reihe von andern Punkten
sind noch zu erwähnen,
an denen die Stellung der Allgemeinheit oder der Einzelnen gegen
über dem Strafprozeß sehr eingehend zu erörtern wäre, und an denen eine Fortbildung erstrebt wird.
Ich nenne nur die wesent
lichsten. - Das sogenannte schleunige verfahren, ebenso das
verfahren mit Strafbefehl und Strafverfügung sollen der
Vereinfachung in
einfachen Fällen dienen,
und dem Beschuldigten nützen.
also der Gesamtheit
Gb sie das immer tun, ist mir
freilich recht fraglich, denn diese Verfahrensarten lassen praktisch nur allzu leicht die Verteidigung stark verkümmern. — weiter soll die Ausdehnung der Berufung die Garantien des Verfahrens
erhöhen, - das soll ein allgemeines Volksverlangen sein: ich ge höre zu denen, die das alles bestreiten, die vielmehr eine Er höhung der Garantien der ersten Instanz vorziehen, und die der Meinung sind, daß eine zweite Verhandlung kaum jemals eine
bessere sein kann.
Auch
eingerichtet und ohne
ist die Berufung viel zu schematisch
genügende Beachtung der Verschiedenheit
der einzelnen Fälle. - Ich streife nur die Rostenfrage, deren Regelung mir auch nach dem Entwurf noch nicht gerechten An
forderungen zu entsprechen scheint, wenig Gewißheit hat,
da der Angeklagte viel zu
daß seine notwendigen und erfolgreichen
Verteidigungskosten dem Staate auferlegt werden.
Leider hat der
Entwurf im Strafvollzug auch nur einige wenige Verbesserungen,
besonders bei der Geldstrafe, gebracht (Ratenzahlungen!), aber die Gelegenheit versäumt,
hier eine weitergehende Fortbildung zu
bewirken. - Ich erwähne die Stellung der Zeugen, bei denen
der Entwurf das verweigerungsrecht bei Redakteuren usw. er
weitert und auch - endlich! - unehrenhafte Fragen sowie die
22 Frage nach Vorstrafen nicht mehr beliebig und nutzlos zulätzt
(8 49, 55). -
Gewiß also bringt uns der Entwurf reiche Verbesserungen, die noch durch die Praxis erhöht werden dürften.
So bemerken
wir z. B. mit Genugtuung, wie immer häufiger der Arzt, beson ders der Psychiater, zugezogen wird, damit das Geistes- und Seelen
leben der Beschuldigten wirklich klar erkannt werde.
Und so
dürfen wir wohl hoffen, daß der Fortschritt im Strafprozeß nicht
stockt, der dies komplizierte und an Feinheiten so reiche Gebilde immer mehr den Bedürfnissen der Allgemeinheit und der Einzelnen anpatzt.
VII. Km überraschendsten und schönsten ist an einem Punkt der
Fortschritt: beim Verfahren gegen Jugendliche.
furt hat man ja zum erstenmal in Deutschland nis
praktisch verwertet,
In Frank
die Erkennt
daß es verkehrt ist, jugendliche Be
schuldigte genau so wie Erwachsene zu behandeln, ja daß das
geradezu eine Versündigung an der Jugend ist,
anfaffen und erziehlich beeinflußen soll.
die man zart
Bitt größter Freude be
obachten wir, wie dieser Gedanke eines besonderen Verfahrens gegen Jugendliche überall in Deutschland aufgegriffen wird, und
daß
ihm der Entwurf auch
die gesetzliche Ausbildung sichert.
Nur dürfen wir nicht übersehen,
daß hier wie so vielfach die
gute Einrichtung schablonenhaft oder rein äußerlich nachgeahmt
wird, daß ihr oft der Geist fehlt, in dem sie erst ihren B)ert hat.
Auch der Entwurf geht nicht entschieden genug vor.
Er
garantiert insbesondere nicht, daß sein Verfahren auch überall konsequent durchgeführt werde, denn er sorgt nicht für seine erste
Bedingung, die allgemeine Schaffung eines besonderen Jugend gerichtes.
Dies ist ein Grundfehler.
Nur wenn überall das
Jugendgericht in der Lage ist, selbst alle nötigen Maßnahmen, Fürsorge so gut wie Strafe, anzuwenden, kann es segensreich
wirken.
Daneben sind eine Reihe von einzelnen Mängeln wohl
25
nicht zu verhehlen. Aber der (Entwurf hat doch wenigstens die Grundlage geschaffen, die nur auszubilden ist. vor allem tritt
uns die Freiheit des Staatsanwaltes entgegen, ob eine Anklage im Interesse des Jugendlichen überhaupt zu erheben sei, - ja sogar die Freiheit des Gerichts, ob es trotz Schuld nicht doch von
einer Strafe absehen wolle (§ 365, 374).
Vie Strafe soll zurück
treten, wenn Erziehungsmaßnahmen ausreichen. Vas Gesetz regelt sogar diese Fürsorge zum Teil selbst; allerdings gewährleistet es nicht ausreichend, daß sie von den Vormundschafts- oder andern Fürsorgeorganen nun auch folgerichtig angewendet werde (§ 366, 374). Die Untersuchungshaft bei Jugendlichen hört praktisch wohl
völlig auf und wird durch andre Sicherungen ersetzt (§ 368). Jugendliche sollen, wenn irgend möglich, nicht mit Erwachsenen zusammen abgeurteilt werden. Jedem Jugendlichen ist vor dem Landgericht ein Verteidiger und soll möglichst vor dem Amtsgericht ein Beistand gegeben werden, — hier allerdings nur zur Haupt
verhandlung. viel richtiger wäre es, den Verteidiger auch vor dem Landgericht in einen Beistand zu verwandeln. Wenn es weiter auch heißt, daß der Beistand vorher schon die Möglichkeit von Erkundigungen haben soll (§ 370, 371), so genügt das nicht; er mutz vielmehr von allem Anfang an mitwirken können, ich wünschte sogar mit vielen andern, daß überhaupt alle Erhebungen möglichst nur durch besondere Beamte und mit Unterstützung von Fürsorgern gepflogen werden. Vie Zuziehung des gesetzlichen Vertreters wird auch vorgesehen (§ 372), - während sie heute noch unbegreiflicherweise unnötig ist, so daß ein 14 jähriger Knabe sehr wohl verurteilt und bestraft werden kann, ohne daß sein Vater etwas davon erfährt! hier also sucht der (Entwurf Strafrecht und Fürsorge organisch im Verfahren wie im Vollzug zu vereinen, — und das ist der Anfang einer Entwicklung, der
noch eine schöne Zukunft vorausgesagt werden darf. Allerdings ist gleich der Mangel zu erwähnen, daß für den geeigneten Voll
zug der Maßregeln nicht genügend gesorgt ist. — Mit Freuden erwähne ich auch, daß hier der Entwurf die Frauen als helfe-
24 rinnen besonders hervorhebt, - und damit ein bescheidenes Zu geständnis an eine längst reife Entwicklung macht (§ 371). - (Es ist dringend zu wünschen, daß überall jetzt schon die privaten
Organisationen entstehen,
deren Hilfe der Entwurf zum segens
reichen Durchführen seiner Gedanken voraussetzt. VIII.
Und nun kommt als letzte eine der wichtigsten Fragen, die
heißumstrittene Frage der Gerichtsorganisation.
Bei allen
Besprechungen drängt gerade sie sich stets in den Vordergrund,
es scheint fast, daß die ganze Reform von ihrer Lösung abhängen soll.
Und was bewegt uns denn gerade bei ihr?
Ist es nicht
gleichgültig, wie wir unsere Gerichte organisieren, wenn wir sie
nur mit guten, hervorragenden Richtern besetzen?
Gewiß, aber
gute Richter sind selten, die Organisation mutz also diesem Mangel
abhelfen, indem sie es ermöglicht, die tüchtigen Rräfte heranzu ziehen, und wenn nötig durch ein Kollegium zu verstärken; und dann auch muß sich die Verfassung
der Strafgerichte nach der
Finanzlage richten und sich organisch der ganzen Staatseinrich tung und dem ganzen Sozialleben anpassen.
Wir können unsere
Rmtsgerichte nicht entbehren, aber unmöglich an jedem kleinen
Rmtsgericht ein Strafgericht für schwere Fälle bilden. Zwei Fragen interessieren uns hier vor allem:
einmal ob
in der Zahl der Richter die Garantie einer guten Justiz liegen
soll, und sodann, ob auch Nichtjuristen, Volksrichter an der
Rechtsprechung teilnehmen sollen. Wir haben heute eine reiche Gliederung von Gerichten: den Amtsrichter allein nur beim Strafbefehl, — das Schöffengericht
mit dem Amtsrichter und zwei Schöffen mit einer nicht ganz
kleinen Urteilsgewalt, - die Strafkammer beim Landgericht mit fünf Juristen als Mittelpunkt des Ganzen gedacht, - das Schwur
gericht mit drei Juristen und zwölf Geschworenen für schwere verbrechen, - das Gberlandesgericht mit fünf und das Reichs gericht mit sieben Juristen.
25 Man wirft dem zweierlei vor: Rräftevergeudung und System-
losigkeit.
Der zweite Vorwurf vergißt völlig, daß Schematisierung,
formalistische Gleichmachung wie überall so auch hier ein Unding
ist.
Die Gerichte müssen
sich dem sozialen Bedürfnis anpassen,
und unsere Gerichtsverfassung beachtet die staatlichen Möglichkeiten
ganz gut.
So sollen unsere Schöffengerichte das Kollegium ersetzen;
ein Schwurgericht umgekehrt ist viel zu schwerfällig, als daß es für alle Sachen einzurichten wäre.
Und sicher ist auch das reine
Iuristengericht keineswegs ohne jede Berechtigung im Strafrecht. Selbst der Einzelrichter hat hier seinen Platz für einfache Fälle. So kommt auch der Entwurf keineswegs zu einer Vereinfachung, im Gegenteil zu einer viel größeren Mannigfaltigkeit in der Ge richtsorganisation.
zu sein.
Der erste Vorwurf aber scheint mir berechtigt
Die viel vertretene Ruffassung, die schon mehrfach in
unserer Gesetzgebung sich Zahl die
genügende
mehr verlassen;
geltend machte,
Gewähr biete,
aber
sie darf sich
wird auch
daß nur
die höhere
offenbar mehr und
nicht in ihr Gegen
teil umkehren, wie unsere geschichtliche Entwicklung uns deutlich
lehrt. Nun schlägt unser Entwurf vor:
Eine Erweiterung der Zuständigkeit des Amtsrichters. - Ich halte das für durchaus praktisch, habe hierin allerdings sehr viele
Gegner.
Das amtsgerichtliche Schöffengericht bleibt bestehen. Die Strafkammer wird
durch ein Schöffengericht von zwei
Landrichtern und drei Schöffen ersetzt.
Das Schwurgericht bleibt bestehen.
Für die Berufung werden zwei reine Juristengerichte von
drei und fünf Richtern beim Landgericht gebildet. Dagegen wird vor allen Dingen fast einstimmig eingewendet,
daß unmöglich die Berufungsgerichte anders als die Gerichte der ersten Instanz besetzt werden können, da sie doch fast völlig die
gleiche Rufgabe haben,
vielmehr müssen auch sie Schöffengerichte
26 sein.
Ich vermute, daß dieser Auffassung auch die Regierungen
nachgeben werden,
denn sonst möchte das ganze Reformwerk
vielleicht scheitern.
Die wunderliche Auffassung der Begründung
des Entwurfs, daß die Berufungsgerichte wesentlich Rechtsfragen zu erledigen hätten, läßt kaum jemand gelten.
Nach dem Ent denn jedes
wurf aber wäre jedes Schöffengericht ausgeschaltet,
Urteil kann ja an ein reines Juristengericht weitergezogen wer den.
Das darf aber nicht sein! Geringer als dieser wichtigste Einwand ist der zweite: daß
zwei Juristen nicht die geeigneten Leiter und Berater der Schöffen
sein könnten, da bekanntermaßen selten zwei Juristen einer Meinung seien,
also die Schöffen der sicheren Rechtsführung
entbehrten.
Ich halte diesen Einwand für nicht stichhaltig, halte sogar die Zweizahl der Juristen für eine gute Garantie einer vollen Er
schöpfung der Rechtsfrage und gegen eine einfache Vergewaltigung des Schöffenelementes hierin. Aber ich gebe gern zu, daß (ab gesehen vom Schwurgericht) ein Gericht von einem Juristen und zwei oder drei Schöffen für die erste Instanz völlig genügt, wenn auch in der Berufungsinstanz Schöffen tätig sind; nur muß der
Jurist dann in wirklich „gehobener" Stellung stehen, damit man
hervorragende Kräfte dafür gewinnen kann, vielleicht findet ein derartiger Vorschlag doch auch die Mehrheit!
Die große Vorfrage, ob überhaupt Nichtjuristen an der Straf justiz teilhaben sollen, ist heute von der Mehrheit längst bejaht, — freilich trotz eines Streites von einem Jahrhundert noch nicht endgültig gelöst.
Noch hat man den Grund nicht sicher erkannt,
warum wir Volksrichter eigentlich brauchen.
Denn was zumeist
dafür angegeben wird, daß die Volksrichter die tatsächlichen Ver hältnisse besser Kennten, halte ich für ganz unrichtig, und der
zweite Grund, daß ihre Mitwirkung das vertrauen in die Justiz
stärke, scheint mir nicht tief genug zu dringen.
Zumeist sieht
man nämlich in der Rechtsprechung eine rein juristisch-technische
Kunst, eine Gesetzesauslegung.
An dieser hat der Nichtjurist als
solcher natürlich keinen Anteil. Aber das ist falsch! Rechtsprechung
27
ist ebensogut, ja in erster Reihe eine Wiöenstat, Ausübung einer Herrschermacht, Regierungshandlung, Selbstbehauptung des Staates. Und ich sage: so gut wir nach dem Grundsatz des Konstitution nalismus in der Gesetzgebung und der Verwaltung eine organische Mitwirkung des Volkes, Selbstbetätigung der Bürger verlangen, so gut. müssen wir das folgerichtig auch als politisch reifes Volk für die Justiz fordern. Darin liegt der wahre Sinn des volksrichtertums. Wir begreifen, warum gerade die Angelsachsen so zähe an ihm festhalten und warum es uns mit dem Konstitutionalismus kommen mutzte. Sofort deutet uns diese Erwägung auch an, datz in der Justiz die Regierung neben dem Volk vertreten sein mutz, datz der Jurist nicht fehlen darf. Ja, ihm gebührt die Leitung, denn er wahrt allein als ständiger Beamter die Kontinuität der Rechts anwendung, er steht mit seiner Schulung dem Volksrichter voran. AIs Betätigung des einheitlichen Staatswillens darf die Recht sprechung nicht dem Volk ausschließlich überlassen sein. Wegen ihrer tiefgreifenden psychologischen Bedeutung und weil sie die Verhältnisse des verbrechens auch systematisch beachten soll, mutz der psychologisch und kriminalistisch vorgebildete Jurist maßgeben den Einfluß in ihr behalten. — Q)b diese notwendige organische Verbindung zwischen den Juristen und Volksrichtern im Schwurgerichte ebenso wie im Schöffengerichte vorhanden sei, wird von einer großen Zahl von Juristen, vielleicht der Mehrzahl, verneint. - Aber zu Unrecht! Freilich tritt uns die Verbindung nicht so leicht entgegen wie beim Schöffengericht, wo die Schöffen vereint mit dem Richter das Urteil beraten und fällen. Beim Schwurgericht geben die Geschworenen getrennt von den Juristen ihren Schuldspruch als Antwort auf ganz bestimmte Fragen und sind nicht an dem end gültigen Strafurteil beteiligt. Dem oberflächlichen Blick erscheint es daher selbstverständlich, daß das Schöffengericht vorzuziehen sei. Aber zum Glück hat der Entwurf dem Ruf nach Abschaffung der Schwurgerichte nicht nachgegeben. Venn ganz gewiß ist am
28 Schwurgericht viel zu verbessern; sicher ist e§ nicht die letzte $orm
der Gerichtsbildung.
Sicher ist auch bas Schöffengericht gut. Aber
noch ist zu befürchten, daß bei der begreiflichen Unbeholfen
heit des nicht juristisch Gebildeten der Jurist in der Beratung ein rein formales Übergewicht erlangt.
Erst wenn in den
landgerichtlichen Schöffengerichten der Nichtjurist bewiesen hat, daß er in der Beratung seine Selbständigkeit wahren kann, erst wenn
die Gewandtheit unseres Volkes gestiegen ist, dürfte man daran denken,
die Schwurgerichte zu beseitigen, - aber gerade dann
werden
auch
sie wieder voll lebensberechtigt sein!
Ich
sage,
daß bei einigem Geschick und bei Beachtung des Verständnisses des Volks der Jurist in der Gestaltung und Leitung der Haupt
verhandlung, in der Rechtsprechung und in den plaidoyers den
nachhaltigsten Einfluß
auf
den Geschworenen
Freilich ist das keine ganz leichte Aufgabe,
gewinnen kann.
wer sich ihr ge
wachsen fühlt, der wird das Schwurgericht nicht beseitigt sehen
wollen. - Auch darf nicht übersehen werden, daß in der beim Schwurgericht unvermeidlichen Fragestellung eine erhöhte Garantie
für den Beschuldigten liegt, daß alle Rechtsfragen wirklich gestellt
werden. Beim Schöffengericht hat er darauf keinen Einfluß. Und
ebenso liegt in der Öffentlichkeit der Verhandlung zwischen Ju risten und Geschworenen gerade die Garantie, die wir für die Un-
abhängkeit der Volksrechtsprechung verlangen müffen. Man erhebt unendliche vorwürfe gegen unser Schwurgericht - ganz zu Un
recht; denn man vergißt völlig, daß die Mehrzahl seiner Fehler im materiellen Strafrecht, im Formalismus unserer Rechtswissenschaft und
in einzelnen technischen Mängeln ruhen.
Sie alle sind zu
beseitigen, so besonders die Mängel der Bankbildung (Bildung erst
in
der
Hauptverhandlung,
Ablehnung ohne Angabe von
Gründen), der erst am Schlüsse statt zu Anfang gegebenen Rechts
belehrung, der Mitwirkung erhebung.
der Geschworenen an der Beweis
Leider hat der Entwurf behauptet, sie seien unver
besserlich, und hat damit denen Gehör geschenkt, die das Schwur gericht an seinen heutigen technischen Mängeln zugrunde gehen
29 lassen wollen.
Ich hoffe dringend, daß hier dem Schwurgericht
noch in letzter Stunde der helfende Arzt erstehe! — Eines freilich ist bei jeder Volksjustiz nötig: datz sich alle, denen ihr Wohl am herzen liegt, auch willig und eifrig ihr widmen, datz nicht die zum Richteramt Berufenen dies als eine
unnütze Last empfinden, denn es ist nicht zu verkennen, datz die nötige Menge der Volksrichter nicht gerade leicht zu finden ist, — und datz nicht Klassengegensätze und politischer Hader ihr entgegen
stehen. Wer allerdings aufmerksam unser politisches Leben, unsere sozialen Kämpfe beobachtet, den kann schwere Sorge um die Zu kunft unserer Volksjustiz ergreifen!
(Es ist aber zu erwarten, datz
die Zuziehung von Arbeitern, die schon heute nicht ausgeschloffen
ist, aber erst durch die Gewährung von Tagegeldern,
die der
Entwurf vorsieht, gewährleistet wird, den Volksgerichten frisches,
gesundes Blut zuführe. Auf diesem Gebiet liegt auch die interessanteste letzte Frage:
sollen auch Frauen Richter werden?
Gewitz! antworte ich
mit vielen andern Männern, für mich ist das selbstverständlich!
Ich habe es nie begriffen, warum über Frauen und Jugendliche nur Männer urteilen sollen.
Und felsenfest bin ich davon über
zeugt, datz die Frauen auch den Richterstuhl einmal besteigen wer den, so gut wie sie jetzt schon an der Barre als Verteidigerinnen
langsam aber sicher Zutritt erlangen.
Unsere heutige prozetzord-
nung verwehrt ihnen das letzte keineswegs (§ 138), die Richter werden sie hoffentlich mehr und mehr auch zulassen, wie sie ja
schon bei den Jugendgerichten ständig mitwirken; sollte es nötig sein zu betonen, datz hier ihre Aufgabe nur im helfen, nicht
im plädieren besteht?
Stimmrechts.
Vie Frage geht völlig parallel der des
Nur dürfen wir sie nicht über Nacht lösen wollen.
Noch stehen ihrer Bejahung zu viele Vorurteile entgegen, noch wollen zu viele Frauen selbst nicht dieses Recht erhalten, noch fehlt zu vielen die nötige Schulung.
Auswahl
und
Auch sind die Fragen der
der Gerichtszusammensetzung nicht ganz
einfach.
Aber all das ist zu überwinden; durch ihre stets mehr sich aus-
30 breitende Arbeit im öffentlichen Leben erlangen die Frauen immer mehr auch die Berechtigung zu höheren Ämtern. -
Ziehen wir das Fazit unserer Betrachtungen: Wir stehen in einer Seit der Vertiefung psychologischer Erkenntnis und der Verbesserung psychologischer Methoden. Natürlich wirkt das auch im Recht, vor allem im Strafrecht, für
das doch die Psychologie von so tiefer Bedeutung.
Und ebenso
mutz das auch seine Wirkung im Strafverfahren haben. Nicht grotze politische Fragen bewegen unsere Entwicklung im Straf-
prozetz heute. Wir arbeiten vielmehr am langsamen Ausbau der Einzelheiten, an der Ausgestaltung der vorhandenen Grund
sätze. Aber auch das kann tief eingreifen und grotze Wirkungen haben. Und an solcher Arbeit ist das ganze Volk beteiligt! Wer aber daran mitarbeiten will, der mutz das vorhandene
und sein Ziel sicher erkennen, hier wie überall gilt der Satz: Wer seinen Willen in klarer Erkenntnis sicher verankert, nur der kann die Welt bewegen!
Verlag von Alfred Töpelmann in Gießen
Über Naturheilkunst vier Reden von
Unw.-prof. Kart. 3 Mark
Georg Sticker,
vr.med.
Geb. 4 Mark
1909
Die für den Druck erweiterten Heben wurden in den letzten Jahren zur Belehrung von Laienkreisen gesprochen, aus denen wiederholt an den Verfasser die Frage gerichtet war, was von der Naturheilkunst zu halten sei. Seine Antwort: „Hiles und gar nichts!" hatte die Hufmerksamkeit erregt, ohne zu befriedigen, und deshalb entschloß sich der Verfasser zu einer ausführlichen Darlegung. Der Laie wird die gewünschte Huf klärung, die Schule Andeutungen für bas natürliche System der Heilkunst darin finden.
Mutter und Kinö wiemanheikle Gegenstände mitRindernbehandeln kann
Ernste Antworten auf Uinderfragen Mit einem Vorworte von
Univ.-Prof. Georg Sticker, Dr.med. 5.—10. Tausend
hübsch gebunden M. - .90
In welch zarter Weise die notwendige Aufklärung dem Kinde gegeben werden kann, wie sie sich schrittweise mit der zunehmen den Heise desselben erweitert, und wie sie darum, weil der körper lichen und geistigen Verfassung des Kindes sich anpassend, viel leichter ohne sittlichen Nachteil als die von unberufenem Munde gemachte Unterweisung ertragen werden kann, das zu zeigen be müht sich am besten wohl dies Büchlein. (Hochland.)
Verlag von Alfred Opelmann in Gießen
Das nächste Geschlecht Gin Buch zur Selbsterziehung für Eltern
Das sexuelle Problem in der Kindererziehung von
Hans Wegener Verfasser von „wir jungen Männer" Kart. 2 Hlarfc
1.-20. Tausend
(Beb. 3 Klarst
Seit man sich der Erkenntnis nicht mehr verschließen konnte, daß die Forderung nach sexueller Aufklärung der Jugend nicht eine vorübergehende Riodeströmung bedeutet, sondern eine un abweisbare Notwendigkeit, ist eine wahre Flut von Büchern er schienen, die dieses überaus schwierige Thema behandeln- keines aber, das so begeisterte, rückhaltlose Rnerkennung und Emp fehlung verdienen würde, wie das hier vorliegende, aus der bewährten Feder, der wir auch das nahezu in 100000 Stück verbreitete, in fremde Sprachen übersetzte Buch „wir jungen RILnner" verdanken. Geschrieben int frischen Tone der Auf richtigkeit und der ungeschminkten Natürlichkeit, der jede Prü derie ein Greuel ist, lehrt er uns auf das heilige, göttliche Recht gesunder Sexualität achten, das nur ein falscher Rsketismus in der christlichen Kirche leugnen konnte, um sodann mit dem Nleisterblick des geborenen Erziehers die Anleitung zu geben, wie das „nächste Geschlecht" mit heiligem, zartfühlendem Ernst und königlicher Rufrichtigkeit für das Leben und besonders das Sexualleben vorbereitet werden soll. Das treffliche Werk ver dient den Untertitel, der ihm mit auf den weg gegeben wurde: Lin Buch zur Selbsterziehung für Eltern und die es werden wollen. Die Wartburg, 1909 Nr.5.